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GRUNDRISS
DEB
GESCHICHTE DER GRIECHISCHEN
PHILOSOPHIE.
GRUNDRISS
DER
GESCHICHTE
DER
GRIECHISCHEN PHILOSOPHIE.
VON
D« EDUARD ZELLER.
NEUNTE AUFLAGE
BEARBEITET VON
DR FRANZ LOBTZING.
LEIPZIG,
O. R. REISLAND.
1908.
Alle Rechte vorbehalten.
Altenburg.
Pierersche Hofbuchdruokerei
Stephan Qeibel & Co.
S/73
Vorwort zur ersten Auflage.
Schon seit Jahren trug ich mich mit dem Gedanken,
zu dessen Ausführung ich auch von verschiedenen Seiten
aufgefordert wurde, meinem größeren Werk über die Philo-
sophie der Griechen eine kurze Bearbeitung des gleichen
Gegenstandes folgen zu lassen. Aber erst nachdem jenes in
seiner dritten Auflage zum Abschluß gekommen war, fand
sich die Muße zu dieser Arbeit. Derartige Darstellungen
werden nun je nach dem Zweck, den sie sich setzen, ein
verschiedenes Verfahren einschlagen müssen. Der mein ige
lag an erster Stelle in der Absicht, den Studierenden ein
Hilfsmittel für die akademischen Vorlesungen in die Hand
zu geben, welches ihnen die Vorbereitung auf dieselben er-
leichtern und das zeitraubende Nachschreiben ersparen sollte,
ohne doch dem Vortrag des Lehrers vorzugreifen und Fesseln
anzulegen. Ich machte es mir daher zur Aufgabe, meinen
Lesern von dem Inhalt der philosophischen Systeme und
dem Gang ihrer geschichtlichen Entwicklung ein Bild zu
geben, das alle wesentlichen Züge enthielte, und auch die
wichtigeren literarischen Nachweisungen und Quellenbelege
zu liefern; aber wie ich mich in der letzteren Beziehung
auf das Nötigste beschränkte, so habe ich auch in der Ge-
schichtsdarstellung die Punkte in der Regel nur ganz kurz
angedeutet, an welche sich teils allgemeinere historische Be-
trachtungen, teils speziellere Erläuterungen und Untersuchungen
anknüpfen lassen, oder bei denen eine Ergänzung meines
334
VI Vorwort zur ersten Auflage.
früheren Werkes angemessen erschien; einen ausführlichen
Zusatz der letzteren Art enthält der dritte und vierte Para-
graph. Mein Grundriß ist zunächst auf Anfänger berechnet,
wie sie die große Mehrzahl der ZuhOrer zu bilden pflegen;
solche werden aber mehr verwirrt als gefördert, wenn man
ihnen den Geschichtsstoff reichlicher mitteilt, als sie ihn mit
Hilfe der Lehr vortrage verarbeiten können, oder sie mit den
Titeln von Büchern und Abhandlungen überschüttet, von
denen sie den kleinsten Teil jemals zu sehen bekommen.
Wer andrerseits die Geschichte der Philosophie oder einzelne
Teile derselben genauer kennen lernen will, der darf sich
überhaupt nicht mit Kompendien begnügen, sondern er muß
die Quellen selbst und die ijpafassenderen Bearbeitungen der-
selben zu Rate ziehen. Dabei verkenne ich nicht im ge-
ringsten, daß auch solche Lehrbücher, die nicht nach dem
Plane des gegenwärtigen eingerichtet sind, ihre Berechtigung
haben, daß z. B. eine zuverlässige und mit den erforderlichen
Winken über den Wert und Inhalt der einzelnen Werke ver-
sehene Bibliographie oder eine nach Art der Prell er sehen,
nur mit strengerer Auswahl, bearbeitete Chrestomathie sehr
dankenswerte Hilfsmittel des Unterrichts wären ; und ebenso-
wenig ist es gegen meinen Sinn, wenn die vorliegende Schrift
auch über ihren nächsten Zweck hinaus Leser findet. Aber
der Meinung bin ich allerdings, daß jede wissenschaftliche
Darstellung von einer genau abgegrenzten Zweckbestimmung
ausgehen muß, und daß es nicht zuträglich ist, wenn man
neben seinem Hauptzweck fortwährend nach solchen, die
ihm fremd sind, hinschielt.
Berlin, den 27. September 1883.
Der Verfasser.
Vorwort zur neunten Auflage.
Als ich im Anfange des vorigen Jahres auf den
Wunsch des hochbetagten Verfassers, der sich bei dem leiden-
den Zustand seiner Augen des Lesens und Schreibens ent-
halten mußte, die Bearbeitung einer neuen Auflage des Grund-
risses tibernahm, war ich mir der besonderen Schwierig-
keiten dieser Aufgabe wohl bewußt. Da die letzten Auflagen
nur wenige Änderungen und Ergänzungen gebracht hatten
(die inzwischen erschienene achte Auflage ist ein unveränderter
Abdruck der siebenten), war es ein dringendes Bedürfnis,
die Schrift einer genaueren Durchsicht zu unterziehen. Auf
der andern Seite gebot die Pietät gegen den Verfasser, der in
seinem größeren Werke über die Philosophie der Griechen
ein TiTr^fxa ig aei geschaffen hat, die Anordnung des Ganzen
sowie in der Hauptsache auch die Darstellung der einzelnen
Systeme unangetastet zu lassen und selbst Änderungen des
Wortlautes auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken.
Diese Verpflichtung wurde dadurch, daß der verehrte Mann
leider noch vor Vollendung der neuen Bearbeitung (am
19. März d. J.) aus dem Leben schied, eher gesteigert als
verringert.
So erscheint denn der Text des Buches im großen und
ganzen in der Gestalt, die ihm der Verfasser zuletzt gegeben
hat. Nur an verhältnismäßig wenigen Stellen ist er mit
schonender Hand ergänzt oder verändert worden, am häufigsten
bei den chronologischen Angaben und in der Zusammenstellung
der Quellenschriften und der neueren Hilfsmittel (§§3 und 4).
Im übrigen sind die notwendigen Ergänzungen und Berich-
tigungen in die Anmerkungen verwiesen worden. Dabei habe
ich in allen den Fällen, wo ich es für erforderlich hielt, einen
von Zellers Meinung abweichenden Standpunkt zum Ausdruck
zu bringen, das Neue von dem Alten durch eckige Klammern
(f ]) deutlich geschieden. Selbstverständlich sind derartige
VIII Vorwort zur neunten Auflage.
Bemerkungen im Einklänge mit dem Zwecke des Grundrisses,
wie er im Vorwort zur ersten Auflage ausgesprochen ist, nur
da eingefügt worden, wo durch neuere Untersuchungen eine
Angabe des Verfassers unzweifelhaft berichtigt oder seine
Auffassung widerlegt oder doch stark in Frage gestellt zu
sein schien. Neu hinzugekommen sind auch einzelne wichtige
Quellenbelege und eine größere Zahl von Nachweisungen aus
der neueren Literatur; doch glaube ich mich auch hierin
innerhalb der durch den Charakter des Buches gezogenen
Grenzen gehalten zu haben.
An Zellers klarer, abgerundeter und dem Gegenstande
der Darstellung durchaus gemäßen Schreibweise ist im ganzen
nichts geändert worden. Nur hin und wieder habe ich kleine
Unebenheiten beseitigt und gewisse jetzt veraltet erscheinende
Wendungen und Wortbildungen durch die gebräuchlichen er-
setzt; das papierne „derselbe" im Sinne des persönlichen Für-
wortes, das Zeller, wie freilich auch heute noch manche
jüngere Schriftsteller, häufig anwendet, habe ich überall aus-
gemerzt. — Die Rechtschreibung ist von dem Setzer durchweg
den nunmehr auch in wissenschaftlichen Werken allgemein
durchgeführten Regeln angepaßt worden, und die griechischen
Eigennamen, die bisher, wenn auch nicht ganz konsequent,
lateinisiert waren, treten jetzt in ihrer ursprünglichen Form
auf. — Das Namenverzeichnis hat, auch abgesehen von der
Vermehrung, die sich aus den Änderungen und Erweiterungen
des Textes ergab, durch eine neue, sorgfältige Durchsicht
eine bedeutende Bereicherung, namentlich an Stellen, erfahren.
Möge diese Neubearbeitung dazu beitragen, das Buch,
das sich bisher so trefflich bewährt hat, auf der Höhe zu er-
halten, auf die es sein Verfasser von Anfang an gestellt hat,
und ihm in den Kreisen, für die es vornehmlich bestimmt
ist, neue Freunde zu gewinnen!
Wilmersdorf bei Berlin, den 2. November 1908.
F. Lortzing.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Binleitung« A. Methodologisch-literarische«
§ 1. Die Geschichte der Philosophie 1
§ 2. Die griechische Philosophie 5
§ 3. Quellenschriften. Die Geschichte der Philosophie bei
den Alten 6
§ 4. Neuere Hilfemittel 12
B. Historische Einleitung.
§ 5. Entstehung der griechischen Philosophie : angebliche
orientalische Abkunft 17
§ 6. Einheimische Quellen der griechischen Philosophie. . . 20
§ 7. Die EntTvicklung des g^riechischen Denkens bis zum
6. Jahrhundert 23
§ 8. Charakter und Entwicklungsgang der griechischen
Philosophie 26
Erste Periode. Die vorsokratische Philosophie.
§ 9. Ihr Entwicklungsgang 32
I. Die drei ältesten Schulen.
A. Die alten lonier.
§ 10. Thaies 34
§ 11. Anaximander 36
§ 12. Anaximenes . . ; 38
§ 13. Spätere Anhänger der altionischen Schule; Diogenes . . 40
B. Die Pythagoreer.
§ 14. Pythagoras und seine Schule 41
§ 15. Das pythagoreische System : die Zahl und ihre Elemente 46
§ 16. Die pythagoreische Physik 48
§ 17. Religiöse und ethische Lehren der Pythagoreer .... 50
§ 18, Der Pythagoreismus in Verbindung mit anderen Lehren. 52
X Inhaltsverzeichnis.
Seite
C. Die Eleaten.
§ 19. Xenophanes 53
§ 20. Parmenides 55
§ 21. Zenon und Melissos 58
n. Die Physiker des 5. Jahrhunderts.
§ 22. Heraklit 61
§ 23. Empedokles 66
§ 24. Die atomistische Bchule 70
§ 25. Anaxagoras 77
III. Die Sophisten.
§ 26. Entstehung und Eigentämlichkeit der Sophistik. ... 82
§ 27. Die bekannteren sophistischen Lehrer 85
§ 28. Die sophistische Skepsis und Eristik 87
§ 29. Die sophistische Ethik und Rhetorik 89
Zweite Periode. Sokrates» Platon, Aristoteles.
§ 30. Einleitung 93
I. Sokrates.
§ 31. Sein Leben und seine Persönlichkeit 95
§32. Die Philosophie des Sokrates: Quellen, Prinzip, Methode. 97
§ 33. Der Inhalt der sokratischen Lehre 101
§ 34. Das Ende des Sokrates 105
IL Die kleineren sokratischen Schulen.
§ 35. Die Schule des Sokrates; Xenophon, Äschines .... 107
§ 36. Die megarische und die elisch-eretrische Schule. . . . 108
§ 37. Die kynische Schule 110
§ 38. Die kyrenaische Schule 115
III. Piaton und die alte Akademie.
§ 39. Piatons Leben 119
§ 40. Piatons Schriften 121
§ 41. Charakter, Methode und Teile des platonischen Systems . 129
§ 42. Die propädeutische Begründung der platonischen Philo-
sophie 131
§ 43. Die Dialektik oder die Ideenlehre 134
§ 44. Piatons Physik. Die Materie und die Weltseele ... 139
§ 45. Das Weltgebäude und seine Teile 144
§ 46. Piatons Anthropologie 146
§ 47. Piatons Ethik 148
§ 48. Piatons Staatslehre 151
§ 49. Piatons Ansichten über die Religion und die Kunst . . 153
§ 50. Die spätere Gestalt der platonischen Lehre, die Gesetze. 155
§ 51. Die alte Akademie 158
Inhal toveireichnis. XI
Seit«
IT. Aristoteles nnd die peripatetische Schule.
§ 52. Aristoteles' Lehen 168
§ 53. Aristoteles' Schriften 165
§ 54. Die aristotelische Philosophie. Einleitendes 172
§ 55. Die aristotelische Logik 174
§ 56. Aristoteles* Metophysik 180
§ 57. Aristoteles* Physik: ihr Standpunkt und ihre Grund-
hegriffe 186
§ 58. Das Weltgebäude und seine Teile 189
§ 59. Die lebenden Wesen 192
§ 60. Der Mensch 196
§ 61. Die aristotetische Ethik 200
§ 62. Die aristotelische Politik 206
% 63. Bhetorik und Kunstlehre; Aristoteles" Verhältnis sur
Religion 209
§ 64. Die peripatetische Schule 212
IMtte Periode. Die naeharistotellsche Philosophie.
§ 65. Einleitung 218
Erster Abschnitt. Stoizismus, Epikureismus, Skepsis.
I. Die stoische Philosophie.
§ 66. Die stoische Schule im 8. und 2. Jahrhundert .... 219
§ 67. Charakter und Teile des stoischen Systems 221
§ 68. Die stoische Logik 224
§ 69. Die stoische Physik : die letzten Gninde und das Welt-
ganse 228
§ 70. Die Natur und der Mensch 282
§ 71. Die stoische Ethik: ihre allgemeinen Grundsüge . . . 288
§ 72. Fortsetzung: die angewandte Moral. Das Verh<nis
des Stoizismus zur Religion 289
n. Die epikureische Philosophie.
§ 73. Epikur und seine Schule 244
§ 74. Das epikureische System ; Allgemeines. Kanonik . . . 246
§ 75. Epikurs Physik; die Götter 248
§ 76. Epikurs Ethik 253
m. Die Skepsis.
§ 77. Pyrrhon und die Pyrrhoneer 257
§ 78. Die neuere Akademie 258
Zweiter Abschnitt. Eklektizismus , erneuerte Skepsis , Vor-
läufer des Neuplatonismus.
I. Eklektizismus.
§ 79. Seine Entstehimgsgründe und sein Charakter 262
XII InhaltsyeneichniB.
Seite
(J 80. Die Stoiker: Boethos, Pan&tios, Poseidonios 265
§ 81. Die Akademiker des letzten Jahrhunderts v. Chr. . . . 268
§ 82. Die peripatetische Schale 270
8 88. Cicero, Varro, die Sextier 272
§ 84. Die ersten Jahrhundert« n. Chr. : Stoische Schule . . . 274
§ 85. Die jfingeren Kyniker 281
§ 86. Die peripatetische Schule in der Zeit n. Chr 288
§ 87. Die Platoniker der ersten Jahrhunderte n. Chr 284
§ 88. Dion, Lukian und Qalen 286
II. Die jüngeren Skeptiker.
§ 89. Änesideinos und seine Schule 287
in. Die Vorl&afer des Neuplatonismus.
§ 90. Einleitung 292
1. Die rein griechischen Schulen.
§ 91. Die neuen Pythagoreer 293
§ 92. Die pythagorisierenden Platoniker 298
2. Die jüdisch-griechische Philosophie.
§ 93. Die jüdisch-griechische Philosophie vor Philon .... 808
§ 94. Philon von Alexandreia 806
Dritter Abschnitt. Der Neuplatonismus.
§ 95. Entstehung, Charakter und Entwicklung des Neu-
platonismus 811
§ 96. Das System Plotins. Die übersinnliche Welt 314
§ 97. Plotins Lehre von der Erscheinungswelt 818
§ 98. Plotins Lehre von der Erhebung in die übersinnliche
Welt 321
§ 99. Plotins Schule; Porphyrios 824
§ 100. Jamblichos und seine Schule 827
§ 101. Die Schule von Athen; der Ausgang der neuplatonischen
Schule 330
Namenverzeichnis 339
Nachträge 348
Einleitnng.
A. Methodologisch-literarische.
§ 1. Die Geschichte der Philosophie.
Die Philosophie hat die Aufgabe, die letzten Gründe de»
Erkennens und Seins wissenschaftlich zu untersuchen und
alles Wirkliche in seinem Zusammenhang mit ihnen zu be-
greifen. Die Versuche zur Lösung dieser Aufgabe bilden den
Gegenstand, mit welchem die Geschichte der Philosophie sich
beschäftigt. Aber sie bilden ihn nur, wiefern sie sich zu
größeren Ganzen , zu zusammenhängenden Entwicklungs-
reihen verknüpfen. Die Geschichte der Philosophie soll
zeigen, durch welche Veranlassungen der menschliche Geist
der philosophischen Forschung zugeführt wurde; in welcher
Gestalt man sich ihrer Aufgaben zuerst bewußt wurde, und
wie man sie zu lösen unternahm; wie sich das Denken mit
der Zeit immer weiterer Gebiete bemächtigte, immer neue
Fragestellungen und Antworten nötig befunden wurden, und
wie aus der mannigfaltigsten Wiederholung dieses Vorganges
alle die philosophischen Theorien und Systeme hervorgingen,
die uns bald vollständiger, bald unvollständiger bekannt sind.
Sie soll mit einem Worte die Entwicklung des philosophischen
Denkens von seinen ersten Anfängen an so vollständig, als
es der Zustand unsrer Quellen gestattet, in ihrem geschicht-
lichen Zusammenhang darstellen.
Da es sich nun hierbei um die Erkenntnis geschicht-
licher Tatsachen handelt, und da Tatsachen, die wir nicht
selbst beobachtet haben, uns nur durch Überlieferung be-
Z eller, Grundrii's. 1
2 Einleitung.
kannt werden können, muß die Geschichte der Philosophie,
wie alle Geschichte, mit der Sammlung der unmittelbaren
und mittelbaren Zeugnisse, der Prüfung ihres Ursprungs und
ihrer Glaubwürdigkeit, der quellenmäßigen Feststellung der
Tatsachen beginnen. Läßt sich aber schon diese Aufgabe
nicht ohne die Berücksichtigung des geschichtlichen Zu-
sammenhanges lösen, in dem das Einzelne erst seine nähere
Bestimmtheit und seine volle Beglaubigung erhält, so ist
vollends das Verständnis eines zusammengesetzten geschicht-
lichen Verlaufes nur dadurch möglich, daß die einzelnen Tat-
sachen nicht bloß im Verhältnis der Gleichzeitigkeit und
Aufeinanderfolge aneinandergereiht werden, sondern auch
ihre Kausalverknüpfung erkannt, jede Erscheinung aus ihren
Ursachen und Bedingungen erklärt, ihr Einfluß auf gleich-
zeitige und nachfolgende Erscheinungen aufgezeigt wird.
]Nun sind die Annahmen und Systeme, mit denen es die
Geschichte der Philosophie zu tun hat, zunächst das Werk
einzelner Personen, und als solches sind sie teils aus den
Erfahrungen, die zu ihrer Bildung Anlaß gegeben haben,
teils aus der Denkweise und dem Charakter ihrer Urheber,
aus den Überzeugungen, Interessen und Bestrebungen zu
erklären, unter deren Einfluß sie gebildet wurden. Aber
wenn wir auch durch unsere Quellen in den Stand gesetzt
wären, diese biographische und psychologische Erklärung
weit vollständiger durchzuführen, als wir sie tatsächlich
durchführen können, würde sie doch nicht ausreichen; denn
sie würde uns nur über die nächsten Gründe der geschicht-
lichen Erscheinungen Aufschluß geben, ihre entfernteren
Ursachen dagegen und den umfassenderen Zusammenhang,
dem sie angehören, außer acht lassen. Die Ansichten der
Einzelnen hängen zwar nicht bei allen in demselben Grade,
aber sie hängen doch immer von den Vorstellungen, den Be-
strebungen, der Empfindungs weise der Kreise ab, aus denen
ihr Geist seine Nahrung zieht, und unter deren Einfluß er
sich entwickelt; und ebenso ist ihre geschichtliche Wirkung
dadurch bedingt, daß sie den Bedürfnissen ihrer Zeit ent-
§ 1. Die Geschichte der Philosophie. 3
sprechen und in ihrer Zeit Anerkennung finden. Andererseits
aber bleiben jene Ansichten nicht auf ihre ersten Urheber
beschränkt; sie verbreiten und erhalten sich in Schulen und
durch Schriften, es bildet sich eine wissenschaftliche Über-
lieferung; die Späteren lernen von den Früheren, werden
durch sie zur Ergänzung, Fortbildung und Berichtigung ihrer
Ergebnisse, zur Aufwerfung neuer Fragen, zur Aufsuchung
neuer Antworten und Methoden angeregt. Die philosophischen
Systeme erscheinen so, wie eigenartig und selbständig sie auch
sein mögen, doch immer zugleich als Glieder eines umfassen-
deren geschichtlichen Zusammenhanges, sie lassen sich nur
aus diesem Zusammenhang vollständig begreifen, ihre ge-
schichtliche Wirkung wird durch ihn bedingt, gefördert oder
gehemmt, in diese oder jene Bahn gelenkt; und je weiter
wir dieses Verhältnis verfolgen, um so mehr schließt sich
das Einzelne zu einem Ganzen historischer Entwicklung zu-
sammen, und es entsteht die Aufgabe, nicht bloß das Ganze
aus den einzelnen es bedingenden Momenten, sondern ebenso
diese auseinander und somit das Einzelne aus dem Ganzen
zu erklären. Dies kann nun freilich nicht in der Art ge-
schehen, daß die geschichtlichen Vorgänge apriorisch, aus
dem Begriff des Lebensgebietes, um dessen Geschichte es sich
handelt, oder aus der Idee des durch diese Geschichte zu
erreichenden Zieles, konstruiert würden. Sondern auf rein
historischem Wege, auf Grund der Überlieferung sollen die
Bedingungen ermittelt werden, unter denen der geschichtliche
Verlauf sich vollzog, die Ursachen, aus denen er hervorging,
die Verkettung des Einzelnen, die sich hieraus ergab. — Jene
Ursachen und Bedingungen lassen sich nun, sofern es sich
um die Geschichte der Philosophie handelt, auf drei Klassen
zurückführen: die allgemeinen Bildungszustände jeder Zeit
und jedes Volkes; den Einfluß der früheren Systeme auf die
späteren; die individuelle Eigentümlichkeit der einzelnen
Philosophen. Beschränkt man sich für die Erklärung der
philosophischen Theorien auf die letztere, so erhält man jenen
biographischen und psychologischen Pragmatismus, von dem
1*
4 Einleitung.
schon oben gesprochen wurde. Geht man von der Erwägung
aus, daß die Philosophie kein isoliertes Gebiet, sondern nur
ein einzelnes Glied in dem Gesamtleben der Völker und der
Menschheit bildet; daß sie in ihrer Entstehung, ihrem Fort-
gang und ihrem Charakter durch die religiösen und politi-
schen Zustände, den Stand der allgemeinen Geistesbildung^,
die Entwicklung der übrigen Wissenschaften bedingt ist, so
wird man den Versuch machen, sie aus diesen ihren all-
gemeinen kulturgeschichtlichen Bedingungen zu begreifen.
Legt man das entscheidende Gewicht auf die Kontinuität der
wissenschaftlichen Überlieferung, den inneren Zusammenhang
und die geschichtliche Wechselwirkung der philosophischen
Schulen und Systeme, so erscheint die Geschichte der Philo-
sophie als ein in sich abgeschlossener, von einem bestimmten
Anfangspunkt aus mit innerer Gesetzmäßigkeit fortschreiten-
der Verlauf, den man um so gründlicher versteht, je voll-
ständiger es gelingt, in jeder späteren Erscheinung die logische
Konsequenz der nächst vorangehenden, und somit in dem
Ganzen, wie dies Hegel unternahm, eine mit dialektischer
Notwendigkeit sich vollziehende Entwicklung nachzuweisen.
Aber wenn auch dieses Moment um so mehr an Bedeutung
gewinnt, je selbständiger die Philosophie auf ihrem Gebiete
wird, so ist doch die Richtung und Gestalt des philosophischen
Denkens jederzeit durch die übrigen mitbestimmt. Nur
stehen diese zueinander hinsichtlich ihres Einflusses und
ihrer Bedeutung nicht immer in demselben Verhältnis; es
macht sich vielmehr bald das schöpferische Eingreifen hervor-
ragender Persönlichkeiten, bald die Abhängigkeit der späteren
Systeme von den früheren, bald die Einwirkung der all-
gemeinen Kulturzustände stärker geltend. Der Geschicht-
schreiber hat zu untersuchen, welche Bedeutung für die
Herbeiführung der geschichtlichen Ergebnisse jedem von
diesen Elementen im gegebenen Falle zukommt, und auf
Grund dieser Untersuchung ein Bild von dem historischen
Verlauf und dem Zusammenhang der Erscheinungen, aus
denen er sich zusammensetzt, zu entwerfen.
§ 2. Die griechische Philosophie. 5
§ 2, Die griechische Philosophie.
Die Frage nach den Ursachen, von denen die Welt und
das Menschenleben bestimmt wird, hat den menschlichen Geist
schon in den frühesten Zeiten und an den verschiedensten
Orten beschäftigt. Aber das, was sie hervorrief, war ur-
sprünglich weniger der Erkenntnistrieb als das Gefühl der
Abhängigkeit von höheren Mächten und der Wunsch, sich
ihrer Gunst zu versichern; und der Weg, auf dem ihre
Beantwortung versucht wurde, war nicht die wissenschaft-
liche Forschung, sondern die mythologische Dichtung. Nur
bei wenigen Völkern sind aus dieser mit der Zeit theologische
und kosmologische Spekulationen hervorgegangen, welche ein
umfassenderes Bild von der Entstehung und Einrichtung der
Welt zu gewinnen versuchen; aber solange diese Spekula-
tionen noch von der mythologischen Überlieferung ausgehen
und sich mit der Ausführung und Umbildung mythischer
Anschauungen begnügen, können sie nur den Vorgängern
der Philosophie, nicht den philosophischen Theorien als solchen
zugezählt werden. Die Philosophie beginnt erst da, wo man
das Bedürfnis empfindet und betätigt, die Erscheinungen aus
natürlichen Ursachen zu erklären. Dieses Bedürfnis kann
nun an verschiedenen» Orten, wenn die Vorbedingungen dazu
vorhanden waren, selbständig hervorgetreten sein; und wir
finden wirklich bei Indern und Chinesen Lehrsysteme, die
sich von den theologischen Vorstellungen dieser Völker weit
genug entfernen, um als ihre „Philosophie" bezeichnet werden
zu können. Aber kräftiger und mit nachhaltigerem Erfolg
als bei beiden hat sich der Gedanke einer rationalen Erkennt-
nis der Dinge bei den Hellenen zur Geltung gebracht, und
sie sind es auch allein, von denen sich eine fortlaufende
wissenschaftliche Überlieferung bis zu uns herab erstreckt.
Die Begründer der griechischen Philosophie sind zugleich
die Stammväter der unsrigen; ihre Kenntnis hat daher für
uns nicht bloß ein historisches, sondern auch ein sehr ein-
greifendes praktisch- wissenschaftliches Interesse; auch jenes
() Einleitung.
geht aber über das, welches die übrige Wissenschaft der
alten Welt darbietet, ebenso weit hinaus, als die griechische
Philosophie selbst durch ihren geistigen Gehalt, ihre wissen-
schaftliche Vollendung, ihre reiche und folgerichtige Ent-
wicklung über jene hinausgeht.
§ 3. Quellenschriften. Die Geschichte der Philo-
sophie bei den Alten.
Unter den Quellen, denen wir unsre Kenntnis der alten
Philosophie verdanken, nehmen die erhaltenen Schriften der
Philosophen und die Bruchstücke ihrer verlorenen Werke,
so weit sie echt sind, als unmittelbare Quellen die erste
Stelle ein. Unechte Schriften können in dem Maße, wie sich
ihr Ursprung und ihre Abfassungszeit bestimmen läßt, als
Selbstzeugnisse über den Standpunkt und die Ansichten der
Kreise, aus denen sie hervorgingen, benützt werden. Zu den
mittelbaren Quellen gehören außer den selbständigen ge-
schichtlichen Berichten über die Persönlichkeit, das Leben
und die Lehren der Philosophen, auteh alle die Werke, in
denen ihrer gelegentlich gedacht wird. Die rieichste Aus-
beute gewähren unter den letzteren teils Sammelwerke, die
uns Bruchstücke älterer Schriftsteller erhalten haben, wie
die des Athenäos, Gellius und Älian, Eusebios^
7tQ07raQaay.€v^ evayyelvynj (um 330 n. Chr.) , Joanne»
Stobäos' (wohl zwischen 450 und 550) vier Bücher IxAo-
ycüv ano(pd^eyiJL(iT(av v7co^7]y,(j5v^ die, soweit erhalten, in unseren
Handschriften an die „Eklogen" und das „Florilegium" ver-
teilt sind^), und Photios' (gest. 891) „Bibliothek", teils
solche Lehrschriften, deren Verfasser für die Begründung
ihrer eigenen Annahmen auf die ihrer Vorgänger näher ein-
gehen; wie dieses in umfassenderer Weise unsers Wissens
') Herausgegeben von Meineke in 4 Bänden (1855 — 1864), auf neuer
kritischer Grundlage von Wachsmuth (Bd. 1 u. 2, die „Eklogen" ent-
haltend) und O. Hense (Bd. 3, die erste Hälfte des „Florilegiums" ent-
haltend; Bd. 4 steht noch aus), Berlin 1884. 1886. 1894.
§ 3. Quellenschriften. ^
zuerst Platon, noch viel vollständiger Aristoteles tat, in der
Folge Schriftsteller wie Philodem, Cicero, Seneca, Plutarch,
Galen, Sextus Empirikus, Numenios, Porphyrios, Jamblichos,
Proklos, Philon von Alexandria und die christlichen Kirchen-
lehrer, ein Justin, Eirenäos, Clemens, Origenes, Hippolytos,
TertuUian, Augustin, Theodoret usw.
Von Aristoteles ging durch die kritische Übersicht
über die Prinzipien seiner Vorgänger im 1. Bande seiner Meta-
physik der Anstoß zu der selbständigen Bearbeitung der Ge-
schichte der Philosophie aus, welche Theophrast in den
18 Büchern seiner „Lehren der Physiker" (qwCLKat do^ai^
auch als „Geschichte der Physik", q)vaiicij laTogia^ angeführt)
und in zahlreichen Monographien unternahm, während Eu-
dem OS die Geschichte der Arithmetik, der Geometrie, der
Astronomie, vielleicht auch der theologischen Vorstellungen,
in eigenen Werken behandelte. Auf Theophrasts Geschichte
der Physik beruhten, wie Diels (Doxographi Grseci 1879)
nachgewiesen hat, die Übersichten über die Lehren der ver-
schiedenen Philosophen, die Kleitomachos (um 120 v.Chr.)
im Zusammenhang mit Karneades' Kritik der philosophi-
schen Theorien gab, und die eine Hauptfundgrube für die
späteren Skeptiker gebildet zu haben scheinen, und die Be-
arbeitung der Placita, die in der ersten Hälfte des
ersten vorchristlichen Jahrhunderts von einem Unbekannten,
vielleicht von Poseidonios, verfaßt und schon von Cicero und
Varro benutzt wurde ; ein Auszug aus ihr ist uns durch die
pseudoplutarchischen Placita philosophorum , die
Eklogen des Stobäos (s. S. 6) und Theodorets (f 457)
'^EllrjviiiCüv Tta&fjfÄCcTcav d^sganevTCXT] IV, 5 ff. großenteils er-
halten. Den Verfasser dieses Auszuges nennt Theodoret
Aätios^); seine Abfassungszeit scheint in das erste Drittel,
die der plutarchischen Placita in die Mitte des zweiten Jahr-
*) Die „Aetii Placita" hat Diels Doxogr. 273 ff. aus Pseudoplutarch
und Stobäos, deren Texte in zwei Kolumnen einander gegenübergestellt
sind , wiederhergestellt. Nach dieser Zusammenstellung wird im folgenden
zitiert.
g Einleitung.
hunderte n. Chr. zu fallen. Aus einer Epitome der theo-
phrastischen do^at schöpfte, wie es scheint um 150 n. Chr.,
der Verfasser der pseudoplutarchischen OTQu/^aTelg
(deren Bruchstücke bei Eüseb. pr. ev. I, 8) und aus ähnlichen
Auszügen zwei von Hippolytos (algiascov i'leyxogj B. I, früher
als Philosophumena des Origenes bezeichnet) und Diogenes
Laertios benützte Doxographen. Weitere Spuren dieser
Literatur lassen sich bei den Kirchenvätern Irenäos (um 190),
Clemens (um 200), Eusebios (gest. um 340), Epiphanios (gest.
403), Augustinus (gest. 430) nachweisen; ihre letzten uns
erhaltenen Ausläufer sind die pseudogalenische Schrift
Ttegl q)ikoa6g)ov loTogiag und Hermias' diaavQfxog xtjv e^ta
(piloa6g)a)v. Aus teilweise unhistorischen Motiven ging die
synkretistische Darstellung der akademischen, peripatetischen
und stoischen Lehre hervor, durch welche der Akademiker
An ti och OS von Askalon (gest. um 70 v. Chr.) seinen
Eklektizismus zu rechtfertigen suchte; ihm folgte in der-
selben Richtung gegen das Ende des Jahrhunderts der
Akademiker E u d r o s und der eklektische Stoiker A r e i o s
Didymos (dessen Fragmente bei Diels Doxogr. 445 ff. ;
Stob. Ekl. II S. 37 ff.; Wachsm.); vgl § 81.
Diesen dogmengeschichtlichen Übersichten über die An-
sichten der Philosophen geht eine zweite Reihe von Schriften
zur Seite, welche die Philosophen teils einzeln, teils nach
Schulen biographisch behandelten, und die Darstellung der
Lehren mit den Nachrichten über das Leben der Philosophen
(die gemeinsamen Lehren einer Schule mit denen über ihren
Stifter) verbanden. Hierher gehören schon Xenophons
Denkwürdigkeiten des Sokrates und was in Piatons Ge-
sprächen für geschichtlich zu halten ist, nebst den verlorenen
Schriften der Platoniker Speusippos, Xenokrates,
Philippos und Hermodoros über ihren Lehrer, des
Herakleides Pontikos über die Pythagoreer, des Pytha-
goreers Lykon (um 320) über Pythagoras. Seinen Hauptsitz
hatte aber auch dieser Zweig der philosophie-geschichtlichen
Literatur in der peripatetischen Schule und bei den ihr ver-
§ 3. Quellenschriften. 9
wandten alexandrinischen Gelehrten. Schon von Aristoteles
und Theophrast werden Monographien über einzelne Philo-
sophen und Auszüge aus ihren Schriften genannt; ebenso
von den Aristotelikern Dikäarchos, Aristoxenos (Bioi
avdquiv. üv^ayogi^xal äTtoqxxastg), Klearchos, Phanias.
Um 250 V. Chr. verfaßte der berühmte Kallimachos aus
Kyrene in Alexandria sein großes, auch für die Geschichte
der Philosophie wichtiges literarhistorisches Werk: Ttiva'^eg
%Sifv iv Ttdatj TtaiÖBiif diaXafixpdytcjv 'Kai wv avveyqaxpav^ um
240Neanthes von Kyzikos ein Werk tcbqI evdo^fav avdQ(jiv\
um 225 Antigenes von Karystus seine ßLoi\ um 200 der
Peripatetiker Hermippos 6 KaXkifxdxBiogj gleichfalls ßioi.,
eine reichhaltige Fundgrube biographischer und literarhisto-
rischer Notizen für die Späteren, der Aristarcheer Satyros,
ebenfalls ein Peripatetiker, seine ßioi'^ bald nachher So tion
seine diadox^ tüv q)iloa6q)<jjVj welche für die Einteilung der
einzelnen Philosophen in Schulen maßgebend blieb ; Auszüge
aus den beiden letzteren verfertigte Herakleides Lembos
(um 180 — 150). Nach diesem schrieb der Peripatetiker
Antisthenes (fraglich, ob mit dem Historiker aus Rhodos
identisch) q)iXoo6q>(av diadoxai^ ein gleichnamiges Werk des
Sosikrates ist wahrscheinlich in Ciceros Zeit zu setzen. Der
akademischen Schule gehörte Aristippos (um 210 v. Chr.)
an, der 7t, q>vaiok6ya}v schrieb; aus derselben stammt
Kletomachos' Werk Ttegl aigiaetov^ vielleicht von dem
S. 7 genannten nicht verschieden. Aus der stoischen ging
Eratosthenes (284 — 204) hervor, der berühmte Gelehrte,
dessen chronologische Bestimmungen auch für die Geschichte
der Philosophie zur Geltung kamen; an ihn hat sich sein
Schulgenosse ApoUodoros (um 140 v. Chr.) in seinen
„Chronika", einer ergiebigen Quelle für alle Späteren (die
Fragmente gesammelt von F. Jacoby, 1902), vielfach an-
geschlossen; inwieweit dagegen die Abhandlungen eines
Kleanthes und Sphäros über einzelne Philosophen und
Panätios' Schrift über die Philosophenschulen einen histo-
rischen Charakter hatten, ist fraglich. Auch Epikur scheint
10 Einleitung.
die früheren Philosophen nicht im geschichtlichen Sinne be-
sprochen zu haben ; aus seiner Schule kennen wir einige Werke,
die dies versuchten : von Idomeneus (um 270 v. Chr.) eine
unzuverlässige Schrift über die Sokratiker; von Apollodor
(um 120 V. Chr.) eine owaytoyt] twv öoyfÄorwv und ein Leben
Epikurs, von Philodem (um 50 v. Chr.) eine avvTa^ig züv
(fiXoaocpioVj der zwei herkulanensische Verzeichnisse der
akademischen und der stoischen Philosophen entnommen zu
sein scheinen. Jüngere Zeitgenossen des Philodem sind die
beiden Magnesier Demetrios und Diokles, von denen
jener über gleichnamige Männer, dieser eine iTtiÖQOfX'^ xüv
(piloaoqxov geschrieben hat, und der Stoiker ApoUonios
aus Tyros, von dem ein Leben Zenons angeführt wird ; etwas
älter ist Alexander Polyhistor, der eine Geschichte der
Philosophenschulen (qnloootpwv diadoxai) und eine Erklärung
pythagoreischer Symbole verfaßte. Frühestens um 70 v. Chr.
hat Hippobotos sein ^ Philosophen Verzeichnis und seine
Schrift 7t. aigiaetov, etwa um 70 n. Chr. Nikias von Nikäa
seine öiadoxai geschrieben. Seit dem ersten Jahrhundert
unsrer Zeitrechnung wurde die Geschichte und Lehre des
Pythagoras in der neuen Pythagoreerschule mehrfach, aber
durchweg kritiklos und ohne historischen Sinn dargestellt:
so um 60 — 80 n. Chr. von Moderatus und ApoUonios
von Tyana, um 130 von Nikomachos. Viele Notizen
zur Geschichte der Philosophen lieferten die Schriften des
Favorinus (s. unten § 89 g. E.); von des Peripatetikers
Aristokles (um 180 n.Chr.) kritischer Übersicht über die
philosophischen Systeme hat Eusebios Bruchstücke erhalten.
Nur in Bruchstücken und durch einzelne Anführungen ist
uns überhaupt die große Mehrzahl der bisher besprochenen
Schriften zur Geschichte der Philosophie bekannt; und von
den letzteren verdanken wir einen beträchtlichen Teil den
zehn Büchern des Diogenes Laärtios über Leben und
Lehre der namhaften Philosophen. Denn so nachlässig und
urteilslos auch diese, wahrscheinlich dem zweiten Viertel des
3. Jahrhunderts n. Chr. angehörige Kompilation, vielleicht die
§ 8. Quellenschriften. H
Bearbeitung eines Auszuges aus Nikias (s. S. 10) ^), abgefaßt ist^
so unschätzbar sind doch für uns bei dem Verlust der meisten
älteren Quellen die Nachrichten, welche sie uns, in der Regel
erst aus dritter und vierter Hand, aber sehr häufig unter
Nennung der Zeugen mitteilt, denen Diogenes oder die von
ihm ausgeschriebenen Werke sie verdankten. Unter den Neu-
platonikern machte sich der gelehrte Porphyrios (um 232
bis 304 n. Chr.) außer seinen Kommentaren auch durch seine
(piXoaocpog iatogia, aus der das Leben des Pythagoras sich
erhalten hat, um die Kenntnis der älteren Philosophen (bis
auf Piaton) verdient ; einem dogmatischen Werke diente seines
Schülers Jamblichos ausführliches Leben des Pythagoras
zur Einleitung. Für die Geschichte der neuplatonischen
Schule sind Eunapios' (um 400 n. Chr.) ßioc aoq)i(nüiy
(Philosophen und Rhetoren) eine Hauptquelle; die spätere
Zeit dieser Schule behandelte Damaskios' (um 520 n.Chr.)
in Bruchstücken erhaltene g>tl6aog>og laTOQia. Nach 550 ver-
faßte Hesychios aus Milet sein Werk 7t. xüv ev naideitje
dcaXafiipdvTWv, aus welchem die Artikel über die alten Philo-
sophen in Suidas' Lexikon (zwischen 1000 und 1150 n.Chr.)
zunächst entlehnt sind ; die Schrift jedoch, welche wir unter
Hesychius' Namen besitzen, ist eine spätbyzantinische Kom-
pilation aus Diogenes und Suidas; das angebliche „Violarium''
der Kaiserin Eudokia (1060 — 1070) scheint sogar erst aus
dem 16. Jahrhundert zu stammen.
Unter unseren Quellen für die Kenntnis der alten Philo-
sophen nehmen auch die Schriften, welche der Erklärung
ihrer Werke gewidmet sind, eine bedeutende Stelle ein. Wie
frühe das Bedürfnis solcher Erläuterungsschriften empfunden
wurde, zeigt schon der Umstand, daß der Akademiker
Krantor (um 280 v. Chr.) Piatons Timäos, der Stoiker
Kleanthes (um 260) Heraklits Schrift kommentierte, der
Grammatiker Aristophanes von Byzanz (um 200) Piatons
Werke in Trilogien ordnete. Die Blütezeit der Kommentatoren -
^) Über die Quellen des Diog. s. jetzt Cbönert Kolotes u. Menedemos
133 ff.
12 Einleitung.
tätigkeit beginnt aber erst um die Mitte des ersten Jahr-
hunderts V. Chr. Um diese Zeit begründete in der peripate-
tischen Schule der Rhodier Andronikos, der Herausgeber
des Aristoteles und Theophrast, das gelehrte Studium der
aristotelischen Schriften ; von ihm zieht sich bis auf
Alexander von Aphrodisias (um 200 n.Chr.), den be-
rühmten Exegeten, eine lange Reihe von Männern herab,
welche diese Schriften teils in Kommentaren, teils in ein»
leitenden und zusammenfassenden Werken bearbeiteten. Diesem
Beispiel folgte die platonische Schule. Bald nach Andronikos
machten sich Derkylides und Eudoros, etwas später
Thrasyllos durch Schriften über Piaton bekannt, und seit
Plutarch wird dieser Philosoph in der akademischen Schule
ebenso eifrig ausgelegt wie Aristoteles in der peripatetischen.
Die Neuplatoniker (und einzelne Gelehrte auch schon früher)
widmeten sich beiden bis ins 6. Jahrhundert herab mit
gleichem Fleiß. Von den uns erhaltenen Kommentaren (die
zu Aristoteles von der Berliner Akademie neu herausgegeben)
sind von hervorragendem Wert für die Geschichte der Philo-
sophie, namentlich durch die Mitteilung von Bruchstücken
philosophischer Schriften, die des Alexander über die
aristotelische Metaphysik, des Simplicius (um 530 n. Chr.)
über die Physik und die Bücher vom Himmelsgebäude;
nächstdem die übrigen Erläuterungsschrifteri dieser beiden
Exegeten und des Joannes Philoponos (um 530) über
aristotelische, die des Proklos (410 — 485) über platonische
Werke.
§4. Neuere Hilfsmittel.
Von neueren Schriften über die griechische Philosophie
sollen hier nur solche aus den letzten zwei Jahrhunderten,
und auch aus dieser Zeit nur die angeführt werden,
welche flir die Geschichte unserer Wissenschaft von beson-
derer Bedeutung oder als brauchbare Hilfsmittel für ihr
Studium in der Gegenwart hervorzuheben sind. Als grund-
legende Arbeit ist unter ihnen zunächst Bruckers
§ 4. Neuere Hilfsmittel. 13
„Historia critica philosophise" (1742 ff.; die alte Philosophie
behandeln Bd. 1. 2) zu nennen, eine gelehrte und kritische
Leistung von hervorragendem Wert, wenn auch der Stand-
punkt der geschichtlichen Beurteilung nicht über ihrer Zeit
steht; neben ihr die hierhergehörigen Abschnitte von J. A.
Fabricius' „Bibliotheca Grseca" (1705 ff., erheblich ergänzt
in der Ausgabe von Harleß 1790 ff.), um das Ende des 18.
und den Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Geschichte
der Philosophie ihrem ganzen Umfang nach in drei ausführ-
lichen Werken dargestellt : Tiedemanns „Geist der spekula-
tiven Philosophie" (1791 — 97), Buhl es „Lehrb. der Gesch.
d. Phil." (1796—1804) und Tennemanns „Gesch. d. Phil."
(1798—1819; Bd. 1 von Wendt bearbeitet 1829). Jedes von
diesen Werken hat seinen Wert ; am längsten erhielt sich das
von Tennemann trotz der Einseitigkeit, mit der Kant sein
historisches Urteil beherrscht, in verdientem Ansehen. Neben
ihnen sind für die alte Philosophie die Arbeiten von Mein er s
„Gesch. d. Wissenschaften in Griechenland u. Rom" (1781ff. u. a.)
und Füll e bor n, „Beiträge" (1791 ff.) zu erwähnen. Bald
machte sich aber auch der Einfluß der nachkantischen Philo-
sophie und des neuen Geistes geltend, in dem man die Alter-
tumswissenschaft zu betreiben anfing. Schleiermacher
gab durch seine Untersuchungen über verschiedene griechische
Philosophen (jetzt: Werke, zur Phil. 2. u. 3. Bd.), nament-
lich aber durch die Einleitungen und Anmerkungen zu einer
Platon-Übersetzung („Piatons Werke" 1804 — 1828), denen
nach seinem Tode eine gedrängte, durch eigentümliche Auf-
fassungen anregende „Geschichte der Philosophie" (1839,
W. zur Phil. 2. Bd. 1. Abt.) folgte, Böckh durch seine
klassischen Arbeiten über Philolaos (1819) und Piaton außer
den Bd. 3 der Kl. Schriften abgedruckten, von 1807—1865
herabreichenden: „in Plat. Minoem", 1806; „Untersuch, über
das kosmische System des Plato", 1852), das Vorbild für eine
in die Eigentümlichkeit der alten Philosophen und die innere
Werkstätte ihrer Gedanken tiefer eindringende Geschichts-
behandlung. Hegels Vorlesungen über die Geschichte der
J4 Einleitung.
Philosophie (nach seinem Tode 1833 f. 1840 f. in Bd. 13-15
der „Werke" herausgegeben) heben zwar die dialektische
Notwendigkeit im Hervorgang des Späteren aus dem Früheren
nicht ohne Einseitigkeit hervor, aber für das wissenschaft-
liche Verständnis und die geschichtliche Würdigung der philo-
sophischen Systeme haben sie eingreifend gewirkt. An
Schleiermacher schließen sich ihrer allgemeinen Richtung
nach die verdienstvollen Werke von Ritter, „Gesch. der
Philosophie« (Bd. 1 — 4, 1829 f. 1836 f.) und Brandis,
„Handbuch d. Gesch. d. grie'ch.-röm. Phil." (3 Tle. in 6 Bden.,
1835 — 66) an. Zwischen der gelehrten Forschung und der
spekulativen Geschichtsbetrachtung zu vermitteln, die Einsicht
in die Bedeutung und den Zusammenhang des Einzelnen aus
der Überlieferung selbst durch kritische Sichtung und ge-
schichtliche Verknüpfung zu gewinnen, ist die Aufgabe, welche
meine „Philosophie der Griechen" (1. Aufl. 1844 — 1852;
3. Aufl. 1869-1882; Tl. I, 5. Aufl. 1892; Tl. IIa, 4. Aufl. 1888;
Tl. III b, 4. Aufl. 1903) sich stellte. Kürzer hat S t r ü m p e 1 1 ,
aus dem Standpunkt der Herbartschen Schule, 1854 die
„Gesch. der theoretischen Philosophie d. Griechen", 1861 die
„Gesch. der praktischen Phil, der Griechen vor Aristoteles"
behandelt. Die alte Philosophie in ihrem Zusammenhang
mit allen übrigen Lebensgebieten zu schildern, ist der leitende
Gedanke von Gomperz' noch nicht vollendetem Werke
„Griech. Denker" (2. Bde. 1. Bd.: Die Vorsokratiker, 1896,
2. Aufl. 1903; 2. Bd.: Sokrates und Piaton, 1901; 2. Aufl.
1903). In Dörings „Gesch. d. griech. Phil." (2 Bde. 1903)
wird die antike Philosophie ihrem Grundcharakter nach als
Güterlehre aufgefaßt. Die ältere Philosophie bis auf Platon
behandelt E. Kühnemann, „Grundlehren d. Phil." (1899),
und von neukantianischem Standpunkte aus W. Kinkel,
„Gesch. d. Phil.", Tl. I: „Von Thaies bis auf die Sophisten"
(1906). Unter den außerdeutschen Gelehrten, denen die
Kenntnis der griechischen Philosophie in der neueren Zeit
eine Förderung zu verdanken hat, sind V. Cousin (1792
bis 1867) mit seinen „Fragments philosophiques", seiner „In-
§ 4. Neuere Hilfismittel. 15
troduction ä Thistoire de la philosophie" und seiner „Histoire
gön^rale de la philosophie" ; George Grote (1794 — 1871)
mit den hierhergehörigen Teilen seiner „History of Greece",
namentlich Bd. VIII, seinem „Plato" (1865) und dem un-
vollendeten „ Aristo tle" (1872) hervorzuheben. Für die vor-
sokratische Zeit siud von Wichtigkeit die Werke von Tan-
nery, „Pour Fhistoire de la science hellene" (1887), und
von J. Burnet, „Early greek philosophy" (1892). Von den
zahlreichen Kompendien, welche unseren Gegenstand behandeln,
mögen die folgenden angeführt werden: Brandis, „Gesch.
der Entwicklungen der griech. Philosophie" (1862. 1864).
Prell er (erst: Ritter und Pr.), „Historia philosophiae
grseco-romanse ex fontium locis contexta" (1838; 7. Aufl. [von
Schulteß und Wellmann] 1888; 8. Aufl. [von Well-
mann] 1898). Schwegler, „Gesch. d. Phil im Umriß"
(1848; 16. Aufl. 1905). Ders., „Gesch. d. griech. Phil."
(herausg. von Köstlin, 1859; 4. Aufl. 1886). Überweg,
„Grundriß d. Gesch. d. Phil." (1. Tl. 1862; 9. Aufl. [von
M. Heinze] 1903). K Er d mann, „Grundriß d. Gesch.
d. Phil," (1. Tl. 1866; 4. Aufl. [von B. Erdmann] 1896).
Lewes, „History of philosophy" (Vol. I. 1867; deutsch
2. Aufl. .1873). Windelband, „Gesch. d. alten Phil."
(1888; 2. Aufl. 1894). Ders., „Gesch. d. Phil." (1892;
4. Aufl. 1907). Rehmke, „Grundriß d. Gesch. d. Phil."
(1896, S. 1—86). Vorländer, „Gesch. d. Phil." (in 2 Bdn.,
1903; 2. Aufl. 1908). Baumann, „Gesamt Gesch. d. Phil."
(1903). Die Geschichte einzelner philosophischer Fächer und
Lehren behandeln: Prantl, „Gesch d. Logik im Abend-
land" (Bd. 1; 1855). Natorp, „Forschungen zur Gesch. d.
Erkenntnisproblems" (1884). Dilthey, „Einleitung in die
Geisteswissenschaften" (Bd. 1; 1883). Bender, „Mythologie
und Metaphysik" (Bd. 1; 1899). Eucken, „Die Anschau-
ungen der großen Denker" (1890; 6. Aufl. 1905). Lange,
„Gesch. d. Materialismus" (1. Tl. 2. Aufl. 1873; 7. Aufl. 1902).
Bäumker, „Das Problem d. Materie in d. griech. Phil."
(1890). Ch. Huit, „La philosophie de la nature chez les
10 Einleitang.
anciens** (1901). Heinze, Die Lehre vom Logos in der
griech. Phil." (1872). Aall, „Gesch. der Logosidee in der
griech. Phil." (2 Tle. 1896. 1899). Sieb eck, „Gesch. d.
Psychologie" (1. TL 1. Abt 1880; 2. 1884). E. Rhode,
„Psyche. Seelenkalt u. Unsterblichkeitsglauben d. Griechen"
(1897; 3. Aufl. in 2 Bdn. 1903). P.Decharme, „La critique
des traditions religieuses chez les Grecs" (1904). Ziegler,
„Gesch. d.Ethik" (I.Abt. 1881). Köstlin, „Gesch. d. Ethik"
(1. Tl. 1887). L. Schmidt, „Die Ethik d. alten Griechen"
(2 Bde. 1882). Hildebrand, „ Gesch. u. System d. Rechts-
u. Staatsphilosophie" (1. Bd. 1860). Pöhlmann, „Gesch. d.
antiken Kommunismus" (2 Bde. 1892. 1901). Walter, „Gesch.
der Ästhetik im Altertum" (1893). Die griechischen Doxo-
graphen hat Diels, „DoxographiGr8eci"(1879) herausgegeben
und ihre Quellen untersucht. Um die Florilegienliteratur haben
sich Wachsmuth durch seine „Studien z. d. griech. Flori-
legien" (1892) (über seine Ausgabe der „Eklogen des Stobäus"
s. S.6) und Elter in einer Reihe von Abhandlungen verdient
gemacht. Die wissenschaftlich unzulängliche, aber bis jetzt um-
fassendste Sammlung von Bruchstücken alter Philosophen, die
Mullach, „Fragmenta philosophorum Grsec." (3 Tle. 1860.
1867. 1881) herausgegeben hat, ist neuerdings zum großen
Teil ersetzt worden durch die von Diels auf streng kritischer
Grundlage gesammelten „Fragmente der Vorsokratiker" (1903;
2. durch einen Kommentar und zwei Register bereicherte
Auflage in zwei Bänden 1906. 1907 ; Bd. 3 soll einen ausführ-
lichen Wortindex bringen) ^). Die wichtigsten Monographien
über einzelne Philosophen und ihre Lehren werden an ihrem
Ort genannt werden; ihr Leben und ihre Schriften werden
auch in den Lehrbüchern der Literaturgeschichte und der
allgemeinen Geschichte besprochen. Vielfach berührt werden
ihre Lehren auch in den auf die Geschichte der antiken
Mathematik, Astronomie, Medizin, Erdkunde, Sprachwissen-
schaft und Religion bezüglichen Schriften.
^) Nach der 2. Auflage der Di eis sehen Sammlung wird im folgenden
zitiert.
§ 5. Entstehung der griech. Philosophie: der Orient. 17
B. Historische Einleitung.
§ 5. Entstehung der griechischen Philosophie:
angebliche orientalische Abkunft.
Eine alte Überlieferung behauptet, daß mehrere von den
bedeutendsten griechischen Philosophen, Pythagoras, Demokrit,
Piaton u. a., ihre wissenschaftlichen Lehren orientalischen
Völkern zu verdanken haben. Nachdem schon zu Herodots
Zeit die Ägypter sich den Griechen als die Stammväter der
griechischen Religion zu empfehlen gesucht hatten, begegnet
uns seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. die Meinung, welche
vielleicht zuerst von Orientalen aufgebracht, aber von den
Griechen bereitwillig angenommen und weiter entwickelt
wurde, daß die ganze griechische Philosophie oder doch viele
von ihren einflußreichsten Lehren und Systemen aus dem
Orient stammen. Den gleichen Anspruch erhoben die Juden
der alexandrinischen Schule seit dem 2. Jahrhundert v. Chr.
für die Propheten und die heiligen Schriften ihres Volkes,
und die christlichen Gelehrten von Clemens und Eusebios
bis über das Ende des Mittelalters herab schenkten ihnen
Glauben. Heutzutage sind zwar diese jüdischen Fabeln all-
gemein aufgegeben ; dagegen findet die Annahme eines orien-
talischen Ursprungs der griechischen Philosophie als solcher
fortwährend ihre Verteidiger; als ihre eifrigsten Verfechter
sind um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Roth, ^Gesch.
d. abendl. Phil.« (1. Bd. 1846. 1862; 2. Bd. 1858) und
Gladisch (seit 1841 in einer Reihe von Schriften; vgl.
„Phil. d. Gr." I, 27 f.) aufgetreten. Auch in den letzten
Jahrzehnten sind mehrfach erneute Versuche gemacht worden,
die Lehren einzelner griechischer Philosophen aus dem Orient
herzuleiten, so die Heraklits aus Ägypten, die des Pythagoras
und Demokrit aus Indien, und neuerdings macht sich das
Bestreben geltend , babylonische Einwirkungen auf die grie-
chische Philosophie nachzuweisen.
Zeller, Orundrifs. 2
18 Einleitiuig.
Nun haben allerdings die Vorfahren der Hellenen aus
ihren Stammsitzen mit der ältesten Form ihrer Sprache
auch gewisse religiöse und sittliche Vorstellungen, welche
denen der übrigen indogermanischen Völker verwandt sind,
in ihre spätere Heimat mitgebracht; und sie haben in
dieser selbst viele Jahrhunderte lang den Einfluß ihrer öst-
lichen Nachbarn erfahren, und erst unter dieser Einwirkung
hat sich aus dem altpelasgischen Volkstum das spätere
hellenische herausgebildet. Ihre nächsten Lehrmeister scheinen
tiberwiegend die Phönizier, die entfernteren Babylonier und
Ägypter gewesen zu sein. Orientalische Kulte und Götter
verschmolzen mit den altgriechiscben oder traten ihnen zur
Seite; auf orientalische Lehrer und Muster weisen die alten
Königsburgen und Königsgräber, Festungs- und Wasserbauten
der vorhomerischen Zeit wie die ersten Anfänge der bilden-
den Kunst; von den Phöniziern haben die Griechen ihr
Alphabet erhalten und die Schreibkunst gelernt; mit Maßen,
Gewichten und Münzen sind auch die Anfänge der Rechen-
und Meßkunst, mit der Vervollkommnung der Schiffahrt die
der Sternkunde von Osten her bei ihnen eingewandert. Daß
sie dagegen auch philosophische Lehren und Methoden eben-
daher entlehnt haben, läßt sich (abgesehen von einzelnen
späten Erscheinungen) nicht erweisen. So oft uns auch diese
Behauptung bei Schriftstellern der alexandrinischen und nach-
alexandrinischen Zeit begegnet, so weist sich doch keiner von
ihnen darüber aus, daß er sie einer zuverlässigen und auf
die Tatsachen selbst zurückreichenden Überlieferung verdanke ;
es zeigt sich vielmehr die merkwürdige Erscheinung, daß
die Zeugnisse für sie um so vollständiger verstummen, je mehr
wir uns den angeblichen Vorgängen selbst zeitlich nähern,
und um so reichlicher fließen, je weiter wir uns von ihnen
entfernen, und daß in demselben Maße, wie die Griechen mit
weiteren orientalischen Völkern bekannt werden, auch die an-
geblichen Lehrer ihrer älteren Philosophen sich vermehren.
Dieser Sachverhalt weist entschieden darauf hin, daß die
späteren Angaben nicht aus geschichtlicher Erinnerung
§ 5, Entstehung der griech. Philosophie: der Orient. 19
fitammen, nicht Zeugnisse sind, sondern bloße Vermutungen.
Glaubt man andererseits auf eine Abhängigkeit der griechi-
schen Philosophie von orientalischen Spekulationen aus ihrer
inneren Verwandtschaft mit solchen schließen zu können,
so verschwindet doch dieser Schein, sobald man beide in
ihrer geschichtlichen Bestimmtheit auffaßt und weder den
Griechen noch den Orientalen unterschiebt, was erst spätere
Ausdeutung in ihre Lehren hineingelegt hat. Ihr Zusammen-
treffen zeigt sich dann auf solche Punkte beschränkt, bei
denen es zu seiner Erklärung der Annahme nicht bedarf, daß
die griechischen Philosophen ihre Lehren ganz oder teilweise
aus orientalischen Quellen geschöpft haben. — Diese Annahme
ist aber nicht bloß unerweislich, sondern es stehen ihr auch
schwerwiegende positive Gründe entgegen. Die östlichen
Völker, mit denen die Griechen bis auf Alexander herab in
Berührung kamen, hatten nach allem, was uns über sie be-
kannt ist, zwar Mythologien und mythische Eosmogonien,
aber keines von ihnen besaß eine Philosophie, keines machte
den Versuch einer natürlichen Erklärung der Dinge, die den
griechischen Denkern für die ihrigen als Quelle oder Vorbild
hätte dienen können; und wenn sich auch etwas von Philo-
sophie bei ihnen gefunden hätte, würde schon die Schwierig-
keit der sprachlichen Verständigung seiner Übertragung zu
den Hellenen große Hindemisse in den Weg gelegt haben.
Die griechische Philosophie ihrerseits trägt ein durchaus
nationales Gepräge; es zeigt sich in ihr gerade bei ihren
ältesten Vertretern keine von allen den Erscheinungen, die
8onst überall vorkommen, wo ein Volk seine Wissenschaft aus
dem Auslande bezieht: kein Kampf des Einheimischen mit
dem Fremden, kein Gebrauch unverstandener Formeln, keine
Spur von unselbständiger Aneignung und Nachahmung des
Überlieferten; und während bei den Orientalen die Wissen-
schaft durchaus Monopol der Priesterschaft und daher von
ihren Satzungen und Traditionen abhängig ist, tritt die grie-
chische Philosophie nicht allein von Anfang an in voller Freiheit
und Selbständigkeit auf, sondern es fehlt dem griechischen
20 Einleitung.
Volke auch überhaupt, um so vollständiger, je weiter man in
seine Urzeit hinaufgeht, an einem eigenen Priesterstand und
einer Hierarchie. Hören wir endlich die älteren und zuver*
lässigeren Zeugnisse ab, so gesteht Aristoteles (Metaph. I»
1. 981 b 23) den Ägyptern zwar die erste Erfindung der
mathematischen Wissenschaften zu, aber ägyptischer oder
sonstiger orientalischer Philosopheme erwähnt er nirgends^
so sorgfUItig er auch allen Spuren der späteren Lehren bei
den Früheren nachgeht ; zu Herodots Zeit scheinen selbst die
ägyptischen Priester noch nicht daran gedacht zu haben, daß
philosophisches Wissen von ihnen zu den Griechen gekommen
sein könnte; Demokrit (b. Clemens Strom. I, 15, 69 S. 356 f. P.
I 53 f. St.) räumt auch in der Geometrie den ägyptischen Ge-
lehrten keinen Vorrang vor sich ein ^), und Platon weist (Rep.
IV, 435 E. Gess.V, 747 C) den Ägyptern und Phöniziern das
q}i'ko%QYiiAaxov j den Hellenen das q>iXoiia&€g als charakte-
ristische Eigenschaft zu.
§ 6# Einheimische Quellen der griechischen
Philosophie.
Die wirklichen Entstehungsgründe der griechischen Philo-
sophie liegen in der glücklichen Begabung des griechischen
Volkes, in den Anregungen, die seine Lage und Geschichte
ihm zuführte, in der Entwicklung, die sein religiöses, sitt-
liches, politisches und künstlerisches Leben bis zu der Zeit
genommen hatte, in welcher uns die ersten Versuche einer
wissenschaftlichen Forschung bei ihm begegnen. Kein anderes
Volk des Altertums zeigt sich uns schon von Hause aus mit
so reichen und vielseitigen Anlagen ausgerüstet wie das helle-
nische ; in keinem ist das praktische Geschick und die rührige
Tatkraft mit einem so feinen Gefühl für das Schöne, einem
so regen und tiefen Wissensdrang, der gesundeste Bealismua
mit so viel Idealität, die scharfe Auffassung des Einzelnen
mit einem so ausgesprochenen Sinn für seine geordnete und
Dieses Bruchstück ist jetzt von üiels mit guten Gründen für un-
echt erklärt worden (vgl. „Vors." II, 727 f.).
§ 6. Einheimische Quelle9 der griech. Philosophie. 21
geftlllige Verknüpfung, für Gestaltung eines schönen und in
eich einstimmigen Ganzen verbunden. Dieser natürlichen Aus-
stattung kam ferner die Gunst einer Lage entgegen, welche
ihr die mannigfaltigsten Anregungen und Hilfsmittel zuführte,
aber ihre Gaben nur solchen anbot, die sie durch eigene
Tätigkeit zu erwerben wußten. An der Brücke, die Asien
mit Europa verbindet, auf Inseln und reich entwickelten
Küsten von mäßiger Fruchtbarkeit angesiedelt, waren die
Griechen auf den lebhaftesten Verkehr miteinander und mit
ihren Nachbarn angewiesen; sie erfuhren von einem Teile
dieser, solange sie ihnen an Macht und Bildung über-
legen waren, einen nachhaltigen Einfluß (vgl. S. 18); sie
wußten sich aber auch rechtzeitig von diesem Einfluß zu
befreien, die Fremden zu verdrängen oder zu hellenisieren,
der eigenen Nationalität durch großartige Kolonisation ein
weites Arbeitsfeld aufzuschließen. So entwickelten sich in
den kleinen Gemeinwesen der hellenischen Städte schon- früh-
zeitig, Hand in Hand mit dem steigenden Verkehr und Wohl-
stand, die Grundlagen einer Bildung, die an sich selbst und
in ihrer geschichtlichen Wirkung einzig dasteht. Jene Natur-
anschauungen , von welchen die Götterverehrung der vor-
hellenischen Zeit ausgegangen war, wurden ethisch vertieft
und künstlerisch umgebildet, die Götter zu sittlichen Mächten,
zu Idealen menschlicher Tätigkeiten und Zustände erhoben ;
und kam auch die Religion als solche in den Mysterien so
wenig wie im öffentlichen Kultus über die Schranken eines
anthropomorphistischen Polytheismus hinaus, so enthielt sie
doch lebenskräftige Keime, die nur weiter entwickelt werden
durften, um über sie hinauszuführen. Und weil es sich in
ihr mehr um den Kultus handelte als um die Lehre, weil sie
keine gleichförmige und allgemein anerkannte Dogmatik hatte,
sondern nur eine in den mannigfaltigsten Abwandlungen über-
lieferte, durch die bewegliche Phantasie des Volkes und seiner
Dichter in beständigem Fluß erhaltene Mythologie, vor allem
aber, weil es keine fest organisierte und mit äußerer Macht
ausgestattete Priesterschaft gab, legte sie der freien Bewegung
22 Einleitung.
und dem Fortschritt des Denkens bei den Griechen trotz der
Angriffe y denen ein Anaxagoras, Protagoras und Sokrates
ausgesetzt waren (Aristoteles gehört kaum hierher), doch im
ganzen und großen keine Hindernisse in den Weg, welche
sich mit denen irgend vergleichen ließen, mit denen das
Denken in den orientalischen Reichen und im Mittelalter zu
kämpfen hatte. Die gleiche Freiheit beherrscht ferner das
sittliche Leben der Einzelnen und des Gemeinwesens. In
der Mehrzahl der griechischen Städte wurden die alten
Aristokratien, meist nach einer länger oder kürzer andauern-
den, für die allgemeine Bildung im ganzen sehr ersprieß-
lichen Herrschaft von „Tyrannen", durch demokratischere
Einrichtungen verdrängt oder beschränkt ; und gerade in den
Teilen des hellenischen Volkes, die für seine Wissenschaft am
meisten getan haben, in den ionischen und italisch-sizilischen
Städten und Athen, kam das bürgerliche Leben zur freiesten
Entwicklung. Nicht minder wichtig war aber für die Ent-
stehung und Gestaltung der griechischen Wissenschaft jene
Achtung vor Sitte und Gesetz, jene Unterordnung der Ein-
zelnen unter das Ganze, ohne welche die republikanischen
Verfassungen der hellenischen Städte nicht hätten bestehen
können. Aus der Freiheit, mit der man sich in allen Lebens-
verhältnissen bewegte, schöpfte das wissenschaftliche Denken
die Unabhängigkeit und Kühnheit, die wir schon an den
ältesten griechischen Philosophen bewundern; der Sinn für
Ordnung und Gesetz, welcher sich in den praktischen Lebens-
verhältnissen ausgebildet hatte, verlangte auch für die theore-
tische Weltansicht, daß das Einzelne zu einem Ganzen zu-
sammengefaßt und von den Gesetzen dieses Ganzen abhängig
gemacht werde. Wie wesentlich ohnedies die formelle Übung
des Denkens und der Rede durch die lebhafte Bewegung und
die mannigfaltigen Anforderungen des bürgerlichen Lebens ge-
fördert werden mußte, und wieviel dieser Fortschritt auch
für die wissenschaftliche Tätigkeit zu bedeuten hatte, liegt am
Tage. Einen ähnlichen Dienst leistete dieser aber auch die
Poesie, welche als epische, lyrische und didaktische in den
§ 7. Die Entwicklung des griech. Denkens bis zum 6. Jahrb. 23
vier Jahrhunderten, die der ersten Entstehung einer griechi-
schen Philosophie vorangingen, eine so reiche Entwicklung
durchlief: sie fafite die theologischen, .^osmologischen und
ethischen Anschauungen der griechischen Stämme in Schilde-
rungen und Aussprüchen zusammen, die der Mitwelt und der
Nachwelt als der Ausdruck allgemein anerkannter Wahrheit
galten , und sie bezeichnete dadurch der beginnenden Philo-
sophie die Voraussetzungen, an die sie in Zustimmung oder
Widerspruch anzuknüpfen hatte. Von den wissenschaftlichen
Bestrebungen, die neben der philosophischen Welterklärung
hergehen, sind für diese in der älteren Zeit einesteils die
eng mit ihr verknüpften mathematischen und astronomischen
Studien, andererseits die von denkenden Ärzten gemachten
anatomischen und physiologischen Beobachtungen am wich-
tigsten geworden.
§ 7. Die Entwicklung des griechischen Denkens
bis zum 6. Jahrhundert.
Überblicken wir nun den Stand, den das Denken der
Griechen bis ins 6. Jahrhundert in den angegebenen Be-
ziehungen erreicht hatte , so bewegen sich zunächst die
theologischen Vorstellungen zwar im allgemeinen, wie
natürlich, auf dem Boden der überlieferten homerischen und
hesiodischen Mythologie; aber doch lassen sich bei den
Dichtern des 7. und 6. Jahrhunderts die Spuren einer all-
mählichen Läuterung der Gottesidee wahrnehmen, indem Zeus
als der einheitliche Vertreter und Hüter der sittlichen Welt-
ordnung aus der Vielheit der Götter stärker hervorzutreten
beginnt, und einerseits (Selon Fr. 12, 17 f. ed. Hiller) der
Unterschied der göttlichen Gerechtigkeit von der mensch-
lichen beachtet wird, andererseits aber auch (Theognis,
um 540, V. 373 ff.) Zweifel an jener laut werden , die zur
kritischen Besinnung über die überlieferten Vorstellungen
führen konnten. Aber entschiedener und nachhaltiger betätigt
sich das Bedürfnis, würdigere Vorstellungen über die Gottheit
zu gewinnen, doch erst bei den Dichtern des 5. Jahrhunderts,
24 Einleitung.
als die Philosophie ihre ÄngriiSFe auf den Yolkstümlichen
Götterglauben bereits eröflfnet hatte. — Für die kosmo-
logischen Annahmen bildet die Grundlage Hesiods Theogonie,
von der sich auch die spärlichen Überreste einiger anderen
Darstellungen (Akusilaos, der angebliche Epimenides u. a.)
und der ältesten, von Platon, Aristoteles und Eudemos benutzten,
von Aristoteles Onomakritos (um 520) zugeschriebenen orphi-
schen Theogonie nicht weit entfernen; während die uns be-
kanntere, jenen aber und selbst Chrysippos noch unbekannte,
sogen, rhapsodische Theogonie und ihre Ableger mit ihrem
theologischen Synkretismus und Pantheismus und ihrer stoi-
sierenden AUegorik sicher erst der nacharistotelischen Zeit
(jene vermutlich dem Ausgang des 3. Jahrhunderts) angehören.
Indessen sind es doch nur sehr einfache Wahrnehmungen und
Reflexionen, welche in diesen alten Kosmogonien zu einem
Bild der Weltentstehung verarbeitet werden, und an die Frage
nach den natürlichen Ursachen der Dinge wird noch nicht
gedacht. Etwas näher kommt dieser Frage Pherekydes
aus Syros (um 540), der aber vielleicht bereits den Einfluß
Anaximanders erfahren hat. Wenn er Zeus, Chronos und
Chthon als das Erste und Ewige bezeichnete, die Erde von
Zeus mit ihrem bunten Gewände bekleidet werden ließ und
mit einer Überwindung des Ophioneus durch Chronos und die
Götter erzählte, so scheint dieser Darstellung der Gedanke zu-
grunde zu liegen, daß die Weltbildung eine Folge von der
Einwirkung des Himmlischen auf das Irdische sei, und daß
bei ihr die ungeordneten Naturgewalten nur allmählich haben
gebändigt werden können. Aber die mythische Darstellungs-
form verbirgt die Gedanken unter rätselhaften Symbolen, und
was aus seinen natürlichen Gründen erklärt werden sollte,
erscheint noch durchaus als eine unverstandene Wirkung der
Götter.
Auf den Willen der Götter wurden bei den Griechen,
wie überall, auch die allgemein anerkannten sittlichen Gebote
zurückgeführt und ihre ünverletzlichkeit mit dem Glauben an
die vergeltende Gerechtigkeit der Götter begründet. Dieser
§ 7. Die Entwicklung des griech. Denkens bis zum 6. Jahrb. 25
Glaube gewann in hohem Grade an Kraft, seit die Vorstel-
lungen vom Zustand nach dem Tode in seinen Dienst traten,
und das schattenhafte Dasein im Hades, über welches der
Unsterblichkeitsglaube des homerischen Zeitalters nicht hinaus-
kam , durch die Lehre von einer jenseitigen Vergeltung mit
einem lebensvolleren Inhalt erfüllt wurde. Aber wenn auch
dieseWendung mit der zunehmenden Ausbreitung des Mysterien-
wesens schon seit dem 8. und 7. Jahrhundert sich allmählich
vollzog, und wenn namentlich die orphisch - dionysischen
Mysterien durch das Dogma von der Seelenwanderung zu
ihrer Herbeiführung beitrugen, so scheint es doch, daß die
herrschende Denkweise bis gegen das Ende des 6. Jahrhunderts
von dem Glauben an das Jenseits nicht tiefer berührt wurde,
und daß er selbst zunächst nur ein Mittel war, die Weihen
durch Furcht und Hoffnung zu empfehlen; erst unter dem
Einfluß des Pythagoreismus scheint jener Glaube allgemeiner
verbreitet und in reiner sittlicher Tendenz verwertet worden
zu sein. — Dieser religiösen Behandlung der sittlichen Fragen
geht aber, wie dies bei einem so aufgeweckten und lebens-
gewandten Volke nicht anders sein konnte, auch die Aus-
bildung der verstandesmäßigen moralischen Reflexion zur Seite.
Ihre Spuren lassen sich von den homerischen Charakterbildern
und Sittensprüchen und den Lebensregeln Hesiods durch die
Bruchstücke der jüngeren Dichter verfolgen ; am entschiedensten
treten sie bei den Gnomikem des 6. Jahrhunderts, einem
Solon, Phokylides und Theognis, hervor. Auf ihre Entwicklung
in dieser Zeit weist auch der Umstand, daß ihr die meisten
von den Männern angehören, die den sogen. siebenWeisen
beigezählt werden. Im übrigen ist in der Sage von den sieben
Weisen (die vielleicht ursprünglich aus schriftstellerischer Er-
findung hervorging; uns begegnet sie zuerst, aber schon als
allgemein anerkannt, bei Platon Prot. 343 A) alles ungeschicht-
lich : nicht bloß, was von ihrem Dreifuß, ihren Sinnsprüchen,
ihren Zusammenkünften, ihren Briefen berichtet wird, sondern
auch die Annahme, daß gerade sieben Männer von ihren Zeit-
genossen als die weisesten anerkannt worden seien. Auch ihre
26 Einleitung.
NameD werden sehr verschieden angegeben : wir kennen deren
22 aus weit auseinanderliegenden Zeiten; in allen Aufzählungen
linden sich von ihnen nur vier : Thaies, Bias, Pittakos, Selon ;
neben diesen am häufigsten Kleobulos, Myson, Chilon, Peri-
ander, Anacharsis. Auf den Zusammenhang dieser Lebens-
weisheit mit den Anfängen der griechischen Wissenschaft weist
der Zug, daß an der Spitze der Sieben der gleiche Mann steht,
welcher die Reihe der griechichen Physiker eröflFnet.
§ 8. Charakter und Entwicklungsgang der grie-
chischen Philosophie,
Als ein Erzeugnis des hellenischen Geistes trägt die
griechische Philosophie seine charakteristischen Züge ; sie
begleitet seine Entwicklung mit der ihrigen, greift mit zu-
nehmender Bedeutung in sie ein und wird in dem Leben des
griechischen Volkes seit dem Untergang seiner politischen Un-
abhängigkeit die führende Macht. Im praktischen Leben er-
starkt, wendet sich das Denken beim Erwachen des wissen-
schaftlichen Bedürfnisses zunächst der Betrachtung der Welt
zu, als deren Teil der Grieche sich fühlt, in der er die ur-
sprünglichste Offenbarung der göttlichen Mächte zu verehren
schon durch seine Religion gewöhnt ist; und es tut dies mit
jenem unbefangenen Selbstvertrauen, welches der beginnenden,
mit den Schwierigkeiten, die sie erwarten, noch unbekannten,
durch keine Täuschungen entmutigenden Forschung so natür-
lich ist, und welches einem Volke besonders nahe lag, das
sich in der Welt so heimisch und so wohl fühlte und selbst
mit seinen Göttern im großen und ganzen auf einem so ver-
trauten Fuße stand wie das hellenische. So ist denn die
griechische Philosophie in ihrer ersten Periode, was ihren
Gegenstand betrifft, Naturphilosophie; denn ihr wesent-
liches Interesse gilt der Frage nach der Entstehung und den
Gründen des Weltganzen , die nach der Natur und der Auf-
gabe des Menschen wird nur vereinzelt und mehr in populärer
als in wissenschaftlicher Form berührt. Sie ist ferner, ihrem
Verfahren nach betrachtet, Dogmatismus, d. h. sie sucht
§ 8. Charakter und Entwicklungsgang der griech. Philosophie. 27
eine Ansicht von der objektiven Welt zu gewinnen, ehe sie
sich über die Aufgabe und die Bedingungen des wissenschaft-
lichen Erkennens Rechenschaft abgelegt hat. Sie ist endlich
in ihren Ergebnissen realistisch, ja in gewissem Sinne,
wenn auch nur unbewußt, materialistisch, und erst gegen das
Ende dieser Periode wird durch Anaxagoras der Unterschied
des Geistigen und Körperlichen zum Bewußtsein gebracht.
Bereits beginnt aber auch das Interesse, im Zusammenhang
mit der Veränderung, welche seit den Perserkriegen in den
Zuständen und Bedürfnissen des griechischen Volkes vor sich
gegangen war, von dieser ganzen naturphilosophischenForschung
sich abzuwenden ; die Sophisten zerstören durch Skepsis und
Eristik den Glauben an die Erkennbarkeit der Objekte und
verlangen statt dessen ein praktisch nutzbares, den Zwecken
des Subjektes dienendes Wissen; aber erst Sokrates ist es,
der nicht bloß für diese praktische Philosophie, sondern für
die Philosophie überhaupt einen neuen Grund legt.
Durch Sokrates, Piaton und Aristoteles wird die griechische
Philosophie auf ihren wissenschaftlichen Höhepunkt gebracht.
Die Besinnung über die Aufgabe und die Bedingungen des
Wissens führt zur Ausbildung der Logik; die Physik wird
einerseits durch die Ethik, andererseits durch die Metaphysik
(Piatons „Dialektik", Aristoteles' „erste Philosophie") ergänzt;
die Bildung, Zergliederung und Verknüpfung der Begriffe
bildet den festen Kern des wissenschaftlichen Verfahrens ; das
unsinnliche Wesen der Dinge, welches der Gegenstand des be-
grifflichen Denkens ist, ihre Idee oder Form, tritt ihrer Er-
scheinung als eine höhere Wirklichkeit gegenüber, der Geist
unterscheidet sich als denkendes Wesen von seinem Leibe;
und wie es der Mensch als seine Aufgabe erkennt, diesen
höheren Teil seiner selbst auszubilden und die niedrigeren
durch ihn zu beherrschen, so geht auch die schöpferische
Tätigkeit der Natur darauf aus, die Form als den Zweck
ihrer Gebilde in dem Stoffe zur Erscheinung zu bringen.
Soweit aber damit nicht allein über die bisherige Philosophie^
sondern über den bisherigen Standpunkt der hellenischen
28 Einleitung.
Weltanschauung überhaupt hinausgegangen, so unverkennbar
jene Harmonie des Inneren und des Äußeren, jene unbefangene
Einheit des Geistes mit der Natur durchbrochen wird, welche
die ursprüngliche Voraussetzung für die klassische Schönheit
des hellenischen Lebens bildete, so war doch teils diese
Wendung selbst in der Entwicklung des griechischen Volkes
vorbereitet, teils verleugnen sich auch in ihr die Züge nicht,
welche die alte Philosophie von der neueren unterscheiden.
In der Begriffsphilosophie des Sokrates und seiner Nachfolger
vollzieht sich ein ähnlicher Fortschritt auf dem wissenschaft-
lichen Gebiete wie in der bildenden Kunst und der Poesie
des 5. Jahrhunderts auf dem künstlerischen : aus der Mannig-
faltigkeit der Erscheinungen werden die gemeinsamen Züge,
die unveränderlichen Formen der Dinge als das Wesentliche
herausgehoben, und der eigentliche Gegenstand sowohl der
künstlerischen Darstellung als der wissenschaftlichen Erkennt-'
nis wird in ihnen gesehen: die Wissenschaft und die Kunst
begegnen sich in der Richtung auf das Ideale. Und dieser
Idealismus trägt selbst bei einem Piaton nicht den modernen,
subjektiven Charakter : die Formen der Dinge sind nicht Er-
zeugnisse des Denkens, weder des göttlichen noch des mensch-
lichen, sondern sie stehen als ihre Urbilder dem Geiste,
der sie anschaut, in plastischer Objektivität gegenüber. So-
weit ferner schon die sokratische, noch mehr die platonische
Ethik den altgriechischen Standpunkt überschreitet, so ent-
schieden bleibt sie doch sowohl dem ästhetischen als dem
politischen Charakter der griechischen Sittlichkeit treu; und
wenn Aristoteles mit Piaton durch seine Bevorzugung der
wissenschaftlichen Tätigkeit über diese hinausgeht, ist doch
seine Tugendlehre echt griechisch, und auch er hält an der
Verbindung der Ethik mit der Politik, an der vornehmen Ver-
achtung der materiellen, auf den Erwerb gerichteten Arbeit
und an jenem Gegensatze der Hellenen und Barbaren fest,
dessen stärkster Ausdruck seine Verteidigung der Sklaverei ist.
Der schärfereBegriff der Persönlichkeit fehlt Piaton und Aristo-
teles, und ihre Rechte werden von ihnen, namentlich von
§ 8. Charakter und Entwicklungsgang der griech. Philosophie. 29
Platon^ nur anvollständig anerkannt Der Naturforschung
wendet nicht bloß Aristoteles wieder das lebhafteste Interesse
zu, sondern auch einen Piaton hindert sein Idealismus nicht
an einer hohen Bewunderung für die Schönheit und Göttlich-
keit der sichtbaren Welt, und mit ihm trifft sein Schüler in
der Überzeugung von der Zweck tätigkeit der Natur, in jener
ästhetischen Naturbetrachtung und Naturverehrung zusammen,
welche uns die Nachwirkung der Anschauungen noch deutlich
erkennen läßt, deren ältestes Erzeugnis die griechische Natur-
religion ist.
Eine eingreifende Änderung vollzog sich nun allerdings
in der Philosophie wie in der gesamten Denkweise des grie-
chischen Volkes seit dem Ende des 4. Jahrhunderts unter dem
Einfluß der Zustände, welche durch Alexanders Eroberungen
geschaffen worden waren« Der Sinn für Naturforschung und
für rein theoretische Forschung überhaupt ist unverkennbar
im Rückgang begriffen ; der akademischen und peripatetischen
Schule treten in den Stoikern und Epikureern Philosophen
zur Seite und drängen sie bald entschieden zurück, welche
den Schwerpunkt ihrer Forschung in die Ethik verlegen, da-
gegen in der Physik sich an vorsokratische Systeme anlehnen
und auch aus diesen vorzugsweise nur die Elemente sich an-
eignen und weiterbilden, welche auf die sittliche und religiöse
Weltansicht Einfluß haben. Die Ethik selbst trägt bei Stoikern
und Epikureern teils den Charakter des Individualismus, teils
den eines abstrakten Eosinopolitismus : soweit sie im übrigen
auseinandergehen, verlangen doch beide Erhebung über die
Schranken der Nationalität, Unabhängigkeit von allem Äußeren,
Befriedigung des Weisen in seinem inneren Leben. Und hierin
stimmen auch die gleichzeitigen Skeptiker mit ihnen überein,
nur daß sie das gleiche praktische Ziel auf einem anderen Wege,
durch den gänzlichen Verzicht aufs Wissen, zu erreichen suchen.
Aus dem Verkehr dieser Schulen miteinander und mit den
älteren geht unter der Einwirkung der neuakademischen
Skepsis und zugleich im Gegensatz gegen sie seit der zweiten
Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts jener Eklektizis-
30 Einleitung.
mus hervor, der sieh der akademisehen Schule am ent-
schiedensten bemächtigt, aber auch in der stoischen und peri-
patetischen Eingang findet, während in der des Änesidemos
die Skepsis einen neuen Mittelpunkt gewinnt, und bei den
Neupythagoreern und den mit ihnen verbündeten Piatonikern
die eklektischen Neigungen der Zeit mit den skeptischen zur
Erzeugung einer halborientalischen, teils auf dem Boden des
griechischen, teils auf dem des jüdischen Hellenismus sich
entwickelnden Offenbarungsphilosophie zusammenwirken. In
den ersten Jahrhunderten nach Christus verbreitet sich diese
Denkweise immer mehr, und seit der Mitte des dritten wird
sie durch Plotin im Neuplatonismus zu einem umfassenden
System ausgebildet, das alle anderen teils verdrängt, teils in
sich aufnimmt. Mit der Auflösung der neuplatonischen Schule
im 6. Jahrhundert verschwindet die griechische Philosophie
als selbständige Erscheinung vom Schauplatz der Geschichte
und lebt nur noch, mit fremdartigen Elementen versetzt und
in den Dienst neuer Bildungsformen gezogen, in der mittel-
alterlichen und der neuereu Wissenschaft fort.
Es läßt sich nicht verkennen, daß diese Entwicklung
das griechische Denken von seinen ursprünglichen Ausgangs-
punkten immer weiter abführte. Aber doch zeigen uns tief-
eingreifende Züge, daß wir uns mit ihr noch immer auf
griechischem Boden befinden. So schroflF auch der Gegensatz
ist, in welchen die stoische Ethik Vernunft und Sinnlichkeit
setzt, so bleibt doch das naturgemäße Leben ihr Wahlspruch ;
in der Physik kehrt die Stoa von dem platonisch-aristotelischen
Dualismus zu dem heraklitischen Hylozoismus zurück, durch
ihre teleologische Weltbetrachtung nähert sie sich den Anthropo-
morphismen der Volksreligion, und in ihrer Theologie macht
sie sich die Verteidigung derselben Vorstellungen zur Pflicht,
mit denen die Wissenschaft in Wahrheit schon längst gebrochen
hatte. Epikur seinerseits tritt mit seiner mechanischen Physik
in den ausgesprochensten Gegensatz zu dem Volksglauben wie
zu der teleologischen Naturerklärung; aber sein ästhetisches
Bedürfnis führt ihn zu einer neuen, wenn auch noch so
§ 8. Charakter und Entwicklungsgang der griech. Philosophie. 31
dürftigen Götterlehre, und wenn seine Ethik das politische
Element der altgriechischen noch viel vollständiger ausscheidet
als die stoische, so steht dafür jene Harmonie des sinnlichen
und des geistigen Lebens, die sein praktisches Ideal ist, der
ursprünglich hellenischen Auffassung um ebensoviel näher.
Auch die skeptischen Schulen entfernen sich aber von dieser
in ihren praktischen Grundsätzen nicht allzu weit; während
sie andererseits die Unmöglichkeit des Wissens als ein natür-
liches Verhängnis mit einer Ruhe hinnehmen, welche der
christlichen Zeit nicht mehr so leicht möglich ist. Aber auch
die Erscheinung, welche den Übergang der griechischen
Welt in die christliche am lautesten ankündigt, die neupytha-
goreische und neuplatonische Spekulation, läfit doch ihren
Zusammenhang mit der antiken Anschauungsweise noch deut-
lich erkennen. So tief sie die sichtbare Welt unter die un-
sichtbare stellt, so gilt ihr doch auch jene immer noch für
erfüllt von göttlichen Kräften, für eine in ihrer Art voll-
kommene Erscheinung der höheren; die Schönheit der Welt
wird gegen die Naturverachtung der Christen, ihre Ewig-
keit gegen die Annahme einer Weltschöpfung verteidigt;
und jene Ordnungen von übermenschlichen Wesen, in denen
die göttlichen Kräfte zur Welt herabsteigen, mit deren Bei-
stand die Menschen sich zur Gottheit erheben sollen, sind
das metaphysische Gegenbild des volkstümlichen Polytheismus,
dessen letzte Vorkämpfer diese Philosophen gewesen sind.
Erste Periode.
Die vorsokratische Philosophie.
§ 9. Ihr Entwicklungsgang.
Den ersten Versuch einer wissenschaftlichen Welterklärung
machte unter den Griechen der Milesier Thaies, an den seine
Landsleute Anaximander und Anaximenes, später Diogenes
der ApoUoniate und andere Vertreter der altionischen Schule
sich anschlössen. Durch die lonier Pythagoras und Xenophanes
wurden diese Bestrebungen nach Unteritalien verpflanzt und
mit so eigenartiger Forschung weitergeführt, daß von jedem
der beiden eine neue Schule ausging. Diese drei ältesten,
ihrer Entstehung nach noch dem 6. Jahrhundert y. Chr. an-
gehörigen Schulen treffen nun darin zusammen, daß sie bei
den Gründen der Dinge, welche die Wissenschaft aufzeigen
soll, zunächst an ihre substantiellen Gründe, d. h. an das-
jenige denken, aus dem sie entstanden sind und ihrem Wesen
nach fortwährend bestehen, daß sie dagegen die Aufgabe
noch nicht ausdrücklich ins Auge fassen, das Entstehen, das
Vergehen und die Veränderung als solche zu erklären ; dazu
hat vielmehr erst Parmenides dadurch den Anstoß gegeben,
daß er ihre Möglichkeit bestritt. In diesen Sinne fragen die
altionischen Philosophen nach dem Stoff, aus dem die Welt
gebildet wurde, und nach der Art, wie sie aus ihm entstanden
sei. Die Pythagoreer suchen das Wesen, aus dem die Dinge
bestehen, in der Zahl, deren Bestand und Beschaffenheit sie
von der festen, nach Zahlen bestimmbaren Gesetzmäßigkeit
der Erscheinungen herleiten. Die eleatische Philosophie, von
Die vorsokratische Philosophie. § 8, Ihr Entwicklungsgang. 33
der Einheit der Welt ausgehend, erkennt in Parmenides ihr
Wesen in dem Schein als solchem; und indem sie nun aus
dem Begriff des Seienden alles Nichtsein unbedingt aus-
schließt, erklärt sie die Vielheit der Dinge und die Bewegung
für undenkbar.
Eine neue Wendung der naturphilosophischen Forschung
beginnt mit Heraklit ^). Indem er es aussprach, daß es in dem
unablässigen Wechsel der Stoffe und der Stoffverbindungen
überhaupt nichts Bleibendes gebe als das Gesetz dieses
Wechsels, stellte er seinen Nachfolgern die Aufgabe, diese
Erscheinung selbst zu erklären, den Grund der Veränderung
und Bewegung anzugeben. Empedokles, Leukippos und Anaxa-
goras versuchten dies in der Art, daß sie alles Werden und
alle Veränderung auf die Verbindung und Trennung un-
gewordener, unvergänglicher und an sich selbst unveränder-
licher Stoffe zurückführten, daß sie also das Werden selbst
von einem ursprünglichen Sein herleiteten, welches sich zwar
durch seine Vielheit und Geteiltheit von dem Seienden des
Parmenides unterächeidet, im übrigen aber dessen wesentliche
Eigenschaften teilt. Als den ersten Urheber dieses Gedankens
haben wir wahrscheinlich Leukippos zu betrachten. Jene Ur-
stöffe denkt sich Empedokles qualitativ verschieden, der Zahl
nach begrenzt, ins unendliche teilbar; Leukippos qualitativ
gleichartig, der Zahl nach unbegrenzt, unteilbar ; Anaxagoras
qualitativ verschieden, der Zahl nach unbegrenzt, ins unend-
liche teilbar. Um die Bewegung zu erklären, auf der alle
Verbindung und Trennung der Stoffe beruht, fügt Empedokles
den Elementen die bewegenden Kräfte in mythischer Gestalt
bei ; Leukippos und Demokrit versetzen die Atome in den leeren
Raum, in dem sie sich von Urbeginn an bewegen ; Anaxagoras
endlich nimmt seine Zuflucht zu dem weltbildendeu Geiste.
Hiermit ist der bisherige Standpunkt der Physik in Wahr-
heit überschritten ; grundsätzlich aufgegeben wird er von der
*) Über das zeitliche Verhältnis zwischen Heraklit und Parmenides
siehe jetzt 8. 57 Anm. 1.
Zeller, Grundrifs. 3
34 Erste Periode.
Sophistik. Sie bestreitet jede Möglichkeit des Wissens
(Protagoraa und Gorgias), beschränkt die Philosophie auf
die Fragen des praktischen Lebens, entzieht aber auch diesem
selbst jede allgemeingültige Norm, und sie arbeitet dadurch
der sokratischen Reform der Philosophie teils unmittelbar in
die Hände, teils macht sie mittelbar, durch die Einseitigkeit
und Bedenklichkeit ihrer eigenen Ergebnisse, eine solche
Beform zum Bedürfnis.
I. Die drei ältesten Schulen.
A. Die alten lonier.
§ 10. Thaies.
Thaies war ein Bürger von Milet, der von böotischen
Eadmeern abstammte, ein Zeitgenosse des Solon und Erösos.
Seine Geburt wurde von ApoUodor nach DiOG. I, 37 auf
Ol. 35, 1, 640/39 v. Chr. (wahrscheinlich aber erst Ol. 39, 1,
624/3 V. Chr.), sein Tod Ol. 58, 3 (546/5 v. Chr.) angesetzt;
wobei für die Berechnung des ersteren die Sonnenfinsternis
des Jahres 585 (s. u.) maßgebend gewesen zu sein scheint.
Seine Stellung an der Spitze der sieben Weisen (s. S. 26) und
die Berichte bei Herod. I, 75. 170 und DiOG. I, 25 zeugen für
das Ansehen, in dem er wegen seiner praktischen Klugheit
und staatsmännischen Einsicht stand. Zugleich wird aber das
mathematische und astronomische Wissen gerühmt, das er sich
(nach EüDEMOs) — vielleicht auf Handelsreisen — in Phönizien
und Ägypten erworben und nach Griechenland verpflanzt
habe : von den Beweisen dieses Wissens, die ihm zugeschrieben
werden, ist der berühmteste, daß er die Sonnenfinsternis,
welche 585 v, Chr. den 28. Mai (nach julianischem Kalender)
stattfand, für das Jahr ihres Eintretens vorhergesagt haben
soll (Herod. I, 74 u. a.). Mit diesen mathematischen Studien
und dem durch sie geweckten wissenschaftlichen Sinn stand
es nun wohl in Verbindung, wenn er auch die Frage nach
den letzten Gründen der Dinge in anderer als mythologischer
§ 10. Thaies. 35
Form zu beantworten übernahm ; und andererseits entspricht
es dem elementaren Charakter jener ältesten griechischen
Mathematik, daß seine Physik nicht über einen ersten An*
fang hinauskam. Er erklärte nämlich das Wasser für den
Stoff, aus dem alles entstanden sei und bestehe ; wie er denn
auch sagte, die- Erde schwimme wie ein Holz auf dem Wasser,
und daraus ihr Beharren im Mittelpunkte der Welt erklärte.
Über die Gründe dieser Annahme spricht schon Aristoteles ^)
nur nach eigener Vermutung, denn eine Schrift des Thaies
lag ihm nicht vor, und es gab eine solche ohne Zweifel über-
haupt nicht ; die, welche von Späteren erwähnt werden, sind
samt den Lehren, die sie daraus mitteilen, für untergeschoben
zu halten. Über die Art, wie die Dinge aus dem Wasser
entstehen, hatte sich Thaies, wie es scheint, nicht näher er-
klärt; er dachte sich wohl mit dem Stoffe die wirkende Kraft
unmittelbar verknüpft und diese selbst im Geiste der alten
Naturreligion als etwas der menschlichen Seele Analoges;
wie dies auch die Aassprüche (Abist. De an. I, 5. 411a 7,
405a 19) andeuten, daß alles von Göttern erfüllt sei, uncl
daß der Magnet eine Seele (d. b. Leben) habe, da er das Eisen
anziehe. Er faßte demnach den Stoff als belebt und beseelt
auf, eine Anschauung, die auch bei seinen Nachfolgern
wiederkehrt, und die man zutreffend als Hjlozoismus oder
auch als Hjlopsychismus (Döring) bezeichnet hat. Daß er
dagegen die weltbildende Kraft ausdrücklich als Gottheit
oder Geist oder Weltseele vom Stoff unterschied , läßt sich
nicht annehmen. Wie dürftig aber dieser erste Anfang einer
physikalischen Theorie uns erscheinen mag, so wichtig war
es doch, daß mit einer solchen Theorie überhaupt ein Anfang
gemacht war. Einen erheblichen Fortschritt finden wir schon
bei Anaximander.
^) Metaph. 1, 8. 988 b 22 ; bestimmter druckt sich Theophbast bei
SmPL. Phys. 28, 21 (Diels Doxogr. 475) aus; vgl. jedoch S. 40, 1.
36 Srste Periode.
§ 11. Anaximander.
Dieser bedeutende und einflußreiche Denker war ein
Mitbürger des Thaies, dem dessen Ansichten auch dann nicht
unbekannt geblieben sein können^ wenn er sie nicht durch
förmlichen Unterricht fortpflanzte. 610/9 v. Chr. geboren,
starb er bald nach 547/6 (DiOG. II, 2). Durch astronomische
und geographische Kenntnisse in seiner Zeit hervorragend,
nahm er auch die von Thaies angeregten kosmologischen
Untersuchungen mit selbständiger Forschung auf; seine Er-
gebnisse legte er, der älteste griechische Prosaiker und der
erste philosophische Schriftsteller, in einer eigenen, frühe ver-
lorenen Schrift nieder. Ais den Anfang (a^x^') von allem be-
zeichnete er das Unbegrenzte (aTceiQov), d. h. die unendliche
Masse des Stoffes, aus der alle Dinge entstanden sind, und
in die sie durch ihren Untergang zurückkehren, um „einander
Buße und Strafe zu zahlen für ihre Ungerechtigkeit nach der
Ordnung der Zeit" ^). Bei diesem ürstoff dachte er aber
weder an eines von den späteren vier Elementen noch an.
einen Stoff, der zwischen Luft und Feuer oder Luft und,
Wasser in der Mitte stehe*), noch endlich an ein solches Ge-
menge der besonderen Stoffe, in dem diese als bestimmte und
qualitativ verschiedene enthalten gewesen wären ^). Es ergibt
sich vielmehr nicht allein aus Theophrasts bestimmter Angabe
J) SiMPL. Phys. 24, 18 (JDiels Doxogr. 476). Vgl. Phil. d. Gr. I, 229, 2..
') Zwei von Aristoteles ohne Neimang ihrer Urheber erwähnte, vpn.
mehreren seiner Kommentatoren, /«um Teil im Widerspruch mit ihren
eigenen sonstigen Angaben, Anaximander beigelegte Annahmen. Die zweite
schreibt ihm mit andern Lütze Über das uneiQov A.s (Leipzig 1878) zu,
beide zugleich Neuhäuser Anaximander Miles. (1883) S. 44—273. — Neuer-
dings hat Heidel Arch. f. G. d. Phil. XIX 333 ff. nachzuweisen versucht,
daß Anaximander und mit ihm sämtliche Vorsokratiker überhaupt keine
qualitative Veränderung {dXloCtooig im Sinne des Aristoteles), sondern nur
eine quantitative angenommen haben.
*) Über diese von Ritter I, 201 ff. 283 ff. seiner Einteilung der ionischen
Philosophen in Mechaniker und Dynamiker zugrunde gelegte und immer
noch von einzelnen geteilte Annahme s. Phil. d. Gr. I^, 201 ff.
§ 11. Anaximander. ' 37
<b. SiMPL. Phys. 27, 17 ff. 154, 14 ff. [Diels Doxogr. 479]),
sondern auch aus aristotelischen Aussagen ^), daß Anaximander
sein Unbegrenztes von allen bestimmten Stoffen entweder
ausdrücklich unterschieden oder, was wahrscheinlicher ist,
dafi er sich über seine nähere Beschaffenheit gar nicht er-
klärt hatte, aber mit ihm eben nur denjenigen Stoff be-
zeichnen wollte, welcher noch keine von den unterscheiden-
den Eigenschaften der besonderen Stoffe besitze. So wurde
ihm sein als räumlich unbegrenzt (infinitum) aufgefaßtes
ccTteiQOv zugleich auch zu einem in sich selbst, seiner Be-
schaffenheit nach Unbestimmten (indefinitum, aoQiavov), Für
die Unbegrenztheit dieses Urstoffes machte Anaximander,
freilich mit Unrecht, geltend, daß er sich sonst in der Er-
zeugung der Dinge erschöpfen würde ^), Als der Urstoff ist
das Unbegrenzte ungeworden und unvergänglich, und ebenso
ewig ist seine Bewegung. Eine Folge der letzteren ist die
„Ausscheidung** (ixxQlvea&ai) bestimmter Stoffe. Zunächst
trennten sich das Warme und das Kalte, aus beiden entstand
das Feuchte; aus diesem sonderten sich die Erde, die Luft
und der Feuerkreis ab, welcher diese als kugelförmige Schale
umgab. Indem der letztere zersprang, bildeten sich rad-
förmige, mit Feuer gefüllte, mit Öffnungen versehene Hülsen,
welche, durch Luftströmungen bewegt, sich um die Erde in
geneigt horizontaler Richtung drehen; di^s Feuer, das diese
während ihrer Drehung aus ihren Öffnungen ausströmen,
und das durch die Ausdünstungen der Erde sich fortwährend
erneuert, gibt die Erscheinung der durch den Himmelsraum
ziehenden Gewitter; — eine Vorstellung, die sich für uns
zwar fremdartig genug ausnimmt, die aber in Wahrheit der
erste uns bekannte Versuch ist, die regelmäßige Bewegung
der Gestirne in der Weise der späteren Sphärentheorie
1) Phys. I, 187 a 20, lU, 5. 204 b 22 flf. De coelo III, 5. 303 b 13 ff.
Vgl. Phü. d. Gr. I«, 213 f.
2) Abist. Phys. lU, 4. 203 b 18. c. 8. 208 a 8 vgl. m. Aet. I 3, 3 (Doxogr.
277) u. a.; s. Phil. d. Gr. I^, 198.
38 * Srste Periode.
mechanisch zu erklären^). Die Erde hat die Gestalt einer
Walze; durch ihren gleichmäßigen Abstand von den Grenzen
der Welt (die somit als Kugel gedacht zu sein scheint) er-
hält sie sich in Ruhe. Anfangs in flüssigem Zustand , ließ
sie bei ihrer allmählichen Austrocknung die lebendigen Wesen
aus sich hervorgehen^); die Menschen zuerst, in fischartige
Umhüllungen eingeschlossen, im Wasser, das sie erst dann
verließen, als sie so weit herangewachsen waren, daß sie sich
auf dem Lande fortbringen konnten. Daß schon Anaximander,
den Voraussetzungen seiner Kosmologie entsprechend, einen
periodischen Wechsel von Weltbildung und Weltzerstörung,
und infolge davon eine anfangs- und endlose Reihe aufeinander-
folgender Welten angenommen habe, wird von einer glaub-
würdigen, auf Theophrast zurückzuführenden Überlieferung
behauptet und von Schleiermacher®) mit Unrecht bezweifelt
Unwahrscheinlich dagegen ist, daß er auch ein Nebeneinander
zahlloser Weltsysteme im unendlichen Räume gelehrt hat.
§ 12. Anaximenes.
Anaximenes, gleichfalls ein Milesier, wird von Späteren
der Schüler Anaximanders genannt, dessen Einfluß sich bei
ihm deutlich verrät. Seine Lebenszeit*) ist nach ApoUodor
zwischen 585/4 und 528/4 v. Chr. zu setzen. Von einer Schrift
in ionischer Prosa, hat sich nur ein kleines Bruchstück er-
halten.
In seiner physikalischen Theorie weicht Anaximenes darin
von Anaximander ab, daß er als das Erste nicht mit jenem
1) A.s Annahmen über Große und Entfernung der Gestirne bespricht
DiELS Arch. f. Gesch. d. Phil. X, 228 flf.
2) Nach Aet, V 19, 4 (Doxogr. 430) sollen die ersten Tiere im Feuchten
entstanden und mit stacheligen Rinden umhüllt gewesen sein, die sie bei
ihrem Übergange zum Lande abgeworfen hätten.
8) Über Anaximandros. Werke, 3. Abt. II, 195 flf.
*) Auf -Grund der von Diels berichtigten Angabe Hippolyt. Refut. hfier.
I, 7, daß seine clxfirj (= dem 40. Lebensjahr) Ol. 58, 3 (546/5 v. Chr.) falle,
und unter der Voraussetzung, daß bei Diog. II, 3 die Data verwechselt
seien und das yeyivrjTai die axfxrj bezeichne.
§ 12. Auaximenes. 39
den unendlichen Stoff ohne nähere Bestimmung, sondern mit
Thaies einen qualitativ bestimmten Stoff setzt; aber er schließt
sich dadurch wieder an ihn an, daß er hierfür einen solchen
Stoff wählt, dem die wesentlichen Eigenschaften des anaxi-
mandrischen ürwesens, die Unbegrenztheit und die unauf-
hörliche Bewegung, gleichfalls zuzukommen schienen. Dieses
beides findet sich aber bei der Luft. Sie breitet sich nicht
bloß ins Grenzenlose aus, sondern sie ist auch in beständiger
Bewegung und Veränderung begriffen und erweist sich (nach
der altertümlichen Vorstellung, für welche die Seele mit der
Lebensluft zusammenfällt) als der Grund alles Lebens und
aller Bewegung in den lebenden Wesen. „Wie die Luft als
unsere Seele uns zusammenhält, so umfaßt auch die ganze
Welt der wehende Hauch {nvevfxa) und die Luft" (Anax.
b. Aet. I 3, 4 [Doxogr. 278]). Durch ihre anfangs- und end-
lose Bewegung erleidet die Luft eine Veränderung, welche
näher zwiefacher Art ist: Verdünnung (ßdvwaig, agalwaig)
oder Lockerung („xaAa^oi/") und Verdichtung (TtvKvioaig)
oder Zusammenziehung (avaTelXeGd-ai). Jene ist zugleich
Erwärmung, diese Erkältung. Durch Verdünnung wird die
Luft zu Feuer, durch Verdichtung zu Wind, weiter zu Wolken,
Wasser, Erde, Steinen; was sich Anaximenes zunächst wohl
von den atmosphärischen Vorgängen und Niederschlägen ab-
strahiert hat. Bei der Weltentstehung bildete sich zuerst die
Erde, welche nach Anaximenes flach ist wie eine Tischplatte
und deshalb von der Luft getragen wird; die von ihr auf-
steigenden Dünste verdünnten sich zu Feuer; Teile dieses,
von der Luft zusammengedrückt, sind die Gestirne; von
ähnlicher Gestalt wie die Erde umkreisen sie diese auf der
Luft schwebend (falls dies nicht bloß von den Planeten ge-
sagt wurde) in seitlicher Richtung wie ein um den Kopf
gedrehter Hut. Mit Anaximander nahm, wie glaubhaft be-
richtet wird, auch Anaximenes einen Wechsel der Weltbildung
und Weltzerstörung an.
40 Erste Periode.
§ 13. Spätere Anhänger der altionischen Schule;
Diogenes.
Die Schule, welche die milesischen Philosophen im sechsten
Jahrhundert begründet hatten, begegnet uns auch noch im
fünften. H i p p o n , der im zweiten Drittel dieses Jahrhunderts
lebte, hielt mit Thaies das Wasser oder genauer das Feuchte
(vyQov)^ für den Grundstoff der Welt; dabei leitete ihn ^) zu-
nächst die Analogie des tierischen Lebens, wie er denn auch
die Seele für eine aus dem Samen entstandene Feuchtigkeit
hielt. Aus dem Wasser sollte das Feuer und aus der Über-
windung des Wassers durch das Feuer die Welt hervor-
gegangen sein. An Anaximenes hielt sich der sonst unbekannte
Idäos, wenn er die Luft für das Ursprünglichste erklärte;
ebenso stehen die S. 36, 2 berührten vermittelnden Annahmen
der seinigen am nächsten (vgl. Diels „Vorsokr." I 327, 30).
Noch um 430 machte Diogenes aus Apollonia, der nach
Theophrast (Doxogr. 477) sich in eklektischer Weise vielfach
an Anaxagoras aber auch an Leukippos anschloß, den Versuch,
Anaximenes' monistischen Materialismus gegen die Lehre des
Anaxagoras von dem weltbildenden Geiste dadurch zu schützen,
daß er in der Luft selbst schon die Eigenschaften nachwies,
welche jener nur dem Geiste zusprechen zu dürfen glaubte.
Wenn nämlich einerseits (wie Diogenes wohl Empedokles und
Anaxagoras entgegenhält) e i n gemeinsamer Stoff aller Dinge
angenommen werden müsse, da sonst keine Mischung und
Wechselwirkung der Dinge möglich wäre; andererseits eben
dieser Stoff auch ein denkendes und vernünftiges Wesen sein
müsse, wie dies teils seine zweckmäßige Verteilung, teils und
besonders das Leben und Denken der Menschen und Tiere
beweise: so finden sich eben diese Merkmale in der Luft
vereinigt. Sie sei es, die alles durchdringe und (als Seele)
1) Nach der aus Simpl. Phys. 23, 18 f. Aet. I, 3, 1 (Doxogr. 276, vgl.
220) zu entnehmenden Angabe Theophrasts, welche sich zwar hinsichtlich
des Thaies nur auf Vermutung, bei H i p p o n dagegen auf seine Schrift zu
gründen scheint.
§ 13. Spätere lonier. 41
in den Tieren das Leben, die Bewegung, das Denken erzeuge.
Sie ist daher nach Diogenes das ungewordene, unbegrenzte,
vernünftige Wesen , das alles beherrscht und ordnet. Bloße
Umwandlungen (hegoidaeig) der Luft sind alle Dinge. Näher
besteht ihre Umwandlung (nach Anaximenes) in der Ver-
dünnung und Verdichtung oder, was dasselbe, in der Er-
wärmung und Erkältung. Das Dichtere und Schwerere sank
nieder, das Leichtere stieg empor, und es sonderten sich so
die zwei Massen, aus denen im weiteren Verlauf durch die
von dem Warmen bewirkte Drehung die Erde und die Ge-
stirne entstanden. Aus dem Erdschlamm gingen (wohl durch
den Einfluß der Sonnenwärme) Pflanzen, Tiere und Menschen
hervor; die Seele der lebenden Wesen besteht aus einer Luft,
welche zwar lange nicht so heiß ist wie die der Sonne, aber
wärmer als die atmosphärische. Nach der näheren Beschaffen-
heit dieser Luft richtet sich die der verschiedenen Arten von
lebenden Wesen. Die Erscheinungen des körperlichen und
des seelischen Lebens, wie namentlich den Blutumlauf (eine
genaue Beschreibung des Adersystems von ihm ist uns noch
erhalten 5 s. Fr. 6), die Sinnestätigkeiten und das Denken,
bemühte sich Diogenes nicht ohne Scharfsinn aus seiner
Theorie zu erklären. Mit den älteren loniern und Heraklit
nahm auch er eine unendliche Reihe aufeinanderfolgender
Welten an. Daß sich seine Lehre schnell und in den weitesten
Kreisen verbreitete, beweist ihre Verspottung in den Wolken
des Aristophanes (s. besonders V 225 ff. 264. 828 ff.).
B. Die Pythagoreer.
§ 14. Pythagoras und seine Schule.
Die Geschichte des Pythagoras wurde schon frühe, und
je länger sie sich in der Überlieferung fortpflanzte, um so
mehr, von so vielen unhistorischen Sagen und Vennutungen
über wuchert, in seine Lehre wurde namentlich seit dem Auf-
kommen der neupythagoreischen Schule und durch die von
42 Erste Periode.
ihr im großen betriebene Unterschiebung pythagoreischer
Schriften so viel Späteres hineingetragen^ daß es der umsich-
tigsten Kritik bedarf , um die ungeschichtlichen Bestandteile
der uns vorliegenden Berichte auszuscheiden. Ein höherer
Grad von Sicherheit läßt sich, was die Geschichte der pytha-
goreischen Schule und ihres Stifters betrifft ^), nur für wenige
Hauptpunkte, hinsichtlich ihrer Lehre nur für die Bestand-
teile gewinnen, über welche uns die echten Bruchstücke des
Philolaos *), die Mitteilungen des Aristoteles und die Angaben
der späteren Doxographen unterrichten , die wir auf Theo-
phrast zurückzuführen berechtigt sind^).
Pythagoras, der Sohn des Mnesarchos, wurde in Samos
geboren, wohin seine Vorfahren, tyrrhenische Pelasger, aus
Phlius eingewandert waren. Von den ungenauen, vielfach
auseinandergehenden Angaben über seine Lebenszeit kommen
der Wirklichkeit wohl am nächsten die wahrscheinlich auf
ApoUodor zurückgehenden Ansätze (s. Jacoby, „ApoUodors
Chronik" 215 flf.)> ^ach denen er 571/0 geboren, 532/1 nach
Italien kam und 497/6 im Alter von 75 Jahren starb. Als
den gelehrtesten Mann seiner Zeit bezeichnet ihn schon
Heraklit*); aber wie und woher er sich seine Kenntnisse
^) Über Pythagoras' uns bekannte griechische Biographien vgl. S. 8. 10.
3) Sämtliche Bruchstücke des Philol. hat Böckh Philolaos d. Pythag.
Lehren (1819) bearbeitet; nachdem ich von einem Teil derselben gezeigt
hatte, daß er untergeschoben sei, suchte Schaarschmidt (die angebl. Schrift-
stellerei d. Philol. 1864) dies von allen nachzuweisen; mir hat sich bei
wiederholter Prüfung die Unechtheit der aus dem Buche mql ilfvxrjg stam-
menden und die Echtheit der übrigen, zum Teil schon von Aristoteles be-
nützten, bestätigt. Vgl. Phil. d. Gr. 1», 287 ff. 371 f. 416 ff.
') Unter den neueren Darstellungen der pythagoreischen Philosophie
ist neben den bekannten umfassenderen Werken Chaionet Pythagore et la
phil. pyth. (2 Bde. 1873) als eine sorgfaltige Arbeit zu nennen, die aber
doch unzuverlässigen Berichten noch zu viel Vertrauen schenkt; Roths
kritiklose und romanhafte Gesch. uns. abendländischen Philosophie Bd. 2
(1858) kann nur mit größter Vorsicht benützt werden.
*) Fr. 129 D. = 17 Byw. b. Diog. Vm, 6: Hv^ayogrjs MvtiadQ/ov
taroQ^riv rjaxtiaev av&Q(a7i(ov [idhara ndvxtüv' x«l Ixlt^dfjievoe ravtag ras
avyyQa(päg (wofür Her. wahrscheinlich nur ravia geschrieben hatte) inoir'
§ 14. Pythagoras und seine Schule. 43
erwarb, wissen wir nicht. Die Angaben Späterer über seine
Bildungsreisen in die östlichen und südlichen Länder können
bei der Unzuverlässigkeit der Zeugen, dem späten Auftreten
dieser Nachrichten und den (S. 18 f. berührten) verdächtigen
Umständen, unter denen sie auftreten, nicht für Überliefe-
rungen, die auf geschichtlicher Erinperung beruhten, sondern
nur für Vermutungen gelten, zu denen namentlich die Lehre
von der Seelenwanderung und einige orphisch-pythagoreische
Gebräuche Anlaß gaben. Selbst von einer Anwesenheit des
Pythagoras in Ägypten, der an sich keine innere Unwahr-
scheinlichkeit entgegenstände, war der älteren Überlieferung
allen Anzeichen nach nichts bekannt. Das früheste Zeugnis
dafür ist eine Prunkrede des Isokrates, die auf Glaub-
würdigkeit selbst keinen Anspruch macht (Busir. 11, 28,
vgl. 33)5 Herodot (II, 81. 123, vgl. c. 49. 53) scheint von
einem Aufenthalt des Philosophen in Ägypten noch nichts
zu wissen ; von Platon und Aristoteles vollends ist es (nach
S. 20) sehr unwahrscheinlich, daß sie ein so einflußreiches
System, wie das pythagoreische, aus Ägypten herleiteten;
die Lehre von der Seelenwanderung , die Pythagoras in
Ägypten^) kennen gelernt haben soll, war den Griechen
schon vor ihm bekannt, während sie der ägyptischen Religion
(trotz Herod. II, 123) fremd war. Glaubwürdiger, aber doch
auch nicht sicher, ist die (seit der Mitte des 4. Jahrhunderts
bei DiOG. I, 118 ff. u. a. bezeugte) Angabe, daß er Pherekydes
zum Lehrer gehabt habe, und wenn auch sein Schüler-
verhältnis zu Anaximander (bei Porph. v. Pyth. 2. 11) zu-
nächst nicht auf Überlieferung, sondern auf bloßer Vermutung
auTo iavTov aotpCriv noXvfia^eCriv xaxoTf;^y/'i;y. Diels (Vorsokr. II 660 zu
I 80, 16) geht wohl zu weit, wenn er dieses ganze Fragment als unecht
bezeichnet. Als Vielwisser erscheint Pythagoras auch bei Heraklit Fr. 40.
Vgl. auch Hebod. IV, 95 : ^ElXrivtov ov t^ aad^av^axaTt^ aoq)i(ny Hud-ayogru.
^) Auch der Versuch L. v. Schbödees „Pythagoras und die Inder"
1884, die pythagoreische Seelenwanderungslehre aus der ihr in mancher
Hinsicht ähnlichen Lehre der Inder herzuleiten, muß als mißglückt be-
zeichnet werden.
44 Brste Periode.
ZU beruhen scheint, spricht doch das Verhältnis der pytha-
goreischen Mathematik und Astronomie zu der Anaximanders
(s. 0. S. 37 f.) für seine Bekanntschaft mit dem milesischen
Philosophen. Nachdem Pythagoras seine Wirksamkeit, wie
es scheint, schon in seiner Heimat begonnen hatte, fand
er ihren Hauptschauplatz in Unteritalien (s. o.). Er ließ
sich in Eroton nieder und stiftete hier einen Verein, der
unter den italischen und sizilischen Griechen zahlreiche An-
hänger fand. Die spätere Sage schildert sein Auftreten in
diesen Gegenden als das eines Propheten und Wundertäters,
seine Schule als einen Bund von Asketen, unter strenger
Ordenszucht in Gütergemeinschaft lebend, der Fleischkost,
der Bohnen, der wollenen Kleidung sich enthaltend, mit un-
verbrüchlich gewahrtem Schulgeheiranis. Der geschichtlichen
Betrachtung stellt sich der pythagoreische Verein zunächst
als eine Form des damaligen Mysterien wesens dar: seinen
Mittelpunkt bilden die „Orgien", deren Herodot H, 81, sein
Hauptdogma die Lehre von der Seelenwanderung, deren schon
Xenophanes (Fr. 7 bei DiOG. VHl, 36) erwähnt. Von den Ge-
weihten wurde eine Reinheit des Lebens (IIvd-ayoQeiog XQOTiog
Tov ßiov) (Platon Rep. X, 600 B) verlangt, die ihnen jedoch,
den besten Zeugen zufolge, nur wenige und leicht zu erfüllende
Enthaltungen auferlegte. Was den pythagoreischen Verein
vor allen verwandten Erscheinungen auszeichnet, ist die
ethisch-reformatorische Wendung, die dem mystischen Dogma
und Kultus von Pythagoras gegeben wurde, das Bestreben,
seine Mitglieder, im Anschluß an dorische Sitte und Lebens-
ansicht, zu leiblicher und geistiger Gesundheit, zur Sittlichkeit
und Selbstbeherrschung zu erziehen. Mit diesem Bestreben
steht nicht bloß die Pflege mancher Künste und Fertigkeiten,
der Gymnastik, der Musik, der Heilkunde, sondern auch die
wissenschaftliche Tätigkeit in Verbindung, die innerhalb
des Bundes nach dem Vorgang seines Stifters geübt wurde,
und an der sich, auch ohne eigentliches Schulgeheimnis,
andere als seine Mitglieder wohl nur selten beteiligen
konnten. Die mathematischen Wissenschaften hatten bis um
§ 14. Pythagoras und seine Schale. 45
den Anfang des 4. Jahrhunderts ihren Hauptsitz in der
pythagoreischen Schule, und an sie schloß sich jene Natur-
lehre an, die auch bei den Pythagoreern den wesentlichen
Inhalt ihres philosophischen Systems bildet. Daß aber eine
ethische Reform, wie sie Pythagoras erstrebte, sofort auch
zur politischen werden mußte, war für den Griechen in jener
Zeit selbstverständlich. In der Politik waren die Pythagoreer,
dem ganzen Geist ihrer Lehre gemäß, Verteidiger der dorisch-
aristokratischen, auf strenge Unterordnung des Einzelnen unter
das Ganze abzielenden Einrichtungen; und sie beherrschten
in diesem Sinn längere Zeit durch ihren Einfluß viele von
den großgriechischen Städten. Indessen gab diese politische
Parteistellung des pythagoreischen Vereins schon frühe Anlaß
zu Angriffen gegen ihn, die Pythagoras selbst noch be-
stimmten, von Kroton nach Metapontum auszuwandern ^ Wo
er sein Leben beschloß; und nach vieljährigen Reibungen
gab später, wahrscheinlich erst um 440 — 430 v. Chr., die Ver-
brennung des pythagoreischen Versammlungshauses in Kroton
das Zeichen zu einer über ganz Unteritalien sich erstrecken-
den Verfolgung, in der viele von den Pythagoreern umkamen
und die übrigen zersprengt wurden. Zu diesen Flüchtlingen,
durch welche das mittlere Griechenland erst mit dem Pythar
goreismus bekannt wurde, gehören Philo laos (s. o. S.42, 2)
und Lysis, der Lehrer des Epameinondas, die beide in Theben
lebten. Ein Schüler des ersteren war Eurytos, dessen
Schüler von Aristoxenos als die letzten Pythagoreer bezeichnet
werden. Um den Anfang des 4. Jahrhunderts treffen wir
in Tarent Kleinias, und bald nachher den berühmten
Archytas, durch welchen dem Pythagoreismus aufs neue
die Leitung eines mächtigen Gemeinwesens zufiel; bald nach
ihm scheint aber die pythagoreische Philosophie, die sich
in der alten Akademie mit dem Piatonismus verband, inner-
halb des pythagoreischen Bundes auch in Italien zur Be-
deutungslosigkeit herabgesunken zu sein, während die pytha-
goreischen Mysterien allerdings (vgl. § 91) sich erhielten und
sogar an Verbreitung gewannen.
46 Irrste Periode.
§ 15* Das pythagoreische System: die Zahl und
ihre Elemente,
Wie die praktischen Bestrebungen des Pythagoras daraut
ausgingen, das menschliehe Leben geordnet und harmonisch
zu gestalten, so fafit auch die Weltansicht, die sich an sie
anschloß, und deren leitende Gedanken doch wohl von Pjtha-
goras selbst herrühren *) , vor allem jene Ordnung und Har-
monie ins Auge, durch welche die Gesamtheit der Dinge zu
einem schönen Ganzen, einem Kosmos, verknüpft ist, und
welche sich uns namentlich im Einklang der Töne und in
der regelmäßigen Bewegung der Gestirne zu erkennen gibt.
Diese beruht aber, wie die Pjthagoreer als Mathematiker
bemerken, darauf, daß alles in der Welt nach Zahlenverhält-
nissen geordnet ist: die Zahl ist es nach Philolaos (Fr« 11
b. Stob. Ekl. I S. 16, 20 W.), welche das Verborgene erkenn-
bar macht, die göttlichen Dinge (d. h. das Weltgebäude) und
die Werke der Menschen, Musik und Handwerk, beherrscht,
keine Lüge zuläßt. Alles ist insofern den Zahlen nachgebildet ^).
Ihrem noch ungeübten realistischen Denken verwandelt sich
nun aber dieser Satz sofort in den andern, daß die Zahl das
Wesen der Dinge sei, daß alles Zahl sei und aus Zahlen be-
stehe, und die Unklarheit, welche hierin liegt, aufzulösen und
den Pythagoreem die bestimmte Unterscheidung zwischen
den Zahlen und den nach Zahlenverhältnissen geordneten
^) Was von den einzelnen Lehren der Schule auf den Stifter zurück-
geht , läßt sich bei dem Stande unsrer Überlieferung nicht mit Sicherheit
ermitteln. Doch geht Windelband, „Gesch. d. alten Phil.^ S. 21 ff. zu
weit, wenn er, wie schon vor ihm Brandis, Fythagoras aus der Reihe
der eigentlichen Philosophen völlig ausschließt und ihn nur als
sittlich-religiösen Reformator betrachtet. Im wesentlichen auf Windelbands
Standpunkt stehen Burnet, „Early greek phil." S. 89 ff., und Döring,
„Gesch. d. gr. Phil." I 50 ff. Der letztere unterscheidet auch innerhalb der
altpytbagoreischen Schule noch yier wissenschaftliche Entwicklungsstufen.
•) Abist. Metaph. I, 6. 987 b. 11; fitfxr^a€i> tu ovra (paalv €hai t<uv
§ 15. Das pythagoreische System: die Zahl und ihre Elemente. 47
Dingen zuzuschreiben, hiefie die Eigentümlichkeit ihrer An-
schauungsweise verkennen ^).
Die Zahlen sind nun teils ungerade, teils gerade, und aus
den gleichen Bestandteilen sind auch die einzelnen Zahlen
zusammengesetzt. Ungerade Zahlen sind aber die, welche
der Zweiteilung eine Grenze setzen, gerade die, welche dies
nicht tun: jene sind begrenzt, diese unbegrenzt. Hieraus
schließen die Pythagoreer, daß das Ungerade und das Gerade
oder, allgemeiner ausgedrückt, das Begrenzende^) und das
Unbegrenzte die Grundbestandteile der Zahlen und aller
Dinge (die ngdyfdaTa i§ wv övvaOTa b %6afjLog^ Philol, Fr. 5)
seien. Und da nun das Begrenzte den Griechen für voll-
kommener galt als das Unbegrenzte und Formlose, die un-
gerade Zahl für glückbringender als die gerade, so verknüpfte
sich hiermit die Betrachtung, daß der Gegensatz des Be-
grenzten und Unbegrenzten, des Besseren und Schlechteren,
sich durch alles hindurchziehe, und es wurde (wohl erst von
Jüngeren) ein Verzeichnis von zehn Grundgegensätzen auf-
gestellt, welches so lautet: 1. Begrenztes und Unbegrenztes;
2. Ungerades und Gerades ; 3. Eins und Vielheit ; 4, Rechtes
und Linkes; 5. Männliches und Weibliches; 6. Buhendes
und Bewegtes; 7. Gerades und Krummes; 8. Licht und
Finsternis; 9. Gutes und Böses; 10. Quadrat und Rechteck.
Wegen dieser Gegensätzlichkeit der letzten Gründe be-
darf es aber eines Prinzips, das die Entgegengesetzten ver-
einigt, und dieses ist die Harmonie als „Einheit des Mannig-
faltigen und Übereinstimmung des Zwiespältigen". Wie daher
alles Zahl genannt wird, so kann auch gesagt werden, alles
^) Über den ursprünglich arithmetischen Charakter der pythagoreischen
Grundbegriffe s. „Phil. d. Gr." I ^, 878 ff. , wo die gegenteiligen Ansichten
Ton Bitter, K. F. Hermann, Beinhold, Brandis u. a., daß die
Pythagoreer ihre Prinzipien ursprünglich geometrisch oder körperlich gefaßt
hätten, zurückgewiesen werden. Neuerdings hat Burnet a. a. O. S. 300 ff.
die gegnerische Auffassung wieder zu stützen gesucht.
^ Von Philol. nach Aet. I, 8, 10 (Dox. 288) Trf^iceei'ov genannt; bei
Platon und Arist. steht dafür auch n^gaSt TiintQaofji^voVy nigag ^/or.
48 Srste Periode.
sei Harmonie; dabei wird aber nach der unklaren Weise der
Schule, das Einzelnste dem Allgemeinsten^ das Symbol dem
damit bezeichneten Begriff gleichzusetzen, nicht allein zwischen
der Harmonie im kosmischen Sinne und der musikalischen
Harmonie, sondern auch zwischen jener und der Oktave, die
gleichfalls „Harmonie" genannt wurde, nicht deutlich unter-
schieden.
§ 16. Die pythagoreische Physik.
In der Anwendung ihrer Zahlenlehre auf die gegebenen
Erscheinungen verfuhren die Pythagoreer großenteils sehr
unmethodisch und willkürlich. Wo ihnen an einem Dinge
eine Zahl oder ein Zahlen Verhältnis ins Auge fiel, erklärten
sie diese für sein Wesen; wobei freilich nicht selten der
gleiche Gegenstand mit verschiedenen Zahlen bezeichnet, noch
viel häufiger aber dieselbe Zahl für die verschiedensten
Gegenstände gebraucht und deshalb dann auch wohl diese
untereinander (z. B. ycmgög und die Sonne) in Beziehung ge-
setzt wurden. Doch wurde auch eine methodischere Durch-
führung der Zahlenlehre Versucht, indem die verschiedenen
Klassen der Dinge nach Zahlen geordnet und ihre Eigen-
schaften aus Zahlen erklärt wurden. Das Grundschema der
Zahlen selbst ist das dekadische System; jede einzelne von
den zehn ersten Zahlen hat ihre eigene Kraft und Bedeutung;
vor allen tritt unter diesen die Dekas als die vollkommene,
allumfassende Zahl hervor, nächst ihr die potentielle Zehn,
die Tetraktys, auf welche die bekannte Schwurformel sich
bezieht. Auf Zahlenverhältnissen beruht ferner, wie die
Pythagoreer (und vielleicht schon ihr Stifter) zuerst entdeckten,
die Höhe und der Einklang der Töne; ihr Verhältnis, noch
nicht nach der Schwingungszahl, sondern nach der Länge
der tönenden Saiten bestimmt und auf die diatonische Ein-
teilung des Heptachords (später : Oktachords) berechnet, gibt
schon Philolaos (Fr. 5) für die Oktave (aQfxovia, später diä
Ttaawv) auf 1 : 2, für die Quinte {di o^etävy später ätä nivre)
auf 2 : 3, für die Quarte {ovXXaßdj später öiä TSOodgcDv) auf
§ 16. Die pythagoreische Physik. 49
3 : 4, für den Ton auf 8:9 an. Von den Zahlen werden die
Raumgestalten (an denen die griechische Mathematik die
Zahlen Verhältnisse zur Anschauung zu bringen pflegt) her-
geleitet, wenn die Zwei die Zahl der Linie heißt, die Drei
der Fläche, die Vier des Körpers. Von der Gestalt ihrer
kleinsten Teile macht dann weiter Philolaos die elementarische
Beschaffenheit der Stoffe abhängig, indem er von den fünf
regelmäßigen Körpern das Tetraeder dem Feuer zuweist, das
Oktaeder der Luft, das Ikosaeder dem Wasser, den Würfel
der Erde, das Dodekaeder dem Weltganzen (bzw. dem Äther).
Die Ewigkeit der Welt legen unsern Philosophen nur Spätere,
im Widerspruch mit Aristoteles, bei; die Weltbildung sollte
von dem Eins, d. h. dem Feuer der Mitte, ausgegangen sein,
welches die nächstliegenden Teile des Unbegrenzten an-
gezogen und begrenzt habe. In ihm liegt auch fortwährend
der Mittelpunkt und Zusammenhalt der Welt, es ist „die
Hestia", „die Burg des Zeus" usw. Um dieses Zentralfeuer
soll mit den Gestirnsphären auch die Erde sich bewegen, so
daß hier zuerst der Gedanke auftritt, die scheinbare tägliche
Bewegung des Himmels aus einer Bewegung der Erde zu
erklären. Um aber für diese Himmelskörper die vollkommene
Zahl Zehn zu erhalten, wurde zwischen die Erde und das
Zentralfeuer die Gegenerde eingeschoben. Dieses bei Philolaos
nachweisbare astronomische System scheint jedoch Pythagoras
noch nicht anzugehören, während die Sphärentheorie als
solche, die Kugelgestalt der Erde und die Beleuchtung des
Mondes durch die Sonne, die auch Parmenides kennt, bereits
ihm beizulegen sein werden. Altertümlicher nimmt sich die
Annahme der Sphärenharmonie aus, welche, von der gewöhn-
lichen geozentrischen Vorstellung ausgehend, die sieben Planeten
als die tönenden Saiten des himmlischen Heptachords be-
handelt. Seine Lehre vom Weltjahr (§ 45 g. E.) scheint Plato
von den Pythagoreern entlehnt zu haben; durch Eudemos
(b. SiMPL. Phys. 732, 26) erfahren wir, daß nach Ablauf des
Weltjahres alle Dinge und Zustände genau so, wie sie waren,
wiederkehren sollten. Die Annahme einer Weltseele wurde
Zell er, Grundrifs. 4
50 Erste Periode.
den Pythagoreern in untergeschobenen Schriften neupytha-
goreischen Ursprungs beigelegt ; indessen geht aus Aristoteles
klar hervor, daß sie ihnen fremd war. Auch über die mensch-
liche Seele scheinen sie keine eingehenderen Untersuchungen
angestellt zu haben : Aristoteles weiß von ihnen nur zu be-
richten, daß sie die Sonnenstäubchen, oder auch das, was diese
bewegt, für Seelen gehalten haben (De an. I, 2. 404 a 16);
derselbe nennt Metaph. 1, 5, 985 b 30 unter dem , was die
Pythagoreer auf Zahlen zurückführten, Seele und Verstand
(vovg), und er bestätigt dadurch die Angabe (Theol. Arithm.
55), daß Philolaos im Anschluß an seine Ableitung des
Körpers (S. 49) die physischen Eigenschaften der Fünf-, die
Beseelung der Sechs-, den Verstand (votg), die Gesundheit
und das „Licht" der Sieben-, die Liebe, Klugheit und Ein-
sicht der Achtzahl zuweise. Auch als Harmonie, vielleicht
auch als die Harmonie ihres Leibes, wurde die Seele be-
zeichnet; und ebenso mag es richtig sein, daß Philolaos den
Sitz und Keim (agxd) des Verstandes in den Kopf verlegte,
den des Lebens {rpvxa) ins Herz, der Anwurzlung und des
Wachstums in den Nabel, der Besamung und Erzeugung in
die Geschlechtsteile. Was uns dagegen weiteres, der plato-
nischen Psychologie näher stehendes, als altpythagoreisch über-
liefert wird, ist nicht für authentisch zu halten.
§ 17. Eeligiöse und ethische Lehren der
Pythagoreer.
Neben den wissenschaftlichen Bestimmungen des pytha-
goreischen Systems ist als pythagoreisch noch eine Reihe
weiterer Lehren überliefert, welche unabhängig von jenen
entstanden waren und mit ihnen in keine oder nur in eine
lose Verbindung gebracht wurden. Dahin gehört vor allem
der Glaube an eine Seelen Wanderung, den Pythagoras aus
den orphischen Mysterien herübernahm (vgl. S. 44) *). Ferner
^) S. die Darstellung des orphisch-pythagoreischeu Seelenglaubens
fcei GoMPEBz, „Griech. Denker" S. 100 ff.
§ 17. Beligiose und ethische Lehren der Pjthagoreer. 51
der Glaube an Dämonen^ bei denen vorzugsweise an die in
der Luft umherschwebenden (s. S. 50) oder im Hades ver-
weilenden Seelen gedacht wurde. Endlich auch einige theo-
logische Aussprüche, die Philolaos beigelegt werden, von
denen aber gerade der, welcher an Xenophanes und seine
reinere Gottesidee anklingt (Fr. 20), nicht sicher verbürgt
ist, die andern kein philosophisches Gepräge tragen. Mit dem
Dogma von der Seelenwanderung werden die ethischen
Vorschriften der Pythagoreer durch den Hinweis auf eine
Vergeltung nach dem Tode verknüpft; indessen hat diese
religiöse Motivierung, die nicht blofi pythagoreisch ist, mit
einer wissenschaftlichen Begründung der Ethik nicht« gemein.
Ebensowenig findet sich eine solche in den Lebensregeln
und Vorschriften, welche uns teils in symbolischen Sinn-
i^prüchen ^), teils in anderer Form überliefert sind ; eine Samm-
lung solcher Vorschriften (frühestens wohl aus dem 1, Jahr-
hundert V. Chr.) enthält das sogen, goldene Gedicht (eine
zweite, wahrscheinlich durch eigene Zutaten erweitert, hatte
Aristoxenos — s. o. S. 9 — verfaßt). Die sittlichen Grund-
sätze der Pythagoreer kommen darin zum Ausdruck : es wird
Ehrfurcht vor den Göttern, den Eltern, der Obrigkeit und
den Gesetzen, Vaterlandsliebe, Treue gegen Freunde, Selbst-
prüfung, Mäßigkeit, Reinheit des Lebens verlangt ; aber eine
wissenschaftliche Formulierung und Begründung erhalten diese
Forderungen hier so wenig wie in der Spruchweisheit des
Volkes und der Dichter. Der einzige beglaubigte Versuch,
ihre Zahlenlehre auf das ethische Gebiet anzuwenden, liegt
in dem Satze, daß die Gerechtigkeit eine gleichmal gleiche
Zahl (oder näher eine der beiden ersten Quadratzahlen,
4 und 9) sei, weil sie Gleiches mit Gleichen vergilt. Auch
das mag richtig sein, daß die Tugend als Harmonie bezeichnet
wurde, womit aber nichts Eigentümliches von ihr ausgesägt
^) Diese pythagoreischen avfjißola spiegeln zum guten Teile oralten
religiösen Aberglauben wieder und sind erst später im ethischen Sinne um-
gedeutet worden. S. Bohde, „Psyche'^ passim und Böhm, „De symbolii
Pythagoreis** 1905.
4*
52 Erste Periode.
würde. So wertvoll daher die ethische Richtung des pytha-
goreischen Bandes in praktischer Beziehung auch war, so
dürftig ist doch der Beitrag, den seine Sittenlehre flir die
wissenschaftliche Behandlung der ethischen Fragen geliefert
hat; das Bedürfnis einer solchen wird hier der unmittelbaren
ethischen und religiösen Ermahnung gegenüber noch nicht
empfunden.
§ 18. Der Py thagoreismus in Verbindung mit
anderen Lehren.
Aus einer Verbindung der pythagoreischen Lehre mit
anderen Standpunkten gingen die physikalischen Annahmen
des Hippasos und Ekphantos hervor. H i p p a s o s aus
Metapontum (wohl um 450), ein Mann, der allgemein als
Pythagoreer bezeichnet wird, scheint das pythagoreische
Zentralwesen mit Heraklits UrWesen kombiniert zu haben,
wenn er das Feuer für den Grundstoff der Welt erklärte.
Ekphantos (wie es scheint, um den Anfang des 4. Jahr-
hunderts) verknüpfte die pythagoreische Lehre mit der demo-
kritischen, indem er an die Stelle der Einheiten, welche die
Elemente der Zahl sind, körperliche Atome setzte; für die
Weltbildung nahm er aber mit Anaxagoras den göttlichen
Geist zu Hilfe. Schon vor ihm hatte Hiketas aus Syrakus^
dem er hierin beitrat, die Bewegung der Erde um das Zentral-
feuer mit einer solchen um ihre eigene Achse vertauscht. —
Dafi andererseits auch solche, die nicht zum pythagoreischen
Verein gehörten, von einzelnen seiner Lehren berührt wurden^
zeigt außer Parmenides und Empedokles auch der krotonia-
tische Arzt Alkmäon (Anfang des 5. Jahrhunderts)*); ein
Mann , der durch seine anatomischen Forschungen und ihre
Verwertung für die Heilkunst nicht bloß Hippokrates, sondern
auch den Philosophen der Folgezeit vorgearbeitet, die Sinnes-
empfindungen zuerst untersucht und im Gehirn das Zentral-
^) S. Wachtleb , „De AlcmsBone Crotoniata" 1896, wo auch die Frag-
mente gesammelt sind.
§ 19. Xeuophaiies. 53
Organ der Wahrnehmungs- und Verstandestätigkeit erkannt
hat. Wenn er bemerkte, daß das menschliche Leben sich
zwischen Gegensätzen bewege, und daraus für den Arzt die
Aufgabe ableitete, die Bestandteile des Leibes im Gleich-
gewicht zu erhalten, so erinnert dies ebenso an die Lehre der
Pythagoreer über die Gegensätze und die Harmonie, wie es
an ihren Unsterblichkeitsglauben erinnert, daß er sagte: die
Seele sei unsterblich, denn sie gleiche den unvergänglichen
himmlischen Wesen, den Gestirnen, da sie ebenso wie diese
in beständiger Bewegung begriffen sei. Auch in den Bruch-
stücken des berühmten Komikers Epicharmos (um 550
bis 460 V. Chr.) begegnet uns neben Sätzen des Xenophanes
und Heraklit der pythagoreische Unsterblichkeitsglaube, aber
ihn mit einigen von den Alten einen Pythagoreer zu nennen,
sind wir um so weniger berechtigt, als die pythagoreisch ge-
färbten Bruchstücke aus einer späteren Sammlung stammen,
die neben manchem Echten vieles Unechte enthält*).
C. Die Eleaten.
§19. Xenophanes.
Der Stifter der eleatischen Schule war ebenso wie der
der pythagoreischen ein nach Unteritalien ausgewanderter
lonier. Um 580 — 576 (Ol. 50, wie Apollodor statt des über-
lieferten Ol. 40 wahrscheinlich gesagt hatte) geboren, durch-
wanderte er als Dichter und Rhapsode lange Jahre die Städte
der Griechen und ließ sich schließlich in Elea nieder, wo er
mehr als 92 Jahre alt starb ^). Seine „Polymathie** bezeugt
schon Heraklit (Fr. 16 b. DiOG. IX, 1); Theophrast (b. DiOG.
IX, 21) bezeichnete ihn als einen Schüler Anaximanders.
Seine Gedichte waren mannigfaltigen Inhalts; die Kenntnis
^) S. DiELS Vors. II, 668 f. Die Fragmente finden sich gesammelt bei
Kaibel Com. Gr. fr. I und Diels Vors. I, 89 ff.
2) Diels setzt jetzt (Vors. II 658) auf Grund der Angaben in Fr. 8
und 22 seine Geburt in 565, seinen Tod nach 473.
54 Erste Periode.
seiner philosophischen Ansichten verdanken wir den Über-
bleibseln eines Lehrgedichtes n, (piaBcog ^) und den aus ihm
geflossenen Mitteilungen des Aristoteles und Theophrast (bei
Simplicius u. a. Diels Doxogr. 480 f.) ; dagegen ist die an-
geblich aristotelische Schrift De Melisso Xenophane Gorgia
weder ein Werk des Aristoteles oder Theophrast noch ein
glaubwürdiger Bericht über die Lehre des Xenophanes. —
Den Ausgangspunkt der letzteren scheint jene kühne Kritik
des griechischen Götterglaubens gebildet zu haben, durch
welche Xenophanes in der Geschichte der Religion eine so
bedeutende Stelle einnimmt. Nicht bloß die menschliche Ge-
stalt der Götter und die Unwürdigkeit der homerischen und
hesiodischen Erzählungen über sie fordert seinen Spott und
Unwillen heraus ; sondern er findet auch (wie wir fortwährend
annehmen müssen) schon ihre Vielheit mit einem reineren
Gottesbegriff unvereinbar. Das Beste, sagt er, kann nur
Eines sein; keiner der Götter kann von einem anderen
beherrscht werden. Ebensowenig ist es denkbar, daß die
Götter entstanden seien oder von einena Ort zum andern
wandern. Es gibt also nur Einen Gott, „Sterblichen nicht
an Gestalt noch an Gedanken vergleichbar", „ganz Auge,
ganz Ohr, ganz Denken", der „mühelos mit seinem Denken
alles beherrscht" ^). Mit dieser Gottheit fällt aber unserem
Philosophen die Welt zusammen. „Indem er auf das Welt-
ganze hinblickte, erklärte er das Eine (oder, wie Theophr.
b. SiMPL. Phys. 22, 30 sagt, xö ev tovzo koI nav) für die
Gottheit" (Arist. Metaph. I, 5. 986 b 20); daß er zuerst die
Lehre aufgebracht habe, alle Dinge seien Eines, bezeugt auch
Platon Soph. 242 D. Dieses Eine göttliche Wesen ist ewig
^) Gesammelt und bearbeitet von Kaestjsn philosoph. Graec. rel. I, 1.
1835; DiELs Poet, philos. fr. 1901 und Vors. 1 2 34 ff.
2) S. Phil. d. Gr. I* 526 ff., wo die von Freüdenthal „Über die Theo-
logie d. Xen.^ 1886 entwickelte Ansicht, daß Xenophanes kein Monotheist
in strengem Sinne gewesen sei, zurückgewiesen wird, und Freudenthals
Erwiderung Arch. f. Gesch. d. Phil. 11 322 ff. Auf Freudenthals Seite stellt
sich u. a. GoMPEBz Gr. Denker I 131 f.
§ 20. Parmenides. 55
und unveränderlich; ob es begrenzt oder unbegrenzt sei,
darüber hatte sich Xenophanes nach Aristoteles' und Theo-
phrasts bestimmter Aussage nicht ausgesprochen; wenn ihn
daher De Mel. 3. 977 b 3 ausdrücklich beweisen läßt, daß es
weder unbegrenzt noch begrenzt sei, so verdient diese An-
gabe keinen Glauben. Eher kann er in anderem Zusammen-
hang von der ünermeßlichkeit des Luftraumes und der Erd-
tiefe und andererseits von der Kugelgestalt des Himmels ge-
sprochen haben 7 ohne zu untersuchen, wie sich beides mit-
einander verträgt, und ohne diese Aussagen auf das göttliche
Wesen mit zu beziehen. Auch das ist glaublich, daß er die
Welt für ungeworden und unvergänglich erklärte; er kann
jedoch dabei nur ihren Stoff im Auge gehabt haben, denn
von dem Weltgebäude nahm er dieses nicht an: die Erde
sollte sich aus dem Meer gebildet haben, wie er dies aus
den von ihm beobachteten Versteinerungen bewies, und zeit-
weise wieder in das Meer versinken ; die Sonne aber und die
Gestirne hielt er für brennende Dunstmassen, die sich jeden
Tag neu bilden. Mit der Erde sollte auch das Menschen-
geschlecht untergehen und bei ihrer Neubildung (aus ihr;
vgl. Anaximanders Lehre S. 38) neu entstehen. — Wenn
spätere Skeptiker unsern Philosophen zu den Ihrigen zählten,
so konnten sie sich hierfür zwar auf Äußerungen von ihm
berufen, in denen er die Unsicherheit und Beschränktheit des
menschlichen Wissens beklagt ; indessen zeigt die dogmatische
Haltung seiner Lehre, wie weit er trotzdem von einer grund-
sätzlichen Skepsis entfernt war.
§ 20. Parmenides.
Wenn Xenophanes die Einheit und Ewigkeit der Gottheit
und des Weltganzen behauptet hatte, so werden dieselben
Eigenschaften von Parmenides ; allem Wirklichen überhaupt
als unabweisbare Folgerungen aus seinem Begriff beigelegt,
und es wird deshalb die Vielheit und Veränderung der Dinge
für bloßen Schein erklärt. Dieser im Altertum hochverehrte
und namentlich von Piaton bewunderte Denker könnte nach
56 Srste Periode.
der Darstellung des letzteren im Parmenides nicht vor 520
bis 515 V. Chr. geboren sein; diese Angabe gehört jedoch
wahrscheinlich zu den Anachronismen, deren sich Piaton so
manche aus künstlerischen Rücksichten erlaubt, und DiOG.
IX, 23 kommt der Wahrheit näher, wenn er (ohne Zweifel
nach ApoUodor) seine Blüte (ax^u?^', herkömmlich in das
40. Lebensjahr verlegt) Ol. 69, also seine Geburt OL 59
(544/0 V. Chr.) setzt. Auf seine Bildung hatten zwei Pytha-
goreer Einfluß, und ihm selbst wird ein pythagoreisches
Leben nachgerühmt; aber seine philosophische Theorie schließt
sich in den Grundgedanken an Xenophanes und nur seine
hypothetische Kosmologie an die des Pythagoras, vielleicht
auch an die Anaximanders an^). IJer^Begriffj von dem er
ausgeht^ ist der des Seienden in seinem Gegensatz zum Nicht-
seienden; wobfei er aber unter dem Seienden nicht das Ab-
straktum des reinen Seins, sondern das „Volle", die raum-
erfüllende Masse ohne jede nähere Bestimmung versteht. „Nur
dSÄ. Seiende ist, das Nichtseiende ist nicht und kann nicht
gedacht werden" (Fr. 4. 6, If.) — aus diesem Grundgedanken
leitet er alle seine Bestimmungen über das Seiende ab. Das
Seiende kann nicht anfangen oder aufhören zu sein, denn
es kann weder aus dem Nichtseienden noch zum Nichtseien-
den werden, es war nie und wird nie sein, sondern ist un-
geteilt gegenwärtig (vvv eaxiv ofÄOv 7mv ev ^vve%ig). Es ist
unteilbar, denn es ist das, was es ist, überall gleichsehr, und
es gibt nichts, durch das es geteilt werden könnte. Es ist
jinbewegt und unveränderlich, überall sich selbst gleich, einer
wohlgerundeten Kugel* zu Vergleichen, vom Mittelpunkt nach
^) Sein Gedicht n, iftatmg beginnt mit der Fiktion einer Wagenfahrt
des Dichters in die Region des Lichtes, wo ihm die Göttin die untrügliche
Wahrheit und dann auch die trüglichen Meinungen der Menschen verkündet.
Es zerföllt demnach in zwei Teile, die Lehre vom Sein (L4^»i^€*«) und die
Lehre vpm Schein (^fo|«)- ^^^ Fragmente des Gedichts bei BLä.rsten phil.
Gr. rel. I, 2. Vatke Parm. doctrina 1864. Stein S. 763 ff. der Symb. philol.
Bonnens. 1864 ff. Preller » (s. o. S. 15) S. 86 ff. Diels Parm. Lehrgedicht
1897, Poet. phil. fr. S. 48 ff . und Vors. I» 105 ff.
§ 20. Parmenides. • 57
allen Seiten gleichmäßig verbreitet. Auch das De nke n^ ist
vom Sein verschieden, denn es ist nur Denken des Seienden
(Fr. 8, 34 ff.). Nur dasjenige Erkennen hat daher Wahrheit,
welches uns in allem dieses Eine unveränderliche Sein zeigt,
nur die Vernunft (loyog)'^ die Sinne dagegen, die uns eine
Vielheit von Dingen, ein Entstehen, ein Vergehen und eine
Veränderung, überhaupt also ein Sein des Nichtseienden vor-
spiegeln, sind die Quelle alles Irrtums^).
Nichtsdestoweniger unternahm es Parmenides in dem
zweiten Teil seines Gedichtes, zu zeigen, wie man sich die
Welt auf dem Standpunkt der gewöhnlichen Vorstellungsweise
zu erklären hätte. In Wa hrheit ^xi^tiert nur das Seieade;
die Meinung der Menschen stellt ihm das Nichtseiende zur
Seite und denkt sich so alles aus zwei Elementen zusammen-
gesetzt, von welchen das eine dem Seienden, das andere dem
Nichtseienden entspricht; aus dem Lichten und Feurigen
(cpXoycg ald^eqiov ^vq), und der „Nacht", dem Dunkeln,
Schweren und Kalten, das Parmenides auch Erde nannte.
Jenes beschrieb er nach Theophrast als das wirkende, dieses
als das leidende Prinzip, fügte ihnen aber noch die mythische
Gestalt der Göttin bei, die alles lenke. Er verspricht zu
zeigen, wie man sich unter diesen Voraussetzungen die Ent-
stehung und Einrichtung der Welt zu erklären habe; es ist
uns jedoch von diesen Ausführungen nur wenig erhalten. Er
beschreibt das Weltgebäude als zusammengesetzt aus der Erd-
kugel und den verschiedenen um sie gelagerten, von dem
festen Himmelsgewölbe umspannten, teils lichten, teils dunkeln.
^) Die Annahme, mit welcher Bernays viele Zustimmung gefunden hat,
daß Parm. bei dem Tadel derjenigen, die Sein und Nichtsein für dasselbe
halten (Fr. 6, 4 ff.), Heraklit im Auge haben, ist m. A. nach durch seine
Schilderung dieser Gegner nicht gefordert und mit dem Altersverhältnis
der beiden Philosophen schwer zu vereinigen ; vgl. Phil. d. Gr. I ^, 737 f.
[Bernays' Auffassung wird jetzt fast allgemein anerkannt. S. Diels Parm.
68 ff., wo auch Zellers chronologische Bedenken zerstreut werden. Hiernach
hat Parm. seine Lehre im bewußten Gegensatze gegen die Heraklits ent-
wickelt. Vgl. Patin Parm. im Kampfe gegen Heraklit 1899.]
58 Erste Periode.
teils gemischten Sphären^). Die Menschen ließ er, wie es
scheint, aus dem Erdschlamm entstehen. Nach der stofflichen
Beschaffenheit des Leibes soll ihr Vorstellen sich richten:
jedes der beiden Elemente erkennt das ihm verwandte; der
Charakter der Vorstellungen hängt davon ab, welches von
beiden überwiegt; sie haben daher größere Wahrheit, wenn
das Warme (das Seiende) im Übergewicht ist.
§ 21. Zenon und Melisse s.
Eine dritte Generation eleatischer Philosophen ist durch
Zenon und Melissus vertreten. Zenon aus Elea, dessen helden-
mütiger Untergang bei der Bekämpfung eines Tyrannen be-
rühmt ist, war der Lieblingsschüler des Parmenides, nach
Platon (Parm. 127 B) 25, nach ApoUodor 40 Jahre jünger als
dieser. In einer prosaischen Schrift aus seinen jüngeren
Jahren verteidigte er die Lehre des Parmenides auf indirektem
Wege, durch Widerlegung der gewöhnlichen Vorstellungsweise,
mit solchem Scharfsinn, daß ihn Aristoteles (nach DiOG. VIII,
57. IX, 25) den Erfinder der Dialektik nannte. Seine uns
bekannten Beweise wenden sich teils gegen die Annahme einer
Vielheit von Dingen, teils gegen die Bewegung. Gegen die
Vielheit wird bemerkt: 1. Wenn das Seiende vieles wäre,
müßte es sowohl unendlich klein als unendlich groß sein:
jenes, denn die Einheiten, aus denen es zusammengesetzt
wäre, müßten unteilbar, mithin ohne Größe sein; dieses,
denn jeder seiner Teile müßte einen anderen vor sich haben,
von dem er entfernt wäre, ebenso aber auch dieser usf.
2. Ebenso müßte es der Zahl nach sowohl begrenzt als un-
begrenzt sein: begrenzt, denn es wären nicht mehr Dinge
als es sind; unbegrenzt, denn um mehrere zu sein, müßten
je zwei Dinge ein drittes zwischen sich haben, ebenso aber
^) S. DiELS Parm. 103 ff. Eine neue, von Diels vielfach abweichende
Erklärung der Kosmogonie des Parm. gibt jetzt Gilbert Arch. f. Gesch. d.
Phil. XX (1906) 25 ff.
§ 21. Zenon und Melissos. 59
diese und jene und so ins Unendliche ^). 3. Wenn alles in
einem Räume ist, muß es auch dieser selbst sein, ebenso aber
sein Raum usf. 4. Endlich wird die Behauptung erwähnt,
wenn ein Scheflfel Körner beim Ausschütten ein Geräusch
hervorbringe, müßte auch jedes Korn und jeder Teil eines
solchen eines hervorbringen^). Noch berühmter und be-
deutender sind aber die vier Beweise gegen die Bewegung
(Arist. Phys. VI, 9 und seine Kommentatoren) : 1. Um einen
bestimmten Weg zurückzulegen, müßte ein Körper erst die
Hälfte zurücklegen, hierzu erst die Hälfte dieser Hälfte usf.,
d. h. er müßte in einer begrenzten Zeit unbegrenzt viele
Räume durchlaufen; die Bewegung könnte also keinen An-
fang nehmen. 2. Dasselbe in anderer Wendung (der sogen.
Achilleus); Achilleus kann die Schildkröte nicht einholen,
wenn sie irgendeinen Vorsprung vor ihm hat ; denn während
er an ihren Standort (A) gelangt, gelangt sie an einen
zweiten (B), während er nach B gelangt, sie nach C usf.;
die Bewegung könnte also nicht zu Ende kommen. 3. Der
fliegende Pfeil ruht, denn er ist in jedem Augenblick nur in
einem und demselben Raum, er ruht also in jedem Augen-
blick seiner Flugzeit, also auch in dieser ganzen Zeit.
4. Gleiche Räume müßten bei gleicher Geschwindigkeit in
der gleichen Zeit durchmessen werden. Nun kommt aber
ein bewegter Körper an einem zweiten, wenn dieser sich
ihm entgegenbewegt, doppelt so schnell vorbei, als wenn er
ruht. Also stehen die Gesetze der Bewegung mit den Tat-
sachen in Widerspruch. — Später sind diese Beweise in
^) Daß diese beiden Beweise g^egen die angebliche Lehre der Pytha-
goreer von der Zusammensetzung der Dinge aus räumlich ausgedehnten
Punkten (s. o. S. 47 Anm. 1) gerichtet seien, ist durch Tannery sc. hell. 248 flf.
(vgl. Bäumkeb Probl. d. Mat. 60 und DöRisa Gesch. d. gr. Phil. 175 f.) nicht
erwiesen worden. S. Phil. d. Gr, I*^ 594.
^) Der 3. und 4. Beweis waren vielleicht nicht unmittelbar zur Wider-
legung der Yielheitslehre bestimmt, sondern jener wandte sich gegen die
(pythagoreische oder atomistische ?) Annahme eines leeren Raumes, dieser
gegen die Zuverlässigkeit unsrer Sinneswahrnehmungen.
60 Erste Periode.
skeptischem Sinne verwendet worden ; Zenon selbst wollte nur
die Sätze des Parmenides damit stützen, gab aber durch die Art,
in der er diesen Zweck verfolgte, nicht allein zur Ausbildung
der Dialektik, sondern auch zur Erörterung der in den Be-
griffen des Raumes, der Zeit und der Bewegung liegenden
Probleme einen nachhaltigen Anstoß. Die Fehler seiner Be-
weise und namentlich den Grundfehler, die Verwechslung
der unendlichen Teilbarkeit von Raum und Zeit mit einer
unendlichen Geteiltheit, bemerkte er selbst gewiß nicht.
M e 1 i s s s aus Samos, derselbe, welcher 441 v. Chr. als
Nauarch die athenische Flotte besiegte, trug in seiner Schrift
n. q)vae(ag^) (oder: n:. xov ovrog) die Lehre des Parmenides vom
Seienden vor, welche er hier, wie es scheint, *,ußer gegen
andere auch schon gegen Empedokles und Leukippos verteidigte.
Er bewies mit den gleichen Gründen, wie Parmenides, die
Ewigkeit und Unvergänglichkeit des Seienden; zog dann
aber hieraus, von ihm abweichend, die unzulässige Folgerung,
daß es auch räumlich anfangs- und endlos, also unbegrenzt
sein müsse. Zur weiteren Begründung dieser Bestimmung
diönte ihm die (vermutlich gegen Leukippos gerichtete) Be-
streitung des leeren Raumes; diese hielt er auch der An-
nahme entgegen, daß es eine Mehrheit von Dingen gebe.
Denn an der Einheit und Ungeteiltheit des Seienden hielt er
mit Parmenides fest. Mit ihm leugnete er jede Bewegung
und ebenso auch jede Veränderung in der Beschaffenheit der
Dinge und in der Anordnung ihrer Teile, da jede Veränderung
Untergang des Bestehenden und Entstehung eines Neuen wäre,
und infolge davon bestritt er (gegen Empedokles) auch die
Teilung und Mischung der Stoffe; wobei er gegen die räum-
liche Bewegung wieder die Undenkbarkeit des Leeren geltend-
1) Pabst De Mel. fragmentis (1889) hat gezeigt, daß Fr. 1—5 Mull,
eine jüngere Bearbeitung von Fr. 6 — 14 sind. Bei Diels Vors. I 143 ff.
sind daher die ersteren als Paraphrase des Simplicius unter den Text der
echten Fragmente gesetzt. Diese echten Bruchstücke rechtfertigen vollauf
das Urteil des Aristoteles, der (Metaph. I 5, 589 b 25) Melissos ebenso wie
Xenophanes im Vergleiche zu Parmenides fiixQov dygoixoreQoi nennt.
§ 22. Heraklit. ßl
machte, ohne das doch weder eine Bewegung noch eine Ver-
dünnung und Verdichtung möglich sei. Mit Parmenides ver-
warf er endlich das Zeugnis der Sinne, denen er den Wider-
spruch vorrückte, daß sich uns die Dinge in der Folge oft
verändert zeigen, was nicht möglich wäre, wenn sie wirklich
so beschaflTen gewesen wären, wie sie sich uns zuerst darstellten.
IL Die Physiker des fünften Jahrhunderts.
§ 22. Heraklit.
Herakleitos war ein Ephesier aus edlem Geschlecht, ein
Zeitgenosse des Parmenides (über dessen Verhältnis zu ihm
S. 57 Anm. 1 zu vergleichen ist) ; seine axjwif fällt nach ApoUo-
dor (Diog. IX 1) wie die des Parmenides in Ol. 69 (504/0
v.Chr.), seine Geburt demnach 544/0*). Ernsten und tief-
sinnigen Geistes, voll Geringschätzung gegen das Treiben und
die Meinungen der Menschen, und auch von den bewundertsten
Weisen seiner Zeit und seines Volkes nicht befriedigt, ging
er in der Forschung seinen eigenen Weg (-editrjadiÄrjv Sfiecmrtöv
Fr. 101 ; eJg i/xol ixvqiol eäv agiatog g Fr. 49). Ihre Ergeb-
nisse legte er in seiner Schrift 7t. q)va€(jog ohne nähere Be-
gründung in prägnanten, bilderreichen, nicht selten orakel-
haften und bis zur Undeutlichkeit wortkargen Sprüchen nieder,
und diese Darstellungsweise hat ihm den Beinamen des
Dunkeln (dessen erste Spur sich bei Livius XXIII, 39 findet)
eingebracht; ihm selbst schien sie der Würde des Gegen-
standes zu entsprechen, und uns gibt sie das treue Bild seines
mehr in Anschauungen als in Begriffen sich bewegenden,
mehr auf die Verknüpfung als auf die Unterscheidung des
Mannigfaltigen gerichteten Denkens^).
^) Sein Todesjahr läßt sich nicht näher bestimmen ; Diog. VIII 52,
wo nach der handschriftlichen Überlieferung seine Lebensdauer auf 60 Jahre
angegeben wird, ist mit Sturz und Diels (Vors. I 15) für ^HQaxXstrov zu
schreiben: *HQaxXs£dfig.
^) Seine Bruchstücke sind gesammelt und monographisch bearbeitet
von ScHLEiERMACHBE Hcraklcitos (1807; jetzt: Werke z. Phil. II, 1 — 146);
62 Brste Periode.
Wie Xenophanes und Parmenides, so geht auch Heraklit
von der Betrachtung der Natur aus, und diese begreift auch
er als ein einheitliches Ganzes, das als solches weder ent-
standen ist noch vergeht. Aber während jene an dem Natur-
ganzen die Beharrlichkeit der Substanz so ausschließlich ins
Auge fassen, daß sich ihnen die Vielheit und der Wechsel
der Erscheinungen schließlich in einen bloßen Schein auflöst,
macht auf Heraklit umgekehrt der unaufhörliche Wechsel der
Dinge, die Unbeständigkeit alles Einzelnen, einen so starken
Eindruck, daß er gerade hierin das allgemeinste Weltgesetz
sieht, die Welt nur als ein in unablässiger Veränderung be-
griffenes, in immer neue Gestalten sich umsetzendes Wesen
zu betrachten weiß. Alles fließt und nichts hat Bestand^);
„wir können nicht zweimal in denselben Strom steigen"
(Fr. 12. 49 a. 91); alles geht fortwährend in anderes über,
und es zeigt sich ebendamit, daß es Ein Wesen ist, das die
entgegengesetzten Gestalten annimmt, durch die verschieden-
artigsten Zustände hindurchgeht, daß „alles aus Einem wird,
und Eines aus allem" (Fr. 10): „Gott ist Tag und Nacht,
Sommer und Winter, Krieg und Frieden, Sättigung und
Hunger" (Fr. 67). Dieses Wesen aller Dinge ist aber nach
Heraklit das Feuer: „Diese Welt, die Eine für alle, hat
Lassalle Die Philos. Herakleitos des Dunkeln, 1858. 2 Bde. Schuster
Heraklit, 1873. Bywater Heraoliti Keliquise, Oxf. 1877. Diels Herakleitos
y. Eph. griech. u. deutsch, 1901, und Vors. I 54 ff. Weiter vgl. m. neben
den umfassenderen Werken von Monographien: Bebnays Heraclitea (1848.
Ges. Abhandl. I, 1 — 108). Teichmöllee Neue Studien z. Gesch. d. Begriffe.
1. H. 1876; 2. H. 1878. E. Pfleidereb Die Philos. d. Her., 1866. Soülier
Eraclito. Born. 1885. Gompebz Zu Her.s Lehre. 1887. Patin Heraklits
Einheitslehre, 1885. Ders. Heraklitische Beispiele I. II, 1892/93. Brieger
Die Grundzüge d. herakl. Physik Hermes 39 (1904). S. 182 ff. Über die
hippokrateische Schrift 77. SinCiTis^ die als Quelle für Heraklit seit Bernajs,
vielfach in unkritischer Weise, benutzt worden ist, s. Phil. d. Gr. I ^ 694 ff.
und FRm)RiCH Hippokratische Untersuchungen 1899.
^) navxa . . . ^Hv, dvai öh nayCtog ov&^v Arist. De coelo lU, 1. 298 b.
29. ra ovTci Uvat r€ ndvrct xcct fA(vHV ovöiv . . . „ndvta x^oqu xal ov6hv
fi^n"" Platon Krat. 401 D. 402 A.
», '..„..- lAv.(«^ .^'"/u,../'.; !''%■('■- .'.,-,'■ ':"■';' ,
§22. Heraklit. 63
tveder der Götter noch der Menschen einer gemacht ; sondern
sie war immer und ist und wird sein ein ewig lebendes
Feuer" (Fr. 30). Der Grund dieser Annahme liegt in letzter
Beziehung darin, daß das Feuer dem Philosophen der Stoflf
T^vi sein schien, welcher von allem am wenigsten einen festen
Bestand hat oder bei anderem duldet, und er verstand des-
halb unter seinem Feuer nicht bloß die Flamme, sondern das
Warme überhaupt, weshalb es auch als Dunst (avadvfxiaacg)
oder Hauch (tpvxri) bezeichnet wird. Aus .dem Feuer ent-
stehen die Dinge durch Umwandlung in andere Stoflfe, und
auf dem gleichen Wege kehren sie dahin zurück: „alles wird
umgetauscht gegen Feuer und Feuer gegen alles, wie Waren
gegen Gold und Gold gegen Waren" (Fr. 90). Da aber
dieser Umwandlungsprozeß nie stille steht, kommt es niemals
zu beharrenden Produkten, sondern alles ist beständig im
Übergang von einem Zustand in einen entgegengesetzten be-
griffen und hat eben deshalb die Gegensätze, zwischen denen
es in der Mitte schwebt, gleichzeitig an sich: „Der Streit
(Ttolefiog) ist das Recht der Welt (JUtj), der Vater und
König aller Dinge ^)" ; „was gegeneinander strebt, stützt sich
(awl^ovv ovficpeQov Fr. 8), was auseinandergeht, geht mit
sich zusammen" (Fr. 51, vgl. Byw. Fr. 45; vgl. Platon Soph.
224 D.); „auf entgegengesetzter Spannung beruht die Har-
monie der Welt, wie die der Leier und des Bogens {naXiv'
Tovog [al. 7ta'kLvtQcmog\ agixovir] xocfxov oKiaausq XvQtjg xat
To^ov Fr. 51, vgl. Byw. Fr. 56). Heraklit sprach daher von
dem Zeus-Polemos und tadelte Homer, daß er die Zwietracht
verwünscht. Aber nicht minder stark hob er es hervor, daß
die „verborgene Harmonie" der Natur aus den Gegensätzen
immer wieder den Einklang herstelle, daß das göttliche Ge-
setz, die Dike, das Verhängnis, die Weisheit {yvvifiri), die
gemeinsame Vernunft {X6yoq)j Zeus, oder die Gottheit alles
regiere, daß das Urwesen nach festen Gesetzen sich in alle
Dinge umsetze und aus ihnen wieder zurücknehme.
1) Fr. 80. 53. 67; vgl. Phil. d. Gr. I» 655—664.
!
64 Erste Periode.
In seiner Umwandlung durchläuft das Urwesen drei
Grundformen : aus dem Feuer wird Wasser, aus dem Wasser
Erde; in umgekehrter Richtung aus der Erde Wasser, aus
dem Wasser Feuer. Jenes ist der Weg nach unten, dieses
der nach oben, und daß sich beide durch die gleichen
Momente bewegen, spricht der Satz (Fr. 60) aus: „Der Weg
nach oben und unten ist Einer". Alle Dinge unterliegen
dieser Veränderung fortwährend ; aber sie scheinen dieselben
zu bleiben, solange ihnen von der einen Seite ebenso viele
Stoffe einer bestimmten Art zufliefien, als sie nach der
anderen abgeben. Ein bezeichnendes Beispiel dieses Wechsels
bietet Heraklits sprichwörtlich gewordene Meinung, daß die
Sonne jeden Tag neu sei, indem das im Sonnennachen an-
gesammelte Feuer des Abends erlösche, und sich während
der Nacht aus den Dünsten des Meeres neu bilde. Den
gleichen Gesichtspunkt wandte aber der Philosoph (im An-
schluß an Anaximander und Anaximenes) auch auf das Welt-
ganze an : wie die Welt aus dem Urfeuer hervorgegangen ist,
so soll sie auch, wenn das Weltjahr abgelaufen ist, durch
Verbrennung dahin zurückkehren, um sich nach einer be-
stimmten Zeit wieder aufs neue aus ihm zu bilden, und es
soll sich so die Geschichte der Welt periodisch (ein Weltjahr
umfaßt 10800 Sonnenjahre) in endlosem Wechsel zwischen
dem Zustand des geteilten Seins {nXqr^oiioavvri^) und dem der
Einigung aller Dinga im Urfeuer („xo^og**. Fr. 65) bewegen.
Wenn Schleiermacher, Hegel und Lassalle dem Philosophen
diese Lehre absprechen, so widerstreitet diese Ansicht nicht
allein dem einstimmigen Zeugnis der Alten seit Aristoteles,
sondern auch Heraklits eigenen Aussagen, und auch auf Platon
Soph. 242 D f. kann sie sich nicht stützen.
Ein Teil des göttlichen Feuers ist die Seele des Menschen ;
je reiner dieses Feuer ist, um so vollkommener ist sie: „die
trockene Seele ist die weiseste und beste" (Fr. 118)*). Da
^) Der obigen Übersetzung liegt die Fassung des Ausspruches bei
Bjwater Fr. 74 zugrunde: avr] ipvx^i aoipojTuttj xal a^Carri. Diels zieht
§ 22. Heraklit. 65
aber das Seelenfeuer gleichfalls fortwährender Umwandlung
unterliegt, muß es sich durch die Sinne und den Atem aus
dem Licht und der Luft außer uns ergänzen. Daß es frei-
lich beim Austritt der Seele aus dem Leibe nicht erlöschen,
sondern Jndividuell fortdauern sollte, und daß Heraklit dem-
gemäß die Seelen (mit den Orphikern und Pythagoreern) aus
diesem Leben in ein höheres übergehen ließ, dazu gab ihm
seine Physik kein Recht ^). Dagegen ist es ganz folgerichtig,
wenn der Philosoph, der im Wechsel der Einzeldinge nur
das allgemeine Gesetz als ein bleibendes betrachtet, auch nur
dem vernünftigen, auf das Gemeinsame gerichteten Erkennen
Wert beilegt (Fr. 113. 114), die Augen und Ohren der Un-
verständigen dagegen für „schlechte Zeugen" erklärt (Fr. 107),
und wenn er labenso für das praktische Verhalten den Grund-
satz aufstellt: „alle menschlichen Gesetze nähren sich von
Einem, dem Göttlichen" (Fr. 114); ihm müsse man daher
folgen, dagegen „den Übermut löschen, mehr als eine Feuers-
brunst" (Fr. 43). Aus dem Vertrauen auf die göttliche Welt-
ordnung entspringt jene Zufriedenheit (evageaTtjaig) , die
Heraklit für das höchste Gut erklärt haben soll; das Glück
des Menschen hängt seiner Überzeugung nach von ihm selbst
ab: f^v^og av&Q(jj7i(fi daifxcav (Fr. 119). Auf der Gesetzlichkeit
beruht das Wohl des Gemeinwesens: „das Volk muß für das
Gesetz kämpfen wie für seine Mauer" (Fr. 44). Aber auch
das, meint der aristokratische Philosoph, sei Gesetz, dem Rat
eines einzelnen zu folgen (Fr. 33), und gegen die Demokratie,
die seinen Freund Hermodor verbannt hat, richtet er (Fr. 121)
jetzt die bei Philon u. a. überlieferte- Lesart vor: avyri ^tjqtj ^v^fj xrA, und
übersetzt: „trockner Glast: weiseste und beste Seele".
*) Nach Diels Her. Anm. zu Fr. 63 läßt Heraklit nur die Seelen der
Beinen und Auserwählten nach dem Tode als Heroen oder Dämonen fort-
leben (vgl. Fr. 26. 24. 25). Die Ansicht Patins Her. Beispiele H und
BoHDES Psyche ^ 422 ff., daß Her. kein persönliches Fortleben, sondern nur 1
ein Aufgehen der Seelen in dem Ewig-Einen, dem Weltfeuer, angenommen |
habe, läßt sich bei unbefangener Prüfung der Überlieferung kaum recht-
fertigen ; mit der physikalischen Lehre Her.s würde eine solche Auffassung I
allerdings im vollen Einklänge stehen.
Zeller, Grundrifs. 5
66 Ente Periode.
den herbsten Tadel. In ebenso schroffer Unabhängigkeit
stellte er sich den religiösen Meinungen und Bräuchen des
Volkes gegenüber, wenn er nicht allein die dionysischen
Orgien, sondern auch die Bilderverehrung und die blutigen
Opfer mit scharfen Worten angriff. Daß er selbst, wie
E. Pfleiderer glaubt, von den Mysterien einen für sein
ganzes System maßgebenden Einfluß erfuhr, ist durchaus
unerweisbar und unwahrscheinlich.
Heraklits Schule erhielt sich nicht bloß in ihrer Heimat
bis um den Anfang des 4. Jahrhunderts, sondern sie fand
auch in Athen Anklang; Piatons Lehrer Kratylos gehörte
ihr an. Aber diese späteren Herakliteer, und namentlich
auch Kratylos, waren in ein so unmethodisches, enthusiasti-
sches Wesen und in solche Übertreibungen geraten, daß so-
wohl Piaton als Aristoteles sich sehr geringschätzig über sie
äußern.
§ 23. E m p e d k 1 e s.
Der Agrigentiner Empedokles war nach ApoUodor
483/2 V. Chr. geboren und starb sechzigjährig 424/3; wahr-
scheinlich aber ist seine Lebenszeit um etwa zehn Jahre
(492 — 432) heraufzurücken. Durch seine schwungvolle
Beredsamkeit und seine Tatkraft erhielt er sich, wie sein
Vater Meton, längere Zeit an der Spitze der agrigentinischen
Demokratie; noch wichtiger war aber ihm selbst die Rolle
des Religionslehrers , Propheten, Arztes und Wundertäters,,
zu der ihn seine bedeutende, der des Pythagoras ähnliche
Persönlichkeit befähigte. Über seinen Tod kamen schon
frühe abenteuerliche Erfindungen, teils vergötternde, teils
herabsetzende, in Umlauf; das Wahrscheinlichste ist, daß er
schließlich, von der Volksgunst verlassen, als Verbannter im
Peloponnes starb*). Von den Schriften, die seinen Namen
trugen, lassen sich ihm nur die zwei Lehrgedichte, die
q>vaiycd^ die in zwei Bücher zerfielen, und die Tca^aginol, mit
^) Vgl. BiDEz La biographie d'Emp^docle 1894.
§ 23. Empedokles. 67
Sicherheit beilegen ; von beiden haben sich zahlreiche Bruch-
stücke^) erhalten.
In seiner mystischen Theologie schließt sich Empedokles
,an die orphisch-pythagoreischen Lehren an, in seiner Physik
dagegen sucht er einen Mittelweg zwischen Parmenides und
der von diesem bestrittenen Weltansicht. Mit Parmenides
leugnet er, daß ein Entstehen oder Vergehen im strengen
Sinn denkbar sei 5 aber deshalb die Vielheit der Einzeldinge,
ihr Werden und ihre Veränderung zu bestreiten, kann er
sich nicht entschließen; und so ergreift er, wahrscheinlich
nach Leukippos' Vorgang, den Ausweg, die Entstehung auf
eine Verbindung, das Vergehen auf eine Trennung, die Ver-
änderung auf eine teilweise Verbindung und Trennung un-
entstandener, unvergänglicher und unveränderlicher Stoffe
zurückzuführen. Diese Stoffe denkt er sich aber voneinander
qualitativ verschieden und quantitativ teilbar, nicht als Atome,
sondern als Elemente {axoixeia), und er ist der erste, der
diesen Begriff des Elementes aufgebracht hat ; der Name
allerdings ist später: Empedokles selbst nennt sie „die
Wurzeln (^t^cJ^a-ra) von allem". Auch die Vierzahl der
Elemente : Feuer, Luft, Wasser, Erde, rührt von Empedokles
her. Keiner von diesen vier Stoffen kann in den anderen
übergehen oder sich mit ihm zu einem neuen verbinden : jede
Mischung der Stoffe besteht nur darin, daß kleine Teile von
ihnen mechanisch gemengt werden, und ebenso jede Wirkung,
die substantiell getrennte Körper aufeinander ausüben, darin,
daß von dem einen kleine Teilchen {ano^^oai) sich ablösen
und in die Poren des andern eindringen; wo die Poren und
Ausflüsse zweier Körper sich entsprechen, ziehen sie sich an
wie der Magnet und das Eisen. Damit aber die Stoffe zu-
sammentreten oder auseinandertreten, müssen zu ihnen die
bewegenden Kräfte hinzukommen, und dieser müssen es zwei
^) Gesammelt und erläutert von Stürz Empedokles 1805; Karsten
Empedoclis carm. rel. 1838; Stein Empedoclis fragm. 1852; Preller ^
S. 12 flf.; Diels Poet. phil. fr. S. 74 ff. und Vors. I 149 ff.
5*
68 Knie Periode.
sein: eine vereinigende und eine trennende, Empedokles
nennt jene die Liebe {q)iX6vrig^ arogyTJ) oder auch die Har-
monie, diese den Haß {yely^og, xoTog),
Diese Kräfte wirken nun aber nicht immer in der
gleichen Weise. Wie vielmehr Heraklit die Welt periodisch
aus dem Urfeuer hervorgehen und wieder dahin zurückkehren
ließ, so nimmt auch Empedokles an, daß die Elemente in
endlosem Wechsel bald von der Liebe zur Einheit zusammen-
geführt, bald vom Hasse getrennt werden. In dem ersten
von diesen Zuständen, als vollkommene Mischung aller Stoffe,
bildet die Welt den kugelförmigen Sphairos, der als ein
seliger Gott beschrieben wird, weil aller Haß aus ihm ver-
bannt ist. Das Gegenstück dazu ist die gänzliche Trennung
der Elemente. Zwischen diesen Extremen liegen diejenigen
Weltzustände, in denen Einzelwesen entstehen und unter-
gehen ^). Bei der Bildung der gegenwärtigen Welt sollte die
Liebe zuerst in der Mitte der vom Haß getrennten Stoffe
einen Wirbel hervorgebracht haben, in den diese allmählich
hereingezogen wurden ; aus diesem Gemenge schied sich durch
die Wirbelbewegung zuerst die Luft oder der Äther ab, aus
dem sich das Himmelsgewölbe bildete, hierauf das Feuer,
welches unmittelbar unter diesem seinen Ort einnahm; aus
der Erde wurde durch einen Umschwung das Wasser aus-
gepreßt, aus dem dann wieder Luft (d. h. die untere atmo-
sphärische) ausdünstete. Der Himmel besteht aus zwei Hälften^
einer feurigen und einer dunkeln, mit eingesprengten Feuer-
teilen: jenes der Tag-, dieses der Nachthimmel. Die Sonne
hielt Empedokles mit den Pythagoreern für einen Spiegel,
welcher die Strahlen des himmlischen Feuers sammle und
zurückwerfe, wie der Mond die der Sonne. Daß die Erde
^) H. V. Arnim Festschrift f. Gomperz 1902 S. 16 ff. sucht nachzuweisen^
daß Emp. nur eine Periode der Weltbildung und der Entstehung von
Einzelwesen angenommen habe. Doch scheinen dieser Auffassung bestimmte
Zeugnisse des Aristoteles und der Fragmente (s. bes. Fr. 17 u. 26) zu wider-
sprechen. Geschildert hat Emp. allerdings nur eine dieser beiden Perioden»
§ 23. Empedokles. 69
und die Welt sich an ihrer Stelle erhalten, sollte die Ge-
schwindigkeit des Umschwunges bewirken.
Aus der Erde sind nach Empedokles die Pflanzen und
die Tiere entsprossen. Wie aber die Vereinigung der Stoffe
durch die Liebe überhaupt nur allmählich erfolgt, so nahm
er auch bei der Entstehung der lebenden Wesen einen stufen-
weisen Fortschritt zu vollkommeneren Erzeugnissen an. Erst
sollten nur einzelne Gliedmaßen aus der Erde hervorgekommen
sein, dann diese, wie es sich traf, sich zu ungeheuerlichen
Gebilden vereinigt haben-, und auch als die jetzigen Tiere
und Menschen entstanden, waren sie zuerst unförmliche
Klumpen, die erst mit der Zeit ihre Gliederung erhielten.
Daß dagegen schon Empedokles den zweckmäßigen Bau der
Organismen durch die Annahme erklärt habe, von den
Schöpfungen des Zufalles hätten nur die lebensfähigen sich
erhalten, ist weder an sich wahrscheinlich, noch sagt es
Aristoteles (Phys. II, 8) ^). Mit den lebenden Wesen scheint
sich Empedokles sehr eingehend beschäftigt zu haben. Er
stellte über ihre Erzeugung und Entwicklung, über die ele-
mentarische Zusammensetzung der Knochen und des Fleisches,
über den Atmungsprozeß (welcher teilweise durch die Haut
erfolgen sollte) und ähnliche Erscheinungen in ihrer Art
sinnreiche Vermutungen auf. Er suchte die Sinnestätigkeiten
durch seine Lehre von den Poren ^) und Ausflüssen zu er-
klären, wobei er, das Gesicht betreffend, annahm, daß dem
gegen das Auge sich bewegenden Licht Ausflüsse aus dem
Feuer und Wasser des Auges entgegenkommen. Er stellte
für das Erkennen überhaupt den Grundsatz auf, daß jedes
Element von dem gleichartigen in uns erkannt wurde ^) (wie
auch die Lust durch das Verwandte, die Unlust durch das
Widerstrebende hervorgerufen werden sollte) 5 daß daher die
1) Vgl. meine Vorträge und Abhandl. III, 41 ff. Phil. d. Gr. I, 795 f.
^) Durch diese wahrscheinlich dem Leukippos entlehnte Annahme von
Poren gerät Emp. mit sich selbst in Widerspruch, da er mit Parmenides
das Leere leugnet (Fr. 13. 14); s. Diels Über Leukipp u. Demokrit S. 105.
^) yaty fjikv yccQ yaictv ontonafAiv usw. Fr. 109.
70 Erste Periode.
Beschaffenheit des Denkens sich nach der des Körpers und
namentlich des Blutes richte, das sein Hauptsitz sei. Auch er
ließ sich aber durch diesen Materialismus nicht abhalten, das
sinnliche Erkennen dem vernünftigen nachzusetzen, wenn er
es ihm auch nicht so schroff entgegenstellt wie Parmenides.
Neben diesem naturphilosophischen System begegnet uns
bei Empedokles die mystische, an die Orphiker und Pytha-
goreer anknüpfende Lehre von dem Herabsinken der Seelen
ins Erdenleben, von ihrer Wanderung durch menschliche^
tierische und Pflanzenleiber und von der dereinstigen Rück-
kehr der geläuterten Seelen zu den Göttern; und daran»
ergibt sich das Verbot der Tieropfer und der tierischen
Nahrung, von denen die goldene Urzeit der Menschheit noch
nichts wußte (Fr. 128). Aber er hat diese Lehren mit seiner
Physik nicht bloß in keine wissenschaftliche Verbindung ge-
bracht, sondern auch den Widerspruch beider zu beseitigen
keinen Versuch gemacht ; so wenig sich auch verkennen läßt^
daß in beiden eine Auffassung sich ausspricht, welcher der
Streit und Gegensatz der Grund alles Übels, Einheit und
Harmonie das Seligste ist. Auch die reine Gottesidee, die
er in den Katharmen (Fr. 131. 132) mit Xenophanes der
anthropomorphistischen Götter Vorstellung entgegensetzt, ver-
trägt sich nicht mit seiner physikalischen Lehre ^).
§ 24. Die atomistische Schule.
Der Stifter der atomistischen Schule war Leukippos,
ein Zeitgenosse des Anaxagoras und Empedokles, dessen
Lebenszeit wir jedoch nicht genauer bestimmen können,
Theophrast b. SiMPL. Phys. 28, 4 nennt ihn einen Schüler
des Parmenides, weiß aber nicht, ob er aus Milet oder Elea
stammte. Die Schriften, aus denen Aristoteles und Theophrast
^) Der Widerspruch zwischen der empedokleischen Mystik und Physik
wird psychologisch erklärlich, wenn man mit Diels Über d. Gedichte d. Emp,
1898 S. 11 ff. die Schrift thqI (pvaewg in die jüngeren Jahre, das Sühnelied
dagegen in die Zeit der Verbannung des Philosophen setzt.
§ 24. Die atomistische Schule. 71
über seine Lehren berichten, Meyag diaytoaidog und liegt vov,
scheinen sich später unter denen Demokrits befunden zu
haben ^). Dieser berühmte Philosoph und Naturforscher, ein
Bürger Abderas, war nach seiner eigenen Aussage (DiOG. IX,
41) noch jung, als Anaxagoras bereits alt war (veog xazä
TiQeaßvTTjv Idva^ayoQav) ; ob er aber gerade 40 Jahre jünger
als jener und somit um 460 v. Ghr. geboren war, wie Apol-
lodor annahm, ist zweifelhaft; Thrasyll setzte seine Geburt
in Ol. 77, 3 (470/69 v. Chr.), vielleicht auf Grund der Stelle
bei Aristoteles (d. part. an. I, 1 b. 42 a 26), die schon im
Altertum so aufgefaßt wurde, als ob darin Demokrit für
jünger als Sokrates erklärt würde. Seine Wißbegierde soll
ihn, wie ein späteres Zeugnis mitteilt, nach Ägypten und
Babylonien geführt haben; ob in die Zeit, die er in der
Fremde zubrachte (Fr. 299)^), auch sein Verkehr mit Leu-
kippos ßillt, dessen Schüler er nach Aristoteles und Theo-
phrast war, wird nicht berichtet; das Wahrscheinlichere
ist,, daß er wie Protagoras mit Leukippos zu Abdera ver-
kehrt hat. Außer ihm kannte Demokrit auch andere ältere
und gleichzeitige Philosophen, wie er denn der erste Ge-
lehrte und Naturfoscher seiner Zeit war. Sein Lebensalter
wird von Diodor, vermutlich nach ApoUodor, auf 90, von
anderen auf 100 und noch mehr Jahre angegeben. Aus
seinen Schriften sind zahlreiche Bruchstücke erhalten®), aus
denen aber das Unechte auszuscheiden -^ namentlich bei den
moralischen Aussprüchen — oft schwierig ist.
Die atomistische Theorie ist in ihren wesentlichen Bestand-
teilen als ein Werk des Leukippos zu betrachten, während
^) Und daraus erklärt es sich, daß Epikur Leukippos' Existenz leug-
nete (DioG. X, 13). Wenn jedoch Rohde Über Leucipp und Demokrit
(Verhandl. d. 34. Philologenversamml. 1881. Jahrb. f. Philol. 1882 S. 741 ff.)
zu zeigen suchte, daß Epikur darin recht habe, so ist er von Diels
(Verhandl. d. 35. Philologenvers. S. 96 ff.) überzeugend widerlegt worden.
^) [Das jedoch als unecht ansusehen ist; s. oben S. 20 Anm. 1.]
^) Gesammelt bei Diels Vors. I 350 ff. ; die ethischen Fragmente bei
Natorp Die Ethika d. Dem. 1893.
72 Erste Periode.
ihre Anwendung auf alle Teile der Naturwissenschaft über-
wiegend das seines Schülers gewesen zu sein scheint. Leu-
kippos war (wie Arist. gen. et corr. I, 8 sagt) mit Parmenides
von der Unmöglichkeit eines absoluten Entstehens und Ver-
gehens überzeugt, aber die Vielheit des Seins, die Bewegung,
das Entstehen und Vergehen der zusammengesetzten Dinge
wollte er nicht leugnen-, und da nun alles dieses, wie Par; h i -
menides gezeigt hatte, ohne das Nichtseiende sich nicht
denken läßt, so behauptete er, das Nichtseiende sei so gut
wie das Seiende. Das Seiende ist aber (nach Parmenides) * ij^^^'
das Raumerfüllende, Volle, das Nichtseiende das LeererXls'x:.-^
die Grundbestandteile aller Dinge bezeichneten demnach ^*^*
\ Leukippos und Demokrit das Volle und das Leere ; §her um
\iie Erscheinungen hieraus erklären zu können, dachten sie
dch das Volle in zahllose, wegen ihrer Kleinheit nicht ge-
sondert wahrnehmbare Körperchen zerteilt, die durch das
Leere voneinander geschieden, selbst aber deshalb unteilbar
sein sollten, weil sie ihren Raum vollständig ausfüllen und
kein Leeres in sich haben; weshalb sie Atome (ccTOfio) oder
auch „dichte Körper" (vaatd) genannt werden. Diese Atome
sind genau so beschaffen wie das Seiende des Parmenides,
wenn man sich dieses in zahllose Teile zerschlagen und in
einen unbegrenzten leeren Raum versetzt denkt : ungeworden,
unvergänglich, ihrem Stoffe nach durchaus gleichartig, unter-
scheiden sie sich nur durch ihre Gestalt und ihre Größe und
sind keiner qualitativen Veränderung, sondern nur des Orts-
wechsels fähig. Nur hierauf haben wir daher auch die
Eigenschaften und Veränderungen der Dinge zurückzuführen.
Da alle Atome aus dem gleichen Stoffe bestehen, muß ihr
Gewicht ihrer Größe genau entsprechen; wenn mithin zu-
sammengesetzte Körper bei gleicher Grröße ein verschiedenes
Gewicht haben, so kann dies nur davon herrühren, daß in
dem einen mehr leere Zwischenräume sind als in dem andern.
Alles Entstehen des Zusammengesetzten besteht in dem Zu-
sammentreten getrennter, alles Vergehen in der Trennung
verbundener Atome; ebenso sind alle Arten von Veränderung
§ 24. Die atomistische Schale. 73
C
teils hierauf, teils auf Änderungen in der Lage und Ordnung
der Atome zurückzuführen. Jede Einwirkung der Dinge auf-<
«inander ist eine mechanische durch Druck und Stoß: jede7
Wirkung in die Ferne (wie zwischen Magnet und Eisen, \
Licht und Auge) ist durch Ausflüsse vermittelt. Alle Eigen -
fichaften der Dinge beruhen auf der Gestalt, Größe, Lage
und Ordnung ihrer Atome; die sinnlichen Qualitäten, die
wir ihnen beilegen, drücken (schon nach Leukippos) nur die
Art aus, wie sie auf unsere Sinne wirken : v6f^(^ yXvxv, v6fÄ(p
TtiTCQoVy vofxifi &eQfi6vj v6fi(p xfJvxQOVy v6ix(^ XQOiTjj ezefi de axofxa
xat yievov (Fr. 9; vgl. 125).
Vermöge ihrer Schwere bewegen sich nun alle Atome 'v^^c;\
von Ewigkeit her im unendlichen Räume nach u nten \) ; hier-
bei müssen aber, wie die Atomiker meinten, die größeren
Atome, weil sie schwerer sind, schneller fallen als die kleineren
und leichteren; sie stoßen daher auf diese und drängen sie
nach oben, und aus dem Gegenlauf dieser beiden Bewegungen,
dem Zusammenstoß und Abprallen der Atome, erzeugt sich
eine Wirbelbewegung. Infolge der letzteren werden nun
einerseits die gleichartigen Atome zusammengeführt; andrer-
seits bilden sich durch die Verwicklung verschiedengestaltiger
Atome abgesonderte und nach außen abgeschlossene Atomen-
komplexe oder Welten. Da die Bewegung keinen Anfang,
die Masse der Atome und der leere Raum keine Grenze haben,
muß es solcher Welten von jeher zahllose gegeben haben,
die sich in den mannigfaltigsten Zuständen befinden und die
^) Wie dies sowohl aus der Lehre von der Schwere der Atome als
aus den Aussagen des Piaton, Aristoteles, Theoprast usw. Phil. d. Gr. I^
S. 868 ff. nachgewiesen und his jetzt durch keinen irgend stichhaltigen
Gegengrund widerlegt ist. [Die von Zeller a. a. O. bekämpfte Ansicht
Brieoebs (Die Urbewegung der Atome und die Weltentstehung bei Leuk.
u. Dem. 1884) und Liepmanns (Die Mechanik der Leukipp-Demokritschen
Atome 1886), wonach die Urbewegung (richtiger: die interkosmische Be-
wegung) der Atome im leeren Räume nicht eine geradlinige Fallbewegung,
sondern ein wirres Durcheinanderfliegen nach verschiedenen Bichtungen ist,
hat den Beifall namhafter Forscher gefunden (s. Jahresber. f. Altertumsw.
1903 I 136 ff.). Adhuc sub iudice lis est.]
74 Erste Periode.
verschiedensten Gestalten haben. Nur eine von diesen zahl-
losen Welten ist die, der wir angehören. Demokrits Ver-
mutungen über ihre Entstehung, die Bildung der Gestirne in
der Luft, ihre allmähliche Austrocknung und Entzündung usw.
entsprechen seinen allgemeinen Voraussetzungen. Die Erde
denken sich Leukippos und Demokrit mit Anaximenes als
runde Platte auf der Luft schwebend. Die Gestirne, von
denen aber die zwei größten, Sonne und Mond, erst nach
ihrer Entstehung in unser Weltsystem eingetreten sein sollen,
drehten sich vor der Neigung der Erdachse horizontal seit-
lich um die Erde. Von den vier Elementen besteht nach
Demokrit das Feuer aus kleinen, glatten und runden Atomen,
in den übrigen sind verschiedenartige Atome gemischt.
Aus dem Erdjchlamm kamen die organischen W^sen
hervor, denen Demokrit große Aufmerksamkeit zugewendet
zu haben scheint; besonders eingehend beschäftigte er sich
jedoch mit dem Menschen, und wenn schon sein Körperbau
ein Gegenstand der höchsten Bewunderung für ihn ist ^), legt
er noch viel höheren Wert auf die /Seele) und das geistige
Leben . Auch die Seele kann er allerdings nur für etwas
Körperli ches erklären: sie besteht aus feinen glatten und
runden Atomen, also aus Feuer, das durch den ganzen Leib
verteilt ist, und durch die Einatmung teils am Austritt ver-
hindert, teils aus der Luft ergänzt wird; einzelne Seelen-
tätigkeiten haben aber in bestimmten Organen ihren Sitz.
Nach dem Tode zerstreuen sich die Seelenatome. Trotzdem
ist aber die Seele das Edelste und Göttlichste im Menschen,
und auch in allen andern Dingen ist so viel Seele und Ver-
nunft, als Wärmestoff in ihnen ist ; von der Luft z. B. sagte
Demokrit, es müsse in ihr viel Vernunft und Seele (vovg und
x^fvxr]) sein, da wir diese sonst nicht durch den Atem in uns
^) [Die Phil. d. Gr. I*^ S. 901 ff. hierfür beigebrachten Zeugnisse au»
Fulgentius und dem von ten Brink den echten Bruchstücken zugewiesenen
Briefe des Dem. an Hippokrates (Epist. Ps.-Hippocr. 23) werden jetzt von
DiELs Vors. I 445 (Fr. 301) und S. 448 f. (vgl. H 731) mit Recht als Fäl-
schungen bezeichnet]
§ 24. Die atomistische Schale. 75
aufnehmen könnten (Arist. De respir. 4). In der Veränderung,
welche die von den Dingen ausgehenden und durch die
Sinnesorgane eindringenden Ausflüsse in der Seele hervor-
bringen, besteht die Wahrnehmung ; das Sehen z. B. entsteht
(schon nach Leukippos) dadurch , daß 3Te Bilder der
Gegenstände, die sich von diesen ablösen (cl'dwAo, deimela),
die vor ihnen liegende Luft gestalten und diese mit den
Ausflüssen unsrer Augen sich berührt; wobei jede Art
von Atomen von den gleichartigen in uns erfaßt wird. In
einer ähnlichen Veränderung des Seelenkörpers besteht auch
das Denken: es ist richtig, wenn die Seele durch die Be-
wegungen, die sie erfährt, in die richtige Temperatur versetzt
wird. D>ieser Materialisnaus hält aber einen Demokrit so
wenig wie andere ab (dem S. 73 angeführten entsprechend),
zwischen der Wahrneh mung und demi Denken (der yvcif^v]
äycoTiti und yvjjair]) in Beziehung auf ihren Wert^scharf zu
unter schei den und nur von dem letzteren Aufschluß über die
wahre Beschafi^nheit der Dinge zu erwarten; so wenig er
auch verkennt, daß wir diese nur von der Beobachtung aus
zu erkennen vermögen. Die UnvoUkommenheit des sinnlichen >
Erkennens ist es wohl auch, die Demokrits Klagen über die
Unsicherheit und Beschränktheit unseres Wissens zunächst
veranlaßt; zum Skeptiker darf man ihn deshalb nicht machen:
der Skepsis des Protagoras hat er ausdrücklich widersprochen.
Und ebenso wie der Wert unsers Erkennens ist auch der
unseres Lebens durch die Erhebung über das Sinnliche be-
dingt. Das Wünschenswerteste ist wohl, sich möglichst viel
zu freuen und möglichst wenig zu betrüben ; aber „Eudämonie
und Kakodämonie der Seele wohnt nicht in Oold noch in
Herden, sondern die Seele ist der Wohnsitz des Dänaon".
(Vgl. Heraklit oben S. 65.) Die Grlückseligkeit besteht wesent-
lich in der Ruhe und Heiterkeit des Gemütes (evd'Vfilri ^)j
^) JI. 6v&v/Li{fig ißt der Titel der Schrift, welcher viele und besonders
die umfangreicheren ethischen Brachstücke des Philosophen, soweit sie echt
sind, entnommen zn sein scheinen; über sie handeln Lobtzinq Über die
ethischen Fragm. D.s 1873, R. Hirzel Hermes XIV 354 — 407 und Natorp
\<^
76 Erste Periode.
eveatciy agfiovitj, a&afjtßirj) , und diese erreicht man am
sichersten durch Mäßigung der Begierden und Gleichmaß
des Lebens (fÄSTQioTrjtt zsQipiog 'Aai ßiov ^^ifÄergir]^ Fr. 191).
In diesem Sinn sind Demokrits Lebensvorschriften ge-
halten : sie zeigen eine reiche Erfahrung^ feine Beobachtung,
reine Grundsätze. Sie mit seiner physikalischen Theorie
wissenschaftlich zu verknüpfen; hat er allem nach nicht ver-
sucht, und wenn der Grundgedanke seiner(^thik)inhaltl^
in dem Satze liegt, daß das Glück des Menschen ganz und
gar von seinem Gemütszustand abhänge, so fehlt doch jeder
Beweis dafür, daß er diesen Satz in ähnlicher Weise, wie
etwa Sokrates den Satz, daß die Tugend im Wissen bestehe,
durch allgemeine Erwägungen zu begründen unternahm.
Akistoteles rechnet daher Demokrit trotz seiner Sittensprüche,
die er freilich nirgends erwähnt, noch durchaus zu den
Physikern^ und läßt die wissenschaftliche Ethik erst mit
Sokrates beginnen (Metaph. XIII. 4, 1078 b 17. part. an. I,
2. 642 a 26).
Fremdartig nimmt sich fiir uns Demokrits Ansicht über
6 >s^^^ ' die (^ötter)des Volksglaubens aus, wiewohl sie in Wahrheit
seinerNaturerklärüng richtig angepaßt ist. So wenig er
nämlich jenen Glauben als solchen teilen konnte, so nötig
schien es ihm doch, ihn zu erklären; und wenn er auch
hierfiir die Annahme nicht abwies, daß außerordentliche
^ Naturersch einungen Anlaß gegeben haben, sie auf Götter als
ihre Urheber zurückzuführen, oder daß gewisse allgemeine
Begriffe in ihnen dargestellt seien, sagte doch seinem Sen-
sualismus eine andere, realistischere Erklärung noch mehr zu.
Wie der Volksglaube den Luftraum mit Dämonen bevölkerte,
so nahm auch Demokrit an, daß sich in diesem Räume
Wesen von menschenähnlicher Gestalt aufhalten, die aber
den Menschen an Größe und Lebensdauer weit überlegen,
in der S. 71 Anm. 3 angeführten Schrift. — Piaton Phileb. 43 D ff. Rep. X
583 Bff. mit Hirzel und Natorp auf Demokrit zu beziehen, hat man kein
Recht; vgl. Phil. d. Gr. Ua*, 308 f.
§ 25. Anaxagoras. 77
und deren Wirkungen teils wohltätige, teils schädliche seien ;
die Bilder (vgl. S. 75), die von ihnen ausgehen und den
Menschen im Schlaf oder im Wachen erscheinen, seien für
Götter gehalten worden. Auch für die weissagenden Träume
und den Einfluß des bösen Auges suchte Demokrit durch
seine Lehre von den Bildern und den Ausflüssen eine natür-
liche Erklärung zu gewinnen; ebenso glaubte er, daß sich
den Eingeweihten der Opfertiere natürliche Anzeichen ge-
wisser Vorgänge entnehmen lassen.
Der bedeutendste Mann aus Demokrits Schule ist
Metrodoros aus Chios, der entweder ihn selbst oder seinen
Schüler Nessos zum Lehrer hatte. In den Grundzügen
seiner Lehre mit Demokrit einverstanden, wich er doch in
Einzelheiten der Naturerklärung an manchen Punkten von
ihm ab und zog aus seinem Sensualismus skeptische Folge-
rungen, mit denen er aber doch nicht beabsichtigt haben
kann, die Möglichkeit des Wissens grundsätzlich zu leugnen.
Ein Schüler Metrodors oder seines Schülers Diogenes ist
Anaxarchos 6 EvdaifxoviKog, der Begleiter Alexanders, in
seinem Tode würdiger als in seinem Leben. Mit Metrodor
hängt vielleicht auch Nausiphanes zusammen, der Epikur
in Demokrits Lehre einführte, der aber auch den Skeptiker
Pyrrhon gehört haben soll.
§ 25. Anaxagoras.
Anaxagoras aus Klazomenä, nach ApoUodor (b. DiOG.
II, 7, vermutlich nach Demetrius Phaler.) Ol. 70, 1 (500/499
V. Chr.) geboren, widmete sich unter Vernachlässigung seines
Vermögens der Wissenschaft und zeichnete sich namentlich
als Mathematiker und Astronom aus. Über seine Lehrer
ist nichts bekannt , und wenn ihn SiMPL. Phys. 27, 2 (nach
Theophrast) wohl mit Recht aus der Schule des Anaximenes
hervorgehen läßt, beweist doch sein System zur Genüge
(mag dies auch neuestens bestritten worden sein), daß die
Lehre des Parmenides und wahrscheinlich auch die des
Leukippos einen bedeutenden Eindruck auf ihn gemacht
78 Brote Periode.
hatte. Dagegen ist es nur eine müßige Kombination, wenn
ihn Neuere zum Schüler des Klazomenieni Hermotimos
machen wollten, eines weit älteren, sagenhaften Wundermannes,
in dessen Legende schon frühe (nach Arist. Metaph. 984 b 18)
seine Lehre vom Novg hineingedeutet worden war. In Athen,
wohin er (nach ApoUodor wahrscheinlich 460/59) übersiedelte,
kam er mit Perikles in nahe Verbindung; durch Gegner
dieses Staatsmannes wegen Leugnung der Staatsgötter verklagt,
mußte er Athen (431/0 v. Chr.) verlassen. Er ging nach
Lampaskos , wo er nach Apollodor 428/7 v. Chr. 72 Jahre
alt starb (DiOG. II, 7). Von seiner Schrift n. q)vaecog haben
sich wichtige Bruchstücke*) erhalten.
Anaxagoras ist nun mit Leukippos und Empedokles
darüber einig, daß ein Entstehen und Vergehen im strengen
Sinn und deshalb auch die qualitative Veränderung eines
Dinges undenkbar sei, daß daher alles Entstehen nur in der
Verbindung, alles Vergehen in der Trennung schon vor-
handener Stoffe bestehe^), jede Veränderung der Eigenschaften
auf einer Veränderung der stofflichen Zusammensetzung be-
ruhe. Aber schon die Bewegung, durch welche die Ver-
bindung und Trennung der Stoffe herbeigeführt wird, weiß
er sich aus dem Stoff als solchem nicht zu erklären (das
Leere, das ihm Leukippos hierfür beigefügt hatte, bestritt er
mit Parmenides und Melissos), noch weniger aber die wohl-
geordnete Bewegung, die ein so schönes und zweckvolles
Ganzes wie die Welt hervorgebracht hat. Diese kann nur
das Werk eines Wesens sein, dessen Wissen und dessen Macht
sich über alles erstreckt, das Werk eines denkenden, ver-
nünftigen und dabei allmächtigen Wesens, des Geistes oder
*) Erläutert von Schaübach Anaxag. fragmenta 1827, Schorn Anaxag.
6t Diogenis fragmenta 1829, Diels Vors. I 298 ff.
2) Fr. 17 (SiMPL. Phys. 163, 20): t6 cT^ yivsa&ai xal dnoXXva&ai ovx
OQ^ais vofiC^ovOtv ol "SkXrjves. ovöhv yccg XQVf^" yCv^tat oiök dnoXXvTai,
dXX^ dnb iovTwv /^ly^arwy avfjt^Cöy^Tal t€ xal äiaxqlvitai, xal ovttag
äv OQt^tJÜg xaXoTsv t6 t« yivead-at avfjifJLiayEad-ai xaX to dnoXXvad-ai Stw
xgivea&ai.
§ 25. Anaxagoras. 79
des Novg; und diese Macht und Verntinftigkeit kann dem Novg
nur dann zukommen, wenn er mit keinem andern vermischt
und daher auch durch kein andres gehemmt ist. Den leiten-
den Gedanken des Anaxagoras bildet daher der Begriff des
Geistes in seinem Unterschied vom Stoffe; und das wesent-
lichste Merkmal dieses Unterschiedes findet er darin, daß der
Geist durchaus einfach (ccTtloog) ist, der Stoff durchaus zu-
sammengesetzt. Jener ist „mit nichts vermischt", „allein für
sich" (fzovvoQ eq)^ icovrov), „das feinste und reinste von allen
Dingen" ; er besitzt volle Erkenntnis jeglichen Dinges und
die größte Kraft. Damit ist seine Unkörperlichkeit zwar
nicht durchaus adäquat bezeichnet, aber doch unverkennbar
gemeint, während die Frage nach seiner Persönlichkeit dem
Philosophen noch fem liegt. Und ebenso besteht seine Wirk-
samkeit wesentlich in der Scheidung des Gemischten, auf
die sich auch sein Erkennen als ein Unterscheiden zurück-
führen ließ. Der Stoff dagegen stellt, ehe der Geist auf ihn
gewirkt hat, eine Masse dar, in der nichts von dem andern
gesondert ist. Da aber alles aus dieser Masse durch bloße
Scheidung ihrer Bestandteile entstehen soll, darf sie nicht als
eine gleichartige Masse, auch nicht als eine Mischung so ein-
facher Urstoffe, wie die empedokleischen Elemente oder die
Atome, gedacht werden, aus deren mechanischer Verbindung
sich Anaxagoras wohl die von den ihrigen so weit abweichen-
den Eigenschaften der Dinge nicht zu erklären wußte; sie
besteht vielmehr nach Anaxagoras aus einem Gemenge zahl-
loser unentstandener, unvergänglicher und unveränderlicher,
unsichtbar kleiner, aber doch nicht unteilbarer Körperchen
von eigenartiger Beschaffenheit : Goldteilchen, Fleischteilchen,
Knochenteilchen usf. Anaxagoras bezeichnet diese seine Ur-
^) Wenn daher auch zuzugeben ist, daß Anaxag. die Unstofflichkeit
des Geistes nicht mit voller Deutlichkeit und Schärfe hervorgehoben hat,
so gehen doch diejenigen zu weit, die in dem Novg im Grunde nur ein
materielles Prinzip, wenn auch von besonderer Art, erblicken, wie Windel-
band Gesch. d. alten Phil.^ 8. 52 f., der ihn geradezu als „Denkstoff^ be-
zeichnet.
80 Erste Periode.
Stoffe als öneQiiaTa oder xQTqfifna'^ Spätere nennen sie im
Anschluß an die aristotelische Bezeichnung (of^oiOfÄeQtj)
Homöomerien.
Diesen Voraussetzungen entspriechend begann Anaxa-
goras seine Kosmogonie mit der Schilderung des Zustandes^
in dem alle Stoffe durchaus gemischt waren (Fr. ] : ofiov
TtcLvxa XQ^^ciza rjv). Ihre Scheidung bewirkte der Geist da-
durch, daß er zunächst an einem Punkte eine Wirbelbewegung
hervorbrachte, die, von hier aus sich ausbreitend, immer mehr
Teile der unendlichen Masse in sich hereinzog und noch
weitere hineinziehen wird. Daß Anaxagoras den Geist noch
in andre Stadien des Weltbildungsprozesses eingreifen ließ^
wird nicht berichtet; vielmehr machen ihm Platon (Phädon
97 Bff.) und Aristoteles (Metaph. I, 4. 985 a 18. c. 7 988 b 6)
tibereinstimmend den Vorwurf, er habe sein neuentdecktes
Prinzip nicht für eine teleologische Naturerklärung zu ver-
wenden gewußt und beschränke sich ebenso wie seine Vor-
gänger auf die blind wirkenden materiellen Ursachen. Durch
die Wirbelbewegung (von welcher die Weltbildung herzuleiten
Anaxagoras vielleicht durch Leukippos veranlaßt war)
sonderten sich die von ihr ergriffenen Stoffe zunächst in
zwei Massen, von denen die eine das Warme, Trockene, Lichte
und Dünne umfaßte, die andre das Kalte, Feuchte, Dunkle
und Dichte: den Äther und die Luft (oder genauer: den
Dunst, Nebel, a^Q), Mit der Dauer der Bewegung schritt
die Sonderung der Stoffe fort; aber doch kommt sie nie zu
Ende; es sind vielmehr in allem Teile von allem, und nur
deshalb ist es möglich, daß ein Ding, auch ohne eine Ände-
derung seiner stofflichen Bestandteile, durch ihr Hervortreten
ein andres Aussehen bekommt; wenn der Schnee nicht
schwarz wäre (d. h. wenn nicht neben dem Hellen auch
Dunkles in ihm wäre), könnte es auch das Wasser nicht sein^
in das er sich auflöst. Das Dünne und Warme wurde durch
die Wirbelbewegung nach dem Umkreis geführt, das Dichte
und Feuchte in die Mitte. Das letztere bildete die Erde^
die sich Anaxagoras mit den älteren loniern als flache Platte
§ 25. Anaxagoras. gl
von der Luft getragen dachte; aus Steinmassen, welche durch
die Gewalt des Umschwunges von der Erde losgerissen und
in den Äther geschleudert wurden, und welche in diesem
zum Glühen kamen, bestehen die Gestirne. Diese bewegten
sich (wie bei den Atomikern ; s. o. S. 75) anfangs horizontal
um die Erdscheibe; erst seit sich diese mit ihrer südlichen
Hälfte abwärts geneigt hat, schneiden sich ihre Bahnen mit
der Ebene der Erdoberfläche. Den Mond dachte sich Anaxa-
goras der Erde ähnlich xmd bewohnt; die Sonne, um ein
Vielfaches größer als der Peloponnes, sollte außer ihm auch
allen anderen Sternen den größeren Teil ihres Lichtes spenden.
Durch die Wärme der Sonne wurde die Erde, welche an-
fangs in schlammartigem Zustande war, mit der Zeit ge-
trocknet.
Aus dem Erdschlamm, den die in der Luft und dem
Äther enthaltenen Keime befruchteten, gingen die lebenden
Wesen hervor. Was sie belebt, ist der Geist, und dieser ist
in allen, mit Einschluß der Pflanzen, derselbe; aber er ist
ihnen in verschiedenem Maße mitgeteilt. Im Menschen ist
auch die sinnliche Wahrnehmung Sache des Geistes. In den
Sinneswerkzeugen, die im Gehirn als ihrem Zentralorgan* zu-
sammenlaufen (vgl. Alkmäon, S. 52 f.), wird sie nicht durch
das Gleichartige, sondern durch das Entgegengesetzte hervor-
gerufen. Daß die Eigenschaften der Dinge, welche die Sinne
uns zeigen, ihnen selbst zukommen, bezweifelt Anaxagoras
nicht; um so stärker betont er dagegen, daß sie uns über
ihre Grundbestandteile viel zu unvollständig unterrichten.
Wahre Erkenntnis gewährt daher auch nach ihm nur die
Vernunft. Wie ungeteilt Anaxagoras selbst der Forschung
lebte, spricht sich in einigen seiner Apophthegmen aus;
ebenso lassen uns weitere Äußerungen , die von ihm er-
zählt werden, eine edle und. ernste Auffassung des Lebens
erkennen; daß er sich in wissenschaftlicher Weise mit der
Ethik beschäftigte, ist nicht überliefert. Ebensowenig ist ein
religionsphilosophischer Satz von ihm bekannt; persönlich
steht er der Volksreligion in voller wissenschaftlicher Freiheit
Zeller, Orundrifs. 6
82 Erste Periode.
gegenüber, und vermeintliche Wunder, wie den Meteorstein
von Ägospotamos, suchte er natürlich zu erklären.
Von den Schülern des Anaxagoras, denen auch Euri-
p i d e s beigezählt wird , kennen wir Metrodoros aus
Lampsakos nur durch seine geschmacklose allegorische
Deutung der homerischen Mythologie. Etwas mehr wissen
wir von Archelaos aus Athen, dem angeblichen Lehrer
des Sokrates. Im übrigen mit Anaxagoras einverstanden,
näherte sich dieser Physiker doch dadurch Anaximenes und
Diogenes, daß er das anfängliche Gemenge der Urstoffe Luft
nannte, dieser den Geist beigemischt sein ließ, die Scheidung
der StoflFe als Verdünnung und Verdichtung und die ersten
auf diese Weise auseinandergetretenen Massen als das Warme
und das Kalte bezeichnete. Die Angabe (DiOG. II, 16), er
habe den Unterschied des Guten und Schlechten bloß vom
Herkommen abgeleitet, scheint auf einem Mißverständnis zu
beruhen ^).
III. Die Sophisten.
§ 26. Entstehung und Eigentümlichkeit der
Sophistik.
Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts begannen unter den
Griechen Ansichten hervorzutreten, deren Verbreitung nach
einigen Jahrzehnten in der Denkweise der gebildeten Kreise
und in der Richtung des wissenschaftlichen Lebens eine ein-
greifende Veränderung herbeiführte. Schon der Widerstreit
der philosophischen Theorien und die Kühnheit, mit der sie
der gewöhnlichen Vorstellungsweise entgegentraten, war ge-
^) [Diese Auffassung wird von den neuesten Forschem nicht geteilt.
Es liegt in der Tat kein zwingender Grund vor, zu bezweifeln, daß die
Mitteilung des Diog. Laert n 16, Arch. habe behauptet: t6 Slxaiov ehcu
x«i To aiaxQov oif (pvasi^ dXXa vo/jKp auf alter Überlieferung beruhe, und
ihm die Beschäftigung mit ethischen Fragen abzusprechen. S. Dümiceleb
Akad. 217, Gomperz Griech. D. I 323, Diels Arch. f. Gesch. d. Phil. I 250,
Fredrich Hippokr. Unters. 133, 1.]
§ 26. Entstehung nnd Eigentümlichkeit der Sophistik. 33
eignet, gegen diese Versuche einer wissenschaftlichen Welt-
erklärung Mißtrauen zu erregen. Wenn ferner ein Parmenides
und Heraklit, ein Leukippos und Demokrit die Wahrheit
der sinnlichen Erkenntnis bestritten hatten, so konnten sich
hieran allgemeinere Zweifel an der Erkenntnisfähigkeit des
Menschen um so leichter anschließen, da diesen Philosophen
ihr Materialismus nicht die Mittel gewährte, und da selbst
ein Anaxagoras seine Lehre vom Novg nicht dazu benützte,
die höhere Wahrheit des vernünftigen Erkennens wissen-
schaftlich zu rechtfertigen. Noch unaufhaltsamer drängte
vaber die allgemeine Entwicklung des griechischen Volkslebens
zu einer veränderten Richtung der wissenschaftlichen Tätig-
keit hin. Je höher und rascher seit den Perserkriegen in
ganz Hellas und vor allem in Athen, dem Mittelpunkt seines
geistigen und politischen Lebens, die allgemeine Bildung stieg,
um so lebhafter machte sich bei denen, welche sich aus-
zeichnen wollten, das Bedürfnis einer besonderen Vorbildung
für die politische Tätigkeit fühlbar ; je vollständiger die sieg-
reiche Demokratie mit der Zeit alle Schranken beseitigte,
welche Herkommen und Gesetz früher dem Belieben des
«elbstherrlichen Volkes gezogen hatten, und je glänzendere
Aussichten sich eben damit jedem eröffneten, der dieses Volk
für sich zu gewinnen wußte, um so wertvoller und unent-
behrlicher mußte ein Unterricht erscheinen, durch den man
zum Redner und Volksführer befähigt wurde. Diesem Be-
dürfnis kamen nun jene Männer entgegen, welche von ihren
Zeitgenossen als Weise oder Sophisten (aoq)oi, aoq)iaTai) be-
zeichnet wurden und sich selbst als solche ankündigten. Sie
boten ihren Unterricht, in der Regel von Stadt zu Stadt
wandernd, allen Lernbegierigen an und verlangten dafür eine
verhältnismäßig hohe Bezahlung, was ihnen sachlich nicht zu
verübeln ist, aber bis dahin nicht gebräuchlich und bei dem
eingewurzelten Vorurteil der Griechen gegen alle dem Erwerb
dienende Arbeit immerhin der Mißdeutung ausgesetzt war.
Dieser Unterricht konnte nun an sich alle möglichen Kennt-
nisse und Fertigkeiten umfassen, und so finden wir auch, daß
6*
g4 SfBte Periode.
von Männern, die den Sophisten beigezählt werden, und auch
von einigen der bedeutendsten unter ihnen selbst ganz
mechanische Künste gelehrt wurden. Aber den Hauptgegen-
stand der sophistischen Lehrtätigkeit bildete die Vorbereitung
fürs praktische Leben, und als Sophisten im engeren Sinne
pflegt man seit Piaton die zu bezeichnen, welche als be-
rufsmäßige Lehrer der „Tugend" (dieses Wort in der um-
fassenden Bedeutung der griechischen a^err; genommen) auf-
traten, ihre Schüler zum Handeln und Reden geschickt (det-
vovg TVQOTTeiv aal leyeiv) zu machen, sie zur Leitung des
Hauswesens und des Gemeinwesens zu befähigen versprachen»
Diese Beschränkung auf die praktischen Aufgaben gründet
sich nun bei ihnen allen auf die Überzeugung, welche von
einigen der hervorragendsten Sophisten in der Form skep-
tischer Theorien ausgesprochen, von den meisten durch ihre
Eristik betätigt wurde, daß eine objektiv wahre Erkenntnis
unmöglich sei, unser Wissen über subjektive Erscheinungen
nicht hinausgehe. Diese Ansicht mußte dann aber ihrerseits
wieder auf die Ethik zurückwirken und nachgerade dazu
führen, daß die in den Fehden und Parteikämpfen der Zeit
großgezogene Auflehnung gegen Gesetz, Sitte und Recht
in sophistischen Theorien eine scheinbare Rechtfertigung fand.
Und die fortschreitende Bildung selbst gewährte dieser ethi-
schen Skepsis die wirksamste Unterstützung. Je mehr der
Gesichtskreis des griechischen Volkes sich erweiterte, je um-
fassender man mit fremden Ländern und mit der eigenen
Vergangenheit, mit der Verschiedenheit und Wandelbarkeit
von Gesetzen, Staatseinrichtungen, Sitten und Religionen be-
kannt wurde, um so weniger ließ sich die Frage abweisen^
was denn nun das Bleibende in diesem Wechsel, warum da&
Einheimische und das eben Bestehende allein berechtigt sein
solle; und damit war jene Unterscheidung, und solange e*
an einer tieferen wissenschaftlichen Begründung der Ethik
fehlte, jener Gegensatz von vofxog und q)vaig gegeben, der im
Mittelpunkt der sophistischen Moral steht. Die sogenannten
Sophisten erscheinen so als die hervortretendsten Wortführer
§ 27. Die bekannteren sophistischen Lehrer. 85
und Vermittler der griechischen Aufklärung im 5. Jahrhundert,
und sie teilen alle Vorzüge und alle Schwächen dieser Stellung.
Im Gegensatz za der herkömmlichen, von Piatons Auffassung
beherrschten Verurteilung der Sophisten haben Heoel, K. Pr.
Heemann, G. Grote u. a. ihre geschichtliche Bedeutung ans
Licht gestellt; der letztgenannte hat aber darüber das Ober-
flächliche, Ungesunde und Gefährliche verkannt, das sich bei
ihnen von Anfang an mit dem Berechtigten und Wertvollen
verband und im weiteren Verlauf immer stärker zum Vor-
schein kam.
§ 27. Die bekannteren sophistischen Lehrer.
Der erste, der sich einen Sophisten nannte und als
Tugendlehrer (Ttaidevaecag yial ager^g diddaxaXog) öffentlich
auftrat, war nach Platon (Prot. 349 A) Protagoras aus
Abdera. Nach ApoUodor Ol. 74 (484/0 v. Chr.), wahrschein-
lieh am Schluß dieser Olympiade, um 480, geboren ^), widmete
er sich 40 Jahre lang, ganz Hellas durchwandernd, mit
glänzendem Erfolge seiner Lehrtätigkeit, hielt sich wiederholt,
auch von Perikles geschätzt, in Athen auf, wurde hier aber
schließlich des Atheismus angeklagt, mußte Athen verlassen
und ertrank in seinem 70. Jahre auf der Überfahrt nach
Sizilien. Von seinen Schriften sind nur wenige Bruchstücke
übrig*). Gleichzeitig wirkte der Leontiner Gorgias (nach
dem vermutlichen Ansätze ApoUodors 484/3 v. Chr. geboren)
zuerst in Sizilien, seit 427 auch in Athen und anderen
mittelgriechischen Städten als Lehrer; später ließ er sich in
dem thessalischen Larissa nieder, wo er nach ApoUodor
109 Jahre alt starb. Seinen Unterricht wollte er in seiner
^) GoMPBBZ Gr. Denker I 471 setzt seine Geburt um 485 oder noch
etwas früher. Die Entscheidung über das Geburtsjahr häng^ davon ab, ob
man Prot.s Verurteilung und Tod in die Zeit der Vierhundert (411) oder vier
bis fünf Jahre früher fallen läßt.
*) Gesammelt bei Diels Vors. 11 525 ff. Warum ich die ps.-hippokra-
tische Schrift n. r^/vrig nicht (mit Gomferz) als ein Werk des Prot, ansehen
kann, habe ich Phil. d. Gr. I 1055, 8. 1089 angegeben.
86 Erste Periode.
späteren Zeit auf die Rhetorik beschränken; indessen kennen
wir von ihm auch ethische Bestimmungen und skeptische
Ausführungen, denen er (wahrscheinlich in jüngeren Jahren)
eine eigene Schrift gewidmet hatte; auch mit Empedokle»
hatte er aber eine Zeitlang in Verbindung gestanden und
ihn sich nicht bloß als Redner zum Vorbild gewählt, sondern
sich, wie es scheint, auch seiner Physik angeschlossen. Etwas^
jünger als Protagoras undGorgias sind die beiden Zeitgenossen
des Sokrates: Prodikos aus Julis auf Keos, welcher sieb
in dem nahen Athen bedeutenden Ansehens erfreute, und
Hippias aus EHs, der in Vorträgen und Schriften seine
mathematischen, physikalischen, historischen und technischen
Kenntnisse, wie ihm vorgeworfen wird, mit ruhmrediger Ober-
flächlichkeit auskramte; gleichzeitig scheint der nach Sext^
Matth. VII, 53 von Demokrit erwähnte Xeniades aus Korinth
gelebt zu haben. Von den übrigen Sophisten sind die be-
kanntesten: Thrasymachos aus Chalkedon, der sich als
Rhetor hervortat, dessen Charakter aber von Platon un-
günstig geschildert wird; die Gebrüder Euthydemos und
Dionysodoros aus Chios , die komischen Helden de&
platonischen Euthydem; der Rhetor, Tugendlehrer und Dichter
Euenos aus Paros; der gleichzeitige Antiphon^), die
Rhetoren aus Gorgias' Schule : Polos, Lykophron,
Protarchos, Alkidamas. Eritias, der Führer der
Dreißig, ist, ebenso wie der Kallikles des platonischen
^) Die Bruchstücke des Sophisten Antiphon sind von Blass (zugleich
mit denen des gleichnamigen Redners) in 2. Auflage 1881 und von Diel»
Vors. 11 587 ff. herausgegeben worden. Blass hat in der „Gommentatio de
Antiphonte sophista Jamblichi auctore" 1889 auch mehrere Abschnitte aus-
Jambl. Protrept. c. 20 dem Antiphon zugeteilt; wenn er auch keine
zwingenden Gründe für die Autorschaft gerade dieses Sophisten beigebracht
hat, so ist doch durch seine Untersuchung erwieseui daß bei Jambl. Brach-
stücke aus einer ethischen Schrift vorliegen, die alle Kennzeichen der
älteren Sophistik an sich trägt. In dieselbe Zeit, gegen 400, fallen die gleich-
falls anonym überlieferten, im dorischen Dialekt geschriebenen sogen. /Iia-
XQiig (richtiger Jiaaol Xoyoi)^ hrsg. von E. Weber 1897 und Diels Vors..
II 635 ff.
§ 28. Die sophistische Skepsis und Eristik. g7
Qorgias, yon dem es jedoch nicht feststeht, ob er überhaupt
eine geschichtliche Person ist, zwar kein Sophist im techni-
sehen Sinn, aber ein Sophistenschüler.
§ 28. Die sophistische Skepsis und Eristik.
Schon Pro tagoras sprach die veränderte Stellung des
Denkens zu seinem Gegenstand in dem Satze aus: ^aller
Dinge Mafi sei der Mensch, des Seienden für sein Sein, des
Nichtseienden für sein Nichtsein"^); d. h. es sei für jeden
wahr und wirklich, was ihm so erscheint, es gebe aber
ebendeshalb nur eine subjektive und relative, aber keine
objektive und allgemeingültige Wahrheit. Zur Begründung
dieses Satzes berief er sich (nach Platon Theät. 152 B. E.
166 C. 179 D. Sext. Pyrrh. I, 216 f.), im Anschluß an die
Lehre Heraklits von dem Fluß aller Dinge und dem Zu-
sammensein der Gregensätze in demselben Objekte und viel-
leicht auch an Leukippos' Lehre über die Subjektivität der
Wahrnehmungen, darauf, daß wegen der fortwährenden Ver-
änderung der äußeren Eindrücke und der wahrnehmenden
Subjekte die Dinge verschiedenen Personen und denselben
Personen in verschiedenen Zuständen verschieden erscheinen,
daß ihnen daher von den Eigenschaften, die wir an ihnen
zu bemerken glauben, die einen so wenig beigelegt werden
können als die anderen^). Gorgias umgekehrt nahm sich
in seiner Schrift „Über das Nichtseiende oder die Natur"®)
^) Fr. 1 bei Platon Theat. 152 A. 160 C u. 5. Sext. Matth. VH, 60,
Dioa. IX, 54 u. a. : nayxtov XQVf^^^tov fiixQov av&QtonoSy tuv fihv ovjtav .
WS tttrii T(LV (T oux ovTfov WS ovx ^OTi, Der Satz und seine Begründang
standen in einer Schrift, die wahrscheinlich den Titel Idl/j&Ha rj Kata-
ß^Xlovres (sc. ioyoi) fahrte. Über den Versuch, den Satz im Sinne des
Kantischen Kritizismus zu deuten, so daß nicht jeder einzelne Mensch, sondern
der Mensch als Gattung das Maß der Dinge wäre, s. Phil. d. Gr. I^ 1095 ff.,
über die Zweideutigkeit des ws ebd. 1094, 1.
2) Nach PhüT, adv. Col. c. 4, bestritt Demokrit den Satz des Prot. : fir^
fialXov tlvat lotov rj joiov iwv nqayfjLdjwv exaorov.
') Deren Inhalt wir durch Sextus Math. VII, 65—87. Ps.-Arist. De
Melisso etc. c. 5 f. (vgl. Isokr. Hei. 2 f.) kennen.
88 Erste Periode.
nicht allein Zenons dialektisches Verfahren zum Vorbild,
sondern er benutzte auch Sätze des Zenon und Melissos, um
nicht ohne Scharfsinn zu beweisen, daß 1. nichts sei, 2. das
Seiende für uns unerkennbar wäre, und 3. das Erkannte
sich anderen nicht mitteilen ließe. In der Schule des Gorgias
begegnet uns (vgl. auch S. 112) die Lehre, man dürfe keinem
Subjekt ein Prädikat beilegen, weil eines nicht vieles sein
könne. Der Statz des Protagoras liegt sowohl der Behauptung
des X e n i a d e s zugrunde, daß alle Meinungen der Menschen
falsch seien, als der scheinbar entgegengesetzten des Eut hy-
demos: es komme allem alles jederzeit und zugleich zu.
Wenn ferner der letztere aus eleatischen Voraussetzungen
folgert, man könnte Nichtseiendes und somit auch Falsches
weder sagen noch denken, so kommt das gleiche nebst dem
verwandten Satz, daß man sich nicht widersprechen könne,
auch bei Protagoras und seinen Anhängern vor. — Noch
deutlicher aber als diese skeptischen Theorien zeigt das tat-
sächliche Verhalten der meisten Sophisten, wie tief der Ver-
zicht auf ein objektives Wissen in dem ganzen Charakter
dieser Denkweise begründet war. Selbständige Untersuchungen
aus dem physikalischen Teil der Philosophie sind von keinem
der Sophisten bekannt, wenn auch einzelne Annahmen der
Physiker gelegentlich benutzt wurden , und ein Hippias
seinen Unterricht, ein Antiphon seine Schriftstellerei auch
auf Mathematik und Naturwissenschaft ausdehnte. Um so
geläufiger ist ihnen dagegen jene Streitkunst oderEristik,
welche nicht in der Gewinnung einer wissenschaftlichen Über-
zeugung, sondern lediglich in der Widerlegung oder Ver-
wirrung der Mitunterredner ihr Ziel und ihren Triumph sucht.
„Eristiker" und „Sophist" gelten einem Piaton, Aristoteles,
Isokrates fast als gleichbedeutende BegriflFe. Schon Prota-
goras behauptete, man könne jeden Satz mit gleich guten
Gründen beweisen und widerlegen. Er selbst gab persönlich
und in Schriften Anleitung zu dieser Kunst, und sein Lands-
mann Demokrit klagt (Fr. 150) über die „Zänker und Riemen-
dreher** seiner Zeit. In der Folge finden wir die Theorie
§ 29. Die sophistische Ethik und Bhetorik. g9
und die Praxis der Sophisten in gleich trauriger Verfassung.
Jene bestand nach Arist. Top. IX, 33. 183b 15 darin, daß
die Lehrer ihre Schüler die gebräuchlichsten Fangschltisse
auswendig lernen ließen. Diese zeigt uns der platonische
Euthydem zur leersten Klopffechterei , ja zur förmlichen
Possenreißerei entartet; und diese Darstellung, welche ihren
satirischen Charakter nicht verbirgt, bloß für ein Zerrbild
zu halten, verbietet uns Aristoteles' Abhandlung über die
Trugschlüsse (Top. IX), die ihre Beispiele offenbar ebenso
wie die megarische Eristik ihre Vorbilder ganz überwiegend
von den Sophisten der sokratischen Zeit entlehnt hat. Einem
Protagoras und Gorgias werden allerdings die Armseligkeiten
eines Dionysodor und Euthydem nicht beigelegt; aber daß
diese von jenen in gerader Linie abstammen, läßt sich nicht
verkennen. Wenn nichtsdestoweniger diese Eristik die meisten
in Verlegenheit zu bringen, bei vielen Bewunderung hervor-
zurufen vermochte und noch einem Aristoteles ernsthafter
Prüfung wert schien, so beweist dies, wie ungeübt das Denken
damals im allgemeinen noch war, und welchen Anstoß zu
seiner Schulung selbst die Verirrungen geben konnten, die
sich schwer vermeiden ließen, als es, mit den Bedingungen
eines richtigen Verfahrens noch unbekannt, seiner Macht sich
zum erstenmal in ihrem vollem Umfang bewußt wurde.
§ 29. Die sophistische Ethik und Ehetorik.
Wenn es keine allgemein gültige Wahrheit gibt, kann
es auch kein allgemein gültiges Gesetz geben ; wenn für jeden
wahr ist, was ihm wahr scheint, muß auch für jeden recht
sein, was ihm gut dünkt. Diese Folgerung haben die älteren
Sophisten aus ihren Voraussetzungen noch nicht gezogen ^).
^) [Protagoras hat aUerdings, wenn man annehmen darf, daß in der
Verteidigungsrede, die ihm Sokrates bei Plat. Theät. 166 A ff. in den Mund
legt, eigene Aussprüche des Sophisten benutzt worden sind, den Maßstab
seines subjektiven Sensualismus auch an die Vorstellungen und Meinungen
über das Gute und Verwerfliche auf sittlichem und politischem Gebiet ge-
legt und so das Gutdünken des einzelnen Menschen und der einzelnen Volks-
90 Brste Periode.
Wenn sie als Lehrer der Tugend auftraten, verstanden sie
unter der Tugend im wesentlichen das gleiche, was alle dar-
unter zu verstehen pflegten. Wie der „Herakles" und andere
moralische Vorträge des Prodikos ^), so hätten auch die
Ratschläge, welche H i p p i a s dem Nestor in den Mund legte,
gewifi nicht diesen Beifall gefunden, wenn sie den sittlichen
Anschauungen ihrer Zeit widersprochen hätten. Protagoras
stellt in dem Mythos bei Platon Prot. 320 C flF., den wir im
wesentlichen als Nachbildung eines von dem Sophisten selbst
gehaltenen, vielleicht auch veröffentlichten Vortrages betrachten
dürfen, den Sinn für Recht und Pflicht (dinrj und aiddg) als
eine Gabe der Götter dar, die allen Menschen verliehen sei ;
er erkennt also ein natürliches Recht an, das er von dem
positiven noch nicht, wie Hippias (s. u. S. 91), unterscheidet»
Gorgias schilderte die Tugend des Mannes, der Frau, des
Kindes, des Sklaven usf. im Sinn der gewöhnlichen Ansicht
(Platon Menon 71 D f. Arist. PoHt. I, 13. 1260 a 27), der
auch Antiphons moralische Fragmente entsprechen. Aber doch
kommen schon bei den Sophisten der ersten Generation einige
von den praktischen Konsequenzen ihrer Skepsis zum Vor-
Gemeinschaft zum Richter über Recht und Unrecht gemacht. Der Kon-
Sequenz, daß es dann überhaupt keine allgemein gültige sittliche Norm
geben könne, wußte er sich jedoch in echt sophistischer Weise zu ent-
ziehen durch die Unterscheidung, zwar nicht zwischen wahren und falschen
Vorstellungen , aber zwischen solchen , die auf normalem , naturgemäßem,,
und solchen, die auf einem abnormen, naturwidrigen Zustande beruhen. So
konnte er dem Erzieher und Staatsmann die Aufgabe zuweisen, an die Stell»
der schlechteren Vorstellung die bessere zu setzen.]
^) [Daß Prod. eine Prunkrede über „Herakles^ wirklich zu halten
pflegte, steht fest, nicht aber, ob er sie yeröffentlicht hat. Die Wiedergabe
bei Xenophon Mem. II 1, 21 ff. ist sicher keine wörtliche. — Die Ansicht
Welckers (Kl. Sehr. II 393 ff.) , der sich Zeller auch noch in der 5. Aufl..
d. Phil. d. Gr. I 1123 f. angeschlossen hat, daß die dem Prod. im Axiocho»
p. 366 B ff. und im Eryzias p. 397 G ff. in den Mund gelegten Ausführungen
über den Reichtum und über die Übel des Lebens imd den Tod authentisch
seien, läßt sich nach den Forschungen von Feddersem Über Axioch. 1895^
V. WiLAMOwnz (Gott. Gel. Anz. 1896) u. a. nicht mehr aufrechterhalten ;
s. DiELS Vors. n 572 f.]
§ 29. Die sophistische Ethik und Rhetorik. 91
schein. Protagoras erregte mit Recht Anstoß, als er durch
das Versprechen, die schwächere Sache zur stärkeren zu
machen (tov tJztu} loyov xgeizTco noielv), seine Rhetorik gerade
von der Seite ihres möglichen Mißbrauchs empfahl; und
Hippias stellt (Xen. Mem. IV, 14 fF. Platon Prot. 337 C)
den Nomos zur Physis in einen Gegensatz, welcher später
einen von den leitenden Gedanken der sophistischen Lebens-
kunst bildet. Einem Thrasymachos, Polos und Kai-
likles legt Platon die Ansicht in den Mund, deren weite
Verbreitung in den sophistischen Kreisen auch Aristoteles
(Top. IX, 12. 173a 7) bestätigt: das natürliche Recht sei
lediglich das Recht des Stärkeren, alle positiven Gesetze
willkürliche Satzungen, welche die jeweiligen Machthaber in
ihrem eigenen Interesse aufstellen; wenn die Gerechtigkeit
allgemein gelobt werde, rühre dies nur daher, daß die Masse
der Menschen sie für sich vorteilhaft finde, wer dagegen die
Kraft in sich fühle, sich über die Gesetze hinwegzusetzen, der
habe dazu auch das Recht. Hippias bezweifelt die Natur-
widrigkeit der Ehe zwischen Eltern und Kindern ; Lobredner
der Weibergemeinschaft scheint es in sophistischen Kreisen
schon im 5. Jahrhundert gegeben zu haben. Daß aber aller-
dings die Unterscheidung von Gesetz und Natur auch zur
Befreiung von nationalen Vorurteilen benutzt werden konnte,
zeigen die auf sie gegründeten Angriffe gegen die Natur-
gemäßheit der Sklaverei, deren Arist. Pol. I, 3. 6 erwähnt.
Zu den menschlichen Satzungen gehörten nun auch der
Götterglaube und die Götterverehrung, wie dies schon die
Verschiedenheit der Religionen zu beweisen schien. „Von den
Göttern", schrieb Protagoras, ^weiß ich nicht, weder daß
sie sind, noch daß sie nicht sind, noch wie sie gestaltet sind.''
Prodi kos sah in den Göttern Personifikationen der Himmels-
körper, der Elemente, der Früchte der Erde, überhaupt der
für den Menschen nützlichen Dinge. In dem „Sisjphos*' des
Kritias wurde der Götterglaube als die Erfindung eines
Politikers dargestellt, der durch diesen Glauben von Ver-
brechen abschrecken wollte.
92 Erste Periode.
Je Yollständiger sich aber der menschliche Wille von den
Schranken befreite, die Glaube, Herkommen und Gesetz ihm
bis dahin gezogen hatten, um so höher stieg der Wert der
Mittel; durch welche man diesen allmächtigen Willen selbst
für sich gewinnen und sich Untertan machen konnte; und
diese alle faßten sich für die Sophisten in der Kunst der Rede
zusammen, deren Macht unter den damaligen Verhältnissen ja
wirklich eine ganz außerordentliche war, und von solchen, die
dieser Kunst ihren ganzen Einfluß zu verdanken hatten, nun
vollends überschätzt wurde. So ist denn auch von der großen
Mehrzahl der Sophisten ausdrücklich überliefert, daß sie als
Lehrer der Beredsamkeit auftraten, Anleitungen zu ihr verfaßten,
Musterreden vortrugen und schrieben und von ihren Schülern
sogar auswendig lernen ließen. Der ganze Charakter des
sophistischen Unterrichts brachte es mit sich, daß dabei auf
die technischen Mittel der Sprache und der Darstellung ein
größeres Gewicht gelegt wurde als auf die logische und sach-
liche Richtigkeit des Inhalts. Die Reden der Sophisten waren
Schaustücke, die in erster Reihe durch eine geschickte Wahl
ihres Themas, durch überraschende Wendungen, Fülle des Aus-
drucks, gewählte, zierliche und blühende Sprache zu gefallen
suchten. Gorgias vor allem verdankte diesen Eigenschaften
den glänzenden Erfolg seiner Reden, die einem gereifteren
Geschmack freilich, auch schon im Altertum, vielfach geziert
und frostig erschienen. Doch haben sich manche von diesen
sophistischen Rhetoren, wie namentlich Thrasymachos,
um die Ausbildung der Redekunst und ihrer Technik wirk-
liche Verdienste erworben ; und von ihnen sind auch die ersten
sprachwissenschaftlichen Untersuchungen ausgegangen. Prota-
goras unterschied, wohl zuerst, die drei. Geschlechter der
Hauptwörter, die Zeiten der Zeitwörter und die Arten der
Sätze; Hippias gab Regeln über Silbenmaß und Wohlklang,
und Prodikos hat durch jene Unterscheidung sinnverwandter
Wörter, der er freilich einen übermäßigen Wert beilegte, zu
lexikalischen Untersuchungen und zur Ausbildung einer wissen-
schaftlichen Terminologie einen Anstoß gegeben.
Zweite Periode.
Sokrates, Platon, Aristoteles.
§ 30. Einleitung.
Die Aufklärung der sophistischen Periode mußte in
doppelter Beziehung auf das wissenschaftliche Leben zurück-
wirken. Einerseits hatte das Denken im Gefühl seiner Macht
allen Autoritäten den Gehorsam gekündigt •, es hatte sich ihm
in den erkenntnistheoretischen und ethischen Fragen ein
neues, bis dahin erst beiläufig berührtes üntersuchungsgebiet
eröffnet, und es hatte durch die sophistische Dialektik eine
vielseitige Übung gewonnen. Andererseits hatten aber die
eigenen ErörteruDgen der Sophisten nur dazu geführt, auf
eine wissenschaftliche Begründung der Ethik ebenso vollständig
zu verzichten wie auf eine wissenschaftliche Weltkenntnis,
mit dem Glauben an das menschliche Erkenntnisvermögen
auch das Streben nach Erkenntnis der Wahrheit aufzugeben ;
und da sie nun mit der unbedingten Geltung der mensch-
lichen und göttlichen Gesetze die bisherige Grundlage der sitt-
lichen Überzeugungen gleichfalls aufgegeben hatten, drohte
mit dem wissenschaftlichen auch das sittliche und staatliche
Leben des griechischen Volkes seinen Halt zu verlieren. In
Wahrheit war dies nun freilich noch nicht zu befürchten.
Gerade die sittlichen und die religiösen Anschauungen dieses
Volkes hatten seit dem Anfang des 5. Jahrhunderts durch die
Dichter und Schriftsteller dieser Zeit eine solche Läuterung
und Bereicherung erfahren, die Fragen, welche für das mensch-
94 Zweite Peiiode.
liehe Leben von der höchsten Wichtigkeit sind, waren so
vielseitig, wenn auch nicht in wissenschaftlicher Form, er-
örtert worden, da6 es nur einer tieferen Besinnung des grie-
chischen Geistes über sich selbst und seinen tatsächlich ge-
wonnenen Inhalt bedurfte, um zu einer neuen und haltbareren
Begründung der sittlichen Tätigkeit zu gelangen. Aber diese
Selbstbesinnung konnte nur das Werk einer Wissenschaft
sein, welche von den Zweifeln nicht getroflfen wurde, die das
Vertrauen auf die bisherige Wissenschaft zerstört hatten,
welche im Gegensatz zu dem Dogmatismus der letzteren von
festen Grundsätzen über die Aufgabe und die Bedingungen
des Erkennens ausging, im Gegensatz zu dem Sensualismus,
von dem sich die Physiker nicht wirklich zu befreien ver-
mocht hatten , das über die unmittelbare Wahrnehmung
hinausgehende, nur im Denken erfaßbare Wesen der Dinge
als den eigentlichen- Gegenstand des Wissens erkannte. Diese
neue Form des wissenschaftlichen Lebens hat Sokrates durch
die Forderung des begrifflichen Erkennens, die Anleitung zur
dialektischen Begriffsbildung und die Anwendung dieses Ver-
fahrens auf die ethischen und die mit ihnen zusammenhängen-
den religiösen Fragen begründet. In den kleineren sokrati-
schen Schulen wurden einzelne Elemente seiner Philosophie
einseitig festgehalten und ebenso einseitig mit älteren Lehren
verknüpft. Mit tieferem und umfassenderem Verständnis
führte Piaton das Werk seines Lehrers fort. Indem er die
sokratische Begriffsphilosophie, durch alle verwandten Ele-
mente der vorsokratischen Lehren ergänzt, zu ihren meta-
physischen Konsequenzen entwickelte und alle Dinge aus
diesem Standpunkt betrachtete, schuf er ein großes System
von idealistischer Haltung, dessen Schwerpunkt einerseits in
der Anschauung der Ideen, andererseits in den Untersuchungen
über das Wesen und die Aufgabe des Menschen lag. Aristo-
teles ergänzte dieses System durch die eindringendste Natur-
forschung; er bestritt die dualistische Schroffheit des platoni-
schen Idealismus; aber an seinen Grundgedanken hielt auch
er fest, und gerade indem er sie so weit umbildete, daß
I. Sokrates. § 31. Sein Leben und seine Persönlichkeit. 95
«le geeignet erschienen, die Gesamtheit des Wirklichen in sich
aufzunehmen, brachte er die sokratische Begriffsphilosophie
zu ihrer systematischen Vollendung.
I. Sokrates^).
§ 31. Sein Leben und seine Persönlichkeit.
Sokrates war (angeblich am 6. Thargelion) 470 v. Chr.
oder spätestens in den ersten Monaten des folgenden Jahres
geboren^). Sein Vater Sophroniskos war Bildhauer, seine
Mutter Phänarete Hebamme. Seine Jugendbildung scheint
nicht über das landesübliche Maß hinausgegangen zu sein;
Anaxagoras wird ihm nur von Späteren, auch Archelaos
noch nicht von seinem Zeitgenossen, dem Dichter Ion, sondern
erst von Aristoxenos, zum Lehrer gegeben (DiOG. II, 19. 23.
45 u. a.); gegen beide Annahmen spricht das vollkommene
Schweigen Platons und Xenophons, und die Äußerungen,
welche jener Phädon 97Bff., Kriton 52 B, Apol. 26 D f.,
dieser Mem. IV, 7, 6 f. Symp. I, 1, 5 ihm in den Mund legt.
*) Über die ihn betreffende monographische Literatur vgl. Phil. d. Gr.
n a, 44 ff., über das später Erschienene Arch. f. Gesch. d. Phil. VII 97 ff.,
IX 519 ff., X 557 ff., XIII 272 ff. Von neueren Erscheinungen sind zu er-
wähnen : JoEL Der echte und der xenophontische Sokr. Bd; I 1893, Bd. II,
1. u. 2. Hälfte, 1901, Döring Die Lehre d. Sokr. als soziales Reformsystem
1895, Ppleidfeek Sokr., Piaton u. ihre Schüler 1896, Kralik Sokr. nach
d. Überlieferungen seiner Schule 1899, Gomperz Griech. Denker II (1901)
S. 36 ff
2) Wie dies aus den Angaben einerseits über die Zeit seines Todes
und seiner Verurteilung (b. Diog. II, 44. Diodor XIV, 37, 6. Xenoph.
Mem.* IV, 8, 2. Platon Phädon 59 D), andererseits über sein damaliges
Alter (Platon Apol. 17 D. Kriton 52 E), hervorgeht. [Da die Delien nicht,
wie man früher annahm, in den Thargelion (Mai — ^Juni), sondern in den
Anthesterion (Februar — ^März) fielen (s. Robert Hermes 1886 S. 161 ff. und
Frachter Herm. 1904 S. 473 ff.), die Verteidigungsrede also um die Mitte
Februar gehalten wurde, so war Sokrates, der damals mindestens 70 Jahre
s\t war, spätetens am Anfange des Jahres 469, wahrscheinlich aber schon
470 oder 471 geboren.]
96 Zweite Periode.
Wenn er daher seine Kenntnisse später auch aus Büchern
zu erweitem bemüht war, mit Sophisten verkehrte und ein-
zelne ihrer Vorträge besuchte, so hatte er doch für seine
Philosophie nächst seinem eigenen Nachdenken ohne Zweifel
den Bildungsmitteln, welche das damalige Athen jedem dar-
bot, und dem Umgang mit bedeutenden Männern und Frauen
mehr zu verdanken als der direkten wissenschaftlichen Be-
lehrung. Die Kunst seines Vaters scheint er erlernt zu haben ;
aber seinen höheren Beruf ließ ihn die Stimme seines Innern,
die ihm selbst als göttliche Stimme erschien (PLAT0NApol.33C),
und die später vom delphischen Orakel bestätigt wurde, in
der bildenden Einwirkung auf andere erkennen : Aristophanes
zeigt ihn schon 424 v. Chr., Piaton vor dem Anfang des
peloponnesischen Krieges in dieser Tätigkeit, der er sich bis
zu seinem Ende unter den ärmlichsten Verhältnissen, an der
Seite einer Xanthippe, mit vollendeter Selbstentäußerung ohne
jede Belohnung widmete, und von der er sich weder durch
die Sorge für seine Familie noch durch die Teilnahme an
den öffentlichen Angelegenheiten abziehen ließ. Ein Muster
von Bedürfnislosigkeit, Sittenreinheit, Rechtschaffenheit und
Frömmigkeit, dabei voll echter Menschenfreundlichkeit, ein
liebenswürdiger Gesellschafter, fein und geistreich, von un-
zerstörbarer Heiterkeit und Gemütsruhe, war er für Menschen
des verschiedensten Standes und Charakters Gegenstand einer
begeisterten Verehrung. Ein Sohn seines Volkes, erfüllte er
nicht allein seine Bürgerpflicht im Frieden wie im Felde un-
erschrocken und fest auf jede Gefahr hin, sondern er ver-
leugnete auch in seinem ganzen Wesen und Benehmen wie
in seinen Ansichten nicht den Griechen und Athener. Zu-
gleich begegnen uns aber in seiner Erscheinung auch Züge,
welche schon seinen Zeitgenossen den Eindruck des Seltsamen
und Fremdartigen, einer nie dagewesenen „Atopie^ machten:
einerseits eine Prosa, eine Verstandespedanterie, eine Gleich-
gültigkeit gegen die äußere Erscheinung, welche zwar mit
der Silenengestalt des Philosophen übereinstimmt, aber mit
der Empfindlichkeit des attischen Geschmacks auffallend kon-
§ 32. Die Philosophie des Sokrates: Quellen, Prinzip, Methode. 97
trastiert; andrerseits eine Vertiefung in die eigenen Qedanken,
welche zeitweise den Eindruck der Geistesabwesenheit machte,
und eine Gewalt der Empfindung, die so weit ging, daß ihm
das unklare Gefühl, welches ihn schon in jüngeren Jahren
nicht selten von irgendeinem Schritte zurückhielt, gerade als
ein dämonisches Zeichen, ein ihm verliehenes inneres Orakel
erschien ; wie er ja auch im Traume Weissagungen zu erhalten
glaubte. Der letzte Grund aller dieser Züge liegt aber in der
Energie, mit der sich Sokrates von der Außenwelt auf sich
selbst zurückzieht, um sein Interesse ungeteilt den ^us der
geistigen Natur des Menschen sich ergebenden Aufgaben
zuzuwenden. Den gleichen Charakter trägt auch seine
Philosophie.
§ 32. Die Philosophie des Sokrates: Quellen,
Prinzip, Methode.
Da Sokrates keine Schriften hinterlassen hat, sind die
seiner Schüler, für uns die xenophontischen und platonischen,
die einzige authentische Quelle zur Kenntnis seiner Lehre.
Von den Späteren kann nur Aristoteles in Betracht kommen,
dessen kurze und präzise Mitteilungen über Sokrates für uns
wertvoll sind, aber nichts enthalten, was sich nicht bei Piaton
oder Xenophon fände. Nun liefern aber diese beiden ein
wesentlich verschiedenes Bild der sokratischen Philosophie;
und wenn Piaton seinem Lehrer seine eigenen Ansichten
ohne Abzug in den Mund legt, so fragt es sich bei dem un-
philosophischen Xenophon, ob er uns in seinen, zunächst
einem apologetischen Zweck dienenden Denkwürdigkeiten
auch nur die sokratischen unverkürzt und ihrem wahren
Sinne nach wiedergibt, und ob er die Aufgabe der geschicht-
lichen Berichterstattung streng genug gefaßt hat, um nicht
ebenfalls manches Eigene in die sokratischen Reden ein-
zumischen. Ist aber dieses Bedenken auch nicht ohne Grund,
so berechtigt es uns doch nicht, die Treue der xenophonti-
schen Darstellung in dem Maße zu verdächtigen, wie dies
Zeller, GrundriA. 7
98 Zweite Periode.
nach dem Vorgang von DissEN ^) und Schleiermacher *) auch
neuerdings vielfach und oft weit über jene hinausgehend*)
geschehen ist. Es zeigt sich vielmehr, daß Xenophons An-
gaben mit denjenigen Aussagen Piatons, welche ein geschicht-
liches Gepräge tragen*), in allem Wesentlichen übereinkommen,
und daß sich aus seinen Berichten über die Lehre und Lehr-
weise des Sokrates, wenn man von dem durch jene Überein-
stimmung Gesicherten ausgeht und mit Hilfe des Piaton und
Aristoteles in die philosophische Bedeutung der sokratischen
Sätze eindringt, wenigstens bei den Hauptpunkten ein in sich
einstimmiges und der geschichtlichen Stellung und Bedeutung
des Philosophen entsprechendes Bild gewinnen läßt. —
Sokrates legt wie die Sophisten der naturwissenschaftlichen
Forschung keinen Wert bei und will die Philosophie auf
die Fragen beschränkt wissen, die das Wohl des Menschen
betreflPen. Er verlangt mit ihnen, daß sich jeder unabhängig
von Herkommen und Überlieferung seine Überzeugung durch
^) De philosophia morali in Xenoph. de Socr. comment. tradita.
Gott. 1812. (D.s Kl. Schriften S. 57 ff.)
2) Über den Wert des Sokr. als Philosophen (1818). W.W. lU, 2,
293 ff.
*) Am weitesten geht Joel (s. S. 95 Anm. 1), nach dem Xenophon in
den Memorabilien eine fast durchweg von Antisthenes abhängige und da-
her stark kynisch gefärbte Darstellung gibt und den echten Sokr., der ein
reiner Elenktiker gewesen sei, zum Protreptiker umstempelt.
*) [Es sind dies die Apologie, der Kriton und die andern der „sokra-
tischen" Periode Piatons (s. S. 126) angehörenden Dialoge. Die Apologie
ist, wie schon früher von Georgii (dagegen Phil, d^ Gr. II 1*, 196 f.), so
neuerdings von Joel I 450 ff., Schanz Ausg. d. Apologie 1893 S. 68 ff. und
PöHLMANN Sokrat. Studien (1906) als eine freie Schöpfung Piatons hingestellt
worden, die mit der wirklichen Verteidigungsrede nicht nur der Form,
sondern auch dem Inhalte nach nicht zusammenfällt und von dem wahren
Wesen des Sokr. kein geschichtlich treues Bild gibt. Diese Auffassung
erregt trotz ihrer scharfsinnigen Begründung ebenso wie die in der vorigen
Anmerkung angeführte Ansicht über Xenophons Mem. gewichtige Bedenken.
Zuzugeben ist jedoch, daß Piaton in der Apologie (und wohl auch im Kriton)
seinen Meister unwillkürlich idealisiert, während Xen. seine echte Frömmig-
keit veräußerlicht und vergröbert.]
§ 32. Die Philosophie des Sokrates: Quellen, Prinzip, Methode. QQ
eigenes Nachdenken frei bilde. Aber wenn jene eine objek-
tive Wahrheit und allgemein gültige Gesetze leugneten, ist
er umgekehrt überzeugt, daß der Wert unsrer Vorstellungen,
die Berechtigung unsers Tuns ganz und gar von ihrer Über-
einstimmung mit dem abhänge, was an sich selbst wahr und
recht ist. Will er sich daher auch auf praktische Fragen
beschränken, so macht er doch die Richtigkeit des Handelns
selbst von der des Denkens abhängig. Sein leitender Gedanke
ist die Reform des sittlichen* Lebens durch wahres Wissen;
das Erkennen soll dem Handeln nicht dienen, sondern es be-
herrschen und ihm seine Ziele bestimmen, und das Bedürfnis
des Erkennens ist in dem Philosophen so stark, daß er auch
nach Xenophons Darstellung die selbstgezogene Grenze fort-
während überschreitet. Die Grundfrage ist daher für Sokrates
die Frage nach den Bedingungen des Wissens, und diese
Frage beantwortet er mit dem Satze: daß man über keinen
Gegenstand etwas aussagen könne, solange man nicht seinen
Begriff, sein allgemeines, sich gleich bleibendes Wesen kennt,
daß daher alles Wissen von der Feststellung der Begriffe aus-
gehen müsse. Hieraus ergibt sich nun ftlr den Philosophen
die Forderung, zunächst seine eigenen Vorstellungen darauf
zu untersuchen, ob sie dieser Idee des Wissens entsprechen,
die Forderung jener Selbstprüfung und Selbsterkenntnis
die nach ihm der Anfang alles wahren Wissens und die Be-
dingung alles richtigen Handelns ist. Weil ihm aber jene
neue Idee des Wissens zwar als Forderung aufgegangen, aber
noch nicht in einem wissenschaftlichen System verwirklicht
ist, kann seine Selbstprüfung nur mit dem Bekenntnis seines
Nichtwissens endigen. Allein der Glaube an die Möglichkeit
und die Überzeugung von der Notwendigkeit des Wissens
ist in ihm viel zu kräftig, um ihn beim Bewußtsein des Nichts*
Wissens stehen bleiben zu lassen. Aus diesem Bewußtsein
geht vielmehr nur um so energischer das Suchen des Wissens
hervor, und dieses nimmt hier die Form an, daß sich der
Philosoph an andre wendet, um sich das Wissen, das ihm
selbst fehlt, mit ihrer Hilfe zu erwerben, die Form des ge-
100 Zweite Periode.
meinsameii) dialogischeD Forschens. Sofern nun diese andern
schon ein Wissen irgendeiner Art zu besitzen glauben, hat
er zu untersuchen, wie es mit diesem vermeintlichen Wissen
bestellt ist, seine Tätigkeit besteht in der Menschen-
prüfung, dem i^erdKeiv eavrdv xat Tovg allovQy worin er
in der platonischen Apologie (28 E. 38 A), der Mäeutik, worin
er im Theätet (149 ff.) seinen Beruf sieht; da aber den von
ihm Geprüften selbst die wahre Idee des Wissens abgeht^
kann die Prüfung nur zu dem- Nachweis ihrer Unwissenheit
führen, und es erscheint als bloße Ironie, daß sich Sokrates
von ihnen Belehrung erbat. Sofern ihn andrerseits die Mit-
unterredner beim Suchen des Wissens zu begleiten, sich auf
dem von ihm entdeckten Weg seiner Führung zu überlassen
versprechen, wie dies vorzugsweise bei der Jugend der Fall
ist, sind sie für ihn der Gegenstand jener Zuneigung, welche
jeden von seiner Natur zum Lehrer und Erzieher bestimmten
Mann zu denen hinzieht, die seiner Einwirkung Empfänglich-
keit entgegenbringen: der Philosoph ist (nach griechischer
Anschauung) Erotiker, aber sein Eros gilt nicht der Schön-
heit des Leibes, sondern der der Seele. — Den Mittelpunkt
der Untersuchungen, die Sokrates mit seinen Freunden an-
stellt, bildet immer die Bestimmung der Begriffe, und der
Weg, auf dem diese gesucht wird, ist das dialektisch-induk-
tive Verfahren ^). Ihren Ausgangspunkt nimmt diese Induktion
nicht von einer genauen und erschöpfenden Beobachtung^
sondern von den bekanntesten Erfahrungen aus dem täglichen
Leben, den allgemein anerkannten Sätzen; aber indem der
Philosoph jeden Gegenstand von allen Seiten betrachtet, jede
Bestimmung an den entgegenstehenden Instanzen prüft, immer
neue Fälle herbeibringt, nötigt er das Denken, solche Begriffe
zu bilden, die sich mit dem ganzen Tatbestand decken und
alle wesentlichen Merkmale des Objekts in widerspruchsloser
1) Ar£8t. Metaph. XIII, 4. 1087 b 27 : ovo yag lariv « Tis av ano^oirf
JStoxQaTH öueaiws, rovg r* (naxrixovg koyovs xui ro oQl^^ü&ai xad-oXov»
Ebd. I, 6. 987 b 1. part an. I, 1, 642 a 28 u. a. St.
§ 33. Der Inhalt der sokratischen Lehre. 101
Weise verknüpfen. In den Begriffen liegt für Sokrates der
Maßstab der Wahrheit *), und so verschieden die Wendungen
sind, deren er sich bald zur Widerlegung fremder Meinungen,
bald zum Erweis seiner eigenen Ansichten bedient, so ftlhren
sie doch immer darauf zurück, daß von jedem Ding nur das
ausgesagt werden soll, was seinem richtig gefaßten Begriff
entspricht. Eine logische oder methodologische Theorie hat
aber Sokrates, abgesehen von dem allgemeinen Prinzip des
begrifflichen Wissens, nicht aufgestellt.
§ 33. Der Inhalt der sokratischen Lehre.
Im Gegensatz zu den Physikern wollte sich Sokrates auf
ethische Untersuchungen beschränken ; denn nur diese hätten
für den Menschen einen Wert, und nur ihnen sei sein Er-
kenntnisvermögen gewachsen ; die naturphilosophische Spekula-
tion dagegen sei nicht bloß unfruchtbar, sondern auch aus-
sichtslos, ja vermessen, wie dies die Uneinigkeit ihrer Wort-
führer und die offenbaren Ungereimtheiten bewiesen, zu denen
sie selbst einen Anaxagoras geführt habe (Xen. Mem. I, 1,
11 ff., IV, 7, 6). Dieser Angabe mit Schleiermacher u. a. zu
mißtrauen oder sie mit einigen Neueren auf die späteren
Jahre des Philosophen zu beschränken, haben wir um so
weniger Anlaß, da Aristoteles (Metaph. I, 6. 987 b 1. XIII,
4. 1078 b. 17. part. an. I, 1, 642 a 28) sie bestätigt und Sokrates'
ganzes Verhalten damit übereinstimmt; während das Zerrbild
in den „Wolken" nicht das geringste gegen sie beweist. Der
Mittelpunkt der sokratischen Ethik liegt nun, der Grund-
richtung ihres Urhebers entsprechend, in der Zurückführung
der Tugend aufs Wissen. Es ist nach Sokrates nicht bloß
unmöglich, das Rechte zu tun, wenn man es nicht kennt,
sondern auch, es nicht zu tun, wenn man es kennt. Denn
da das Gute nichts andres ist als das, was dem Handelnden
*) Xenoph. Mem. IV, 6, 13: €i J^ r^g avrtp thqC tov avnXiyoi, . . .
knl rriv vnox^sniv (die allgemeine Voraussetzung, von der die Entscheidung
auszugehen hat) fnctvrjyev av nccvra tov Xoyov,
102 Zweite Periode.
isum Besten dient, jeder aber sein eigenes Wohl wünscht, so
ist es, wie Sokrates glaubt, undenkbar, daß jemand etwas
andres tue als das, was er für gut hält: niemand ist frei*
willig böse. Um daher die Menschen tugendhaft zu machen,
ist nur erforderlich, dafi man sie darüber aufklärt, was gut
ist: die Tugend entsteht durch Belehrung, und alle Tugenden
bestehen in einem Wissen: tapfer ist, wer weiß, wie man
sich in Gefahr zu verhalten hat; fromm, wer weiß, was den
Göttern, gerecht, wer weiß, was den Menschen gegenüber
recht ist usw. Alle Tugenden kommen daher auf eine, auf
das Wissen oder die Weisheit, zurück. Zu dieser aber sind
alle Menschen gleich sehr bestimmt: alle Menschenklassen
haben die gleiche sittliche Aufgabe und Anlage; auch zwischen
den Frauen und den Männern ist in dieser Beziehung kein
wesentlicher Unterschied. — Was nun aber das Gute ist^
dessen Kenntnis tugendhaft macht, ist für Sokrates um so
schwerer zu sagen, da es seiner Ethik an einem anthro-
pologischen und metaphysischen Unterbau fehlt. Er erklärt
daher einerseits (Xen. Mem. IV, 4, 6), gerecht sei, was den
Gesetzen des Staates und den ungeschriebenen Gesetzen der
Götter entspricht; andrerseits aber — und dies ist das Ge-
wöhnlichere und Konsequentere — bemüht er sich, den
Grund der sittlichen Gesetze in dem Erfolg der Handlungen,,
die ihnen entsprechen, in ihrem Nutzen für den Menschen
aufzuzeigen. Denn gut ist, wie er sagt (Xen. Mem. III, 8.
9, 4. IV, 6, 8. Platon Prot. 343 D. 353 C ff. u. a. St. s. o.),
was dem Menschen nützlich ist; gut und schön sind daher
relative Begriffe: jedes ist gut und schön für das, wofür es
nützlich und brauchbar ist Als unbedingt nützlich und vor
allem andern nötig bezeichnet nun Sokrates allerdings nicht
bloß bei Platon (schon Apol. 29 D f. Kriton 47 D f.), sondern
auch bei Xenophon (Mem. I, 6, 9. IV, 8, 6. 2, 9. 5, 6) die
Sorge für die Seele und ihre Vervollkommnung; aber seine
unsystematische Behandlung der ethischen Fragen erlaubt ihm
nicht, diesen Gesichtspunkt streng durchzuführen, und so
tritt dieser tiefergehenden Zweckbestimmung wenigstens bei
§ 33. Der Inhalt der sokratischen Lehre.' 103
Xenophon sehr häufig eine eudämonistische Ableitung der
sittlichen Anforderungen gegenüber, welche diese Anforde-
rungen mit der Rücksicht auf die Folgen begründet, die ihre
Erfüllung oder Verletzung für unser äußeres Wohl hat. Ihrem
Inhalt nach zeigt sich die sokratische Moral freilich, auch
wo ihre wissenschaftliche Begründung eine ungenügende ist,
sehr edel und rein. Ohne einen asketischen Zug an sich zu
haben, dringt Sokrates doch mit allem Nachdruck darauf,
daß man sich durch Bedürfnislosigkeit, Mäßigkeit und Ab-
härtung unabhängig mache, daß man auf die Ausbildung des
Geistes höheren Wert lege als auf alle äußeren Güter. Er
verlangt Rechtschaffenheit und werktätiges Wohlwollen gegen
andre, preist die Freundschaft, verurteilt die Auswüchse der
Enabenliebe unumwunden; wogegen sich seine Auffassung
der Ehe nicht über die bei den Griechen herkömmliche er-
hebt. Er erkennt die Bedeutung des Staatslebens in vollem
Maße an ; er betrachtet es als Pflicht, sich nach Kräften daran
zu beteiligen ; er bemüht sich, dem Staat tüchtige Bürger und
Beamte zu bilden; er fordert jenen unbedingten Gehorsam
gegen die Gesetze, den er selbst bis zum Tode bewährt hat.
Da aber bloß das Wissen zum richtigen Handeln befähigt,
gesteht er nur den Sachverständigen das Recht zur politischen
Tätigkeit zu, er will sie allein als Herrscher anerkennen; da-
gegen findet er die Besetzung der Ämter durch Wahl oder
Los verkehrt und die Herrschaft der Masse verderblich;
während er andrerseits der griechischen Verachtung der
Handarbeit und des Gewerbes vorurteilsfrei entgegentritt
Ein Bekenntnis zum Eosmopolitismus wird ihm (von CiC. Tusc.
V, 37, 108 u. a.) gewiß mit Unrecht in den Mund gelegt;
den Grundsatz, daß man auch den Feinden kein Übel zu-
fügen dürfe, weil jedes yLayLOVQyeiv ein adirLBiv sei, schreibt
ihm Platon (Kriton 48 Äff. Rep. I, 334 B ff.) im Widerspruch
mit Xen. Mem. H, 6, 35 zu.
Zu den wesentlichsten Pflichten rechnet nun Sokrates
die gegen die Götter, und seine ganze Moral kann diesen
Stützpunkt um so weniger entbehren, da er gerade wegen
104 Zweite Periode.
seiner Beschränkung auf die Ethik nicht die Mittel hat, den
Zusammenhang zwischen den Handlungen und ihren Folgen,
auf den die sittlichen Gesetze gegründet werden, als einen
naturnotwendigen nachzuweisen, und da ihm deshalb diese
Gesetze in herkömmlicher Weise als 'die ,, ungeschriebenen
Satzungen der Götter" (Mem. IV, 4, 19 s. o.) erscheinen.
Aber bei dem bloßen Glauben kann sich der Denker, dessen
erster Grundsatz es ist, alles zu prüfen, auch nicht beruhigen :
er muß sich von den Gründen des Glaubens Rechenschaft
ablegen; und indem er dies versucht, wird er trotz seiner
grundsätzlichen Abwendung von aller bloß theoretischen
Spekulation fast wider Willen der Urheber einer Natur-
ansicht und einer Theologie, welche bis auf den heutigen
Tag einen maßgebenden Einfluß geübt hat. Sein leitender
Gedanke ist aber hierbei der gleiche wie in der Ethik. Wie
der Mensch sein Leben dann richtig einrichtet, wenn er alle
seine Handlungen auf sein wahres Wohl als letzten Zweck
bezieht, so sieht Sokrates die ganze Welt darauf an, wie sie
sich zu diesem Zweck verhalte; er findet (Mem. I, 4, IV, 3*),
daß alles in ihr, das Kleinste wie das Größte, dem Menschen
zum Vorteil gereiche; und wenn er dies meistens mit einer
sehr äußerlichen und unwissenschaftlichen Teleologie ausführt,
unterläßt er doch nicht, die geistigen Anlagen und Vorzüge
des Menschen als das höchste von den Gütern zu bezeichnen,
welche die Natur ihm geschenkt hat. Diese Einrichtung der
Welt kann nur von der Weisheit und Güte der weltbildenden
Vernunft herstammen, und die letztere können wir nur bei
den Göttern suchen. Bei den Göttern denkt nun Sokrates
zunächst an die seines Volkes; aber die Vielheit der Götter
geht ihm, wie den großen Dichtern des 5. Jahrhunderts, auch
wieder zur Einheit zusammen, und Mem. IV, 3, 13 unter-
*) Diese beiden Kapitel mit Krohn, Schenkl u. a. für eine stoische
Interpolation zu galten, haben wir keinen hinreichenden Grund (s. Phil,
d. Gr. II 1 S. 175 f.). Noch unwahrscheinlicher ist die Annahme Joels
(s. S. 98 Anm. 3), daß Xenophon, durch kynische Einflüsse bestimmt, dem
Sokr. eine teleologische Welterklärung in den Mund lege.
§ 34. Das Ende des Sokrates. 105
scheidet er von den anderen Gottheiten den Bildner und Be-
herrscher des Weltganzen, den er sich (I, 4, 9. 17 f.) nach
Analogie der menschlichen Seele als den der Welt inne-
wohnenden Geist (Novg) denkt, über dessen Natur aber der
Feind aller transzendenten Spekulationen gewiß keine ein-
gehendere Untersuchung gewagt hat. Wie die Seele für ihren
Leib, so sorgt die göttliche Vorsehung für die Welt und
namentlich für den Menschen ; einen besonderen Beweis dieser
Fürsorge sieht Sokrates in den mancherlei Arten der Weis-
sagung. Für die Verehrung der Götter stellt er den Grund-
satz auf, daß sich jeder dabei an den Brauch seiner Stadt
halte; im übrigen lehrt er, es komme nicht auf die Größe
des Opfers an, sondern auf die Gesinnung des Opfernden,
und er verbietet, um bestimmte Güter zu bitten, da die
Oötter selbst am besten wissen, was uns gut ist. Die Gott-
verwandtschaft der menschlichen Seele bezweifelt er nicht;
dagegen wagt er ihre Unsterblichkeit (b. Pläton Apol. 40 C f.,
vgl. Xen. Cyrop. VIII, 7, 19flf.) nicht bestimmt zu behaupten,
§ 34. Das Ende des Sokrates.
Als Sokrates ein volles Menschenalter in Athen gewirkt
hatte, wurde gegen ihn von Meletos, Anytos und Lykon die
Klage erhoben, daß er die Jugend verderbe, indem er die
Staatsgötter leugne und statt ihrer neue Gottheiten einzu-
führen versuche. Hätte er die herkömmliche Art der Ver-
teidigung vor Gericht nicht verschmäht und den gewohnten
Ansprüchen der Richter einige Zugeständnisse gemacht, so
wäre er ohne Zweifel freigesprochen worden ; nachdem er mit
geringer Mehrheit für schuldig erkannt war ^), trat er bei der
Verhandlung über die Strafe dem Gericht mit ungebeugtem
Stolz entgegen, und nun erfolgte mit größerer Mehrheit das
von den Klägern beantragte Todesurteil. Die Flucht aus dem
^) Nach Platon Apol. 36 A wäre dies unterblieben, wenn nur dreißig
Ton den Heliasten (deren Zahl vermailich 500 oder 501 betrug) anders ge-
stimmt hätten.
106 Zweite Periode.
Ge&ngnis, in dem er 30 Tage bis zur Rückkehr des Staats-
Schiffes von Delos verbrachte (Xen. Mem. IV, 8, 2. . Platon
Phaed. 51 Äff. Kriton 43 C f.), verwarf er als gesetzwidrig
und trank mit philosophischer Heiterkeit den Schierlingsbecher.
Daß bei seiner Anklage und Verurteilung persönliche Feind-
schaft mit im Spiele war, ist zu vermuten, wenn auch die
Sophisten keinen Anteil daran hatten; ihr entscheidendes
Motiv lag aber allem nach in der Absicht der seit Thrasybul
herrschenden Partei, der neuernden sophistischen Erziehung,
welche man für das Unglück der letzten Jahrzehnte an erster
Stelle verantwortlich machte, durch Bestrafung ihres Haupt-
vertreters einen Riegel vorzuschieben, Sie ist ein Versuch
der demokratischen Reaktion, die alte Zeit gewaltsam wieder-
herzustellen. Dieser Versuch war aber nicht allein in der
Art, wie er durchgeführt wurde, eine schwere Rechts*
Verletzung, denn einer gesetzlich strafbaren Handlung hatte
sich der Philosoph in keiner Beziehung schuldig gemacht;
sondern er beruhte auch auf einer verhängnisvollen Täuschung:
die alte Zeit ließ sich überhaupt nicht, und am wenigsten
auf diesem Wege, wiederherstellen, und an ihrem Verschwinden
trug Sokrates so wenig eine Schuld, daß er vielmehr seinen
Zeitgenossen den allein fruchtbaren Weg zur Besserung des
bestehenden Zustandes, den der sittlichen Reform, gewiesen
hatte. Seine Hinrichtung ist vom rechtlichen und moralischen
Gesichtspunkt betrachtet ein Justizmord, vom geschichtlichen
ein grober Anachronismus *). Wie er selbst aber sich dieser
Hinrichtung durch ein weniger schroffes Auftreten aller Wahr-
scheinlichkeit nach hätte entziehen können, so hat sie auch statt
des Erfolges, den seine Gegner hofften, den entgegengesetzten
gehabt. Das zwar ist eine spätere Erfindung, daß das Volk
') GoMPERz Griech. Denker II 89 f. sieht in diesem Kampfe zwischen
Sokr. und dem athenischen Volke, wie einst Hegel, ein Bingen zwischen
„zwei Weltanschauungen", und in der Verurteilung des Sokr. eine berech-
tigte Notwehr gegen die staatszersetzenden Wirkungen seiner Lehre und
seines Auftretens. S. die Widerlegung dieser Ansicht bei Pöhlmann Sokr.
und sein Volk 1899.
§ 35. Die Schule des Sokrates ; Xenophon, Äschines. 107
von Athen selbst sein Urteil durch Bestrafung der Ankläger
wieder aufgehoben habe ; um so vollständiger hat es aber die
.Geschichte vernichtet : das Ende des Sokrates war der höchste
Triumph seiner Sache, der leuchtende Höhepunkt seines
Lebens, die Apotheose der Philosophie und des Philosophen.
IL Die kleineren sokratischen Schulen.
§ 35. Die Schule des Sokrates; Xenophon, Äschines.
Unter den vielen, welche die wunderbare Persönlichkeit
des Sokrates anzog und festhielt, hatte wohl die Mehrzahl
mehr Sinn für seine sittliche Größe und für den ethischen
Wert seiner Reden als für seine wissenschaftliche Bedeutung,
Wie sich die sokratische Philosophie auf diesem Standpunkt
darstellte und auf das menschliche Leben angewandt wurde,
zeigt Xenophon (um 440 [nach Apollodor] oder wenige
Jahre später geboren und nach 455 gestorben). So achtungs-
wert die praktische Tüchtigkeit, die Frömmigkeit, die
Ritterlichkeit dieses Mannes auch ist^), und so große
Verdienste er sich um die Überlieferung der sokratischen
Lehre erworben hat, so beschränkt erscheint doch sein Ver-
ständnis ihres philosophischen Gehalts. In ähnlicher Weise
scheint Äschines in seinen sokratischen Gesprächen die
Lehre des Meisters nach ihrer praktischen und gemein-
verständlichen Seite dargestellt zu haben. Als philosophischere
Naturen schildert Platon (Phädon. Phädr. 242 B) die beiden
Thebaner Simmias und Kebes, Schüler des Philolaos;
wir wissen jedoch über keinen von ihnen etwas Näheres;
ihre Schriften hatte schon Panätios für unecht (oder unglaub-
würdig?) erklärt; das noch vorhandene „Gemälde" des Kebes,
eine allegorische Darstellung stoischer Moral, ist dies jeden-
falls. Als Stifter philosophischer Schulen kennen wir außer
Platon vier Sokratiker. Eukleides begründete durch eine
eigentümliche Verbindung eleatischer Lehren mit der Sokratik
') Ein bedeutend ungünstigeres Charakterbild entwii-ft Gompebz Griech.
Denker II 96 flf.
108 Zweite Periode.
die megarische, Phädon die verwandte elische Schule, Anti-
sthenes unter dem Einfluß der gorgianischen Sophistik die
kynische, Aristippos unter dem des Protagoras die kjrenaische.
§ 36. Die megarische und die elisch-eretrische
Schule.
E u k 1 e 1 d e 8 aus Megara, der treue Verehrer des Sokrates,
hatte (vielleicht schon vor seiner Verbindung mit diesem)
auch die eleatische Lehre kennen gelernt. Nach Sokrates'
Tode trat er selbst in seiner Vaterstadt als Lehrer auf. Die
Leitung seiner Schule übernahm nach ihm Ichthyas. Ein
jüngerer Zeitgenosse des letzteren ist der Dialektiker E u b u -
lides, ein leidenschaftlicher Qegner des Aristoteles; diesem
gleichzeitig Thrasy machos, etwas jünger Pasikles.
Dem letzten Drittel und dem Ende des 4. Jahrhunderts ge-
hören Diodoros Kronos (f 307 v. Chr.) und Stilpon aus
Megara (um 370 — 290) an; jüngere Zeitgenossen Stilpons
sind Alexin OS, der Eristiker, und Philon, der Schüler
Diodors. — Den Ausgangspunkt der megarischen Philosophie
bildete nach Platon Soph. 246 B ff. (dessen Schilderung
Schleiermacher mit Recht auf sie bezieht)^) die sokratische
Lehre von den Begriffen. Wenn nur das begriffliche Er-
kennen Wahrheit hat (schließt Eukleides zunächst mit
Platon), so kann auch nur dem Wirklichkeit zukommen,
worauf dieses Erkennen sich bezieht, dem unveränderlichen
Wesen der Dinge, den aavi^axa eidr} ; die Körperwelt dagegen,
^) [Diese Ansicht Schleiermachers hat zahlreiche Verteidiger,
aher auch nicht wenige Gegner gefunden (s. Phil. d. Qr. II 1, 252 ff.). Zu
den letzteren ist neuerdings Gompebz Qriech. Denker II 454 f. u. 596 hinzu-
gekommen, der in der Polemik gegen die MCiv (f>iXoi eine Kritik sieht,
die Platon an der älteren Gestalt seiner eigenen Ideenlehre üht, während
andre, wie Camphell und Natorp, Pl.s Ideenlehre S. 284 unter den Ideen-
freunden solche Schüler Pl.s verstehen, die auf dem vom Meister hereits
verlassenen Standpunkte stehen gehliehen waren. Hiemach ist es sehr
fraglich, oh im Texte mit Recht die im Sophistes geschilderte Lehre den
Megarikem zugeschrieben wird, zumal da sie sich mit der uns sonst über-
lieferten Lehre dieser Sekte doch schwer vereinen läßt]
§ 36. Die megarische und die elisch-eretrische Schule. 109
welche die Sinne uns zeigen , ist überhaupt nicht ftir ein
Seiendes zu halten: das Entstehen, das Vergehen, die Ver-
änderung und Bewegung ist undenkbar, und es wird deshalb
(Arist. Metaph. IX, 3. 104 b 29 ff.) von den Megarikern die
Behauptung aufgestellt, nur was wirklich ist, sei möglich.
Alles Seiende führt sich aber schließlich (wie bei Parmenides)
auf das Seiende als Einheit zurück; und indem nun dieses
dem obersten Begriff der sokratischen Ethik und Theologie,
dem Guten, gleichgesetzt wurde, kam Eukleides bald genug
zu der weiteren Behauptung: es gebe nur ein Gutes, das un-
veränderlich und sich selbst gleich mit verschiedenen Namen,
als Einsicht, Vernunft, Gottheit usw. bezeichnet werde ; ebenso
gebe es nur eine Tugend, die Erkenntnis dieses Guten, und
nur verschiedene Namen dafür seien die mancherlei Tugenden.
Alles andere aber außer dem Guten wurde für nichtseiend
erklärt und damit dann freilich auch die Mehrheit der „un-
körperlichen Formen" wieder aufgehoben. (Den Einwürfen,
die Eukleides von hier aus gegen Piaton erhob, tritt dieser,
wie es scheint, im Parmenides entgegen.) — Zur Begründung
dieser Ansichten bediente sich schon Eukleides nach Zenons
Vorgang des indirekten Beweises durch Widerlegung der
Gegner; seine Schüler trieben diese Dialektik mit solcher
Vorliebe, daß die ganze Schule von ihr den Namen der
dialektischen oder eristischen erhielt. Die meisten von den
Wendungen, deren sie sich hierbei bedienten, der Verhüllte,
der Lügner, der Gehörnte, der Sorites usw., sind von den
Sophisten entlehnt oder in ihrem Geschmack ersonnen, und
sie wurden wohl auch meist ebenso eristisch wie von diesen
gehandhabt. Von Diodor kennen wir vier Beweise gegen
die Möglichkeit der Bewegung, welche denen Zenons nach-
gebildet sind, und eine Beweisführung für die megarische
Lehre vom Möglichen, die unter dem Namen des yLvqi&üCDV
Jahrhunderte lang bewundert wurde ^). Daß er aber trotz-
dem nur sagte : möglich sei, was ist oder sein wird, es könne
1) Man vgl. darüber Phil. d. Gr. U 1, 266 ff.
HO Zweite Periode.
sich etwas bewegt haben, aber nichts sich bewegen, war ein
seltsamer Widerspruch. Noch weiter wich P h i 1 o n von der
strengen Lehre seiner Schule ab. Stilpon, der neben
Thrasymachos auch den Kyniker Diogenes zum Lehrer ge-
habt hatte, bewies sich als dessen Schüler durch seine
ethische Tendenz, durch die in Wort und Tat von ihm ge-
lehrte Apathie und Autarkie des Weisen, durch seine freie
Stellung zur Volksreligion und durch die Behauptung, daß
man keinem Subjekt ein von ihm verschiedenes Prädikat bei-
legen könne, wurde jedoch im übrigen der megarischen Schule
nicht untreu. Sein Schüler Zenon führte dann diese zugleich
mit der kynischen in die stoische über.
Mit der megarischen Schule war die e 1 i s c h e verwandt,
deren Stifter Phädon von Elis aus Piaton als ein Liebling
des Sokrates bekannt ist. Es ist uns jedoch über seine Lehre
nichts Näheres überliefert. Ein Schüler der EleerMoschos
und Anchipylos war Menedemos aus Eretria (um 352
bis 278) ; noch vorher aber hatte er Stilpon gehört, in dessen
Geist er mit der elisch-megarischen Dialektik eine dem Kynis-
mus verwandte, aber zugleich auf die megarische Tugendlehre
zurückgehende Lebensauffassung verband. Indessen kann
die Ausbreitung und Dauer der „eretrischen" Schule nur
eine sehr beschränkte gewesen sein.
§ 87. Die kynische Schule.
Der Stifter der kynischen Schule, Antisthenes aus
Athen, hatte den Unterricht des Gorgias genossen und war
selbst schon als Lehrer tätig gewesen, ehe er Sokrates kennen
lernte, dem er fortan mit höchster Verehrung anhing. Er
scheint um ein merkliches älter gewesen zu sein als Piaton;
das Jahr 371 v. Chr. hat er nach Plüt. Lykurg. 30 Schi,
überlebt. Seine zahlreichen, stilistisch ausgezeichneten Schriften
sind bis auf wenige Bruchstücke ^) verloren. Nach Sokrates*^
^) Gesammelt von Winckelmann Antisth. Fragm. 1842; vgl. Dümmler
Antisthenica, Hibzel D. Dialog I HS ff.
§ 37. Die kynische Schule. Hl
Tod eröffnete er eine Schule in dem Gymnasium Kynosarges;
teils von diesem Versammlungsort, teils von ihrer Lebensweise
wurden seine Anhänger Kyniker genannt. Von seinen
nächsten Schülern kennen wir nur Diogenes von Sinope,
den Sonderling mit dem derben Humor und dem unbezwing-
lichen Willen, der, von Hause flüchtig, meist in Athen lebte
und in Korinth 323 v. Chr. hochbetagt starb. Unter seinen
Schülern ist der bedeutendste K rat es aus Theben, ein ge-
bildeter Mann, dessen Bettlerleben seine Gattin Hipparchia
aus bewundernder Liebe teilte. In der ersten Hälfte des
3. Jahrhunderts trat Bion von Borysthenis, der vielfach
durch Krates in die kynische Lehre eingeweiht wurde, als
Wanderlehrer und Verfasser von Moralpredigten (Diatriben)
auf^). Ein schwächerer Nachahmer von ihm war Teles, der
früher mit Unrecht zu den Stoikern gerechnet wurde. Aus
seinen Diatriben (um 240) sind uns bei Stobäos längere Aus-
züge erhalten^). Zu den letzten Mitgliedern dieser Schule,
die uns bekannt sind, gehören Menedemos, der sich zu-
erst dem Epikureer Kolotes anschloß, dann aber zu dem
Kyniker Echekrates überging und seinen frühreren Lehrer
angriff®), sowie der Stoiker M e n i p p o s , beide dem zweiten
Drittel des 3. Jahrhunderts angehörig. Seit dieser Zeit scheint
sie sich in die stoische verloren zu haben, aus der sie erst
in dier Zeit des Augustus wieder hervortritt.
Was Antisthenes an Sokrates bewunderte und nachahmte,
war an erster Stelle die Unabhängigkeit seines Charakters;
den wissenschaftlichen Untersuchungen dagegen legte er nur
^) S. ß. Heinze De Horatio Bionis imitatore 1889.
^) S. V. WiLAMOwiTz Der kynische Prediger Teles 1881. Teletis reli-
quiae ed. O. Hense 1889.
') S. Cbönebt Kolotes und Menedemos 1906 S. 1 ff., wo nachgewiesen
wird, daß in den Bruchstücken zweier Streitschriften des Kolotes (Papyr.
Hercul. 208) der Kyniker Menedemos angegriffen wird, und daß die bei
DiOG. Laert. VI, 102 versehentlich in die Yita des Menedemos geratene
'Mitteilung des Hippobotos über das zauberhafte Auftreten des Mannes zu
der voraufgehenden Vita des Menippos zu ziehen ist
112 Zweite Periode.
dann einen Wert bei, wenn sie sich unmittelbar auf das
Handeln beziehen. „Die Tugend", sagte er (DiOG, VI, 11)^
„genüge zur Glückseligkeit, und zur Tugend sei nichts er-
forderlich als die Stärke eines Sokrates; sie sei Sache der
Tat und brauche nicht viele Worte und Kenntnisse/ Er und
die Seinigen verschmähten daher die Kunst und Gelehrsam-
keit, die Mathematik und Naturwissenschaft; und wenn er
sich die sokratische Forderung der BegriflFsbestimmung an-
eignete, wendete er sie doch in einer Weise an, die alle
wirkliche Wissenschaft unmöglich machte. Er wollte nämlich
nicht allein, unter leidenschaftlichem Widerspruch gegen
Piatons Ideenlehre, nur das Einzelne für etwas Wirkliches
gelten lassen, und er dachte hierbei ohne Zweifel (vgl. Platon
Soph. 246 A flF. Theät. 155 E) ebenso wie später die Stoiker
nur an das Körperliche und sinnlich Wahrnehmbare ^); sondern
er verlangte auch, daß jedem Ding nur sein eigener Name
(der oiyteios loyog) beigelegt werde, und schloß dann daraus
(wahrscheinlich nach Gorgias' Vorgang s. oben S. 88) weiter,
man dürfe keinem Subjekt ein von ihm verschiedenes Prädikat
beilegen. Er verwarf daher auch die Definition durch Merk-
male, und wollte nur für das Zusammengesetzte eine Auf-
zählung seiner Bestandteile zulassen, während das Einfache
zwar durch Vergleichung mit anderem erklärt, aber nicht
definiert werden könne ^). Er behauptete mit Protagoras,
man könne sich nicht widersprechen, denn wenn man Ver-
schiedenes sage, rede man auch von Verschiedenem. Er
gab also der sokratischen BegriflEsphilosophie eine durchaus
sophistische Wendung.
^) [Die Beziehung der beiden Piatonstellen auf Ant. (s. Phil. d. Gr.
II 1, 297 ff.) ist dadurch ausgeschlossen, daß Soph. 251 D die zuletzt von
Platon erwähnten y^Qovreg, unter denen ohne Zweifel Ant. zu verstehen ist,
deutlich von den vorher bekämpften Materialisten unterschieden werden.]
«) S. Arist. Metaph. VIII 3, 1043 b 23 ff. u. Plat. Theät. 201 C ff. Die
an der zweiten Stelle angefahrte Definition des Wissens als „richtige Vor-
stellung in Verbindung mit Erklärung (^o^a aXtidijS /Äerä Xoyov)^ gehtT
wahrscheinlich auf Ant zurück.
§ 37. Die kynische Schule. 113
Schon dieser Mangel an einer wissenschaftlichen Be-
gründung brachte es nun mit sich, daß auch seine Ethik
sehr einfach ausfallen mußte. Ihr Grundgedanke ist in dem
Satz ausgesprochen, nur die Tugend sei ein Gut, nur die
Schlechtigkeit ein Übel, alles andere sei gleichgültig. Denn
ein Gut könne für den Menschen nur das sein, was ihm
eigen (oi-^eiov) ist, und dies sei nur sein geistiger Besitz;
alles übrige dagegen, Vermögen, Ehre, Freiheit, Gesundheit,
das Leben selbst, sei an sich kein Gut, Armut, Schande,
Knechtschaft, Krankheit, Tod an sich kein Übel ; am wenigsten
aber dürfe die Lust für ein Gut, Mühe und Arbeit für ein
Übel gehalten werden, da jene vielmehr, wo sie den Menschen
beherrscht, ihn verderbe, diese ihn zur Tugend erziehe:
Antisthenes sagte, er wolle lieber verrückt als vergnügt sein
(f,iaveii]v fiäXlov rj ^ad'eirjv)^ und zu ihrem Vorbild wählten
er und seine Schüler das mühevolle Leben des Herakles. Die
Tugend selbst wird mit Sokrates auf die Weisheit oder die
Einsicht zurückgeführt und daher auch ihre Einheit und
Lehrbarkeit behauptet; mit der Einsicht fällt aber hier die
Willensstärke, mit der Belehrung die sittliche Übung zu-
sammen. Ihrem Inhalt nach hat diese Tugend einen über-
wiegend negativen Charakter: sie besteht in der Unabhängig-
keit vom Äußern, der Bedürfnislosigkeit, der Enthaltung vom
Schlechten, und sie scheint (nach Arist. Eth. N. II, 2. 1104 b
24) schon von den Kynikern als Apathie und Ruhe des Ge-
müts*) beschrieben worden zu sein. Und je weniger nun die
Kyniker diese Tugend bei ihren Zeitgenossen fanden, um so
ausschließlicher zerfielen ihnen alle Menschen in die zwei
Klassen der Weisen und der Toren, um so unbedingter legten
sie jenen alle Vollkommenheit und Glückseligkeit, diesen
alle Fehler und alle Unseligkeit bei; wie sie denn auch die
Tugend des Weisen für unverlierbar erklärten. Ihr eigenes
Verhalten zeigt als ihr Ideal die sokratische Bedürfnislosig-
') Nach Clem. Strom. II c. 130, 7 hat Ant. als höchstes Gut die
dtvipCtt, d. i. die Freiheit von leeren Einbildungen, bezeichnet.
Zeller; GrundriB. 8
114 Zweite Periode.
keit im Extrem. Schon Antisthenes rühmt (Xen. Symp. 4,
34 ff.) den Reichtum, den seine Beschränkung auf das absolut
Unentbehrliche ihm gewähre; doch besitzt er noch eine, wenn
auch noch so ärmliche, Behausung. Seit Diogenes führten
die Kyniker ein förmliches Bettlerleben, ohne eigene Wohnung,
mit der einfachsten Kost, der dürftigsten Kleidung (dem
Tribon) sich begnügend; sie machten sich Abhärtung gegen
Entbehrungen, Beschwerden und Beleidigungen zum Grund-
satz ; sie bewiesen wohl auch ihre Gleichgültigkeit gegen das
Leben durch freiwilligen Austritt aus ihm. Sie entsagten in
der Regel dem Familienleben, statt dessen Diogenes Weiber-
gemeinschaft vorschlug; sie legten dem Gegensatz der Frei-
heit und Knechtschaft keinen Wert bei, denn der Weise sei
auch als Sklave frei und geborener Herrscher; sie fanden
für den Weisen das Staatsleben entbehrlich, weil er überall
zu Hause, ein Bürger der Welt sei, und schilderten als ihren
Idealstaat einen Naturzustand, in dem die ganze Menschheit
wie eine Herde zusammenlebe. Sie schlugen durch ihr Ver-
halten nicht allein dem Herkommen und Anstand, sondern
nicht selten auch dem natürlichen Schamgefühl geflissentlich
ins Gesicht, um ihre Gleichgültigkeit gegen die Meinungen
der Menschen an den Tag zu legen. Sie traten dem religiösen
Glauben und Kultus ihres Volkes als Aufklärer entgegen:
denn in Wahrheit (xarä q)vaiv) gebe es (wie schon Antisthenes
mit Xenophanes^) sagt) nur einen Gott, der nichts Sicht-
barem gleiche, erst das Herkommen (y6f.iog) habe die vielen
Götter geschaffen; und ebenso fanden die Kyniker einen
wirklichen Gottesdienst nur in der Tugend, welche die Weisen
zu Freunden der Götter (d. h. der Gottheit) mache ; über die
Tempel dagegen, die Opfer, die Gebete, die Gelübde, die
Weihen, die Weissagungen äußerten sie sich durchaus ver-
werfend; homerische und andere Mythen wurden von Anti-
sthenes moralisch umgedeutet. Als ihren besonderen Beruf
betrachteten es die Kyniker, sich der sittlich Verwahrlosten
*) S. jedoch S. '54 Anm. 2.
§ 38. Die kyrenaisdie Schale. 115
anzunehmen: als freiwillige Sittenprediger und Seelenärzte
haben sie ohne Zweifel vielfach wohltätig gewirkt; und wenn
sie die Torheit der Menschen rücksichtslos geißelten, der
Überbildung den derben Mutterwitz des Plebejers, der Ver-
weichlichung ihrer Zeit einen unbeugsamen, bis zur Roheit
abgehärteten Willen mit tugendstolzer Menschenverachtung
entgegenstellten, so wurzelt doch die Schroffheit ihres Auf-
tretens selbst in dem Mitleid mit dem Elend ihrer Mitmenschen,
und in der Geistesfreiheit, zu der namentlich Diogenes und
Erates sich mit heiterem Humor zu erheben wußten. Die
Wissenschaft hatte aber allerdings von dieser Bettlerphilosohie
nicht viel zu erwarten, und ihre Auswüchse lassen sich schon
bei ihren gefeiertsten Vertretern nicht verkennen.
§ 38. Die kyrenaische Schule.
Aristippos aus Kyrene, nach DiOG. 11, 83 älter als
Äschines und so wohl auch etwas älter als Piaton, scheint
schon in seiner Vaterstadt mit der Lehre des Protagoras be-
kannt geworden zu sein ; in der Folge suchte er Sokrates in
Athen auf und kam in nahe Verbindung mit ihm, ohne des-
halb doch seinen Lebensgewohnheiten und Ansichten zu ent-
sagen. Nach Sokrates' Tod (bei dem er nicht zugegen war)
trat er selbst als „Sophist", d. h. als berufsmäßiger und be-
zahlter Lehrer, auf, zuerst wohl in Athen, aber auch an
andern Orten, und er kam als solcher auch an den sjra-
kusanischen Hof; ob aber unter dem älteren oder dem
jüngeren Dionys oder beiden, steht nicht fest. In Kyrene
begründete er eine Schule, welche die kyrenaische, auch die
hedonistische, genannt wird; zu ihr gehörte seine Tochter
Arete und Antipater. Jene führte ihren Sohn Ari-
stippos (ö ixrjfCQodidaYxog) in die Lehre seines Großvaters
ein ; dessen Schüler war Theodoros der Atheist, mittelbare
Schüler Antipaters waren Hegesias und Annikeris (alle
drei um 320—280). Zu Theodors Schülern gehörte Bion
der Borysthenite, der aber noch mehr Eyniker als Hedoniker
ist (s. S. 111). AuchEuemeros (um 300), den seine platte
8*
116 - Zweite Periode.
Umdeutung der Mythologie in eine Ftirstengeschichte be-
kannt gemacht hat, hängt vielleicht mit der kjrenaischen
Schale zusammen.
Die systematische Ausführung der kyrenaischen Lehre
(trotz EüS. pr. ev. XIV, 18, 31) schon dem älteren, nicht
erst dem jüngeren Aristippos zuzuschreiben, berechtigt uns
teils die Einheit der Schule, teils die Berücksichtigung jener
Lehre durch Platon (Phileb. 42 D f. 53 C. Theät. s. u.),
Aristoteles (Eth. VII, 12 f.) und Speusippos (der nach
DiOG. IV, 5 einen „Aristippos" verfaßt hatte); wie denn auch
allen Anzeichen nach von den Schriften, die Aristippos bei-
gelegt werden, wenigstens ein Teil echt war. — Mit Anti-
sthenes mißt auch Aristippos den Wert des Wissens ledig-
lich an seiner praktischen Brauchbarkeit. Er verschmähte
die Mathematik, weil sie nicht danach frage, was heilsam
oder schädlich ist; er hielt die physikalischen Untersuchungen
für aussichtslos und unnütz; er eignete sich auch von er-
kenntnistheoretischen Erörterungen nur das an, was er zur
Begründung seiner Ethik brauchbar fand. Unsre Wahr-
nehmungen, sagte er im Anschluß an Protagoras (dessen
Lehre ohne Zweifel von ihm die im platonischen Theätet
152 C flf. und 155 D ff. berichtete Fortbildung erhielt), unter-
richten uns nur über unsre eigenen Empfindungen, aber weder
über die Beschaffenheit der Dinge noch über die Empfindungen
andrer Menschen, da sie nur das momentane Erzeugnis aus
dem Zusammentreffen von Bewegungen des Wahrgenommenen
und des Wahrnehmenden seien ; und schon damit war es ge-
rechtfertigt , wenn er auch das Gesetz unsers Handelns nur
der subjektiven Empfindung zu entnehmen wußte. Alle Emp-
findung besteht aber in einer Bewegung; wenn diese eine
sanfte ist, entsteht das Gefühl der Lust, wenn sie eine rauhe
und stürmische ist, das der Unlust; findet keine oder nur
eine schwache und unmerkliche Bewegung statt, so empfinden
wir weder Lust noch Unlust. Daß nun von diesen drei Zu-
ständen die Lust allein begehrenswert ist, daß das Gute mit
dem Angenehmen, das Schlechte mit dem Unangenehmen zu-
§ (S8. Die kjrenaische Schale. 117
eammenfkllt; sagt jedem, wis Aristippos glaubt, die Natur,
und er selbst begründet dies damit, daß die Lust gar nichts
andres sei als die Empfindung eines naturgemäßen Vorganges
in unserem Leibe; und so ergibt sich für ihn als oberster
Grundsatz seiner Ethik die Überzeugung, daß alle unsre
Handlungen darauf ausgehen müssen, uns möglichst viele
Lust zu verschafi'en. Bei dieser denkt jedoch Aristippos nicht
wie später Epikur an die bloße Qemütsruhe, denn diese wäre
Abwesenheit aller Empfindung, sondern an den positiven Ge-
nuß; auch die Glückseligkeit als Gesamtzustand kann aber,
wie er glaubt, nicht unser Lebenszweck sein, denn nur die
Gegenwart gehört uns, die Zukunft ist unsicher, die Ver-
gangenheit entschwunden.
Was für Dinge und Handlungen es sind, die uns Lust
gewähren, wäre an sich gleichgültig, denn jede Lust als
solche ist ein Gut. Indessen wollten auch die Eyrenaiker
nicht bestreiten, daß ein Gradunterschied unter den Genüssen
stattfinde ; sie übersahen ferner nicht, daß manche von diesen
nur durch größere Unlust erkauft werden können, und von
solchen rieten sie ab ; wiewohl endlich die körperlichen Lust-
und Schmerzempfindungen die ursprünglicheren und stärkeren
sein sollten, erkannten sie doch an, daß es auch solche gebe,
die nicht unmittelbar aus körperlichen Zuständen entspringen.
Ebendamit ist aber auch die Notwendigkeit anerkannt, das
Wertverhältnis der verschiedenen Güter und Genüsse richtig
zu beurteilen; und diese Beurteilung, von der alle Lebens-
kunst abhängt, verdanken wir der Einsicht (q>g6vr]aig, iTti-
üZTj^fjy Tcaideia) oder der Philosophie. Denn sie zeigt uns,
wie wir die Lebensgüter zu gebrauchen haben, sie befreit
uns von den Einbildungen und Leidenschaften, die das Lebens-
glück stören, sie befähigt uns, alles für unser Wohlsein aufs
zweckmäßigste zu benützen. Sie ist daher die Grundbedingung
alles Glückes.
Diesen Grundsätzen gemäß geht nun Aristippos in seinen
Lebensregeln wie in seinem Verhalten (soweit uns die Über-
lieferung dieses zu beurteilen erlaubt) durchaus darauf aus,
1\Q Zweite Periode.
das Leben möglichst zu genießen, aber unter allen Umständen
seiner selbst und der Verhältnisse Herr zu bleiben. Er ist
nicht bloß der gewandte Weltmann, der nie in Verlegenheit
ist, wenn es sich darum handelt, sich die Mittel zum Genüsse
(mitunter auf unwürdige Weise) zu verschaffen, oder zur Ver-
teidigung seines Verhaltens eine witzige und treffende Wendung
zu finden; er ist auch der überlegene Oeist, der sich in jede
Lage zu schicken, allem die beste Seite abzugewinnen, durch
Beschränkung seiner Wünsche, durch Einsicht und Selbst-
beherrschung, sich seine Heiterkeit und Zufriedenheit zu
sichern weiß*). Andern Menschen tritt er liebenswürdig
und wohlwollend entgegen; dem Staatsleben suchte er sich
wohl auch später, wie bei Xen. Mem. H, 1, fernzuhalten, um
seiner Unabhängigkeit nichts zu vergeben. Seinem großen
Lehrer hat er die wärmste Verehrung bewahrt; und in dem
Wert, den er der Einsicht beilegte, in der Heiterkeit und
der inneren Freiheit, zu der sie ihm verhalf, läßt sich der
Einfluß des sokratischen Geistes nicht verkennen. Aber
seine Lustlehre und seine Genußsucht widerstreiten diesem
Geiste allerdings, trotz ihrer teilweisen Anlehnung an die
Begründung der sokratischen Ethik, ihrem Wesen nach ebenso^
wie sein skeptischerVerzichtäufs Wissen der Begriffsphilosophie
seines Lehrers widerstreitet.
In der kjrenaischen Schule selbst kam dieser Wider-
spruch ihrer Elemente in den Veränderungen zum Ausdruck,,
die um den Anfang des 3. Jahrhunderts mit Aristippos' Lehre
vorgenommen wurden. Theodoros bekannte sich zwar im
übrigen zu dieser Lehre und zog aus ihren Voraussetzungen
(wenn ihm dies mit Recht nachgesagt wird) rücksichtslos die
äußersten Konsequenzen. Aber um die Glückseligkeit des
Weisen nicht von den äußeren Umständen abhängig zu
machen, wollte er sie nicht in die einzelnen Genüsse, sondern
in die frohe Gemütsstimmung (xctQa) verlegen, über welche
1) Omnis Äristippum äecuit color et Status et res, Tentantem maiora,,
fere prasentibus tBquum. Hör. ep. I, 17, 23.
§ 89. Platous Leben. HQ
die Einsicht Herr sei. Hegesias, der neiaid'dvaTa;, hatte
ein so lebhaftes Gefühl für die Übel des Lebens, daß er an
einer Befriedigung durch positiven Genuß überhaupt ver-
zweifelte und, über Theodor noch hinausgehend, die höchste
Aufgabe darin fand, sich durch Gleichgültigkeit gegen alles
Äußere von Leiden und Unlust freizuhalten. Annikeris
endlich wollte die Lustlehre zwar grundsätzlich nicht auf-
geben, aber er beschränkte sie doch sehr wesentlich, wenn
er der Freundschaft, der Dankbarkeit, der Familien- und
Vaterlandsliebe einen so hohen Wert beilegte, daß der Weise
auch Opfer für sie nicht scheuen werde.
III. Piaton und die alte Akademie.
§ 39. Piatons L e b e n ^).
Piaton wurde nach den glaubwürdigen Angaben Her-
modors und Apollodors (DiOG. III, 2. 6) Ol. 88, 1 (427 v.Chr.),
alter Überlieferung zufolge am 7. Thargelion (26. — 30. Mai),
geboren. Seine beiden Eltern, Ariston und Periktione, ge-
hörten alten Adelsgeschlechtern an. Nach seinem Großvater
soll er zuerst Aristokles genannt worden sein. Durch die
gesellschaftliche und politische Stellung seiner Familie war
die sorgiUltige Ausbildung seines reichbegabten Geistes ver-
bürgt, und zugleich mußte sie diese vornehm angelegte Natur
von Hause aus der Aristokratie zuführen. Das künstlerische
Talent, das wir in Piatons Schriften bewundern, äußerte sich
in den dichterischen Versuchen seiner Jugend. In der Philo-
sophie unterrichtete ihn zuerst Kratylos (s. oben S. 66); in
seinem 20. Jahre begann seine Verbindung mit Sokrates, in
') Neuere Monographien darüber : K. P. Hebmann Gesch. u. Syst. der
plat. Phil. 1. (einziger) Bd. 1839 S. 1—126. H. v. Stein 7 Bücher z. Gesch.
d. Piatonismus (1864) II, 158 ff. Grote Piaton 1865, 3. ed. 1875. Chaignet
La yie et les ecrits de Piaton 1871. Steinhabt Piatons Leben 1873.
Pfleidebeb Sokrates und Piaton 1896 S. 109 ff. Windelband Piaton 1898
(3. Aufl. 1901). GoMPEBz Griech. Denker H, 203 ff. Pateb Piaton u. der
Platonismus. Aus d. Engl, übers. ▼. Hecht. 1904.
120 Zweite Periode.
dessen Geist er während eines achtjährigen vertrauten Ver-
kehrs tiefer als irgendein andrer eindrang. Doch wird er
diese Jahre auch dazu benutzt haben, sich mit den Lehren
der älteren Philosophen bekannt zu machen. Nach dem Tode
des Sokrates (bei dem er nach einer wahrscheinlich erdichteten
Angabe Phädon 59 B nicht anwesend gewesen wäre) begab
er sich mit anderen Sokratikern (nach Hermodors unanfecht-
barem Zeugnis zunächst, um sich etwaiger Verfolgung zu ent-
ziehen) nach Megara zu Eukleides ; er scheint sich aber hier
nicht allzulange aufgehalten und dann eine Reise angetreten
zu haben, die ihn nach Ägypten und Kyrene und vielleicht
auch damals schon zu den Pythagoreern in Unteritalien führte.
Von dieser kehrte er wahrscheinlich zunächst nach Athen
zurück und war hier eine längere Reihe von Jahren nicht
bloß als Schriftsteller, sondern auch als Lehrer tätig, ehe er
(um 388, nach epistola VII, 324 A ungefähr 40 jährig) nach
Sizilien ging. Hier kam er, wohl durch Dion, an den Hof
des älteren Dionysios, . fiel aber bei diesem in solche Ungnade,
daß er ihn dem Spartaner Pollis übergab , von dem er in
Ägina auf den Sklavenmarkt gebracht wurde. Von einem
Kyrenäer Annikeris losgekauft, kehrte er nach Athen zurück
und eröffnete (oder erneuerte) seine Schule im Gymnasium
des Akademos, aus dem er sich später in seinen benach-
barten Garten zurückzog. Neben der Philosophie lehrte
er auch die Mathematik, zu deren ersten Kennern in
seiner Zeit er gehörte; neben dem dialogischen Unterricht
hielt er, wie für die spätere Zeit sicher bezeugt ist, auch
fortlaufende Vorträge ; die persönliche Verbindung des
wissenschaftlichen Vereins kam in monatlichen Syssitien
zum Ausdruck, Einer politischen Tätigkeit enthielt er sich,
weil er in dem damaligen Athen keinen Boden für sie fand.
Als er jedoch nach dem Tode des älteren Dionys (367) durch
Dion zum Besuch seines Nachfolgers eingeladen wurde, ent-
zog er sich dem Rufe nicht, und so übel der Versuch auch
ablief, wiederholte er ihn doch, wie es scheint, um Dions
willen, im Jahre 361 ; geriet aber jetzt durch das Mißtrauen
§ 40. Piatons Schriften. 121
des Tyrannen in eine Gefahr, aus der ihn nur Archytas und
«eine Freunde, die damah'gen Leiter des mächtigen tarentini-
schen Staatswesens, befreiten. Nach Athen zurückgekehrt,
setzte er seine wissenschaftliche Tätigkeit mit ungeschwächter
Kraft bis zu seinem Tode fort. Er starb OL 108, 1
347 V. Chr.. nach Vollendung seines 80. Jahres. Von seinem
Charakter spricht das Altertum mit einer fast ungeteilten
Verehrung. Das Bild, welches uns aus seinen Schriften ent-
gegentritt, ist das eines trotz mancher Enttäuschungen un-
verwandt auf das Ideale gerichteten, in harmonischem Gleich-
gewicht aller Kräfte zur sittlichen Schönheit entwickelten,
in olympischer Heiterkeit über der Erscheinungswelt thronen-
den Geistes ; und diese Vorstellung von ihm hat auch in jenen
Mythen einen Ausdruck gefunden, durch welche der Philosoph
Ächon frühe mit dem delphischen Gott in Verbindung ge-
bracht worden ist.
§ 40. Piatons Schriften*).
Piatons schriftstellerische Tätigkeit erstreckt sich über
mehr als 50 Jahre. Sie begann wahrscheinlich bald nach
dem Tode des Sokrates und dauerte bis zu seinem eigenen
Lebensende. Alle Werke, die er selbst für die Öflfentlichkeit
bestimmt hatte, sind uns erhalten ; aber dem Echten ist nicht
ganz wenig Unechtes beigemischt. Unsere Sammlung umfaßt
außer 7 kleinen, schon im Altertum als unecht bezeichneten
Dialogen 35 Gespräche, eine Zusammenstellung von Definitionen
XLud 13 Briefe. Ein Teil dieser Schriften ist nun neben den
inneren Gründen auch durch aristotelische Zeugnisse^) ge-
schützt. Die Republik, der Timäos, die Gesetze, der Phädon,
der Phädros, das Gastmahl, der Gorgias, der Menon, der
(kleinere) Hippias werden von Aristoteles teils ausdrücklich
unter Piatons Namen, teils in einer Form angeführt, die
ihren platonischen Ursprung unzweideutig voraussetzt; den
') Platons Werke mit krit. Apparat hrsg. von M. Schanz 1875 flF. (un-
vollendet); von J. Burnet. 5 Bde. Oxford 1899/1906.
2) Worüber Bonitz Index Arist. S. 598. Phil. d. Gr. II 1, 447 ff.
122 Zweite Periode.
Theätet, den PhileboSy den Sophisten, den Politikos, die
Apologie berücksichtigt er so unverkennbar, dafi sich weder
seine Bekanntschaft mit diesen Schriften noch seine An-
erkennung ihres platonischen Ursprungs bezweifeln läfit, und
ähnlich verhält es sich mit dem Protagoras und Kriton (44 A
vgl. Aristot. Fr. 32). Weniger sicher ist dies hinsichtlich des
Lysis, des Charmides, des Laches, des Eralylos und de»
größeren Hippias ; den Euthydem berührt nur die endemische
Ethik (VII, 14. 1247 b 15), den Menexenos ein anscheinend
interpoliertes Zitat (Rhet. III, 14. 1415 b 30)*). Da sich aber
nicht behaupten läßt, Aristoteles müsse alle ihm bekannten
platonischen Schriften in seinen uns erhaltenen Werken er*
wähnt haben, so könnte man daraus, daß er eine Schrift
nicht anführt, auf seine Unbekanntschaft mit ihr nur dann
schließen, wenn sich nachweisen ließe, daß er sich auf sie^
falls er sie kannte, an einer bestimmten Stelle hätte beziehen
müssen; dieser Nachweis ist aber in Wirklichkeit nie zu
führen. Was die inneren Merkmale zur Unterscheidung des
Echten und Unechten betrifft, so darf man nicht übersehen,
daß einerseits eine etwas geschickte Nachahmung einer unter-
geschobenen Schrift das Ansehen der Echtheit geben konnte ;
daß aber andrerseits auch ein Piaton nicht lauter gleich voll-
kommene Werke geschaffen haben wird, daß ein so reicher
Geist nicht auf einerlei Darstellungsform beschränkt war,
daß er Gründe haben konnte, sich in einzelnen seiner Ge-
spräche mit bloß vorbereitenden Erörterungen zu begnügen^
sein letztes Wort unausgesprochen zu lassen, daß aber auch
seine Ansichten selbst wie seine Darstellungsweise im Laufe
eines halben Jahrhunderts Veränderungen erfahren mußten,.
*) [Gegen diese in der Phil. d. Gr. II 1 *, S. 461, 5 näher begrandete
Annahme einer Interpolation spricht, daß der gleiche Ausspruch des Sokrate»
auch im 1. Buche der Rhet. c. 9. 1367 b 8 angeführt wird und an beiden
Stellen höchst wahrscheinlich dem Menexenos entnommen ist. S. Diels Über
das 8. Buch d. aristotel. Khet. 1886 S. 20 ff., wo der Men. auch aus anderen
Gründen für echt erklärt wird (vgl. Wejjdland Die Tendenz des piaton*
Menex. 1891).]
§ 40. Platons Schriften. 123
daß endlich manches uns vielleicht nur deshalb auffallend
erscheint, weil wir seine speziellen Veranlassungen und Be-
ziehungen nicht kennen. Von den neueren Gelehrten*) ist
die Echtheit des Protagoras, Gorgias, Phädros, Phädon,
Theätet, der Republik, des Timäos allgemein oder fast all-
gemein anerkannt. Der Sophist, Politikos und Parmenides
werden von Socher und Schaarschmidt, teilweise auch von
SüCKOW, Überweg, Windelband u. a., der Philebos von Schaar*
SCHMIDT, HORN (Platonstudicn I, 1893 8. 359 flf.)^) und Döring
(Gesch. d. gr. Phil. II 15 ff.), der Kratylos von Schaarschmidt,
der Menon und der Euthydem von Ast und Schaarschmidt
verworfen; indessen sind diese Gespräche teils durch ihren
inneren Charakter, teils durch die aristotelischen Zeugnisse
und platonischen Verweisungen ^) sichergestellt; und das gleiche
gilt von dem Kritias, welchen Socher und SüCKOW, der
Apologie und dem Kriton , welche Ast (den Kriton neuer-
dings auch Meiser) Piaton abspricht. Die Gesetze, nach Ast
in meinen piaton. Studien (1839), dann von SüCKOW, RiB-
BiNG, Strümpell (Prakt. Phil. d. Gr. I, 457), Oncken (Staatsl.
^) Außer den zahlreichen Erörterungen über einzelne Schriften gehören
hierher: Schleiermacheb PLs Werke 1804 (2. Aufl. 1816). Ast Pl.s Leben
und Schriften 1816. Socher Über PLs Schriften 1820. K. Fb. Hebmann
(s. S. 119, 1). Bitter U, 181 fif. Brandis Ha, 151 ff. Stallbaum in den
Einlieitungen s. Piatonausgabe. Steinhart in PLs Werke übers, v. Müller
1850 ff. SucKow Form d. plat. Schriften 1855. Munk Natürliche Ordnung
d. plat. Sehr. 1857. Susemihl Genet. Entwickl. d. plat. Phil. 2 Tle. 1855
bis 1860. Überweg Untersuch, über Echtheit u. Zeitfolge plat. Sehr. 1861.
Grundriß I, § 40. H. v. Stein 7 Bücher z. Gesch. d. Piatonismus 1862.
1864, Schaarschmidt Die Samml. d. plat. Sehr. 1866. Grote Piaton 1865.
BiBBiNQ Genet. Entwickl. d. plat. Ideenlehre 1863 f. II. Tl. Meine Phil,
d. Gr. n 1, 436 ff. Gompebz Griech. Denker II, 224 ff. Raedeb PLs phil.
Entwickl. 1905. LüTOSiAWSKI Origin and growth of Platons Logic 1898
(2. Aufl. 1905).
') Gegen Hom wendet sich Apelt Arch. f. Gesch. d. Phil. IX, 1 ff.
Vgl. HoRN ebd. 271 ff.
8) Auf den Philebos weist Rep. VI, 505 B. IX, 583 D. ff. ; auf Farm.
129 B ff. 130 E ff. Phüeb. 14 C. 15 B; auf Soph. 251 A f. 252 E ff. PhiL
14 C f* 16 E ff. ; auf Menon 80 D ff. Phädon 72 E f.
124 Zweite Periode.
d. Arist I, 194 ff.) angegriffen, sind aus inneren und äußeren
Gründen für ein unvollendet hinterlassenes und (nach DiOG.
III, 37 von Philippos von Opus) nicht unverändert heraus-
gegebenes Werk Piatons zu halten ^). Auch der gut bezeugte
kleinere Hippias läßt sich als Jugendarbeit, der Euthyphron,
dessen Echtheit kürzlich noch Natorp (Piatons Ideenl. 38, 1)
bezweifelt hat, aus inneren Gründen verteidigen; noch weniger
Schwierigkeit machen in dieser Beziehung der Lysis, Ohar-
mides und Lach es. Dagegen wird sich der Menexenos kaum
halten lassen^); auch gegen die Echtheit des Ion, und noch
mehr gegen die des größeren Hippias^) und des ersten Alki-
biades, des Kleitophon sprechen überwiegende Gründe. Der
zweite Alkibiades, der Theages, die Anterasten, die Epino-
mis*), der Hipparch und der Minos werden fast nur noch von
Grote (wegen der vermeintlichen Urkundlichkeit der alexan-
drinischen Verzeichnisse bei DiOG. III, 56 ff.) festgehalten;
ebenso ist die Unechtheit der Definitionen allgemein anerkannt,
und von den Briefen, die aus verschiedenen Zeiten stammen,
rührt keiner von Piaton her*).
') Blass Über die Zeitfolge von Pl.s letzten Schriften in : Apophoreton
1903 S. 52 ff. versteht die Mitteilung bei Diog. so, daß Philippos noch bei
Piatons Lebzeiten die von diesem auf Wachstafeln {^v xr]g^) entworfenen
Gesetze abgeschrieben (jjieT^yQaifjiv) und in ßtßUa (nach Suides in 12) ein-
geteilt und ihnen selbst noch die Epinomis hinzugefugt habe. Kaeder PLs
philos. Entwickl. 896 ff. schließt sich dieser Auffassung an, hält aber auch
(S. 413 f.) die Epinomis für ein Werk Piatons.
8) S. jedoch S. 122 Anm. 1.
^) [Die Echtheit des größeren Hippias hat jetzt Apelt N. Jahrb. f. kl.
Phil. 1907 S. 630 ff. durch sorgfältige Vergleich ung mit dem kleineren H.
wahrscheinlich gemacht. Auch der Ion und der erste Alkibiades haben
neuerdings Verteidiger ihrer Echtheit gefunden.]
*) S. jedoch oben Anm. 1.
^) [Diese unbedingte Verwerfung der Briefe entspricht dem in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus von den angesehensten
Gelehrten eingenommenen Standpunkt. In den letzten Jahrzehnten hat nach
dem Vorgange Grotes auch in Deutschland eine andre Auffassung mehr
und mehr Boden gewonnen, nach der einzelne Briefe, wie der 7. und 8. oder
der 13. (so Chbist, s. dagegen Phil. d. Gr. II 1*, 483, 5) oder auch samt-
§ 40. Piatons Scbriften. 125
Die Abfassungszeit der platonischen Schriften läßt sich
nur bei wenigen aus ihrer Beziehung auf Zeitereignisse
(Euthyphron, Apologie, Kriton, Gorgias 521 C, Menon 90 A,
Theät. Anf., Symp. 193 A, Menexenos 245 A ff.) oder aus
glaubwürdigen Angaben (Gresetze s. o.) annähernd bestimmen.
Ihre Reihenfolge kann man sich aus einer planmäßigen An-
ordnung oder aus Piatons eigener Entwicklung oder aus
dem zufälligen Verhältnis der einzelnen Veranlassungen und
Antriebe erklären, welche zur Abfassung jedes Werkes den
Anstoß gäben; der erste von diesen Erklärungsgründen ist
von ScHLEiERMACHER, der zweite von Hermann, der dritte von
SocHER und Ast einseitig ins Auge gefaßt worden, während
die Mehrzahl der neueren Forscher alle drei als relativ be-
rechtigt anerkennt, aber allerdings über den Anteil eines
jeden an dem Ergebnis sehr verschieden urteilt Für die
Entscheidung der Frage und die Ausmittlung der Ordnung,
in welcher die einzelnen Schriften verfaßt wurden, geben die
aus dem Altertum überlieferten Einteilungen der Gespräche,
auch die Trilogien, in welche Aristophanes von Byzanz
(um 200 V. Chr.) fünfzehn, und die Tetralogien, in welche
Thrasyllos (unter dem Kaiser TibQrius) sämtliche Gespräche
verteilte, keine Beihilfe. Wir sind daher neben den spär-
lichen chronologischen Spuren ganz auf die inneren Merk-
male beschränkt, unter denen die direkten und indirekten
Hinweisungen der Gespräche aufeinander und der in jedem
sich kundgebende Stand der philosophischen Ansichten die
sichersten Anhaltspunkte gewähren ; nächst ihnen kommt der
Charakter der künstlerischen Darstellung und der Sprache
in Betracht; dagegen ist es bis jetzt nicht gelungen, der
liehe als echt zu betrachten sind. Die Hauptvertreter der letzteren Ansicht
sind neuerdings Blass (zuletzt im Apophoreton S. 54 ff.), Ed. Meyer Gesch.
d. Altert. V (bes. S. 500 ff.) und Raeder Rh. Mus. 1906 S. 427 ff., 511 ff.,
der nur den 1. Brief für unplatonisch hält. Die Frage bedarf noch einer
gründlichen Prüfung. Von ihrer Entscheidung hängt das Urteil über Pl.s
Charakter ab. Als Zeugnisse zur Geschichte Siziliens behalten die Briefe
in jedem Falle ihren Wert.J
126 Zweite Periode.
einen oder der andern ein für die ganze Anordnung der
platonischen Werke entscheidendes Kriterium zu entnehmen ^) ;
MuKKs Annahme vollends, daß die Reihenfolge der Dialoge
dem Lebensalter des Sokrates in ihnen entspreche , ist ganz
undurchführbar. Nach diesen Merkmalen können wir nun
zunächst einen Teil der Gespräche mit Hermann Piatons
„sokratischer^ Periode, d. h. der Zeit zuweisen, in der er
noch nicht wesentlich über den Standpunkt seines Lehrers
hinausging und auch seiner Darstellung etwas von der
Trockenheit der sokratischen Gesprächführung anhaftet; eine
Periode, die mit seiner ägyptischen Reise zum Abschluß ge-
kommen sein mag. Dahin gehört der kleinere Hippias, der
Euthyphron "), die Apologie, der Kriton, der Lysis, Laches,
Charmides und als Höhe- und Schlußpunkt dieser Reihe der
Protagoras. Dagegen treten uns schon im Gorgias, Menon
und Eutbydem, und noch bestimmter im Theätet, Sophisten,
Politikos, Parmenides und Kratylos die Lehren von den Ideen,
von der Präexistenz, der Unsterblichkeit und den Wanderungen
der Seele, und mit ihnen die Beweise der Bekanntschaft mit
dem Pythagoreismus viel zu entschieden entgegen, als daß
wir mit Hermann den Eutbydem, Menon und Gorgias noch
^) [Gegenüber den Versuchen, aus sprachlichen und stilistischen Merk-
malen die Zeitfolge der platonischen Schriften zu ermitteln, die zuerst von
Campbell im Jahre 1867, dann seit Dittenbeboer (1881) von zahlreichen
Forschem wie Schanz, C. Rittee, v. Arnim, LUTOStAWSKI (fl. S. 123 Anm. 1),
Natorp, Janell u. a. gemacht worden sind, hat sich Zellek Phil. d. Gr. II
1*, 506 f. 512 flf. u. Arch. f. Gesch. d. Phil. H, 677 flf. wohl zu ablehnend
und zweifelnd verhalten, während Gompebz Griech. Denker II 281 fif. diese
Untersuchungen viel günstiger beurteilt. In der Tat haben sie in ihrer
Gesamtheit zu dem Ergebnisse geführt, daß sich auf Grund der sprachlichen
Kriterien fast alle Dialoge in drei zeitlich getrennte Gruppen einordnen
lassen und diese Ordnung sich im großen imd ganzen mit der aus sonstigen
inneren und äußeren Gründen gewonnenen deckt. Innerhalb dieser Gruppen
jedoch und teilweise auch auf den Grenzgebieten ist eine genauere Fest-
stellung der Reihenfolge nach sprachlichen Gesichtspunkten kaum möglich.]
^) [Der Euthyphron ist seinem Inhalte nach wahrscheinlich hinter den
Gorgias zu setzen. S. Gomperz Griech. Denker U 289 ff.]
§ 40. Piatons Schriften. 127
in die „sokratische" Periode verlegen, die dialektischen Ge-
spräche (Theät. usw.) einer „megarischen" Periode, für die
es an einem genügenden geschichtlichen Anhalt durchaus
fehlt, zuteilen, Piatons genauere Kenntnis der pythagoreischen
Philosophie erst von seiner sizilischen Reise herleiten und
den Phädros in die Zeit nach der letzteren (387/6 v. Chr.)
herabrücken dürften. Kann vielmehr der Phädros auch nicht
mit Schleiermacher für Piatons erste Schrift gehalten oder
gar mit Usener (Rh. Mus. XXXV, 131 flf.) in 402/3 v. Chr.
hinaufgesetzt werden, so spricht doch vieles dafür, daß er
anmittelbar nach dem Menon (der nach S. 90 A nicht vor
395 V. Chr. geschrieben sein kann) und dem Gorgias, um
394 V. Chr., verfaßt sei ^) ; daß es daher im wesentlichen auf
der Absicht einer methodischen Begründung seiner Lehre
und dem Bedürfnis ihrer Verteidigung (gegen Antisthenes
und Eukleides) beruhe, wenn Piaton in den dialektischen Ge-
sprächen die Untersuchungen, deren Ergebnis er im Phädros
summarisch verkündigt hatte, nun Schritt für Schritt führt.
Von den letzteren muß der Theätet um 391 verfaßt sein*);
den nächsten Jahren scheinen der Sophist, Politikos und Parme-
^) [Dem Phädros wird von vielen neueren Forschem eine spätere Stelle
ang^ewiesen. Einige, wie Gompebz, setzen ihn unmittelbar hinter das Sym-
posion, andre, wie Schultess (Piaton. Forsch. 1875), hinter den Phädon oder,
wie LuTOSIiAWSKI und Raedeb, hinter diesen und den Staat. Dafür, daß der
Phädon dem Phädros und dem Staate vorangeht, spricht besonders, daß in
Jenem die Seele als einheitlich, in diesen beiden (und im Timäos) als aus
drei Teilen bestehend dargestellt wird; auch die Sprachstatistik fuhrt zu
demselben Ergebnis.]
*) fS. Zeller II 1 *, 406 flf. Doch sind die chronologischen Gründe, die
er für eine so frühe Abfassung des Dialoges anführt, nicht zwingend. Un-
sicher sind freilich auch die Ansätze von Gompebz Griech. Denker 11 593
(zwischen 374 u. 867) und von Berge, Rohde, LutosIjAWSKI u. a., die ihn
in eine noch spätere Zeit hinabrücken; aber sein Inhalt, seine dialogische
Einkleidung und auch die sprachlichen Kriterien scheinen ihm seinen Platz
hinter dem Staate anzuweisen (s. Raeder Pl.s phil. Entwickl. 50 f. 295 ff.).
In seine Nähe ist wohl auch der Eratjlos zu setzen, der vielfache Be-
rührungspunkte mit ihm aufweist (s. Gomperz a. a. O. 595).]
128 Zweite Periode.
nides anzugehören *). Das Gastmahl ist (nach S. 193 A) nicht
vor 385, aber auch wohl nicht nach 384 v. Chr. geschrieben ;.
nach ihm, wie es scheint, der Phädon und der Philebos. An
den letzteren schließt sich (vgl. S. 123 Anm. 3) die Republik
^) Diese drei Gespräche nebst dem Philebos mit Campbell (Soph. and
Polit. XXIV ff. Rep. n, 46 ff.) und manchen neueren deutschen Gelehrten-
in Piatons letzte Lebensperiode herabzurücken, halte ich für durchaus un-
statthaft. Vgl. Arch. f. Gesch. d. Phil. II 681 f. X 576 ff. 892 ff. V 549 ff.
XI 11 ff. 158 ff. [Die hier von Zeller abgelehnte Ansicht hat sich mehr und
mehr durchgesetzt und ist jetzt fast zur herrschenden geworden. Die diesen»
Gesprächen eigentumliche Stellung zu den philosophischen Grundproblemen,.
die Art, wie die Untersuchung in ihnen gefuhrt wird, die lehrhafte und un-
dramatische Darstellung, das ihnen (mit Ausnahme des Philebos) gemeinsame-
Zurücktreten der Person des Sokrates, endlich auch die sprachlichen Kriterien
unterscheiden sie deutlich von den konstruktiven Dialogen, dem Phädon,.
Phädros und Staat , und nötigen uns , sie der Altersperiode Piatons zu-
zuweisen und in eine Reihe mit dem Timäos und den Gesetzen zu stellen.-
Bereits durch die erkenntnistheoretischen Untersuchungen des Theätet vor-
bereitet, wird hier eine neue, von der früheren wesentlich verschiedene Auf-
fassung der Ideen entwickelt. Nachdem Piaton im Parmenides (daß dieser
dem Sophistes voranzustellen ist, zeigt schon die Anspielung auf ihn
Soph. 267 C) die sich an Parmenides anschließende Lehre der megarischen
Schule bekämpft und eine Brücke zwischen dem Einen und dem Vielen gc
schlagen hat, wendet er sich im Sophistes gegen seine eigene bisherige An-
schauung von den Ideen (s. S. 108 Anm. 1) als starren, unveränderlichen
Wesenheiten und sucht, indem er ihnen Bewegung und Leben, Beseeltheit
und Vernunft, Kraft und Wirken zuschreibt, eine Verbindung zwischen
ihnen selbst sowie zwischen der Welt des Seins und der des Werden»
oder des Nichtseins herzustellen. Im Politikos und Philebos zieht er dann
die Konsequenzen des neugewonnenen Standpunktes für das staatliche
und das sittliche Gebiet. Es sind hiernach außer der frühesten
sokratischen Periode und der letzten Gestalt der platonischen Lehre,-
die auch Zeller getrennt behandelt hat (s. § 50), in der mindesten»
drei Jahrzehnte umfassenden Zwischenzeit noch zwei Hauptphasen im
Denken Piatons zu unterscheiden. Dieser Entwicklungsgang kann bei der
Zellerschen Einteilung in einen propädeutischen und einen systematischen
Abschnitt, die beide jene ganze Zwischenzeit umfassen, nicht zur Geltung-
kommen. Es haben daher mit Recht die neuesten Darstellungen der
platonischen Philosophie fast alle ihre zeitliche Entwicklung zum Einteilungs-
grunde genommen, ein Verfahren, bei dem freilich starke Verschiedenheiten
im einzelnen unvermeidlich sind.]
§ 41. Charakter, Methode und Teile des piaton. Systems. 129
an, die vielleicht nicht ihrem ganzen Umfang nach gleich-
zeitig erschien, die wir aber mit Hermann a. a. O., Krohn,
Pfleiderer, Windelband, Usener, Rohde, Immisch, Döring u. a.
in heterogene und nach keinem einheitlichen Plan ausgeführte
Teile zu zerstückeln keinen Grund haben*); an sie der
Timäos, dessen Fortsetzung, der Kritias, wahrscheinlich in-
folge von Piatons letzten sizilischen Reisen unvollendet ge-
blieben ist. Die Gesetze, das umfangreichste Werk Piatons,
beschäftigten den greisen Philosophen ohne Zweifel während
einer Reihe von Jahren und wurden erst nach seinem Tode
herausgegeben; vgl. S. 124.
§ 41. Charakter, Methode und Teile des
platonischen Systems.
Die platonische Philosophie ist zugleich die Fortsetzung
und die Ergänzung der sokratischen. Piaton hat es so wenig
wie sein Lehrer auf bloß theoretische Forschung abgesehen:
das ganze Verhalten der Menschen soll von den Gedanken,
die der Philosoph findet, durchdrungen und geleitet, ihr sitt-
liches Leben durch die Wissenschaft reformiert werden ; und
mit Sokrates ist auch er überzeugt, daß diese Reform nur
auf das Wissen begründet werden könne, und daß ein wahres
Wissen nur das sei, welches von der Erkenntnis der BegriflFe
ausgeht. Aber er will dieses Wissen zum System entwickeln,
und wie er hierbei zuerst unter den griechischen Philosophen
alle seine Vorgänger berücksichtigt und alle Anknüpfungs-
punkte, die sie ihm boten, benutzt, so geht er auch in der
Ausführung des Systems weit über die Grenzen des sokrati-
1) S. Phil. d. Qr. II 1^, 556 ff. Abgelehnt haben die Zerstfickelungs-
versuche, die übrigens in ihren Ergebnissen wie in ihrer Begründung viel-
fach voneinander abweichen, auch Campbell und Adam in ihren Ausgaben
des Staates (1894 und 1902), Hibmek Entst. u. Komp. d. pl. Politeia 1897,
LUT0S£AWSKI a. a. O., Goiipebz a. a. O. 359 f., Raedeb a. a. O. 186 ff.,
JoäL Festschr. z. Philologenvers. 1907 S. 295 ff. u. a.
Zell er, Grundriß. 9
130 Zweite Periode.
sehen Philosophierens hinaus : aus der sokratischen Dialektik
erwächst seine Ideenlehre, aus den ethischen Grundsätzen
seines Lehrers eine ausgeführte Ethik und Politik, und beide
ergänzt er nicht bloß durch eine mit seiner Metaphysik und
seiner Ethik eng verbundene Anthropologie, sondern auch
durch eine Naturphilosophie, welche die auffallendste Lücke
der sokratischen Philosophie seinem ganzen Standpunkt ent-
sprechend ausfüllt. Diesem Bedürfnis der Systematik ent-
spricht es, wenn das wissenschaftliche Verfahren des Sokrates
nicht allein tatsächlich nach der Seite der Begriffsbildung
vertieft, nach der der Begriffsentwicklung erweitert wird,
sondern auch die Regeln dieses Verfahrens bestimmter fest-
gestellt werden und dadurch die aristotelische Logik sich
vorbereitet. Doch wird in den platonischen Schriften die
sokratische Weise der dialogischen Gedankenentwicklung fest-
gehalten, weil die Wahrheit nicht als überlieferte, sondern
nur als selbstgefundene besessen werden kann ; aber das per-
sönliche Gespräch wird hier zum kunstmäßigen fortgebildet,
und auch dieses nähert sich mehr und mehr dem fortlaufen-
den Vortrag. Den Mittelpunkt dieser Gesprächführung bildet
Sokrates : teils aus Pietät, teils aus künstlerischen Rücksichten,
teils und vor allem, weil sich die Philosophie als lebendige
Kraft nur an dem vollendeten Philosophen vollkommen dar-
stellen läßt. Zur Belebung dieser Darstellung dienen auch die
Mythen, in denen sich ebenso wie in der geistvollen Mimik
vieler Gespräche Piatons Dichternatur betätigt; zugleich deuten
sie aber auch auf die Lücken des Systems hin, da sie eben
nur da einzugreifen pflegen, wo sich der Gegenstand einer
genaueren wissoDschaftlichen Bestimmung entzieht.
Die xenokratische Einteilung der Philosophie in Dialektik,
Physik und Ethik (vgl. § 51) findet sich der Sache, wenn auch
nicht der Fonn nach, schon bei Piaton ; diesen systematischen
Ausführungen sind aber die propädeutischen voranzustellen,
welche in den Schriften aus seinen früheren Jahren den
größten Raum einnehmen und auch in späteren wiederkehren.
§ 42. Die propädeutische Begründung der piaton. Philosophie. 131
§ 42. Die propädeutische Begründung der
platonischen Philosophie.
Um die Berechtigung und die Aufgabe der Philosophie
festzustellen, weist Piaton sowohl dem gewöhnlichen Bewußt-
sein als der sophistischen Aufklärung, die sich an seine Stelle
setzen wollte, Mängel nach, denen nur durch philosophisches
Erkennen und Leben begegnet werden könne. Jenes ist in
seinem theoretischen Verhalten vorstellendes Bewußtsein, es
sucht die Wahrheit teils in der Wahrnehmung, teils in der
Vorstellung oder Meinung (do^a) ; sein praktischer Charakter
spricht sich in der gewöhnlichen Tugend und den herrschen-
den sittlichen Grundsätzen aus. Piaton seinerseits zeigt, daß
das Wissen weder in der Wahrnehmung noch in der richtigen
Vorstellung bestehe; denn die Wahrnehmung zeige uns die
Dinge nicht, wie sie sind, sondern nur, wie sie uns erscheinen,
und eben deshalb mit den wechselndsten und entgegen-
gesetztesten Bestimmungen (Theät. 151 E ff. u. a. St.); die
Vorstellung aber sei sich, auch wenn sie ihrem Inhalte nach
richtig ist, ihrer Gründe nicht bewußt; sie beruhe nicht auf
Belehrung, sondern auf bloßer Überredung und sei daher
immer in Gefahr, in Irrtum umzuschlagen; während das
Wissen immer wahr sei, könne die Vorstellung sowohl wahr
als falsch sein, aber auch die richtige Vorstellung stehe doch
nur in der Mitte zwischen dem Wissen und Nichtwissen
(Menon 97 ff. Theät. 187 ff. Symp. 202. Tim. 51 E. u. a.).
Nicht anders verhält es sich aber nach Piaton auch mit der
gewöhnlichen Tugend. Auf Gewöhnung und richtiger Vor-
stellung, nicht auf Wissen beruhend und deshalb auch wirk-
licher Lehrer entbehrend, ist sie in ihrem Bestände dem Zu-
fall (der d^ela pioiqa) preisgegeben (Menon 89 D ff. Phädon
82 A u. a.) ; sie ist so unklar über sich selbst, daß sie neben
dem Guten auch Böses zu tun erlaubt (den Freunden Gutes,
den Feinden Böses), und so unrein in ihren Motiven, daß
sie die sittlichen Anforderungen selbst nur auf Lust und Vor-
teil zu gründen weiß (Rep. I, 334 Bf. II, 362 E ff.). Nur das
132 Zweite Periode.
Wissen gewährt eine sichere Bürgschaft für die Richtigkeit
des Handelns, denn dieses richtet sich immer nach der An-
sicht des Handelnden, niemand ist freiwillig böse (vgl. S. 102);
und Piaton führt deshalb in seinen früheren Schriften alle
Tugenden mit Sokrates auf die Einsicht zurück, ohne zu
sagen, ob und inwiefern trotzdem von mehreren Tugenden
gesprochen werden kann; und ebenso erklärt er (Phädon
68 B ff.) die Einsicht für das einzige, was der Mensch sich
zum Lebenszweck machen und wofür er alles andere hin-
geben solle. Diese Einsicht ist aber bei denen, welche sich
selbst ihrer Zeit als Tugendlehrer empfahlen, den Sophisten
(denen Piaton um so weniger gerecht wird, je schärfer er
sich selbst von ihnen zu unterscheiden sich gedrungen fühlt),
so wenig zu finden, daß ihre Lehre vielmehr alle Grundlagen
der Wissenschaft wie der Sittlichkeit zerstören würde. Der
Satz, daß der Mensch das Maß aller Dinge, daß für jeden
wahr sei, was ihm wahr scheint, hebt alle Wahrheit und so
auch seine eigene auf; auch läßt er sich schon durch die
Meinungen über Zukünftiges widerlegen (Theät. 170f. 177 ff.).
Die Behauptung, daß die Lust der höchste Lebenszweck, und
daß jedem erlaubt sei, was ihm gut dünkt, verwechselt das
Gute mit dem Angenehmen, das Wesenhafte und Unveränder-
liche mit dem Werdenden, welches keiner festen Begrenzung
fähig ist, das unbedingt Wertvolle mit dem, was sowohl
schlecht als gut sein kann, und was in der Regel durch sein
Gegenteil, die Unlust, bedingt ist (Gorg. 466 ff. 488 ff. Phileb.
23 ff. Rep. I, 348 ff VI, 505 C. IX, 583 f.). Die Sophistik,
welche diese Grundsätze aufstellt, kann ebenso wie die
Rhetorik, welche sie praktisch verwertet, nur als das Gegen-
teil aller wahren Lebenskunst und Wissenschaft, nur als
eine von jenen Afterkünsten, jenen unwissenschaftlichen
Fertigkeiten betrachtet werden, die den Schein an die Stelle
des Seins setzen (Gorg. 462 ff. Soph. 223 B ff. 232 ff. 254 A.
264 D ff. Phädr. 259 E ff.).
' Nur die Philosophie leistet das wirklich, was die
Sophistik verspricht. Ihre Wurzel ist der Eros, das Streben
§ 42. Die propädeutische Begründung der piaton. Philosophie. 133
des Sterblichen, sich zur Unsterblichkeit zu erheben, welches
im Fortschritt vom Sinnlichen zum Geistigen, vom Einzelnen
zum Allgemeinen, erst in der Anschauung und Darstellung
der Idee sein eigentliches Ziel erreicht (Symp. 201 D ß.
Phädr. 243 E fF.). Das Mittel zur Erkenntnis der Ideen ist
aber das begriffliche oder dialektische Denken (dialeycTinc^
fjiid^odog Rep. VII, 533 C), und dieses hat eine doppelte Auf-
gabe: die Bildung der Begriffe, durch die wir vom Einzelnen
zum Allgemeinen, vom Bedingten zum Unbedingten aufsteigen,
und ihre Teilung, welche uns methodisch durch die natür-
lichen Zwischenglieder vom Allgemeinen zum Besonderen
herabführt und uns dadurch über das gegenseitige Verhältnis
der Begriffe, ihre Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit, ihre
Über-, Unter- und Beiordnung unterrichtet. In der Begriffs-
bildung folgt Piaton den gleichen, von ihm nur ausdrück-
licher ausgesprochenen Grundsätzen wie sein Lehrer; als
ein eigentümliches Hilfsmittel dient ihm hierbei jene Prüfung
der Voraussetzungen an ihren Konsequenzen, die im Parme-
nides unter Zenons Einfluß die Form einer antinomischen
Begriffsentwicklung annimmt. Für die Einteilung verlangt
er, daß sie sich auf die qualitativen Unterschiede der Dinge
gründe, und daß sie stetig fortschreite, ohne ein Mittelglied
zu überspringen (denn gerade dadurch unterscheidet sich
nach Phileb. 18 A. S.oph. 253 B ff. das dtaXe^TtyLiog und das
eQiauxwg Ttoielad^ai tovq X6yovQ)\ und er gibt deshalb der
Zweiteilung vor jeder anderen den Vorzug *). Auch über die
Richtigkeit des sprachlichen Ausdrucks hat, wie Pia ton im
Kratylos zeigt, der Dialektiker zu entscheiden, da sie ganz
davon abhängt, inwieweit er das Wesen der zu bezeichnen-
den Dinge darstellt; wogegen es verkehrt ist, den Worten
die Aufschlüsse entnehmen zu wollen, die nur der Begriff der
Sache gewährt. Wie aber das begriffliche Erkennen und das
^) Hauptquellen für das Obige sind: Phädr. 265 C ff. Bep. YII,
533 C f. 537 C. VI, 511 B. Parm. 135 C ff. Soph. 251 ff. Polit. 262 f.
Phileb. 16Bff.
134 Zweite Periode.
sittliche Handeln bei Sokrates aufs engste verknüpft waren,
so verhält es sich auch bei Piaton: die Philosophie begreift
nach seiner Auffassung nicht bloß alles Wissen, sobald dieses
in der rechten Art betrieben wird, unter und in sich, sondern
sie sichert auch allein und unfehlbar die Erfüllung der sitt-
lichen Aufgaben. Sie ist Erhebung des ganzen Menschen
aus dem Sinnenleben, Hinwendung des Geistes zur Idee;
eine bloße Vorbereitung für sie ist (Rep. VII, 514 ff. 521 C ff.
II, 376 E ff. III, 401 B ff.) alle sonstige Bildung und Erziehung :
die Bildung des Charakters durch Musik und Gymnastik^
durch die man das Gute zu tun, das Schöne zu lieben sich
gewöhnt, die Bildung des Denkens durch die mathematischen
Wissenschaften, deren Hauptaufgabe es ist, vom Sinnlichen
zum ünsinnlichen hinüberzuleiten ; ihr eigentliches Organ aber
ist die Kunst des begrifflichen Denkens, die Dialektik, und
der wesentliche Gegenstand dieses Denkens sind die Ideen.
§ 43. Die Dialektik oder die Ideenlehre.
Wenn Sokrates erklärt hatte, nur die Erkenntnis der
Begriffe gewähre ein wahres Wissen, so geht Piaton zu der
weiteren Behauptung fort, nur dem in den Begriffen Gedachten^
nur den Formen der Dinge, den Ideen, komme ein wahres,
und ursprüngliches Sein zu. Dieser Satz ergab sich au&
jenem vermöge der Voraussetzung, in der Piaton mit Parme-
nides (s. o. S. 56 f.) übereinstimmte , daß nur das Seiende
als solches erkannt werden könne und daher die Wahrheit
unsrer Vorstellungen durch die Wirklichkeit ihres Gegen-
standes bedingt sei und mit ihr gleichen Schritt halte (Rep.
V, 476 E ff. VI, 511 D. Theät. 188 D ff.), daß das Gedachte
von dem Vergestellten sich ebenso durchgreifend unterscheiden
müsse wie das Denken von der Vorstellung (Tim. 51 D f.).
Auf diesem Standpunkt erschien die Realität der Ideen als.
die unerläßliche Bedingung für die Möglichkeit des wissen*
schaftlichen Denkens^). Das gleiche ergab sich aber auch
^) Parm. 135 B : et y^ jis rf ^ . . . av fxr] idaet, tMri rtSv ovxtav'
§ 48. Die Dialektik oder die Ideenlehre. 135
aus der Betrachtung des Seins als solchen. Alles, was wir
wahrnehmen, unterliegt (wie Heraklit gezeigt hatte) einer
unablässigen Veränderung; es schwebt immer zwischen ent-
gegengesetzten Zuständen y stellt keine seiner Eigenschaften
rein und ganz dar; ein Bleibendes, sich selbst Gleiches, mit
keinem andern Vermischtes kann nur das sein, was, den
Sinnen unzugänglich, bloß durchs Denken erkannt wird.
Alles Einzelne ist ein Vielfaches und Geteiltes ; aber die
Einzeldinge werden zu dem, was sie sind, nur durch ihr
gemeinsames, im Begriff erfaßtes Wesen. Alles Werdende
hat seinen Zweck an einem Sein: es ist so, weil es gut ist,
daß es so sei (die Welt ist, wie Anaxagoras und Sokrates
lehrten, das Werk der Vernunft); und ebenso soll all unser
Tun einem vernünftigen Zweck dienen. Diese Zwecke
können aber nur in der Verwirklichung dessen liegen, in
dem das Denken die unwandelbaren Urbilder der Dinge
erkennt, der Begriffe^). Wir sind somit, wie Piaton glaubt,
in jeder Beziehung genötigt, das unsinnliche Wesen der Dinge
als das allein wahrhaft Seiende von ihrer sinnlichen Er-
scheinung zu unterscheiden.
Dieses Wesen der Dinge sieht nun der Philosoph, wie
schon aus dem bisherigen hervorgeht, in ihrer Form (eldogj
idia^ beides gleichbedeutende Ausdrücke), d. h. in dem All-
gemeinen, dem, was einer Reihe von Einzelwesen gemein-
schaftlich zukommt, ihren gemeinsamen Begriff ausmacht.
„Wir nehmen eine Idee an, wo wir eine Mehrheit von Einzel-
dingen mit demselben Namen bezeichnen" (Rep. X, 596 A
vgl. VI, 507 B. Theät. 185 B f. Parm. 132 C. Arist. Metaph.
XIII, 4. 1078 b 30. I, 9. 990 b. 6 u. v. a. St.); dagegen kann
ein Einzelding als solches (wie etwa die Seele, von der dies
^Ivai . . . ov^l Snoi TQiifjat riiv 6$dvotav 'i^a& [iri iiov iSiav rtov ovrtov
ixaarov Ttjv ttbriiv del €ha$, xal ovrtog r^y toO diaXiyiod-ai Svvafiiv
1) Phadon 74Aflf. 78Dff. 97B— 103C. Rep. V, 478 E ff. VH, 523 C ff.
X, 596 A. Tim. 27 D ff. 68 E f. Parm. 131 E f. Phileb. 54 Bf. Theat. 176 E.
Arist. Metaph. I, 6 Anf. XIII, 9. 1086 a 31 ff. vgl. I, 9. 990 b 6 ff.
136 Zweite Periode.
ßlTTER u. a. glaubten) niemals eine Idee sein. Dieses All-
gemeine existiert aber nach Piaton , dessen Streit mit Anti-
sthenes (s. S. 112) sich um diesen Punkt dreht, nicht bloß
in unserem Denken, aber auch nicht bloß im Denken der
Gottheit^). Sondern rein für sich und bei sich selbst bleibt
es immer in derselben Gestalt, keiner Veränderung irgend-
einer Art unterworfen, als das ewige Urbild dessen, was an
ihm teilhat, gesondert von diesem {xfaqig)^ nur mit dem
Verstände zu schauen (Symp. 211 A. Phäd. 78 D. 100 B. Rep.
VI, 507 B. Tim. 28 A. 51 B f.): die Ideen sind, wie Aristoteles
sie zu bezeichnen pflegt, x(ji)Qioid\ und gerade in diesem
ihrem Fürsichsein sind sie das allein wahrhaft und ursprüng-
lich Wirkliche, dem alles Werdende und Veränderliche zu
verdanken hat, was es von Wirklichkeit besitzt. Sie werden
daher die ovaia, das owtog op, o sariv 6V, das Ansichseiende
oder das Ansich der Dinge ^) genannt; und weil es von jeder
^) Das letztere eine Annahme, die seit der Zeit der neupythagoreischen
und neuplatonischen Schule bis heute viele Anhänger gefunden hat; Piaton
widerspricht der Meinung, daß die Ideen nur Gedanken und nicht außer
den Seelen vorhanden seien, Parm. 132 B ff. (vgl. Symp. 211 A). Tim. 51 B
ausdrücklich. S. Phil. d. Gr. II 1 *, 664 ff., wo die modernen Vertreter der
Ansicht, daß die Ideen nur menschliche Gedanken seien, und die ihr ver-
wandte Auffassung Lotzes, Cohens, LuTOSLAWSEls u. a., daß das Fürsichsein
der Ideen nur ihre stets sich selbst gleiche Geltung und Bedeutung ausdrücke
(vgl. die diesem Standpunkt entsprechende Darstellung der Ideenlehre bei
Vorländer Gesch. d. Phil. I ^ S. 92 ff.), als unhaltbar erwiesen wird. Auf
demselben Boden steht Natorp Piatons Ideenlehre (1903), der sich nament-
lich an Cohen anschließt und durch eine sehr scharfsinnige Interpretation
der einzelnen Dialoge den Nachweis zu führen sucht, daß die Ideen Pl.s
in Wahrheit keine verdinglichten Begriffe, keine Substanzen, wie sie Arist.
in völligem Mißverständnis ihrer Bedeutung aufgefaßt habe , sondern
Methoden , Gesetze , reine Setzungen des Denkens seien. Damit sind die
Grundsätze des kritischen Idealismus Kants in der Gestalt, wie er bei Cohen
und Natorp erscheint, auf Piaton übertragen. Die Unzulänglichkeit der von
Natorp für seine These vorgebrachten Gründe hat H. Gomperz Arch. f. G.
d. Phil. XVIII, 441 ff. dargetan.
2) avro exaOTOv, uvto ro xaiov, ^txaiov avro Phäd. 65 D. 78 D,
ttVTOif ^eanoTov, o eari ötanlrrig Parm. 133 D, a(fa(Qug avTrjs rijs d-eias
Phileb. 62 A, avjo xaXov xal avTO ayadov, o ioTtv (^xftajov Rep. VI,
§ 48. Die Dialektik oder die Ideenlehre. 137
Klasse von Dingen nur eine Idee gibt (Pann. 132 A. C.
Rep. VI, 493 E. 507 B), werden sie auch als hvdöeg oder /äo-
vdöeg bezeichnet (Phileb. 15 A f.). Sie stehen also der Viel-
heit der Dinge als das Einheitliehe, ihrer Wandelbarkeit als
das Unveränderliche gegenüber. Wenn wir in der Sinnenwelt
mit Heraklit nur ein Werden finden können, so zeigen uns
die Ideen das Sein, in dem Piaton mit dem von ihm so hoch-
verehrten Parmenides den einzigen wahren Gegenstand der
Wissenschaft erkennt. Aber doch will er dieses Sein nicht
wie das der Eleaten als ein solches gedacht wissen, das jeden
Unterschied von sich ausschließt: er zeigt im Sophisten
(244 B ff. 251 ff.), daß jedes Seiende, als ein bestimmtes,
trotz seiner Einheit eine Mehrheit von Eigenschaften, und in
seinem Unterschied von allem andern unendlich viel Nicht-
sein (d. h. Anderssein) an sich- habe, daß daher bei jedem
Begriff untersucht werden müsse, mit welchen andern er in
Gemeinschaft treten könne und mit welchen nicht; und im
Parmenides widerlegt er auf indirektem Wege sowohl die
Annahme, daß es nur eine Vielheit ohne Einheit, als die
andre, daß es nur eine Einheit ohne Vielheit gebe. In
seiner späteren Zeit bezeichnete er deshalb die Ideen im An-
schluß an die Pythagoreer als Zahlen (vgl. § 50); in seinen
Schriften findet sich diese Darstellungsform noch nicht, aber
doch nähert sich ihr der Philebos, wenn er 14 C ff. mit deut-
licher Hinweisung auf die pythagoreische Lehre (und speziell
Philolaos) auseinandersetzt, daß nicht bloß die Dinge, sondern
auch die einheitlichen ewigen Wesenheiten aus Einem und
Vielem bestehen, Grenze und Unbegrenztheit in sich haben.
Und ebensowenig soll die Unveränderlichkeit der Ideen so
gefaßt werden, daß es unmöglich würde, sie als die Ursachen
des Gewordenen und Veränderlichen zu begreifen. Nur von
ihnen kann ja diesem das Sein kommen, an dem es teilhat;
507 B — daher bei Aristoteles nicht bloß avTO xo aya&ov usw., sondern
auch uvTo aya&ov, uvri IV xal Svy und mit einer, wie es scheint, von
Piaton überkommenen Ausdrucksweise uvToav&Qtonogf avTouyad^ovj avro-
iTiiarri/Ltrjf avxoixaaiov usw., y^\, Bonitz Ind. Arist. 124 b. 52 ff. 123 b. 46 tf.
138 Zweite Periode.
und wirklich bezeichnet auch Piaton im Phädon 99 D ff. die
Ideen als die Ursachen, durch die alles wird, was es ist;
nach Rep. VI, 508 E. VII, 517 B ist die Idee des Guten die
Ursache aller Vollkommenheit, alles Seins und Erkennens;
mit dem Guten feilt aber (Phileb. 22 C) die göttliche Ver-
nunft zusammen, und an der gleichen Stelle, welche sonst
die Ideen einnehmen, treffen wir im Philebos (23 C f. 26 E f.
28Cff.) die „Ursache", von der alle Ordnung und Vernunft
in der Welt stammt. Noch bestimmter zeigt der Sophist
(248 A ff.), daß das wahrhaft Seiende als wirkende Kraft ge-
dacht, daß ihm daher Bewegung, Leben, Seele und Vernunft
beigelegt werden müsse. Wie sich dies aber mit der ün-
veränderlichkeit der Ideen verträgt, hat Piaton nicht zu
zeigen versucht, und je mehr er seine Gedanken zum System
entwickelte, um so mehr mußte die dynamische Auffassung
der Ideen als wirkender Kräfte gegen die ontologisch-teleo-
logische, nach der sie die unveränderlichen Formen und Ur-
bilder der Dinge sind, zurücktreten*).
Da nun die Ideen nichts andres sind als die allgemeinen
Begriffe, zu metaphysichen Realitäten verselbständigt, so muß
es von allem Ideen geben, was sich auf einen allgemeinen
Begriff zurückführen, mit einem gemeinsamen Namen be-
zeichnen läßt (s. S. 135). Diese Folgerung hat Piaton auch
wirklich gezogen. Wir finden in seinen Schriften Ideen von
allem Möglichen, nicht bloß von Substanzen, sondern auch
von Eigenschaften, Verhältnissen und Tätigkeiten, nicht bloß
von Naturdingen, sondern auch von Kunsterzeugnissen, nicht
bloß von Wertvollem, sondern auch von Schlechtem und Ge-
ringem ; die Größe an sich, die Zweiheit an sich, den Namen
an sich, das Bett an sich, den Sklaven an sich, die Idee
des Schmutzes, der Ungerechtigkeit, des Nichtseienden usw.
') [Daß im Soph. eine neue Auffassung der Ideenlehre begründet wird,
die sich von der früheren wesentlich unterscheidet, ist S. 128 Anm. 1 be-
merkt worden. Spuren dieser Auffassung finden sich allerdings schon in
den oben angeführten Stellen des Phädon und des Staates; aber zur vollen
Entfaltung kommt sie erst in den späteren Dialogen.]
§ 44. Piatons Physik. Die Materie and die Weltseele. 139
Erst in einer späteren Zeit beschränkte Piaton die Ideen auf
Naturdinge (vgl. § 50). Alle diese Ideen stehen untereinander
in einem bestimmten Verhältnis, dessen systematische Dar-
stellung die Aufgabe der Wissenschaft ist (vgl. S. 133). In-
dessen ist nicht allein der Gedanke einer apriorischen Kon-
struktion dieses Systems der BegriflFe Piaton fremd, sondern
auch zu einer logischen Darstellung nimmt er kaum einen
Anlauf. Nur über seine oberste Spitze hat er (Rep.VI, 504 E ff.,
VII, 517 B f.) sich eingehender geäußert, indem er als solche
die Idee des Guten bezeichnet. Alles in der Welt ist so,
wie es ist, weil es so am besten war, und es wird nur dann
wirklich begriffen, wenn es auf das Gute als seinen letzten
Zweck bezogen wird (Phädon 97 B ff.). Dieser Gedanke
nimmt für Piaton die Gestalt an, daß das Gute der letzte
Grund alles Seins und Erkennens, daß die Idee des Guten
es sei, die, über beides erhaben, dem Seienden seine Wirk-
lichkeit, dem Erkennenden seine Verntinftigkeit und sein
Wissen gewähre. Das Gute feilt also für ihn als der abso-
lute Grund alles Seins mit der Gottheit zusammen, die auch
Tim 28 C. 37 A ganz so wie jenes charakterisiert und Phileb.
220 (vgl. die abweichende Ansicht Speusipps bei Stob. Ekl.I,
c. 1, p. 35, 3 W) für identisch mit der göttlichen Vernunft
erklärt wird. Nun müßte freilich das Gute, wie alle Ideen,
ein Allgemeines und als höchste Idee das Allgemeinste, die
oberste Gattung sein, und so fragt es sich, wie es zugleich
die Gottheit, also ein persönliches Wesen, sein könne. Allein
diese Frage hat Piaton ohne Zweifel so wenig aufgeworfen,
als er die Frage nach der Persönlichkeit Gottes überhaupt
aufwarf.
§ 44. Piatons Physik. Die Materie und die
Weltseele.
Wenn jede Idee eine ist, sind es der Dinge, die unter
sie fallen, unbestimmt viele; wenn jene ewig und unwandel-
bar ist, sind diese entstanden, vergänglich und in beständiger
Veränderung begriffen ; wenn jene das, was sie ist, rein und
140 Zweite Periode.
ganz ist, sind sie dies niemals; wenn jener ein vollkommenes
Sein zukommt, schweben sie ebenso zwischen Sein und
Nichtsein, wie die Vorstellung, deren Gegenstand sie sind,
zwischen Wissen und Nichtwissen. Diese UnvoUkommenheit
des sinnlichen Daseins läßt sich, wie Pia ton glaubt, nur
daraus erklären, daß es bloß teilweise aus der Idee, zum
andern Teil dagegen aus einem andern von ihr verschiedenen
Prinzip stammt; und da nun alles, was von Realität und
Vollkommenheit in ihm ist, von der Idee herrührt, wird das
Wesen jenes zweiten Prinzips nur in dem gesucht werden
können, was die sinnliche Erscheinung von der Idee unser-
scheidet: es wird nur als unbegrenzt, durchaus veränderlich;
nichtseiend und unerkennbar gedacht werden können. Eben
dies sind nun die Bestimmungen, die Piaton jenem Grunde
des sinnlichen Daseins beilegt, den man mit einer auf Aristo-
teles zurückgehenden Bezeichnung die platonische Materie
zu nennen pflegt. Er beschreibt ihn als das Unbegrenzte
(Phileb. 24 A ff.) oder, wie er (nach Aristoteles) später sagte,
das Große und Kleine; als das, was an sich selbst gestaltlos,
allen den wechselnden Gestalten der Erscheinung zugrunde
liege und sie in sich aufnehme, als den Raum {x^Q^^ TOTtog),
der allem Werdenden eine Stätte darbiete, als etwas, das
weder mit dem Denken noch mit der Wahrnehmung und
Vorstellung erkannt, sondern nur mit Mühe (durch einen
Xoyiofxbg vod-og) erschlossen werde (Tim. 49 A — 52 D) ; und
damit stimmt es überein, daß er ihn nach Aristoteles^),
EuDEMOS^) und Hermodoros (b. Simpl. Phys. 248, 13) auch
geradezu als das Nichtseiende bezeichnete. Denn den leeren
Raum hatten schon Leukipp und Demokrit dem Nichtseien-
den gleichgesetzt, und wenn in den sinnlichen Dingen Sein
und Nichtsein gemischt sind, ihr ganzes Sein aber aus der
Idee stammt, bleibt für ihren zweiten Bestandteil, die Materie,
nur das Nichtsein übrig ; wenn sich das denkende Erkennen
1) Phys. I, 9. 191 b 36. 192 a 6 vgl. III, 2. 201 b 20.
«) Bei Simpl. Phys. 431, 8 ff. vgl. Tim. 52 E. 57 E.
§ 44. Piatons Physik. Die Materie und die Weltseele. 141
(nach Rep. V, 477 A) auf das durchaus Seiende bezieht, die
Vorstellung und Wahrnehmung auf das zwischen Sein und
Nichtsein Schwebende, so kann das, was sich auf keine von
beiden Arten erkennen läßt, nur das Nichtseiende sein. Wir
haben daher unter Piatons sogen. Materie in seinem Sinn
nicht eine raumerfUllende Masse, sondern nur den Raum
selbst zu verstehen, wie er sie denn auch nie das nennt,
aus dem, sondern immer nur das, in dem die Dinge ent-
stehen : die Körper bilden sich nach ihm (vgl. § 45) dadurch,
daß gewisse Teile des Raumes in die Gestalten der vier
Elemente gefaßt werden; daß es aber nicht eine körperliche
Masse ist, aus der sie so entstehen, erhellt unwidersprechlich
aus der Behauptung, sie lösten sich beim Übergang ineinander
in ihre kleinsten Begrenzungs flächen auf, um sich aus
ihnen neu zusammenzusetzen. Eine strenge Durchführung
dieser Theorie war freilich schwer, und so stellt Piaton
(Tim. 30 A. 52 D f. 69 B) die Sache auch wieder so dar, als
ob die Gottheit, da sie an die Bildung der Elemente ging,
„alles Sichtbare" als ein chaotisches, regellos bewegtes Ge-
menge vorgefunden hätte. Allein diese Schilderung kann in
keinem Fall eigentlich genommen werden, denn auch auf
eine raumerfUllende, sonst aber (nach Tim. 49 E ff. 69 B)
jeder Gestaltung und Bestimmung entbehrende Masse würde
sie nicht passen, da eine solche nach Piatons ausdrücklicher
Erklärung (Tim. 31 B) nicht sichtbar gewesen wäre, und
auch die „Spuren" der Elemente (53 B. 52 D) nicht einmal
vorübergehend an sich gehabt haben könnte. Muß man aber
einmal zwischen dieser Darstellungsform und Piatons eigent-
licher Meinung unterscheiden, so hindert uns nichts, auch
die hier vorgenommene Verdichtung des Raumes zum Stoffe
unter die mythischen Züge zu rechnen, an denen der Timäos
so reich ist*).
^) [Über diese Gleichsetzung der platonischen Materie mit dem (leeren)
Räume s. das Nähere Phil. d. Gr. II, 1 S. 727 flF. VgL u. a. auch Wdjdkl-
BAKD Gesch. d. alten Phil.« 8. 122 und Piaton (1900) S. 89. 106 f. Die
entgegengesetzte Ansicht, daß unter der Urmaterie eine raumerfuUende
142 Zweite Periode.
Sofern es nun nur das Nichtseiende sein soll, was die
Dinge von den Ideen unterscheidet^ ist das Reale in beiden
dasselbe, die Dinge verdanken alles, was von Sein in ihnen
ist, der Gegenwart (Ttagovaia) der Ideen, ihrer Teilnahme
(fie&e^ig, yioivwvia) an diesen. Sofern andrerseits jenes
„Nichtseiende" doch alle die Eigenschaften bewirkt, durch
welche das Körperliche sich von dem Unkörperlichen unter-
scheidet, muß in ihm eine zweite Art der Ursächlichkeit
neben der der Ideen erkannt werden, die der blinden, ver-
nunftlosen Notwendigkeit, welche sich nicht auf die Natur-
zwecke, sondern auf die Bedingungen ihrer Verwirk-
lichung bezieht und die Vernunft in dieser beschränkt (Tim.
46 C f. 48 A. 56 C. Phädon 98Bff.); neben dem, was die
Dinge von den Ideen zu Lehen tragen, ist in ihnen ein
zweiter Bestandteil, dem wir gleichfalls ein Sein, nur von
andrer Art als das der Ideen, beilegen müssen: die Ideen
und die Dinge erscheinen getrennt voneinander, jene sind die
Urbilder {TtaQadeiy/xcna Theät. 176 E. Tim. 28 C. u. ö.), diese
das Abbild. Von jenem Standpunkt aus stellt sich das
platonische System zwar nicht als ein pantheistisches (denn
die vielen Ideen sind nicht bloß Teile oder Emanationen
einer höchsten), aber doch als ein monistisches, ein reiner
Idealismus dar: die Dinge sind den Ideen immanent. Aus
dem andern betrachtet erscheint es dualistisch : die Ideen sind
von den Dingen und diese von jenen getrennt. Aber in seiner
Eigentümlichkeit hat man es nur dann begriffen, wenn man
erkennt, weshalb sich Piaton weder der einen noch der andern
Betrachtungsweise enthalten und somit keine von beiden
Masse zu verstehen sei, vertritt nach dem Vorgange namhafter Forscher
GoMPEBz Griech. Denker II, 484. 606, wobei er sich besonders darauf
beruft, daß PI. den leeren Raum im Tim. (79 B u. ö.) ausdrücklich leugne.
Die Schwierigkeit, die hieraus der Zell ersehen Auffassung erwächst, wird
beseitig^, wenn man mit Natobp Pl.s Ideenlehre S. 355 annimmt, daß der
Raum im Tim. der rein geometrische Raum sei, auf den sich die physika-
lischen Unterschiede des Vollen und Leeren überhaupt nicht anwenden
lassen.]
§ 44. Piatons Physik. Die Materie und die Weltseele. 143
rücksichtslos durchführen, ebensowenig aber auch beide
widerspruchslos vereinigen konnte.
Ist aber das Körperliche von der Idee durch einen so
weiten Zwischenraum getrennt, wie Piaton annimmt, so be-
darf es nur um so mehr eines Mittelgliedes, das beide ver-
knüpft, und dieses kann nichts andres sein als die Seele.
Nur die Seele als das Sichselbstbewegende kann der Grund
der Bewegung und des Lebens (qqxV ^'^^^(f^oyg) für die
Körperwelt sein; nur durch ihre Vermittlung kann dieser
die Vernunft eingepflanzt, die Ordnung des Weltgebäudes,
die Vorstellungs- und Denkkraft der einzelnen Vernunft-
wesen hervorgebracht werden ^). Von der Bildung der Welt-
seele gibt der Timäos (34 B ff.) eine Schilderung , als deren
ernstlichei in viel phantastisches Beiwerk eingehüllte Meinung
sich aber nur das ergibt, daß die Seele zwischen den Ideen
und der Körperwelt in der Mitte stehe und beide verknüpfe,
unkörperlich und sich selbst gleich, wie jene, aber durch
diese verbreitet und vermöge ihrer eigenen ursprünglichen
Bewegung sie bewegend ; daß sie alle Zahl- und Maßverhält-
nisse in sich befasse, alle Gesetzmäßigkeit und Harmonie in
der Welt erzeuge; daß ebenso alle Vernunft und Erkenntnis,
in dem Weltganzen wie in dem Einzelwesen, durch ihre Ver-
nünftigkeit und ihr Erkennen vermittelt sei; während die
Frage nach ihrer Persönlichkeit von Piaton offenbar noch
gar nicht aufgeworfen wurde. — Die gleiche Stellung, wie
hier die Weltseele, nimmt im Philebos (25 A ff.) die „Grenze"
(7t€Qag)j welche gleichfalls der Grund aller Ordnung und alles
Maßes sein soll, und in der aristotelischen Darstellung der
platonischen Lehre (§ 50) das „Mathematische" ein, dessen
Betrachtung ja auch bei Piaton selbst (s. o.. S. 134) den
Übergang zu der der Ideen vermittelt; nur daß hier die
Form, bei der Seele die bewegende und belebende Kraft das
Bindeglied zwischen Idee und Erscheinung bildet. So wenig
aber Piaton beide einander unmittelbar gleichgesetzt hat, so
wenig läßt sich doch ihre nahe Verwandtschaft verkennen.
1) Phädr. 245 C. Gess. X, 891 E ff. Phileb. 30 A f. Tim. 30 A f.
144 Zweite Periode.
§ 45. Das Weltgebäude und seine Teile.
Um nun die Welt aus ihren letzten Gründen zu erklären,
bedient sich Piaton im Timäos der herkömmlichen Form
einer Eosmogonie. Er läßt den Weltbildner (drjfiiovQyog) im
Hinblick auf das Urbild des lebenden Wesens (das avto^ciov)
die Seele der Welt aus ihren Bestandteilen zusammenmischen
(S. 143), dann ihren Stoff in die Form der vier Elemente fassen
und schließlich aus ihnen die Welt bauen und mit den
organischen Wesen bevölkern. Indessen ist nicht bloß das
Einzelne dieser Darstellung großenteils mythisch, sondern
auch das Ganze hat eine so mythische Haltung, daß es
schwer ist, genau zu bestimmen, wieviel davon Piatons
eigentliche wissenschaftliche Überzeugung ausdrückt. Daß
er die wahre Ursache der Welt in der Vernunft, den Ideen,
der Gottheit erkennt, steht außer Zweifel; aber die Unter-
scheidung des Weltbildners von den Ideen (oder genauer:
von der höchsten der Ideen) gehört bereits zu den mythischen
Zügen (vgl. S. 139); und gebraucht er auch die Vorstellung
eines zeitlichen Weltanfangs, wie es scheint, nicht mit aus-
drücklichem Bewußtsein als bloße Form zur Einkleidung des
Gedankens an die Abhängigkeit aller Dinge von den idealen
Gründen, so steht sie doch mit andern Bestimmungen seiner
Lehre, namentlich mit der Ewigkeit des menschlichen Geistes
(S. 146), in einem so auffallenden Widerspruch, daß man
annehmen muß, es sei ihm bei ihr doch im wesentlichen nur
um jenen Gedanken zu tun; ob aber hierfür eine zeitliche
Weltentstehung nötig und ob sie an sich selbst denkbar sei,
habe er gar nicht untersucht*). Um so wichtiger ist ihm
aber jenes Allgemeine. Als das Werk der Vernunft ist die
Welt durchaus zweckmäßig eingerichtet: nur die Endursachen
sind die wahren Erklärungsgründe der Erscheinungen, die
^) Anders Gompebz , der Gr. D. II 484 ff. 605 f. darzulegen versucht,
daß es PI. mit der Erschaffung der Welt durch den Demiurgos voller Ernst
sei; s. jedoch Natobp PLs Ideenl. S. 339 f.
§ 45. Das Weli^bäude und seine Teile. 145
materiellen blo6 die Bedingungen, ohne die sie nicht möglich
wären (vgl. S, 142). Piaton legt daher der teleologischen
Naturbetrachtung einen ungleich höheren Wert bei als der
physikalischen, wie er dies im Timäos auch durch die
äußere Sonderung beider und die Voranstellung der ersteren
ausdrückt.
Der erste Schritt zur Bildung einer Welt war die ihrer
Grundstoffe, der vier Elemente. Piaton gibt flir diese eine
doppelte Ableitung. Er verlangt vom teleologischen Gesichts-
punkt aus Feuer und Erde als Bedingung für die Sichtbarkeit
und Betastbarkeit der Körper und dann ein Band zwischen
beiden, das in zwei Proportionalen bestehen müsse, weil es
sich hier um Körper handle ; und er bezeichnet mit Philolaos
(s. S. 49) vier von den fünf regelmäßigen Körpern als die
Grundformen von Feuer, Luft, Wasser, Erde; konstruiert
dann aber diese Körper selbst, über jenen hinausgehend, aus
den kleinsten rechtwinkligen Dreiecken, aus denen ihre Be-
grenzungsflächen sich zusammensetzen, und läßt sie beim
Übergang eines Elementes in ein andres (der deshalb nur
bei den drei oberen möglich ist) in jene Dreiecke sich auf-
lösen und aus ihnen neu bilden (vgl. S. 141). Jedes Element
hat seinen natürlichen Ort, dem es zustrebt; durch die Ge-
samtheit der Elemente ist aller Raum in der Welt vollständig
ausgefüllt.
Diese selbst denkt sich Piaton als vollkommene Kugel,
die Erde als Vollkugel in der Mitte ruhend, die Gestirne in
Sphären oder Ringen (so, wie es scheint, die Planeten) be-
festigt, durch deren Drehung sie herumgeführt werden ; wenn
alle Gestirne in ihre ursprüngliche Stellung zurückgekehrt
sind, ist das große Weltjahr (von 10 000 Jahren) abgelaufen,
mit dem Piaton vielleicht auch die von ihm angenommenen
Verheerungen der Erde durch Fluten und Brand (Tim. 22 C ff.
Gess. III, 677 A ff.) in Verbindung gesetzt hat. Die Gestirne
sind vernünftige, selige Wesen, die „sichtbaren Götter"; und
ebenso ist der Kosmos der eine alle andren Wesen in sich
Zell er, Grundrirs. 10
146 Zweite Periode.
befassende wahrnehmbare Gott, das Abbild des übersinnlichen,
unvergänglich und nie alternd, das vollkommenste und herr-
lichste von allem Geschaffenen.
§ 46. Piatons Anthropologie.
Zur Vollkommenheit der Welt gehört es, daß sie ebenso
wie ihr Urbild, das ai/ro^i^ovy alle Arten von lebenden Wesen
in sich enthalte. Indessen hat von diesen nur der Mensch
für Piaton ein selbständiges Interesse: den Pflanzen und
Tieren widmet er nur beiläufig einige ziemlich unerhebliche
Bemerkungen. Eingehender beschäftigt sich der Timäos mit
dem menschlichen Leibe; aber mit der platonischen Philo-
sophie stehen nur wenige von diesen physiologischen An-
nahmen in einem inneren Zusammenhang. Die Seele des
Menschen ist ihrem Wesen nach der des Weltganzen gleich-
artig, von der sie herstammt (Phileb. 30 A. Tim. 41 D f.
69 C f.) ; einfacher und unkörperlicher Natur ist sie durch
ihre Selbstbewegung Grund der Bewegung für ihren Leib;
mit der Idee des Lebens unzertrennlich verknüpft, hat sie
weder ein Ende noch auch^) einen Anfang ihres Daseins.
Aus einer höheren Welt in den irdischen Leib herabgekommen,
kehren die Seelen nach dem Tode, wenn sie ein reines und
dem Höheren zugewendetes Leben geführt haben, wieder
dorthin zurück, während die besserungsbedürftigen teils jen-
seitigen Strafen, teils einer Wanderung durch menschliche
und tierische Leiber unterworfen werden ; in seinem früheren
Dasein hat unser Geist die Ideen geschaut, an die er sich
beim Anblick ihrer sinnlichen Abbilder wieder erinnert*).
Die weitere Ausführung dieser Sätze hat Piaton in mythischen
Darstellungen gegeben, von denen er selbst andeutet, daß er
^) Nach Phädr. 245 C ff., Menon 86 A f. und der Konsequenz des Uü-
sterblichkeitsbeweises im Phädon 102 ff.; anders im Timäos, vgl. aber S. 144.
^ Die Belege för das Obige finden sich außer dem Phädon, der fünf
Beweise für die Unsterblichkeit fuhrt : Phädr. 245 C ff. Gorg. 523 ff. Menon
81 A ff. Eep. X, 608 C ff. Tim. 41 D ff.
§ 46. Platöns Anthropologie. I47
ihren einzelnen vielfach voneinander abweichenden Zügen
keinen wissenschaftlichen Wert beilege; aber sie selbst
sprechen seine wirkliche Überzeugung aus, und nur hinsieht*
lieh der Seelenwanderung fragt es sich, ob er den Eintritt
menschlicher Seelen in Tierleiber im Ernst annahm. Ver-
sucht man dagegen, Piaton (mit Teichmülleb) die Annahme
einer persönlichen Unsterblichkeit und Präexistenz abzu-
sprechen, so muß man die Erklärungen und Beweisführungen
des Philosophen in der unzulässigsten Weise umdeuten oder
das, was er als seine entschiedenste wissenschaftliche Über-
zeugung vorträgt, für eine bloße Metapher oder Anpassung
erklären; man übersieht aber dabei auch, wie eng der Un-»
Sterblichkeitsglaube bei Piaton durch die Lehre von der
Wiedererinnerung mit seiner Erkenntnistheorie, durch die
Annahme einer dereinstigen Vergeltung mit seiner Ethik und
Theologie, durch den Gegensatz zwischen dem Geistigen, das
ewig, und dem Körperlichen, das vergänglich ist, mit seiner
ganzen Metaphysik verknüpft ist^).
Diesen Ansichten gemäß kann Piaton das eigentliche
Wesen der Seele nur in ihrer geistigen Natur, ihrer Vernunft
ßoytüTiyioVj Phileb. 22 C vovg) suchen. Sie allein ist ihr gött-
licher und unsterblicher Bestandteil; erst beim Eintritt in
den Leib verband sich mit diesem der sterbliche ; nur in dem
Mythos des Phädros präexistiert auch dieser. Die sterbliche
Seele hat dann wieder zwei Teile : den Mut (ßv^iogy Sv\Loeideg)
und die Begierde (to iTtt^fiririytov, auch (piXoxQ'S^cetov). Die
Vernunft hat ihren Sitz im Kopf, der Mut in der Brust, die
Begierde im Unterleib (Rep. IV, 435 B ff. Tim. 69CfF.
^) [Doch scheint Pl.s Unsterblichkeitslehre ebenso wie seine Ansichten
von den Seelenteilen (s. u.) und den Ideen (s. S. 128 Anm. 1) gewisse Wand-^
Hingen durchgemacht zu haben (s. Gate The Platonic conception of im-*
mortality and connexion with the theory of idea 1904). Besonders auffallig
ist die Verschiedenheit der Auffassung im Phädon und im Gastmahl: in
iisnem ist die Seele im Gegensatze zum sterblichen Leibe unsterblich,
während dieses nur eine Unsterblichkeit durch ewige Fortzeugung des
Körpers sowohl wie der Seele kennt. S. Natorp Pl.s Ideenl. S. 167 ff.]
10*
148 Zweite Periode.
72 D ff. Phädr. 246). Wie aber freilich mit dieser Drei-
teilung der Seele ') die Einheit des persönlichen Lebens sich
▼ertrage, welchem Seelenteil das Selbstbewußtsein und der
Wille- angehöre, wie in der körperfreien Seele noch eine
Neigung zur Sinnen weit sein könne, wie die körperlichen
Zustände und die Erzeugung auf den Charakter des Menschen
den durchgreifenden Einfluß haben können, den er ihnen
zuschreibt, darüber gibt uns Piaton keinen Aufschluß. Ebenso-
wenig finden wir bei ihm eine Untersuchung über die Natur
des Selbstbewußtseins und des Willens, und wenn er die
Freiheit des letzteren entschieden voraussetzt (Rep. X, 617 E.
619 B. Tim. 41 E ff. Gess. X, 904 B f.), so fehlt es doch an
jeder Andeutung darüber, wie sich der ebenso bestimmt aus-
gesprochene sokratische Satz, daß niemand freiwillig böse
sei (Tim. 86 D ff. Gess. V, 731 C f. 734 B. IX, 860 D ff.
Menon 77 B ff. Prot. 345 D f. 358 B f.), damit vereinigen läßt.
^>§ 47. Piatons Ethik.
Piatons Ethik erhielt ihre wissenschaftliche Gestalt und
ihren idealen Charakter durch die Verbindung, welche die
ethischen Grundsätze seines Lehrers mit seiner Metaphysik
und seiner Anthropologie eingingen. Da die Seele ihrem
wahren Wesen nach der übersinnlichen Welt angehört und
nur in dieser ein wahres| und dauerndes Sein zu finden ist,
so jrird sich der Besitz des Guten oder die Glückseligkeit,
welche das letzte Ziel des menschlichen Lebens bildet, nur
durch die Erhebung in jene höhere Welt erreichen lassen;
der Leib dagegen und die Si nnlichkeit i st ein Grab und
Kerker der Seele, welche ihre^ ernünftigen ^Bestandteile erst
durch die Verbindung mit ihm erhalten hat, der Grund aller
Begierden und aller Störungen der geistigen Tätigkeit. Die
^) [Doch ging der Dreiteilang der Seele, die im Phädros und im Staat
naher beschrieben wird, wahrscheinlich eine andere Auffassung, die von der
Einheit der Seele (im Phädon), vorauf; vgl. S. 127 Anm. 1.]
§ 47. Piatons Ethik. 149
wa*hre Bestimmung des Menschen liegt daher in jener Flucht
aus dem Diesseits, welche dem Theäiet 176 B zufolge darin
besteht, daß man sich durch Tugend und Einsicht Gott ähn-
lich macht, in jenem philosophischen Sterben, auf welches
der Phädon (64 A — 67 B) das Leben des Philosophen zurück-
führt.^^ Sofern aber andererseits das Sichtbare doch das Ab-
bild des Unsichtbaren ist, ergibt sich die Aufgabe, die sinn-
liche Erscheinung als das Hilfsmittel zur Anschauung der
Idee zu benutzen und diese in jene einzuführen. Von diesem
Standpunkt geht Piaton in seinen Sätzen über den Eros
(S. 132 f.) und in der Untersuchung des Philebos über das
höchste Gut aus (die Phil. 61 ff. ihr Resultat zieht); denn
w^enn er auch dessen wertvollsten Bestandteil in der Vernunft
und Einsicht sucht, will er doch nicht allein das erfahrungs-
^^äßige Wissen, die richtige Vorstellung und die Kunst,
Sondern auch die Lust, soweit sie sich mit der Gesundheit
d^s Geistes verträgt, in seinen Begriff mit aufnehmen; wie
er andererseits auch, was den Schmerz betrifft (Rep. Xy
603 E f.), nicht Empfindungslosigkeit, sondern Beherrschung
und Mäßigung der Empfindung verlangt. (Wird aber auch
hierin die Bedeutung des Äußeren für den Menschen an-
erkannt, so ist doch die wesentliche Bedingung seines Glückes
nach Piaton ausschließlich seine geistige und sittliche Be-
schaffenheit, seine Tugend ; und sie ist dies nicht bloß wegen
des Lohnes, der ihr gleichfalls im Diesseits und im Jenseits
gesichert ist; sondern auch dann wäre der Gerechte un-
bedingt glücklicher als der Ungerechte, wenn jener von
Göttern und Menschen behandelt würde, wie es dieser, und
dieser, wie es jener verdient: Unrecht tun ist schlimmer als
Unrecht leiden, und für seine Vergehen gestraft zu werden,
wünschenswerter, ^^upiiraf los und infolge davon ungebessert
zu bleiben. DiÄ^als'die Schönheit und Gesundheit der
Seele Qst die Tugend unmittelbar auch die Glückseligkeit J
sie trägt ihren Lohn ebenso wie die Schlechtigkeit ihre
Strafe in sich selbst; sie ist die Herrschaft des Göttlichen
im Menschen über das Tierische und als solche das einzige,
150 _— — — ^^ Zweite Periode.
(^w^yiJXB frei und reich macht, (wasjins dauernde Befriedigung
und Gemütaruhe verschafft *^^::^3^
In seiner Tugend lehre selbst schließt Piaton sich an-
fangs ganz an Sokrates an, indem er die gewöhnliche Tugend,
weil sie nicht auf Einsicht gegründet ist, gar nicht als wirk-
liche Tugend gelten läßt und seinerseits umgekehrt alle
Tugenden auf die Einsicht zurückführt und mit ihrer Ein-
^ . h^t auch ihre Lehrbarkeit behauptet^^ So im Laches,
CHarmides und Protagoras *) (vgl. S. 132). ^Aber schon im
Menon (96 D ff.) räumt er ein, daß neben dem Wissen auch
die richtige Vorstellung zur Tugend bewegen könne, und in
der Republik (II, 376 E ff. III, 401 B ff. 410 B ff.) erkennt er
in dieser unvollkommenen, auf Gewöhnung und richtigen
Vorstellungen beruhenden Tugend die unentbehrliche Vorstufe
der höheren, auf wissenschaftliche Erkenntnis gegründeten.
^*^£ben80 gibt er aber jetzt nicht allein zu , daß die sittlichen
Anlagen, das ruhige und das feurige Temperament {aoxpqo"
0VV7} und ävdQsia Polit. 306 f.), die Sinnlichkeit, die Willens-
kraft und das Denkvermögen (Rep. III, 415. IV, 435 E f.
VI, 487 A) , an die einzelnen und an ganze Völker ungleich
verteilt seien, sondern seine Psychologie macht es ihm auch
möglich, mit der Einheit der Tugend eine Mehrheit von
Tugenden zu vereinigen, indem er jeder von den Grund-
tugenden einen bestimmten Ort in der Seele anweist.! Dieser
zählt er nun vier, deren Deduktion er zuerst versucht und
deren Zahl er zuerst fest bestimmt zu haben scheint. In
der richtigen Beschaffenheit der Vernunft besteht die Weis-
heit; darin, daß der Mut die Entscheidung der Vernunft
') Gorg. 504AfiF. Rep. I, 353 A flF. IV, 443 C ff. IX, 583 B ff. X,
609 B ff. Theat. 177 A f. u. ö.
^) Nach Natobp Ideenl. S. 10 ff. hätte PL noch im Prot, wie in der
Apologie im vollen Ernste, nicht etwa ironisch, die Nichtlehrbarkeit der
Tugend behauptet und wäre erst im Menon zu der Erkenntnis gelangt, daß
sie lehrbar sei , und zwar durch das Erwecken der Selbstbesinnung
{avdfivriats). Die hierfür beigebrachten Gründe sind jedoch nicht über-
zeugend.
§ 48. . Piatons Staatslehre. 151
über das, was zu fürchten oder nicht zu fürchten ist, gegen
Lust und Schmerz aufrecht hält, die Tapferkeit ; in der Über-
einstimmung aller Seelenteile über die Frage, wer von ihnen
zu befehlen und wer zu gehorchen hat, die Selbstbeeherrschung
(ao)g)Qoavvrj) ; in dem Ganzen dieses Verhältnisses, darin, dafi
jeder Seelenteil seine Aufgabe erfüllt und nicht über sie
hinausgreift, die Gerechtigkeit (Rep. IV, 441 C ff.). Dieses
chema zu einem ausgeführten System der Tugendlehre zu
entwickeln, hat Piaton nicht versucht; in seinen gelegent*
liehen Äußerungen über sittliche Tätigkeiten und Pflichten
stellt er uns die Ethik seines Volkes in ihrer edelsten Ge-
stalt dar; und wenn erJdurch einzelne Sätze, wie namentlich
durch das Verbot, den Feinden Böses zu tun (s. S. 131),
über sie hinausgeht, weiß er do&h bei anderen Punkteb, wie
in seiner Auffassung der Ehe, seiner Verachtung der Hand-
arbeit, seiner Anerkennung der Sklaverei j ihre Schranken
nicht zu durchbrechen.
§ 48. Piatons Staatslehre.
Zu dem Hellenischen in Piatons Ethik gehört vor allem
ihre enge Verbindung mit der Politik. Während aber die
altgriechische Auffassung die sittlichen Aufgaben fast ganz
in den politischen aufgehen ließ, führt Piaton umgekehrt die
politischen Aufgaben auf die sittlichen zurück. Er ist mit
Sokrates überzeugt, daß der Mensch zuerst an sich selbst
und erst an zweiter Stelle für das Gemeinwesen arbeiten solle
(Symp. 216 A); er findet nicht bloß unter den bestehenden
Verhältnissen für den Philosophen keinen Raum zu politischer
Tätigkeit (Rep. 488 A ff. u. ö.) , sondern er betrachtet diese
auch in seinem Idealstaat als ein Opfer, das er der Gesamt-
heit bringe (Rep. 519 C ff. 347 Äff. 500 Bf.); er hält das
Staatsleben überhaupt nur deshalb für notwendig, weil es das
einzige Mittel ist, um die Tugend in der Welt zu erhalten
und zur Herrschaft zu bringen (Rep. 490 E ff. u, ö.). Sein
wesentlicher Zweck ist daher die Tugend und ebendamit die
Glückseligkeit der Staatsbürger, seine Hauptaufgabe die Er-
152 Zweite Periode.
Ziehung des Volkes zur Tugend (Gorg. 464 Bf. 521 D ff.
Polit. 309 C. Rep. 500 D. u. 0.); und entspringt es auch zu-
nächst aus dem physischen Bedürfnis (Rep. 3(59 B ff.) ^ so
würde doch eine Gesellschaft, die sich auf die Befriedigung
der Bedürfnisse beschränkte (wie der kynische Eulturstaat),
den Namen eines Staates nicht verdienen (Rep. 372 D. Polit.
272 B). Alle wahre Tugend ruht aber auf wissenschaftlicher
Erkenntnis, auf der Philosophie. Die Grundbedingung jedes
tüchtigen Staatswesens ist daher die Herrschaft der Philo-
sophie oder, was dasselbe, der Philosophen (Rep. 473 Off.
Polit. 293 C). Diese Herrschaft muß eine unbedingte sein,
und sie kann nur den wenigen anvertraut werden, die dazu
fllhig sind, denn die Philosophie ist nicht Sache der großen
Masse (Polit. 293 A. Rep. 428 D f.). Die Verfassung des
platonischen Staates ist daher eine Aristokratie, die absolute,
durch kein Gesetz beschränkte Herrschaft der Sachverstän-
digen, der Philosophen (Rep. 428 E. 433 ff. Polit. 294 Äff.
297 A ff.). Damit dieser regierende Stand die erforderliche
Macht hat, und der Staat nach außen geschützt ist, muß zu
ihm als zweiter der Kriegerstand (^iJXofx«^, inUovqoi) hinzu-
kommen ; während die Masse des Volkes, die Landbauer und
Gewerbetreibenden, einen dritten, von aller politischen Tätig-
keit ausgeschlossenen, auf den Erwerb beschränkten Stand
bilden (Rep. 373 D ff.). Platon begründet diese Trennung
der Stände mit dem Grundsatz der Arbeitsteilung; ihr eigent-
liches Motiv liegt aber in der Überzeugung (Polit. 292 E
u. a. St.); daß nur eine Minderheit der Ausbildung für die
höheren politischen Funktionen fähig sei; und indem er nun
ferner voraussetzt (Rep. 415 ff.) , daß die Anlage dazu sich
in der Regel vererbe, nähert sich der Unterschied der drei
Stände einem Kastenunterschied ; er selbst vergleicht sie den
drei Teilen der Seele und verteilt die Tugenden des Gemein-
wesens an sie ebenso , wie die des einzelnen an jene (Rep.
427 D ff.). Damit aber die beiden höheren Klassen ihrem
Berufe genügen (um die Lebensweise und die Erziehung des
dritten Standes kümmert sich der aristokratische Philosoph
§ 49. Piatons Ansichten über die Religion und die Kunst. 153
nicht), mufi ihre Bildung und Lebensordnung ganz und gar
vom Staat geleitet und auf seine Zwecke berechnet sein.
Der Staat sorgt dafür, daß seine Bürger von den tüchtigsten
Eltern und unter den günstigsten Umständen erzeugt werden;
er gibt ihnen durch Musik (worüber S. 155) und Gymnastik
eine Erziehung, an der ebenso wie später an der politischen
und kriegerischen Tätigkeit auch die Frauen teilnehmen ; er
bildet die künftigen Regenten durch die mathematischen
Wissenschaften und die Dialektik für ihren Beruf aus, um
sie dann nach vieljähriger praktischer Tätigkeit, wenn sie
sich allseitig bewährt haben, im fünfzigsten Jahre in den
ersten Stand aufzunehmen, dessen Mitglieder die Staatsleitung
abwechselnd besorgen. Er nötigt sie aber auch in der Folge,
ganz ihm zu gehören, indem er durch Aufhebung des Privat-
eigentums und der Familie dem Erbfeind der Staatseinheit,
dem Privatinteresse, die Wurzeln abschneidet. Daß es Piaton
mit diesen Vorschlägen vollster Ernst ist, daß er sie nicht
allein für heilsam, sondern auch für ausführbar hält, steht
außer Zweifel; wie er denn auch alle andern Staatsformen,
außer der seinigen (deren er Polit. 300 ff. sechs, Rep. VIII.
IX vier zählt), als verfehlte bezeichnet (Rep. 449 A u. ö.). Zu
ihrer Erklärung reicht aber weder der Vorgang spartanischer
und pythagoreischer Erscheinungen noch der Gegensatz
gegen die Ausschreitungen der attischen Demokratie aus,
sondern ihr letzter Grund liegt darin, daß der ganze Charakter
seines Systems den Philosophen verhindert, in der sinnlichen
und individuellen Seite des menschlichen Daseins etwas
andres als ein Hindernis der wahren Sittlichkeit zu sehen,
sie als das natürliche Mittel flir die Verwirklichung der Idee
zu begreifen.
§ 49. Piatons Ansichten über die Religion und
die Kunst.
Nach sittlich -politischen Gesichtspunkten richtet sich
auch Piatons Stellung zu der Religion und der Kunst seines
Volkes; welche beiden ihrerseits da im engsten Zusammen-
154 Zweite Periode.
hang standen, wo die Dichter die Steile der Theologen und
der 0£fenbaruDg8urkanden vertraten und das Theater ein
Bestandteil des Kultus war. Piatons eigene Religion ist
jener philosophische Monotheismus, für welchen die Gottheit
mit der Idee des Guten zusammen&Ut, der Vorsehungsglaube
mit der Überzeugung, daß die Welt das Werk der Vernunft
und das Abbild der Idee sei, die Gottesverehrung mit der
Tugend und Erkenntnis. In demselben Sinn sind auch seine
populären Äußerungen über Gott oder die Götter gehalten;
diese gehen aber allerdings, namentlich in seinem Vorsehungs-
glauben und seiner Theodizee, über die strenge Eonsequenz
seines Systems um so leichter hinaus, je weniger er die be-
griffliche und die vorstellungsmäßige Form jenes Glaubens
kritisch verglichen und insbesondere die erst viel später
hervortretende Frage über die Persönlichkeit Gottes sich
vorgelegt hat. Neben der Gottheit im absoluten Sinn werden
die Ideen als die ewigen Götter, der Kosmos und die Ge^
stirne als sichtbare Götter bezeichnet; während der Philosoph
nicht verbirgt, daß er die Götter der Mythologie für Ger
schöpfe der Phantasie hält (Tim. 40 D f.), und über die vielen
unsittlichen und der Gottheit unwürdigen Bestandteile der
Mythologie scharfen Tadel ausspricht (Rep. 377 E ff. u. ö.).
Aber trotzdem will er die hellenische Religion als die seines
Staates, ihre Mythen als erste Grundlage des Unterrichts
festhalten, nur daß sie von jenen schädlichen Beimischungen
gereinigt werden sollen; was er verlangt, ist nicht eine Ver-
drängung, sondern feine Reform des Volksglaubens.
Wie die Religion, so wird auch die Kunst von Piaton
zunächst nach ihrer ethischen Wirkung beurteilt. Gerade
weil er selbst philosophischer Künstler ist, weiß er die reine,
keinem anderweitigen Zweck dienende Kunst nicht zu
würdigen. Der Begriff des Schönen wird von ihm in
sokratischer Weise, ohne schärfere Zergliederung seiner
Eigentümlichkeit, auf den des Guten zurückgeführt; die
Kunst betrachtet er als eine Nachahmung (filfiTjaig) , nicht
des Wesens der Dinge, sondern ihrer sinnlichen Erscheinung;
§ 50. Die spätere Gestalt der platonisehen Lehre, die Gesetze. 155
und er wirft ihr vor, dafi sie, aus unklarer Begeisterung
ifiavia) entsprungen ; unsre Teilnahme für Falsches und
Wahres, Schlechtes und Gutes gleichsehr in Anspruch nehme,
daß sie in vielen ihrer Erzeugnisse, wie namentlich im Lust-
spiel, den niedrigsten Neigungen schmeichle, weil sie durch
ihr buntes Spiel die Einfachheit und Geradheit des Charakters
gefährde. Um eine höhere Berechtigung zu gewinnen, mufi
sich die Kunst in den Dienst der Philosophie stellen; sie
muß als sittliches Bildungsmittel behandelt werden und ihre
höchste Aufgabe darin suchen, daß sie den Wert der Tugend
und die Verwerflichkeit des Lasters einschärft. Nach diesem
Maßstab soll sich die staatliche Leitung und Beaufsichtigung
richten, welcher Piaton in seinen zwei großen politischen
Werken die Kunst und namentlich die Dichtkunst und Musik
bis ins einzelnste unterworfen wissen will; den gleichen legt
er selbst an, wenn er nicht bloß alle unsittlichen und un-
würdigen Erzählungen über Götter und Helden, sondern auch
alle üppige und verweichlichende Musik und die gesamte
nachahmende Poesie und daher auch Homer aus seinem
Staate verbannt. Ebenso verlangt Piaton, daß die Rede-
kunst, deren gewöhnliche Übung aufs entschiedenste ver-
urteilt wird (vgl. S. 132), zum Hilfsmittel der Philosophie
umgebildet werde.
§ 50. Die spätere Gestalt der platonischen Lehre,
die Gesetze.
Das System, welches sich uns in den platonischen
Schriften bis zum Timäos und Kritias herab darstellt, erfuhr
in dem letzten Abschnitt von Piatons Leben, etwa seit seiner
Zurückkunft von der letzten sizilischen Reise, erhebliche
Veränderungen. Nach Aristoteles beschränkte Piaton
damals, als dieser ihn hörte, den Umfang der Ideen auf die
Arten der Naturwesen. Die Ideen selbst bezeichnete er als
Zahlen (vgl. S. 137), unterschied aber diese Idealzahlen
(ccQix^/Jol vorjTot) von den mathematischen dadurch, daß jene
nicht, wie diese, aus gleichartigen Einheiten bestehen und
156 Zweite Periode.
daher nicht zusammengezählt werden können ; aus den Ideal-
zahlen liefi er die idealen, aus den mathematischen die
mathematischen Größen hervorheben ; denn das Mathematische
stellte er zwischen die Ideen und die sinnlichen Dinge (s. o.
S. 143). Er begnügte sich ferner jetzt nicht mehr damit, in
den Ideen den letzten Grund der Erscheinungen aufzuzeigen,
sondern fragte nach den Bestandteilen (aTOix^ia) der Ideen
selbst und fand diese in dem Eins, welches er dem Guten
gleichsetzte, und dem Unbegrenzten, das er das Große und
Kleine (fieya nat fiiKgov) nannte, weil es weder nach oben
noch nach unten begrenzt ist, und sofern die Zahlen aus
ihm hervorgehen, die Vielheit oder die „unbestimmte Zwei-
heit". Wie aber dieses Unbegrenzte zu dem, welches der
Grund der Körperwelt ist, sich verhalte, scheint er nicht
untersucht und dadurch den Schein ihrer (von Aristoteles an-
genommenen) völligen Einerleiheit hervorgerufen zu haben ^).
Mit den Pythagoreem, denen er sich in alledem annäherte,
unterschied er jetzt auch den Äther als fünften Körper in
den vier Elementen.
In den gleichen Jahren, denen diese Lehrform angehört,
machte Piaton in den Gesetzen (worüber aber S. 124 zu
vergleichen) den Versuch, zu zeigen, wie auch auf dem Boden
der bestehenden Verhältnisse und ohne die Voraussetzungen
des Philosophenstaates, auf dessen Ausführbarkeit er jetzt
verzichtet hat, eine wesentliche Besserung der staatlichen Zu-
stände sich herbeiführen ließe. Die Herrschaft der Philosophie,
nach der Bepublik das einzige, was der Menschheit helfen
kann, ist jetzt aufgegeben : an die Stelle der philosophischen
^) Die aristotelischen Hauptstellen darüber finden sich Metaph. I, 6.
9. Xni, 6 ff., wozu Alexandebs Kommentar zu vergleichen. Weiteres Phil,
d. Gr. II 1, 946 ff. Piaton. Studien 217 ff. Süsemihl Genet. Entwiekl. d.
plat. Phil. II, 509 ff. 532 ff. Natorp Ideenl. S. 413 ff. geht in seiner Dar-
stellung von der kaum glaublichen Voraussetzung aus, daß Aristoteles, wie
überhaupt Pl.s Ideenlehre, so auch ihre letzte Gestalt völlig mißverstanden
habe (vgl. S. 136 Anm. 1). Nach Gompebz Griech. Denker III Heft 1 S. 6ff.
sind die Idealzahlen als Zahlprinzipien anzusehen, in denen PI. die Ur-
gründe der Dinge zu erkennen glaubte.
§ 50. Die spatere Gestalt der platonischen Lehre, die Gesetze. 157
Regenten tritt ein Verein der Einsichtigsten ohne amtliche
Befugnisse, an die Stelle der Dialektik als einer wissenschaft-
lichen Erkenntnis der Ideen teils die Mathematik, teils die
Religion; und wenn die letztere ihrem Inhalt nach Piatons
Grundsätzen durchaus entspricht, geht sie doch in keiner
Beziehung über jene nach ethischen Gesichtspunkten ge-
reinigte Volksreligion hinaus, welche in der Republik nur
der Masse als Ersatz für die Dialektik bestimmt war.
Ebensowenig kann die Leitung der Einzelseele der Weisheit
im höchstem Sinne übertragen werden: ihre Stelle nimmt
die praktische Einsicht ((pQovrjaig) ein, welche sich von der
Sophrosjne kaum unterscheidet, während die Tapferkeit
gegen beide auffallend zurückgesetzt wird. Was endlich
die Staatseinrichtungen betrifft, so begnügt sich Piaton in
seinem späteren Werk statt der Aufhebung des Privateigen-
tums mit seiner gesetzlichen Beschränkung und der unver-
änderten Erhaltung einer bestimmten Zahl von Landstellen
(5040); statt der Aufhebung der Familie mit einer sorg-
fältigen Überwachung der Ehen und des häuslichen Lebens ;
an dem Grundsatz der öffentlichen, für beide Geschlechter
gleichen Erziehung wird festgehalten, der Verkehr mit dem
Ausland ängstlich beaufsichtigt und beschränkt. Handel,
Gewerbe und Landbau sollen ausschließlich von Metöken
und Sklaven besorgt werden, so daß von den drei Ständen
der Republik nur noch der zweite den Bestand der aktiven
Staatsbürger bildet. Für die Verfassung des Staates wird
eine gleichmäßige Verknüpfung monarchischer oder richtiger
oligarchischer und demokratischer Bestandteile zum Grund-
satz gemacht, und sowohl die organischen Bestimmungen der
Verfassung als die bürgerlichen und Strafgesetze werden mit
einer in alle Einzelheiten eingehenden Sorgfalt einsichtsvoll
und sachkundig ausgeführt. Daß jedem Gesetz eine be-
gründende Einleitung vorangeht, ist ein Zugeständnis an die
Forderung, nicht aus blindem Gehorsam, sondern aus eigener
Überzeugung zu handeln*).
') Näheres über die Gesetze bei Gonst. Kitteb, „Piatons Gesetze,
158 Zweite Periode.
§ 51, Die alte Akademie*).
Der wissenschaftliche Verein ^ den Piaton gestiftet und
geleitet hatte, erhielt sich auch nach seinem Tode in der
Akademie unter eigenen Scholarchen; und es war dadurch
der Folgezeit die Form für die Organisation des wissenschaft-
lichen Unterrichts vorgezeichnet Ihrer äußeren Gestalt und
rechtlichen Stellung nach bildeten diese Philosophenvereine
Genossenschaften (d^iaaot) zur gemeinschaftlichen Verehrung
der Musen; das Scholarchat und die Nutznießung des Vereins-
vermögens wurde nur von Piaton selbst durch Vermächtnis,
in der Folge durch Wahl übertragen. Piatons erster Nach-
folger war sein.Schwestersohn Speusippos, dem sein Mit^
Schüler Xenokrates aus Chalkedon 339/8 v.Chr. folgte;
unter den übrigen unmittelbaren Schülern Piatons sind die
bekanntesten, abgesehen von Aristoteles : Herakleides aus
dem pontischen Herekleia, P h i 1 i p p o s aus Opus, Hestiäos
aus Perinth, Menedemos der Pjrrhäer. Alle diese Männer
verfolgen nun, soweit wir mit ihren Ansichten bekannt sind,
im Anschluß an den Pythagoreismus die Richtung, die Piatons
Philosophie in seiner letzten Zeit genommen hatte. Speu*
sippos scheint nicht allein dem erfahrungsmäßigen Wissen
(der ^iTtiatf}fiovi%^ aia&tjaiQ^) einen größeren Wert beigelegt
zu haben als Piaton, sondern er gab auch die Lehre, mit
welcher dieser in den entschiedensten Gegensatz zu der ge-
wöhnlichen Vorstellungsweise getreten war, in ihrer plato-
nischen Form ganz auf, indem er an die Stelle der Ideen
die mathematischen Zahlen, diese aber allerdings als getrennt
von den Dingen setzte; ganz pythagoreisch lautet ein Bruch-
stück von ihm über die Dekas. Als allgemeinste Urgründe
bezeichnete er dementsprechend das Eins und die Vielheit;
er unterschied aber das Eins sowohl von der weltbildenden
DarstelL d. Inhalts" und „Kommentar zum griech. Text" 1896. — Über die
Annahme einer bösen Weltseele in den Ges. s. u. S. 161 Anm. 1.
^) Mekler Academicorura philosophorum index Herculanensis 1902.
GoMPERZ Griech* Denker III Heft 1 S. 1—13.
§ 5L Die alte Akademie. 159
Vernunft, die er sich als Weltseele gedacht und mit dem
pythagoreischen Zentralfeuer kombiniert zu haben scheint,
als auch von dem Guten und Vollkommenen, das nicht als
Grund alles Seins am Anfang, sondern als Ziel und Ergebnis
am Ende der Weltentwicklung stehe. Aus der Einheit und
Vielheit leitete er zunächst nur die Zahlen ab, für die Raum-
großen und die Seele stellte er besondere analoge Prinzipien
auf; zugleich wird aber berichtet (DiOG. IV, 2), er habe die
mathematischen Wissenschaften in enge Verbindung unter-
einander gebracht. Mit den Pythagoreern (und Piaton) fügt
er den vier Elementen den Äther bei; vielleicht um der
Seelenwanderung willen ließ er die niederen Seelenteile den
Tod überdauern. In seiner Ethik folgte er der platonischen,
über die er nur darin hinausging, daß er die Lust geradezu
für ein Übel erklärte*).
Nicht ganz so weit ging Xenokrates^) in der An-
näherung an den Pythagoreismus : ein Mann von reinem,
ehrwürdigem Charakter, aber schwerfälligen Geistes, frucht-
barer Schriftsteller und ohne Zweifel Hauptvertreter der
akademischen Schule, die er 25 Jahre lang leitete. Er unter-
schied, wie es scheint zuerst, ausdrücklich die drei Hauptteile
des philosophischen Systems: Dialektik, Physik und Ethik.
1) [Phil. d. Gr. II 1 S. 1009, 1 wird die Ansicht von Krische und
BuAiiDis (s. auch Dörinq Gesch. d. gr. Phil. II 10 f.), daß Sp. in seinen
Erörterangen über die Lustlehre des Eudoxos (s. S. 162) entgegengetreten
sei; als unerweislich bezeichnet. Doch scheint sich in der Tat aus Arist
Eth. N. 1172 b 85 u. 1158 b 4 ihre Richtigkeit zu ergeben. — Nach Clem.
AI. Strom, n § 188, 4 S. 186, 19 St erklarte er die Glückseligkeit für
einen „ToUkommenen Zustand in dem der Natur Gemäßen" (s. Polemons
Lehre S. 162). Vgl. Döring S. 11 ff., wo die Ausgestaltung dieser Lehre
in der alten Akademie nach Cic. d. fin. IV 14 ff. u. a. a. St. kurz zusammen-
gefaßt wird. Wenn derselbe aber S. 19 ff. die im Phileb. 4SJ)fL bekämpfte
Lehre yon Männern, die die Existenz der Lust leugnen (s. S. 76 Anm.),
dem Sp. beilegt (auf Grund der in der angefahrten Stelle bei Clem. hinzu-
gefagten Bemerkung, die Guten strebten nach der ao/iti/cr/ff), so wird diese
Vermutung dadurch hinfällig, daß sie zur Voraussetzung die y6n Döring
angenommene (s. S. 128), aber nicht erwiesene Unechtheit des Phileb. hat]
2) R. Heinze Xenokrates. 1892, vgl. Arch. f. Gesch. d. Phil.Vffl, 134 ff.
160 Zweite Periode.
Als Urgründe bezeichnete er, an die Pythagoreer sich anlehnend,
das Eins oder das Ungerade und die unbestimmte Zweiheit, das
Gerade (jenes „der Vater**, dieses „die Mutter der Götter"),
indem er das Eins dem Novg oder Zeus gleichsetzte. Ihr
erstes Erzeugnis sind die Ideen, die aber zugleich mathe-
matische Zahlen sein sollen. Für die Ableitung der Größen
aus den Zahlen bediente er sich der Annahme kleinster und
somit unteilbarer Linien^). Indem zu der Zahl das Selbige
und das Andre hinzutritt, entsteht die (Welt-) Seele, welche
Xenokrates (auf Grund des Timäos) als eine sich selbst be-
wegende Zahl definierte; diese Entstehung der Seele wollte
er aber (wahrscheinlich durch Aristoteles hierzu veranlaßt)
nicht als eine zeitliche gedacht wissen. Die in den Ter*
schiedenen Teilen der Welt, dem Himmel, den Elementen usw.
wirkenden Kräfte scheint er als Götter bezeichnet zu haben;
neben ihnen spielten bei ihm, wie in dem Volksglauben und
bei den Py thagoreern , die guten und bösen Dämonen eine
große Rolle. Die Elemente, denen er gleichfalls den Äther
beifügte, sollten aus kleinsten Körpern entstanden sein. Mit
Speusippos ließ er die unvernünftigen Teile der menschlichen
Seele und vielleicht auch die Tierseelen den Tod über-
dauern ; die Fleischnahrung widerriet er, weil die Unvernunft
der Tiere durch sie Einfluß auf uns gewinnen könne. Seine
ethischen Ansichten hatte er in zahlreichen Schriften nieder-
gelegt; was uns darüber bekannt ist, zeigt, daß er dem
Geist der platonischen Sittenlehre treu blieb; die Glückselig-
keit setzt er in den „Besitz der Tugend und der ihr dienen-
den Mittel**. Bestimmter als Piaton unterschied er zwischen
der wissenschaftlichen und der praktischen Einsicht ; nur die
erstere nennt er (mit Aristoteles) Weisheit
Mehr Mathematiker als Philosoph war nach der pseudo-
platonischen Epinomis, die höchstwahrscheinlich sein Werk
^) Gegen diese Annahme war nach dem Zeugnis einiger alten Kom-
mentatoren die unter Aristoteles* Namen überlieferte Schrift II, dro/ucnv
QyafZfx£v (s. S. —2) gerichtet; vgl. Phil. d. Gr. U 1 S. 1017, 2.
§ 51. Die alte Akademie. "[Ql
ist (s. S. 124 Anm. 1), zu urteileD, Philippos. Das höchste
Wissen gewähren seiner Ansicht nach die Mathematik und
Astronomie; in ihrer Kenntnis besteht die Weisheit, auf ihr
beruht mit den richtigen Vorstellungen tlber die himmlischen
Götter alle wahre Frömmigkeit. Die Götter der Mythologie
lehnt Philippos mit Piaton ab; um so wichtiger sind ihm
als Vermittler alles Verkehrs mit den Göttern die Dämonen,
von denen er drei Klassen kennt. Von dem Menschenleben
dagegen und den irdischen Dingen hat er eine geringe
Meinung; und die schlechte Weltseele (988 D f.) hat wahr-
scheinlich er erst auch in die Gesetze (896 E — 898 D) ein-
geschwärzt ^). Was uns über die Not des irdischen Daseins
erhebt und uns die dereinstige Rückkehr in den Himmel
sichert, sind neben der Tugend wieder vornehmlich die
Mathematik und die Sternkunde. — Viel weiter als Philippos
entfernte sich aber sein berühmter Fachgenosse Eudoxos^)
aus Knidos, der nach ApoUodor etwa von 407 — 355 lebte,
von der Lehre Piatons, den er ebenso wie den Archytas ge-
hört hatte, wenn er nicht bloß die Ideen den Dingen wie
Stoffe beigemischt sein ließ, sondern auch die Lust, wie Aristipp
(S. 116 f.), für das höchste Gut erklärte und diese Lehre
logisch zu begründen suchte (Aristot. Eth. N. 1101 b 27 ff.
1172b 9 ff.). — Der Pontiker H er akl eides»), der um
*) [Vgl. Phil. d. Gr. II 1 S. 973 f. 981 Anm. 1. S. dagegen Const.
RiTTEB Komm. z. Pl.s Ges. S. 307 ff., wo dargelegt wird, daß Fiat, an
der angeführten Stelle der Ges. in Wahrheit gar nicht die Existenz einer
hosen Weltseele neben der g^ten behauptet; ähnlich Siebeck Gesch. d.
Psych. I S. 279 u. Apelt N. Jahrb. f. kl. Ph. 1907 S. 266. Nach andern
wie GoMPBRZ Griech. Denker II 486 f. und Übebweg-Heinze Grundr. I*
S. 194 hat PI. in den Ges. tatsächlich und in vollem Ernste eine böse
Weltseele angenommen, ohne sich jedoch dadurch mit andern Bestimmungen
seines Systems in Widerspruch zu setzen.]
^) Berühmt besonders durch seine an Piatons astronomische Lehren
(s. S. 145) anknüpfende, auf streng wissenschaftlicher Grundlage au%ebaute
Sphärentheorie (s. S. 191).
8) Voss De Her. Pont, vita et scriptis 1897.
Zeller, Grundrifs. 11
1(J2 Zweite Periode.
339 V. Chr. in seiner Heimat eine eigene Schale errichtete,
entlehnte von dem Pythagoreer Ekphantos (s. S. 52) außer
der Annahme kleiner ürkörper (ovaQfioi — d. h. wohl : nicht
miteinander verbundene*) — oyKOi), aus denen der göttliche
Geist die Welt gebaut habe, auch die Lehre von der täg-
lichen Drehung der Erde, die er noch erweiterte durch die
Annahme, dafi sich Merkur und Venus um die Sonne drehen;
die Seele hielt er für ein Wesen aus ätherischem Stoff. An
die Pythagoreer erinnert auch die Leichtgläubigkeit, welche
der gelehrte und phantasiereiche, aber kritiklose Mann dem
Wunder- und Weissagungi^lauben entgegenbrachte. — Von
Hestiäos wissen wir, dafi er sich an jenen metaphysisch-
mathematischen Spekulationen beteiligte, über die Aristoteles
außer dem oben Angeführten noch das eine und andre ohne
Nennung von Namen mitteilt.
Xenokrates' Nachfolger, der Athener Polemon, leitete
von 314/3 — 270/69 die Akademie. Er stand als Moralphilosoph
in Ansehen. Die ethischen Grundsätze, in denen er mit
Xenokrates übereinstimmte, faßte er in die Forderung des
naturgemäßen Lebens zusammen. — Von seinen Schülern ist
der berühmteste Erantor aus Soloi in Eilikien, der aber
auch noch Xenokrates gehört hatte und vor Polemon starb,
der erste Kommentator des Timäos, dessen Psychogonie er
mit Xenokrates nicht zeitlich gefaßt wissen wollte, und der
Verfasser vielgerühmter, mit der altakademischen Lehre
durchaus übereinstimmender ethischer Schriften, darunter der
JT. Ttevd^ovg, mit der er die literarische Gattung der Trost-
schriften (consolationes) begründete. Nach Polemon übernahm
Erat es aus Athen die Leitung der akademischen Schule.
Durch Erates' Nachfolger Arkesilaos (§ 78) erhielt die
Philosophie dieser Schule einen wesentlich veränderten
Charakter.
*) Anders Gomperz Griech. Denker III Heft 1 S. 12.
§ 52. Aristoteles' Leben. 163
TV. Aristoteles und die peripatetische Schule.
§52. Aristoteles' Leben ^).
Aristoteles wurde Ol. 99, 1. 384/3 v, Chr. zu Stageira
geboren. Sein Vater Nikomachos war der Leibarzt des
makedonischen Königs Amyntas; nach dem Tode seiner
Eltern sorgte Proxenos aus Atarneus für seine Erziehung.
In seinem 18. Jahre (367/6 y. Chr.) kam er nach Athen und
trat in den platonischen Schülerkreis ein, dem er bis zu
Piatons Tode angehörte; und sc)ion dieser Umstand wider-
legt, in Verbindung mit andern gesicherten Tatsachen, die
Behauptung, daß durch Aristoteles' Rücksichtslosigkeit und
Undankbarkeit gegen seinen Lehrer schon längere Zeit vor
diesem Zeitpunkt ein Zerwürfnis zwischen beiden eingetreten
sei. Dagegen ist anzunehmen, daö Aristoteles während seiner
zwanzigjährigen Lehrzeit in Athen neben Piaton nicht allein
die Yorplatonischen Philosophen studierte, sondern auch zu
seinem sonstigen geschichtlichen und naturwissenschaftlichen
Wissen den Grund legte; und wenn er in einer Reihe von
Schriften sich nach Form und Inhalt an Piaton anschloß,
legte er doch in ihnen bereits auch seine Angriffe auf die
Ideenlehre und seine Überzeugung von der Ewigkeit der
Welt nieder. Schon damals scheint er auch Isokrates durch.
Unterricht in der Redekunst entgegengetreten zu sein. Nach
Piatons Tode begab er sich mit Xenokrates nach Atarneus
in Mysien zu dem Fürsten dieser Stadt, ihrem Mitschüler
Hermeias, dessen Nichte (oder Schwester) Pythias er in der
Folge heiratete; drei Jahre später, nach Hermeias' Unter-
^) Neuere Monographien über Leben, Schriften und Lehre: Stahr
Aristotelia. 2 Tle. (1830/32). Lewes Arietotle. Übers, von Carus (1865).
Grote Arist 2 Bde. (1872; 3. Ausg^. 1884). Grant Arist.; übers, voa
Imelmann (1878). Siebeck Aristot. (1899; 2. Aufl. 1902). — Von Gompebz
Griech. Denken Bd. III behandeln die bisher veröffentlichten beiden ersten
Hefte (1906. 1908) S. 13 ff. das Leben, die Schriftstellerei und einen großen
Teil der Lehre d. A.
11*
1(J4 Zweite Periode.
gang, nach Mytilene. Daß er von da wieder nach Athen
zurückkehrte ^X ^^^ unwahrscheinlich. 343/2 folgte er einem
Ruf an den makedonischen Hof, um die Erziehung Alexanders
zu übernehmen, welcher (356/5 geboren) damals eben in das
Jünglingsalter eintrat; und er blieb hier, bis Alexander
seinen Zug nach Asien antrat. Den wohltätigen Einfluß des
Philosophen auf seinen genialen Zögling und die Verehrung
dieses gegen jenen rühmt Plutargh Alex. 8; der Gunst
Philipps oder Alexanders hatte Aristoteles den Wieder-
aufbau seiner von Philipp zerstörten Vaterstadt zu verdanken.
335/4 kehrte Aristoteles nach Athen zurück und eröffnete
hier im Lykeion eine Schule, welche den Namen der peri-
patetischen, wahrscheinlich nicht von ihrem Orte, sondern
von der wissenschaftlichen Unterhaltung im Auf- und Ab-
gehen erhielt. Sein Unterricht erstreckte sich neben der
Philosophie auch auf die Rhethorik; mit dem fortlaufenden
Vortrag war ohne Zweifel Gesprächsführung verbunden, der
wissenschaftliche Verein zugleich, wie der platonische, ein
Kreis von Freunden mit der Einrichtung regelmäßiger ge-
meinsamer Mahle. Von Hause aus wohlhabend und könig-
licher Unterstützung, falls er ihrer bedurfte (auch abgesehen
von den Übertreibungen späterer Zeugen), sicher, war
Aristoteles in der Lage, sich alle Hilfsmittel der Forschung,
die seine Zeit darbot, zu verschaffen, und so war er nament-
lich der erste, der eine größere Sammlung von Büchern zu-
sammenbrachte. In welchem Umfang er diese Hilfsmittel
benutzte, zeigen seine Schriften. Seit dem gewaltsamen Ende
seines Neffen Eallisthenes trübte sich Aristoteles' Verhältnis
zu Alexander; aber nur die Verleumdung konnte ihm des-
halb eine Beteiligung an Alexanders angeblicher Vergiftung,
die selbst eine Parteilüge ist, schuldgeben. Der unerwartete
Tod des Königs brachte ihn vielmehr in die unmittelbarste
Gefahr, indem er beim Ausbruch des lamischen Krieges aus
*) Wie Stahb Aristotelia S. 84 und Gercke bei Pauly-Wissowa II
1014. 1017 annehmen.
§ 53. Aristoteles' Schriften. 165
politischem Haß wegen angeblicher Religionsvergehen belangt
wurde. Er flüchtete sich nach Chalkis auf Euböa, erlag
aber hier schon im Sommer 322 v. Chr., wenige Monate vor
Demosthenes' Tode, einer Krankheit. Sein* Charakter, von
politischen und wissenschaftlichen Gegnern schon frühe aufs
stärkste verunglimpft, erscheint in seinen Schriften durchaus
edel, und keine erweisliche Tatsache liegt vor, die uns Grund
gäbe, diesem Eindruck zu üiißtrauen ; seine wissenschaftliche
Größe steht außer Zweifel, und in der Vereinigung eines
äußerst vielseitigen Wissens mit selbständigem Urteil, ein-
dringendem Scharfsinn, umfassender Spekulation und metho-
discher Forschung steht er so einzig da, daß höchstens Leibniz
in dieser Beziehung sich mit ihm vergleichen läßt.
§53. Aristoteles' Schriften^).
Unter dem Namen des Aristoteles ist uns eine Sammlung
von Schriften überliefert, die ihrem wesentlichen Bestände
nach wohl sicher auf die von Andronikos (vgl. § 82) um
50 — 60 V. Chr. veranstaltete Ausgabe der aristotelischen Lehr-
schriften zurückgeht. Die meisten und wichtigsten von diesen
Schriften sind unzweifelhaft echt, wenn auch einzelne von
späteren Zutaten und Änderungen nicht freigeblieben zu sein
scheinen. Neben den erhaltenen Werken kennen wir aber
noch eine große Anzahl verlorener, von denen freilich die
meisten unecht gewesen sein mögen, teils aus den Anführungen
späterer Schrifsteller, teils aus zwei noch vorhandenen Schrift-
^) Die bedeutendsten Gesamtausgaben sind : die von der Berliner Ak.
d. W. veranstaltete (Bd. 1 u. 2 reo. J. Bekeeb 1831 ; Bd. 3 lat Übers. 1831
Bd. 4 Scholia [in Auszügen] coli. Bbandis 1836; Bd. 5 Fragmenta coli
y. Kose; scholiorum supplementum ed. Usemeb; Index Aristotelicus conf.
BoNiTz 1870) u. die Didotsche Ausg. ed. Dübneb, Bussemakeb, Heitz, 5 Bde,
1848/74. — Die seit 1882 gleichfalls auf Veranstaltung der Berl. Äk. heraus
gegebene Ausgabe der griechischen Kommentatoren in 33 Bdn. ist jetzt
ihrem Abschluß nahe (dazu ein Supplementum Aristotelieum in mehreren
Bänden).
166 Zweite Periode.
Verzeichnissen. Das ältere von diesen *), welches wahrschein-
lich von dem Alexandriner Hermippos (um 200 v. Chr.)
herrührt, gibt die Gesamtzahl der aristotelischen Schriften
auf fast 400 Bücher an; da aber wichtige Stücke unsrer
Sammlung darin fehlen, scheint es nur die auf. der alexan-
drinischen Bibliothek zur Zeit seiner Anfertigung vorhandenen
aristotelischen Werke zu enthalten. Das jüngere Verzeichnis,
von arabischen Schriftstellern unvollständig überliefert, hatte
zum Verfasser Ptolemäos, vermutlich einen Peripatetiker
des 1. oder 2. Jahrhunderts n. Chr. ; es nennt fast alle Be-
standteile unsrer Sammlung und berechnet die Bücherzahl
der sämtlichen Schriften (mit Andronikös) auf 1000.
Unsre Sammlung enthält die folgenden Stücke: 1. Lo-
gische Schriften (erst in der byzantinischen Zeit unter
dem Namen des „Organen'' zusammengefaßt)^): die Kate-
gorien, wahrscheinlich von c. 9. 11 b 7 an verstümmelt und
von einer späteren Hand um die sogen. Postprädikamente
c. 10 — 15 vermehrt®); tt. sq^xtivBiag (über die Sätze), wohl
das Werk eines Peripatetikers aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. ;
die beiden Analytiken {avaXvtiyfja TtQoreqa und tWe^a), von
denen die erste die Schlüsse, die zweite die Beweisführung
behandelt; die Topik, welche die „Dialektik", d. h. die Kunst
des Wahrscheinlichkeitsbeweises zum Gegenstand hat ; ihr
letztes (9.) Buch wird gewöhnlich als eigene Abhandlung
TT. aoq)iaTixcdv iXeyxcov aufgeführt*). — 2. Naturwissen-
schaftliche Schriften: Die Physik (qwaiKtj äxQoaatg)^)
^) Bei Dioo. V, 21 ff., und mit mehreren Auslassungen und Zusätzen
in einer wahrscheinlich von Hesychios (nach 55Ö n. Chr.; vgl. S. 11) her-
stammenden Biographie des Aristoteles, dejn sog. Anonymus Menagii.
2) Ar. Organon ed. Waitz, 2 Bde. (1844/46).
') Die Kateg. hat nach Spenoel, Pbaktl u. Rose (s. dagegen Phil. d.
Gr. n 2» 8. 68 f.) Gekcke Arch. f. G. d. Ph. IV (1891) S. 424 ff. für unecht
erklärt. Derselbe sucht auch nachzuweisen, daß die Katego'rienlehre ihrem
Ursprünge nach auf Piaton zurückgeht
^) Daß das uns erhaltene 5. Buch der Topik nicht von Arist. stammt,
weist Pflug de Ar. Topicorum libro V (1908) nach.
^) Griech. u. dtsch. mit Anm. hrsg. von Prantl 1854 (ebenso d. Sehr.
§ 53. Aristoteles' Schriften. IÖ7
in 8 Büchern, von denen jedoch das 7. zwar aristotelischen
Aufzeichnungen entnommen, aber erst später eingeschoben
zu sein scheint; vom Himmel 4B.; vom Entstehen und Ver-
gehen 2 B.; Meteorologie 4 B.; das unechte (§ 82 zu be-
sprechende) Buch TT. "Aoaiiov. Ferner die Untersuchungen,
welche die lebenden Wesen betreflFen: die drei Bücher von
der Seele ^) und die. an sie sich anschließenden kleineren
Abhandlungen, von denen jedoch die /r. Jtv&ificcTog als nach-
aristotelisch auszuscheiden ist; die umfassenden zoologischen
Schriften, die Tierbeschreibung (tc. tä ^^a loTogiai) in 10 B.
(wovon aber 7. 9. 10, wie es scheint, nacharistotelisch) und
die drei systematischen Werke: von den Teilen der Tiere
4 B. ; vom Gang der Tiere; von der Entstehung der Tiere
(5 B., von denen jedoch das 5. eine eigene Schrift gewesen
zu sein scheint), nebst der unechten Abhandlung /r. ^(^v
TtivrflBCjg. Ob Aristoteles ein von ihm beabsichtigtes Werk
über die Pflanzen ausgeführt hat, ist nicht sicher, die er-
haltene Schrift TV. q)wcüv jedenfalls unecht. Ebenso die tt.
XQfOfKXTcov, TT. anovatiov, 7t. d-avfiaalmv aTiovafidrcoVy die qwaio-
yv(0(j,ovi7Ld , die ^Tjxccvind und die (vielleicht theoprastische)
Abhandlung über die unteilbaren Linien. „Probleme" hatte
Aristoteles geschrieben, aber in unsern 37 Büchern der Pro-
bleme sind die Überbleibsel der aristotelischen unter einer
Masse späterer Zutaten verschüttet. — 3. Die erhaltenen
metaphysischen Schriften des Philosophen beschränken
sich auf die Metaphysik (tä fierd xd q)vaixd)^); allen An-
zeichen nach eine in der nächsten Zeit nach Aristoteles' Tod
veranstaltete Zusammenstellung dessen, was sich in seinem
vom Himmel u. vom Entst. u. Verg. 1857). Französ. Übers, m. Komm, von
Hamelin 1907.
^) Ausgaben von Tbendelenbubg mit Komm. 1833 (2. Aufl. bes. von
Beiger 1877), Rodibe m. franz. Übers, u. Komm. 2 Bde. 1900, Hicks m.
engl. Übers, u. Komm. 1907.
^ Die besten Ausgaben von Bonitz (1848 f., mit Kommentar; dazu
die Übersetzung hrsg. von Wellmann, 1890); Schweoler (1847 f., mit Kom-
mentar) und Christ (1886).
168 Zweite Periode.
Nachlaß auf die „erste Philosophie" (vgl. S. 174) Bezügliches
vorfand; ihren jetzigen Namen verdankt sie ihrer Stellung
in der Sammlung des Andronikos. Ihren HauptkOrper bildet
in den Büchern ^. B. F. E — 0. I Aristoteles' unvollendet
gebliebenes Werk über die erste Philosophie, in das auch
die ursprünglich selbständige Abhandlung, welche J ausfüllt,
aufgenommen werden sollte; Ä, 1 — 8. 1065 a 26 ist ein
älterer Entwurf, der später zu B. t. E. erweitert wurde,
oder ein späterer Auszug aus diesen Büchern. Jf. N waren,
wie es scheint, anfangs flir unser Werk bestimmt, wurden
jedoch in der Folge zurückgelegt und teilweise ^, 6. 9 ein-
verleibt; ^ ist eine eigene vor dem Hauptwerk, vielleicht
als Grundlage für Vorlesungen, niedergeschriebene Abhand-
lung; a und K von c. 8. 1065 a 26 an sind anerkannt un-
echt^). Das Gleiche gilt von der S. 54 berührten Schrift
über die eleatische Philosophie. — 4. Die Ethik hat
Aristoteles in den 10 Büchern der wahrscheinlich von seinem
Sohne Nikomachos veröffentlichten und nach diesem genannten
Ethik") dargestellt, in deren B. V — VII indessen größere
und kleinere Zusätze aus der endemischen gekommen zu sein
scheinen, die Staatslehre®) in den 8 Büchern der Politik.
In der letzteren gehören aber nicht allein B. VII und VIII
inhaltlich zwischen III und IV (wohin sie von neueren Heraus-
') [Von dieser sich auf die Untersuchungen von Brandis und Bonitz
stützenden Ansicht über die einzelnen Bestandteile der Metaphysik weichen
die neuerdings hierüber angestellten Untersuchungen in mehreren Punkten
ab. So hat Goedeckemeyeb im Arch. f. Gesch. d. Phil. XX, 521 ff. u. XXI,
18 ff. nach Ausscheidung von ui 8 — 10 eine engere Verbindung zwischen
diesem Buche und « herzustellen versucht, das er als zu dem Hauptwerke
gehörig ansieht, und so die Möglichkeit gewonnen, auch MN diesem an-
zugliedern. Die Gründe, die er hierfür angibt, sind beachtenswert, bedürfen
aber einer näheren Prüfung. Eine zum Teil ganz neue Anordnung der
einzelnen Bücher findet sich auch in der Übersetzung der Metaphysik von
Lasson (1907)].
^ Herausgegeben mit Kommentar von Ramsauer 1878.
') Griech. u. deutsch m. Anm. hrsg. von Süskmihl, 2 Bde. (1879);
m. engl. Komm, von Newman, 4 Bde. (1887/1902).
§ 58. Aristoteles' Schriften. IQQ
gebern wirklich versetzt werden), sondern es fehlt ihr auch
vieles zur vollständigen Ausführung ihres Planes; wahrschein-
lich weil ihre Vollendung ebenso wie die der Metaphysik
durch den Tod des Philosophen verhindert wurde. Eine
Vorarbeit der Politik, welche, nach der auf einem ägyptischen
Papyrus entdeckten ^A&rjvaicov Tcohzela (1. Ausgabe von
Kenyon 1891)*) zu schließen, für weitere Kreise bestimmt
war, bildeten die Politien, in denen 158 hellenische und
barbarische Verfassungen dargestellt waren, nebst den vofii/xa
ßaqßaQtna und den dixaicifiara rwv Ttokewv. Eine von
Eudemos verfaßte Bearbeitung der aristotelischen Ethik ist
die endemische^ von der aber nur Buch I — III. VI erhalten
sind; ein nach beiden, doch vorzugsweise der endemischen,
zusammengestellter Abriß die „große Ethik". Der kleine
Aufsatz „über die Tugenden und Fehler" gehört der Zeit
des späteren Eklektizismus an (vgl. § 82 g. E.). Das 1. Buch der
Ökonomik von Philodemos (De vitiis coL 7. 27), Theophrast
beigelegt, ist keinesfalls aristotelisch; das zweite merklich
jüDger. — 5. Über die Redekunst handeln die drei Bücher
der Rhetorik, deren letztes sich als eine eigene, nicht zu ihr
gehörige Abhandlung (tt. Ae^ewg) darstellt^); über die Dicht-
kunst die Poötik, in ihrem jetzigen Bestand nur ein Teil
des aus zwei Büchern bestehenden aristotelischen Werkes.
Die „Rhetorik ai^ Alexander" hat den Rhetor Änaximenes
zum Verfasser ®).
Alle diese Schriften scheinen nun, soweit sie echt waren,
und soweit sie nicht (wie vielleicht Metaph. ^) ihrem Ver-
fasser bloß zu seinem eigenen Gebrauch dienen sollten, Lehr-
schriften zu sein, die Aristoteles ftlr seine Schüler nieder-
schrieb oder diktierte und auch nur ihnen mitteilte, für deren
weitere Verbreitung er dagegen keine Sorge trug und sie
vielleicht zunächst gar nicht gestattete; wie dies neben der
^) Neu herausgegeben von demselben im Supplem. Aristot. (s. S. 165
Anm. 1) vol. III pars n.
^) Wie Diels in der S. 122 Anm. 1 angef. Abbdlg. nachgewiesen hat.
*) S. Wendland Anaxim. von Lampsakos (1905).
170 Zweite Periode.
Anführung „herausgegebener" Schriften (s. u.) namentlich
aus der Anrede an seine Schüler am Schluß der Topik, aus
den zahlreichen Erscheinungen, welche die letzte Hand des
Verfassers vermissen lassen, und aus dem Umstand hervor-
geht ^ daß nicht selten in nachweisbar früheren Schriften
solche Verweisungen auf spätere vorkommen, die längere Zeit
nach ihrer Abfassung, aber vor ihrer Herausgabe nachgetragen
zu sein scheinen. Zu diesen Lehrschriften gehörten von den
verlorenen Werken außer dem problematischen über die
Pflanzen auch die von Aristoteles selbst öfters angeführten
avatofial und die daTQokoyLxa d-eioQ^fiara (Meteor. I, 339 b.
7. 345 b 1. De coelo H, 291a 31); von den vielen andern
Schriften dieser Klasse, die noch genannt werden, war viel-
leicht keine einzige echt.
Von den Lehrschriften der aristotelischen Schule sind
nun die Bücher zu unterscheiden, welche Aristoteles selbst
Poöt. 1454 b 17 „herausgegebene** (indedofxivoL) nennt, und an
die er, wie es scheint, auch bei den Xoyot ev noivi^ yvp^ofxcvoi
(De an. I, 407 b 29) und vielleicht auch bei den iyTcvuXia
q>iXoaoqyt]ixttTa (De coelo I, 279 a 30. Eth. I, 1096 a 3) denkt i);
von denen aber keine in den uns erhaltenen Büchern aus-
drücklich angeführt wird, während diese selbst sich durch
zahlreiche gegenseitige Verweisungen als ein zusammen-
gehöriges Ganze darstellen. Alle Schriften dieser EUasse
scheinen vor Aristoteles' letzter Anwesenheit in Athen ver-
faßt zu sein ; ein Teil von ihnen hatte die dialogische Form ;
nur auf sie kann es sich beziehen, wenn Aristoteles von
Cicero u. a. wegen der Fülle und Anmut seiner Darstellung,
des „goldenen Stromes seiner Rede" gerühmt wird. Auch
*) Dagegen scheinen die loyot iifOTegtxoCy deren Aristoteles und
Eademos öfters erwähnen, nicht eine eigene Klasse aristotelischer Schriften
zu bezeichnen, wie man diese seit Bernays mit den alten Erklärern anzu-
nehmen pflegte (dagegen Diels Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1883. 8. 477flF.);
wenn auch vielleicht an einzelnen Stellen mit diesem, an sich allgemeinen
Ausdruck auf Erörterungen verwiesen wird, die sich in Aristoteles' früheren,
populären Schriften fanden.
§ 53. Aristoteles' Schriften. 171
unter sie ist aber schon frühe manches Unechte gekommen *).
Zu den Gesprächen gehört der Eudemos, welcher dem plato-
nischen Phädon nach Form und Inhalt nachgebildet und
wahrscheinlich bald nach 352 v. Chr. verfaßt war, die drei
Bücher über die Philosophie, in denen bereits die Kritik der
Ideenlehre begann, die vier Bücher über die Gerechtigkeit,
die drei Bücher /r. noiijvcSvj ob auch der Protreptikos , ist
streitig; zu den übrigen Werken aus der früheren Zeit: die
Schriften über das Gute und die Ideen, Berichte über den
Inhalt platonischer Vorträge; die Geschichte der Rhetorik
{tbxvwv awaycjpj); die Alexander gewidmete Abhandlung
TT. ßaaiXelagy welche in Makedonien verfaßt sein wird, die
didaanaXiaij neben denen noch viele auf Dichter und Kunst
bezügliche Schriften (ob mit Recht, ist sehr fraglich) genannt
werden. Dagegen waren die Auszüge aus einigen platonischen
Werken und die Schriften über die Pythagoreer und andere
Philosophen, soweit sie echt waren, wohl nur Aufzeichnungen
zu eigenem oder Schulgebrauch. Wie viele von den Briefen
echt waren, die schon vor Andronikos Artemon in acht Büchern
gesammelt hatte, läßt sich nicht ausmachen ; in dem, was uns
daraus mitgeteilt wird, findet sich unverkennbar Unter-
geschobenes neben solchem, das echt sein kann. An der
Echtheit einiger kleinen Gedichte und Gedichtfragmente zu
zweifeln, haben wir keinen Grund.
Da die aristotelischen Lehrschriften alle oder fast alle in
den letzten zwölf Jahren vor Arsitoteles' Tode verfaßt zu
sein scheinen und uns sein System, ohne jede erhebliche Ab-
weichung im Inhalt oder in der Terminologie, in seiner aus-
gereiften Gestalt zeigen, ist die Frage nach der Reihenfolge
ihrer Entstehung von geringer Bedeutung für ihre Benutzung.
Die Wahrscheinlichkeit spricht aber dafür, daß die Kategorien,
die Topik und die Analytiken die ältesten Teile unsrer
^) Ihre Überbleibsel haben Kose (Aristoteles pseudepig^aphus , Lpzg.
1863; Arist. qu. f. libronim firagmenta, p. 1463 fF. der akadem. Ausgabe,
2. Attfl. Lpzg. 1886) nnd Heitz Bd. lY b der Didotschen Aristoteles- Ausgabe
zusammengestellt.
172 Zweite Periode.
Sammlung sind, auf diese die Physik und die an sie sich
anschließenden Werke folgten , dann die Schriften über die
Seele und die lebenden Wesen, hierauf die Ethik ; daß dann
die Politik und die Metaphysik (außer den ihr einverleibten
älteren Stücken) angefangen wurden, daß aber diese Werke
unvollendet blieben, während einige später begonnene, die
Poetik und Rhetorik, zum Abschluß gelangten. — Die Er-
zählung SraABONs (XIII, 1, 54) und Plütarchs (Sulla 26),
der zufolge Aristoteles' und Theophrasts Schriften nach dem
Tode des letzteren an Neleus in Skepsis kamen, hier in einem
Keller versteckt, zu Sullas Zeit durch Apellikon wieder ent-
deckt, von Sulla nach Rom gebracht und von Tyrannion und
Andronikos neu herausgegeben wurden , wird tatsächlich
richtig sein; wenn diese Schriftsteller aber voraussetzten,
infolge davon seien den Peripatetikern nach Theophrast von
den Werken ihres Stifters nur wenige, meist exoterische, be-
kannt gewesen, so widerlegt sich diese Behauptung neben
ihrer inneren Un Wahrscheinlichkeit durch die Tatsache, daß
sich der Gebrauch aller aristotelischen Lehrschriften, mit
ganz unerheblichen Ausnahmen, auch tiXt die Zeit zwischen
Theophrast und Andronikos trotz der Lückenhaftigkeit der
literarischen Überlieferung tiber diese Periode nachweisen
läßt^).
§ 54. Die aristotelisehe Philosophie^).
Einleitendes.
Aristoteles rechnet sich selbst fortwährend zur plato-
nischen Schule, und so scharf er die Lehre ihres Stifters an
vielen Punkten und namentlich in ihrem Mittelpunkt, in der
Ideenlehre, bestritten hat, so ist doch seine ganze Philosophie
durch seinen Anschluß an Piaton viel tiefer und durch-
^) Vgl. GoMPEKz Griech. Denker HI H. 1 S. 23 ff., der der Tatsache,
daß die Originale der aristotelischen Schriften so lange in dem feuchten
Kellergewölbe von Skepsis versteckt lagen, eine größere Tragweite beimißt.
2) S. Biese Die Philosophie d. Aristoteles. 2 Bde. (1835/42).
§ 54. Die aristotelische Philosophie. Einleitendes. 173
greifender bestimmt als durch seinen Gegensatz gegen diesen.
Er beschränkt die Philosophie allerdings ausschließlicher als
Piaton auf das wissenschaftliche Gebiet und unterscheidet
sie bestimmter von der sittlichen Tätigkeit; während er
andrerseits dem erfahrungsmäfiigen Wissen eine größere Be-
deutung für sie zuerkennt. Aber ihre eigentliche Aufgabe
setzt auch er in die Erkenntnis des unveränderlichen Wesens
und der letzten Gründe der Dinge, des Allgemeinen und Not-
wendigen; und dieses Wesen der Dinge, das wahrhaft und
ursprünglich Wirkliche, findet er mit Piaton in den Formen
(den eY3rj)y welche den Inhalt unserer Begriffe bilden. Seine
Philosophie will daher, wie die des Sokrates und Piaton,
Begriffswissenschaft sein: das Einzelne soll auf allgemeine
Begriffe zurückgeführt und durch Ableitung aus Begriffen
erklärt werden. Aristoteles hat dieses Verfahren sowohl in
der dialektisch*induktiven als in der logisch- demonstrativen
Richtung zur höchsten Vollendung gebracht; er hat es mit
Ausschluß des dichterischen und mythischen Schmuckes, den
seine Jugendschriften nach Piatons Vorgang nicht verschmäht
hatten, mit wissenschaftlicher Strenge durchgeführt; er hat
auch seiner Darstellung durch die Schärfe und Kürze seiner
Ausdrucksweise und die bewunderungswürdige Ausbildung
der philosophischen Terminologie Vorzüge zu geben gewußt,
durch welche sie die platonische ebensoweit übertrifft, wie
sie in künstlerischer Beziehung, wenigstens in den erhaltenen
Werken, hinter ihr zurückbleibt. Aber mit der Begriffs-
philosophie verbindet sich bei dem Philosophen, der sich die
Formen nicht als für sich bestehende, von den Dingen ge-
trennte Wesen, sondern nur als das innere Wesen der Einzel-
dinge selbst zu denken weiß, ein so entschiedenes Bedürfnis
des umfassendsten erfahrungsmäßigen Wissens, wie es sich
unter allen seinen Vorgängern höchstens bei Demokrit findet.
Er ist nicht bloß ein Gelehrter, sondern auch ein Beobachter
ersten Ranges, gleich hervorragend durch das mannigfaltigste,
namentlich auch auf die früheren Philosophen sich erstreckende
geschichtliche Wissen, wie durch die ausgebreitetste Natur-
174 Zweite Periode.
kenntnis und die eindringendste Katurforschung; so wenig
man auch selbstverständlich von ihm erwarten darf, was nur
mit den wissenschaftlichen Hilfsmitteln und Methoden unsrer
Zeit geleistet werden konnte.
Die Andeutungen des Aristoteles über die Einteilung des
philosophischen Systems lassen sich auf den Inhalt seiner
Schriften nur schwer anwenden. Er unterscheidet dreierlei
Wissenschaften: theoretische, praktische und poietische, und
unter den ersteren wieder die Physik, die Mathematik und
die „erste Philosophie" (Metaphysik; vgl. S. 167 f. 180), die
auch Theologie heißt, während er die praktische Philosophie
in die Ethik und Politik zerlegt, aber auch wohl ihr Ganzes
Politik nennt. Für uns erscheint es am zweckmäßigsten, der
Darstellung des aristotelischen Systems als Haupteinteilung
die Unterscheidung der Logik, Metaphysik, Physik und Ethik
zugrunde zu legen und diesen Hauptteilen erst am Schlüsse
noch einiges weitere beizufügen.
§ 55, Die aristotelische Logik*).
Aristoteles hat auf sokratisch-platonischer Grundlage die
Logik als eigene Wissenschaft geschaffen. Er nennt sie
Analytik, d. h, Anleitung zu der Kunst der Untersuchung,
und behandelt sie als wissenschaftliche Methodologie. Das
wissenschaftliche Erkennen im engeren Sinne (die iTtiatijfiij)
besteht nun nach seiner Ansicht in der Ableitung des Be-
sonderen aus dem Allgemeinen, des Bedingten aus seinen
Ursachen. Aber die zeitliche Entwicklung des Wissens nimmt
den umgekehrten Weg. Hat auch die Seele in ihrer denken-
den Natur die Möglichkeit alles Wissens und insofern alles
Wissen der Möglichkeit nach in sich, so kommt sie doch
zum wirklichen Wissen nur allmählich. Was an sich das
Bekanntere und Gewissere ist, ist dies nicht flir uns (Anal,
post. I, 71b 33 ff, Phys. I, 184 a 16); wir müssen die all-
1) S. Prantl Gesch. d. Logik im Abendlande. Bd. 1 (1855). H. Maier
Die Syllogistik d. Aristot. 2 Tle. 1896/1900.
§ 55. Die aristotelische Logik. 175
gemeinen Begriffe aus den einzelnen Beobachtungen ab-
strahieren , stufenweise von der Wahrnehmung mittelst der
Erinnerung zur Erfahrung, von der Erfahrung zum Wissen
aufsteigen (Anal. post. IL, 19. Metaph. A^ 1 u. a.); und
wegen dieser Bedeutung der Erfahrung für das Wissen nimmt
Aristoteles die Wahrheit der sinnlichen Wahrnehmung nach-
drücklich in Schutz, indem er der Meinung ist, die Sinne
als solche täuschten uns niemals, aller Irrtum entspringe viel-
mehr erst aus der falschen Beziehung und Verknüpfung ihrer
Aussagen. Die aristotelische Logik zieht daher (in der
zweiten Analytik) neben der Beweisführung auch die In-
duktion in Betracht; beiden aber schickt sie (in der ersten
Analytik) die Lehre vom Schlüsse voran, der ihre gemein-
same Form ist; nur im Zusammenhang mit der Schlußlehre
bespricht Aristoteles selbst Begriff und Urteil.
Ein Schluß ist nun „eine Rede, in der aus gewissen
Voraussetzungen etwas Neues hervorgeht" (Anal. pr. I, 24 b
18). Diese Voraussetzungen finden ihren Ausdruck in den
Prämissen, also in Sätzen (beides von Aristoteles mit nf^-
xaaiq bezeichnet) ; ein Satz aber besteht in einer bejahenden
oder verneinenden Aussage und ist demnach aus zwei Be-
griffen (^6qoi)j einem Subjekt und einem Prädikat, zusammen-
gesetzt (die Kopula wird noch zum Prädikat gerechnet).
Aristoteles behandelt jedoch die Begriffe eingehender erst
aus Anlaß der Lehre von der Begriffsbestimmung und im
Zusammenhang seiner metaphysischen Untersuchungen. Bei
den Sätzen oder Urteilen. {an6q>avQiq) denkt er nur an
die kategorischen Urteile, die er ihrer (jetzt so genannten)
Qualität nach in bejahende und verneinende, ihrer Quantität
nach in allgemeine, partikuläre und unbestimmte (tt. egfirpfeiag
in allgemeine, partikuläre und singulare), ihrer Modalität nach
in Aussagen über das Sein, das Notwendigsein und das bloßQ
Möglichsein teilt. Er unterscheidet ferner die beiden Arten
des Gegensatzes, den kontradiktorischen {dvTlq>aaiQ) und den
konträren (ivawioTfjg) (vgl. S. 179). Er zeigt, welche Urteile
sich einfach und welche sich nur mit Veränderung ihrer
176 Zweite Periode.
Quantität umkehren lassen. Er bemerkt endlich, daß erst aus
der Verknüpfung der Begriffe im Urteil der Gegensatz von
wahr und falsch entspringe. Den Hauptinhalt dieses Teiles
seiner Logik bildet aber die Lehre vom Schlüsse. Aristoteles
ist der erste, welcher im Schluß die Grundform, in der aller
Fortschritt der Gedanken sich bewegt, entdeckt und auch
den Namen dafür festgestellt hat. Seine in der ersten Analytik
niedergelegte Syllogistik stellt die kategorischen Schlüsse in
ihren drei Figuren, von denen die zweite und dritte ihre
Beweiskraft durch ZurückfÜhrung auf die erste erhalten sollen,
erschöpfend dar; auf die hypothetischen und disjunktiven
geht sie nicht ein.
Aus Schlüssen setzen sich die Beweise zusammen.
Die Aufgabe aller Beweisführung {aTiodei^ig) ist jene Ab-
leitung des Bedingten aus seinen Gründen, in der (s. S. 174)
das Wissen als solches besteht. Die Voraussetzungen eines
Beweises müssen daher aus notwendigen und allgemeingültigen
Sätzen bestehen; und eine vollendete Beweisführung (eine
vollendete Wissenschaft) ist nur da, wo das zu Beweisende
aus seinen obersten Voraussetzungen durch alle Zwischen-
glieder abgeleitet ist. Eine solche Ableitung wäre aber nicht
möglich, wenn die Voraussetzungen, von dentm sie ausgeht,
wieder abgeleitet werden müßten und so ins unendliche, oder
wenn zwischen jenen Voraussetzungen und dem, was daraus
abgeleitet werden soll, eine unendliche Zahl von Mittelgliedern
läge. Alles vermittelte Wissen setzt daher ein unmittel-
bares voraus, welches näher ein zwiefaches ist. Sowohl die
allgemeinsten Grundsätze, von denen die Beweisführung aus-
geht, als das Tatsächliche, auf das jene Grundsätze angewandt
werden, müssen uns ohne Beweis bekannt sein ; und wie nun
die Tatsachen uns durch die Wahrnehmung in unmittelbarer
Weise bekannt werden, so erkennt Aristoteles in der Vernunft
(vovg) das Vermögen einer unmittelbaren, anschauenden, und
deshalb auch irrtumsfreien Erkenntnis der allgemeinsten
Prinzipien. Ob diese Prinzipien bloß formale seien oder
auch inhaltlich bestimmte Begriffe (wie etwa der der Gottheit)
§ 55. Die aristotelische Logik. 177
iu dieser Weise erkannt werden, hat Aristoteles nicht unter-
sucht; als das oberste und unbestreitbarste Prinzip unsers
Denkens bezeichnet er den Satz des Widerspruchs, für den
er sowohl in seiner logischen wie in seiner metaphysischen
Fassung verschiedene, sachlich übereinstimmende Formeln
aufstellt^). Damit aber doch auch diese Überzeugungen
einer wissenschaftlichen Begründung nicht entbehren, tritt
bei ihnen an die Stelle des Beweises die Induktion
(67taywyi])y welche eine allgemeine Bestimmung dadurch er-
härtet, daß sie ihre tatsächliche Geltung an den sämtlichen
unter ihr befaßten EinzelfkUen aufzeigt. Allein eine voll-
ständige Beobachtung alles Einzelnen ist, wie sich Aristoteles
nicht verbergen kann, unmöglich. Er sieht sich daher nach
einer Vereinfachung des induktiven Verfahrens um, und er
findet diese nach sokratischem Vorgang darin, daß er der
Induktion die Annahmen zugrunde legt, welche durch die
Zahl oder die Autorität ihrer Verteidiger die Vermutung
für sich haben, aus wirklicher Erfahrung geflossen zu sein
(die evdo^a), und nun durch dialektische Vergleichung und
Prüfung dieser Annahmen die richtigen Bestimmungen zu
gewinnen versucht^). Er hat dieses Verfahren namentlich
in den „Aporien", mit denen er jede Untersuchung zu er-
^) Die Haaptstelle istMetaph. r 1005 b 19: t6 yag avzo ufia unaQ-
Xeiv T€ xal furi vnccQxeiv ddvvaxov r^ avT(^ xa\ xarä t6 aino. Den
daraus sich unmittelbar ergebenden Satz vom ausgeschlossenen Dritten hat
Ar. ebd. 1011 b 23 so formuliert: ovdk (jL^ra^v dvTKfdaetog ivd^x^rat elvai
ovd'iv, all* dvdyxri (fdvat rj dnoqdvat tv xad^ kvog oriovv; vgl. Analyt.
post. I, 72a 11: dvxCqamg (kontradiktorischer Gegensatz; s. S. 179) dk
dvjCdiais TIS ovx fari /astu^v xa&* avTr^v. Der Satz des Widerspruchs in
Verbindung mit dem seine Kehrseite bildenden Satze der Identität findet
sich Metaph. r 1012 a 26 : to . . . liyHV ro ov fitf ilvtu ri %h fzrj 6v eJvac
^€v6os, ro dk TÖ ov ilvat xal tö firi ov fiij eJvai dlfiS-ig, S. Gomferz
Griech. Denker HI, 52 ff.
*) Zu unterscheiden von der apodeiktischen wie von der dialektischen
Beweisführung ist die eristische, die auf Trugschlüssen beruht. Von den
verschiedenen Arten solcher Trugschlüsse handelt die Schrift n, aotpiarixdh
iXiyxfov (s. S. 166).
Zeller, GrandrlTs. 12
178 Zweite Periode.
öffnen pflegt, mit seltener Meisterschaft und Umsicht geübt;
und wenn seine Beobachtung allerdings die Genauigkeit und
Vollständigkeit, seine Benutzung fremder Angaben die Kritik
nicht selten vermissen läßt, die wir zu verlangen heutzutage
gewohnt sind, so hat es doch auch in dieser Beziehung alles
geleistet, was sich nach dem Stand und den Hilfsmitteln der
wissenschaftlichen Forschung in seiner Zeit billigerweise er-
warten ließ.
Teils auf Beweis, teils auf unmittelbarem, durch In-
duktion zu erhärtendem Wissen beruht nun die Begriffs-
bestimmung oder Definition (ogiCf^og). Wenn alle unsre
Begriffe ein Allgemeines, den Dingen einer gewissen Klasse
notwendig und immer Zukommendes bezeichnen, so bezeichnet
der Begriff in dem engeren Sinn, in dem er Gegenstand der
Definition ist, das Wesen der Dinge ^), ihre Form, abgesehen
von ihrem Stoff, das, was sie zu dem macht, was sie sind.
Drückt ein solcher Begriff das aus, was vielen, der Art nach
verschiedenen Dingen gemein ist, so ist er ein Gattungs-
begriff (yivog). Tritt zu der Gattung der artbildende Unter-
schied (dta€poQa eidoTtoiog) hinzu, so entsteht die Art (eldog) ;
wird diese durch weitere unterscheidende Merkmale näher
bestimmt und dieses Verfahren so lange als möglich fortgesetzt,
so erhalten wir die untersten Artbegriffe, die ihrerseits nicht
mehr in Arten, sondern nur noch in Einzelwesen zerfallen,
und diese sind es, welche den Begriff jedes Dinges aus-
machen (Anal. post. II, 13). Die Begriffsbestimmung soll da-
her die Merkmale, welche die Ableitung ihres Gegenstandes
aus einem Gattungsbegriff vermitteln, nicht allein vollständig,
sondern auch in der richtigen, dem stufen weisen Fortgang
vom Allgemeinen zum Besonderen entsprechenden Ordnung
enthalten ; das wesentliche Hilfsmittel der Begriffsbestimmung
ist eine erschöpfende und logisch fortschreitende Ein-
^) Ovaiay ilSog, t6 jC iari^ to otisq ovy t6 tlvat mit beigefug^m
Dativ (wie ro KV&Qtuntp elvai)^ to rC ^v eJvai. tJber die Bedeutung der
letztgenannten Formel, die Ar. zuerst angewandt hat, s. Phil. d. Gr. 112,
S. 208 f.
§ 55. Die aristotelische Logik. 179
t eilung. Was unter denselben Gattungsbegriflf fällt, ist der
Gattung, was unter denselben Artbegriff fällt, ist der Art
nach identisch ; was innerhalb derselben Gattung am weitesten
voneinander abliegt, ist sich konträr entgegengesetzt (Ivawiov)^
während zwei Begriffe in kontradiktorischem Gegensatz {dvti-
g)aaig) stehen, wenn der eine die einfache Verneinung des
andern (A, nicht — A) ist (vgl. S. 175). (Daß dieser Gegen-
satz nur zwischen Sätzen, nicht zwischen unverbundenen Be-
griffen stattfinden kann, hat Aristoteles wohl deshalb über-
sehen, weil er die Kopula noch nicht als einen eigentüm-
lichen Bestandteil des Urteils neben Subjekt und Prädikat
erkannt hat.) Er fügt aber diesen Arten des Gegensatzes
noch den der Verhältnisbegriffe und den des Habens (S^ig)
und der Beraubung (oveQtjaig) bei*).
Alle unsere Begriffe fällen nun (Kateg. 4. Top. I, 9)
unter eine oder mehrere von den „Hauptgattungen der Aus-
sagen" (yevfi oder ax'tjf^ctTa tcov narrjyoQidiv) oder Kategorien
(noTTjyoQiai) j welche die verschiedenen Gesichtspunkte be-
zeichnen, aus denen die Dinge sich betrachten lassen, während
sie selbst keinen höheren Begriff als gemeinsamen Gattungs-
begriff über sich haben. Aristoteles zählt ihrer zehn: Sub-
stanz, Quantität, Qualität, Relation, Wo^Wann, Lage, Haben,
Wirken, Leiden (ovaia oder ti iattj noaov, tioiov, TtQog Tt,
Ttovj TtOTe, YMod^aif sxsiv^ Ttoielv^ naaxBiv). Die Vollständig-
keit dieses Fachwerkes steht ihm fest; aber ein bestimmtes
Prinzip für seine Ableitung will sich nicht zeigen, und die
Kategorien des Habens und der Lage werden nur in den
„Kategorien" und der Topik genannt, dagegen in allen
späteren Aufzählungen *) übergangen. Auch von den übrigen
haben aber nicht alle die gleiche Bedeutung ; die wichtigsten
sind die vier ersten und unter ihnen die der Substanz, zu
der alle andern sich verhalten wie das Abgeleitete zum Ur-
^) Über die Vieldeutigkeit des letzgenannten Begriffspaares und sein
unklares Verhältnis zu dem konträren und kontradiktorischen Gegensatz
s. Phil. d. Gr. n 2, S. 216 Anm. 1.
2) Anal. post. I, 83 a 21. b 15. Phys. V, 225 b 5. Met. z/, 1017 a 24.
12*
180 Zweite Periode.
sprünglichen. Eben diese ist es nun^ welche nach Aristoteles
den wesentlichen Gegenstand der „ersten Philosophie", der
sogenannten Metaphysik, bildet.
§ 56. Aristoteles* Metaphysik.
Diese Wissenschaft beschäftigt sich mit der Untersuchung
über die letzten Gründe, mit dem Seienden als solchem, dem
Ewigen, ünkörperlichen und Unbewegten, welches die Ur-
sache aller Bewegung und Gestaltung in der Welt ist-, und
sie ist deshalb die umfassendste und wertvollste von allen
Wissenschaften. Näher gruppiert sich ihr Inhalt um die
drei Fragen nach dem Verhältnis des Einzelnen und des All-
gemeinen, der Form und des Stoffes, des Bewegenden und
des Bewegten.
1. Das Einzelne und das Allgemeine. Wenn
Piaton für das ursprünglich und schlechthin Wirkliche nur
die Ideen, nur das Allgemeine gelten lassen wollte, das den
Inhalt unserer Begriffe bildet, und wenn er deshalb die
Ideen als fürsichseiende Wesenheiten beschrieb, die in ihrem
Dasein von den Einzeldingen unabhängig seien, so ist Aristoteles
damit nicht einverstanden. Er unterwirft Metaph. ^, 9, M,
4 — 10 u. ö. die Ideenlehre und die mit ihr zusammenhängen-
den Annahmen (vgl. S. 155 f.) der eindringendsten und (trotz
einzelner Ungerechtigkeiten und Mißverständnisse) vernichten-
den Kritik, und er hält ihr als besonders entscheidend ent-
gegen : daß das Allgemeine nichts Substantielles sei ; daß das
Wesen nicht außer den Dingen sein könne, deren Wesen es
ist; daß den Ideen die bewegende Kraft fehle, ohne die sie
nicht die Ursachen der Erscheinungen sein können. Er
seinerseits weiß nur das Einzelne für ein Wirkliches im
vollen Sinn, eine Substanz (ovaia) zu halten. l5enn wenn
dieser Name nur dem zukommt, was weder von einem andern
prädiziert wird noch einem andern als Akzidentelles anhaftet ^),
^) Kateg. 2 a 11 : ovaia ^ä lariv , , , rj ^^r« xaS^* vnoxufjiivov rivog
XiyiTat fjirJT* iv vnoxHfiivfj^ rivl iariv. Vgl. 1 a 20 iF.
§ 56. Aristoteles' Metaphysik. 181
«0 ist nur das Einzelwesen ein solches ; alle allgemeinen Be-
griffe dagegen drücken nur gewisse Eigenschaften der Sub'
stanzen und auch die Gattungsbegriffe nur das gemeinsame
Wesen gewisser Substanzen aus. Auch sie können daher
zwar (als devregai ovoiai) uneigentlich und abgeleiteterweise
Substanzen genannt, aber sie dürfen nicht für etwas außer
den Dingen Subsistierendes gehalten werden: sie sind nicht
«in ^iv naqa za noXhi, sondern ein ?v xarä tioIIüv. Daß
aber freilich zugleich der Form, die immer ein Allgemeines
ist im Vergleich mit dem aus Form und Stoff Zusammen-
gesetzten, die höhere Wirklichkeit zuerkannt wird (s. u.), und
daß (nach S. 173. 174) nur das Allgemeine Gegenstand des
Wissens, das an sich selbst Frühere und Bekanntere sein soll,
ist ein Widerspruch, dessen Folgen sich durch das ganze
aristotelische System hindurchziehen^).
2. So lebhaft indessen der Philosoph das Fürsichsein
und die Jenseitigkeit der platonischen Ideen bestreitet, so
will er doch die leitenden Gedanken der Ideenlehre so wenig
aufgeben, daß seine eigenen Bestimmungen über Form und
Stoff vielmehr nur ein Versuch sind, diese Gedanken in
einer haltbareren Theorie als die platonische durchzuführen.
Den Gegenstand des Wissens, sagt er mit Piaton, kann nur
das Notwendige und Unveränderliche bilden; alles Sinnliche
aber ist zufällig und veränderlich, es kann sowohl sein als
nicht sein (ist ein ivdexofÄevov xal elvai xai /uij elvav)'^ nur
<das Unsinnliche, das in unsern Begriffen gedacht wird, ist
so unveränderlich wie diese selbst. Noch wichtiger ist aber
für Aristoteles die Erwägung, daß jede Veränderung ein Un-
ireränderliches , alles Werden ein Ungewordenes voraussetze,
welches näher zweifacher Art ist : das Substrat, das zu etwas
wird und an dem die Veränderung sich vollzieht, und die
^) Vgl. zu Punkt 1 GoMPEBz Griech. Denker III, 58 ff., wo die Wider-
sprüche, in die sich Ar. dadurch verwickelt, daß er auf der einen Seite den
Ideen Piatons jede Dinglichkeit abspricht und auf der andern selbst den
Mrj oder Formen (s. o.) eine Substantialität zuerkennt, scharf hervor-
gehoben werden.
182 Zweite Periode.
Eigenschaften, in deren Mitteilung an jenes Substrat sie be-
steht. Jenes Substrat nennt Aristoteles mit einem von ihm
dafür gestempelten Ausdruck die vXrj^ den Stoff; diese Eigen-
schaften mit dem für die platonischen Ideen gebräuchlichen
das eldog (auch (Aoqqyri)^ die Form. (Andre Bezeichnungen
S. 178 Anm. 1.) Da das Ziel des Werdens erreicht ist,
wenn der Stoff seine Form angenommen hat, ist die Form
jedes Dinges seine Wirklichkeit und die Form überhaupt die
Wirklichkeit {Iveqyeiay ivrelix^ia^ oder das Wirkliche (ivcQ-
yei(f ov) schlechthin; da andrerseits der Stoff als solcher
zwar noch nicht ist^ was in der Folge aus ihm wird, aber doch
die Fähigkeit haben muß, es zu werden, ist er die Möglich-
keit (dvvafiig) oder das Mögliche (dvmfiet ov). Denken wir
uns den Stoff ohne alle Form, so erhalten wir die „erste
Materie" (TtQOjTtj üAij), die als bestimmungslos auch das
(qualitativ) unbegrenzte genannt wird, das gemeinsame Sub-
strat aller bestimmten Stoffe, das aber als das bloß Mögliche
nie für sich existiert oder existiert hat; dagegen lassen sich
die Formen nicht als bloße Modifikationen oder gar als Ge-
schöpfe einer allgemeinsten Form betrachten, jede von ihnen
ist vielmehr als diese bestimmte Form ewig und unvergäng-
lich wie die platonischen Ideen, nur daß sie nicht wie diese
außer den Dingen ist und bei der Ewigkeit der Welt dies
auch nie war. Die Form ist nicht bloß der Begriff und das
Wesen jedes Dinges, sondern auch sein Endzweck und die
Kraft, welche diesen Zweck verwirklicht; und wenn auch
diese ihre verschiedenen Beziehungen in der Regel an ver-
schiedene Subjekte verteilt sind und Aristoteles deshalb
häufig vier Arten von Ursachen zählt: die materiale, die
formale, die bewegende und die Endursache, so fallen doch
die drei letztgenannten ihrem Wesen nach und in einzelnen
Fällen (wie beim Verhältnis der Seele zum Leib und der
Gottheit zur Welt) auch tatsächlich zusammen; ursprünglich
ist nur der Unterschied der Form und des Stoffes. Dieser
zieht sich nun durch alles hindurch: wo sich eines zum
andern als das Vollendetere, das Bestimmende und Wirkende
§ 56. Aristoteles' Metaphysik. 183
verhält, wird jenes als die Form oder das Wirkliche, dieses
als der Stoff oder das Potentielle bezeichnet. Tatsächlich
erlangt aber freilich der Stoff auch bei Aristoteles eine Be-
deutung, die weit über den Begriff der bloßen Möglichkeit
hinausführt. Aus ihm stammt die Naturnotwendigkeit {avapiri)
und der Zufall {avcofiaTov und Tvxri)^)^ welche das zweck-
mäßige Wirken der Natur wie der Menschen beschränken
und in dieses eingreifen; auf der Beschaffenheit des Stoffes
beruht alle ünvoUkommenheit in der Natur, beruhen aber
auch so durchgreifende Unterschiede wie der des Himmlischen
und Irdischen, des Männlichen und Weiblichen; von dem
Widerstand des Stoffes gegen die Form rührt es her, daß
sich die Natur nur allmählich von den niedrigeren Gebilden
zu den höheren erheben kann; nur aus dem Stoffe weiß es
Aristoteles zu erklären, daß die untersten Artbegriffe in eine
Vielheit von Individuen auseinandergehen. Es läßt sich nicht
verkennen, daß der Stoff dadurch zu einem zweiten, mit
eigener Macht ausgestatteten Prinzip neben der Form wird;
und so groß die Vorteile sind, welche seine Lehre von Form
und Stoff ^), in Verbindung mit dem von ihm neugeschaffenen
Begriffspaar „Möglichkeit und Wirklichkeit" und dem Begriff
der Bewegung, dem Philosophen für die Erklärung der Er-
scheinungen gewährt, so störend ist doch die Unklarheit,
welche (vgl. S. 150 f.) daraus entsteht, daß die ovaia bald dem
Einzelwesen, bald der Form gleichgesetzt wird und die
Materie bald in einem abstrakten, bald in einem konkreten
Sinne gefaßt wird.
^) über das Verhältnis des Zufalls zur Notwendigkeit und zum
Kausalitätsprinzip vgl. Qomperz Griech. Denker IIT, 73 ff.
2) Ein Vorzug seiner Welterklärung ist, daß er zuerst eine Ent-
wicklung, wenn auch nicht im modernen Sinne, der Naturgebilde, ins-
besondere der organischen, gelehrt hat. Die Begriffe freilich, mit denen
er hierbei operiert, leiden nicht nur an Vieldeutigkeit, sondern tragen auch
etwas Erkünsteltes an sich und werden von ihm vielfach in unfruchtbarer
oder mißbräuchlicher Weise verwendet. Dies gilt namentlich, wie jetzt fast
allgemein zugestanden wird, von der öuva/bttg und h^gyna. Vgl. Gomper»
Griech. Denker HI Kap. 9 und Siebeck Aristot. S. 30—42.
Ig4 Zweite Periode.
3. Aus dem VerhältniQ der Form und des Stoffes geht
die Bewegung oder, was dasselbe, die Veränderung her-
vor, der alles in der Welt unterliegt, was einen Stoff an
sich hat. Die Bewegung ist nämlich nichts andres als das
Wirklichwerden des Möglichen als solchen (^ rov dvvdiABv
ovcoQ ivrelex^ia, ^ toiovtov Phys. III, 201 a 10 u. ö.). Den
Anstoß zu diesem Wirklichwerden kann aber nur ein solches
geben, das schon ist, was das Bewegte durch seine Bewegung
erst werden soll. Jede Bewegung setzt daher zweierlei vor-
aus: ein Bewegendes und ein Bewegtes, und auch wenn ein
Wesen sich selbst bewegt, muß dieses beides in ihm an ver-
schiedene Elemente verteilt sein, wie im Menschen an Seele
und Leib. Das Bewegende kann nur das Aktuelle, die Form
sein, das Bewegte nur das Potentielle, der Stoff. Jene wirkt
auf diesen dadurch, daß sie ihn reizt, sich der Wirklichkeit,
der Formbestimmtheit entgegenzubewegen; denn der Stoff
hat seiner Natur nach (sofern in jeder Anlage die Forderung
ihrer Betätigung liegt) ein Verlangen {lq>Uo&aij OQiyea&ai,
OQiiri) nach der Form als dem Guten und Göttlichen (Phys.
I, 192 a 16. n, 192 b 18. Metaph. ^, 1072 b 3). Wo daher
Form und Stoff sich berühren, entsteht immer und notwendig
Bewegung. Und da nun nicht allein Form und Stoff selbst,
sondern auch das Verhältnis beider, auf dem die Bewegung
beruht, ewig sein muß (denn seine Entstehung wie sein Ver-
schwinden könnte wieder nur durch eine Bewegung bewirkt
werden), da auch die Zeit und die Welt, welche beide ohne
Bewegung nicht gedacht werden können, anfangs- und end-
los sind (vgl. S. 189), so kann die Bewegung nie begonnen
haben und nie aufhören. Der letzte Grund dieser ewigen
Bewegung kann aber nur in einem Unbewegten liegen. Denn
wenn alle Bewegung durch die Einwirkung des Bewegenden
auf das Bewegte entsteht und somit ein von dem Bewegten
verschiedenes Bewegendes voraussetzt, so setzt das letztere,
wenn es gleichfalls bewegt ist, seinerseits wieder ein von ihm
verschiedenes Bewegendes voraus, und diese Forderung wieder-
holt sich , solange wir nicht zu einem Bewegenden kommen,
§ 56. Aristoteles' Metaphysik. 185
das selbst nicht wieder bewegt ist. Wenn es daher kein
unbewegtes Bewegendes gäbe, könnte es auch kein erstes
Bewegendes und somit überhaupt keine Bewegung, noch
weniger eine anfangslose Bewegung geben. Ist aber das
erste Bewegende unbewegt, so muß es immateriell, Form
ohne Stoff, reine Aktualität sein; denn wo Materie ist, da
ist auch die Möglichkeit des Andersseins, der Fortgang vom
Potentiellen zum Aktuellen, die Bewegung; nur das ün-
körperliche ist unveränderlich und unbewegt. Und da nun
die Form das vollkommene Sein ist, der Stoff das unvoll-
kommene, so muß das erste Bewegende das schlechthin Voll-
kommene sein, in dem die Stufenreihe des Seins zum Ab-
schluß kommt. Da ferner die Welt ein einheitliches, wohl-
geordnetes, auf einen letzten Zweck bezogenes Ganzes, die
Bewegung der Weltkugel eine einheitliche und stetige ist,
kann das erste Bewegende nur eines, nur jener letzte Zweck
selbst sein. Das schlechthin unkörperliche Wesen ist aber
nur der Geist oder das Denken (vovg). Der letzte Grund
aller Bewegung liegt daher in der Gottheit als dem reinen,
vollkommenen, seiner Kraft nach unendlichen Geiste. Die
Tätigkeit dieses Geistes kann nur im Denken bestehen, denn
jede andere Tätigkeit (jedes TtQovceiv und noieiv) hat ihren
Zweck außer sich selbst, was bei der des vollkommenen,
selbstgenugsamen Wesens undenkbar ist; und dieses Denken
kann sich nie im Zustand bloßer Potentialität befinden,
sondern es ist unaufhörliche Denktätigkeit (d^ecogla).
Seinen Gegenstand aber kann nur es selbst bilden; denn
der Wert des Denkens richtet sich nach dem seines Inhalts,
das Wertvollste und Vollkommenste ist aber nur der gött-
liche Geist selbst. Das Denken Gottes ist mithin „Denken
des Denkens", und in dieser unwandelbaren Selbstbetrachtung
besteht seine Seligkeit. Auch auf die Welt wirkt er nicht
dadurch, daß er aus sich herausgeht, sein Denken und
Wollen ihr zuwendet, sondern durch sein bloßes Dasein:
das schlechthin vollkommene Wesen ist als das höchste Gut
auch der letzte Zweck aller Dinge, das, dem alles zustrebt
186 Zweite Periode.
und sieb entgegenbewegt; von ihm bangt die einheitliche
Ordnung, der Zusammenhalt und das Leben der Welt ab;
einen auf die Welt gerichteten göttlichen Willen, eine schöpfe-
i'ische Tätigkeit oder ein Eingreifen der Gottheit in den Welt-
lauf hat Aristoteles nicht angenommen ^).
§ 57. Aristoteles' Physik:
Ihr Standpunkt und ihre Grundbegriffe.
Wenn es die „erste Philosophie" mit dem Unbewegten
und Unkörperlichen zu tun hat, bildet den Gegenstand der
Physik das Bewegte und Körperliche und zwar das, welches
den Grund seiner Bewegung in sich selbst hat. „Die Natur
(g)vaig) ist der Grund der Bewegung und Ruhe in dem,
welchem diese ursprünglich zukommen" (Phys. II, 192 b 20) ;
wie wir uns aber diesen Grund näher zu denken haben, und
wie er sich zu der Gottheit verhält, bleibt unklar, und so
geläufig es dem Philosophen ist, die Natur wie eine reale in
der Welt wirkende Kraft zu behandeln, so wenig gibt ihm
doch sein System das Recht zu dieser Hypostasierung.
Unter der Bewegung versteht nun Aristoteles (s. S. 184)
im allgemeinen jede Veränderung, jedes Wirklichwerden eines
Möglichen, und er zählt in diesem Sinne vier Arten der
Bewegung: die substantielle: Entstehen und Vergehen; die
quantitative: Zunahme und Abnahme; die qualitative: Um-
wandlung (älXolwaigy Übergang eines StoflFes in einen andern);
die räumliche ((poqd, Ortsveränderung); rechnet dann aber
auch wieder nur die drei letztgenannten zur Bewegung im
engeren Sinn (nivrjaig), während der Begriflf der Veränderung
(ßeraßolTJ) alle vier umfaßt. Alle andern Arten der Ver-
änderung sind durch die räumliche Bewegung bedingt; und
Aristoteles untersucht (Phys. III. IV) eindringender als irgend-
einer von seinen Vorgängern die Begriffe, welche sich zu-
^) Die wichtigsten Stellen für die aristotelische Theologie finden sich
Phys. VIII, 5. 6. 10. Metaph. ^, 6 f. 9 f. De coelo I, 279 a 17 ff. Fragm.
12—16. — Vgl. GoMPERz Griech. Denker III Kap. 18.
§ 57. Aristoteles' Grundbegriffe der Physik. 187
nächst auf diese Art der Bewegung beziehen. Er zeigt, daß
das Unbegrenzte nur potentiell, in der unendlichen Ver-
mehrbarkeit der Zahlen und der unendlichen Teilbarkeit der
Größen, nicht aktuell gegeben werden könne. Er definiert
den Raum (TOTtog, seltener x^Q^)^ ^^^ ®r aber von dem Ort
noch nicht scharf unterscheidet, als die Grenze des um-
schließenden Körpers gegen den umschlossenen, die Zeit als
die Zahl der Bewegung in Beziehung auf das Früher und
Später {ccQid-fÄcg ycirtjaecag xarä to TtqoreQOv nai varegov);
und er folgert daraus, daß es außer der Welt weder Raum
noch Zeit gebe, daß ein leerer Raum (wie gegen die Atomistik
eingehend ausgeführt wird) undenkbar sei, daß die Zeit,
wie jede Zahl, eine zählende Seele voraussetze ^). Er beweist
(um vieles andre zu tibergehen), daß die räumliche Bewegung
und von den räumlichen Bewegungen die Kreisbewegung die
einzige einheitliche und stetige Bewegung sei, welche anfangs-
und endlos sein kann. — Indessen reicht die räumliche Be-
wegung und die ihr entsprechende mechanische Natur-
betrachtung nach Aristoteles' Überzeugung zur Erklärung
der Erscheinungen nicht aus. Er behauptet ihr gegenüber
die qualitative Verschiedenheit der Stoffe, und bestreitet
nicht allein Piatons mathematische Konstruktion der Elemente,
sondern auch die Atomenlehre mit Gründen, gegen welche
sich diese in ihrer demokritischen Gestalt und nach dem
damaligen Stande der Naturkenntnis nicht schützen ließ.
Er sucht ebenso unter Bekämpfung der entgegenstehenden
Theorien zu zeigen, daß sich die Stoffe und insbesondere die
Elemente qualitativ ineinander umwandeln, indem die Eigen-
schaften des einen unter der Einwirkung eines andern sich
ändern ; dieses Verhältnis des Wirkens und Leidens ist aber,
wie er glaubt, nur da möglich, wo zwei Körper einander
teilweise ähnlich, teilweise unähnlich, d. h. wo sie sich inner-
halb derselben Gattung entgegengesetzt sind. Und dement-
^) Eine nähere Erklärung und kritische Würdigung der Auffassung
des Baumes und der Zeit bei Gomperz Qriech. Denker III, 91 ff.
188 Zweite Periode.
sprechend verteidigt Aristoteles auch die Vorstellung ^ nach
welcher die Mischung der Stoffe nicht in einem blofien Ge-
menge, sondern in der Bildung eines neuen Stoffes aus den
miteinander gemischten besteht (chemische Mischung), gegen
die mechanischen Theorien ^). — Noch wichtiger ist ihm aber
der Grundsatz, daß sich die Wirksamkeit der Natur über-
haupt nicht bloß als eine physikalische, sondern wesentlich
nur als Zwecktätigkeit betrachten lasse. Das Ziel alles
Werdens ist die Entwicklung der Potentialität zur Aktualität,
die Einbildung der Form in den Stoff. Aus der aristotelischen
Lehre von Form und Stoff folgt daher ebenso wie aus der
platonischen Ideenlehre ein Übergewicht der teleologischen
Naturerklärung über die physikalische. „Die Natur**, erklärt
Aristoteles, ,,tut nichts zwecklos;** „sie strebt immer nach
dem Besten*', „sie macht nach Möglichkeit immer das Schönste*' ;
nichts in ihr ist überflüssig, nichts umsonst, nichts unvoll-
ständig; in allen ihren Werken, auch den geringsten, ist
etwas Göttliches, und selbst die Abfälle verwendet sie wie
ein guter Haushalter, um etwas Nützliches hervorzubringen.
Daß dem so ist, zeigt die Naturbeobachtung, welche uns in
der Einrichtung der Welt und in den Naturerzeugnissen im
Größten wie im Kleinsten die bewunderungswürdigste Zweck-
mäßigkeit erkennen läßt. Diese Zweckmäßigkeit aber auch
auf eine durchgängige Zwecktätigkeit zurückzufLlhren,
nötigt uns die Erwägung, daß das, was regelmäßig eintritt,
sich nicht vom Zufall herleiten läßt ; und wenn wir der Natur
allerdings keine Überlegung zuschreiben können, beweist
dies doch nur, daß sie ebenso wie die vollendete Kunst das
Zweckmäßige mit jener unfehlbaren Sicherheit vollbringt, die
jede Wahl ausschließt. Der eigentliche Grund der Natur-
dinge liegt daher in den Endursachen; die materiellen Ur-
^) Daß Ar.s Elementarlehre zum größten Teil auf willkürlichen
Spekulationen beruht und seine Annahme (s. S. 190) von den „natürlichen
Orten" der Elemente und ihrer Umwandlung ineinander einen Rückschritt
nicht nur hinter die Atomiker, sondern auch hinter Empedokles und andre
Ältere Philosophen bedeutet, zeigt Gomperz Griech. Denker III, 46 ff.
§ 58. Das Weltgebäude und seine Teile. IgQi
Sachen dagegen betrachtet Aristoteles mit Piaton (vgl. S. 142)»
zwar als ihre Bedingungen, als unentbehrliche Hilfsmittel
(«1 V7co&ias(og avayxäiovy awalxiov^ xb ov ovn avev tc ev\
aber nicht als ihre positiven Ursachen. Welchen Widerstand
aber freilich diese Mittelursachen der Zwecktätigkeit der
Natur leisten, wie sie diese in ihrem Erfolge beschränken
und sie in der irdischen Welt (denn die himmlische hat einen
anders gearteten Stoff) zu einem stufenweisen Fortgang vom
Unvollkommeneren zum Vollkommeneren nötigen, ist schon>
S. 183 bemerkt worden^).
§ 58. Das Weltgebäude und seine Teile.
Aus der Ewigkeit der Form und des Stoffes folgt mit:
der Anfangs- und Endlosigkeit der Bewegung (s. o. S. 184)
auch die des Weltgebäudes, welche der Philosoph (s. S. 163)
schon frühe behauptet hat; die Annahme, daß die Welt zwar
entstanden sei, aber ewig dauern werde (vgl. Piatons Lehre
S. 144 ff.), übersieht, daß Entstehen und Vergehen sich
gegenseitig bedingen und nur das unvergänglich sein kann,
dessen Natur das eine ebenso ausschließt wie das andre.
Selbst in der irdischen Welt sind es immer nur die Einzel-
wesen, die entstehen und vergehen; die Gattungen dagegen
sind anfangslos, und es hat deshalb immer Menschen gegeben ;
nur daß diese (wie schon Piaton annahm) von Zeit zu Zeit
^) Die teleologische Welterklärung des Ar. erhebt sich weit über die-
enge und äußerliche Auffassung, wie sie uns bei Sokrates in Xenophons
Denkwürdigkeiten entgegentritt (s. S. 104). Die zweckmäßige Gestaltung
der Dinge stammt nach ihm nicht von einer außerhalb der Natur liegenden.
Ursache, etwa einem Weltschöpfer oder Weltordner, sondern sie ist der
Natur immanent, die das Prinzip der Bewegung in sich selbst hat Daher
stellt er auch nicht den Menschen in den Mittelpunkt seiner teleologischen-
Betrachtungen, sondern die Ordnung und den Zusammenhang des Welt-
ganzen. Daß er in der Anwendung dieses Prinzips auf die einzelnen Ge-
biete und ErscheinuDgen des Naturlebens vielfach fehlgreift, kann bei dem
damaligen Stande der Naturforschung kein Wunder nehmen. S. Ph. d. Gr.
ra 2 S. 422 ff. 487 ff. Gompebz Griech. Denker III, 101 ff. Siebeck Arist.
S. 59 ff.
190 Zweite Periode.
durch verheerende Naturereignisse auf weiten Strecken teils
vertilgt, teils in den Rohzustand zurückgeworfen werden.
Durch diese von ihm zuerst aufgestellte und tief in sein
System eingreifende Lehre von der Ewigkeit der Welt kommt
der kosmogonische Teil der Physik für Aristoteles in Weg-
fall : er hat nicht die Entstehung, sondern nur die Beschaffen-
heit der Welt zu erklären.
Die Grundlage hierfür bildet nun für ihn die Unter-
scheidung der zwei ungleichen Hälften, aus denen das Welt-
ganze besteht: der Welt über und der unter dem Monde,
der himmlischen und der irdischen, des Jenseits (to iiui)
und des Diesseits (tö ivravd-a). Die unvergängliche Natur
der Gestirne und die unwandelbare Regelmäßigkeit ihrer
Bewegungen beweist, was Aristoteles auch aus allgemeinen
Gründen darzutun versucht, daß sie schon ihrem Stoffe nach
vpn den vergänglichen, einem beständigen Wechsel unter-
liegenden Dingen verschieden sind. Jene bestehen aus dem
Äther, dem gegensatzlosen Körper, der keiner Veränderung
außer der Ortsveränderung fähig, und dem von allen Be-
wegungen nur die Kreisbewegung eigen ist; diese aus den
vier Elementen, die untereinander in einem doppelten Gegen-
satz stehen: dem der Schwere und Leichtigkeit, welcher von
der ihnen eigentümlichen geradlinigen Bewegung nach ihren
natürlichen Orten herrührt, und dem qualitativen, der sich
aus den verschiedenen möglichen Kombinationen der Grund-
eigenschaften , warm und kalt, trocken und feucht, ergibt
(das Feuer ist warm und trocken, die Luft warm und feucht,
das Wasser kalt und feucht, die Erde kalt und trocken).
Wegen dieses Gegensatzes gehen sie beständig ineinander
über; dieser Übergang ist aber für die, welche sich ferner
stehen (Erde und Luft, Wasser und Feuer), durch die Um-
wandlung in eines der zwischen ihnen liegenden Elemente
vermittelt^). Schon hieraus folgt nun nicht allein die Ein-
heit der Welt, welche durch die des ersten Bewegenden
1) Vgl. hierzu S. 188 Anm. 1.
§ 58. Das Weltgebäude und seine Teile. IQl
ohnedies sichergestellt ist, sondern auch ihre Kugelgestalt,
die aber Aristoteles noch mit vielen andern physikalischen
und metaphysischen Gründen zu beweisen sucht. In der
Mitte der Welt ruht als ein verhältnismäßig kleiner Teil von
ihr die Erde, ihrer Gestalt nach gleichfalls eine Kugel; um
sie lagern sich in konzentrischen, kugelförmigen Schichten
das Wasser, die Luft und das Feuer (oder genauer: der
WärmestoflF, vttixxavfia, denn die Flamme ist vTtegßoX^ ^v^og);
dann kommen die himmlischen Sphären, deren Stoff um so
reiner sein soll, je ferner sie der Erde sind. Die äußerste
von diesen Sphären ist der Fixsternhimmel (tvqwtoq ovqavog)^
dessen tägliche Drehung von der ihn raumlos (vgl. S. 187)
umgebenden Gottheit bewirkt wird. Die Bewegung jeder
Sphäre besteht in einer durchaus gleichmäßigen Drehung um
ihre Achse, wie dies Aristoteles mit Piaton und der ganzen
gleichzeitigen Astronomie voraussetzt, von der ersten Sphäre
aber auch eingehend beweist. Wir mttssen daher (nach einer
von Piaton herrührenden Fassung des Problems) die Anzahl
von Sphären annehmen und ihnen die Bewegungen beilegen,
welche vorausgesetzt werden müssen, um die tatsächliche
Bewegung der sieben Planeten aus lauter gleichmäßigen
Kreisbewegungen zu erklären. Unter dieser Voraussetzung
hatte nun Eudoxos (S. 161) die Zahl der Sphären, welche die
Bewegung der Planeten bewirken, mit Einschluß der sieben,
in denen diese selbst befestigt sind, auf 26, Kallippos auf 33
berechnet. Aristoteles schließt sich an sie an; da sich aber
nach seiner Theorie die äußeren Sphären zu den inneren ver-
halten wie die Form zum Stoff, das Bewegende zum Be-
wegten, so müßte jede allen von ihr umschlossenen ihre Be-
wegung ebenso mitteilen, wie die äußerste dies tut, indem
sie alle bei ihrer täglichen Drehung mit herumführt, und es
müßte dadurch die Eigenbewegung jedes Planeten von denen
der sämtlichen ihn umschließenden Sphären gestört werden,
wenn nicht besondere Vorkehrungen dagegen getroffen wären.
Aristoteles nimmt daher an, zwischen den Sphären jedes
Planeten und denen des nächstunteren bewegten sich in einer
192 Zweite Periode.
den Bewegungen der ersteren entgegengesetzten Riditang
so viele „zurückführende'' (avelivcovaai) Sphären, als nötig
sind, um den Einfluß der einen auf die andern aufzuheben*
Ihre Zahl berechnet er auf 22, und indem er diese zu denen
des Kallippos hinzufügt, erhält er im ganzen, die Fixstern-»
Sphäre mitgerechnet, 56 himmlische Sphären. Jeder von diesen
muß aber ebenso wie dem „ersten Himmel'' ihre. Bewegung
von einer ewigen und unbewegten, also unkörperlichen Sub-
stanz, einem ihr zugehörigen Geiste mitgeteilt werden, und
es müssen demnach dieser Sphärengeister ebenso viele sein: als
der Sphären; und die Gestirne werden deshalb auch von
Aristoteles als beseelte, vernünftige, hoch über dem Menschen
stehende, göttliche Wesen gepriesen. Dem jedoch, was er
über die Zahl der Sphären und Sphärengeister sagt, will ei*
nicht mehr als Wahrscheinlichkeit beilegen. (Metaph. ^, 8.
SiMPL. zu de coelo S. 488, 3 ff. Heib.)*).
Durch die Bewegung der himmlischen Sphären soll nun
infolge der Reibung, namentlich an den Stellen, welche unter
der Sonne liegen, in der Luft, Licht und Wärme entstehen;
dieser Erfolg tritt aber wegen der Neigung der Sonnenbahn
in den verschiedenen Jahreszeiten fiir jeden Ort in verschie-
denem Mafie ein, und die Folge davon ist der Kreislauf des
Entstehens und Vergehens, dieses Abbild des Ewigen im
Vergänglichen, das Auf- und Abströmen der Stoffe und die
Umsetzung der Elemente ineinander, woraus alle jene atmo-
sphärischen und irdischen Erscheinungen hervorgehen, mit
denen Aristoteles' Meteorologie sich beschäftigt.
§ 59. Die lebenden Wesen.
Der Betrachtung der organischen Natur hat Aristoteles
einen großen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit gewidmet
^) Zur Astronomie des Ar. vgl. Qompebz Qriech. Denker m, 175 ff.,
wo anch das Verhältnis seiner Sphärentheorie zu der des Eudoxos und
Kallippos, teilweise im Gegensatz zu Schiaparellis und Haltschs Aufifassong,
näher erörtert wird.
§ 59. Die lebenden Wesen. 193
(vgl. S. 167); und konnte er auch hierfür ohne Zweifel schon
manche Untersuchung von Naturforschern und Ärzten, wie
namentlich die Demokrits, benutzen, so gingen doch seine
eigenen Leistungen allen Anzeichen nach über die ihrigen
so weit hinaus, daß wir ihn unbedenklich nicht bloß den
hervorragendsten Vertreter, sondern auch den Haupturheber
der vergleichenden wie der systematischen Zoologie bei den
Griechen, und selbst wenn er sein Pflanzen werk nicht ge-
schrieben haben sollte, jedenfalls wegen seiner Lehrtätigkeit
auch den ersten Begründer einer wissenschaftlichen Pflanzen-
kunde nennen dürfen^).
Das Leben besteht in der Fähigkeit, sich selbst zu be-
wegen. Jede Bewegung setzt aber zweierlei voraus: eine
Form, die bewegt, und einen Stoff, der bewegt wird. Dieser
Stoff ist der Leib, jene Form ist die Seele des lebenden
Wesens. Die Seele ist daher weder ohne Körper noch selbst
etwas Körperliches; sie ist ebendamit auch unbewegt, nicht
das sich selbst Bewegende, wie Piaton wollte; ihre Verbindung
mit ihrem Leib ist die gleiche wie überhaupt die der Form
mit dem Stoffe. Als die Form ihres Leibes ist sie ferner
auch sein Zweck (vgl. S. 182), der Leib ist nur das Werk-
zeug der Seele, dessen Beschaffenheit sich nach dieser Be-
stimmung richtet, und eben dies ist der (von Aristoteles zu-
gleich mit dem Worte zuerst gebildete) Begriff des Org^a-
nischen. Wenn daher die Seele als die erste Entelechie
eines organischen Leibes (ivrelixeta r^ TtQWTfj oaifÄaTog q)vaixov
OQyavmovy De an. II, 412b 4) definiert wird, so heißt dies:
sie sei sein Lebensprinzip, die Kraft, die ihn bewegt und als
ihr Werkzeug aufbaut; und es ist deshalb ganz natürlich,
daß die Zwecktätigkeit der Natur gerade an den lebenden
Wesen am deutlichsten zum Vorschein kommt, weil hier
^) Die großen Verdienste des Ar. um die Erforschung der organischen
Natur werden eingehend gewürdigt, aber auch die Schwächen seiner Be-
trachtungsweise auf diesem Gebiete dargelegt von Gompebz Gr. Denker JII,
Kap. 12 — 14, von denen das letzte seine Bedeutung als Embryologe hervor-
treten läßt.
Zeller, Grundrifs. 13
194 Zweite Periode.
alles von Anfang an auf die Seele und die von ihr aus-
gehenden Wirkungen berechnet ist. Kann aber jene Zweck -
tätigkeit den Widerstand des StoflFes schon überhaupt nur
allmählich überwinden (vgl. S. 183), so ist das Seelenleben
auch an sich selbst von sehr ungleicher Beschaffenheit. Das
Leben der Pflanzen besteht in der Ernährung und Fort-
pflanzung; bei den Tieren kommt dazu die Sinnesempfindung
und bei ihrer großen Mehrzahl auch die Ortsveränderung;
beim Menschen endlich verbindet sich mit beiden das Denken.
Aristoteles nimmt daher, in teil weisem Anschluß an Piaton
(S. 147 f.), drei Arten von Seelen an, welche da, wo sie sich
zu einer individuellen Seele verbinden, ebensoviele Teile
dieser bilden, und welche sich zueinander so verhalten, daß
die höheren nicht ohne die niedrigeren vorkommen, wohl
aber diese ohne jene : die ernährende oder Pflanzenseele, die
empfindende oder Tierseele, die vernünftige oder Menschen-
seele. Der fortschreitenden Entwicklung des Seelenlebens
entspricht die Stufenreihe der lebenden Wesen, welche sich
stetig, durch allmähliche Übergänge vermittelt, von den un-
vollkommensten zu den höchsten erstreckt; daß es aber die
gleichen Gesetze sind, von denen diese ganze Reihe beherrscht
ist, zeigen die zahlreichen Analogien, die sich zwischen ihren
verschiedenen Teilen finden.
Die unterste Stufe nehmen die Pflanzen ein, die, auf
die Funktionen der Ernährung und Fortpflanzung beschränkt,
eines einheitlichen Mittelpunktes (fieaorrjg) für ihr Leben ent-
behren und deshalb noch keiner Empfindung fähig sind. In-
dessen berührt sie Aristoteles in den erhaltenen Schriften
immer nur beiläufig. Um so eingehender beschäftigt er sich
darin mit den Tieren*); und er macht es sich dabei durch-
aus zur Aufgabe, mit der genauesten Kenntnis des Einzelnen
zugleich die seiner Bedeutung für das Ganze und seiner
Stellung im Ganzen zu verknüpfen. — Der Körper der Tiere
ist aus den gleichteiligen Stoffen (ofioiofÄBQrj; vgl. S. 80) zu-
^) J. B, Meyee Aristoteles' Tierkunde. 1855.
§ 59. Die lebenden Wesen. 195
gammengesetzt , die ihrerseits eine . Miischung der elemen-
tarischen sind; unter ihtien ist das Fleisch als Sitz der
Empfindung . (die Nerven sind erst später entdeckt worden)
von besonderer Beideutung. Der unmittelbare Träger der
Seele ist das Pneuma als Grund der Lebenswärme, ein dem
Äther verwandter Körper, mit dem sie durch den Samen
vom Vater in das Kind übergeht; der Hauptsitz der Lebens-
wärme ist das Zentralorgan, welches bei den blutführenden
Tieren das Herz ist; im Herzen wird aus den Nahrungs-
stoffen, welche die Adern (der Unterschied der Schlag- und
Blutadern ist Aristoteles noch unbekannt) ihm zuführen, das
Blut gekocht, das teils zur Ernährung des- Körpers dient, teils
auch (s. . u*) die Bildung gewisser Vorstellungen vermittelt.
Die Entstehung der Tiere hat verschiedene Formen, die der
Philosoph sorgfältig untersucht hat; neben der geschlecht-
lichen Erzeugung nimmt er auch eine Urzeugung, selbst
noch bei einigen Fischen und Insekten, an. Die erstere Art
der Entstehung gilt ihm jedoch für die vollkommenere. Bei
dieser soll sich der männliche Teil zum weiblichen verhalten
wie die Form zum Stoffe, von jenem die Seele, von diesem
der Leib des Kindes ausschließlich herstammen; der physio-
logische Grund dieses verschiedenen Verhaltens soll aber
darin liegen, daß das weibliche Geschlecht wegen seiner
kälteren Natur das zur Bildung des Zeugungsstoffes dienende
Blut nicht vollständig auskochen kann. Die Art, wie sich
der Organismus bildet, besteht im allgemeinen in der Ent-
wicklung aus der Wurmform durch die Eiform zur organi-
schen Gestalt. Im einzelnen aber finden sich hinsichtlich
ihrer Entstehung wie hinsichtlich ihres Körperbaues, ihrer
Wohnorte, ihrer Lebensweise, der Art ihrer Fortbewegung
unter den Tieren die eingreifendsten Unterfichiede. Aristoteles
bemüht sich, den stufen weisen Fortgang vom Niedrigeren
zum Höheren, den er annimmt, in allen diesen Beziehungen
nachzuweisen; daß es ihm nicht gelungen ist, diesen Ge-
sichtspunkt ohne Schwanken durchzuführen oder aus ihm
eine natürliche Klassifikation des Tierreiches aufzustellen,
13*
196 Zweite Periode.
kann nicht überraschen. Unter den neun Klassen von Tieren,
die er gewöhnlich aufzählt (lebendiggebärende Vierfllßer,
eierlegende Vierfüßer, Vögel, Fische, Wale, Weichtiere,
Weichschaltiere, Schal tiere, Insekten) tritt als durchgreifend-
ster Gegensatz der der blutlosen und blutführenden Tiere
hervor, von dem er selbst (h. an. III, 516 b 22 ff.) bemerkt,
daß er mit dem der wirbellosen und Wirbeltiere zusammenfalle.
§ 60. Der Mensch.
Was den Menschen von allen andern lebenden Wesen
unterscheidet, ist der Geist (vovg), der* sich bei ihm mit der
tierischen Seele verbindet; und auch sein Körperbau und
seine niederen Seelentätigkeiten entsprechen der höheren Be-
stimmung, die sie durch diese Verbindung erhalten. In jenem
kündigt sich diese Bestimmung schon durch seine aufrechte
Stellung und das Ebenmaß seiner Gestalt an; er hat das
meiste und reinste Blut, das größte Gehirn, die höchste
Lebenswärme; ihm sind in den Sprach Werkzeugen und der
iHand die wertvollsten Organe verliehen. Unter den sinn-
lichen Seelen tätigkeiten ist die Wahrnehmung {aXa^rjOig)
eine Veränderung, welche von dem Wahrgenommenen durch
Vermittlung des Leibes in der Seele bewirkt wird, und welche
näher darin besteht, daß dem Wahrnehmenden die Form des
Wahrgenommenen mitgeteilt wird. /Die einzelnen Sinne als
solche unterrichten uns aber immer nur über die Eigen-
schaften der Dinge, auf die sie sich speziell beziehen; und
was sie hierüber aussagen (die aia&r]aig xwv idi(av) , ist
immer wahr. Ihre allgemeinen Eigenschaften dagegen, über
die wir durch alle Sinne etwas erfahren, Einheit und AnzahL
Größe und Gestalt, Zeit, Ruhe und Bewegung, erkennen wir
nicht durch einen einzelnen Sinn, sondern nur durch den
Gemeinsinn (cdad-rßYiQiov iioiv6v\ in welchem die in den
Sinnesorganen erzeugten Bilder sich vereinigen ; ebenso
können wir nur durch ihn die Wahrnehmungen der ver-
fcbie(}eifen Sinne vergleichen und unterscheiden, die Bilder,
§ 60. Der Mensch. 197
die sie uns liefern, auf Gegenstände beziehen und uns unsrer
Wahrnehmung als der unsrigen bewußt werden. Das Organ
dieses Gemeinsinnes ist das Herz; /das Medium , durch das
die Bewegungen der Sinnesorgane zu ihm gelangen, scheint
das Pneuma zu sein. Wenn sich die Bewegung im Sinnes-
organ über die Dauer der Wahrnehmung hinau&f erhält, sich
in das Zentralorgan fortpflanzt und hier ein erneuertes Auf-
treten des sinnlichen Bildes hervorruft, entsteht die Ein-
bildung (q)avTaalay das aber auch die Einbildungskraft
bezeichnet); und diese kann ebenso wie die Aussagen des
Gemeinsinnes nicht bloß wahr , sondern auch falsch sein.
Wird eine Einbildung als Abbild einer früheren Wahrnehmung
erkannt (worüber man sich freilich gleichfalls nicht selten
täuscht), so nennen wir sie eine Erinnerung (fxvTjfÄf])'^
das bewußte Hervorrufen einer Erinnerung ist die Besinnung
(avdfjivr^aig)^). Das Gedächtnis hat daher seinen Sitz gleich-
falls im Gemeinsinn. Eine durch die Verdauung herbei-
geführte Veränderung im Zentralorgan bewirkt den Schlaf,
ein Erlöschen der Lebenswärme in ihm den Tod. Innere
Bewegungen in den Sinnesorganen oder auch solche, die
durch äußere Eindrücke hervorgerufen werden, erzeugen,
wenn sie zum Zentralorgan gelangen, die Träume, die deshalb
unter Umständen Anzeichen eines im Wachen unbemerkt ge-
bliebenen Vorganges sein können. Wird das Wahrgenommene
unter den Gesichtspunkt des Guten oder Übeln gestellt, so
entsteht Lust oder Unlust (welche somit, wie De an. IH, 7
andeutet, immer ein Werturteil enthalten) und aus diesem
ein Begehren, sei dieses nun Verlangen oder Widerstreben.
Auch diese Zustände gehen von dem Mittelpunkt der Emp-
findung (der alö&r^i'Ktj (xea6nf]g a. a. O. 431 a 11) aus.
Zwischen Gefühl und Begehren wird noch nicht schärfer
^) [Den Unterschied zwischen ^vrffiri (juvrjfjioveveiv) und avafAvriaig
hat Ar. nicht mit voller Klarheit entwickelt, und die Ansichten der Neueren
darüber sind daher geteilt. Eine von der obigen abweichende Auffassung
8. bei GoMPERz Griech. Denker III 143 ; vgl. Hicks Arist. d. an., p. LVI f.^
198 Zweite Periode.
unterschieden, und wenn Aristoteles mit Piaton die eTti&vfiia
und den 9vfi6g als die rein sinnliche und die edlere Form
des vernunftlosen Begehrens sich gegenüberstellt, hat er doch
den Begriff des dvfAog nicht genauer bestimmt: er versteht
darunter den Zorn, den Mut und das Gemüt ^).
Alle diese Funktionen gehören aber als solche der ani-
malischen Seele an. Erst im Menschen kommt zu dieser der
Geist oder die Denkkraft (der vovg) hinzu. Während jene
mit dem Leibe, dessen Form sie ist, entsteht und vergeht,
ist der Geist unentstanden und unvergänglich; er tritt von
Außen (dvQad^ev) in den Seelenkeim ein, der vom Vater auf
das Kind übergeht, hat kein körperliches Organ, ist keines
Leidens und keiner Veränderung fähig (aTtadrfi) und wird
vom Untergang des Leibes nicht betroffen. Aber als der
Geist eines menschlichen Individuums, in Verbindung mit
einer Seele, wird er von dem Wechsel ihrer Zustände doch
berührt. In dem Einzelnen geht das Denkvermögen dem
wirklichen Denken voran ; sein Geist ist wie eine leere Tafel,
auf die erst durch das Denken selbst (das heißt aber nicht:
durch die sinnliche Wahrnehmung, sondern: durch die An-
schauung der vorjrä) ein bestimmter Inhalt eingeschrieben
wird; und sein Denken ist immer von sinnlichen Bildern
{q>avzaoiiai:a) begleitet.. Aristoteles unterscheidet daher einen
doppelten Novg: den, der alles wirkt, und den, der alles wird,
den tätigen und den leidenden ^). Der letztere soll mit dem
Körper entstehen und vergehen, während der tätige seiner
Natur nach ewig (jener q)d^aQT6g, dieser aldiog) ist. Da aber
^) Auf die Affekte geht Ar. weder in der Seelenlehre noch in der Ethik
näher ein, dagegen bespricht er sie ausführlich im 2. B. der Rhetorik c. 1
bis 11, wo uns zum ersten Male in der philosophischen Literatur eine ge*
naue Definition der einzelnen Affekte gegeben wird, die nach Ar. in einer
Mischung von Lust und Unlust bestehen und je nach dem Überwiegen der
einen oder der andern in Lust- und Unlustaffekte zerfallen.
") Den letzteren nennt er selbst vovg nnd-riTixog, den ersteren be-
zeichnet er zwar als das notodVi aber vovg noiriTixdg findet sich erst bei
den Spateren.
§ 60. Der Mensch. 199
üDBer Denken als individuelles nur durch ein Zusammen-
wirken beider zustande kommt, haben wir keine Erinnerung
an das frühere Dasein unseres Geistes, und ebensowenig wird
sonst eine von den Tätigkeiten, die nach Aristoteles nur dem
aus dem Novg und der Seele zusammengesetzten Wesen zu-
kommen ^), dem körperlosen Geiste vor oder nach dem gegen-
wärtigen Leben beigelegt werden können^). Genauere Be-
stimmungen über das Wesen der leidenden Vernunft und ihr
Verhältnis zur tätigen suchen wir aber freilich bei Aristoteles
vergeblich. Wir sehen wohl, daß er in ihr ein Band zu ge-
winnen sucht, welches den Zusammenhang zwischen dem
Novg und der animalischen Seele herstellen soll ; aber er zeigt
uns nicht, wie die verschiedenen Eigenschaften, die er ihr
beilegt, sich widerspruchslos vereinigen lassen, und ebenso-
wenig hat er die Frage auch nur aufgeworfen, wo die mensch-
liche Persönlichkeit ihren Sitz hat, wie der körperlose Novg
ohne Erinnerung usw. ein persönliches Leben führen, wie
andrerseits das Selbstbewußtsein und die persönliche Lebens-
einheit, deren Ausdruck es ist, durch die Verbindung des Novg
mit der tierischen Seele, des Ewigen mit dem Vergänglichen,
entstehen und wie das aus beiden zusammengesetzte Wesen
ihr Subjekt sein könnte*).
Auf der Verbindung der Vernunft mit den niederen Seelen-
kräften beruhen nun die Geistestätigkeiten, durch die der
Mensch sich über die Tiere erhebt. Die Tätigkeit des Novg
rein als solche ist jenes unmittelbare Ergreifen der höchsten
Wahrheiten, dessen schon S. 176 gedacht wurde. Von ihm
unterscheidet Aristoteles (mit Piaton) das mittelbare Erkennen
als didvoia oder eTtiatrjfirj und von diesem die Meinung (öo^a),
die sich auf das Nichtnotwendige bezieht, ohne doch dieses
^) Das ÖMVoeiadaif (pilnr, juiastv, /nvrifiovivetv, welche nach De an.
I, 408 b 25 flf. nicht nddri des Novg, sondern des xoivov sind.
2) Das obige nach De an. HI, 4. 5. c. 7. 431 a 14. b. 2. c. 8. 432 a 8.
I, 408 b 18 ff. II, 413 b 24. gen. an. II, 3 vgl. Phil. d. Gr. H 1, 566 ff.
602 ff. Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1883* Nr. 49.
^) Vgl. über die Lehre vom Noüj Gompeez Gr. D. III Kap. 17.
200 Zweite Periode.
oder jenes psychologisch näher zu erklären. Wird das Be-
gehren von der Vernunft geleitet , so wird es zum Willen
(ßovXrjaig). Die Freiheit des Willens" setzt Aristoteles un-
bedingt voraus und beweist sie mit der Freiwilligkeit der
Tugend und der allgemein anerkannten Zurechenbarkeit
unserer Handlungen; und er behauptet deshalb auch^ über
die letzten Zwecke unsres Handelns (die allgemeinsten sitt-
lichen Werturteile) entscheide unsre Willensbeschaffenheit,
die Tugend sei es, von der die Richtigkeit unsrer Ziele
abhänge (Eth. VI, 1144a 6 u.a.). Dagegen hat die Über-
legung festzustellen , was die besten Mittel für jene Zwecke
sind. Sofern die Vernunft dieses leistet, heifit sie die über-
legende oder praktische Vernunft (votg oder Xoyog
nganziTLog^ didvoia ngaiiTixij, to loyiatinov im Unterschied
vom irtiatrjiiovniov), in deren Ausbildung die Einsicht (q^Qo-
vrjoig) besteht. Genauere Untersuchungen über die inneren
Vorgänge, durch welche die Willensakte zustande kommen,
die Möglichkeit und die Grenzen der Willensfreiheit, finden
wir bei Aristoteles nicht*).
§ 61. Die aristotelische Ethik.
Der Zweck aller menschlichen Tätigkeit ist im allgemeinen
(wie dies kein griechischer Ethiker bezweifelt) die Glück-
seligkeit; denn sie allein ist das, was um keines andern,
sondern lediglich um seiner selbst willen begehrt wird. Aber
den Mafistab, nach dem die Bedingungen der Glückseligkeit
bestimmt werden, entnimmt Aristoteles nicht dem subjektiven
Gefühl, sondern dem objektiven Charakter der Lebenstätig-
keiten: die „Eudämonie" besteht in der Schönheit und Voll-
kommenheit des Daseins als solcher, der Genufi, welcher dem
Einzelnen aus dieser Vollkommenheit erwächst, ist nur ihre
Folge, aber weder ihr letzter Zweck noch der Grund und
') Über die W^idersprüche und Unklarheiten in der Auffassung der
Willensfreiheit bei Ar. vgl. Phil. d. Gr. II 2 S. 587 ff. Gompbrz Gr. D. III
Kap. 16.
§ 61. Die aristotelische Ethik. 201
das Maß ihres Wertes. Wie für jed^s lebende Wesen das
Oute in der Vollkommenheit seiner Tätigkeit besteht^ so
kjinn es auch für den Menschen, wie Aristoteles ausführt,
nur in der Vollkommenheit der eigentümlich menschlichen
Tätigkeit bestehen. Diese ist aber die Vernunfttätigkeit, und
die ihrer Aufgabe entsprechende Vernunfttätigkeit ist die
Tugend. Die Glückseligkeit des Menschen als solche be-
st^hf demnach in der Tugend. Oder wenn zwei Arten ver-
nünftiger Tätigkeit und zwei Reihen von Tugenden zu unter-
scheiden sind, die theoretischen und die praktischen, so bildet
die wissenschaftliche oder die reine Denktätigkeit den wert-
vollsten *)," die ptÄktißcha.J|ltigkeit oder die ethische Tugend
den zweiten wesentlichen Bestandteil der Glückseligkeit. Dazu
muß nun allerdings noch weiteres hinzukommen^ Zur Glück-
seligkeit gehört Reife und Vollendung des Lebens : ein Kind
kann nicht glückselig sein, weil es noch keiner vollkommenen
Tätigkeit {ageri]) fähig ist. Armut, Krankheit und Unglück
stören die Glückseligkeit und entziehen der tugendhaften
Tätigkeit die Hilfsmittel, die Reichtum, Macht und Einfluß
gewähren; Freude an Kindern, Verkehr mit Freunden, Ge-
sundheit, Schönheit, edle Geburt sind an sich selbst wertvoll.
Aber das positive, konstituierende Element der Glückseligkeit
ist nur die innere Tüchtigkeit, zu der sich die äußeren und
leiblichen Güter lediglich als negative Bedingungen verhalten
(wie in der Natur die materiellen zu den Endursachen) ; auch
das äußerste Unglück kann einen wackeren Mann nicht elend
{ccx^Xiog) machen, wiewohl es seiner Eudämonie im Wege steht.
Ebensowenig bildet die Lust einen selbständigen Bestandteil
des höchsten Gutes in dem Sinne, daß sie für sich zum
Zweck des Handelns gemacht werden dürfte. Denn wenn
sie auch als das naturgemäße Ergebnis jeder vollendeten
Tätigkeit von dieser selbst untrennbar ist und die Vorwürfe,
die ihr Piaton und Speusippos gemacht hatten, nicht verdient.
1) Metaph. XII, 1072 b 24: rj ^6(OQttt t6 rj^torov xal agtOTov. Eth.
X, 7. 1178 b Iff. "^^
202. Zweite Periode.
SO; hängt doch ihr Wert ganz und gar von dem der Tätigkeit
ab, aus der sie entspringt j\ sie ist die naturgemäße Vollendung
jeder Tätigkeit, ihr unmittelbares Ergebnis (Eth. X, 1174 b 31):
tugendhaft ist nur der, den das Vollbringen des Guten und
Schönen ohne jede Zutat befriedigt, und der dieser Be-
friedigung alles andre mit Freuden opfert. (Eth. I, 5 — 11.
X, 1—9; vgl. VII, 12—15.)
Von den Eigenschaften , auf denen die Glückseligkeit
hiernach beruht, den Vorzügen des Denkens und des WoUens,
den dianoetischen und den ethischen Tugenden, bilden nun
die letzteren den Gegenstand der Ethik. Der Begriff der
ethischen Tugend bestimmt sich aber durch drei Merkmale:
sie ist eine Willensbeschaffenheit, welche die unsrer Natur
angemessene« Mitte einhält, gemäß einer vernünftigen Be-
sti mmung, wie sie der Einsichtige ^ehen wird (^'ftc Ttgoai-
germ^ iv /AeaoTrjTL otaa t^ ngog ^fiSg, wQtafÄevrj X6y(p aal
(jjg av 6 (pQOvi^og ogiaeiev Eth. II, 6 Anf.)* Diese Bestim-
m.ungen werden Eth. I, 13 — II, 9 zunächst im allgemeinen
nachgewiesen, sodann wird III, 1 — 8 die erste, III, 9 — V, 15
die zweite, B. VI die dritte näher ausgeführt.
1. Alle Tugenden beruhen zwar auf gewissen natürlichen
Anlagen (agezal (px)aiy(.aL)\ aber zur Tugend im eigentlichen
Sinne {yivqia agsi;!]) werden diese nur dadurch, daß sie von
der Einsicht geleitet werden. Andrerseits aber hat die Tugend
als ethische ihren Sitz wesentlich im Willen : wenn sie Sokrates
aufs Wissen zurückführte, übersah er, daß es sich bei ihr
nicht um die Kenntnis der sittlichen Gesetze, sondern um
ihre Anwendung, um die Beherrschung der Affekte durch
die Vernunft handelt, die Sache der freien Willensentscheidung
ist ;l und Aristoteles widmet deshalb (Eth. III) den Begriffen,
welche die verschiedenen Formen der Willensbestimmung be-
zeichnen, denen des Freiwilligen, Vorsätzlichen usw., eine
eingehende Erörterung. I Zur Tugend wird aber die Willens-
bestimmung erst dann, wenn sie eine dauernde Beschaffenheit
(f §4g), eine grundsätzlich feststehende Gesinnung ist, wie diese
nur bei dem gereiften Menschen vorkommt, j ^
§ 61. Die aristotelische Ethik. 203
2. Ihrem Inhalt nach betrachtet, ist die WillensbeschaflFen-
heit eine sittliche . zu nennen, welche die richtige Mitte
zwischen dem Zuviel und Zuwenig einhält; worin aber diese
bestehe, ist durch die Eigentümlichkeit des Handelnden mit-
bedingt, denn wais für den einen das Richtige ist, kann für
den andern zu viel oder zu wenig sein. / Jede Tugend ist
daher ein Mittleres zwischen zwei Fehlern, von denen jedoch
bald der eine, bald der andre sich weiter von ihr entfernt.
^Aristoteles weist dies an den einzelnen Tugenden, der Tapfer-
keit, Selbstbeherrschung usw. des näheren nach, ahne doch
diese so, wie Piaton seine Grundtugenden, pach einem be-
stimmten Prinzip abzuleiten, f Am ausführlichsten behandelt
er unter ihnen die politische Haupttugend, die Gerechtigkeit,
/der er das ganze fünfte Buch seiner Ethik (bis über das
Mittelalter herab die Grundlage, des Naturrechts), gewidmet
hat. / Als ihre Aufgabe betrachtet er die richtige Verteilung
von Vorteilen und Nachteilen {xegdog und tri^ia)*^ und je
nachdem es sich nun hierbei um das öffentliche oder das
Privatrecht handelt, unterscheidet er die austeilende (<Jta-
vBfArjfiimi) und die ausgleichende (diog&cjTiycij) Gerechtigkeit.
Jene hat die EJhren und Vorteile, die den Einzelnen vom
Gemeinwesen zufließen, ihrer Würdigkeit gemäß zu verteilen;
diese hat dafür zu sorgen, daß teils in den freiwilligen Rechts-
geschäften (awaXi^ayfictia iyiovoia) der Gewinn und Verlust
jedes Kontrahenten, teils in den unfreiwilligen Vergehen und
Strafe sich die Wage halten; für j^ne gilt (wie Aristoteles
schief sagt) der Grundsatz der geometrischen, für diese der
der arithmetischen Proportion. Das Recht im strengen Sinn
ist das, welches für Gleichstehende gilt, das „politische"
Recht. Dieses selbst ist teils natürliches, teils gesetzliches;
in einer Berichtigung des zweiten durch das erste besteht die
Billigkeit {to STtiei^eg).
3. Wer soll nun aber im gegebenen Fall bestimmen, wo
die richtige Mitte liegt. Dies, sagt Aristoteles, ist Sache der
Einsicht (vgl. § 60 Schi), die sich eben durch ihre Beziehung
zum Willen von den übrigen dianoetischen Tugenden unter-
204 Zweite Periode.
scheidet; denn die einen von diesen richten sich nur auf das
Notwendige, wie vovQj iniazijfiri (worüber S. 174. 176. 198)
und die aus beiden bestehende aoqtia^ die andern, wie die
rix^rj^ beschäftigen sich zwar gleichfalls mit dem Veränder-
lichen, aber für den Zweck des Hervorbringens, nicht des
Handelns (vgl. S. 174).
Von den Tugenden und Fehlern im eigentlichen Sinn
d. h. den richtigen und verkehrten WillensbeschaffenheJten
unterscheidet Aristoteles (VII, 1 — 11) noch die Zustände,
welche weniger aus einer habituellen Willensrichtung als aus
der Stärke oder Schwäche des Willens im Verhältnis zu den
Affekten entspringen : einerseits die Mäßigkeit und Ausdauer
(syAQaTEia und xagvegla), andrerseits die Unmäßigkeit und
Weichlichkeit. Er wendet sich endlich (B. VIII. IX) in der
schönen, an den feinsten Beobachtungen und treffendsten
Bemerkungen reichen Abhandlung über Liebe und Freund-
schaft (denn cpiXia bezeichnet beides) einem sittlichen Ver-
hältnis zu, in dem bereits zum Ausdruck kommt, daß der
Mensch seiner Natur nach ein geselliges Wesen, ja daß jeder
Mensch mit jedem verwandt und befreundet ist (VIII, 1155 a
16 ff. ll&l b 5), und ein gemeinsames Recht alle verknüpft
(Rhet. I, 13 Anf.). Eben dieser Zug ist nun die Grundlage
der Familie und des Staates ^).
') Döring Geach. d. gr. Phil. II stellt in der Darstellung der Philo-
sophie des Ar. (8. 39 ff.) die Ethik an die Spitze und sucht nicht nur seine
Lehre vom besten Staate (s. u. S. 208), sondern auch seine Anschauungen
auf dem theoretischen und poietischen Gebiete in ihren Grundzdgen aus
seiner Auffassung des Ethischen abzuleiten; er hält sich daher für berech-
tigt, ihn mit den älteren Akademikern von Piaton zu trennen und der
dritten Hauptperiode der griechischen Philosophie zuzuweisen, die er als
„Herrschaft der wissenschaftlich begründeten Güterlehre" (360 v. Chr. bis
200 n.Chr.) bezeichnet. Diese Auffassung, die, wie D. selbst zugesteht,
mehr auf Vermutungen als auf bestimmten Äußerungen des Ar. selbst be-
ruht, verkennt die grundlegende Bedeutung der Metaphysik als ngtorri
q>tloao(f(a (s. S. 174) für das ganze aristotelische System.
§ 62. Die aristotelische Politik. 205
§ 62. Die aristotelische Politik*),
In der Natur des Menschen liegt der Trieb zur Gemein-
schaft mit Seinesgleichen (av&Qwnog qwaei noliTixdv Ki^v
Polit. I, 1253 a 2), und er bedarf dieser Gemeinschaft nicht
allein zur Erhaltung, Sicherung und Vervollkommnung seines
physischen Daseins, sondern vor allem deshalb, weil nur in
ihr eine gute Erziehung und eine Ordnung des Lebens durch
Recht und Geeetz möglich ist (Eth. X, 10). /Die vollkommene,
alle andern umfassende Gemeinschaft ist aber der Staat.l
Sein Zweck beschränkt sich daher nicht auf die Sicherung
des Rechtszustandes, die Abwehr äußerer Feinde und die Er-
haltung des Lebens, seine Aufgabe ist vielmehr eine höhere
und umfassendere: die Glückseligkeit der Bürger in einer
vollkommenen Lebensgemeinschaft (17 tov ev Krjv ytoiviovia . . .
tio^g tekeiag xdqiv nat amaQTiovg, Pol. III, 1288 b 30);/ und
eben deswegen ist der Staat seiner Natur nach früher als der
Einzelne und die Familie, wie ja überhaupt die Teile eines
Ganzen durch das Ganze als den Zweck, dem sie dienen,
bedingt sind (Pol. I, 1252 b 27 ff.), /und da nun die Tugend
den wesentlichsten Bestandteil der Glückseligkeit bildet, so
erkennt auch Aristoteles wie Piaton die Hauptaufgabe des
Staates in der Erziehung des Volkes zur Tugend, und er
mißbilligt es deshalb entschieden, wenn ein Staatswesen statt
der friedlichen Pflege der sittlichen und wissenschaftlichen
^Bildung auf Krieg und Eroberung angelegt ist./
Der Zeit nach gehen aber dem Staate allerdings die
Familien und Gemeinden voran. Die Natur führt zu-
nächst Mann und Frau zur Begründung eines Hausstandes
zusammen; die Familien breiten sich zu Dorfgemeinden
(y,iüfiai) aus; die Verbindung mehrerer Gemeinden führt zur
Stadtgemeinde (/cohg), die auch Aristoteles von dem Staat
noch nicht unterscheidet. Die Dorfgemeinde bildet nun eine
^) S. Hildebrand Qesch. u. System d. Bechts- u. StaatsphUosophie
Bd. I (1866); Oncken Die Staatslehre d. Ar. 2 Bde. (1870/75).
Zweite Periode.
blofie Übergangsstufe zum Staat, die in ihm aufgeht. | Da-
gegen zeigt Aristoteles (Pol. II, 1 ff.) aufs treffendste, daß
Piatons Forderung, auch die Familie und das Privateigentum
der Staatsgemeinschaft zum Opfer zu bringen, nicht bloß in
jeder Beziehung unausführbar sei, sondern auch von einer
falschen Vorstellung über diese Gemeinschaft ausgehe; Jdenn
der Staat: sei kein bloß einheitliches Wesen, sondern ein aus
vielen und verschiedenartigen Teilen bestehendes Ganzes./ Er
selbst behandelt (Pol. I, 2. 13. Eth. VIII, 14 u. ö.) die Ehe
und die übrigen Verhältnisse des Familienlebens mit einem
^.^ sittlifchen Verständnis, wie es uns im Altertum selten begegnet./
'*' aJagiegen entrichtet auch er dem griechischen Nationalvorurteil
und den bestehenden gesellschaftlichen Zuständen seinen Zoll,
wenn er den unhaltbaren Versuch macht, die Sklaverei
.mittelst der Voraussetzung zu rechtfertigen, daß es Menschen
/gebe, die nur körperlicher Arbeit fähig seien und deshalb
von andern beherrscht werden müssen, und daß dieses im
allgemeinen das Verhältnis der Barbaren zu den Hellenen
^ei (Pol. I, 4 ff.) '\ und dasselbe gilt von seinen Erörterungen
ijber Erwerb und Besitz (I, 8 ff.), in denen er. nur die Er-
verbsarten als natürliche gelten lassen will, welche der Be-
friedigung der Bedürfnisse unmittelbar dienen , alle Geld-
geschäfte dagegen mit Geringschätzung und Mißtrauen be-
bandelt und alle „banausischen^ Tätigkeiten des freien Mannes
unwürdig findet, jl
In seiner Lehre über die Staatsverfassungen stellt
Aristoteles nicht, wie Piaton in der Bepublik, eine einzige
Verfassung als die allein richtige dar, alle andern als verfehlte;
er sieht vielmehr^nNiaß sich die Verfassungseinrichtungen
nach dem Charakter und Bedürfnis des Volkes richten
müssen, für das sie bestimmt sind, daß für verschiedene
Verhältnisse Verschiedenes richtig und auch das an sich
selbst Unvollkommene doch möglicherweise das Beste sein
kann, was sich unter den gegebenen Bedingungen erreichen
läßt. iWenn nämlich die Richtigkeit der Verfassungen
von der Bestimmung des Staats zwecks abhängt und rieh-
§ 62. Die aristotelische Politik. 207
tige Verfassungen die sindj für welche das gemeine Beste,
nicht der Vorteil der Regierenden den letzten Zweck des
Staatswesens bildet, alle andern dagegen verfehlte, so hängt
die Form der Verfassung von der Verteilung der politischen
Gewalt ab. J Diese hat sich aber nach der tatsächlichen Be-
deutung der verschiedenen Volksklassen für das Staatswesen
zu richten ;|denn eine Verfassung ist nur dann lebensfähig,
wenn ihre Freunde stärker sind als ihre Gegner, und sie ist
nur dann gerecht, wenn sie den Bürgern, soweit sie sich
gleichstehötf, gleiche, soweit sie ungleich sind, ungleiche
politische Rechte zuerkennt. | Die wichtigsten Unterschiede
unter den Bürgern betreffen aber ihre „Tugend" (d. h. ihre
persönliche Tüchtigkeit in allem dem, wovon das Wohl des
Staates abhängt), ihr Vermögen, ihre edle oder unedle Ab-
kunft, ihre Freiheit. / Wiewohl daher Aristoteles die her-
kömmliche Unterscheidung der Verfassungen nach der Zahl
der Regierenden sich aneignet und demnach (mit Platon
Polit. 300 ff.; vgl. S. 153) sechs Hauptverfassungsformen
zählt : Königtum, Aristokratie, Politie (Eth. VIII, 1160 a 83
auch Timokratie genannt) als richtige, Demokratie, Oligarchie,
Tyrannis als verfehlte (^f^agzifjuivaij naQeytßdaeig)jj^ ixnter'
läfit er eis doch nicht, zu bemerken, daß jener Zahlenunter-
schied nur ein abgeleiteter sei ; das Königtum entstehe natur-
gemäß, wenn einer, die Aristokratie, wenn eine Minderzahl
alle andern an Tüchtigkeit so übertreffe, daß sie die ge-
borenen Herrscher seien, die Politie, wenn alle Bürger an
Tüchtigkeit sich annähernd gleichstehen (was aber freilich
im wesentlichen nur hinsichtlich der kriegerischen Tüchtig-
keit der Fall sein werde);! die Demokratie, wenn die Masse
der Unbemittelten und Freien, die Oligarchie, wenti die
Minderzahl der Reichen und Edelgeborenen , die Tyrannis,
wenn ein einzelner als Gewaltherrscher die Leitung des
Staates in der Hand habe;|und nach denselben Rücksichten
richte sich in den gemischten Verfassungen der Anteil des
einen oder andern Elements an ihnen (III, 6 — 13 vgl. c. 17.
1288 a 8 ff. IV, 11 f. IV, 4. VI, 2 u. a.). | Es läßt sich aber
208 Zweite Periode.
allerdings nicht verkennen, daß er diese verschiedenen G^e-
Sichtspunkte nicht vollständig in Übereinstimmung zu bringen
und nicht ohne Schwanken durchzuführen vermocht hat )
Seiner Schilderung des „besten Staates'' (B. VII f.,
eigentlich IV f., vgl. S. 168) legt Aristoteles, wie Piaton, die
Verhältnisse einer griechischen Stadtrepublik zugrunde. I Einer
griechischen, denn nur bei den Hellenen findet er, mit Piaton,
die Eigenschaften, welche die Vereinigung von Freiheit und
staatlicher Ordnung möglich machen. I Einer Republik, denn
für . das Königtum in seinem Sinn (III, 14 ff.) weiß er die
Bedingungjen nur etwa in der heroischen Vorzeit zu finden;/
in seiner Zeit, glaubt er (V, 1313 a 3 ff.), könne kein Ein-
zelner mehr über alle andern so hoch emporragen, daß ein
freies Volk seine Alleinherrschaft willig ertragen würde./
Sein firtUterstaat ist eine „Aristokratie", welche der plato-
nischen in ihrem Grundgedanken nahe genug steht, s o weit 'v
sie sich auch in seiner Auffassung von ihr entfernt.tAUe ^
Staatsbürger sollen zwar zur Teilnahme an der Staats-
verwaltung berechtigt sein) und (zur Ausübung dieses Rechts
berufen werden ,){)venn' sie in die höhere Altersklasse vor-
rücken. I Aber Bürger sollen in dem besten Staate nur die
seid, welche durch ihre Lebensstellung wie durch ihre Bildung
zu seiner Leitung befähigt sind. \ Aristoteles verlangt daher
einerseits, wie Piaton in den „Gesetzen", daß alle körperliche
Arbeit, Landbau und Gewerbe, von Sklaven oder Metöken
besorgt werde ; | und, andrerseits schreibt er eine durchaus
vom Staat geleitete Erziehung vor, welche der von Piaton
geforderten sehr nahe kommt. | Indessen ist weder der Ab-
schnitt über die Erziehung noch die Schilderung des besten
Staates überhaupt in unserm unvollendeten Werke zum Ab-
schluß gebracht ; | so ist z. B. die Frage , inwieweit sich der
Staat der wissenschaftlichen Erziehung annehmen soll, nicht
berührt. |
Neben seinem Musterstaat hat Aristoteles (IV — VI) auch
die unvollkommenen Staatsformen mit eindringender Sorgfalt
besprochen.! Er unterscheidet die verschiedenen Arten der
§ 63. Aristoteles : EoDst und Beligion. 209
Demokratie, Oligarchie und Tyrannis, die sich teils aus der
verschiedenen Beschaffenheit der Regierenden, teils daraus
ergeben, daß die Eigentümlichkeit jeder Verfassungsform
bald gemäßigter , bald rücksichtsloser durchgeführt wird. |
Er untersucht die Bedingungen, von denen die Entstehung,
die Erhaltung und der Untergang jeder Staatsfbrm abhängen,
und die ihr entsprechenden Einrichtungen und Verwaltungs-
grundsätze. ^Er fragt endlich, welche Verfassung sich für die
Mehrzahl der Staaten und unter den gewöhnlichen Verhält-
nissen am besten eigne, und er antwortet: es sei dieses eine
solche Verbindung oligarchischer und demokratischer Ein-
richtungen, durch welche der Schwerpunkt des Staatslebens
in den wohlhabenden Mittelstand verlegt werde; |denn damit
werde seinem Gange jene Stetigkeit und jenes Einhalten der
richtigen Mitte gesichert, welche die beste Bürgschaft für
die Dauer einer Verfassung in sich trägt und den ethischen
Grundsätzen des Philosophen am besten entspricht! Ari|toteles
nennt diese Staatsform „Politie", erklärt sich aber nicht über
ihr Verhältnis zu der gleichnamigen, die er unter den rich-
tigen Verfassungen aufgeführt, aber nicht genauer geschildert
hat. /Ihr steht die, welche „gewöhnliche Aristokratie" genannt
wird (IV, 7), nahe. /Auch dieser Teil der aristotelischen
Politik ist jedoch nicht zu Ende geführt. /
§ 63. Rhetorik und Kunstlehre; Aristoteles'
V e rhältnis zur Religion.
Eine gewisse Mittelstellung zwischen den „praktischen ^^
und den „poietischen" Wissenschaften nimmt die Rhetorik
ein. Einesteils wird sie nämlich als Eunstlehre (Tix^rj) be-
zeichnet, andernteils als ein Nebenzweig der Dialektik (in
dem S. 166 besprochenen Sinn) und der Politik oder Ethik,
eine Verwendung der ersteren für die Zwecke der letzteren.
Die Aufgabe des Redners besteht in der Überzeugung durch
Wahrscheinlichkeitsgründe, die der Rhetorik in der kunst-
mäßigen Anleitung dazu auf den verschiedenen Gebieten, auf
Zell er, GrundriTs, 14
210 Zweite Periode.
welche die beratende, die gerichtliche und die epideiktische
Rede sich beziehen. Die Hauptsache ist daher für sie die
Lehre von der rednerischen Beweisführung, der B. I. II der
Rhetorik gewidmet ist (über B. III S. 169); neben ihr legt
Aristoteles dem, worin die Rhetorik bis dahin ihre Stärke
zu suchen gewohnt war, der Erregung von Zorn oder Mitleid,
der zierlichen Sprache, dem kunstvollen Vortrag, nur einen
sehr untergeordneten und bedingten Wert bei.
Von den schönen Künsten scheint Aristoteles nur
die Dichtkunst in eigenen Werken behandelt zu haben, und
da uns seine Poetik auch nur verstümmelt erhalten ist (vgl.
S. 160), läfit sich den Schriften des Philosophen nicht bloß
keine vollständige ästhetische Theorie, sondern auch keine
vollständige Kunstlehre entnehmen. Der GrundbegriflF der
heutigen Ästhetik, der Begriff des Schönen, bleibt bei Aristo-
teles so unbestimmt wie bei Piaton (s. S. 154) und wird von
dem ^es Guten nicht genauer unterschieden. Die Kunst
stellt er wie dieser unter den Gesichtspunkt der Nachahmung
(jxLfiriaig)\ aber das, was sie nachahmend darstellt, ist nach
ihm nicht die sinnliche Erscheinung, sondern das innere
Wesen der Dinge, nicht was geschehen ist, sondern was
der Natur der Sache nach zu geschehen hat (das aray^^alov
rj eluog) : ihre Gestalten sind Typen (TtaQcideiyfÄa) allgemeiner
Gesetze ; und die Poesie ist deshalb wertvoller und steht der
Philosophie näher als die Geschichte (Poet. 9. 15)^). Und
eben hierauf beruht auch ihre eigentümliche Wirkung. Wenn
Aristoteles (Pol. VIII, 5. 7) zunächst von der Musik einen
vierfachen Gebrauch unterscheidet : zur Unterhaltung (naidid),
zur sittlichen Bildung (/raideta), zur genußreichen Beschäf-
tigung (diaywy^y mit cpgovrjoig zusammengestellt) und zur
„Reinigung** (/.d&agaigX und wenn sich alle Kunst in einer
von diesen Richtungen gebrauchen läßt, so kann die bloße
Unterhaltung überhaupt nie ihr letzter Zweck sein; die drei
^) Poet. 1451b 5: (ptloao(f>(6T€Qov xal anovSaioi^Qov nodjaig tarty
§ 63. Aristoteles: Kunst und Religion. 211
andern Wirkungen aber beruhen alle darauf, dafi das Kunst-
werk in dem Einzelnen allgemeingültige Gesetze zur An-
schauung und Anwendung bringt. Auch die Katharsis, d. h.
die Befreiung von störenden Gemütsbewegungen, wird man
nicht mit Bernais u. a. bloß darin finden können, dafi den
Affekten Gelegenheit gegeben werde, sich durch Betätigung
zu entladen; sondern als künstlerische kann sie nur durch
eine solche Erregung von Gemütsbewegungen bewirkt werden,
bei der diese einem festen Mafi und Gesetz unterworfen und
Von den eigenen Erlebnissen und Zuständen auf das allen
Menschen Gemeinsame hingelenkt werden. In diesem Sinn
ist die berühmte Definition der Tragödie^) zu verstehen.
Über die Religion hat sich Aristoteles nur vereinzelt
geäufiert. Seine eigene Theologie ist ein abstrakter Mono-
^) Poet. 6. 1449 b 24: ^ariv ovv rgayip^ta /ui/unjatg ngd^etog anov-
6a(ag xal releiasj (xfye&og ix^^^VSy ri^vOfjiivffi ^oy^» X^Q^^ ixdarov töjv
MdSv (die Arten des ridvOfx, Xoy.^ nämlich Xi^ig und fiiXog) iv rotg juogtoig
(Dialog und Chöre), ^Qtovrav xal ov 6& dnayysUagy ^i (Kov xa\ tpoßov
nsQaCvovaa r^v rdov toiovtcjv nad-rjfAdttov xäd-aQCfir. [Das Wichtigste
aus der immer mehr anschwellenden Literatur über Ar.s Auffassung der
Kunst, insbesondere der tragischen, s. bei Überweg-Heinze Grundr. I^
S. 273 ff. Neuerdings nimmt Knoke Begriff d. Tragödie nach Ar. (1906) an,
daß in der angeführten Stelle die eigentliche Definition mit den Worten
(Ti* duayyiX^ag zu Ende sei und das darauffolgende die spezifische Wirkung
enthalte, die nicht eigentlich zum Wesen des Begriffes gehöre (als ob das
Spezifische nicht gerade ein wesentlicher Bestandteil des Begriffsinhaltes
wäre!), und sucht dann nachzuweisen, daß in diesen Schlußworten die
Reinigung der beiden Affekte von ihrer Erregung scharf zu scheiden und
demgemäß hinter ^i ikiov x. tpoßov zu interpungieren sei. Eine be-
friedigende Lösung der vielumstrittenen Katharsisfrage ist damit schwerlich
gegeben. In der Hauptsache besteht doch wohl auch heute noch das Er-
gebnis der Bemayschen Untersuchung zu Recht, wonach die Reinigung in
der Tragödie als eine erleichternde Entladung der durch das Kunstwerk
erregten Affekte anzusehen ist, die sich mit analogen Erscheinungen auf
medizinischem Gebiet vergleichen läßt. Wie wir uns aber diesen psycho-
logischen Vorgang des näheren vorzustellen haben, läßt sich bei dem Still-
schweigen, das Ar. in der Poetik hierüber beobachtet, nicht mit Sicherheit
ermitteln. Auch die im Text gegebene Erklärung ist nur durch Vermutung
aus dem ganzen Geiste des Systems gewonnen.]
14*
212 Zweite Periode.
theismuS; der jedes Eingreifen der Gottheit in den Weltlauf
ausschließt (vgl. S. 186); und wenn er auch in der Natur
und ihrer Zwecktätigkeit und noch unmittelbarer im mensch-
lichen Geist etwas Göttliches sieht, liegt ihm doch der Ge-
danke, irgendeinen Erfolg auf andre als natürliche Ursachen
zurückzuführen, so fern, daß der sokratische Vorsehungs-
glaube auch in der Form, in der ihn Piaton sich angeeignet
hatte (s. S. 154), bei ihm keinen Raum findet Ebenso fehlt
ihm der Glaube an eine jenseitige Vergeltung, Er erkennt
in der Gottheit den letzten Grund für den Zusammenhalt,"
die Ordnung und Bewegung des Weltganzen, aber alles
Einzelne darin soll rein natürlich erklärt werden; er ver-
ehrt sie mit bewundernder Liebe, aber er verlangt von ihr
keine Gegenliebe und keine spezielle Fürsorge. Auch in der
Religion seines Volkes liegt daher für ihn die Wahrheit, die
er ihr wie jeder allgemeinen und unvordenklichen Über-
zeugung zugesteht, nur in dem Glauben an eine Gottheit
und an die göttliche Natur des Himmels und der Gestirne;
„das weitere dagegen sind mythische Zutaten", die der
Philosoph teils von der Neigung der Menschen zu anthropo-
morphistischen Vorstellungen, teils von politischer Berechnung
herleitet. (Metaph. XII, 1074 a 38 ff. De coelo I, 270 b 16.
II, 284 a 2. Meteor. I, 339 b 19. Pol. I, 1252 b 24.) Im
Staat will er aber die bestehende Religion aufrechterhalten
wissen, und ihre Umgestaltung etwa in der Art, wie sie Piaton
nötig gefunden hatte, wird nicht verlangt.
§ 64. Die peripatetische Schule.
Nach dem Tode ihres Stifters bekam die peripatetische
Schule an seinem treuen Freunde, dem gelehrten und be-
redten Theophrastos aus Eresos auf Lesbos (nach DiOG.
V, 36. 40. 58 288/6 v. Chr. 85 Jahre alt gestorben) einen
Vorsteher, welcher durch seine lange und erfolgreiche Lehr-
tätigkeit und seine zahlreichen, das ganze Gebiet der Philo-
§ 64. Die peripatetische Schule. 213
Sophie umfassenden Schriften *) ungemein viel zu ihrer Aus-
breitung und Befestigung beitrug, wie er ihr auch ein eigenes
Grundstück hinterliefi. Als Philosoph hielt er sich zwar im
ganzen durchaus auf dem Boden des aristotelischen Systems,
war aber bestrebt, es im einzelnen mit selbständiger Forschung
zu ergänzen und zu berichtigen. Die aristotelische Logik er-
hielt durch ihn und Eudemos verschiedene Erweiterungen und
Änderungen; die wich^gsten bestehen in der abgesonderten
Behandlung der Lehre von den Sätzen, der Beschränkung
ihrer Modalitätsunterschiede auf den Grad der subjektiven
Gewißheit, der Bereicherung der Syllogistik durch die Lehre
von den „hypothetischen" Schlüssen, zu denen aber auch die
disjunktiven gerechnet werden. Theophrast fand ferner, wie
das Bruchstück seiner metaphysischen Schrift (Fr. 12) zeigt,
in wesentlichen Bestimmungen der aristotelischen Metaphysik,
wie namentlich in denen über die Zwecktätigkeit der Natur
und über das Verhältnis des ersten Bewegenden zur Welt,
Schwierigkeiten, von denen wir nicht wissen, wie. er sie ge-
löst hat, so wenig er auch deshalb jene Bestimmungen selbst
aufgeben wollte. Er modifizierte die Lehre des Aristoteles
von der Bewegung und stellte seiner Definition des Raumes
erhebliche Bedenken entgegen ; während er allerdings in der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle der aristotelischen Physik
folgt und. so namentlich ihre Lehre von der Ewigkeit der
Welt (gegen den Stoiker Zenon) verteidigt (b. Philon De
setern. mundi c. 23 ff.). Er ist durch seine beiden noch vor-
handenen Werke über die Pflanzen, die sich aber in ihren
leitenden Gedanken durchaus an Aristoteles halten, der Lehrer
der Pflanzenkunde bis über das Ende des Mittelalters herunter
geworden. Die menschliche Denktätigkeit bezeichnet er, von
Aristoteles abweichend, als eine Bewegung der Seele und hob
die Bedenken, welche der Unterscheidung der leidenden und
der tätigen Vernunft entgegenstehen, eingehend hervor, ohne
*) Die erhaltenen und die Überbleibsel der verlorenen sind von
ScHNEiDKE (1818 flf.) und Wimmer (1854. 1862) herausgegeben; vgl. auch S.7.
214 Zweite Periode.
jedoch diese Unterscheidung deshalb aufzugeben. Seiner
Ethik, die er in mehreren Schriften niedergelegt und mit
großer Menschenkenntnis ins einzelne ausgeführt hatte ^), wird
von (stoischen) Gegnern Überschätzung der äußeren Güter
vorgeworfen ; indessen findet zwischen ihm und seinem Lehrer
in dieser Beziehung höchstens ein leichter Gradunterschied
statt. Weiter entfernt er sich von diesem durch seine Ab-
neigung gegen die Ehe, von der er fine Störung der wissen-
schaftlichen Tätigkeit befürchtet, und seine Mißbilligung der
blutigen Opfer und des Fleischgenusses, die er mit der Ver-
wandtschaft aller lebenden Wesen begründete. Dagegen folgt
er nur seinem Vorgang (s. S. 204), wenn er erklärt, daß alle
Menschen, nicht bloß die Volksgenossen, von Natur mit-
einander verbunden und verwandt seien.
Neben Theophrast ist E u d e m o s aus Rhodos, der gleich-
falls als Lehrer der Philosophie, wohl in seiner Vaterstadt,
wirkte, der angesehenste unter den persönlichen Schülern des
Stagiriten. Durch seine gelehrten historischen Werke (s. S.7)
erwarb er sich um die Geschichte der Wissenschaft ein großes
Verdienst. In seinen Ansichten entfernte er sich noch weniger
als Theophrast von seinem Lehrer : Simpliciüs nennt ihn
Phys. 411, 15 seinen treuesten (yvtjaicoraTog) Schüler. In der
Logik schloß er sich Theophrasts Verbesserungsvorschlägen
an ; seine Physik hielt sich, wie iKre JBruchstücke ^) beweisen,
fast durchaus, und nicht selten wörtlich, an die aristotelische.
Der wichtigste Unterschied zwischen seiner (in die aristote-
lische Sammlung aufgenommenen) Ethik und der des Aristoteles
besteht in der Verbindung, in welche er die Ethik nach
Piatons Vorgang mit der Theologie bringt. Er leitet nämlich
teils die Anlage zur Tugend von der Gottheit her, teils faßt
er die Theorie, in der Aristoteles das höchste Glück gesucht
^) Hierher gehört auch die Schilderung menschlicher Fehler, die uns
in den /a^axr^()€ff (hrsg. , erkl. u. übers, von der Philolog. Gesellsch. zu
Leipzig, 1897) erhallen ist und im großen und ganzen von Th. selbst her-
zurühren scheint.
2) Vgl. Eudemi fyagm. ed. Spengel (1866, 2. Ausg. 1870).
§ 64. Die peripatetische Schule. 215
hatte, bestimmter als Gotteserkenntnis und will den Wert
aller Dinge und Handlungen an ihrem Verhältnis zu dieser
gemessen wissen. Die innere Einheit aller Tugenden findet
er in der Liebe zum Guten und Schönen um seiner selbst
willen, der na'ko'myad^ia.
Ein dritter Aristoteliker, Aristoxenos aus Taren t, ist
durch seine uns erhaltene Harmonik und andre Schriften
über Musik berühmt. Aus der pythagoreischen Schule in die
peripatetische übergegangen, verband dieser Philosoph in
seinen sittlichen Vorschriften wie in seiner Theorie der Musik
Pythagoreisches mit Aristotelischem*). Mit einzelnen von
den jüngeren Pythagoreem erklärte er die Seele flir die
Harmonie ihres Leibes und bestritt deshalb ihre Unsterblich-
keit; und hierin schloß sich sein Mitschüler Dikäarchos
aus Messene an ihn an. Dieser entfernte sich von Aristoteles
dadurch, daß er dem praktischen Leben vor dem theoretischen
den Vorzug gab; wogegen sein „Tripolitikos** wesentlich
auf dem Boden der aristotelischen Staatslehre stand. Von
Phanias und Elearchos ist uns nur wenig, meist ge-
schichtliche (von jenem auch naturgeschichtliche) Angaben,
überliefert; Kallisthenes (vgl. S. 164), Leon von Byzanz
und Klytos sind uns nur als Historiker, Menon nur als
Arzt 2) bekannt. Ähnlich verhält es sich mit Theophrasts
Schülern Demetrios Phalereus, Duris, Chamäleon,
Praxiphanes; sie sind mehr Gelehrte und Literaten als
Philosophen.
Um so bedeutender ist Straton aus Lampsakos, der
„Physiker", Theophrasts Nachfolger, welcher der peripate-
tischen Schule in Athen 18 Jahre lang vorstand. Dieser
scharfsinnige Forscher fand nicht nur im einzelnen manche
Berichtigung der aristotelischen Annahmen nötig®), sondern
1) Vgl. auch S. 7.
2) Die Überreste seiner ^laTQixa hat Diels Supplement. Aristotel.
III, 1 (s. S. 165 Anm. 1) herausgegeben.
^) Er legte z. B. mit den Atomikem allen Körpern Schwere bei und
leitete das Aufsteigen der Luft und des Feuers von dem Druck der schwereren
216 Zweite Periode.
er trat auch der ganzen Bpiritualistisch - dualistischen Welt-
ansicht des Aristoteles entgegen, indem er die Gottheit der
unbewußt wirkenden Naturkraft gleichsetzte und statt der
aristotelischen Teleologie eine rein physikalische Erklärung
der Erscheinungen verlangte, deren allgemeinste Gründe er
in der Wärme und Kälte und namentlich in der ersteren
als dem tätigen Prinzip suchte. Im Zusammenhang damit
beseitigte er auch im Menschen den Geist als ein von der
animalischen Seele verschiedenes Wesen und betrachtete alle
Seelentätigkeiten, das Denken wie die Empfindung, als Be-
wegungen desselben vernünftigen Wesens, welches im Kopfe,
in der Gegend zwischen den Augenbrauen, seinen Sitz habe,
und sich von da (wie es scheint, mit dem Pneuma als seinem
Substrat) in die verschiedenen Teile des Leibes ergieße. Die
Unsterblichkeit der Seele bestritt er folgerichtig.
Straten folgte Lykon, welcher die Schule 44 Jahre lang,
bis 228/5 V. Chr., leitete ; diesem A r i s t o n aus Keos ; Ariston
Kritolaos aus Phaseiis in Lykien, welcher 155 v.Chr., wie
es scheint schon betagt (er wurde über 82 Jahre alt), mit
Diogenes und Karneades die Stadt Athen als Gesandter in
Rom zu vertreten hatte ; ihm D i o d o r o s von Tyros und
diesem (wohl um oder vor 120 v. Chr.) Erymneus. Zeit-
genossen Lykons sind Hieronymos aus Rhodos und
Prytanis; um den Anfang des zweiten Jahrhunderts lebte
Phormion in Ephesos; um dieselbe Zeit und später die S. 9
genannten: Hermippos, Satyros, Sotion, Anti-
sthenes. Die philosophischen Leistungen dieser Männer
scheinen sich jedoch fast durchaus auf die Überlieferung der
peripatetischen Lehre beschränkt, und sie scheinen sich dabei
tiberwiegend mit der praktischen Philosophie beschäftigt zu
Körper auf die leichteren her; er nahm innerhalb der Welt leere Bäume
an und definierte den Raum als das zwischen dem umschließenden und
dem umschlossenen Korper liegende Leere ; er wollte die Zeit nicht die Zahl
der Bewegung, sondern das Maß der Bewegung und Ruhe genannt wissen ;
er ließ den Himmel, wie berichtet wird, aus feurigem, nicht aus ätherischem
Stoffe bestehen.
§ 64. Die peripatetische Schale. 217
haben, so sehr auch die Vorträge eines Lykon, Ariston,
Hieronymos und Kritolaos von seiten ihrer Form gerühmt
werden. Kritolaos verteidigte die Ewigkeit der Welt gegen
die Stoiker, dagegen näherte er sich ihnen, wenn er sich, im
8inne Stratons, den göttlichen wie den menschlichen Novg an
den Äther als sein Substrat gebunden dachte. Eine erheb-
liche Abweichung von der aristotelischen Ethik ist uns nur
von Hieronymos bekannt, sofern dieser die Schmerzlosigkeit,
die er aber von der Lust scharf unterschied, für das höchste
Gut erklärte. Weniger hat es auf sich, dafi dieses von Dio-
doros in einem tugendhaften und schmerzlosen Leben gesucht
wurde, denn für seine unerläßlichste Bedingung erklärte er
mit Aristoteles die Tugend. Auch die von den unechten
Bestandteilen unsrer aristotelischen Sammlung, welche wir
noch dem dritten Jahrhundert oder wenigstens der Zeit vor
dem Ende des zweiten zuweisen dürfen, entfernen sich nur
in Einzelheiten, die für das Ganze des Systems wenig zu
bedeuten haben, von Aristoteles; und wenn sie auch immer
einen weiteren Beweis dafür liefern, daß die wissenschaftliche
Tätigkeit in der peripatetisehen Schule auch nach Theophrast
und Straten nicht ausstarb, bestätigen sie doch zugleich die
Tatsache, daß diese Schule zwar Einzelnes zu ergänzen und
zu berichtigen, aber für die Lösung der größeren Aufgaben
keine neuen Wege zu zeigen vermochte.
Dritte Periode.
Die nacharistotelische Philosophie.
§ 65. Einleitung.
Von der Umwälzung, welche das Aufkommen der make-
donischen Macht und die Eroberungen Alexanders in dem
Leben des griechischen Volkes herbeiführten, mußte auch
dessen Wissenschaft aufs tiefste berührt werden. Während
sich diesem Volke in den Ländern des Ostens und des Südens
ein unermeßliches .Arbeitsfeld erschloß, eine Fülle neuer An-
schauungen ihm zuströmte, neue Mittelpunkte des Völker-
verkehrs und der Bildung entstanden und in die griechischen
Schulen selbst immer mehr graecisierte Orientalen als Lehrer
und als Schüler eintraten, war das hellenische Mutterland
seiner politischen Selbständigkeit und Bedeutung beraubt, ein
Gegenstand des Streites für die Fremden, ein Schauplatz
ihrer Kämpfe; der Wohlstand und die Bevölkerung sanken
unaufhaltsam ; das sittliche Leben, dem der alte Götterglaube
schon längst keine haltbare Stütze mehr gewährte und der
Rückhalt einer kräftigen und auf große Ziele gerichteten
politischen Tätigkeit gleichfalls entschwand, drohte in den
kleinen Interessen des Privatlebens, in der Jagd nach Genuß
und Gewinn, in dem Kampf um die tägliche Notdurft zu ver-
sumpfen. Unter solchen Umständen war es natürlich, wenn
die Lust und die Kraft zur freien, rein wissenschaftlichen
Weltbetrachtung sich verlor, die praktischen Aufgaben sich
in den Vordergrund drängten und der Hauptwert der Philo-
§ 66. Die stoische Schale im 3. und 2. Jahrhundert. 219
Sophie mehr und mehr darin gesucht wurde, daß sie dem
Menschen eine Zuflucht gegen die Not des Lebens gewähre;
wofür aber immerhin, der spekulativen Neigung des griechi-
schen Volkes und den seit Sokrates tief eingewurzelten Über-
zeugungen entsprechend eine bestimmte wissenschaftliche
Theorie unentbehrlich gefunden wurde. Ebenso erklärlich
ist es aber auch, wenn man jener Aufgabe nur dadurch zu
genügen wußte, daß der Einzelne sich von allem Äußeren
unabhängig mache und sich ganz auf sein inneres Leben
zurückziehe, und wenn auch die menschliche Gemeinschaft
von denen, die ihren Wert anerkannten, den Verhältnissen
der alexandrinischen und römischen Zeit gemäß, weniger im
politischen als im kosmopolitischen Sinn empfohlen wurde.
Und dies um so mehr, da schon Piaton und Aristoteles durch
ihre Metaphysik wie durch ihre Ethik diese Abkehr von der
Außenwelt vorbereitet hatten. Die Stadien, welche die Ent-
wicklung dieser Denkweise in den Jahrhunderten nach
Aristoteles durchlief, wurden schon S. 29 f. angegeben.
Erster Absehnitt.
itoizismus, Epikureismus, Skepsis.
I. Die stoisch^ Philosophie.
§ 66. Die stoische Schule im 3. und 2. Jahrhundert.
Der Stifter der stoischen Schule war Z e n o n aus Kition
auf Kypros, einer griechischen Stadt mit phönikischem Zuzug.
Sein Tod ftlllt 262, seine Geburt, da er 72 Jahre alt wurde
(nach Persäos bei DiOG. VII, 28, wogegen der untergeschobene
Brief ebenda 9 nichts beweist), 334/3. In seinem 22. Jahre
kam er nach Athen, schloß sich an den Kyniker Krates,
später an Stilpon an, benutzte aber auch den Unterricht
des Megarikers Diodoros, des Xenokrates und Polemon.
220 Dritte Periode.
Im Jahre 300 v. Chr. trat er selbst als Lehrer und philo-
sophischer Schriftsteller auf^); seine Schüler wurden erst
Zenoneer, dann von ihrem Versammlungsort, der Stoa Poikile,
Stoiker genannt. Wegen seines Charakters allgemein ver-
ehrt, schied er freiwillig aus dem Leben. Ihm folgte Kle-
anthes aus Assos in Troas; ein Mann von seltener Willens-
stärke, Bedürfnislosigkeit und Sittenstrenge, aber geringer
Beweglichkeit des Denkens; nach Ind. Stoic. Hercul. (s. o.
S. 10) col. 29, 1 331/0 V. Chr. geboren und wahrscheinlich
99 jährig, also 232,1*), durch freiwillige Aushungerung ge-
storben. Neben ihm sind unter Zenons persönlichen Schülern
die namhaftesten: sein Landsmann und Hausgenosse Per-
säos, Ariston von Chios und Herillos von Karthago
(über diese S. 222 f. 235 f.), S p h ä r o s aus Bosporos, der Lehrer
des spartanischen Königs Kleomenes, der Dichter Aratos aus
Soloi in Kilikien. Kleanthes' Nachfolger war Chrysippos
aus Soloi (Ol. 143, 208,4 v.Chr. 73jährig gestorben, also
280/76 geboren), der scharfsinnige Dialektiker und arbeit-
same Gelehrte, der durch seine erfolgreiche Lehrtäigkeit und
seine ungemein zahlreichen, freilich aber auch allzu weit-
schweifigen, in Stil und Darstellung vernachlässigten Schriften
nicht bloß für die äußere Verbreitung des Stoizismus das be-
deutendste leistete, sondern auch sein Lehrsystem zum Abschluß
brachte. Zeitgenossen des Chrysippos sind Eratosthenes
aus Kyrene (276/2— 197/2) 8), der berühmte Gelehrte, ein
Schüler Aristons, und der • Moralprediger Tel es, dessen
Kynismus vermuten läßt, daß gleichfalls Ariston seinen Zu-
^) [Die oben angegebenen Daten, die von den Ansätzen Zellers: Tod
um 270, Geburt um 842 (s. Phil. d. Gr. III 1 S. 27 f.) erheblich abweichen,
sind jetzt durch genaue Feststellung des Textes im Index Stoic. Hercul.
c. IV gesichert worden ; s. Crönebt Kolotes u. Menedemos S. 188. Vgl. auch
RoHDE Rh. Mus. XXXni, 622 ff. Gomperz ebd. XXXIV, 154 ff. u. Jacoby
Apollodors Chronik S. 362 ff.]
") [Zeller gibt als Todesjahr 251 an; s. jedoch Jacoby Ap.s Chr.
S. 869 ff.]
8) [Danach ist der Ansatz S. 9: 284—204 zu berichtigen.]
§ 67. Charakter und Teile des stoischen Systems. 221
sammeuhang mit der Stoa (Stob. Floril. 95, 21) vermittelte *).
Chrysippos folgten zwei seiner Schüler, erst Zenon von
Tarsos, dann Diogenes aus Seleukia (D. der Babylonier),
der noch 155 v. Chr. an der Philosophengesellschaft nach
Rom (s. S. 21G) teilnahm, sie aber wahrscheinlich nicht lange
überlebte. Von Diogenes' zahlreichen Schülern war Anti-
patros aus Tarsos (gestorben 129 v.Chr.) sein Nachfolger
auf dem Lehrstuhl in Athen, während Archedemos, gleich-
falls aus Tarsos, in Babylon eine Schule begründete. Zwei
weitere Schüler von ihm, Boethos und Panätios, werden uns
§ 80 begegnen.
§ 67. Charakter und Teile des stoischen
Systems.
Da sich von den zahllosen Schriften stoischer Philosophen
aus den ersten drei Jahrhunderten der Schule nur Bruch-
stücke erhalten haben ^) , die späteren Berichte aber die
stoische Lehre in der Regel als ein Ganzes behandeln, ohne
ausdrücklich anzugeben, welche ihrer Bestimmungen schon
Zenon, welche erst seinen Nachfolgern, namentlich Chrysippos,
angehören®), bleibt auch uns nur übrig, das System in der
Gestalt, die es seit Chrysippos hatte, darzustellen, zugleich
*) [Wenn Teles sich auch vielfach mit der Stoa berührte, wie ja über-
haupt diese Schule schon ihrem Ursprünge nach mit der kynischen nahe
verwandt ist (s. u.), so ist er doch nach neueren Untersuchungen den
Eynikem einzureihen; s. S. 111.]
^) Die Fragmente des Zenon u. Kleanther sind gesammelt von Pearson
1891 (vgl. auch E. Wellmann Die Philos. d. Stoikers Z. 1873 u. N. Jahrb.
f. Philol. 1873 S. 433 ff. sowie Wachsmuth Commentat. I et IL de Zenone
Citiensi et Cleanther Assio 1874), die des Zenon u. Chrysippos nebst denen
ihrer Schüler von J. v. Arnim in 3 Bdn. (1903/05).
^) Ausführliche Untersuchungen hierüber, deren Ergebnisse jedoch
ziemlich weit auseinandergehen, finden sich bei R. Hirzel Untersuch, zu
Cic. phil. Sehr. IIa. 1882. L. Stein Die Psychologie der Stoa I. n. 1886.
1888. — Wichtig für die Kenntnis auch der älteren stoischen Lehre sind
die angef. beiden Werke von Bonhöffer. Vgl. auch Barth Die Stoa 1903 ;
2. Aufl. 1908.
222 Dritte Periode.
aber auch die Lehrunterschiede innerhalb der Schule, soweit
sie uns bekannt sind oder sich wahrscheinlich machen lassen,
zu bemerken.
Was den Stifter der stoischen Schule zur Philosophie
hinführte, war in erster Reihe das Bedürfnis, einen festen
Rückhalt für sein sittliches Leben zu finden; und die Be-
friedigung dieses Bedürfiiisses suchte er zunächst bei dem
Kyniker Erates. Auch seine Nachfolger betrachteten sich
als Abkömmlinge des kynischen Zweiges der sokratischen
Schule, und wenn sie die angeben wollten, welche ihrem
Ideal des Weisen am nächsten gekommen seien, nannten sie
neben Sokrates einen Diogenes und Antisthenes. Mit diesen
Philosophen gehen sie darauf aus, den Menschen durch seine
Tugend unabhängig und glückselig zu machen; mit ihnen
definieren' sie die Philosophie als Übung der Tugend (aaxtjaig
ägev^Qy Studium virtutis, sedper ipsam virtutem Sen. ep, 89, 8)
und machen den Wert der theoretischen Forschung von ihrer
Bedeutung für das sittliche Leben abhängig. Und auch ihre
Auffassung der sittlichen Aufgaben steht der kynischen nahe
genug (vgl. § 71 f.). Aber was die Stoa vom Kynismus
grundsätzlich unterscheidet, und was schon ihren Stifter
über jenen hinausführte, das ist die Bedeutung, welche die
Stoiker der wissenschaftlichen Forschung beilegen. Der
letzte Zweck der Philosophie liegt für sie in ihrem Einfluß
auf den sittlichen Zustand des Menschen; aber die wahre
Sittlichkeit ist ohne wahre Erkenntnis nicht möglich: „tugend-
haft" und „weise" werden als gleichbedeutend behandelt, und
wenn die Philosophie mit der Tugendübung zusammenfallen
soll, wird sie doch zugleich als „Erkenntnis des Göttlichen
und Menschlichen" definiert. Wenn Herillos das Wissen
für das höchste Gut und den letzten Lebenszweck erklärte,
kehrte er damit allerdings von Zenon zu Aristoteles zurück ;
aber andrerseits war es ein Versuch, den Stoizismus beim
Kynismus festzuhalten, wenn Ariston nicht allein die ge-
lehrte Bildung verachtete, sondern auch von der Dialektik
und der Physik nichts wissen wollte, weil jene unnütz sei,
§ 67. Charakter und Teile des stoischen Systems. 223
diese das menschliche Erkenntnisvermögen übersteige, und
wenn er selbst in der Ethik nur den grundsätzlichen Er-
örterungen einen Wert beilegte, die spezielleren Lebensregeln
dagegen für entbehrlich erklärte. Zenon selbst sah im wissen-
schaftlichen Erkennen die unerläßliche Bedingung des sitt-
lichen Handelns; wie er denn auch schon die Einteilung der
Philosophie in Logik, Physik und Ethik von den Akademikern
(vgl. S. 159 f.) entlehnt hatte. Für diese systematische Be-
gründung seiner Ethik ging er nun zunächst auf Heraklit
zurück, dessen Physik sich ihm wohl vor allem durch die
Entschiedenheit empfahl, mit der sie den Gedanken durch-
führte, daß alles einzelne in der Welt nur die Erscheinung
eines und desselben Urwesens, und daß es ein Gesetz sei,
welches den Naturlauf bestimme und das Tun der Menschen
bestimmen solle ; dagegen mußte ihn an der platonischen und
aristotelischen Metaphysik teils der Dualismus abstoßen, der
den Wirkungen der Vernunft in der Welt die der Notwendig-
keit zur Seite setzte (vgl. S. 142. 183. 189) und dadurch auch
die Alleinherrschaft der Vernunft im menschlichen Leben zu
gefährden schien, teils war ihr Idealismus und Spiritualismus,
auch abgesehen von den Schwierigkeiten, in die er sie ver-
wickelt hatte, mit seinem von Antisthenes überkommenen
materialistischen Nominalismus (vgl. S. 112) zu unvereinbar,
und er schien ihm wohl auch zu wenig geeignet, eine feste
Grundlage für das Handeln zu gewähren, als daß er ihm
hätte beitreten können. Um so entschiedener nahmen er und
seine Schule die sokratisch-platoni6che Teleologie und den
damit verbundenen Vorsehungsglauben in seine Weltansicht
auf, und im einzelnen ergänzte er die heraklitische Physik
vielfach durch die aristotelische. Noch größer ist der Ein-
fluß der peripatetischen Logik auf die stoische, namentlich
seit Chrysippos. Aber auch in der Ethik bemühte sich Zenon
(s. u.) mit dem bedeutendsten Erfolge, die Härten und
SchroflFheiten des Kynismus zu mildern. Die stoische Philo-
sophie ist daher keineswegs bloß eine Fortsetzung der ky-
uischen^ sondern sie bat diese unter Benützung alles dessen,
224 Dritte Periode.
was die früheren Systeme hierfür boten, nach allen Seiten
umgebildet und ergänzt.
Die drei Teile der Philosophie, welche die Stoiker
zählten (wenn auch Eleanthes der Logik die Rhetorik, der
Ethik die Politik, der Physik die Theologie beifügte), wurden
im Unterricht nicht immer in derselben Ordnung vorgetragen,
und auch über ihr Wertverhältnis lauten die Urteile ver-
schieden, sofern bald der Physik als der Erkenntnis der
„göttlichen Dinge", bald der Ethik als der für den Menschen
wichtigsten Wissenschaft die oberste Stelle angewiesen wird.
Indessen gehören Zenon und Chrysippos zu denen, welche
mit der Logik begannen, dann zur Physik fortgingen und
mit der Ethik schlössen.
§68. Die stoische Logik.
Unter dem Namen der Logik, den vielleicht Zenon auf-
gebracht hat, faßten die Stoiker seit Chrysippos alle Unter-
suchungen zusammen, welche sich auf die innere und äußere
Rede (den Xoyog ivöidd^ecog und TtgocpOQiTtog) beziehen, und
sie teilten sie deshalb in die Rhetorik und die Dialektik ; der
letzteren wird die Lehre von den Kriterien und den Begriffs-
bestimmungen bald untergeordnet, bald beigeordnet. In der
Dialektik unterscheiden sie die Lehre vom Bezeichnenden
(atjiÄaLVov) und die vom Bezeichneten {arjfxatvofxevov) und
rechneten ssu jener die Poetik, die Theorie der Musik und
die Grammatik, auf deren Entwicklung in der alexandrinischen
und römischen Zeit der Stoizismus erheblich eingewirkt hat;
die Lehre vom Bezeichneten entspricht im wesentlichen unserer
formalen Logik, die von den Kriterien enthält die Erkenntnis-
theorie der Schule.
Im Gegensatz zu Piaton und Aristoteles sind die Stoiker
ausgesprochene Empiriker. Hatte schon Antisthenes nur den
Einzeldingen Wirklichkeit zuerkannt, so folgert Zenon daraus,
daß auch alles Erkennen von der Wahrnehmung des Ein-
zelnen ausgehen müsse. Bei ihrer Geburt gleicht die Seele
nach stoischer Lehre einer unbeschriebenen Tafel (daher der
§ 68. Die stoische Logik. 225
Ausdruck „tabula rasa" in der scholastiechjeii Philosophie und
bei Locke); jeder Inhalt muß ihr von den Objekten gegeben
werden; die Vorstellung (q>avTaala) ist, wie Zenon und
Eleanthes sagten, ein Abdruck (Tvmaaig) der Dinge in r4er
Seele *), wie Chrysippos wollte, eine durcjh , sie bewirkte -Ver-
änderung der Seele. Auch über unsre inneren Zustände
und Tätigkeiten unterrichtet uns (nach Chrysippos), die .Wahr-
nehmung ; da aber auch diese in materiellen Vorgängen be^
stehen sollen, brauchen die Stoiker deshalb keinen Artuater-
schied zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung anzu-
nehmen. Aus der Wahrnehmung entstehen die Erinnerungen,
und aus diesen die Erfahrung (vgl. S. 175). Durch Schlüsse
aus dem Wahrgenommenen kommen wir zu den allgemeinen
Vorstellungen (IWotat)« Sofern diese von Natur ^nd kunst-
los aus allgemein bekannten Erfahrungen abgeleitet werden^),
bilden sie jene ^gemeinsamen Überzeugungen'* (%oival evpoiaiy
notitios communes)y welche aller wissenschaftlichen Unter-
suchung vorangehen und deshalb mit einer von Epikur ent-
lehnten, in diesem Siüne, wie es scheint, zuerst von Chrysippos
gebrauchten Bezeichnung, ngokijilfeig genannt werden. Auf
kunstmäßiger Beweisführung und Begriffsbildung beruht die
Wissenschaft , deren eigentümlicher Vorzug daria besteht,
daß sie im Gegensatz zu der Meinung ((Jo|ö) eine durch
Einwürfe nicht zu erschütternde Überzeugung {xavalr^tffig
aaq)al^g aal afĀtdnta)wg VTto Xoyov) oder ein System solcher
^) Kleantbes verglich die runioais fv tJ t/^u/J in grot materialisti£(cher
Weise mit dem Abdrücke eines Siegelringes im Wachse (s.Sext. Emp<
Math VII, 228 ti. ö.); gegen diese Auffassung wandte, sich .Chrysi|>pos. .
2) [Ob die xoivttl hvoiai wirklich nach stoischer Auffassung erst aus
der Erfahrung abgeleitet wurden (vgl. Phil. d. Gr. III 1 S. 75), ist zu be-
zweifeln. Da sie in den Quellen wiederholt als (fvat,xat oder ^/LKfwroi, be-
zeichnet werden, so sind sie wohl als vor aller Erfahrung in uns vorhanden
anzusehen, freilich nicht ihrem Inhalte nach wie die ideae innatae von
Descartes und Leibniz, wohl aber in dem Sinne, daß die Anlage zu ihrer
Entstehung uns angeboren ist. S. Babth Die Stoa S. 72f. Vgl. Bonhöpper
Epiktet u. d. Stoa S. 191.]
Zeller, Grundriß. l^
226 Dritte Periode.
Überzeugungen ist. (Vgl. Piaton S. 131.) — Da nun alle
unsre Vorstellungen aus Wahrnehmungen entspringen, wird
auch ihr Erkenntnis wert davon abhängen , ob es Wahr-
nehmungen gibt, deren Übereinstimmung mit den wahr-
genommenen Gegenständen gesichert ist. Eben dieses be-
haupten aber die Stoiker. Ein Teil unsrer Vorstellungen
ist ihnen zufolge so beschaffen, daß sie uns nötigen, ihnen
Beifall zu schenken (avyxaTazld'ea&ai)y sie sind mit dem Be-
wußtsein yerknilpft, daß sie nur von etwas Wirklichem her-
stammen können, sie haben unmittelbare Evidenz {ivagyeiro) ;
wir ergreifen daher, wenn wir ihnen zustimmen, den Gegen-
stand selbst, und eben darin, in der Zustimmung zu einer
so beschaffenen Vorstellung, besteht nach Zenon der Begriff
(xazdkrjipigj ein von Zenon neu gebildeter Ausdruck), welcher
daher (im Unterschied von der evvoia ; s. S. 225) den gleichen
Inhalt hat wie die bloße Vorstellung, aber durch das Bewußt-
sein seiner Übereinstimmung mit dem Objekt und durch
seine daraus hervorgehende Unwandelbarkeit sich von ihr
unterscheidet. Eine Vorstellung, welche dieses Bewußtsein
mit sich führt, nannte Zenon eine begriffliche Vorstellung
(q>avTaaia y,aTaXrjnTnii] , d. h. eine solche, die ihren Gegen-
stand zu begreifen geeignet ist; Cicero erklärt sie allerdings
von einem visum quod percipi potest, und er behauptete dem-
gemäß, die begriffliche Vorstellung sei das Kriterium der
Wahrheit *). Da aber aus den Wahrnehmungen die „gemein-
samen Überzeugungen** als ihre Folgen hervorgehen, konnten
auch diese als natürliche Normen der Wahrheit betrachtet,
und es konnten von Chrysippos die aiox^riaig und die tcqo'
Irjxpig als Kriterien bezeichnet werden ^). Daß aber überhaupt
') [Barth a. a. O. S. 66 f. faßt, wohl zutreffender, die (pavr, xaraX.
als „greif bare Vorstellung" , d. h. eine solche, deren Objekt greifbar ist
Vgl. über diese schwierige Frage Bonhöppbb a. a. O. S. 160 ff.J
*) Daß dagegen die Angabe, einige von den älteren Stoikern hätten
(statt der (pavr. xaraL) den OQ&og koyog zum Kriterium gemacht (Posei-
donios bei Dioo. VII, 54), sich auf Zenon und Kleanthes beziehe, ist nn-
wahrscheiolichy und was Zenon betrifft, mit Sext. Matth. VU, 150 ff. Cic.
§ 68. Die stoische Logik. 227
ein Wissen möglich sein müss^, bewiesen die Stoiker in
letzter Beziehung mit der Behauptung, andernfalls wäre kein
Handeln nach vernünftiger Überzeugung möglich. Dabei ver-
wickelten sie sich jedoch in den Widerspruch, daß sie einer-
seits die Wahrnehmung zur Norm der Wahrheit machten,
andrerseits aber ein vollkommen gesichertes Wissen nur von
dem wissenschaftlichen Erkennen erwarteten, wie dies freilich
nicht bloß ihrem wissenschaftlichen Bedürfnis, sondern auch
den praktischen Anforderungen eines Systems entsprach,
welches die Tugend und Glückseligkeit des Menschen von seiner
Unterordnung unter ein allgemeines Gesetz abhängig macht.
Der Teil der „Dialektik", welcher unsrer formellen Logik
entspricht, hat es mit dem Bezeichneten oder Ausgesprochenen
(IsxTOv) zu tun, und dieses ist entweder unvollständig oder
vollständig: jenes die Begriffe, dieses die Sätze. Von den
Bestimmungen über die Begriffe ist das wichtigste die
Kategorienlehre. Die Stoiker zählten nämlich statt der
zehn aristotelischen Kategorien deren nur vier, welche sich
zueinander so verhalten sollten, daß jede folgende eine nähere
Bestimmung der vorangehenden ist und somit diese in sich
enthält: das Substrat (vnoxel^evoyj auch oiaia), die wesent-
liche Beschaffenheit (t6 noiov oder 6 noiOQ sc. X6yog\ welche
ihrerseits in das tloivüq noiov und das ideo/g noiov zerfkUt,
die zufällige Beschaffenheit {nu)^; e%ov) und die beziehungs*
weise zufällige Beschaffenheit {nqoq xL nwg i'xov). Als der
gemeinsame Gattungsbegriff, unter den alle Kategorien fallen,
wurde von den einen (wahrscheinlich Zenon) das Seiende,
von den andern (Chrysippos) das Etwas (xi) bezeichnet,
welches dann wieder in das Seiende und das Nichtseiende
geteilt wurde. Von den vollständigen Aussagen oder den
Sätzen sind Urteile oder Behauptungen (a^iwfiava) die,
welche entweder wahr oder falsch sind; unter ihnen unter-
schieden die Stoiker einfache (kategorische) und zusammen-
Acad. n, 77. I, 42 nicht zu vereinigen. Eher könnte man an Ariston
denken. Poseidonios scheint damit einverstanden gewesen zu sein«
15*
228 Dritte Periode.
gesetzte y und unter den letzteren widmeten sie den hypo-
thetischen besondere Sorgfalt. . Ebenso: bevorzugten sie in
ihrer Behandlung der Schlüsse diö hypothetischen und
disjunktiveij so entschieden^ daß sie nur diese für eigentÜehe
Schlüsse gelten lassen wollten. Indessen ist dei^ wissenschaft-
Jiche Wert dieser Logik ein sehr mäßiger, und wenn die
Stoiker allerdings im einzelnen das eine und andre genauer
untersucht habßn,j konnte doch der pedantische äußerliche
Pormalismus, den namentlich Chrysippos in die Logik einführte^
dem Gesamtzustand der Wissenschaft nicht, förderlich, sein.
§ 69. Die stoische Physik: die letzten Gründe
unddas Welt ganze.
Die Weltanschauung der stoischen Schule ist von einer
dreifachen Tendenz beherrscht. Im Gegensatz zu dem Düa^
lismus der platonisch-aristotelischen Metaphysik, dringt sie
auf die Einheit, der letzten Ursache und der von ihr aus^
gehenden Weltordnung: sie ist monistisch. Im Gegensatz zu
ihrem Idealismus ist sie realistisch, ja materialistisch. Nichts-
destoweniger will sie aber, wie dies schon ihre ethischen
Grundsätze verlangten, alles iu der Welt als das Werk der
Vernunft und ihren letzten Grund als die absolute Vernunft
anerkannt wiesen: ihr Standpunkt ist ein wesentlich teleo-
logischer und ihr Monismus selbst wird dadurch zum Pantheis-
mus. Vgl. S. 223.
Ein Wirkliches sind, nach der Lehre der Stoiker nur die
Körpen Denn wirklich, sagen sie, sei. was wirkt oder leidet;
diese Eigenschaft komme aber nur körperlichen Wesen zu.
Sie erklärten daher nicht bloß alle Substanzen, die mensch-
liche Seele und die Gottheit nicht ausgenommen, für Körper^
sondern auch alle Eigenschaften der Dinge sollten in^ etwas
Körperlichem, in den Luftströmungen {nvevfxaza) bestehen,
welche sich. durch sie verbreiten und ihnen die Spannung
(rovog) mitteilen, die sie zusammenhält; und da dies natürlich
auch von dem Seelenkörper gelten muß, werden auch die
Tugenden, die Affekte^ die Weisheit, das Gehen usw. als Zu-
§ 69. Die stoische Physik: letzte Gründe. 229
stände der Seele Eörper und lebende Wesen genannt; daß
der leere Raum, der Ort, die Zeit und das Gedachte (iexTor,
vgl. S. 227) keine Körper sein sollten, war nur eine, freilieh
unvermeidliche, Inkonsequenz. Um es von ihrem Standpunkt
aus erklirren zu können, daß sich die Seele durch den Leib,
die Eigenschaften der Dinge durch die Dinge ihrem ganzen
Umfang nach verbreiten, leugneten die Stoiker in ihrer Lehre
von der ngäaig dv oXiav die Undurchdringlichkeit der Körper,
indem sie behaupteten, ein Körper könne einen andern in
allen seinen Teilen durchdringen, ohne doch zu einem StoflF
mit ihm zu werden. — Indessen unterscheiden sie trotz ihrem
Materialismus doch auch zwischen dem Stoff und den Kräften,
die in ihm wirken. Sie bezeichnen jenen für sich genommen
als eigenschaftslos und leiten alle Eigenschaften der Dinge
von der ihn durchdringenden vernünftigen Kraft {i.6yog) und
schon die Raumerfüllung selbst von zwei Bewegungen her,
einer verdichtenden und einer verdünnenden, einer nach
innen und einer nach außen gehenden. Alle in der Welt
wirkenden Kräfte können aber nur von einer Urkräft her-
stammen; wie dies die Einheit der Welt, der Zusammenhang
und die Übereinstimmung aller ihrer Teile beweist. Wie alles
Wirkliche, muß auch diese körperlich und näher als warmer
Hauch (ttv«?;^«) oder (was dasselbe) als Feuer gedacht werden;
denn die Wärme ist es, die alles erzeugt, belebt und bewegt.
Aber andrerseits zeigt die Vollkommenheit und Zweckmäßig-
keit der Welteinrichtung und insbesondre die Vernünftigkeit
der menschlichen Natur j daß diese letzte Weltursache zu-
gleich die vollkommenste Vernunft, das gütigste, menschen-
freundlichste Wesen, mit einem Wort die Gottheit sein muß;
und sie ist dies eben deshalb, weil sie aus dem voll-
kommensten Stoffe besteht. Da alles in der Welt seine
Eigenschaften, seine Bewegung und sein Leben ihr zu ver-
danken hat, muß sie zu dem Weltganzen in einem ähnlichen
Verhältnis stehen wie unsre Seele zu unserm Leibe; sie
durchdringt alle Dinge als das Pneuma oder das künstlerische
Feuer {nvq rex^r/ov), das sie belebt und ihre Keimformen
230 Dritte Periode.
(koyoi aTtegfiaTiKoi) in sich schliefit; sie ist die Seele , der
Geist (vovg)f die Vernunft (Xoyog) der Welt, die Vorsehung,
das Verhängnis, die Natur, das gemeinsame Gesetz usw.;
denn alle diese Begriffe bezeichnen den gleichen Gegenstand,
nur nach verschiedenen Seiten. Wie aber in der Seele des
Menschen, obwohl sie dem ganzen Leibe gegenwärtig ist
doch der beherrschende Teil von den übrigen unterschieden
und ihm ein besonderer Sitz angewiesen wird, so geschieht
dies auch mit der Seele des Weltganzen: die Gottheit oder
Zeus soll im äußersten Umkreis der Welt (nach Archedemos
in ihrer Mitte, nach Kleanthes in der Sonne) ihren Sitz haben
und sich von hier aus durch die Welt verbreiten. Aber ihr
Unterschied von der Welt ist immer nur ein relativer, nur
der des unmittelbar und des mittelbar Göttlichen: an sich
sind beide dasselbe, es ist das gleiche Wesen, von dem ein
Teil die Gestalt der Welt annimmt, während ein andrer seine
ursprüngliche Gestalt beibehält und jenem in dieser als die
wirkende Ursache oder die Gottheit gegenübertritt, und auch
diese Verschiedenheit der Erscheinung ist eine vorübergehende,
sie ist in der Zeit entstanden und hebt sich seiner Zeit
wieder auf.
Um die Welt zu bilden, verwandelte die Gottheit einen
Teil des feurigen Dunstes, aus dem sie besteht, zunächst in
Luft, dann in Wasser, dem sie selbst als bildende Kraft
(Xoyog anBQfxaTiyLog) innewohnte ; von dem Wasser schlug sich
unter ihrer Einwirkung ein Teil als Erde nieder, ein andrer
blieb Wasser, ein dritter wurde zu Luft, und aus dieser ent-
zündete sich bei weiterer Verdünnung das elementarische
Feuer. So bildete sich der Leib der Welt im Unterschied
von ihrer Seele, der Gottheit. Aber wie dieser Gegensatz in
der Zeit entstanden ist, so hebt er sich mit der Zeit auch
wieder auf: nach Ablauf der gegenwärtigen Weltperiode ver-
wandelt ein Weltbrand alle Dinge in eine ungeheure Masse
feurigen Dunstes: Zeus nimmt die Welt in sich zurück, um
sie zur vorbestimmten Zeit wieder aus sich zu entlassen
(vgl. S. 64) ; so daß demnach die Geschichte der Welt und
§ 69. Die stoische Physik: das Weltganze. 231
der Gottheit sich in endlosem Kreislauf zwischen Weltbildung
und Weltzerstörung bewegt. Da aber diese Bewegung immer
denselben Gesetzen folgt, sind alle die zahllosen aufeinander-
folgenden Welten sich so ununterscheidbar ähnlich , daß in
jeder von ihnen bis aufs kleinste hinaus die gleichen Per-
sonen, Dinge und Ereignisse vorkommen wie in allen andern.
Denn eine unverbrüchliche Notwendigkeit, ein festverketteter
Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen bestimmt alles
Geschehen ; wie dies in einem so streng pantheistischen
System durchaus folgerichtig ist und auch in den stoischen
Definitionen des Verhängnisses oder Schicksals, der Natur und
der Vorsehung sich ausdrückt. Auch der menschliche Wille
macht in dieser Beziehung keine Ausnahme; der Mensch
handelt freiwillig, sofern es sein eigener Trieb (6^/ii?) ist,
der ihn bestimmt, und auch das, was das Schicksal verfügt,
kann er frei, d. h. mit eigener Zustimmung, tun; aber tun
muß er es unter allen Umständen: volentem fata ducunt,
nolentem trahunt Auf diesem Zusammenhang aller Dinge
(avfircd^eia twv oXcjv) beruht die Einheit, auf der Vernünftig-
keit der Ursache, von der er ausgeht, beruht die Schönheit
und Vollkommenheit der Welt; und je eifriger sich nun die
Stoiker bemühten, ihren Vorsehungsglauben durch Beweise
aller Art zu begründen, um so weniger konnten sie sich
auch der Aufgabe entziehen, die durchgängige Vollkommen-
heit der Welt nachzuweisen und gegen die Einwürfe, die das
vielfache Übel in ihr an die Hand gab, zu verteidigen. Der
Haupturheber dieser Physikotheologie und Theodizee scheint
Chrysippos zu sein. Gerade von ihm wissen wir aber auch,
daß er den Satz, die Welt sei um der Menschen und Götter
willen gebildet, mit der kleinlichsten und äußerlichsten
Teleologie durchführte; und wenn der Grundgedanke der
stoischen Theodizee^), daß selbst die UnvoUkommenheit des
') Vgl. Capelle Arch. f. Qesch. d. Phil. XX S. 173 ff., wo ein Unter-
schied zwischen der Auffassung der älteren Stoa (Chr^'sippos) und der der
mittleren (Panaitios und Poseidonios) in bezug auf das göttliche Walten
in der Natur nachgewiesen- wird.
232 Dritte Periode.
Eiazeln^n der Vollkommenheit des Ganzen diene, allen
späteren fthnliehen Versuchen zum Vorbild gedient hat, so
war doch die Aufgabe, das moralische Über mit ihrem theo*
logischen Determinismus zu vereinigen, für die Stoiker um
so schwerer, je greller säe (s. S.237) seinen Umfang und seine
Macht zu schildern pflegten.
§ 70. Die Natur und der Mensch.
In ihrer Naturlehre halten sich die Stoiker, wie dies
der damalige Stand der Naturwissenschaft mit sich brachte,
weniger an Heraklit als an Aristoteles. Ihm folgten sie, ab-
gesehen von untergeordneten Abweichungen, in ihrer Lehre
über die vier Elemente, und wenn sie auch neben diesen
den Äther als fünften Körper entbehrlich fanden, unterschieden
sie doch zwischen dem ätherischen und dem irdischen Feuer:
jenes sollte sich kreisförmig, dieses geradlinig bewegen (vgl.
S. 190). Daß alle Elementarstoffe fortwährend ineinander
tibergehen, alle Dinge in beständiger Umwandlung begriffen
sind und eben hierauf der Zusammenhalt der Welt beruht,
Wird von den Stoikern vielfach hervorgehoben; deshalb mit
Heraklit jeden festen Bestand der Dinge zu leugnen, ist nicht
ihre Absicht, aber ebensowenig wird dieser Wechsel mit Aristo-
teles (S. 192) auf die Welt unter dem Monde beschränkt.
In ihren Vorstellungen über das Weltgebäude hielten sie
sich an die herrschenden Annahmen. Die Gestirne denken
sie sich in ihren Sphären befestigt; ihr Feuer soll sich von
den Ausdtini^tungen der Erde und der Gewässer nähren;
ihre Göttlichkeit und Vernünftigkeit wird von der Reinheit
dieses Feuers hergeleitet. Die sämtlichen Naturwesen werden
in vier Klassen geteilt, die sich dadurch unterscheiden, dafi
die unorganischen Dinge von einer bloßen ?^ig zusammen-
gehalten werden^ die Pflanzen von einer q)i'Oig^ die Tiere von
einer Seele, die Menschen von einer vernünftigen Seele.
Ein höheres Interesse hat unter den Naturwesen für
unsre Philosophen nur der Mensch und am Menschen seine
Seele. Sie ist zwar wie alles Wirkliche körperlicher Natur,
§§ 70. 71. Stoiker: Die Natur und der Mensch; ßthik: Örundzüge. 2äS
und sie entsteht zugleich mit dein Leibe auf dem physischen
Wege der Zeugung; aber ihr Stoff ist der reinste und edelste,
eiö Teil des göttlichen Feuers, der sieh bei der ersten Ent-
stehung der Menschen aus dem Äther in ihre Leiber herab-
gesenkt hat, und von den Eltern ids ein Ableger ihrer Seelen
auf die Kinder übergeht. Dieses Seetenfeuer nährt sich vom
Blute, uiid im Zentrum deis Blutlaufes, im Herzen, hat (nach
Zenon, Eleanthes, Chrjsippos usw., von denen nur einzelne
abwichen) der beherrschende Teil der Seele (das '^yefjiovmov)
seinen Sitz; Von hier aus verbreiten sich seine sieben Ab-
leger, nämlich die fünf Sinne, das Sprach- und das Zeugungs-
vermögen ^ zu den entsprechenden Organen. Aber der Sitz
der Persönlichkeit liegt nur in dem beherrschenden Teil oder
der Vernunft, der die niederen wie die höheren Seelen tätig-
keiten angehören, und in deren Gewalt die Zustimmung zu
den Vorstellungen ebenso Hegt wie die Willensentschlüsse.
Beides aber freilich nur in dem Sinn, den der stoische
Determinismus allein gestattet (vgl. S. 231). Nach dem Tode
sollen die Seelen, wie Eleanthes annahm, alle, nach Chry-
sippos dagegen nur die , welche sich die nötige Kraft dazu
erworben haben, die der Weisen, bis zum Weltende fort-
dauern, um dann mit allem andern in die Gottheit zurück-
zukehren. Die beschränkte Dauer dieses Fortlebens hält in-
dessen die Stoiker, namentlich einen Seneca, nicht ab, die
Seligkeit des höheren Lebens nach dem Tode mit ähnlichen
Farben zu schildern wie Piaton und die christlichen Theologen.
§ 71. Die stoische Ethik: ihre allgemeinen
G r u n d z tt g e ^).
Wenn auch alles den Weltgesetzen gehorcht, so ist doch
nur der Mensch durch seine Vernunft beftlhigt, sie zu er-
kennen und ihnen mit Bewußtsein zu folgen. Eben dies ist
nun der leitende Gedanke der stoischen Sittenlehre. Ihr
oberster Grundsatz ist im allgemeinen das naturgemäße
Leben, das b(>ioXoy6vfAeviog t^ g)vaei t^v, und daß erst die
^) S. Dyropp Die Ethik der alten Stoa 1897.
234 I>ri*te Periode.
Nachfolger Zenons diesen Grundsatz so formulierten, während
er selbst nur das ofioXoyovfAevwg C^r, ein mit sich tiberein-
stimmendes Leben verlangte (Areios Did. b. Stob. Ekl. 11,
7, 6 a S. 75, 11 W.), ist um so unwahrscheinlicher, da DiOG.
VII, 87 das Gegenteil bestimmt sagt, und da schon Zenons
Lehrer Polemon das naturgemäße Leben verlangt hatte
(vgl. S. 162) ^) ; wenn Kleanthes die Natur, der unser Leben
gemäß sein soll, als die xocvrj q>vaig bezeichnete, Chrysippos
als die allgemeine und im besondern die menschliche, so hat
der eine den andern doch mehr nur im Ausdruck berichtigt.
Der allgemeinste Naturtrieb ist aber der Selbsterhaltungstrieb;
für jedes Wesen kann nur, was seiner Selbsterhaltung dient,
einen Wert (a^ia) haben und zu seiner Glückseligkeit (etdcrt-
fÄOvia, &jQOia ßiov) beitragen. Für vernünftige Wesen hat
daher nur das Vernunftgemäße einen Wert: nur die Tugend
ist für sie ein Gut, nur in ihr besteht ihre Glückseligkeit,
die deshalb an keine weitere Bedingung geknüpft ist (die
Tugend ist airagntig ngog ti]v evdaifxoviav). Ebenso ist um-
gekehrt das einzige Übel die Schlechtigkeit (naxia). Alles
andere dagegen ist gleichgültig {adtd(pOQOv)i Leben, Ge^
«undheit, Ehre, Besitz usw. sind keine Güter, Tod, Krank-
heit, Schmach, Armut usf. keine Übel. Am allerwenigsten
darf die Lust für ein Gut oder gar für das höchste Gut ge-
halten und um ihrer selbt willen erstrebt werden ; sie ist eine
Folge unsrer Tätigkeit, wenn diese von der rechten Art ist
(denn das Rechthandeln gewährt freilich die einzige wahre
Befriedigung), aber sie darf nie ihr Zweck sein; und wenn
auch nicht alle Stoiker so weit gingen wie Kleanthes, der
sie gar nicht zu den naturgemäßen Dingen gerechnet wissen
wollte, so leugneten doch alle, daß sie für sich genommen
irgendeinen Wert habe; und sie suchten eben deshalb das
>) Vgl. Phil. d. Gr. HI 1 S. 211, 1 und Bonhöppeb Ethik Epiktete
S, 11 ff. Im Grunde stehen heide Forderungen nach stoischer Auffassung
im engsten Zusammenhange miteinander. Babth Die Stoa S. 102 ff. 108
hat daher schwerlich recht, wenn er Zenon ausschließlich das ofjLoXoyovfiivfog
Cvjv, also ein rein formales Prinzip des Handelns« zuschreibt
§ 71. Die stoische Ethik: Grandzüge. 235
eigentümliche Glück des Tugendhaften ganz überwiegend nar
in der Freiheit von Störungen, der Gemütsruhe, der inneren
Unabhängigkeit. Weil die Tugend allein für den Menschen
ein Gut ist, bildet das Streben nach ihr das allgemeine Ge-
setz seiner Natur; und dieser Begriff des Gesetzes, der Pflicht,
kommt bei den Stoikern stärker als bei den früheren Moral-
predigern zur Geltung. Da aber neben den vernünftigen
Trieben auch unvernünftige und maßlose, oder Affekte*)
in uns sind (welche schon Zenon auf vier Hauptaffekte : Lust,
Begierde, Bekümmernis und Furcht zurückführte), trägt die
stoische Tugend wesentlich den Charakter eines Kampfes mit
den Affekten; sie sind etwas Vernunftwidriges und Krank-
haftes {a^^tDOTTJfÄCcra , und wenn sie habituell werden, voaoi
if^vx^gX sie sollen nicht bloß (wie Akademiker und Peripatetiker
wollten) gemäßigt, sondern ausgerottet werden : unsre Aufgabe
ist die Freiheit von Affekten, die Apathie. Im Gegensatz
zu den Affekten besteht die Tugend in der vernunftmäßigen
Beschaffenheit der Seele. Ihre erste Bedingung sind richtige
Ansichten über das, was zu tun und zu lassen ist; denn wir
streben (sagt Zenon mit Sokrates) immer nach dem, was wir
für ein Gut halten, wenn es auch in unsrer Gewalt liegt,
einer Meinung hierüber unsre Zustimmung zu gewähren oder
zu versagen. Die Tugend wird deshalb als ein Wissen, die
Untugend als Unwissenheit bezeichnet, die Affekte auf falsche
Werturteile zurückgeführt. Aber mit dem sittlichen Wissen
denken sich die Stoiker die Geistes- und Willensstärke (rovog,
evroviOj laxvg^ xgccvog), die namentlich Kleanthes betonte,
so unmittelbar verbunden, daß das Wesen der Tugend ebenso
gut auch in ihr gefunden werden kann. Als die gemeinsame
Wurzel aller Tugenden bezeichnete Zenon die Einsicht
((pQ6v7]aig)y Kleanthes die Seelenstärke (icr%i;g, yiQazog),
Ariston die Gesundheit; seit Chrysippos ist es üblich,
sie in der Weisheit (aoq)ia) als der Wissenschaft von den
') ITa&oSi als aloyöe V^vxrj^ xtvriaig oder OQ/Liri nXtovdCovaa d. h.
„ein übermäßiger Trieb" definiert
236 Dritte Periode.
göttlichen und den menschlichen Dingen zu suchen. Aus ihr
sollten vier Grundtugenden hervorgehen , die dann wieder
vielfach gespalten wurden: die Einsicht, Tapferkeit, Selbst-
beherrschung {aioq^Qoövvrj) und Gerechtigkeit; Kleanthes
jedoch setzte an die Stelle der Einsicht die Beharrlichkeit
(iyxQfheia). Voneinander sollten sich die verschiedenen
Tugenden nach Ariston (und im Grunde auch nach
Kleanthes) hur durch die Gegenstände unterscheiden, an
denen sie sich äußern; Chrysippos und die Späteren
nahmen innere, qualitative Unterschiede zwischen ihnen an;:
Aber daran hielten auch sie fest, daß sie als Äußerungen-
einer und derselben Gesinnung- unzertrennlich verbunden
seien, daß da, wo eine Tugend ist, notwendig alle sein
müssen und ebenso, wo ein Fehler ist, alle Fehler; daß
daher alle Tugenden an Wert, alle Fehler an Vierwerflich-
keit einander gleich stehen. Denn nur auf die Gesinnung
komme es an; nur sie mache die Pflichterfüllung (xa^^xov)
zur tugendhaftfen Handlung (xar(5(?^Wjua) ; in welcher Form
diese sich äußert, sei unerheblich. Diese Gesinnung kann
aber, wie die Stoiker glaubet], nur ganz oder jgar nicht vor-
handen sein. Tugend und Schlechtigkeit sind Beschaffen-
heiten, die keines Gradunterschiedes fähig sind {dtax^iceiQ^
nicht bloße ^^tig), es liegt daher nichts zwischen ihnen in
der Mitte, man kann sie nicht teilweise haben, sondern nur
haben oder nicht haben, nur tugendhaft oder lasterhaft, nur
ein Weiser oder ein Tör sein,> und es ist deshalb der Über*
gang von der Torheit zur Weisheit ein momentaner : die
Fortschreitenden (ngoyLomovzeg) gehören noch zu den Toren.
Der We i s e ist das Ideal aller Vollkommenheit, und da diese die
einzige Bedingung dei* Glückseligkeit ist, auch das aller Glück-
seligkeit, der Tor das aller Schlechtigkeit und Unseligkeit
Jener ist (wie dies mit deklamatorischem Pathos ausgeführt
wird) allein frei, allein schön, reich, glücklich usw.; er besitzt
alle Tugenden und alles Wissen, tut immer in allen Dingen
und allein das Richtige, ist der einzige wirkliche König,
Staatsmann, Dichter, Wahrsager, Steuermann usw., ist durch-
§ 71. Die stoische EÜiik; Grundzüge. 237
aus frei von Bedürfnisfi^en und Leiden, ist der einzige- Freund
der Qöttiar. Seine Tugend, ist unverlierbar (oder geht höchstena^
wieC h ry s i ppo s einräumte^ dureh Geisteskrankheit verloren),
seine Glückseligkeit kömmt der des Zeus gleich '.und kann
durch die Zeitdauer nicht vermehrt werden. Der Tor seiner-
seits ist; durchausachlecht und elend, ein Sklave, ein Bettler,
eia Unwissender; er kann hichts Gutes 1;un, kann nicht
anders als fehlen; alle Toren sind yerrüökte (nSg aq^gum
^aivercci). Toren sind aber, wie die Stoiker glaubten, alle
Menschen mit wenigen, fast verschwindenden Ausnahmen;
selbst den gefeiertsten Staatsmännern : und Helden wird
höchstens das inkonsequente Zugeständnis gemacht^ dafi sie
mit den gemeinsamen Fehlern in' etwas geringerem Maße
behaftet gewesenv seien als die andern ^ und namentlich von
jüngeren Anhängern der Schule, wie Seneca, wird der Umfang
und die Tiefe der menfichlichen: Sündhaftigkeit nicht- selten
mit ebenso lebhaften Farben geschildert wie; gleichzeitig .und
später von den christlichen Theologen. ; - < ., ?■ , v. ^
In alledem folgen die. Stoiker im wesentlichen, den
Grundsätzen desKynismus; wenn auch mit den Abweichungen,
welche sich aus ihrer wissenschaftlichen Begründung und
Darstellung ergaben. Indessen konnte schon Zenon sich nicht
verbergen > daß diese Grundsätze eingreifender Milderungen
und Einschränkungen bedürfen ; und diese Milderungen war^n
nicht nur die Bedingung, unter d.er, . sie: allein die engen
Grenzen .einer Sekte überschreiten und zu einen geschicht-
lichen Macht werden' konnten, sondern sie ergaben sich ^uoh
aus den allgemeinen Voraussetzungen der 'Stoischen £thik.
Denn ein System, das in praktischer: Beziehung die Natur-
gemäßheit, in theoretischer die allgemeine Überzeugung als
Norm anerkannte, durfte sich mit keiner von beiden in einen
so grellen Widerspruch setzen, wie ihn eiti Antisthenes und
Diogenes ohne Bedenken auf sich gehöinmen hätten. So
würden denn zunächst in der Güterlehre. unter den sittlich
gleichgültigen Dingen drei Klassen unterschieden; solche, die
naturgemäß sind und deshalb einen Wert (a|/a) .haben, die
238 l>ritte Periode.
daher wünschenswert und für sich genommen vorzuziehen
(ftQorjyfAeva) sind; solche, die naturwidrig und deshalb im
Unwert {ctna^ia) und zu vermeiden (drvoTrQOfjy^iva) sind;
und endlich die, welchen weder ein Wert noch ein Unwert
zukommt, die Adiaphora im engeren Sinn. Ariston, der
diese Unterscheidung bestritt und gerade in der vollständigen
Gleichgültigkeit gegen sie die höchste Aufgabe des Menschen
(tilog) sehen wollte, zog sich durch dieses Zurückgehen von
Zenon zu Antisthenes den Vorwurf zu, daß er jedes Handeln
aus Gründen unmöglich mache; Herillos freilich wich auch
von Zenon ab, wenn er behauptete, daß ein Teil der sittlich
gleichgültigen Dinge, ohne auf den letzten Lebenszweck (das
tiXog) bezogen zu werden , doch einen selbständigen Neben-
zweck (ynorelig) bilden könne. Nur durch diese Modifikation
ihrer Güterlehre war es den Stoikern möglich, ein positives
Verhältnis zu den Aufgaben des praktischen Lebens zu ge-
winnen; indessen wurde von ihr auch nicht selten ein Ge-
brauch gemacht, der sich mit der Strenge der stoischen
Grundsätze nicht vertrug. Auf das Verhalten zu dem
Wünschenswerten und Verwerflichen beziehen sich nun die
bedingten oder „mittleren" Pflichten (^eaa xa^iyxovra), die
von den vollkommenen, den %atOQ^(jiiJLata ^ unterschieden
werden*): denn bei ihnen allen handelt es sich um Vor-
schriften, die unter Umständen außer Kraft treten können.
Wie ferner eine bedingte Wertschätzung gewisser Adiaphora
gestattet, ja verlangt wird, so wird auch die Apathie des
Weisen so weit gemildert, daß gesagt wird, die Anfänge der
Affekte kommen auch bei ihm vor, nur ohne seine Zu-
stimmung zu gewinnen, und gewisse vernunftmäßige Gemüts -
^) Die gleichen Ausdrucke bezeichnen aber auch den Unterschied der
Legalitat und Moralität (s. S. 236), wobei es ohne Verwirrung nicht ab-
geht. [BoNHöFFER Ethik Epiktets S. 229 ff. läßt diese Unterscheidung
zwischen Legalität und Moralität in gewissem Sinne gelten, hält aber die
andre Deutung, daß das xa&rjxov eine bedingte, das xaTogf^oifia eine un-
bedingte Pflicht bezeichne, für unzutreffend. Vgl. Dtroff Ethik d. alten
Stoa S. 133 f.]
§§ 71. 72. Stoische Ethik: Grondsüge; angewandte Moral. 239
bewegungen (eifnä&eiai) finden sich sogar nur bei ihm. Je
weniger endlich die Stoiker selbst einen aus ihrer Mitte als
einen Weisen zu bezeichnen wagten, je zweifelnder sich viele
von ihnen in dieser Beziehung sogar über einen Sokrates
und Diogenes äußerten, um so unvermeidlicher war es, daß
sich bald genug die „Fortschreitenden" in immer größerer
Bedeutung zwischen die Toren und die Weisen einschoben
und den letzteren in den stoischen Schilderungen fast un-
ünterscheidbar nahegerückt wurden.
§ 72. Fortsetzung: die angewandte Moral.
Das Verhältnis des Stoizismus zur Beligion.
Wenn die Erörterungen über einzelne sittliche Verhält-
nisse und Aufgaben in der nacharistotelischen Zeit überhaupt
einen breiten Raum einnahmen, so ließen die Stoiker (mit
Ausnahme Aristons ; vgl. S. 222 f.) sich diese ganz besonders
angelegen sein; und sie scheinen hierbei namentlich auch
die kasuistischen Fragen, zu denen die Kollision der Pflichten
Anlaß gibt, mit um so größerer Vorliebe besprochen zu
haben, je reicher die Gelegenheit zur Betätigung ihrer dia-
lektischen Kunst war, die solche Erörterungen gewährten.
So wichtig aber diese spezielleren Ausführungen für den
praktischen Einfluß der stoischen Ethik und für die Ver-
breitung reinerer sittlicher Begriffe waren, so scheint doch
ihr wissenschaftlicher Wert nicht sehr erheblich und ihre
Behandlung nicht selten eine allzu kleinliche gewesen zu
sein. Als charakteristisch tritt in ihnen, soweit sie uns be-
kannt sind, das doppelte Bestreben hervor: den Einzelnen
einesteils in seiner sittlichen Selbstgewißheit von allem
Äußeren unabhängig zu machen, andern teils aber den Auf-
gaben gerecht zu werden, die sich aus seinem Verhältnis zu
dem größeren Ganzen, dessen Teil er ist, ergeben. Auf
jener Seite liegen die Züge, welche den Stoizismus als einen
Abkömmling des Rynismus bezeichnen ; auf dieser die , wo-
durch er jenen überschreitet und ergänzt. Die vollkommene
240 Dritt© Periode. .
Upabhätigigkeit von allem, was UD^re sittliche Beschaffen^
heit -nicht beeinflußt., die Erhabenheit über äußere Verhält-
nisse and körperliche Zustände, die Selbstgenügsamkeit des
Weisen, die ' Bedürfnislosigkeit ein^s Diogenes ist auch
stoisches. Ideal;; und so. wenig die kynische Lebensweise alit
gemein verlangt wird, so würdig findet man sie doch des
Philosophen, fall* die Umstände sie gestatten. Der Grund-
satz, daßr der sittliche Charakter der Handlungen nur von
der Gesinnung abhänge,., nicht von der äußerwi Tat, ver-»'
leitete die Stoiker, wie ihre Vorgänger, zu manchen auf-
fallenden und einseitigen Behauptungen; wenn auch immer-
hin das Anstößigste, was ihnen in dieser Beziehung vor-
geworfen wird, teils nur hypothetisch, teils als eine t'olgerung
aus den von ihnen bekämpften Ansichten vorgetragen worden
zu sein scheint« Um endlich dem -Menschen seine Unab-
hängigkeit für alle Fälle zu, sichern, .gestatteten sie den frei-
willigen Austritt aus dem Leben (e§oywyi^') nicht etwa nur
alai Zuflucht in ider äußersten. Not, sondern sie «ahen darin
geradezu die höchste Bewährung der sittlichen Freiheit, einen
Sehritt, durch den man beweist, daß man auch da? Leben
zu den gleichgültigen Dingen rechnet, undzu dem man be^
rechtigt ist, sobald es irgendwelche» Umstände naturgemäßer
erscheinen lassen, das irdische Leben zu verlassen als länger
darin zu bleiben, Zenon, Kleanthes, Eratosthenes, Antipatros,
und viele andre Stoiker haben auf diese Weise geendet.
So unabhängig sich aber der Stoiker allem entgegeri-
stelU, was nichter selbst ist, so .eng fühlt er sich mit seines-
gleichen verbunden. Vermöge seiner Vernünftigkeit erkennt
der Mensch sich' selbst als Teih des Weltganzen und .eben*
damit als verpflichtet j für dieses Ganze zu wirken; er weiß
sich allen Vernunftwesen vpn Natur vei:wandt, sieht sie alle
als gleichartig und gleichberechtigt, unter demselben Natur-
und Vernunftgesetz stehend .an, er betrachtet es als ihre
natürliche Bestimmung, füreinander zu leben; Der Trieb
nach, Gemeinschaft ist daher unmittelbar ia der menöchlischen
Natur begründet, die zwei Grundbedingungen dieser Ge-.
§72. Stoiker: angewandte Moral. :241
meiiiscbaftyf die Gerechtigkeit ün4 die tMöhschenKebe ; rsiBd
durch sie geforderte ^ Es sind nicht bloß allö Wleisen,: wib
die Stoiker sagen;; sich von Natur befreund^et^ tmicJ. W wird
überhaupt der Freundschaft: vop ihnen ein : so hoher Wert
beigelegt, daß es »ihnen nicht ganz gelingt^ ihre Sätze ypp
der Selbstgenügsamkeit des Weis(9i^ mit dieser^ FrQundschaftö-
bedürfnis durchaus in Einklang. zu bringen; sondern ; auch
alle; andern Verbindungen unter den Menschen werden in
ihrer sittlichen Bedeutung anerkannt. Sie empfehten die
Ehe und wollen sie in rein sittlichem, leiste geführt wisscin ;
und kennen sie, auch z^i der politischen Tätigkeit kein recht^ß
Herz fassen, so sind sie doch unter den PhilQsophensch;ule|i
des späteren Altertums immer noch die, w/elcbe sich mit d,en
.Aufgaben des Staatslebens am eingehendsten beschäftigt und
die meisten unabhängige;n politischen Charaktere gebildet Mt.
Weijt wichtiger, jaber als di€i. Veflpindung des Ein?;elwn ,mit
seinem Volke ist ihnen allerdings seine Verbindung mit dem
Ganzsen der Menschheit; an, die Stellei der Pjölitik; tritt ihi^r
der Kosmopoliti^mus, dessen eifrigste ui^d eirfolgreichste
Verkündiger die Stoiker, waren. Djaf es ; die .Qleicl^bejit ; der
Vernunft in, den Einzelnen ist, auf ; der, alle Gemeinseljiäft
unter d^n Jlenschen beruht, so muß sich diese ^^ch; ebenso-
weit erstrecken als jene. Alle Menschen sind sich yerwandj^
alle haben den. glpichen Ursprung und, dieselbe Bestimmung,
alle; stehen unter eineiig .Gesetz, sin^ Bürger eines
Stjäates, Glieder eines Leibes. Alle Menschen haben als
Menschen Anspruch auf wser Wohlwollen ; selbst die Sklaven
können ihr Recht von uns fordern, unsrer Hochschätzung
sich würdig erweisen , selbst unsern Feinden sipd wir: als
Menschen verzeihende Milde , bereitwillige Unterstützung
fiichuldig, . wie .dies, , namentlich die Stpikjör ai^gf : der Rö^nerzeit
vielfach und eindringlich hervorheben. Dieser Kosmopolitis-
mus ist einer der eingreifendsten von den Zügen, welche den
Stoizismus zum echten Vertreter der hellenistischen und
römischen Periode gemacht und ihm seine nicl^t hoch geni^g
Zeller, Grundriü. ; ,''"■'. Iß
242 Dritte Periode.
anzuschlagende Bedeutung für die Entstehung und die Ver-
breitung des Christentums gegeben haben.
Wird die Zusammengehörigkeit aller Vernunftwesen noch
weiter ausgedehnt, so erhalten wir den Begriflf der Welt als
eines aus den Göttern und Menschen bestehenden Gemein-
wesens*) und die Forderung der unbedingten Unterwerfung
unter die Gesetze und die Verfügungen dieses Gemeinwesens ;
und eben hierin, in dem Gehorsam gegen die Weltgesetze
und der Ergebung in das Schicksal, die uns von den
Stoikern so unablässig eingeschärft wird, besteht auf ihrem
Standpunkt das Wesentliche der Religion. Die Frömmigkeit
ist die Kenntnis der Verehrung der Götter (iTtiatijfif] 9eüv
^eganeioQ DiOG. VII, 119. Stob. Ekl. II, 7, 5b 2 p. 62,
2 W.). Diese besteht aber ihrem Wesen nach in richtigen
Vorstellungen über sie, im Gehorsam gegen ihren Willen, in
der Nachahmung ihrer Vollkommenheit (Sen. ep. 95, 47.
Epikt. Ench. 31, 1), in der Reinheit des Herzens und des
Willens (CiC N. D. II, 71. Sen. Fr. 123), also mit einem
Wort in der Weisheit und Tugend. Die wahre Religion ist
von der Philosophie nicht verschieden. Was dagegen der
Volksglaube darüber Hinausgehendes enthält, daran fanden
auch die Stoiker viel auszusetzen. Die Ungereimtheit des
antropomorphischen Götterglaubens, die Unwürdigkeit der
mythischen Erzählungen über Götter und Heroen, die
Albernheit der herkömmlichen Zeremonien wird seit Zenön
von älteren und jüngeren Mitgliedern der Schule, unter den
uns bekannten von. keinem schärfer als von Seneca, ge-
tadelt. Aber trotzdem sind die Stoiker, im ganzen genommen,
nicht Gegner, sondern Verteidiger der Volksreligiön : teils,
wie es scheint, weil sie in ihrer allgemeinen Anerkennung
einen Beweis ihrer Wahrheit sahen, teils und vor allem, weil
^) 2vaTt]f4a ix OetSv xal av^gdintov xat roiv 'ivexa rovtoiv y^yovojiov
(DioG. Vn, 138. Stob. Ekl. I, 21, 5 p. 184, 8 W. Dach PoseidoDios und
Chiysippos); noUg § avv^arrixsv i^ avB^Qtanmv t€ xal S^ediv (Muson. b. Stob.
Foril. 40, 9, p. 749, 10 H.).
§ 72. Stoiker: angewandte Moral. 243
sie sieh nicht entschließen konnten^ der Masse der Menschen
eine für sie unentbehrliche Stütze der Sittlichkeit zu ent-
ziehen. Pen eigentlichen Inhalt der Mythologie sollte die
philosophische Theologie bilden; in den Göttern dieser sollte
der eine Gott des Stoizismus teils unmittelbar, teils mittel-
bar verehrt werden : unmittelbar unter der Gestalt des
Zeus *), mittelbar unter der dßr übrigen Götter, sofern diese
nichts andres seien als Darstellungen der göttlichen Kräfte,
die sich uns in den Gestirnen, den Elementien, den F^rüchten
der Erde, den großen Männern und Wohltätern der Mensch-
heit zu erkennen geben. Das Mittel aber, um diese philo-
sophisch« Wahrheit (den (fvamög Xoyog) in den Mythen nach-
zuweisen, war für die Stoiker deren allegorische Aus-
leg u n g ; ein Verfahren, das vor ihnen nur vereinzelt vorkommt,
das aber von ihnen und allem nach schon von Zenon zum
System gemacht und bereits von einem Kleanthes und
Chrysippos in einem solchen Umfang und mit so un-
glaublicher Willkür und Geschmacklosigkeit zur Anwendung
gebracht wurde, daß sie hierin von ihren Nachfolgern auf
heidnischem, jüdischem und christlichem Gebiet kaum über-
troflfen werden konnten. In demselben Geist wurde die Weis-
sagung, auf die sie den größten Wert legten, schon von
Zenon, Kleanthes, Sphäros, namentlich aber von
Chrysippos und seinen Nachfolgern behandelt. Das Ir-
rationale wurde auch hier künstlich rationalisiert; vermöge
des Zusammenhangs {avfxndd^eia s. S. 231) aller Dinge sollten
zukünftige Ereignisse sich durch gewisse natürliche Vor-
zeichen ankündigen, zu deren Kenntnis und Deutung teils
eine natürliche, auf der Gottesverwandtschaft des Menschen
beruhende Begabung, teils kunstmäßige Beobachtung be-
fähige; und keine Erzählung von eingetroflfenen Vorbedeu-
tungen war so abenteuerlich und so schlecht beglaubigt, daß
man sie mit dieser Auskunft nicht zu rechtfertigen gewußt
hätte. Mochten daher die Stoiker vielleicht auch schon vor
^) S. Kleanthes' Lobgesang auf Zeus bei Stob. Ekl. 1 1, 12 S. 25 f. W.
16*
?ä44 ■ ' ' Dritte' PeHö^e.' "^ ';
'Patiätfo^s^^ eine dreifache Th6ol(%iö- unterscheide^^ die der
Philcf^ptiert, der Ötfitätbraftnrier^ ufid der Üföhtör, und'inochtfen
%ih tianüenttidb dör. letatbreii, -die in' Wahrhöit nichts andrem
^ist'alö' die -Mythologie -dös" VolksgUubeng, noch ^so 'ein-
ßchtfdideilder Vorwürfe machen ,- 'so - ließen 'siö sich döch^dk-
'^^durch" nicht abhalten y jeden efnötlicben Angriff auf diebe-
■ stehende Religion ä^actidrttcklich aurückzuweisön, ^ wiW diös
•unter' andierem .Kle^änthes* Verhalten gegen Aristarchos-vön
Säiiiös,' den er in einer gegen ihn^ gerichteten^ Schrift (Diöo.
VII- 174) der Gottlosigkeit berichtigte, weil er die Erde,' „den
Herd 'der Welt") sich bewegen lasftev (Plut. di fab. tun.
-923' A)j und Mark Aürejs Strenge Vgegeri diö Christen beweist.
.;;:.' JL V Die epikureische Philosophie.; .^h
§73. Epikur und seine Schule.
,? !'u-Bpikurosj^ der Söhn 'des Atheners l?eokles, • war im
^Januar (7. Gamelion) 341 v;Ghr. in Samos geboren. »Van
-N au siph a ii es (S. 77) in Demökrit» Lehre eingeführt, auch
von dorn Platoniker Pam philo s^ unterrichtet, trat' er selbst
in >Kolof)hon, Mytiiene ünd^ Lampsakos und seit 307/6 v. Chr.
in' Athen als Lehrer auf. Sein Garten •würde hier der
Sammelplatz eines Kreises *X ^^^ von unbedingter Verehruhg
für ihn und seine Lehre erfüllt, einen vertrauten geselligen
Verkehr mit den philosophischen Studien, ver'band; Und dein
audh Frauen angehörten. Seine Lehren legte EpikxiT in einef
Mäss^ von* Schriften nieder, deren Stil er geringe Sorgfalt
.widmet^^)i. Als er 271/0 v. Chr. starb, übernahm-Her^marchös
; . . / . ly. Dalier hießen • die Epikureer öt itno ' täfV xfin onr. -".:■'■■
;., , *) Von jden wenigen bei Dioq: X' erhaltenen Schriften, den Übe^-
'blei^eln ,dfdx. yerrprenen, init Aus^^hrne. der herkulanischen. Schrift jii <fth-
atcpff,. ,.und den, aus ihnem entnommenen Angaben, hat Usjener (Epicure^
1887) eine kritische Auingabe veranstaltet, und sie (Wiener Stud. X, 1888,
S. 178 flf.) durch eine von Wotke in Rom aufgefundene Sentenzensammlung
-e^j^anit.. Weitere : Urkunden dier» epikureischen Lehre isriii^ Äahlreiche in
§ 73. Epikur und .B^iiie Schule. 245
die ^Li^ituBg^ seäi^^s ^Yör^ins; .^ein iJ^e^^lingsschtileri Metrio^:^
vor ihm gestorben^ i^lNöbea; 4 Jesenisfnö Von .Epikur« per^öö*
liehen Schülern Kolotes (s.S. 111 Anm. 3) und der Histo-
riker ^.14 qu|en,eu s. .(.S^ IQ), zu. neinnein. f yielleJcht gehörte
auch Polystratos, der» Nachfolger = des Hermarchos, noch
zu ihnen. Auf Polystratos folgte Dipnysios, auf diesen
B'äsiTei de's^ Dem zVveiten Viertel des zwei teil Jahrhunderts
gehö rte* wohl r r ö ta r c h o s' * äüs Bar^-yliön ', dem d r i^ieh uiiä'
viertfeti D e m'e t; r i o s ' dfer LakoniVr uila A p ö H o d o Ydh B
iii]7iot^uQa\i'Vog XS. lO) ah.' 'Ein 'Zeitgenosse 'des "Prota^^^
der 'Mathematiker P Kilonides aus deftn syriächeti Läö'dikeiä.'
Zu bedeuteöder ' Verbreitung gelängte die Schule ixi'ddt
förnischen' Welt, iii der scton um' die Mittö des feweiteii Jäht*-
hutiderts V. Chr Ö. Amä'fihiüs mit lateinischen Üärötellungerf
d^r epikureischen', Lehre Beifäll fatid. 'Äpöllodörä Schüler
lind Nachfol|^er,'Zetfbh "AUS Sido'n; lehrte bis nacli^78 v.^öhr|.*
hilf' vielem Erfolg in Athen ; seihen' 'Mitschüler Und späiei^en
i^s^chfölger P h ädfbs" hörte Cicero liiÄ/OO vVCHi-.' in 'Körn.'
Diesem fölg^tePätföh in Athen; in tlöin wii^ktö urii 50 vl'Chr.'
Siroh (Skiron), dW Lebrer Vergilö, ' und PHilödeiüos
(S: 10).' Defselbeii' ;^öit' gehörte deV ' Dichter de^ 'Schüfe;
Lucretius Carus (wahrscheinlich OÖt-^SS v. CKf.) ' ärf!
Sböh zäiilreiöhe Namen von Epiktire^i*h ^sitid iih^ bbKannt,
(iafuriterihrö 'eifrige öönnerih, iTrajahs Gfemahliri P l'b t i n ä;
Die Sctiule; 'd^rehVerbreitüti^ vorf DiÖG. X' 9 üni 230 n. Cfii^.V
Vöb liACtANT; rhst. III, 17 "hoch um 32Ö bezeugt, Wird, "erlosch
^rst im >^i6rt<eh christlichen Jähi-huhdert. 'Ihr^ urissl^nschkYi-
iicbe'EntWickTüngsfähigk^it War aber gerrng, uhä Wi^hn'Epikui*
seine ÖiiKüle'r streng arr- deni' Wortlaut' seiner ' tehr^^'fest-
äerculknum ^ g:efnncl eiiö , Ineist vbn PiärtJÖDEMOS ' h^rrfihrötide ' Schiifteii vtita
die -iräf der Wfttnd 'feinisi' Säutenl^alle entdeökteik . Fragmeütö des - iDtoc^E^Bd
von Oinoanda (um 200 n. Chr.), zuletzt hrsg. von William (1907); die wert-
yolbte Qia^Ue.;aber ist XtU^Rfi^JÜe D« natura .rieruoa (hr^g.-^^^Ki^'™™^^^''
von JLaghmank ;1850)) Münäo (5. 'Aufl-lOOS); Giussasi ,(|896 ff.). .,,rr .; ; -
1) 3^ine Fragfioente gesfun^melt von Körte (lS90)v ,,,...',; ... .:[ ,;..,»"
246 Dritte Periode.
zuhalten bemüht war (DiOG. X, 12 u. ö.), so ist ihm dies so
vollständig gelungen, daß uns von keinem ein nennenswerter
Versuch zu ihrer Fortbildung bekannt ist.
§ 74. Das epikureische System; Allgemeines.
Kanonik^).
Sein philosophisches System ist für Epikur noch viel
ausschließlicher als für Zenon ein bloßes Mittel für die prak-
tischen Au%aben. Er hielt wenig von gelehrter Forschung
und von den mathematischen Wissenschaften, denen er vor-
warf, daß sie uns nichts nützen und der Wirklichkeit nicht
entsprechen; und seine eigene Bildung war in beiden Be-
ziehungen sehr ungenügend. Aber auch unter den philoso-
phischen Lehrfächern legte er auf dem Gebiete der Dialektik
nur den Untersuchungen über das Kriterium Wert bei und
nannte deshalb diesen Teil seines Systems Kanonik ; und von
der Physik sagte er, wir bedürften ihrer nur deshalb, weil
uns die Kenntnis der natürlichen Ursachen von der Furcht
vor den Göttern und dem Tode befreie und die Kenntnis der
menschlichen Natur uns zeige, was wir zu begehren und zu
vermeiden haben. Auch dieser Teil der Philosophie hat also
keine selbständige Bedeutung.
Wie nun mit der praktischen Einseitigkeit des Stoizismus
sein Empirismus und Materialismus zusammenhängt, so tritt
derselbe Zusammenhang bei Epikur noch stärker hervor.
Einer Ethik, die den Einzelnen ganz auf sich selbst stellt, ent-
spricht es vollkommen, wenn nur das materielle Einzelwesen
für das ursprünglich Reale, nur die sinnliche Empfindung
für die Quelle unsrer Vorstellung gehalten wird; und wenn
der Mensch seine höchste Aufgabe darin findet, sein indi-
viduelles Leben vor Störungen zu bewahren, so wird er
weder in dem Weltganzen den Spuren einer Vernunft nach-
*) Wallack Epicureanism (1880). Über Ditferenzen in der epikur.
Schule HiBZEL zu Cics philos. Schriften I S. 98 ff. Über die Erfahmngs-
lehre Ep.s Natobp Forsch, z. Gesch. d. Erkenntnisproblems S. 209 ff.
§ 74. Das epikureische System; Allgemeines. Kanonik. 247
gehen, auf die er sich zu stützen und deren Gesetzen er sich
zu unterwerfen hätte, noch wird er den Versuch machen,
durch die Erkenntnis dieser Gesetze seinem Verhalten eine
theoretische Grundlage zu geben. Die Welt stellt sich ihm
als ein Mechanismus dar, innerhalb dessen er sich möglichst
gut einrichtet, von dem er aber nicht das Bedürfnis hat,
mehr zu wissen als das, wovon sein eigenes Wohl und Wehe
berührt wird; und hierfür scheinen die Erfahrung und der
natürliche Verstand ohne viel logischen Apparat auszureichen.
Diesem Standpunkt gemäß betrachtet Epikur zunächst
in der Eanonik als das Kriterium der Wahrheit in theo-
retischer Beziehung die Wahrnehmung, in praktischer (worüber
§ 76) das Gefühl der Lust und Unlust. Die Wahrnehmung
ist das Augenscheinliche (ivagyeia), was immer wahr ist; an
ihr können wir nicht zweifeln, ohne mit dem Wissen auch
das Handeln unmöglich zu machen (vgl. S. 226 f.) ; und auch
die Sinnestäuschungen beweisen nichts dagegen, denn der
Fehler liegt bei ihnen nicht an der Wahrnehmung, sondern
am Urteil: das Bild, das wir zu sehen glaubten, hat unsre
Seele wirklich berührt, wir haben nur nicht das Recht zu
der Annahme, daß ihm ein Gegenstand entspreche, oder daß
es diesen vollständig wiedergebe. (An welchem Merkmal wir
aber freilich die Bilder, denen ein Gegenstand entspricht, von
denen unterscheiden können, denen keiner entspricht, erfahren
wir nicht.) Aus den Wahrnehmungen entstehen gedächtnis-
mäßige Vorstellungen oder Begriffe {7tq6Xri\pi,g) ^), indem sich
das, was man wiederholt wahrgenommen hat, der Erinnerung
einprägt. Da diese Begriffe sich auf frühere Wahrnehmungen
beziehen, sind auch sie immer wahr; es können daher neben
den Wahrnehmungen (alad-r^aeig) und Gefühlen (Ttd&rj) auch
die Begriffe zu den Kriterien gerechnet werden. Und da die
Phantasievorstellungen nach Epikur gleichfalls durch die Ein-
wirkung objektiver, der Seele gegenwärtiger Bilder entstehen
^) Diese sind wohl zu unterscheiden von der xoival iwoiat oder ttqo'
XTJifffcg der Stoiker (s. S. 225).
2M^^ .>'..^.^ii,:':: .-; - -^ ;: Dritte ^Periddet'- "--•-;;.•• •^■'■'"' ••-•' :"
(^gl. *iß. f251;)v 'Werden laueh diese unter: sie aufgenommen;
Eral iw^tf nn . iwirT^ die W«limebmang als .solche hinausfi:
gehen y - W.enn wir luns ans dem Bekannten eine Meinung
{tL<m6hipp^ig)'itiberfdak Unbekannte bilden, entsteh t^die Frage,
ob *-dli5^e7MeihuTig rwahr oder . falsch sei : um wahr zu: ' sein,
mufi ^irie -Meinung,? wenn »i^ sich aiif kllnftige Ereignisse
bezieht, j; durch die. Erfahrung bBstätigt^ wenn sie die verr.
botgönen Gfründe der Erscheinungen betrifft, da;rf sie durch
die iErfahrung nicht widerlegt Sverden. Epikur neiint bei
DiOG.'X, 32:mörWfege, auf denen man von den Wahr-
nehihungeti: äu. Vermutungen (f7rtVo/«t)> komme; :aber: feine
wisfeOTschaftliche Theorie der Induktion dürfen wir (wie noch
Philodömos tt: aij^ciW zeigt); bei ahm und seiner JSchule
nichts :SUchen; '•.f.r::..i. -.i;/ , ^-^ -vv^r --ir/: ;;•■!.■.- :--,A •'■;■ ^:''
d>^^ §.75.^Epiku3's Physik; die - G ö 1 1 er^). /< i '•
^^ Epikürs* Natüransicht Wird an erster Stelle Vöii dem
Wunsche ' bestinimt; ' auö döin Weltlaiif alles Eingreifen tiber^
iiättiriicher üräädhen aüszuschliefeen, weil dieses demMensehWh
öeinä ganze Oenititsrtihe i^aiiben ,' ihn in ; bieötändigei^ t^urcht
^6r unberechenbaren Mächten halten müßte. Dies hofft ei*
htiri äili sichersten durch eine reinmefehanische Naturerklärung
i'u etrefdbehf' und wehii er sieh naeh einer äolcheh uiitei*
den älteren Systemen umöah (denn zur Bildüti^ einer' eigenen
niitürv^isöensehaftliähen ' Theorie War ' er Wendet geeigniif hdeh
!)efähigt)3' so ' ent^pradlt keines' jenem Zweck ybllstäncligeralsf
das,"welcheB auch seittetn; ethischen Individualismus die b'estetf
Ähkntfpfuiigspünkte zu bietei' schien^ welches ihn fei^her'iü^
etst für sich ' ge wö'nriiön^ ha;tte und ihm Vielleicht übei^häüpf
allein ' ^genauer bekannt' war : Demökrits Ätoinistifc. Mit
Öeraokrit erklärt Epiküt'füf äie'Grundbeätaiidteile von allein*
die Ätötniö und das lieei^eVt'^iläaus Aggregaten, teils äusVer^
flechtüngen Von Atomen, zwischen denen sich' bald größer^,
. ■ . V ^)Lan«s. Gesch. d. Mäterialiaiöusl Köp^ 4* ßoEDifcKfeMBnEiiEpikurs
Verhältnis zu Demokrit in der Naturphil. (1897). ,: v ' v^
§ 75..;!BpikÄr&rPliy8ik. 24S:
bäldr Heinere ".Zwi8cKfenrSüme^befin'䀫l, .beste&en.Älle jDiöge*
DteAtortieT diöokt erwchganz sd wie'^Dfemokrit, .nurodaßriißr
ihnen nicht eine!unendiiche; sondern bloß eine begrenzte. Zahl
yon- GestritsnirtetBchrMen? beilegt. ' Vermöge, ihrer Seh wera
fallen dieiAtoine; im .Ifeereii-Raume ; treil aber in diesem *(#te5
Aristoteles) eingewiendet hatte) jalle gleich, schnell fallen
und : somit nicht ' ^aufeinanderstoßen . . würden^' = 5 und : weil auch:
das Intfereäse der .Willensfreiheit/: dieäzu^yerfangeai» schieH,
nahin Epikur.an, "daff'flie: von «elbst (iponte) und votiikeiher
Ursache dazu ; bestitnmt (ivcurcüßg^r - iabi ein tlei nstes .vjon der
seBkrechten Fallinie Jabweichenl). Infolge- davon' stoßem sie:
zusammen , veri«rickeln . sich' ineinander y Iprällen v.oiieiuandei^
aby werden- teilif^ei^niaöh oben gedrängty:* und: es erz0Ü^
sich : jene Wirbelbewegungen , ^ die ! in den vefschiedefairfeÄ
Teilen des unendlichen Raumes wahllose gelten hervorbringen/
die.^ : duifch deere -Z^wlßchenräume . (jWEraxoä^Äcr ^? «w^erwiÄ«^^
getrenn t,(. sich in den verschÜBdenartigsten Zuständen befinden;^
aber alle inMeriZeitjenfetanden und. und mit! der Zeit aiich
wieder untergehen: werden. ' ;: f. ':.j'jv ii ; > : ," :.; ^>;
(.: Wie^nun die ülntsteKüng von Welten Öurch rein nfecha-
nisfdhö'UrsÄchö bewirkt Worden sein söU-äo legt flpikur den
-h
^) [Wenn die S. TS^Anm. 1 erwähnte Hypothese, daß die Urbewegfung
der Atome nach Öemokrit keine Pallbewegüng, sondern' ein wirres Üurch-
ein'änd'öi^iegWn ie'^ Aibmei hei; def'WahrÜeit entspnctit,"8o^ wäre' Öpitdr in
diesem iPudkteV von -der i'tttlonellerciD-URd^toiit id^dti^VorilUdseUUUgen »8^
iibQmistiBphen : '^/sffQm^f 'im beflten:- B^inl^aQg ; siteheQ^l^.I^ehiie , de9. Ab<|eHtet](
^m ..trügericchen Augenschein, zuliebe abgewichen ..^uad ]l7ätte,.fM>ipit ^ieseL
Lehre, wie auch, sonst n^ehrfach, im Sinne eines .krausen Senf aa,lisinii8 udit
ges^ltet. Jedenfalls setzt, er sich mit 'der Anhahime j^ner Fallbewegong in
dSen^n iGfbgeiisatz zii' 'ileitiei^ eigenen Aüffaisfsäng ; ' daE es Im leereii' "Rktrme
kein Oben tittd VnUn gebe! Seiü^ Leht^e Von' 'd^r l)eki!i)^tioki der ■ AtdliiS»
ytüjend^ :f tfiht im lyoljepi' >Wi4erspniphe jnit * dei^ str^i^^ fepeQhAniejöh^n Natura
fn3icfaV,de8, Atojnismas, ,.0b, £p, wirkliph . :die, menschliche Wiilejipfreifa^it
4urch. diese Deklination hat begründen wollen^ steht nicht, genau fest, da
die Zeugnisse hierfür bei X'ükrez, Cicero und PlÜtarch' durch keine direkt!^
Äußernbg des Philb'sopiien m im&rei^'ÜbeJf liefermig^' befestigt 'weWen:'' Vgl'.
BitäoiBB' \I)e atomortnii' Epicüreiunini -mbta {^ifinisiplili ' 1888.] ' '. ^' ' ; J < f i
250 I>ritte Periode.
größten Wert darauf, daß auch alles Einzelne in der Welt
rein mechanisch und mit Ausschlufi teleologischer Gesichts-
punkte erklärt werde. Wie es aber zu erklären sei^ daran
ist ihm wenig gelegen. Wenn wir nur sicher sein können,
daß etwas seine natürlichen Ursachen hat, so kommt nicht
yiel darauf an, welches diese sind ; Epikur läßt uns vielmehr
fUr die Erklärung der einzelnen Naturerscheinungen zwischen
allen möglichen Hypothesen die Wahl, wenn auch die eine
vielleicht wahrscheinlicher sein möge als die andre, und er
weist auch so augenscheinliche Ungereimtheiten wie die An-
nahme, daß der Mond wirklich zu- und abnehme, nicht un-
bedingt ab. Daß die Sonne nicht größer oder nur um ein
weniges größer sei, als sie uns erscheint, haben er und seine
Schule, wohl um der Glaubwürdigkeit der Sinne nichts zu
vergeben, hartnäckig behauptet.
Die lebenden Wesen sollen ursprünglich aus der Erde
hervorgekommen sein, und es sollen sich unter ihnen anfangs
auch mancherlei seltsame Gebilde befunden, aber nur die
lebensfilhigen sich erhalten haben (vgl. S. 69). Über den
ersten Zustand und die allmähliche Entwicklung der Menschen
finden sich bei LüCREZ (V, 925 flF.) ansprechende und ver-
ständige Vermutungen. Die Seele der Tiere und Menschen
besteht neben feurigen, luftigen und pneumatischen Bestand-
teilen aus einem eigentümlichen, noch feineren und beweg-
licheren StoflT, welcher Ursache der Empfindung ist und von
den Seelen der Eltern herstammt. Aber zu der vernunftlosen
Seele (animä) kommt beim Menschen der vernünftige Teil
(bei LuCREZ mens oder animus) hinzu, dessen Epikur schon
für seine Ethik bedurfte (vgl. S. 254); er hat, wie das
stoische ijyBfiovrAov (S. 233), seinen Sitz in der Brust, während
die anima sich durch den ganzen Leib verbreitet. Über
seine stoiFliche Beschaffenheit dagegen wird nichts mitgeteilt.
Beim Tode zerstreuen sich die Seelenatome, da sie vom Leib
nicht mehr zusammengehalten werden ; und eben dieses findet
Epikur sehr tröstlich, denn nur die Überzeugung, daß wir
nach dem Tode überhaupt nicht mehr existieren, könne uns
§ 75. Epikurs Physik; die Götter. 251
von der Furcht vor den Schrecken des Hades gründlfch be-
freien. — Von den Seelentätigkeiten werden nicht allein die
Wahrnehmungen mit Demokrit (von dem Epikur nur in
untergeordneten Punkten abweicht) aus einer Berilhrung der
Seele mit den Bildern (eYdcoXa) erklärt, die sich von der
Oberfläche der Körper ablösen und durch die Sinne zu ihr
gelangen, sondern die gleiche Erklärung wird auch auf die
Phantasievorstellungen (q>avTaatiKal STitßoXai xijg diavoiag)
angewendet; nur daß bei ihnen die Seele von Bildern be-
rührt werden soll, deren Objekte nicht mehr existieren, oder
die sich erst in der Luft aus der Vermischung verschieden-
artiger Idole oder aus neuen Atomverbindungen gebildet haben.
Durch die Bewegungen, welche die in sie eindringenden
Bilder in der Seele erzeugen, werden dann auch frühere
Bewegungen der letzteren neu hervorgerufen; oder wie dies
auch dargestellt wird : wir werden veranlaßt, unsre Aufmerk*
sämkeit auf solche von den zahllosen uns fortwährend um*
gebenden Idolen zu richten , die jenen Bildern ähnlich sind,
und dies ist die Erinnerung. Aus der Verknüpfung eines Er-
innerungsbildes mit einer Wahrnehmung entsteht die Meinung
und mit ihr die Möglichkeit des Irrtums (vgl. S. 247 f.);.
durch Schlüsse aus dem Wahrgenommenen (also durch eine
Selbsttätigkeit des Denkens, deren Möglichkeit aber unerklärt
bleibt) erkennen wir das Verborgene. In Bewegungen, welche
durch Vorstellungen in der Seele bewirkt werden und van
ihr auf den Leib übergehen, besteht der Wille. Die Willens-
freiheit wird von Epikur im Sinne des reinen Indeterminis-
mus aufs entschiedenste behauptet und dem stoischen Fatalis-
mus lebhaft widersprochen. Indessen findet sich von einer
tiefer gehenden psychologischen Untersuchung dieser Frage
bei ihm keine Spur.
Durch diese Physik hofft nun Epikur mit der Furcht
vor dem Tode auch die vor den Qöttem für immer beseitigt
zu haben. Den Glauben an Götter will er allerdings nicht
antasten : teils weil ihm die Allgemeinheit dieses Glaubens zu
beweisen scheint, daß er sich auf wirkliche Erfahrung gründe,
2S2 ;-> *^; -'-Dritte- Periiwfe.',:: -?
dafi dSelBild^, jatiSiäereö ErsöheiAeti ^rjhn. (nach, dein obig«n)
alteint ieHtIar'eä'Tfc8an>^wen»g»teiBsrteil*ei»p ivm realen W.eäjßö
hfirrühren^ .al&ö' W,ahTneJnnui\g«n nicht bloße, Phantasi^bilder
seien v« teil» •weil-es- ihm t selbst Bedürfnis ij9t , .;3ein *Ideal der
Glücbseligkeit in Iden* Göttern 'Färwirklicht atizu^ohaaftQi i^ber
den herröehendenVar«teUu»gen 'über die Götter- kanfn erisiöbrntir
teilweise dn«chIieBen>vdeuen!über!ihr.Verbältni«iZur Welt trit^
Entschieden entgegen. .'£ine Vielheit von (^Ottern. aitnönt. 3 w;ä'^
aadh .jer>;Af\i ja» es Jstnd 'dören>fiäch; ihn], unzählige ^ und ^dafi
sie rdi,e'' dejokbar ' schödele :G«PlEalt '/ die lUiendchUche^ rhabenj.
beti^achtet !/er alsi&elbst^^stäiädUch. Aacb> den Geschlecbtsh
untörscbi^d, .daa-Bjctdürfnisider UÄhrungiidift SpracHes, ^eJbat
die; griechifeche Sprache, ^Jegt / er 'ihnen < bei; - * : Aber : d ie Seligkei t
und- die {Imyergäniglichkeit. dßx Götter, ..di^se zwrei t Grurid-?
bestiromungen seines Gt>ttesbegriffes, verlangen,» wie ^r glaubt;
daß . fite ^8tatt .ui?öter..derbßnf/Leiblichk^it feine Lixshtleiber
haberijundumit dieaen an den Internitindien v)vohnen , !*da:^9ie
andernfaUÄ Wan deöi llnt^gatig^ dei: Welten v' in/ denen,, sie
sich ' auf hielteliytniit betroffetf und «'durch rdi^ Aufsicht Äuf
^esee >Sx5hiekBal in > ihrer .Seligkeit gefttärt vyürden. Ebenso
Teülaögt.abei;; diese Seligkeit, daß;«ic^; nicht -mit? der SojrgiB
fiir.Tdie ;Weltv*und;: die ./Mens^chen belastet, werden,'« die' det
¥orsehung8glaitbe;'ihnen, auf bürdet; lund- noch !unßDtbebrlich"5i)R
isiiJ' EiesjQi Annsthmefl lüi* diej6eintit$ruhe tdes; Measche^^vvdie
keineh , gefebrlicherönr Fefnd; hat ak:die; Meiqung4\.daß ' hQher0.
MäoKfe'c inCÜeu>;W!feltlaüf;;yngreifenw' V JEpikur ;^^i^^ r däher/> deü
aa«ge8proch^ste.i:GsBgoer die^iesi Glaubeail ia .JQiiUr/ Gestalt;
Dib.¥<)lfcRnäUgiön rweiftep nur^sauö derf:üiiy?iMenbeit:;wnd'^or
allein Aar iPiorcht^ hierzulei^^i^J die «etpiapbeLl/eh^e -ypti .der
y<^rs'ehung iiindi'de'm YierhlKngBiÄ wii4.)., w^^ er -glaubte nii^ht
allein von der tatsächlichen Beschaffen hei t^ der, Wölt.i^id^rci
legt, . sbnd^rn; iaie iat: Auch : fljoch itnostlö^er äls-rdie üog^'eim t-
heiten >der 'Mythologie,:. 'Daß er die 'Men&ehheit ypn diesejur
Wahn Vr;Veh; :4er autjl ihr^ lastendem Furcht^ vpr fdepr Götter^
(religio) , befreit hi4b^.> jWrd : wii' -^ein^n .y^^efbrern ;(«ii;ie iiUC^^ ;Ij^
62 C)ralg «seiii unsterbliches rVerdii^nst g^prie^ö, .ty^hreöd ,äj§
§ 7^. ^iktiw Äthik. '253
zugleich 'seiri^ BVöftJiftigkeiit ^nd: VeinfeTeiltiahine air^ de^f^hw-
rhömmlichen GötterveretouDg rökntenv i ■ -J V;- : :U ^
^ ' Wie EpJkurm »einer iPhysit
alles Seiins erklärt hatte ,. so erklärt er in seiner fithik . die
Individuen für den iZweck alles Tuns. Der Maßptal) (xäKciv)
lür die Beurteilung der. Güter und Übel. ist unser Gefühl
(TTo^Qg,. vgL Sr 247) ;, das einzige .unbedjingte ^Gat ist das,
/wonach. alle lebenden . Wesen .streben, die Luat, das eiiijsige
unbedingte Übel das, wjas alfc: fliehen, der Schmer^. Epikur
hält daher; im allgemeinen luitArjstippos^) die Liist fü^das
letzte Ziel unsres Tiins. Dabei handelt es jjich jedoch für
ihn nicht um dJQ ^inzelne^ Lustempfindungeu als solche,
^sondern um die Glückseligkeit des ganzen Lötens: nach
ihrem Verhältnis zu dieser hat sich unser .Urteil über die
einzelnen, Genüsse und Schmerzen zu richten. . Er glaubt
■fei:ner, die eigentliche Bedeutung der Lust bestehe, nur in
der Befriedigung eines Bedtii^fnisses und ^somit in der j^nt-
ifernung einer Unlust; unser letzter Zweck sei nicht die
positive. Lust^ sonderJi die Freiheit, von pchmerzen,: nicht .die
Gemütsbewegjang, sondern die Gemütsruhe. Und da nun
''" *) ÖuYAü La moraie d'Äpicure (1878; 2. Ausg. ISgl)! ' ' .' '^ ^^/'=
*) [Daß Ep. in' tfeiüef tiustlebre' aft Äristippös (und' i^bm aucK an
Eadoxos) anknüpfte, ist aHgeniein anerkannt; ' Daneben' abei^ ist er in^der
'AnsgestlUtUng dieser r liehre.) ein^Ts^itfr, ; wie es scheint, '>v4^n' iPlaton-.und
^rist9tdl^& (sr ,£fRoc?AKl> inivJovtmal dea-Savan^ 1904)f)b!e^inflaßt worden;
andrerseits aber hat er auch auf diesem .Qebiejie von ,Demokrit^ ?ine fttJjir^e
'Einwirkung erfahren, die ^ich nicht nur in ;5ahlreichen einzelnen Vorschpften
uiid teilweise wörtlichen Anlehnungen,' sondern' auch b^r^gruhdlegelndek
'Bestimmungen aeig^t ;' ft BifizEt Üntersi ' ». Cie. I 134 flf.^ üiid'; besi NAtoHP
Ethi d.- Dem. 8; 127 ffi f'Däß auch In disr Kanönik.(s; .Hirzfel ebd.) Ep«!ih
wichtigen Punklten, .und z^wt^j dorjch Vermittluiig des N^usiphanes, auf Dem.
zurückgeht^ hat^Sup^^us: Rh, Mus.; • 1893 . S.. 321 .ff. aus Pbilodecns ßKetorik IX
nachgewiesen. Hiexnac'h labt sjcK die ablehiiende iitellung, die Zeiler
(Phil.* d. Ör.' in 1 S. 473 f/ Anriri. 1)' In dieser Frage einnimmt, nicht ,m^hr
-ftufr^bht'e^tialt^ii.]' ■• ■'< •■•^•' '.•.■'''^'' '' -^^ '■ ■ '-- -" '- . .i •..!'". ; iV.'^<:'
254 I>ritte Periode.
deren wesentlichste Bedingung in ünserm Gemütszustand
selbst liegt, hält Epikur die geistige Lust und Unlust für
ungleich wichtiger als die körperliche. Denn so offen und
schroff er es (trotz einzelner anders lautender Äußerungen)
ausspricht, daß alle Lust und Unlust schließlich von körper-
lichen Zuständen herrühre, so bemerkt er doch, auf den
Körper wirkten nur die gegenwärtigen Genüsse und Schmerzen,
auf die Seele dagegen auch die vergangenen und zukünftigen;
und diese auf der Erinnerung, der Hoffnung oder der Furcht
beruhenden Gefühle sind seiner Ansicht nach so viel stärker,
daß er sich berechtigt glaubt, die Macht de& Geistes über
körperliche Leiden ebenso unbedingt und mit derselben Über-
treibung wie die Kyniker und die Stoiker zu rühmen ; denn
die heftigsten Schmerzen seien von kurzer Dauer und
machten unserem Leben schnell ein Ende, die minder hef-
tigen ließen sich ertragen und durch überwiegende geistige
Genüsise überwinden.
Nur eine Bedingung der Gemütsruhe ist die Tugend;
aber eine so unerläßliche Bedingung, daß auch nach Epikur
di6 Glückseligkeit unzertrennlich an sie geknüpft ist, so
wenig ihm auch sein System erlaubt, ihr einen selbständigen
Wert beizulegen.. Die Einsicht befreit uns Von den Vor-
urteilen, die uns beunruhigen, von leeren Einbildungen und
Wünschen, sie lehrt uns die wahre Lebenskunst; die Selbst-
beherrschung bewahrt uns durch das richtige Verhalten zu
Lust und Unlust, die Tapferkeit durch Verachtung des Todes
und der Schmerzen vor Leiden; der Gerechtigkeit haben wir
es zu verdanken, daß keine Furcht vor Strafe unsre Gemüts-
ruhe stört. Epikur selbst führte ein niusterhaftes Leben,
und seine Aussprüche zeigen nicht selten eine Reinheit der
Gesinnung und eine Richtigkeit des sittlichen Urteils» die
über ihre ungenügende wissenschaftliche Begründung weit
hinausgeht. Sein Ideal des Weisen kommt dem stoischen
nahe genug: verlangt er von ihm auch weder die stoische
Apathie noch den Verzicht auf Sinnengenuß, so läßt er ihn
doch seine Begierden so vollständig beherrschen, daß sie ihn
§ 76. Epikurs Ethik. 255
nie zu etwas Verkehrtem verleiten; und er schildert ihn als
so unabhängig von allem Äufieren, seine Grlückseligkeit als
so vollkommen und seine Weisheit, als so unverlierbar , da6
er von ihm so gut wie die Stoiker von dem ihrigen sagt, er
wandle wie ein Gott unter den Mensehen, und er brauche
selbst bei Wasser und Brot Zeus nicht zu beneiden.
Diesem Ideal entsprechend gehen denn Epikurs Lebens-
vorschriften an erster Stelle da,rauf aus, dem Einzelnen
als solchen durch Befreiung von Vorurteilen und Beschrfln-
kung der Begierden ein in sich befriedigtes und von der
Außenwelt unabhängiges Dasein zu verschaflfen. Wie er
selbst ungemein mäßig und genügsam lebte, so ermahnt er
auch zur Genügsamkeit; denn selbst von den natürlichen
Begierden gehe nur ein Teil auf Notwendiges, weitaus die
meisten Begierden aber seien unnatürlich und eitel. Zu den
letzteren rechnet Epikur namentlich das Streben nach Ruhm
und Ehre. Eine Unterdrückung der sinnlichen Triebe ver-
langt er allerdings nicht, und auch einen reicheren Lebens-
genuß will er nicht verbieten; um so mehr dringt er aber
darauf, daß man sich von diesen Dingen nicht abhän^gig
mache: denn nicht darauf konime es an, daß man wenig
gebrauche, sondern daß man wenig bedürfe. Selbst an das
Leben soll sich der Mensch nicht unbedingt binden : Epikur
gestattet ihm , sich durch freiwilligen Tod unerträglichen
Leiden zu entziehen; er glaubte aber, dieser Fall werde nicht
leicht eintreten.
Schwerer wird es Epikur, unter seinen Voraussetzungen
die! Notwendigkeit und Bedeutung des menschlichen Gl>e -
jneinlebenß zu begründen. Sein System eröffnete) jbta
hierfür nur einen Weg: die Erwägung der Vprteili^v Wel,(JJhe
den Menschen aus ihrer Verbindung mit andern erwachsen;
und diese selbst sucht der Philosoph, dem die Freiheit von
Störungen das höchste Gut ist, ungleich mehr in dem Schutz
vor Verletzungen als in der positiven Förderung der Ein-
zelnen durch die sittliche Gemeinschaft. Dies gilt bei ihm
vor allem vom Staate. Der Zweck aller Gesetze ist die
256 Dritte l>eriodö. .
Sichöjuiig- der Gesellschaft' gegefi das Ünfecht, -d^ssefl Uta:
die fEinsichtigea- skh freiwillig y- in der Erkenntriik seiner
'Schädlichkeit; önthaltörtjiiwährend^ die Masse der M^nischein
durbbSti^afe' davon abgehalten werden -nru'ß. Diese Sicher-
heit ^ti genießen, i ohne diaiiß ^man' dabei durch die ^ Mühe und
Gefahr,^ welcher der> Staatsmann »sich »nicht entziehen kanä,
in« seiner Rübe gestört wird, erscheint unserm Philosophen
als das^ .Wünöchengwerteste. Er ömpfiehlt daher zwar Ge-
horsam gegen die Gesetze/ da; man bei Gesetzesverletzung
von 'der 'Furcht vor Strafe nie frei werde; aber er hält es
für bessery sich dem' Staatslebent fernzuhalten^ -wenn ni<5ht be-
^^oridere Umstäntle ' ein^ andres- verlangen:- «ein 'Wahlspfrüch
ist d^s' Äa^e/Jt^aög/^Aucb^ gegen- das Pamilietale^^^^ und
die Ehei äußert er Bedenken. Um so' lebhafter war beiihtii
und seiner Schule der Sinn für Freunds<ihaft; und so 'dürftig
-es'Äuch lautet, nv*enn er dieses Verhäliüis nur atif den Wei*t
der gegenseitigeü ^ünterstütauiig • uftd ^ des ' daraus tervöif-
^eheöd^n ' Sicherheitsgeftthls ^tt gründen -Weiiß, sö ging er
doeh" tatsächlich- weit über diese ; Schranke - hiiiaüsj« "Die
epjfcui^eischeri Freundschaften «indberühraft wie die pythagb-
ireisöhern; und die angebliche Gütergemeinschaft der Pythagöreer
verwarf fipikur nur deshaib, weil eine solche Eihrichtäüg
unter Freunden entbehrlich sein müsse.' Indesseh hätte es
seihen. Grundsätze*! nicht entsprochen, sich mit seinem Woht-
^wollen auf *deh Kreis seiner persönlichett Freunde zu be-
schränken; es wird vielmehr an ihm und an mahcheh
^Männern ^Äus»^^ seiner Sehule überhaupt ein^ milder^ und
menschenfreundlicher Sinn gerühmt; bei ihni selbst äußert
sich dieser unter anderin in dem Sätze ^ daß es angenehmer
seiy Wohltaten zu erweisen als zu empfangen. ' ^
§ 77. Pyrrhon und die Pyrrhoneer. 257
III. Die Skepsis^).
§ 77. Pyrrhon und die Pyrrhoneer.
Noch etwas früher als die Begründung der stoischen
und epikureichen Schule fällt die der pyrrhonischen , die
jenen in ihrer praktischen Abzweckung nahesteht,- aber
diesen Zweck nicht durch eine bestimmte wissnschaftliche
Überzeugung, sondern umgekehrt durch den Verzicht aut
jede solche Überzeugung zu erreichen sucht. Pyrrhon aus
Elis hat wahrscheinlich die Lehren der elisch-megarischen
Schule bereits kennen gelernt, als er mit Anaxarchos (S. 77)
Alexanders Feldzug in die östlichen Länder mitmachte;
durch ihn mag er auch mit Metrodors Zweifeln (S. 77) be-
kannt geworden sein. Später begründete er in seiuör Vater-
stadt, wo er in ärmlichen Verhältnissen, aber allgemein ver-
ehrt, lebte, eine eigene Schule, die jedoch nur geringe Ver-
breitung gewann. Er wurde gegen 90 Jahre alt und scheint
am 275 v. Chr. gestorben zu sein. Schriften hatte er nicht
hinterlassen; seine Lehre kannten schon die Alten nur aus
denen seines Schülers Timon aus Phlius, der später in
Athen lebte uud hier, gleichfalls fast 90 jährig, nach 241
V. Chr. starb ^).
Um glückselig zu leben , muß man sich nach Timon
(Aristokles bei Eus. pr. ev. XIV, 18) dreierlei klarmachen:
wie die Dinge beschaffen sind, wie wir uns zu ihnen ver-
halten sollen, und welchen Gewinn dieses Verhalten uns
bringt.
*) HiRZEL Untersuch, zu Ciceros philos. Sehr. 111. 1883. Brocharü
Les sceptiques grecs (1887). Raoul Richter Der Skeptizismus in d. Philos.
Bd. I (1904). GoEDEOKEMEYER Die Gesch. d. griech. Skeptizismus (1905).
") Nach einem Zeugnisse Philodems überlebte er Eleanthes (f 232;
s. S. 220). Waohsmuth Sillogr. gr. reliquiae (1885) S. 13 setzt seinen Tod
um 226. Seine Fragmente bei Wachsmuth und in Diels' Poet, philos. fr.
S. 173 flf.
Zeller, Grundriß. 17
258 Dritte Periode.
Auf die zwei ersten von diesen Fragen läfit sich nun
nur antworten , dafi uns die Beschaffenheit der Dinge gänz-
lich unbekannt ist, da die Wahrnehmung sie uns nicht so
zeigt, wie sie sind, sondern nur, wie sie uns erscheinen,
unsre Meinungen aber durchaus subjektiv sind; daß wir da-
her nie etwas behaupten (ovdiv oqII^biv)^ nie sagen dürfen:
^dies^ist so", sondern immer nur: „dies scheint mir so**,
daß die Zurückhaltung des Urteils (iTtox^j, atpaaia^ maxa-
Xtjipia) das allein richtige Verhalten zu den Dingen ist.
Beobachten wir aber dieses Verhalten, so ergibt sich, wie
Timon glaubt, von selbst die Ataraxie oder Apathie. Denn
wer darauf verzichtet hat, von der Beschaffenheit der Dinge
etwas zu wissen, der kann auch keinem einen höheren Wert
beilegen als dem andern. Er wird nicht glauben, daß etwas
an sich selbst gut oder schlecht sei, diese Begriffe vielmehr
nur auf Gesetz und Herkommen zurückführen ; er wird,
gegen alles andre gleichgültig, nur nach der richtigen Ge-
mütsstimmung oder der Tugend trachten und so mit der
Gemütsruhe auch die Glückseligkeit finden. Sofern er aber
genötigt ist zu handeln, wird er der Wahrscheinlichkeit, der
Natur und dem Herkommen folgen. In der wissenschaftlichen
Begründung dieser Lehren scheint aber Pyrrhon nicht tiefer
ins einzelne eingegangen zu sein: die zehn skeptischen
Tropen, die Spätere ihm zuschreiben, gehören sicher erst
Änesidemos (§ 89). Von Timon werden noch einige Schüler
und von einem unter diesen ebenfalls ein Schüler genannt;
dies waren aber auch die letzten Ausläufer der pyrrhonischen
Skepsis; an ihre Stelle trat seit der Mitte des 3. Jahr-
hunderts die akademische.
§78. Die neuere Akademie.
Der, welcher die Akademie auf diesen neuen Weg führte,
war Arkesilaos aus Pitane inÄolien (315/4—241/0 v.Chr.),
der Nachfolger des Krates (S. 162). Wir kennen seine
Lehre nur unvollständig, und da er nichts geschrieben hatte,
kannten sie auch schon die Alten nur aus dritter Hand. Er
§ 78. Die neuere Akademie. 259
bestritt, wie Cic. De orat. III, 67 sagt, die Möglichkeit, durch
die Sinne oder den Verstand (sensibus aut animo) etwas zu
erkennen; den Hauptgegenstand seiner Angriffe bildete aber
Zenons Lehre von der begrifflichen Vorstellung. Ihr hielt
er, neben einigen mehr formellen Bedenken, als Haupteinwurf
entgegen, dafi es keine Vorstellungen gebe, die ein sicheres
Merkmal ihrer Wahrheit an sich hätten, wie er dies in ver-
schiedenerlei Wendungen näher nachzuweisen suchte. Auch
die stoische Physik und Theologie scheint er bestritten zu
haben. Er behauptete demnach mit Pyrrhon, daB uns nichts
übrig bleibe als die Zurückhaltung des Urteils (^Ttoxri). Er
selbst hielt diesen Standpunkt so streng ein, daB er auch
jenen Grundsatz selbst nicht für ein Wissen ausgeben wollte.
Um so unglaublicher ist die Behauptung einiger von unsern
Zeugen, seine Skepsis habe ihm nur als Vorbereitung für
den platonischen Dogmatismus dienen sollen. DaB nun aber
mit dem Wissen auch die Möglichkeit des Handelns auf- .
gegeben werden müsse, räumte er nicht ein; denn die Vor-
stellung setze den Willen auch dann in Bewegung, wenn man
sie nicht für ein Wissen halte, und um vernünftig zu
handeln, genüge es, der Wahrscheinlichkeit (t6 &ü'koyov) zu
folgen, die das höchste Kriterium für das praktische Leben
bilde.
Arkesilaos folgte auf dem Lehrstuhl Lakydes aus
Kyrene. Dieser übergab (224/2 v. Chr.) die Schulführung
noch vor seinem Tode den Phokäern Telekles und Euan-
dros, denen Hegesinos (von Clemens Alex. Hegesilaos
genannt) folgte. Indessen ist uns weder von diesen noch
von den übrigen Akademikern, die aus dieser Zeit genannt
werden, mehr bekannt als das Allgemeine, daB sie der von
Arkesilaos eingeschlagenen Richtung treu blieben. Desto
größer ist die Bedeutung des Kam ea des, welcher deshalb
auch wohl der Stifter der dritten oder neuen Akademie ge-
nannt wird, während Arkesilaos der der zweiten oder mittleren
heißt, Philon und Antiochos (§ 81) die der vierten und
fünften. Dieser scharfsinnige und gelehrte, auch durch die
17*
260 Dritte Periode.
hinreifiende Gewalt seines Vortrags hervorragende Mann war
224/2 V. Chr. in Eyrene geboren^ hatte das Amt des Schul-
vorstehers wahrscheinlich vor 155, wo er mit der Philosophen-
gesandtschaft (S. 200) nach Rom kam, angetreten, und be-
kleidete es mit grofiem Ruhm und Erfolg bis zum Jahre 137,
wo er es seinem gleichnamigen Verwandten übertrug; er starb
129/8 V. Chr. Schriften hat er nicht hinterlassen; die Dar-
stellung seiner Lehre war das Werk seiner Schüler, nament-
lich des Kleitomachos. — Die Lehrtätigkeit des Karneades
bezeichnet den Höhepunkt der akademischen Skepsis. Wenn
Arkesilaos seine Angriffe vorzugsweise gegen die stoische
Lehre vom Kriterium gerichtet hatte, behandelte zwar auch
Karneades die Stoiker, die angesehensten Dogmatiker der
Zeit, als seine Hauptgegner; aber er untersuchte die Frage
über die Möglichkeit des Wissens allgemeiner und unterwarf
die Ansichten der verschiedenen Philosophen einer um-
fassenderen und tiefer ins einzelne eingehenden Kritik als
seine Vorgänger, während er zugleich die Grade und Be-
dingungen der Wahrscheinlichkeit genauer bestimmte. Er
fragte zunächst im aDgemeinen, ob überhaupt ein Wissen
möglich sei, und er glaubte dies schon deshalb verneinen zu
dürfen, weil es (wie er des näheren nachwies) keine Art der
Überzeugung gebe, die uns nie täuschte, keine wahre Vor-
stellung, der nicht falsche ununterscheidbar ähnlich wären,
also kein Kriterium der Wahrheit im Sinne der stoischen
„begrifflichen Vorstellung". Er leugnete ebenso die Möglich-
keit einer Beweisführung, teils weil diese selbst nur durch
Beweise, also durch eine petitio principii dargetan werden
könnte, teils weil die Prämissen der Beweise wieder bewiesen
werden müßten und so ins unendliche. Er ging ferner auf
den Inhalt der philosophischen Systeme näher ein, und er
bekämpfte namentlich die stoische Theologie nach allen Seiten.
Wenn die Stoiker das Dasein Gottes aus der zweckmäßigen
Einrichtung der Welt erschlossen, so bestritt Elarneades
ebenso die Zulässigkeit dieses Schlusses wie die Richtigkeit
seiner Voraussetzung, der er die vielen Übel in der Welt
§ 78. Die neuere Akademie. 261
entgegenhielt. Er griff aber auch den Gottesbegriff selbst an,
indem er (unsers Wissens zuerst) scharfsinnig zu zeigen suchte,
daß man sich die Gottheit nicht als ein lebendes, vernünftiges
Wesen (^^ov Xoyiycov) denken könne, ohne ihr Eigenschaften
und Zustände beizulegen, die ihrer Ewigkeit und Vollkommen-
heit widerstreiten; um seine Kritik des Polytheismus und
seine Angriffe auf den stoischen Weissagungsglauben, mit
denen auch seine Bestreitung des stoischen Determinismus
zusammenhängt, hier nur zu berühren. Noch größeren Ein-
druck scheint jene Kritik der sittlichen Begriffe gemacht zu
haben, von der seine beiden Vorträge in Rom, für und gegen
die Gerechtigkeit, eine Probe gaben, und für die er, nach
dem Vorgang der Sophisten, besonders den Gegensatz des
natürlichen und des positiven Rechts benützte. Wir sind
freilich über diese Kritik nur unvollständig unterrichtet, wie
uns denn überhaupt die Berichte über Karneades durchaus
kein erschöpfendes Bild seiner wissenschaftlichen Tätigkeit
liefern. Das Endergebnis seiner skeptischen Ausführungen
war natürlich das längst ausgesprochene: die absolute Un-
möglichkeit des Wissens, die Forderung einer unbedingten
Zurückhaltung des Urteils. Hatten aber schon die früheren
Skeptiker wenigstens die Wahrscheinlichkeit als Norm
für unser praktisches Verhalten anerkannt, so verfolgte
Karneades diesen Gedanken noch weiter. Er unterschied
nämlich drei Grade der Wahrscheinlichkeit, von denen wir
einen möglichst hohen zu gewinnen bei jeder Frage uns um
so mehr bemühen müssen, je wichtiger sie für unsre Glück-
seligkeit ist. Von den wahrscheinlichen Vorstellungen, sagte
er, seien die einen für sich genommen wahrscheinlich, bei
andern werde ihre Wahrscheinlichkeit durch die aller mit
ihnen verbundenen verstärkt, bei einer dritten Klasse bestätigt
die Untersuchung diesen Eindruck auch in betreff der letzteren
selbst (die q)avxaaLa ni^avi] [wahrscheinlich], die gp. Ttid^avt^
xal aneqiaTtaazog [unwidersprochen], und die y. Ttc&avri ytal
ccTcegianaaTog xat TceQKodeivfievrj [geprüft]). Die Merkmale,
nach denen die Wahrscheinlichkeit zu beurteilen ist, scheint
262 Dritte Periode.
Karneades auch im einzelnen näher untersucht zu haben.
Wie er von diesem Standpunkt aus die Fragen der Ethik
behandelte, läßt sich nicht genau feststellen; das Wahr-
scheinlichste ist aber, daß er (natürlich unter Vorbehalt der
skeptischen inox^) ^^ ^^^ altakademischen Grundsatz des
naturgemäßen Lebens festhielt und gerade in dem Streben
nach den natürlichen Gütern die Tugend fand.
Nach dem jüngeren Karneades (S. 260) leitete die Akademie
kurze Zeit Krates aus Tarsos. Auf ihn folgte 129/8 der
ausgezeichnetste Schüler des großen Karneades, der Kar-
thager Kleitomachos, der 187/6 geboren wurde und
110/9 starb. Über dessen Nachfolger vgl. § 81.
Zweiter Abschnitt.
Eklektizismus, erneuerte Skepsis, Vorläufer
des Neiftplatonismus.
I. Eklektizismus.
§ 79. Seine Entstellungsgründe und sein
Charakter.
So lebhaft auch die Philosophenschulen der nacharisto-
telischen Zeit sich bestritten, so natürlich war es doch, daß
sich im Laufe der Jahre ihre Gegensätze abstumpften und
die Verwandtschaft, die trotz dieser Gegensätze zwischen der
akademischen, peripatetischen und stoischen Schule schon von
Hause aus bestand, bestimmter zum Bewußtsein kam. Von
entscheidender Bedeutung waren aber liierfür zwei gleich-
zeitig einwirkende Momente: der Erfolg, welchen die aka-
demische Skepsis durch Karneades gewann, und die Ver-
bindung, in die Griechenland mit Rom trat. Je nachhaltiger
der Glaube der dogmatischen Schulen an die Unwiderlegbar-
keit ihrer Lehren durch die eindringende Kritik des Karneades
§ 79. Eklektizismus: Entstehungsgründc und Cfaarakter. 263
erschüttert worden war, um so geneigter mußten sie werden,
von den Unterscheidungslehren, die so vielen Einwürfen aus-
gesetzt waren, sich auf die Überzeugungen zurückzuziehen,
über die man sich im wesentlichen verständigen konnte, und
die auch der Kritiker selbst als Normen des praktischen Ver-
haltens anerkannte und somit in der Hauptsache für aus-
reichend gelten ließ. Je stärker andrerseits bei Karneades
selbst in der Ausbildung seiner Wahrscheinlichkeitslehre das
Bedürfnis zum Ausdruck gekommen war, sich solche prak-
tische Normen zu sichern, um so leichter konnte auch seine
Schule, indem sie die gleiche Richtung weiter verfolgte, dazu
kommen, dafi sie auf diesen Teil seiner Lehre das Haupt-
gewicht legte und dadurch von der Skepsis mehr und mehr
abkam, indem das, was ihm nur ein Wahrscheinliches ge-
wesen war, mit der Zeit die Bedeutung eines sicher Gewußten
erhielt. In dem gleichen Sinne wirkte aber auch der römische
Geist, der jetzt auf die griechische Wissenschaft Einfluß zu
gewinnen begann. Seit der Eroberung Makedoniens durch
die Römer (168) war Griechenland tatsächlich, was es auch
formell immer mehr wurde, ein Teil des römischen Reiches ;
und bald entwickelte sich zwischen Griechenland und Rom,
von einem Flaminius, Ämilius Paulus, Scipio Ämilianus und
seinen Freunden gefördert, ein wissenschaftlicher Verkehr,
der griechische Lehrer nach Rom und junge Römer in immer
größerer Zahl in die Philosophenschulen von Athen und von
andern griechischen Städten führte. Noch nachhaltiger als
das Erscheinen der Philosophengesandtschafl: (S. 216. 260)
wirkte Panätios' (§ 80) Aufenthalt in Rom nebst der gleich-
zeitigen Verbreitung des Epikureismus unter den Römern
(s. S. 245), und seit dem Anfang des letzten vorchristlichen
Jahrhunderts galt die griechische Philosophie dort für einen
unentbehrlichen Bestandteil der höheren Bildung. Waren nun
hierbei auch die Griechen zunächst die Lehrer, die Römer
die Schüler, so war es doch natürlich, daß jene sich mehr
oder weniger dem Bedürfnis ihrer vornehmen und einfluß-
reichen Zuhörer anbequemten, und daß sie im Verkehr mit
264 Dritte Periode.
der römischen Welt selbst auch von dem Geiste, der diese
Welt geschaffen hatte, berührt wurden. Diesem Geist aber
entsprach es, jede Ansicht mehr nach ihrem Wert fürs prak-
tische Leben als nach ihrer wissenschaftlichen Haltbarkeit zu
beurteilen; und so mußten auch diese Verhältnisse dazu bei-
tragen, die Neigung zu einer Verschmelzung der philosophi-
schen Schulen, einer Zurückstellung ihrer Unterscheidungs-
lehren, einer Hervorhebung des Gemeinsamen, namentlich in
den praktisch wichtigen Punkten, zu nähren. Um aber aus
den verschiedenen und nicht unmittelbar vereinbarten An-
sichten das Wahre oder Wahrscheinliche auswählen zu können,
mußte man einen Maßstab dafür schon mitbringen; und so
wurde man schließlich auf gewisse Oberzeugungen geführt,
die dem Menschen, wie man annahm, vor jeder Beweisführung
feststehen und diese ihre Wahrheit durch die allgemeine An-
erkennung, den consensus gentiumj bewähren.
Dieser Eklektizismus kommt nun zuerst in der stoischen
Schule zum Vorschein ; in noch höherem Grade bemächtigt er
sich in der Folge der akademischen; und auch in der peri-
patetischen findet er Eingang. Dagegen läßt sich bei den
Epikureern dieser Zeit keine einigermaßen eingreifende Ab-
weichung von der Lehre ihres Stifters nachweisen, wenn
auch immerhin Zenon der Sidonier bei Earneades, den er
neben ApoUodor gehört hatte, sich ein dialektischeres Ver-
fahren angeeignet haben mag, als es sonst in der Schule üb-
lich war. Daß aber der Arzt Asklepiades aus Bithynien
(um 100 — 50 V. Chr.) an die Stelle der Atome mit Herakleides
(S. 161 f.) Urkörperchen , avagfioi oyxoi, setzte, die durch
ihren Zusammenstoß zersplittert sein sollten, ist um so un-
erheblicher, da er der epikureischen Schule zwar nahe steht,
aber nicht zu ihr gehörte.
§ 80. Boethos, Panätios, Poseidonios. 265
§ 80. Die Stoiker: Boethos, Panätios, Posei-
donios^).
War auch das stoische Lehrsystem durch Chrysippos zu
seiner relativen Vollendung gekommen, so schlössen sich doch
die Stoiker in der Lehre ihrer Schule nicht so streng ab,
dafi sich nicht Einzelne Abweichungen von ihr erlaubt
hätten, zu denen teils der Einfluß der älteren Systeme, teils
der Wunsch Anlaß geben konnte, den Einwendungen ihrer
Gegner und vor allem der einschneidenden Kritik des Ear-
neades zu begegnen. Schon Chrysippos' Nachfolger, Zenon
von Tarsos, soll sich über die Lehre von der Weltverbrennung
zweifelnd geäußert haben; ebenso Diogenes von Seleukeia
in seinen letzten Jahren, vielleicht weil er Boethos' und
Panätios' Einwürfe nicht zu lösen wußte. Viel weiter ent-
fernten sich aber diese zwei Schüler des Diogenes von der
altstoischen Lehre. Der Sidonier Boethos (f 119 v. Chr.)
wich nicht bloß in der Erkenntnistheorie von ihr ab, indem
er neben der Wahrnehmung auch Vernunft (vovg), Wissen-
schaft und Begierde als Kriterien bezeichnete, sondern er
dachte sich auch die Gottheit, wiewohl er sie mit seiner
Schule dem Äther gleichsetzte, substantiell von der Welt
getrennt, und er wollte demgemäß die Welt nicht für ein
beseeltes Wesen gelten lassen; nur ein Zusammenwirken der
Gottheit mit den Dingen nahm er an; und im Zusammen-
hang mit dieser Mittelstellung zwischen Zenon und Aristoteles
bestritt er die von dem ersteren gelehrte Weltverbrennung ein-
gehend, um die Ewigkeit der Welt an ihre Stelle zu setzen. —
Größeren Einfluß hatte aber auf die stoische Schule Panä-
tios aus Rhodos (annähernd zwischen 180 und 110 v.Chr.
zu setzen), der Nachfolger des Antipatros in Athen und zu-
gleich der Hauptbegründer des römischen Stoizismus, der
Freund des jüngeren Scipio Africanus und des Lälius, der
') HiRZEL Untersuch, zu Ciceros philos. Sehr. II. 1882. Schmkkkl
Die mittlere Stoa. 1892.
266 T>nite Periode.
Lehrer des Q. Mueius Scävola, L. Älius Stilo und andrer
römischer Stoiker. Dieser Mann, der die Unabhängigkeit
seines Urteils auch in der literarischen und historischen Kritik
bewährte y war ein ausgesprochener Bewunderer des Piaton
und Aristoteles; dafi er auch ihrer Lehre einen Einflufi aut
die seinige .verstattete, lag um so näher, da er die stoische
Philosophie vorzugsweise nach der praktischen Seite und
nicht bloß in der strengeren Form der Schule behandelt zu
haben scheint, wie dies unter anderm sein Werk über das
Geziemende (tt. TLa&ijxovzog) ^ das Vorbild des ciceronischen
De officiis, zeigt. Er bestritt mit Boethos den Untergang
und wahrscheinlich auch die Entstehung der Welt, leugnete
die Fortdauer der Seele nach dem Tode, unterschied in ihr
mit Aristoteles den vegetabilischen Teil {(pvaig) von dem ani-
malischen (ifwxt^) und von beiden die Vernunft etwas schärfer,
als dies die Älteren getan hatten. Daß er in der Ethik den
altstoischen Grundsätzen widersprach, ist nicht anzunehmen,
wenn er auch immerhin die Punkte, in denen die Stoa vom
Kynismus abwich und sich mit Piaton und Aristoteles be-
rührte, stärker betont zu haben scheint, von Aristoteles die
Unterscheidung der theoretischen und der praktischen Tugend
übernahm und in der Behandlung der letzteren sich teilweise
an ihn anschloß. Dagegen wiederholte er die Zweifel des
Karneades gegen die Mantik, und machte von der Unter-
scheidung einer dreifachen Theologie (S. 244), wenn er sie
auch vielleicht nicht zuerst aufgebracht hat, jedenfalls eine
freiere Anwendung, als dies bis dahin bei den Stoikern üb-
lich war,
Panätios' berühmtester Schüler ist der gelehrte Po sei -
donios aus Apamea, der um 51 v. Chr. 84jährig als Vor-
steher einer vielbesuchten Schule in Rhodos*) starb; nächst
ihm der Rhodier Hekaton; seine Nachfolger in Athen
waren (gleichzeitig) Mnesarchos und Dardanos, der
') Hier hörte ihn u. a. auch Cicero, der seine Schriften vielfach und
besonders in De uat. deor. II sein Buch n. &€tSv benutzt hat.
§ 80. Boethos, Panätios, Poseidonios. 267
ihrige, wie es scheint, Apollodoros aus Athen (von dem
gleichnamigen Chronographen zu unterscheiden). Genauer
bekannt ist uns aber nur Poseidonios, der nicht nur als
Philosoph, sondern auch als gelehrter Forscher — er um-
spannte das gesamte Wissen seiner Zeit — und durch seinen
glänzenden, oft schwungvollen Stil einen nachhaltigen Ein-
fluß ausübte. Er hielt einerseits die Überlieferung seiner
Schule bei manchen Punkten strenger fest als Panätios; er
verteidigte die Weltverbrennung, die Fortdauer der Seele
nach dem Tode, die Existenz von Dämonen, und nahm den
stoischen Weissagungsaberglauben seinem vollen Umfang nach
in Schutz. Andrerseits teilte er aber Panätios' Bewunderung
für Piaton, und um den von den Stoikern so stark betonten
Gegensatz der Vernunft und der Affekte psychologisch zu
begründen, wies er die letzteren mit Piaton (s. S. 147) dem
Mut und der Begierde zu, die zwar keine besonderen Teile,
aber doch besondere, von der Beschaffenheit des Leibes ab-
hängige Kräfte der Seele sein sollten, während er der Ver-
nunft mit Piaton außer der Unsterblichkeit auch Präexistenz
beigelegt zu haben scheint; Abweichungen von dem älteren
Stoizismus, die für die Folgezeit nicht ohne Bedeutung sind.
Auch in der Ethik trat er, wie Panätios, den Akademikern
und Peripatetikern näher.
Noch viele weitere Stoiker aus dem ersten Jahrhundert
v.Chr. sind uns bekannt; so Dionysios, der 50 v. Chr.,
vielleicht als Scholarch, in Athen lebte, Jason, der Enkel
und Nachfolger des Poseidonios, die beiden Athenodoros
aus Tarsos, von denen der eine (der Sohn Sandons)* Lehrer
Augusts war, der Astronom Geminus, ein Schüler des
Poseidonios, Cato Uticensis, der Geograph Strabon (unter
Augustus und Tiberius) u. a. Indessen haben sich von keinem
dieser Männer philosophische Schriften oder größere Bruch-
stücke solcher Schriften erhalten als von Areios Didymos
(S. 270). Gerade dieser letztere liefert aber ein weiteres
Beispiel für den Anklang, welchen die eklektische Neigung
der Zeit auch in der stoischen Schule gefunden hatte.
268 Dritte Periode.
§ 81. Die Akademiker des letzten Jahr-
hnnderts v. Chr.
Der Hauptsitz dieses Eklektizismus war jedoch die aka-
demische Schule. Schon unter den persönlichen Schülern des
Karneades gaben einzelne, wie Metrodoros von Stratonike,
Äschines und wohl auch Charmidas, die absolute Un-
erkennbarkeit der Dinge auf. Bestimmter tat dies (wenigstens
in seinen späteren Jahren) Kleitomachos' (s. S. 262) Schüler
und Nachfolger P h i 1 o n aus Larissa (der 160/59 v. Chr. ge-
boren wurde, sich 88 nach Rom flüchtete, wo er Ciceros
Lehrer war und vor 79 starb). Wer so, wie er, der Philo-
sophie nicht bloß überhaupt die Aufgabe stellte, dem Menschen
den Weg zur Glückseligkeit zu zeigen, sondern dies auch
durch eine ausführliche ethische Theorie, durch Bekämpfung
falscher und Mitteilung richtiger sittlicher Ansichten erreichen
wollte (Stob. Ekl. II, 7, 2 S. 39, 20 ff. W.), wer die iftoxvy
welche Karneades auch in der Ethik nicht aufgegeben hatte,
hier so weit außer acht ließ, der konnte konsequenterweise
nicht auf einem Standpunkt stehen bleiben, welcher die Wahr-
heit aller Überzeugungen in Frage stellt. Wiewohl er daher
die stoische Lehre vom Kriterium mit Karneades bestritt und
ein absolut sicheres Wissen, ein Begreifen der Dinge im
Sinne der stoischen „begrifflichen Vorstellung" für unmöglich
hielt, wollte er doch nicht jede Erkennbarkeit der Dinge
leugnen, und er behauptete, auch Arkesilaos und Karneades
hätten .nicht die Absicht gehabt, sie zu leugnen; denn es
gebe eine Augenscheinlichkeit (ivagyeLo), die eine vollkommen
feste und den Forscher befriedigende Überzeugung bewirke,
wenn sie auch die unbedingte Gewißheit des Begriffs nicht
erreiche ^). Er suchte also ein Mittleres zwischen der bloßen
Wahrscheinlichkeit und dem Wissen.
^) Karneades bestreitet noch die Mgyeia, die bei ihm der xatK-
XriipiS gleich ist (Cic. Acad. II, 99).
§ 81. Die Akademiker des letzten Jahrh. v. Chr. 269
Die Unhaltbarkeit dieser Mittelstellung erkannte Philons
Nachfolger An tiochos von Askalon (gest. 68 v.Chr.), der
neben Philon auch den Stoiker Mnesarchos gehört hatte und
wegen seines Widerspruchs gegen die neuakademische Lehre
schließlich mit Philon in Streit kam. Durch diesen Aka-
demiker, den Freund des Lucullus, dessen Unterricht auch
Cicero in Athen genoß, ist die Akademie definitiv von der
Skepsis zum Eklektizismus übergeführt worden. Hatte Philon
noch daran festgehalten, daß es nichts absolut Gewisses gebe,
so kehrte Antiochos zu der Behauptung eines solchen und
ebendamit zum ausgesprochenen Dogmatismus zurück. Unter
seinen Einwürfen gegen die Skepsis hatte für ihn unverkenn-
bar, wie für die Stoiker, die Erwägung, daß ohne eine feste
Überzeugung keine vernünftige Lebensführung möglich sei,
ein besonderes Gewicht. Indessen bekämpfte er sie auch mit
wissenschaftlichen Gründen, wenn er ausführte : ohne Wahr-
heit gebe es auch keine Wahrscheinlichkeit und vollends
keine Augenscheinlichkeit; es sei ein Widerspruch, zu be-
haupten, daß sich nichts behaupten, zu beweisen, daß sich
nichts beweisen lasse; man könnte nicht von falschen Vor-
stellungen reden, wenn man den Unterschied von wahr und
falsch leugne usw. Fragt man aber, wo denn nun die Wahr-
heit zu suchen sei, so antwortet Antiochos: in dem, worüber
alle achtungswerten Philosophen einverstanden sind ; und um
zu beweisen, daß diese Übereinstimmung bei allen wichtigeren
Fragen tatsächlich vorhanden sei, gab er eine Darstellung
des akademischen, peripatetischen und stoischen Systems, die
zeigen sollte, daß diese drei Schulen mehr nur in Neben-
punkten und im Ausdruck als im wesentlichen voneinander
abweichen, bei der es aber freilich ohne starke Ungenauig-
keiten nicht abgehen konnte. Ihm selbst lag dabei am meisten
an der Ethik ; und in dieser suchte er einen Mittelweg zwischen
Zenon, Aristoteles und Piaton, wenn er z. B. sagte, die Tugend
genüge zwar zur Glückseligkeit, aber zu ihrer höchsten Stufe
seien auch die leiblichen und äußeren Güter erforderlich.
Ihm selbst wird vorgeworfen, er nenne sich zwar einen Aka-
270 Dritte Periode.
demiker, sei aber mehr Stoiker; in Wahrheit ist er keines
von beiden^ sondern eben nur Eklektiker.
Diese Denkweise erhielt sieb, wie Cicero (Acad. II, 11)
und Änesidemos (bei Phot. Cod. 212, S. 170, 14) bezeugen,
auch nach Antiochos' Tod als die herrschende in der Aka-
demie, der in Athen bis nach 51 v. Chr. Antiochos' Bruder
Aristos, dann, wie es scheint, Theomnestos vorstand;
nur daß sich mit ihr bald die (§ 92 zu besprechende) Vor-
liebe für pythagoreische Spekulationen verband, der wir schon
gegen das Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts bei
dem eklektischen , in der Ethik stoisierenden E u d o r o s ,
etwas später bei Thrasyllos (gest. 36 n. Chr.) begegnen.
Areios Didymos, der Lehrer des Augustus^), rechnete
sich zwar zur stoischen Schule ; aber die uns erhaltenen Teile
eines Werkes, das eine Übersicht über die wichtigeren philo-
sophischen Systeme gab, sind so ganz im Sinne des gleich-
zeitigen Eklektizismus gehalten, daß sich der Stoiker und
der Akademiker nur dem Namen nach unterscheiden.
Als einen Zeitgenossen des Augustus bezeichnet Suidas
(Ilotdfi.) auch den Alexandriner Potambn^). Dieser Philo-
soph nannte seine Schule selbst die eklektische. Was
über seine Lehre mitgeteilt wird, eine oberflächliche Ver-
knüpfung fremder Gedanken, erinnert am meisten an An-
tiochos.
§ 82. Die peripatetische Schule.
Weniger verbreitet war dieser Eklektizismus bei den
gleichzeitigen Peripatetikern. Andronikos aus Rhodos,
der um 70 — 50 v. Chr. an der Spitze der peripatetischen
Schule in Athen stand, gab durch seine, nach Plutarch mit
^) Über die drei letztgenannten vgl. auch S. 8.
*) Suidas hat diese Notiz wahrscheinlich aus Diog. prosem. 21 ent-
nommen, wo die Worte nQo oXiyov sich nicht auf die Zeit des Diogenes
selbst beziehen, sondern auf die seines Gewährsmannes; s. Gebcke D. qui-
busd. Laertii Diog. auct. S. 8 ff. 57.
§ 82. Die peripatetische Schule. 271
des Grammatikers Tyrannion Hilfe veranstaltete Ausgabe
der aristotelischen Lehrschriften (S. 165. 172), seine Unter-
suchungen über ihre Echtheit und seine Kommentare über
mehrere von ihnen den Anstoß zu jenem eifrigen Studium
des Aristoteles, dem sich die peripatetische Schule von da
an widmete. Diese Beschäftigung mit den Schriften ihres
Stifters mußte aber bewirken, daß man diesem nicht so leicht
Ansichten, die ihm fremd waren, unterschob. Indessen ver-
zichtete weder Andronikos noch sein Schüler Boethos aus
Sidon (der in seiner Bestreitung der Unsterblichkeit wie in
anderen Punkten eine naturalistische Auffassung der peri-
patetischen Lehre vertritt) Aristoteles gegenüber auf sein
eigenes Urteil; ebenso bekämpfte Xenarchos (unter
Augustus) die aristotelische Lehre vom Äther. Staseas
aus Neapel (erstes Drittel des 1. Jahrh. v. Chr.), Ariston
aus Alexandrien und Kratippos, die aus Antiochos' Schule
zur peripatetischen übertraten, Nikolaos aus Damaskos
(um 64 V. Chr. geb.) u. a. sind uns als Philosophen nicht
näher bekannt; wer der Peripatetiker war, der (um 50 v. Chr.)
in einer uns nur durch Philon in jüdischer Bearbeitung er-
haltenen Schrift ^) die Ewigkeit der Welt verteidigte, wissen
wir nicht.
Daß es indessen unter den Peripatetikern einzelne gab,
die Fremdartiges in die aristotelische Lehre aufzunehmen
bereit waren, zeigen zwei Stücke unsrer aristotelischen
Schriftsammlung: das Buch von der Welt und die kleine
Abhandlung von den Tugenden und Fehlern. Die letztere
(vgl. S. 169) steht der platonischen Tugendlehre noch näher
als der aristotelischen, scheint aber doch von einem Peri-
patetiker herzustammen. Das Buch von der Welt (vgl.
S. 167)^) ist sicher das Werk eines Peripatetikers , welcher
^) Die früher bezweifelte Echtheit der philonischen Schrift n. aif&aQ"
alg xoOfAOv ist jetzt durch Cunant in seiner Aasgabe (1891) nachgewiesen.
«) Worüber Phil. d. Gr. HI 1 , 631 ff. Sitzungsber. d. Berl. Akad.
1885, 8. 399 ff. [Nach Capelle N. Jahrb. f d. kl. Alt. 1905 S. 529 ff. hat
272 Dritte Periode.
jedenfalls nach Poseidonios schrieb, dessen Meteorologie er
ausgiebig benützt hat. Ihr Hauptzweck liegt in der Absicht,
den aristotelischen Theismus mit dem stoischen Pantheismus
durch die Annahme zu verknüpfen, daß Gott zwar seinem
Wesen nach außer der Welt und viel zu erhaben sei, um
sich mit dem einzelnen in ihr zu beschäftigen, dafi er da-
gegen das Ganze mit seiner Kraft und Wirkung erfülle und
insofern jene Prädikate, welche die Stoiker ihm beizulegen
pflegten, ihm im wesentlichen zukommen. Ebendamit seien
aber auch ein Piaton, Heraklit und Orpheus einverstanden.
§ 83. Cicero, Varro, die Sextier.
In eigentümlicher Weise kommt der Eklektizismus des
letzten Jahrhunderts v. Chr. in den römischen Philosophen
dieser Zeit zum Ausdruck. Der unter ihnen, dessen ge-
schichtliche Wirkung alle andern weit überragt, ist
M. Tullius Cicero 106—43 v. Chr.)*). Aber er ver-
dankt diesen Erfolg nicht der Schärfe und Selbständigkeit
seines eigenen Denkens, sondern lediglich der Gewandtheit,
mit der er die Lehren der Griechen, so oberflächlich auch
seine Bekanntschaft mit ihnen ist, der lateinisch redenden
Mit- und Nachwelt doch in klarer und verständiger Dar-
stellung zu überliefern verstand. Cicero rechnet sich selbst
zu der neuakademischen Schule und folgt ihr gern in dem
Verfahren, das Für und Wider ohne eine abschliefiende
Entscheidung zu erörtern. Indessen liegt das Hauptmotiv
seiner Skepsis weniger in den wissenschaftlichen Gründen,
die er von den Akademikern borgt, als in dem Widerstreit
der philosophischen Autoritäten, und so ist ihr von Hause
der Verfasser dieses Buches, ein Eklektiker aus der 1. Hälfte des zweiten
Jahrhunderts n. Chr. noch andere Schriften des Poseidonios {n. O-edSv und
vielleicht auch n. xoafjLOv) henutzt und dessen Gedanken über Gott und
Welt wiederf^egeben.]
1) S. HiBZEL Unters, z. Cics philos. Sehr. 3 Tle. 1877/83. Sohmekel
Die Philos. d. mittleren Stoa S. 18 ff.
§ 83. Cicero, Varro, die Sextier. 273
aus die Neigung eingepflanzt, von dem Zweifel in demselben
Maße zurückzutreten, wie dieser Anstoß sich beseitigen läßt.
Glaubt er daher auch auf ein Wissen in vollem Sinn ver-
zichten zu müssen, so gewinnt doch die Wahrscheinlichkeit
für ihn eine höhere Bedeutung als für Earneades ; und über
die Dinge, an denen ihm am meisten gelegen ist, über die
sittlichen Grundsätze und die mit ihnen zusammenhängenden
theologischen und anthropologischen Fragen spricht er mit
großer Entschiedenheit, überzeugt, daß uns richtige Begriffe
hierüber von der Natur eingepflanzt seien, unmittelbar aus
unserm eigenen Bewußtsein geschöpft und durch die all-
gemeine Übereinstimmung bewährt werden können. Die
Ansichten selbst, die er auf dieser Grundlage gewinnt, sind
weder originell noch frei von Schwankungen. So entschieden
er in der Ethik dem Epikureismus entgegentritt, so wenig
findet er doch zwischen der stoischen und der akademisch -
peripatetischen Lehre einen festen Standpunkt, und während
er in der Erhabenheit der stoischen Grundsätze sich gefällt,
kann er doch die von ihr unzertrennlichen Einseitigkeiten
nicht gutheißen. In der Theologie liegt ihm der Glaube an
das Dasein und die Vorsehung Gottes, in der Psychologie
der an die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des
Willens ernstlich am Herzen; aber über das Wesen Gottes
und unsers Geistes getraut er sich nicht bestimmt zu ent-
scheiden, und wenn er sich im allgemeinen auf die Seite des
platonischen Spiritualismus stellt, kann er sich doch auch
dem Einfluß des stoischen Materialismus nicht immer ent-
ziehen. Zur Volksreligion als solcher hat er kein inneres
Verhältnis, aber im Interesse des Gemeinwesens will er sie,
unter möglichster Beseitigung des Aberglaubens, aufrecht-
erhalten wissen.
Cicero steht sein Freund M. Terentius Varro (116
bis 27 V. Chr.) nahe, der übrigens weit mehr Gelehrter als
Philosoph war. Ein Schüler des Antiochos, den er bei Cicero
(Acad. post.) zu vertreten hat, folgt er (b. Augustin Civ. D.
XIX, 1 — 3) in der Ethik, die ihm weitaus der wichtigste
Zeller, QrundriA. 18
274 Dritte Periode.
Teil der Philosophie ist, ganz seinem Vorgang , nähert sich
aber mit ihm auch vielfach den Stoikern und so auch dem
stoischen Materialismus. Noch enger schliefit er sich in der
Theologie an die Stoiker und im besonderen an Panätios an :
er beschreibt mit ihnen die Gottheit als die Seele der Welt
und läBt in den Göttern des Polytheismus die Kräfte dieser
Seele verehrt werden, wie sie in den verschiedenen Teilen
der Welt walten; anderseits aber eignet er sich ihre Unter-
scheidung einer dreifachen Theologie (s. S. 243 f. 265) und
. ihren scharfen Tadel gegen die Mythologie der Dichter an
und nimmt keinen Anstand, wesentliche Bestandteile der
öffentlichen Religion offen zu mißbilligen.
Ein Ableger der Stoa tritt uns in der Schule entgegen,
die um 40 v. Chr. von Q. Sextius, einem Römer aus guter
Familie, begründet und nach ihm von seinem Sohn geleitet
wurde, dann aber bald erlosch ; zu ihr gehörten S o t i o n aus
Alexandria, der um 18—20 n. Chr. der Lehrer Senecas war,
der kenntnisreiche Enzyklopädist Cornelius Celsus,
Fabianus Papirius, L. Crassitius. Was wir von
diesen Männern wissen, zeigt uns in ihnen Moralphilosophen,
welche die stoischen Grundsätze nachdrücklich vertraten,
aber den Eindruck, den sie hervorbrachten, mehr dem Ge-
wicht ihrer Persönlichkeit als einer hervorragenden wissen-
schaftlichen Eigentümlichkeit zu verdanken hatten. Mit dem
Stoischen verband sich bei Sotion Py tagoreisches , wenn er
die Enthaltung von tierischer Nahrung, die sein Lehrer aus
allgemein moralischen Gründen empfohlen hatte, auf die Lehre
von der Seelenwanderung gründete. Wenn aber die Sextier
die Seele für unkörperlich erklärten, müssen auch sie schon
platonische Einflüsse erfahren haben.
§ 84. Die ersten Jahrhunderte d. Chr. :
Stoische Schule.
Die Denkweise, die im letzten Jahrhundert v. Chr. bei
der Mehrzahl der Philosophen, mit Ausnahme der Epikureer,
§ 84. Die Stoiker der Kaiseraeit. 275
zur Herrschaft gekommen war^ erhielt sich auch während
der nächstfolgenden Jahrhunderte, nur daß sich mit ihr immer
mehr eine Vorliebe für jene theologischen Spekulationen
verband, die schliefilich im Neuplatonismus mündeten. Die
Trennung der Schulen blieb zwar nicht bloB bestehen,
sondern sie wurde auch durch das eifrige Studium der
aristotelischen und platonischen Schriften befestigt und er-
hielt eine offizielle Anerkennung, als Mark Aurel (176 n. Chr.)
in Athen für die vier Hauptschulen besoldete Lehrstühle (es
scheint, zwei für jede) errichtete. Aber daß ihrem Gegen-
satz nicht mehr die gleiche Bedeutung beigelegt würde wie
früher, zeigt sich teils direkt in der Verknüpfung verschieden-
artiger Lehren, der wir nicht selten begegnen, teils und be-
sonders in der weit verbreiteten Neigung, sich auf die prak-
tischen Ergebnisse der Philosophie zurückzuziehen, über die
man sich am leichtesten mit abweichenden wissenschaftlichen
Richtungen verständigen konnte.
Von den zahlreichen Stoikern der Kaiserzeit, deren
Namen wir kennen, m(^en die folgenden hier genannt
werden : Herakleitos,der Verfasser der noch vorband enen
„Homerischen AUegorieen", wie es scheint, ein Zeitgenosse des
Augustus; Attalos, der Lehrer Senecas; Chäremon, ein
ägyptischer Priester, der Lehrer Neros; Seneca (s. S. 276)
und seine Zeitgenossen L. Annans Cornutus aus Leptis
(von dem sich eine Schrift rc. tijg twv d'ecSv q>vae(og erhalten
hat), A. Persius Flaccus und M. Annans Lucanus,
Senecas NeflFe (39 — 65 n. Chr.); Musonius Rufus und
sein Schüler Epik tet (s. S. 279); Euphrates (von seinem
Schüler, dem jüngeren Plinius gerühmt), der 118 n. Chr.
hochbejahrt Gift nahm; Rleomedes, Verfasser eines astro-
nomischen Lehrbuchs, unter Hadrian oder Antoninus Pius;
der Kaiser M. Aurelius Antoninus^). Auch von ihnen
^) [Hierher gehört auch der von Pbächteb (Hierokles der Stoiker
1901) entdeckte Hierokles, der etwa in der ersten Hälfte des 2. Jahrh. n. Chr.
lebte. Ihm, nicht, wie man bisher angenommen hatte, dem viel späteren
18*
276 Dritte Periode.
zeigen aber, soweit sie uns bekannt sind, nur Seneca,
Musoniusy Epiktet und Mark Aurel eine bemerkenswerte
Eigentümlichkeit, während ein Heraklit, Cornutus und Eleo-
medes nur die Überlieferung ihrer Schule weiter geben.
L. Annans Seneca^), bald nach dem Anfang unsrer
Zeitrechnung in Corduba geboren, der Erzieher und längere
Zeit mit Burrus der Berater Neros, auf dessen Befehl er
65 n. Chr. starb, tritt zwar der Lehre seiner Schule an
keinem wichtigeren Punkt entgegen, aber doch geht durch
seine Philosophie im Vergleich mit der altstoischen ein etwas
veränderter Geist; wie er denn auch andre als die stoischen
Autoritäten und namentlich Epikurs Schriften gerne benützt.
Fürs erste nämlich beschränkt er sich im wesentlichen auf
die Moral. Er kennt die stoische Logik, aber er hat keine
Neigung, sich eingehender mit ihr zu beschäftigen; er rühmt
die Erhabenheit der Physik und eignet sich in seinen natth
rales quaestiones die Meteorologie des Poseidonios an, aber
ein tiefer gehendes Interesse haben für ihn aus diesem Teil
der Philosophie nur die praktisch verwertbaren theologischen
und anthropologischen Bestimmungen. Ohne dem stoischen
Materialismus und Pantheismus zu widersprechen, hebt er
doch mit Vorliebe die ethischen Züge der stoischen Gottes-
idee hervor, auf denen der Vorsehungsglaube beruht, und
ebenso in der Anthropologie die Lehre von der Gottverwandt-
schaft des menschlichen Geistes und der Fortdauer nach dem
Tode. Aber auch seine Moral fällt mit der altstoischen, deren
Neuplatoniker H. (s. 8. — 2), sind die bei Stob, erhaltenen Fragmeute aus
einem Lehrbuch der Moral, von dessen erstem Teil, einer Erörterung der
grundlegenden Fragen der Ethik {^&ixt] atovx^(toaig\ neuerdings ein längerer
Abschnitt auf einem Papyrus au%efunden und von H. v. Arnim (Berliner
Klassikertexte, H. IV, 1906) veröflfentlicht worden ist. Er ist vermutlich
identisch mit dem von Qellius N. A. IX 5, 8 erwähnten H. Die Überreste
des Werkes bringen keinen neuen Beitrag zur stoischen Lehre und erinnern
vielfach an Musonios und Epiktet]
^) Neueste krit. Ausg. von Hermes, Hosius, Gercke, Hense, 3 Bde.
1899/1907.
§ 84. Die Stoiker der Kaiserzeit. 277
Grundsätze und Lebensvorschriften sie wiederholt, nicht durch-
aus zusammen. Seneca ist zu tief durchdrungen von der
Schwäche und Sündhaftigkeit der Menschen, deren lebhaft»
Schilderungen bei ihm auffallend an die seines Zeitgenossen,
des Apostels Paulus, erinnern, als daß er den sittlichen Auf-
gaben mit dem Selbstvertrauen des ursprünglichen Stoizismus
entgegentreten könnte. Da er darauf verzichtet, in dieser
Welt einen Weisen zu finden oder selbst einer zu werden,
so ist er geneigt, seine Anforderungen an die Menschen
herabzustimmen; und so ernstlich er verlangt, daß wir uns
durch sittliche Arbeit an uns selbst von allem Äußeren un-
abhängig machen, so schwungvoll er den Wert dieser Un-
abhängigkeit preist, so legt er doch nicht selten den äußeren
Gütern und Übeln auch wieder ein größeres Gewicht bei,
als dem Stoiker eigentlich erlaubt war. Wenn er ferner den
natürlichen Zusammenhang der Menschen im Sinn seiner
Schule nachdrücklich betont, erscheint ihm doch jeder Einzel-
staat, dem großen Menschheits- und Weltstaat gegenüber,
der Aufmerksamkeit des Weisen noch weniger würdig, als
dies bei den älteren Stoikern der Fall war; und in seinem
Kosmopolitismus selbst treten die weicheren Züge, die
Menschenliebe und das Mitleid, stärker hervor als bei jenen.
Sehr beachtenswert ist endlich die Rückwirkung seiner Moral
auf seine Anthropologie und seine Theologie. Je schmerz-
licher er die Macht der Sinnlichkeit und der Affekte emp-
findet, um so stärker sehen wir ihn trotz seinem Materialis-
mus den Gegensatz des Leibes und der Seele anspannen; in
vielen Fällen spricht er eine Sehnsucht nach der Erlösung
von den Banden des Leibes aus und preist den Tod als den
Beginn des wahren Lebens in einer Weise, die mehr plato-
nisch lautet als stoisch; und aus demselben Grund unter-
scheidet er mit Poseidonios (und Piaton) in der Seele (dem
principcile^ ^^ysfioviTiSv) selbst einen vernünftigen und zwei
unvernünftige Teile. Und je höheren Wert nun in dem
Kampfe der Vernunft mit der Sinnlichkeit der Gedanke für
ihn hat, daß diese Vernunft das Göttliche im Menschen, ihr
278 Dritte Periode.
Gesetz der Wille der Gottheit sei, um so bestimmter mußte
er auch die Gottheit als die wirkende Kraft von der an sich
trägen Materie unterscheiden. Daß die Gottheit nur durch
Reinheit des Lebens und Gotteserkenntnis, nicht durch Opfer,
nur im Heiligtum der eigenen Brust, nicht in Tempeln, die
richtige Verehrung erhalte, hat Seneca nachdrücklich aus-
gesprochen, die Ungereimtheit der Mythologie und den Aber-
glauben der bestehenden Götterverehrung als würdiger Ver-
treter des römischen Stoizismus aufs unumwundenste an-
gegrijBFen (vgl. S. 242).
Noch ausschließlicher beschäftigte sich MusoniusRufus
ausVolsinii mit der Moral, ein Stoiker, der unter Nero und
den Flaviern in Rom als Lehrer der Philosophie in hohem
Ansehen stand; aus seinen von Pollio überlieferten Vor-
trägen sind zahlreiche Bruchstücke^) erhalten. Die Tugend
ist nach Musonius der einzige Zweck der Philosophie : . die
Menschen sind sittlich Kranke, der Philosoph ist der Arzt,
der sie heilen soll. Die Tugend ist aber weit mehr Sache
der Übung und Erziehung als der Belehrung ; die Anlage zu
ihr ist uns angeboren und leicht zur Überzeugung zu ent-
wickeln, die Hauptsache ist die Anwendung dieser Über-
zeugung. Der Philosoph braucht daher nur wenige wissen-
schaftliche Sätze. Er soll uns zeigen, was in unsrer Gewalt
ist, und was nicht. In unsrer Gewalt ist aber die Ver-
wendung unsrer Vorstellungen und sonst nichts. Darauf
allein beruht daher unsre Tugend und Glückseligkeit; alles
andre dagegen ist etwas Gleichgültiges, in das wir uns un-
bedingt zu ergeben haben. In der Anwendung dieser Grund-
sätze auf das menschliche Leben begegnen wir einer reinen,
an einzelnen Punkten zur kynischen Einfachheit hinneigen-
den, menschenfreundlichen, auch gegen Beleidiger milden
Sittenlehre ; so nachhaltig aber Musonius' Vorträge auf seine
Zuhörer wirkten, so wenig scheinen sie doch in wissenschaft-
licher Beziehung Neues enthalten zu haben.
^) Heraasgef^ben von Hense 1905.
§ 84. Die Stoiker der Kaiserzeit. 279
Musonius^ Schüler war Epiktetos aus Hierapolis ^), der
erst (noch unter Nero) als Sklave, dann als Freigelassener
in Rom lebte und 94 n. Chr., als Domitian alle Philosophen
aus Kom auswies, nach Nikopolis in Epirus ging; hier hörte
ihn Flavius Arrianus, der den Inhalt seiner Vorträge
aufzeichnete ^). Mit seinem Lehrer sieht auch er die Aufgabe
der Philosophie lediglich in der Erziehung zur Tugend, der
Heilung der sittlichen Gebrechen ; und wenn er auch als die
Grundlage hierfür im allgemeinen das stoische System voraus-
setzt, so legt er doch nicht bloß den dialektischen Unter-
suchungen geringen Wert bei, sondern auch aus der Physik
sind es nur wenige Punkte, deren er für die Begründung
seiner sittlichen Vorschriften bedarf: der Glaube an die
Gottheit und ihre Fürsorge für die Menschen; an die Ver-
nünftigkeit der Welteinrichtung und des Weltlaufs; an die
Gottverwandtschaft des menschlichen Geistes, den er trotz
seines Materialismus, ähnlich wie Seneca, dem Leibe fast
dualistisch entgegenstellt, dessen persönliche Fortdauer nach
dem Tode er jedoch aufgibt. Auch seine Sittenlehre kann
aber einen großen systematischen Apparat um so leichter
entbehren, da er mit Musonius glaubt, die allgemeinen sitt-
lichen Grundsätze seien uns von der Natur eingepflanzt. In
unsrer Gewalt, sagt er mit jenem, ist nur eines: unser Wille,
der Gebrauch unsrer Vorstellungen ; nur auf ihm beruht nach
Epiktet unsre Glückseligkeit, alles andre dagegen behandelt
er als etwas so Gleichgültiges, daß die Unterscheidung des
Wünschenswerten und Verwerflichen kaum noch eine Be-
deutung für ihn hat; und wie er sich hierin dem Eynismus
annähert, so trifft er auch in seiner Beurteilung der Ehe und
des Staatslebens mit ihm zusammen und stellt den wahren
Philosophen gern als Kyniker dar. Andrerseits aber lehrt er
nicht bloß eine unbedingte Ergebung in den Weltlauf, sondern
1) BoNHöPPEB Epiktet u. die Stoa. 1890. Die Ethik d. Ep. 1894.
*) In den /liarQißaC und dem 'jEy;|ff*^^(fiov, hrsg. von Schenkt. 1894;
ed. minor
280 Dritte Periode.
auch die umfassendste und unbeschränkteste Menschenliebe;
und er begründet diese Forderung vor allem durch den Hin-
weis auf die Gottheit und das gleichartige Verhältnis aller
Menschen zur Gottheit. Überhaupt hat seine Philosophie
einen religiösen Charakter: der Philosoph ist ihm ein Diener
und Bote der Gottheit; und wenn er auch der Volksreligion
frei genug gegenübersteht, ist er doch mehr ein ernster und
von frommer Begeisterung erfüllter Sittenprediger als ein
systematischer Philosoph.
Mit Epiktet stimmt nun sein Bewunderer, der treffliche
Marcus Aurelius Antoninus (geb. 121 n. Chr., Mit-
regent 138, Kaiser 161, gest. 180) in seiner ganzen Auffassung
des Stoizismus überein ^): in seiner Abneigung gegen alle
bloß theoretischen Untersuchungen, in seiner religiösen Be-
trachtung der Dinge, in seiner Zurückziehung auf das eigene
Selbstbewußtsein. Der Glaube an die göttliche Vorsehung,
deren Fürsorge für die Menschen sich neben der ganzen
Welteinrichtung auch in aufserordentlichen Offenbarungen
bewährt, führt ihn zur Zufriedenheit mit allem, was die
Naturordnung mit sich bringt, die Götter verhängen. Die
Einsicht in den Wechsel aller Dinge, in die Vergänglichkeit
alles Einzelnen, lehrt ihn, nichts Äußeres als ein Gut zu be-
gehren oder als ein Übel zu fürchten. In der Überzeugung
von dem göttlichen Ursprung und Wesen des menschlichen
Geistes liegt für ihn die Aufforderung, nur dem Dämon in
der eigenen Brust zu dienen, nur von ihm sein Glück zu
erwarten; in der Anerkennung der gleichen Natur bei allen
andern der Antrieb zu der schrankenlosesten, uneigen-
nützigsten Menschenliebe. Was Mark Aurel von Epiktet
unterscheidet, ist neben der verschiedenen Beurteilung der
politischen Tätigkeit, welche sich aus ihrer Lebensstellung
ergab, namentlich dieses, daß jene Rückwirkung des ethi-
schen Dualismus auf die Anthropologie und Metaphysik, die
sich schon bei einem Poseid onios und Seneca bemerkbar
^) Seine Schrift r« €ig iavTov hrsg. von Stich. 1882.
§ 85. Die jüngeren Kyniker. 281
macht (S. 267. 277), bei ihm stärker hervortritt als bei
jenem. Läßt er auch die Seele einige Zeit nach dem Tod
in die Gottheit zurückkehren, so lautet es dagegen mehr
platonisch als altstoisch, wenn er den Geist (vovg) oder das
'^ysf^ovvKov als das tätige und göttliche Prinzip nicht allein
vom Leibe, sondern auch von der Seele oder dem Pneuma
unterscheidet und von Gott sagt, daß er die Geister rein
von den körperlichen Hüllen anschaue, indem seine Vernunft
sich mit ihren Ausflüssen unmittelbar berühre. Der stoische
Materialismus zeigt sich hier im Begriff, in platonischen
Dualismus überzugehen.
§ 85. Die jüngeren Kyniker.
Als eine einseitigere Form dieser stoischen Moralphilo-
sophie ist der Kynismus zu betrachten, der um den Anfang
unsrer Zeitrechnung wieder auftritt. Je mehr die wissen-
schaftlichen Bestandteile der stoischen Philosophie gegen ihre
praktischen Anforderungen zurückgestellt wurden, um so
näher kam sie dem Kynismus, von dem sie ausgegangen
war; und je trauriger die sittlichen und politischen Zustände
seit dem letzten Jahrhundert der römischen Republik sich ge-
stalteten, um so nötiger mochte es scheinen, dem Verderben
und der Not der Zeit in der aufif&Uigen, aber wirkungsvollen
Weise der alten Kyniker entgegenzutreten. Den Schatten
dieser hatte schon Varro in seinen „menippischen Satiren"
heraufbeschworen, um seinen Zeitgenossen die Wahrheit mög-
lichst derb zu sagen; die Briefe des Diogenes^) scheinen
bereits eine wirkliche Erneuerung der kynischen Schule
unterstützen zu sollen. Nachweisen können wir eine solche
aber erst bei Seneca, der unter den Kynikern seiner Zeit
Demetrios mit großen Lobsprüchen hervorhebt. Unter
denen der Folgezeit sind die namhaftesten: Önomaos von
^) Deren Entstehongszeit Marcks Symb. crit ad epistologr. greec.
12 f. mit WahrRcheinlichkeit unter Augustas setzt.
282 l^ritte Periode.
Gadara unter Hadrian; Demonax, der fast 100 jährig um
160 n. Chr. in Athen starb; Peregrinus, später Proteus
genannt, der sich 165 in Olympia öflfentlich verbrannte, und
sein Schüler Theagene. s. Indessen hat diese kultur-
geschichtlich beachtenswerte Schule für die Geschichte der
Wissenschaft nur unmittelbar, als Ausdruck verbreiteter
Stimmungen, Bedeutung. Selbst bei den besten unter seinen
Vertretern von mancherlei Auswüchsen nicht frei, diente
der Kynismus nicht wenigen als Vorwand für ein müßig-
gängerisches, schmarotzerhaftes Leben, ein ungesittetes Be-
nehmen, eine Befriedigung der Eitelkeit durch prahlerisches,
Aufsehen erregendes Auftreten. Neue Gedanken sind uns
von keinem dieser späteren Kyniker überliefert. Ein De-
metrios, und trotz seiner Exzentrizitäten auch ein Peregrinus
(von Gelliüs Noct. Att. XII 11, 1 als vir gravis et constans
gerühmt), sprechen jene sittlichen Grundsätze aus, die durch
die Stoa längst zum Gemeingut geworden waren; ein De-
monax, als Philosoph eklektischer Sokratiker, genoB wegen
seines milden, liebenswürdigen, menschenfreundlichen Cha-
rakters allgemeine Verehrung ; Önomaos macht in den Bruch-
stücken seiner „entlarvten Gaukler" (yo'^Twv (piaqa) einen
scharfen Angriff auf die Orakel und verteidigt im Zusammen-
hang damit die Willensfreiheit gegen die Stoiker. Als Moral-
prediger haben diese Männer und ihre Gesinnungsgenossen
auf die Denk- und Empfindungsweise ihrer Zeit bedeutend
und' im ganzen ohne Zweifel vorteilhaft eingewirkt. Aber
keiner von ihnen hat sich durch eine wissenschaftliche Leistung
bekannt gemacht. Gerade deshalb aber, weil es sich hier
mehr um eine Lebensweise als um wissenschaftliche Ansichten
handelte, wurde dieser spätere Kynismus von dem Wechsel
der philosophischen Systeme so wenig berührt, daß er alle
Schulen außer der neuplatonischen tiberdauerte, bis ins 5. Jahr-
hundert sich erhielt und selbst im Anfang des sechsten noch
einzelne Anhänger zählte.
§ 86. Die peripatetische Schule in der Zeit n. Chr. 283
§ 86. Die peripatetische Schule in der Zeit ii. Clir.
Die peripatetische Schule bewegte sich bis zu ihrer Ver-
schmelzung mit der neuplatonischen im ganzen in der Richtung,
die sie seit Andronikos (S. 270 f.) eingeschlagen hatte. Von
ihrer Geschichte in dieser Zeit sind uns aber nur Bruch-
stücke überliefert. Die erwähnenswertesten unter ihren Mit*
gliedern, deren Namen uns bekannt sind, wären etwa: um
50 n. Chr. Alexander von Ägä, ein Lehrer Neros ; gleich-
zeitig, wie es scheint, Sotion, vielleicht auch Achaikos;
unter Hadrian Aspasios und Adrastos, einer der aus-
gezeichnetsten Peripatetiker; um 150 — 180 Herminos; um
180 Aristokles von Messene und Sosigenes, ein tüch-
tiger Mathematiker; um 200 Alexander von Aphrodisias.
Die Tätigkeit dieser Männer scheint nun ganz überwiegend
in der Erklärung der aristotelischen Schriften und der Ver-
teidigung der aristotelischen Lehre bestanden zu haben, und
was uns von ihnen bei Gelegenheit mitgeteilt wird, zeigt nur
selten eine bemerkenswerte Abweichung von den Ansichten
des Aristoteles. Daß aber die Peripatetiker auch in dieser
späteren Zeit sich Anschauungen nicht ganz verschlossen, die
ihrer Schullehre ursprünglich fremd sind, zeigt das Beispiel
des Aristokles. Wenn dieser angesehene Peripatetiker
annahm, daß der göttliche Geist (vovg) der ganzen Eörper-
welt innewohne und in ihr wirke, und daß er zum individu-
ellen, menschlichen Geist werde, wo er einen zu seiner Auf-
nahme geeigneten Organismus finde, so behandelte er die
Gottheit in stoischer Weise als die Seele der Welt, wofür sie
auch nach seinem Zeitgenossen, dem aristotelischen Apologeten
Athenagoras (SuppHc. c. 5), von den Peripatetikem gehalten
worden wäre. Mit dieser Annäherung an den stoischen Pan-
theismus ist Aristokles' Schüler Alexander von Aphrodisias^
der berühmte „Ausleger", nicht einverstanden. Aber so gut
er die aristotelische liehre kennt und so erfolgreich er sie
verteidigt, so weicht doch auch er in erheblichen Punkten
durch eine allzu naturalistische Auffassung ihrer Bestim-
284 Dritte Periode.
mungen von ihr ab. Er hält nicht bloß mit Aristoteles die
Einzelwesen allein für etwas Substantielles, sondern er fügt
auch in Abweichung von ihm bei, das Einzelne sei an sich
(q>vaei) früher als das Allgemeine, die allgemeinen Begriffe
existierten als solche nur in unserm Verstände, ihr realer
Gegenstand seien nur die Einzeldinge. Er rückt ferner im
Menschen den höheren Seelenteil den niedrigeren dadurch
näher, daß er den „tätigen Novg^ von der menschlichen Seele
abtrennt und von dem auf sie einwirkenden göttlichen Geist
deutet, so daß der Mensch selbst nur die Anlage zum Denken
(den „potentiellen Novg'^) ins Leben mitbringt, die sich erst
später unter jener Einwirkung zum „erworbenen Novg^ ent-
wickelt; und im Zusammenhang damit leugnet er unbedingter
als Aristoteles die Unsterblichkeit der Seele. Er führt end-
lich die Vorsehung ganz und gar auf die IJatur (cptaig) oder
die von den oberen Sphären in die unteren sich verbreitende
Kraft zurück, aus deren Wirkungsweise er jede auf das
menschliche Wohl berechnete Zweckbeziehung ausschließt. —
Nach Alexander ist uns kein namhafter Lehrer der peri-
patetischen Philosophie als solcher bekannt; der Hauptsitz
der aristotelischen Studien wurde noch vor dem Ende des
3. Jahrhunderts die neuplatonische Schule, und wenn auch
einzelne wie Themistios (§ 101) lieber Peripatetiker als
Platoniker heißen wollten, sind sie doch teils nur Aristoteles-
erklärer, teils Eklektiker.
§87. Die Platoniker der ersten Jahrhunderte n.Chr.
Der Hauptsitz des Eklektizismus war aber fortwährend
die platonische Schule. Ihre namhaftesten Mitglieder aus
den zwei ersten Jahrzehnten u. Z. sind: Ammonios, ein
Ägypter, der um 60 — 70 n. Chr. in Athen lehrte; sein
Schüler Pinta rch OS von Chäronea, der bekannte Philosoph
und Biograph, dessen Leben annähernd zwischen 48 und
125 n. Chr. zu fallen scheint; Gaius, Calvisius Taurus
(ein Schüler Plutarchs), Theon, der Smyrnäer, die unter
§ 87. Die Platoniker der ersten Jahrhunderte n. Chr. 285
Hadrian und Antoninus Pius lehrten ; Ä 1 b i n u s , der Schüler
des Gaius, den Galen um 152 in Smyrna hörte, und seine
Zeitgenossen Nigrinus, Maximus aus Tyrus und Apu-
leius aus Madaura; Attikos, welcher ebenso wie Nume-
nios, Kronios, der bekannte Christenfeind Celsus und
wohl auch Severus der Regierungszeit Mark Aureis an-
gehört; in der Nähe dieses Kaisers lebte Attikos' Schüler
Harpokration. Ein Teil dieser Platoniker wollte nun
allerdings von der Versetzung des echten Piatonismus mit
fremdartigen Bestandteilen nichts hören; und dieser Abwehr
der letzteren mußte der Umstand zugute kommen, daß auch
die Akademiker seit Plutarch und wohl auch schon früher
nach peripatetischem Vorgang den Schriften ihres Stifters er-
höhte Aufmerksamkeit zuwandten (vgl. S. 12). So schrieb
Tauros nicht bloß gegen die Stoiker, sondern auch über
den Unterschied der platonischen und der aristotelischen
Lehre, und Attikos war ein leidenschaftlicher Gegner des
Aristoteles. Aber doch leugnete jener die zeitliche Entstehung
der Welt ; und wenn dieser hier, wie sonst, Aristoteles wider-
sprach, näherte er sich dafür in seinen Behauptungen über
die Autarkie der Tugend und seiner einseitig praktischen
Auffassung der Philosophie den Stoikern. Die Mehrzahl der
Akademiker folgte aber fortwährend der eklektischen Richtung
des Antiochos ; nur daß sich ihr immer mehr jene neupytha-
goreischen Spekulationen zugesellten , die uns bei einem
Plutarch, Maximus, Apuleius, Numenios, Celsus u. a. (§ 92)
begegnen werden. Einen Beleg für den Eklektizismus der
Schule gibt nebenden eben Genannten namentlich Albin us,
dessen Abriß der platonischen Lehre ^) eine merkwürdige
Mischung platonischer, peripatetischer und stoischer Bestim-
mungen darstellt. Albinus folgte aber hierbei nur seinem
Lehrer Gaius. Auf dem gleichen Wege treflfen wir, soweit
^) Uns in einem überarbeiteten Auszug unter dem Namen des
„Alkinoos" erhalten. Daß er Albinus gehört, hat Fkeudenthal HeUenist.
Stad. 8. H. nachgewiesen.
28(5 I^ritte Periode.
wir ihn kennen, auchSeverus, und so läfit sich überhaupt
das Übergewicht dieser Denkweise in der Schule nicht be-
zweifeln.
§ 88. Dion, Lukian und Galen.
Zu keiner bestimmten Philosophenschule zählten sich
Dion, Lukianos und Galen, aber Philosophen wollten sie doch
alle drei sein. Wir werden diese Bezeichnung am ehesten
Galen zugestehen. Der bithynische Rhetor Dion von Prusa,
mit dem Beinamen Ghrysostomos^), von Domitian aus
Rom verbannt, von Trajan geschätzt, trat seit seiner Ver-
bannung in der kynischen Philosophen tracht auf; seine
„Philosophie" geht aber nicht über eine populäre Moral
hinaus, die ihrem Inhalte nach ganz achtungswert, aber ohne
wissenschaftlichen Charakter, an altkynische Schriften und
stoische Lehren anknüpft. — Dions Fachgenosse Lukianos
aus Samosata, dessen fruchtbare schriftstellerische Laufbahn
mit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts annähernd zu-
sammenfallt, ist der Gegner aller Schulphilosophie und ver-
folgt namentlich die Eyniker mit seiner Satire ; was er selbst
Philosophie nennt, ist eine Sammlung von moralischen Vor-
schriften , auf die er sich um so mehr beschränken will , da
er die theologischen Fragen für unlösbar hält. — Weit gründ-
licher hat sich der berühmte Arzt Claudius Galenus aus
Pergamon (131 — 201 n. Chr.) mit der Philosophie beschäftigt,
der er auch zahlreiche, für uns zum größten Teil verlorene
Schriften widmete. Ein Gegner Epikurs und der Skepsis,
am meisten mit Aristoteles befreundet, aber auch von ihm
nicht durchaus befriedigt, verbindet er mit der peripatetischen
Lehre manche stoische, in geringerem Maße platonische Be-
stimmungen. Neben den Sinnen, deren Zuverlässigkeit Galen
in Schutz nimmt, wird in den Wahrheiten, die dem Verstand
1) Seine Schriften hrsg. von J. v. Arnim 2. Bde. 1893/96. S. desselben
„Leben und Werke des D. von Prusa" mit einer Einleitung: „Sophistik,
Rhetorik und Philosophie in ihrem Kampfe um die Jugendbildung*' (1898).
§§ 88. 89. Dion, Lukian und Galen. Änesidemos und seine Schule. 287
unmittelbar gewiß sind, eine zweite Quelle der Erkenntnis
anerkannt. Die Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung wird
entschieden behauptet ; aber den tiefer gehenden spekulativen
Fragen legt Galen, der sich selbst ziemlich schwankend über
sie äußert, geringen Wert bei, da fürs Leben und Handeln
nicht viel darauf ankomme. Auch seine Ethik enthält jedoch,
soweit wir sie kennen, nur ältere, von verschiedenen Schulen
entlehnte Bestimmungen.
II. Die jüngeren Skeptiker.
§ 89. Änesidemos und seine Schule^).
Wenn es auch dem Eklektizismus eines Antiochos ge-
lungen war, die Skepsis aus ihrem Hauptsitz, der Akademie,
zu verdrängen, so war sie damit doch nicht dauernd über-
wunden; wie vielmehr der Eklektizismus daraus hervor-
gegangen war, daß die Einwürfe der Skeptiker das Vertrauen
zu den philosophischen Systemen erschüttert hatten, so hatte
er dieses Mißtrauen gegen jede dogmatische Überzeugung
fortwährend zu seiner Voraussetzung, und es konnte nicht
ausbleiben, daß es auch wieder die Form einer skeptischen
Theorie annahm. Doch gelangte diese jüngere Skepsis lange
nicht zu dem Einfluß und der Verbreitung, wie sie früher
die akademische gehabt hatte.
Diese letzte Schule griechischer Skeptiker, die aber ihre
Philosophie nicht eine Lehre und Schule (aigeacg), sondern
nur eine Richtung (aycoyi]) nannte, wollte sich selbst nicht
als einen Abkömmling der akademischen, sondern der pyrrho-
nischen betrachtet wissen. Nachdem die letztere im 3. Jahr-
hundert erloschen war, erneuerte sie, wie erzählt wird, zuerst
Ptolemäos von' Kyrene, seine Schüler waren Sarpedon
und Herakleides; der Schüler des Herakleides Änesi-
^) HiRZEL Untersuch, zu Cicero III, 64 ff. Natorp Forsch, z. Gesch.
d. Erkenntnispr. S. 63 — 163. Haas De philos. Scepticonim successionibus
1875. Vgl. auch die S. 257 Anm. 1 angef. Schriften. Sonstige Literatur
Phil. d. Gr. III 2* S. 1 ff.
288 Dritte Periode.
de mos, der, aus Kdossos gebürtig, in Alexandreia lehrte.
Aber wie sich diese neuen Pyrrhoneer vergeblich bemühten,
einen irgend erheblichen Unterschied zwischen ihrer Lehre
und der neuakademischen nachzuweisen, so ist auch der
Einfluß der letzteren auf Änesidemos (der selbst früher der
akademischen Schule angehört hatte) und seine Nachfolger
unverkennbar; von Ptolemäos und Sarpedon aber wissen
wir nicht, wie sie sich zu der Akademie verhielten, und ob
sie ihre Theorie schon in der gleichen Allgemeinheit vor-
trugen wie Änesidemos ; Aristokles (b. EüS. praep. ev. XIV,
18, 22) bezeichnet nur diesen als den Erneuerer der pyrrho-
nischen Skepsis. Neben der akademischen und pyrrhonischen
Lehre war dabei auch die Schule der „empirischen" Ärzte be-
teiligt, der mehrere von den Wortführern der neuen Pyrrho-
neer angehörten; wenn sich diese Schule auf die erfahrungs-
mäßige Kenntnis der Wirkung der Heilmittel beschränken
wollte, dagegen die Untersuchung über die Ursachen der
Krankheiten für aussichtslos hielt, so brauchte man diesen
Grundsatz nur zu verallgemeinern, um eine unbedingte
Skepsis zu erhalten.
Änesidems Übergang von der Akademie zum Neu-
pyrrhonismus kann auch dann, wenn der Tubero, dem er sein
Hauptwerk („IIvQQOJveioi XoyoL'') widmete, der uns bekannte
Jugendfreund Ciceros ist, nicht wohl vor Ciceros Tod gesetzt
werden, da dieser nicht nur Änesidems Schrift nirgends er-
wähnt, sondern auch die pyrrhonische Schule wiederholt für
erloschen erklärt. Auch unter dieser Voraussetzung ist aber
ein so frühes Auftreten des Änesidemos schwer damit zu
vereinigen, daß zwischen ihm und Sextus (vgl. S. 290) nur
sechs skeptische Scholarchen gezählt werden, und es fragt
sich, ob die Liste der letzteren unvollständig ist oder die
durchschnittliche Dauer ihrer Schulführung eine ungewöhn-
lich lange oder der römische Gönner Änesidems von dem
Tubero Ciceros verschieden war ^).
^) [Während früher die Ansetzung der Lebenszeit des An. zwischen
§ 89. ÄnesidemoB und seine Schule. 289
Der Standpunkt des Änesidemos stimmt in allem wesent-
lichen mit dem Pyrrhons überein. Da wir von der wirk-
lichen Beschaffenheit der Dinge nichts wissen können und
jeder Annahme sich gleich starke Gründe entgegenhalten
lassen, dürfen wir überhaupt nichts und auch unser Nicht-
wissen selbst dicht behaupten; und eben dadurch erlangen
wir die wahre Lust, die Gemütsruhe (araga^ia)] sofern wir
aber zu handeln genötigt sind, werden wir teils dem Her-
kommen, teils unsrer Empfindung und unserm Bedürfnis
folgen. Änesidemos hatte diese Grundsätze in seinen IIv^
^oiveioi loyoi durch eine ausführliche Kritik der herrschenden
Begriffe und Annahmen zu begründen versucht, in der unter
anderm der Schluß auf die Ursachen der Dinge eingehend
bekämpft wurde. Seine Hauptbeweisgründe faßte er in den
zehn (oder bei ihm vielleicht erst neun) „pyrrhonischen
Tropen" zusamnien, die sich alle in der Absicht begegnen,
die Relativität aller unserer Vorstellungen über die Dinge
darzutun, diesen Gedanken aber fast ausschließlich an den
sinnlichen Wahrnehmungen durchführen. Wenn Sextus
Empirikus (Hyp. I 210) behauptet, Änesidemos selbst habe
seine Skepsis nur zur Vorbereitung (odog) für die heraklitische
Philosophie dienen sollen, wenn ferner derselbe ihm (meist
mit der Bezeichnung ^irija/di^juog uLa^'^Hq&^XeiTOv) an Heraklit
sich anlehnende physikalische und anthropologiische Lehren
der ersten Hälfte dea 1. Jahrh. v. Chr. und der ersten Hälfte des 2. n. Chr.
schwankte, ist nunmehr durch den Nachweis H. v. Arnims (Quellenstudien
zu Philo V. AI. 1888 S. 55ff.)> ^»^ Philon Än.s Tropen gekannt hat, die
Zeit um Christi Geburt als untere Grenze gesichert. Aber auch nach oben
hin bildet aus den im Texte angegebenen Gründen Ciceros Tod eine feste
Grenze für das Erscheinen der Hauptschrift. Zeller (Phil. d. Gr. lU 2^
S. 10 ff.) neigt zu der Annahme , daß dieses Erscheinen in die Zeit kurz
vor Christi Geburt zu setzen sei. Demgegenüber weist Goedeckemetfb
Gesch. d. gr. Skepsis S. 211 f., 1 darauf hin, daß Z. das Zeitalter des Sextus
Emp. (s. S. 291), das er seiner Berechnung der Zeit zwischen An. und jenem
zugrunde legt, vermutlich etwas zu spät angesetzt habe. G. selbst bringt
gute Grunde dafür bei, daß An. seine Schrift nicht lange nach Ciceros Tod
veröffentlicht hat]
Zeller, Grundriß. 19
290 Dritte Periode.
beilegt und solche Lehren auch bei TertuUian (de anima)^
dessen Gewährsmann Soranos ist, als änesidemisch angeführt
werden, so folgt daraus nicht, daß Änesidemos vom Skepti-
zismus später zum Heraklitismus übergegangen sei ; man mufi
vielmehr annehmen, daß Änesidemos jene Lehren Heraklits
nur berichtete, ohne sie sich anzueignen, Sextus aber und
Soranos durch die Schrift eines jüngeren Neupyrrhoneers ge-
täuscht worden sind, der Änesidemos' Namen mißbraucht
hatte, um unter seiner Autorität den Pyhrrontsmus zum
stoisch-heraklitischen Dogmatismus zurückzubilden ').
Von den acht Nachfolgern des Änesidemos im Scho-
larchat, deren Namen uns (b. DiOG. IX. 116) überliefert
sind: Zeuxippos, Zeuxis, Antiochos, Menodotos,
Theodas (Theudas) , Herodotos, Sextus, Sartur-
n i n u s , ist uns keiner außer Sextus als Philosoph näher be-
kannt. Dagegen hören wir, daß A g r i p p a (wir wissen nicht,
wann) ^) den zehn Tropen Änesidems fünf zur Seite stellte,
welche sich auf drei Hauptpunkte zurückführen lassen : den
Widerstand der Meinungen, die Relativität der Wahrnehmungen
und die Unmöglichkeit einer Beweisführung, die sich weder
im Zirkel bewegt noch von unbewiesenen Voraussetzungen
ausgeht. Andre gingen in der Vereinfachung noch weiter,
indem sie sich mit den zwei Tropen begnügten, man könne
nichts aus sich selbst erkennen, wie dies der Widerstreit der
1) [Näheres hierüber Phil. d. Gr. m 2* S. 36 flF. Vgl. auch Diels
Dozogr. 209 ff. u. Pappemheim Der angebl. Heraklitism. d. Skeptikers An.
Diese Beantwortung der Frage, wie sich An. zu Heraklit gestellt hat, er-
scheint unter den yerschiedenartigen Lösungen des verwickelten Problems
als die annehmbarste. Eine andre Erklärung des angeblichen Heraklitis-
mus Än.s hat kürzlich Goedeckemeteb Gesch. d. gr. Skeptizism. S. 228 ff.,
teilweise im Anschluß an Natorp und Hirzel, ausfuhrlich zu begründen
versucht.]
^) [Jedenfalls ist er älter als Apellas, der wiederum jünger zu sein
scheint als Zeuxis und Antiochos (Diog. IX, 106). 8. Goedeokemeteb
a. a. O. 238, 1. G. sucht auch darzutun, daß Agr., vielleicht nur unbewußt,
von dem absoluten Skeptizismus Än.s zum dogmatischen Skeptizismus
zurückkehrte.]
§ 89. Änesidemos und seine Schule. 291
Meinungen beweise, ebensowenig aber aus einem andern, da
dieses erst aus sich selbst erkannt sein müfite. Wie sehr
sich aber die Skeptiker zugleich fortwährend um eine all-
seitig erschöpfende Widerlegung des Dogmatismus bemühten,
zeigen die Schriften des Sextus, der als einer der empiri-
schen Ärzte (S. 288) den Beinamen Empirikus führt und
ein jüngerer Zeitgenosse Galens gewesen zu sein scheint, so
daß demnach seine Wirksamkeit um 180—210 v. Chr. (s.
jedoch S. 289 Anm.) fallen würde.
Wir besitzen von ihm noch drei Schriften, von denen
die zweite und dritte hergebrachterweise unter dem un-
passenden Titel „gegen die Mathematiker^ zusammengefaßt
werden: die pyrrhonischen Hypotyposen, die Schrift gegen
die dogmatischen Philosophen (adv. Matth. VII — XI) und die
gegen die f^a^ijfiaTa, Grrammatik, Rhetorik, Mathematik (adv.
Math. I — VI). Weitaus das meiste darin hat aber Sextus ohne
Zweifel teils von älteren Mitgliedern seiner Schule, teils mit
ihnen von den Akademikern, namentlich Karneades (Kleito-
machos), entlehnt : der späteste Name, der in der Hauptschrift
Matth. VII — XI genannt wird, ist der des Änesidemos. Seine
Ausführungen können daher als eine Zusammenfassung alles
dessen gelten, was in seiner Schule zur Verteidigung ihres
Standpunktes vorgebracht zu werden pflegte. Er bestreitet,
nicht selten mit ermüdender Weitschweifigkeit und mit
Gründen von sehr verschiedenem Wert, schon die formale
Möglichkeit des Wissens in seinen Erörterungen über das
Kriterium, die Wahrheit, die Beweisführung und das be-
weisende Zeichen usw. Er greift den Begriff der Ursache
mit allen möglichen Wendungen an; nur gerade die Frage
nach der Entstehung dieses Begriffes läßt er mit seinen Vor-
gängern beiseite. Er wiederholt, indem er sich gegen die Vor-
stellungen über die wirkende Ursache wendet, Karneades'
Kritik der stoischen Theologie. Er findet ebenso auch die
materielle Ursache oder den Körper in jeder Beziehung un-
denkbar. Er kritisiert die ethischen Annahmen, namentlich
die über das Gute und die Glückseligkeit, um zu zeigen,
^ 19*
292 Dritte Periode.
daß auch auf diesem Gebiete kein WisÄen erreichbar sei. Er
zieht endlich aus dresen und vielen andern Betrachtungen
die längst bekannten Ergebnisse: daß wir bei dem Gleich-
gewicht des Für und Wider (der laoad'iveia twv Xoywv) uns
jeder Entscheidung enthalten, auf alles Wissen verzichten
müssen und dadurch allein zu der Gemütsruhe und der
Glückseligkeit kommen , deren ßrlangung der Zweck aller
Philosophie ist; daß uns dies aber nicht hindere, uns in
unserm Handeln nicht allein von der Wahrnehmung, den
natürlichen Trieben, dem Gesetz und Herkommen, sondern
auch von der Erfahrung leiten zu lassen, die uns über den ge-
wöhnlichen Gang der Dinge unterrichtet und uns dadurch in
den Stand setzt, uns gewisse Kunstregeln fürs Leben zu bilden ^).
In ihrer äußeren Ausbreitung blieb die Skepsis des
Änesidemos fast ganz auf den engen Kreis seiner Schule
beschränkt, deren letzter uns bekannter Diadoche (Saturni-
n u s) dem ersten Viertel des 3. Jahrhunderts angehört haben
muß. Ihr einziger weiterer Gesinnungsgenosse, den wir nach-
weisen können, ist der Rhetor und Polyhistor Favorinus
aus Arelate, dessen Leben annähernd 80—150 n. Chr. an-
zusetzen ist. Aber als ein Zeichen der wissenschaftlichen
Stimmung hat diese Denkweise eine allgemeinere Bedeutung,
und wieviel sie von Anfang an dazu beitrug, daß der Eklektizis-
mus der Zeit sich zur neupythagoreischen und neuplatonischen
Spekulation entwickelte, läßt sich nicht verkennen.
III. Die Vorläufer des Neuplatonismus.
§ 90. Einleitung.
In einer Zeit, der an den praktischen Wirkungen der
Philosophie ungleich mehr gelegen war als an dem wissen-
schaftlichen Erkennen als solchem, in der sich weiter Kreise
ein tiefes Mißtrauen gegen die menschliche Erkenntnisfähig-
^) Vgl* die ausführliche Darstellung der Lehre des S. bei Gobdboke-
METBB a. a. O. 8. 266 ff.
§§ 90. 91. DieVorläafer des Neuplatonismus. Die rein ^iech. Schalen. 293
keit bemächtigt hatte und die Neigung allgemein verbreitet
war, die Wahrheit, wo man sie fand, auf Grund des prak-
tischen Bedürfnisses und des unmittelbaren Wahrheitsgefühls,
selbst auf Kosten der wissenschaftlichen Eonsequenz, auf-
zunehmen — in einer solchen Zeit bedurfte es nur eines
mäßigen Anstoßes, um den wahrheitsbedürftigen Geist über
die Grenzen des natürlichen Erkennens zu einer vermeintlich
höheren Quelle der Wahrheit hinauszuführen. Diesen Anstoß
scheint nun das griechische Denken seit dem Ende des
4. Jahrhunderts teils durch die Ausbreitung des Mysterien-
wesens, teils durch jene Berührung mit orientalische^ An-
schauungen erhalten zu haben, deren Mittelpunkt Alexandreia
war; und die Hauptrolle scheint hierbei auf orientalischer
Seite dem Judentum zugefallen zu sein , dessen ethischer
Monotheismus der hellenischen Philosophie ungleich mehr An-
knüpfungspunkte bot als die Mythologie der Volksreligionen.
Alexandreia war es auch allen Anzeichen nach, wo zuerst
jene Spekulation hervortrat, die nach jahrhundertelanger
Entwicklung schließlich im Neuplatonismus ausmündete. Das
letzte Motiv dieser Spekulation bildet die Sehnsucht nach
einer höheren Offenbarung der Wahrheit ; ihre metaphysische
Voraussetzung ein Gegensatz Gottes und der Welt, des
Geistes und der Materie, für dessen Vermittlung man zu
Dämonen und göttlichen Kräften seine Zuflucht nimmt; ihre
praktische Folgerung eine Verbindung der Ethik mit der
Religion , welche einerseits zur Askese , andrerseits zu der
Forderung einer unmittelbaren Anschauung der Gottheit führt.
Daß sich ihre Entwicklung teils auf griechischem , teils auf
jüdisch-hellenistischem Boden vollzog, wurde schon S. 30
bemerkt.
1. Die rein griechischen Schulen.
§ 91. Die neuen Pythagoreer.
Wenn auch die pythagoreische Philosophie als solche
im Lauf des 4. Jahrhunderts erloschen oder mit der plato-
294 I^ritte Periode.
nischen verschmolzen war, erhielt sich doch der Pythagoreis-
mus als eine Form des religiösen Lebens fortwährend^ und die
pythagoreischen Mysterien fanden sogar, wie unter anderm
die Bruchstücke von Dichtern der mittleren Komödie beweisen,
im Zusammenhang mit dem Aufschwung, den die orphisch-
dionysischen Geheimdienste und Spekulationen während der
alexandrinischen Periode im Osten und im Westen nahmen,
weitere Verbreitung. Um das Ende des zweiten oder den
Anfang des ersten vorchristlichen Jahrhunderts scheint zu-
erst, wahrscheinlich in Alexandreia, der Versuch gemacht
worden zu sein, auch die pythagoreische Wissenschaft, durch
spätere Lehren erweitert und befruchtet, neu zu beleben. Die
ersten nachweisbaren Belege dieser Bestrebungen finden sich
in untergeschobenen pythagoreischen Schriften: der halb
stoischen Darstellung der pythagoreischen Lehre, über die
Alexander Polyhistor (um 70 v. Chr., vgl. S. 10) b. Diog.
VIII, 24 f. berichtet, der auf den Namen des Lukaners
Okellos (richtiger Okkelos) gefälschten Schrift negl t^ lov
Ttawog q}ia€iog, welche schon Varro bekannt war, den von
Cicero (Legg. II, 14 f.) angeführten Proömien zu den Gesetzen
des Zaleukos und Charondas. In der Folge wird uns
eine Masse solcher angeblich altpythagoreischen, in Wahr-
heit neupythagoreischen Schriften genannt (gegen 90 von
mehr als 50 Verfassern), und es sind uns von vielen dieser
Schriften Bruchstücke überliefert; unter ihnen treten die des
Archy tas (s. S. 41) an Zahl und Bedeutung hervor^). Der
erste Anhänger der neupythagoreischen Schule, dessen Namen
wir kennen, ist Ciceros Freund, der gelehrte P. Nigidius
Figulus (gest. 45 v. Chr.), an den sich P. Vatinius an-
schloß. Auch die Schule der Sextier stand mit den neuen
Pythagoreern in Verbindung (s. S. 274); bestimmte Spuren
ihres Daseins und ihrer Lehren finden wir zur Zeit des
^) Die überlieferten Bruchstücke des A. sind mit Ausnahme der aus
dem «QfjLovixog stammenden (Diels Vors. I 257 flF.) ohne Zweifel fast sämt-
lich unecht; s. Phil. d. Gr. III 2* S. 121, 1.
§ 91. Die neuen Pythagoreer. 295
Augustus bei Areios Didymos und Eudoros und in König
Jubas II. Vorliebe für pythagoreische Bücher. Der zweiten
Hälfte des ersten christlichen Jahrhunderts gehört die Tätig-
keit des Moderatus aus Gades und des ApoUonios von
Tyana an; beide wirkten durch Schriften für ihre Sache,
ApoUonios durchzog, vielleicht in der Rolle, jedenfalls mit
dem Ruf eines Magiers, das römische Reich. Unter Hadrian
scheint Nikomachos aus G-erasa das Werk, von dem wir
noch Teile besitzen, verfaßt, unter den Antoninen Nume-
n i o s (§ 92) gelebt zu haben ; dem ersten Drittel des 3. Jahr-
hunderts gehört Philostratos (S. 297) an.
In den Lehren, durch welche diese neuen Pythagoreer
die sittlich-religiösen Grundsätze ihrer Partei zu begründen
suchten, verbindet sich mit dem Altpythagoreischen und mit
den für sie noch maßgebenderen, von Piaton und der alten
Akademie, besonders Xenokrates, herstammenden Annahmen
auch solches, was von der peripatetischen und der stoischen
Schule entlehnt ist (denn einen eklektischen Charakter trägt
diese Philosophie wie die der gleichzeitigen Akademiker);
und innerhalb der gemeinsamen Richtung finden sich manche
Abweichungen der einzelnen voneinander. Als die letzten
Gründe werden die Einheit und die Zweiheit {dväg aoQi-
azog) bezeichnet, von welchen jene 4er Form, diese dem Stoff
gleichgesetzt wird; während aber ein Teil der Pythagoreer
die Einheit zugleich für die wirkende Ursache oder die Gott-
heit erklärt, werden von andern beide unterschieden, und die
Gottheit wird teils, wie im platonischen Timäos (vgl. S. 144),
als die bewegende Ursache dargestellt, die Form und Stoff
zusammenführe, teils als das eine, das die abgeleitete Ein-
heit und die Zweiheit erst hervorbringe; das letztere eine
Lehrform, welche den stoischen Monismus mit dem platonisch-
aristotelischen Dualismus verknüpft und dadurch dem Neu-
platonismus vorarbeitet. Derselbe Gegensatz wiederholt sich
auch in den Aussagen über das Verhältnis Gottes und der
Welt: die einen nennen die Gottheit höher als die Vernunft
und stellen sie so weit über alles Endliche, daß sie mit nichts
296 I^ritte Periode.
Körperlichem in unmittelbare Berührung soll treten können;
andere schildern Gott als die Seele, die sich durch den
ganzen Leib der Welt verbreite, und beschreiben diese Seele
auch wohl gar mit den Stoikern als Wärme oder als Pneuma.
Das formale Prinzip soll die sämtlichen Zahlen, denen die
Ideen hier durchaus gleichgesetzt werden, umfassen; über
die Bedeutung der einzelnen Zahlen wurde in der Schule,
die aber auch die gewöhnliche Mathematik eifrig betrieb,
viel spekuliert und phantasiert. An der platonischen Lehre
nahmen die neuen Pythagoreer eine eingreifende Veränderung
vor, indem sie die Zahlen oder Ideen zu Gedanken der
Gottheit machten und deshalb auch nicht als die Substanz
der Dinge, sondern nur als ihre Urbilder betrachtet wissen
wollten; denn nur dadurch wurde es möglich, die Vielheit
der Ideen mit der Einheit der Weltursache zu vereinigen.
Die platonische Schilderung der Materie wird buchstäblich
verstanden, zwischen die Materie und die Ideen mit Piaton
(S. 143) die Weltseele gestellt, deren platonische Konstruktion
der angebliche Lokrer Timäos sich aneignet. — Neben dieser
Metaphysik wurden aber auch alle anderen Teile der Philo-
sophie in neupythagoreischen Schriften behandelt. Ein Bewes
für die logische Tätigkeit der Schule war neben anderm
die pseudoarchyteische Schrift „über das All", welche die
Kategorienlehre meist im Anschluß an Aristoteles, aber in
manchem auch von ihm abweichend, behandelte. In ihrer
Physik folgen die Neupythagoreer zunächst Piaton und den
Stoikern , wenn sie die Schönheit und Vollkommenheit der
Welt preisen, der auch das Übel in ihr keinen Eintrag tue,
und wenn sie namentlich die Gestirne als die sichtbaren
Götter bezeichnen. Von Aristoteles entlehnen sie die Lehre
von der Ewigkeit der Welt und des Menschengeschlechts,
die in der Schule seit Okellos allgemein behauptet wird,
und an ihn schließen ^sie sich auch in ihren Aussagen über
den Gegensatz der himmlischen und der irdischen Welt, die
ünwandelbarkeit der einen und die Veränderlichkeit der
andern, vorzugsweise an. Mit Piaton und den alten Pytha-
§ 91. Die neuen Pythagoreer. 297
goreem .werden die Kaumgrößen aus den Zahlen, die Ele-
mente aus den regelmäßigen Körpern abgeleitet^, daneben
begegnen wir aber auch (bei Okellos) der aristotelischen
Lehre von den Elementen. Die Anthropologie der Schule ist
die platonische, nur der Pythagoreer Alexanders (s. S. 294)
stellt sich auch hier auf die Seite des stoischen Materialis-
mus. Die Seele wird mit Xenokrates als eine sich selbst
bewegende Zahl und auch mit andern mathematischen Sym-
bolen bezeichnet, die platonische Lehre von den Teilen der
Seele, ihrer Präexistenz und Unsterblichkeit, wiederholt 5 die
Seelenwanderung jedoch tritt bei den Neupythagoreern , so-
weit wir sie kennen, auffallend zurück, während sie dem
Dämonenglauben einen bedeutenden Wert beilegen; Niko-
machos bringt die Dämonen bereits mit den jüdischen
Engeln in Verbindung. — Die erhaltenen Bruchstücke aus
den zahlreichen ethischen und politischen Schriften
der „Pythagoreer" bringen nur farblose Wiederholungen
platonischer, noch mehr aber peripatetischer Bestimmungen
mit verhältnismäßig geringen stoischen Zutaten. Bestimmter
tritt die Eigentümlichkeit der neupythagoreischen Schule in
ihren religiösen Lehren hervor. Wir begegnen in diesen
einerseits einer geläuterten Gottesidee und mit Beziehung
auf den höchsten Gott der Forderung eines rein geistigen
Gottesdienstes; anderseits aber wird die volkstümliche Götter-
verehrung vorausgesetzt, der Mantik ein hoher Wert bei-
gelegt und eine Reinheit des Lebens verlangt , zu welcher
die in den pythagoreischen Mysterien üblichen Enthaltungen
gehören. Noch stärker kommt aber dieses Element in jenen
Schilderungen zur Entwicklung, welche in Pythagoras und
ApoUonios von Tyana das Ideal der neupythagoreischen
Philosophie darstellten und uns in den Mitteilungen über
ApoUonios', Moderatus' und Nikomachos' Biographien des
Pythagoras (S. 10) und in Philostratos' (um 220 verfaßtem)
Leben des ApoUonios vorliegen. Die Philosophie erscheint
hier als die wahre Religion, der Philosoph als ein Prophet
und Diener der Gottheit. Die höchste Aufgabe des Menschen,
298 Dritte Periode.
das einzige Mittel, um seine an den Leib und die Sinnlich-
keit gekettete Seele zu befreien, ist die Reinheit des Lebens
und die wahre Gottesverehrung; und wenn dazu freilich
würdige Vorstellungen über die Gottheit und ein tugend-
haftes, dem Wohl unsrer Mitmenschen gewidmetes Leben
gehören, so ist doch nicht minder wesentlich eine Askese,
die wenigstens da, wo sie zu ihrer vollkommenen Ausbildung
gelangt ist, die Enthaltung von Fleisch- und Weingenuß,
die Ehelosigkeit, die leinene Priesterkleidung, das Verbot
des Eides und der Tieropfer, und in den Asketen- und
Philosophenvereinen die Gütergemeinschaft und die übrigen
von der Sage den alten Pythagoreern zugeschriebenen Ein-
richtungen umfaßt» Die augenfälligste Belohnung dieser
Frömmigkeit besteht in jener Wunderkraft und in jenem an
Allwissenheit grenzenden prophetischen Vorherwissen, von
deren Beweisen die Lebensbeschreibungen des Pythagoras
und ApoUonios voll sind.
§ 92. Die pythagorisierenden Platoniker.
Die Geistesrichtung, welche sich in dem Auftreten der
neuen Pythagoreer zuerst ankündigt, fand in der Folge auch
bei den Piatonikern Eingang, von denen jene von Hause
aus den bedeutendsten Teil ihrer Lehren entlehnt hatten.
Schon Eudoros (S. 270) zeigt sich von ihr berührt; be-
stimmter tritt sie bei Plutarch (S. 284) hervor, der wohl
ihr einflußreichster Vertreter im 1. Jahrhundert n. Chr. war^).
Plutarch ist ausgesprochener Platoniker, aber er verschließt
sich auch dem Einfluß der peripatetischen und in einzelnem
trotz aller grundsätzlichen Polemik gegen sie sogar dem der
stoischen Philosophie nicht, und nur den Epikureismus lehnt
er unbedingt ab. Piatons Lehre selbst aber faßt er ganz über-
wiegend in dem Sinn auf, worin ihm die Neupythagoreer
vorangegangen waren. Den theoretischen Fragen als solchen
^) S. Volkmann Leben, Schriften u. Philosophie des PL 2 Tle.
neue Ausg. 1872.
§ 92. Die pythagorisierenden Platoniker. 299
legt er wenig Wert bei und zweifelt auch an der Möglich-
keit, sie zu lösen ; um so lebhafter wendet sich dagegen sein
Interesse alle dem zu, was für das sittliche und religiöse
Leben von Bedeutung ist. Mit einer reinen, der platonischen
entsprechenden Ansicht von der Gottheit tritt er dem stoi-
schen Materialismus und der epikureischen „Gottlosigkeit"
{a&eoxriq) wie dem Volksaberglauben entgegen. Nur um so
weniger kann er aber, um die Beschaffenheit der Erscheinungs-
welt zu erklären, ein zweites Prinzip entbehren; er sucht
jedoch dieses nicht in der an sich eigenschaftslosen Materie,
sondern in der schlechten Weltseele, welche mit dieser von
Anfang an verbunden war und bei der Weltbildung zwar
mit Vernunft erfüllt und geordnet und so in die göttliche.
Seele der Welt umgestaltet wurde, aber als die letzte Quelle
alles Übels fortwährend nachwirkt. Die Weltbildung denkt
er sich, von der Mehrzahl der Neupythagoreer abweichend,
als einen zeitlichen Akt; die göttliche Wirksamkeit in der
Welt stellt er weniger unter der Form der platonischen Ideen-
lehre und der pythagoreischen Zahlenspekulation als unter der
des gewöhnlichen Vorsehungsglaubens dar. Diesem Glauben
legte er, unter Bestreitung Epikurs und des stoischen Fatalis-
mus, den höchsten Wert bei; je weiter er aber die Gottheit
über alles Endliche hinausgerückt hat, um so wichtiger werden
ihm als die Vermittler ihrer Einwirkung auf die Welt die
Dämonen, von denen er viel Abergläubisches zu erzählen
weiß; ihnen überträgt er alles das, was er der Gottheit un-
mittelbar zuzuschreiben sich nicht getraut. Daß er nicht
bloß fünf Elemente annimmt, sondern auch eine Fünfzahl
von Welten wahrscheinlich findet, ist ein ihm eigentümlicher
Zug; was Piaton mythisch über einen Wechsel der Welt-
zustände gesagt hatte, wird von ihm so dogmatisch genommen,
daß er sich dadurch der sonst von ihm bestrittenen stoischen
Lehre annähert. In die platonische Anthropologie mischen
sich einzelne aristotelische Bestimmungen ein; die Willens-
freiheit und die Unsterblichkeit (mit Einschluß der Seelen-
wanderung) werden entschieden festgehalten. Die platonisch-
300 I>"tte Periode.
peripatetische Ethik wird von Piutarch gegen die abweichen-
den Bestimmungen der Stoiker und Epikureer verteidigt und
in einem reinen, edeln und maßvollen Sinn auf die ver-
schiedenen Lebensverhältnisse angewendet, wobei ein Einflufi
des stoischen Kosmopolitismus und eine Beschränkung des
politischen Interesses für jene Zeit sich von selbst ergab.
Der bezeichnendste Zug der plutarchischen Ethik ist aber
ihre enge Verbindung mit der Religion. So rein auch Plu-
tarchs Gottesidee ist , so lebhaft er die Verkehrtheit und
Verderblichkeit des Aberglaubens schildert, so weiß er doch
bei der Wärme seines religiösen Gefühls und dem geringen
Vertrauen, das er der menschlichen Erkenntnis&higkeit
schenkt, auf den Glauben nicht zu verzichten, daß uns die
Gottheit durch unmittelbare Offenbarungen zu Hilfe komme,
die wir um so ungetrübter empfangen, je vollständiger wir
uns im Enthusiasmus aller eigenen Tätigkeit entäußern ; und
indem er nun zugleich die natürlichen Bedingungen und
Hilfsmittel dieser Offenbarungen berücksichtigt, macht es
ihm seine Theorie möglich, den Weissagungsglauben seines
Volkes in ähnlicher Weise zu rechtfertigen, wie dies bei den
Stoikern und Neupythagoreern schon längst üblich war. Und
nicht anders stellt er sich überhaupt zur Volksreligion. Die
Götter der verschiedenen Völker sind, wie er sagt, nur ver-
schiedene Namen zur Bezeichnung eines und desselben gött-
lichen Wesens und der ihm dienenden Kräfte; den Inhalt
der Mythen bilden philosophische Wahrheiten, die Piutarch
mit der hergebrachten Willkür allegorischer Auslegung aus
ihnen herauszuschälen weiß; und so abschreckend und ab-
geschmackt auch viele Kultusgebräuche sein mögen, so
bietet ihm doch, wenn nichts andres ausreicht, schon seine
Dämonenlehre die Mittel, eine scheinbare Rechtfertigung ftlr
sie zu finden. Die pythagoreische Askese wird jedoch von
ihm nicht verlangt.
Mit Piutarch treffen unter den späteren Piatonikern
(S. 285) die zwei geistesverwandten Rhetoren Maximus und
A pul eins zusammen, in deren eklektischem Piatonismus
§ 92. Die pythagorisierenden Platoniker. 301
neben^ dem Gegensatze Gottes und der Materie die Dämonen
als die Vermittler dieses Gegensatzes eine große Rolle spielen.
Mit der neupythagoreischen Lehre von den Urgründen und
den Zahlen bertlhrt sich Theon der Smyrnäer; die Ewig-
keit der Welt, die Annahme, daß die Ideen Gedanken der
Gottheit seien, die Dämonen, deren Obhut die Welt unter
dem Monde anvertraut ist, begegnen uns bei Albinus, die
schlechte Weltseele Plutarchs beiAttikos. Celsus sieht
mit seinen Vorgängern in den Dämonen die Vermittler der
göttlichen Wirksamkeit auf die Welt, welche bei der Er-
habenheit Gottes und seinem Gegensatz zur Materie keine
unmittelbare sein kann ; und er bedient sich dieser Annahme
zur Verteidigung des Polytheismus und der nationalen Kulte.
Noch näher steht den Pythagoreern Numenios aus Apamea
(um 160), der allgemein als solcher bezeichnet wird; die
Grundlage seiner Ansichten bildet jedoch der Piatonismus,
neben dem er sich aber mit weit ausgreifendem Synkretis-
mus auch auf Magier, Ägypter und Brahmanen und auf den
von ihm hochverehrten Moses (Piaton ein Mcoa^g aTztm^wv)
beruft; auch Philon von Alexandreia und christliche Gnostiker
scheint er benützt zu haben. Mit der Unterscheidung Gottes
und der Materie, der Einheit und der unbestimmten Zwei-
heit (s. S. 295) beginnend, setzt er den Abstand zwischen
beiden so groß, daß er eine unmittelbare Einwirkung des
höchsten Gottes auf die Materie für unmöglich hält und des-
halb (wie der Gnostiker Valentin) zwischen beide den Welt-
bildner oder Demiurg als zweiten Gott einschiebt ; die Welt
selbst nannte er den dritten Gott. Mit der Materie dachte
er sich, wie Plutarch, eine schlechte Seele verbunden; aus
ihr sollte der sterbliche Teil der menschlichen Seele stammen,
den er geradezu als zweite, vernunftlose Seele bezeichnete.
Aus dem körperfreien Leben durch ihre Schuld in den Leib
herabgesunken, soll die Seele nach dem Austritt aus ihm,
wenn sie keiner Wanderung durch andre Leiber bedarf (wie
bei den Stoikern nach der Weltverbrennung), mit der Gott-
heit unterschiedslos eins werden. Eine Gabe der Gottheit
302 Dritte Periode.
ist die Einsicht; die für den Menschen das höchste Gut ist;
und diese Gabe wird nur dem zuteil, der sich dem Urguten
mit Ausschluß aller andern Gedanken zuwendet. Gleicher
Richtung, wie Numenios, waren, soweit wir sie kennen, auch
Kronios und Harpokration.
Aus einem ägyptischen Zweige der neupythagoreisch-
platonischen Schule ist, wie es scheint, gegen das Ende des
3. Jahrhunderts die Mehrzahl der Schriften hervorgegangen,
die uns unter dem Namen des Hermes Trismegistos
überliefert sind. Ein Gmndzug dieser Schule, das Bestreben,
die Kluft zwischen der Welt und der Gottheit durch Mittel-
wesen auszufüllen, kommt auch hier zum Ausdruck. Der
höchste Gott ist als der Urheber des Seins und der Vernunft
über beide erhaben; er ist das Gute, das aber doch als
wollendes und denkendes Wesen, als Persönlichkeit gedacht
ist. Zu ihm soll sich der Novg verhalten wie das Licht zur
Sonne, zugleich verschieden und untrennbar von ihm sein.
Vom Novg hängt die Seele (bei den vernunftlosen Wesen die
q)taig) ab, zwischen ihr und der Materie steht die Luft. In-
dem die Materie von Gott geordnet und belebt wurde, ent-
stand die Welt. Von der göttlichen Kraft getragen, mit
sichtbaren und unsichtbaren Göttern und Dämonen erfüllt,
wird sie als der zweite, der Mensch als der dritte Gott be-
zeichnet. Die unverbrüchliche Ordnung des Weltlaufs, die
Vorsehung und das Verhängnis, werden in stoischer Fassung
gelehrt, die platonische Anthropologie mit manchen, unter
sich nicht durchaus übereinstimmenden Zusätzen wiederholt.
Das einzige Mittel, um der Seele die dereinstige Rückkehr
in ihre höhere Heimat zu sichern, ist die Frömmigkeit, die
hier mit der Philosophie zusammenfallt, da sie wesentlich in
Gotteserkenntnis und Rechtschaffenheit besteht. Daß diese
durch Abkehr von der Sinnenwelt bedingt ist, versteht sich
von selbst; doch treten die asketischen Konsequenzen dieses
Standpunkts in den hermetischen Schriften nur vereinzelt
hervor. Um so stärker macht sich hierin als eines ihrer
Grundmotive die Tendenz geltend, die nationale und zunächst
§ 93. Die jüdisch-griechische Philosophie vor Philon. 303
die ägyptische Götterverehrung gegen das Christentum zu
verteidigen, dessen Sieg sie bereits als fast unabwendbar be-
trachten.
2. Die jüdisch-griechische Philosophie.
§ 93, Die jüdisch-griechische Philosophie
vor Philon.
Noch kräftiger als in dem rein griechischen Bildungs-
gebiet entwickelte sich die dualistische Spekulation der neuen
Pythagoreer und Platoniker in den Ländern, die unter
griechischem Einflüsse standen, bei den Juden, deren Religion
ihr von Hause aus die eingreifendsten Anknüpfungspunkte
darbot: den Monotheismus, den Gegensatz Gottes und der
Welt, den Offenbarungs- und Weissagungsglauben, die Vor-
stellungen über die Engel, den Geist Gottes und die göttliche
Weisheit. Selbst in Palästina hatte die griechische Lebens-
und Denkweise, seit dieses Land bald dem ägyptischen, bald
dem syrischen Reich angehörte, eine solche Verbreitung ge-
wonnen, daß sich Antiochos Epiphanes bei seinem Versuch,
die Juden gewaltsam zu hellenisieren (167 v. Chr.), auf eine
zahlreiche und namentlich unter den höheren Klassen ver-
breitete Partei stützen konnte. Ein merkwürdiges Zeugnis
für die Beachtung, welche die griechische Literatur und
insbesondere die stoische Philosophie auch in Palästina fand,
läßt sich dem Koheleth (dem „Prediger Salomo", um 200
V. Chr. entnehmen. Aus derselben Schrift (9, 2. 3, 21) geht
auch hervor, daß schon vor dem Ende des 3. Jahrhunderts,
wahrscheinlich bereits von religiösen Gesellschaften getragen,
in Palästina jene Anschauungen Wurzel gefaßt hatten, die
uns weiter entwickelt bei den Essenern^) (-äern) begegnen ;
^) Die Essener selbst scheinen sich die Frommen (Chasidim, da<Ji^ato&
1. Macc. 7, 18) genannt zu haben und aus zwei aramäischen Formen dieses
Namens die griechischen Bezeichnungen Saaatot und ^Eatrtjvoi entstanden
304 Dritte Periode.
einem Asketen verein , der mit den Neupjthagoreern eine so
durchgreifende Verwandtschaft zeigt, dafi wir nur annehmen
können, er sei unter dem Einfluß des orphisch-pythagoreischen
Mysterienwesens entstanden und habe in der Folge, nach
der Bildung einer neupythagoreischen Philosophie, auch aus
ihr manches in seine Lehre aufgenommen. Im ersten Jahr-
hundert unsrer Zeitrechnung, bei Philon, Josephus und Plinius,
erscheinen die Essener als ein Verein von etwa 4000 Mit-
gliedern, die teils in abgesonderten Niederlassungen, teils in
städtischen Ordenshäusern, in strenger Ordenszucht und
hierarchischer Gliederung, unter eigenen Priestern und Be-
amten, in vollständiger Gütergemeinschaft zusammenlebten-,
ihren Lebensunterhalt verschafften sie sich durch Landbau
und Gewerbe. Sie befleißigten sich der äußersten Einfach-
heit, machten sich Sittenstrenge, Wahrhaftigkeit, unbeschränkte
Mildtätigkeit zum Grundsatz und duldeten in ihrer Mitte
keine Sklaverei. Sie verbanden aber damit auch eine in
eigentümlichen Gebräuchen sich äußernde Reinheit des
Lebens: sie verwarfen den Wein- und Fleischgenuß, den
Gebrauch des Salböls, die Tötung der Tiere und die blutigen
Opfer; sie enthielten sich aller nicht nach den Ordensregeln
bereiteten Speisen ; sie verlangten von ihren Mitgliedern Ehe-
losigkeit und auch von denen einer tieferen Ordnung Be-
schränkung des ehelichen Verkehrs auf den Zweck der Er-
zeugung von Kindern; sie hatten eine ängstliche Scheu vor
jeder levitischen Verunreinigung; sie trugen nur weiße Kleider ;
sie verboten den Eid; sie setzten ihre täglichen Bäder und
gemeinsamen Mahle an die Stelle des nationalen Kultus, von
dem sie ausgeschlossen waren. Sie hatten auch ihre eigenen
Lehren und Lehrschriften, die streng geheim gehalten wurden,
während sie die heiligen Schriften ihres Volks durch eine
angeblich von Moses her in der Partei fortgeerbte, allegorische
Erklärung ihrem Standpunkt anbequemten; sie glaubten an
eine Präexistenz der Seele und ein körperfreies Leben nach
dem Tode ; sie scheinen angenommen zu haben, daß sich der
Gegensatz des Besseren und Schlechteren, des Männlichen
§ 93. Die jüdisch-griechische Philosophie vor Philon. 305
und Weiblichen usf. durch die ganze Welt hindurch-
ziehe; sie legten dem Glauben an Engel (wie andre dem
an Dämonen) eine besondere Bedeutung bei; sie verehrten
in dem Sonnenlicht und den Elementen Offenbarungen der
Grottheit; sie verhießen als höchsten Lohn der Frömmigkeit
und Askese die Gabe der Weissagung, die auch viele von
ihnen besessen haben sollen.
Einen noch günstigeren Boden fand aber die griechische
Philosophie in Alexandreia, diesem großen Ereuzungspunkt
hellenischer und orientalischer Kultur. Wie frühe und all-
gemein sich die ungemein zahlreiche, zu großem Wohlstand
gelangte jüdische Einwohnerschaft dieser Stadt die griechische
Sprache und eben damit notwendig auch manche griechische
Anschauungen angeeignet hatte, erhellt schon daraus, daß
für die ägyptischen Juden nach wenigen Generationen eine
griechische Übersetzung ihrer heiligen Schriften Bedürfnis
geworden war, weil sie sie in der Ursprache nicht mehr
verstanden. Den ersten sicheren Beweis von der Beschäftigung
der alexandrinischen Juden mit griechischer Philosophie liefern
die (von Eüsebios praep. ev. VII, 14, VIII, 10. XIII, 12
niitgeteilten, von Hody, Lobeck, Joel, Elter u. a. mit Un-
recht verdächtigten, von Valckenäer verteidigten)*) Bruch-
stücke aus einer Schrift des Aristo bulos (um 150 v.Chr.).
Dieser jüdische Peripatetiker versichert hier dem König
Ptolemäos Philometor, schon die alten griechischen Dichter
und Philosophen, namentlich Pythagoras und Piaton, hätten
unsre alttestamentlichen Schriften benützt, und um dieser
Versicherung Glauben zu verschaffen, beruft er sich auf eine
Reihe angeblicher Verse eines Orpheus und Lines, Homer
und Hesiod, die zwar aufs unverschämteste gefälscht sind,
die aber weder Clemens noch Eusebios als untergeschoben er-
kannt haben. Andrerseits sucht er aus den alttestamentlichen
Aussprüchen und Erzählungen die Anthropomorphismen, die
seinem vorgeschrittenen Denken zum Anstoß gereichen, durch
^) Näheres s. Phil. d. Gr. III 2* S. 277 ff., 2.
Zeller, Grundrifi. 20
30(5 Dritte Periode.
Umdeutung zu entfernen. Was er aber dabei von eigenen
Ansichten äußert, enthält, soweit es philosopischen Ursprungs
ist, noch keine Hinweisung auf die Form der Spekulation,
die wir später bei Philon finden. Bestimmte Spuren dieser
begegnen uns erst im ersten vorchristlichen Jahrhundert
(wohl um 30 V. Chr.) in dem pseudosalomonischen Buch
der Weisheit, welches neben einigen sonstigen Anklängen
an den Essäismus namentlich in seinen Äußerungen über die
Präexistenz der Seele, über ihre Beschwerung durch den
Leib und ihre Unvergänglichkeit (8, 19 f. 9, 14 ff. u. a.), und
in einer Annahme einer vorweltlichen Materie (11, 17) an
die Platoniker und Pythagoreer erinnert und durch seine
Hypostasierung der göttlichen Weisheit (7, 22 ff.) Philons
Lehre vom Logos vorarbeitet. Der gleichen Zeit gehören
aber auch jene Vorgänger Philons an, deren er selbst öfters
erwähnt, indem er sich auf die von ihnen festgestellten
Regeln der allegorischen Schrifterklärung beruft. In den
Erklärungen^ die er von ihnen anführt, kommt mit einigen
andern stoischen Bestimmungen auch der „göttliche Logos^
vor; ob und wie bestimmt jedoch dieser bereits vor Philon
von der Gottheit selbst unterschieden wurde, wissen wir
nicht. — Die Therapeuten, ein jüdisch-ägyptischer, den
Essenern verwandter, aber ausschließlich auf Erbauung,
allegorische Schrifterklärung und theologische Spekulation
gerichteter Asketenverein, welchen die philonische Schrift
„vom beschaulichen Leben" schildert, stehen auch dann,
wenn diese Schilderung (wie wir annehmen müssen) einer
tatsächlichen Grundlage nicht entbehrt, an geschichtlicher
Bedeutung hinter den Essenern jedenfalls weit zurück.
§ 94. Philon von Alexandreia^).
Philons Geburt fällt etwa zwischen 20 und 30 v. Chr.,
sein Tod nicht lange nach 40 n. Chr. Er war ein treuer
^) S. DlHNE Geschichtl. Darstell, d. jüdisch-alexandrin. Beligionsphil.
1834. Heinze Lehre vom Logos 8. 204 ff. Dbümmond Philo Jadaeus 1888.
§ 94. Pbilon von Alexandreia. 307
Sohn seines Volkes, von der höchsten Verehrung gegen
dessen heilige Schriften und vor allem gegen Moses erfüllt;
jene Schriften hält er nicht bloß im Urtext, sondern auch in
der griechischen Übersetzung für wörtlich inspiriert. Zugleich
ist er abei* der Schüler und Bewunderer der griechischen
Philosophen, eines Piaton und Pythagoras, eines Parmenides,
Empedokles, Zenon und Eleanthes. So ist er denn auch
überseugt, daß sich bei beiden eine und dieselbe Wahrheit
finde, rein und vollkommen freilich nur in den jüdischen
Offenbarungsurkunden ; und er rechtfertigt diese Überzeugung
mit den hergebrachten Mitteln: einerseits mit der Voraus-
setzung, daß die hellenischen Weisen selbst die alttestament-
liehen Schriften benützt haben, andrerseits durch die
schrankenloseste Anwendung der allegorischen Schrift-
erklärung, die ihm in jeder beliebigen Stelle jeden beliebigen
Sinn zu finden erlaubt. Wiewohl er daher nur der Ausleger
der Heiligen Schrift sein will und seine Ansichten fast durch-
aus in dieser Form vorträgt, ist sein System doch in Wahr-
heit eine Verknüpfung griechischer Philosophie mit jüdischer
Theologie, deren wissenschaftliche Bestandteile zum über-
wiegenden Teil aus der ersteren stammen. Die Philosophie,
der er folgt, gehört aber ganz der Form des Piatonismus an,
die sich seit einem Jahrhundert, zunächst in Alexandreia,
entwickelt hatte und sich bald nach Platon, bald nach Pytha-
goras nannte, zu der indessen auch der Stoizismus gerade bei
Platon einen bedeutenden Beitrag geliefert hat.
Den Ausgangspunkt des philonischen Systems bildet die
Idee der Gottheit. Gleich hier kreuzen sich aber die ver-
schiedenen Strömungen, aus denen Philons Spekulation her-
vorgegangen ist Einerseits hat er eine so hohe Vorstellung
von der Erhabenheit Gottes über alles Endliche, daß seiner
Ansicht nach kein Begriff und kein Name seiner Größe
Wendland Ph.s Schrift über d. Vorsehung 1892. Falter Ph. u. Plotin 1906.
Philons Werke hrsg. v. Cohn u. Wendland ed. maior u. minor 1896 ff. (bis
jetzt 5 Bde. erschienen).
308 Dritte Periode.
entspricht; Gott erscheint ihm vollkommener als jede Voll-
kommenheit, besser als das Gute, namen- und eigenschaftslos,
unbegreiflich : wir können, wie Philon sagt, nur wissen, d a 8
er ist, nicht was er ist, nur der Name des Seienden (der
Jehovahnäme) kommt ihm zu. Andrerseits muß aber Gott
alles Sein und alle Vollkommenheit ursprtlnglich in sich
schließen, denn nur von ihm können sie dem Endlichen zu-
fließen , und nur um seiner Vollkommenheit nicht zu nahe
zu treten, sind ihm alle endlichen Prädikate abgesprochen
worden ; namentlich aber muß er als die letzte Ursache von
allem gedacht, es muß ihm ein unaufhörliches Wirken zu-
geschrieben und alle Vollkommenheit in den Geschöpfen von
ihm hergeleitet werden; wobei es sich für den Platoniker
und den jüdischen Monotheisten von selbst versteht, daß
diese Wirksamkeit nur den besten Zwecken dienen kann,
daß von den zwei Grundeigenschaften Gottes, Macht und
und Güte, die zweite sein Wesen noch unmittelbarer aus-
drückt als die erste.
Um nun diese absolute Wirksamkeit Gottes in der Welt
mit seiner absoluten Überweltlichkeit zu vereinigen, flüchtet
sich Philon zu einer Annahme, die zwar auch andern in jener
Zeit nicht fremd war (vgl. S. 272. 299—302), die aber vor
Plotin keiner so systematisch ausgebildet hat wie er: der
Annahme von Mittelwesen, für deren nähere Bestimmung ihm
neben dem Engel- und Däraonenglauben und neben Piatons
Aussagen über die Weltseele und die Ideen, vor allem die
stoische Lehre von den durch die Welt sich verbreitenden
Ausflüssen der Gottheit zum Vorbild gedient hat. Er nennt
diese Mittel wesen Kräfte (dvvdfieig) und beschreibt sie
einesteils als Eigenschaften der Gottheit, als Ideen oder Ge-
danken Gottes, als Teile der allgemeinen in der Welt walten-
den Kraft und Vernunft, andernteils aber zugleich als Diener,
Gesandte und Trabanten der Gottheit, als Vollstrecker ihres
Willens, als Seelen, Engel und Dämonen. Diese beiden Dar-
stellungen miteinander auszugleichen, auf die Frage nach der
Persönlichkeit der Kräfte eine klare Antwort zu geben, war
§ 94. Philon von Alexandreia. 309
ihm nicht möglich. Alle diese Kräfte fassen sich aber in
einer y in dem Logos, zusammen. Er ist der allgemeinste
Vermitder zwischen Gott und der Welt, die Weisheit und
Vernunft Gottes, die Idee, die alle Ideen, die Kraft, die alle
Kräfte umfaßt; der Stellvertreter und Gesandte Gottes, das
Organ der Weltschöpfung und Weltregierung, der oberste
der Engel, der erstgeborene Sohn Gottes, der zweite Gott
(devregog d'edg, x^eög im Unterschied von 6 d-eog). Er ist das
Urbild der Welt und die Kraft, die alles in ihr schafft, die
Seele , die sich mit dem Leibe der Welt bekleidet wie mit
einem Gewand. Er hat mit einem Wort alle die Eigen-
schaften, welche dem stoischen Logos (s. S. 230) zukommen,
sobald man sich diesen von der Gottheit als solcher unter
schieden und von den Zügen, die sich aus dem stoischen
Materialismus ergaben, befreit denkt. Seine Persönlichkeit ist
aber ebenso unsicher, wie es die der „Kräfte" überhaupt ist;
und sie muß es sein, denn nur solange sein Begriff zwischen
dem eines persönlichen, von Gott verschiedenen Wesens und
dem einer unpersönlichen göttlichen Kraft oder Eigenschaft
in der Schwebe bleibt, eignet er sich, die unlösbare Aufgabe,
der er dienen soll, wenigstens scheinbar zu lösen, es begreif-
lich zu machen, wie Gott der Welt und allen ihren Teilen
mit seiner Kraft und Wirksamkeit gegenwärtig sein kann,
wenn er doch mit seinem Wesen schlechterdings außer ihr
ist und durch jede Bewegung mit der Materie beflekt würde.
Aus der in ihr wirkenden göttlichen Kraft läßt sich aber
die Beschaffenheit der Welt nur teilweise begreifen. Um die
Übel und Mängel des endlichen Daseins, namentlich aber um
das Böse zu erklären, das der Seele durch ihre Verbindung
mit dem Leib anhaftet, müssen wir noch ein zweites Prinzip
voraussetzen, und dieses weiß Philon mit Piaton nur in der
Materie zu finden. Auch in seiner näheren Beschreibung
der Materie folgt er Piaton, nur daß er sie, wie die meisten,
als raumerfüllende Masse auffaßt, und so bald mit Piaton
als das ju^ ov, bald iixlf; ^en Stoikern als ovala bezeichnet.
Aus der chaotischen i^ijv i*upg der Stoffe bildete Gott durch
310 Dritte Periode.
Vermittlung des Logos die Welt, welche daher einen Anfang,
aber kein Ende hat. Die Welt denkt sich Philon mit den
Stoikern ganz von der in ihr wirkenden Kraft Qottes ge-
tragen, die sich am herrlichsten in den Gestirnen, diesen sicht-
baren Göttern, zur Anschauung bringt; ihre Vollkommenheit
verteidigt er im Sinne der stoischen Theodizee, unterläßt aber
auch nicht, den Gedanken, dafi alles nach Zahlen geordnet
sei, durch häufige Anwendung pythagoreischer Zahlensymbolik
zur Geltung zu bringen. In seiner Anthropologie, dem
Teil der Physik, an dem ihm weitaus am meisten gelegen ist,
hält er sich an die platonische und pythagoreische Über-
lieferung über den Fall der Seelen, das körperlose Fortleben
der geläuterten Seelen nach dem Tode, die Wanderung der
reinigungsbedürftigen, die Gottverwandtschaft des mensch-
lichen Geistes, die Teile der Seele, die Freiheit des Willens.
Das Wichtigste ist ihm aber der von ihm sehr schroff ge-
faßte Gegensatz der Vernunft und der Sinnlichkeit. Der Leib
ist, wie er sagt, das Grab der Seele, die Quelle aller der
Übel, unter denen sie seufzt; durch ihre Verbindung mit dem
Leibe ist jedem Menschen die Neigung zur Sünde angeboren,
von der sich niemand von seiner Geburt bis zu seinem Tode
frei erhalten kann. Möglichste Lossagung von der Sinnlich-
keit ist daher eine Grundforderung der philonischen Ethik;
er verlangt mit den Stoikern Apathie, gänzliche Ausrottung der
Affekte, er läßt mit ihnen nur die Tugend für ein Gut gelten,
verwirft alle sinnliche Lust, redet kynischer Einfachheit das
Wort, eignet sich die Lehre derKyniker von den Tugenden und
den Affekten, ihre Schilderung des Weisen, ihre Unterscheidung
der Weisen und der Fortschreitenden an, bekennt sich mit
ihnen zum Weltbürgertum. Aber an die Stelle des stoischen
Selbstvertrauens tritt hier das Vertrauen auf die Gottheit.
Gott allein wirkt in uns alles Gute, er allein kann die Tugend
in uns pflanzen, nur wer das Gute um seineswillen tut, ist
wahrhaft gut, nur aus dem Glauben stammt die Weisheit,
auf der alle Tugend beruht. Bei dieser Tugend selbst aber
legt Philon weit weniger Wert auf das Handeln als auf das
§ 95. Neuplatonismus. 311
Erkennen oder richtiger auf das innere Leben des frommen
Gemüts. Denn nicht bloß das tätige („politische^) Leben
widerstrebt ihm, weil es uns in äußere Dinge verwickelt und
von uns selbst abzieht, sondern 'auch die Wissenschaft hat
für ihn nur als Hilfsmittel der Frömmigkeit einen Wert.
Auch die religiöse Vollkommenheit hat aber verschiedene
Stufen. Ihrer Entstehung nach .steht die „asketische^, d. h.
auf Übung beruhende Tugend (die Jakobs) tiefer als die,
welche sich auf Unterricht gründet (die Abrahams), und beide
stehen tiefer als die, welche unmittelbar aus einer gott-
begnadeten Natur hervorgeht (die Isaaks). Ihr letztes und
höchstes Ziel hat die Tugend nur an der Gottheit, und dieser
kommen wir um so näher, je unmittelbarer wir uns mit ihr
berühren. So unentbehrlich daher auch die Wissenschaft sein
mag: das Höchste erreichen wir nur dann, wenn wir, über
alle Vermittlungen, selbst den Logos, hinausgehend, im Zu-
stand der Bewußtlosigkeit, in der Ekstase, die höhere Er-
leuchtung in uns aufnehmen und so die Gottheit in ihrer
reinen Einheit anschauen und in uns wirken lassen. Dieses
Hinausstreben über das bewußte Denken war der griechischen
Philosophie bis dahin fremd ; aber auch nach Philon dauerte
es noch zwei Jahrhunderte, bis sie sich dazu entschloß.
Dritter Abschnitt.
Der Neuplatonismus.
§ 95. Entstehung, Charakter und Entwicklung
des Neuplatonismus.
Die Anschauungen, welche in der platonisch-pythagorei-
schen Schule seit Jahrhunderten immer ausschließlicher zur
Geltung gekommen waren, wurden im 3. Jahrhundert unsrer
Zeitrechnung zu einem großartigen System entwickelt, für
dessen Aufbau neben (J^j. platonischen nicht bloß die ari-
312 Dritte Periode.
stotelische, sondern auch die stoische Philosophie in be-
deutendem Umfang benützt wurde; innere und äußere Gründe
lassen vermuten, daß auch Philons Lehre auf seine Ent-
stehung mittelbar oder unmittelbar eingewirkt habe. Hatten
schon die Vorgänger des Neuplatonismus die Bedeutung der
Philosophie darin gefunden, daß sie uns mit der Gottheit in
Verbindung bringe, uns zu dem unendlichen, über alles Sein
und Begreifen erhabenen Wesen hinführe, so wird jetzt der
Versuch gemacht, die Gesamtheit der endlichen Dinge, mit
Einschluß der Materie, aus einem durchaus unerkennbaren
und bestimmungslosen Urwesen abzuleiten und dadurch die
stufenweise , bis zur substantiellen Einigung mit jenem Ur-
wesen fortgehende Erhebung zu ihm vorzubereiten. Das
praktische Ziel und das letzte Motiv dieser Spekulation ist
dasselbe, welches die Platoniker und Pythagoreer bisher schon
im Auge gehabt hatten ; ebenso geht sie mit diesen von dem
Gegensatz des Unendlichen und des Endlichen, des Geistes
und der Materie aus. Aber es wird nicht bloß dieser Gegen-
satz aufs äußerste angespannt und andrerseits die Einheit mit
Gott, zu welcher der Mensch gelangen soll, auf die Spitze
getrieben, sondern es wird zugleich gefordert, daß der Gegen-
satz selbst aus der Einheit methodisch abgeleitet, die Ge-
samtheit der Dinge als ein aus der Gottheit in geordneter
Abfolge hervorgehendes und zu ihr zurückkehrendes Ganzes
begriffen werde. Der dualistische Spiritualismus der plato-
nischen Schule verbindet sich hier mit dem stoischen Monis-
mus zur Erzeugung eines Neuen; so wenig auch die Urheber
dieser Spekulation selbst etwas andres sein wollten als treue
Schüler und Ausleger Piatons.
Als Stifter der neuplatonischen Schule wird A m m o n i o s
Sakkas bezeichnet, der erst Tagelöhner war (daher der Bei-
name 2aY,Y.ag = aa%xoq)6Qog), später die platonische Philo-
sophie in Alexandreia mit Auszeichnung lehrte und um
242 n. Chr. gestorben zu sein scheint, der aber keine
Schriften hinterlassen hatte. Indessen legen ihm nur un-
zuverlässige Berichte aus dem 5. Jahrhundert (Hierokles
§ 95. Neuplatonismus. 31 3
und wahrscheinlich aus ihm NemesiOS) die ünterscheidungs-
lehren des plotinischen Systems bei. An urkundlichen Nach-
richten über seine Lehre fehlt es uns gänzlich; von seinen
Schalern hatte Or igen es (mit dem gleichnamigen christ-
lichen Theologen, der Ammonios gleichfalls gehört haben
soll, nicht zu verwechseln) die Gottheit, welche Plotin über
den Novg hinausrückt, von diesem noch nicht unterschieden
und auch ihre Unterscheidung von dem Weltschöpfer (s. S. 2—)
bestritten; ein zweiter von ihnen, Cassius Longinus, der
bekannte Kritiker, Philolog und Philosoph ^) (den Aurelian
273 hinrichten ließ), war mit Plotins Auffassung der plato-
nischen Lehre gleichfalls nicht einverstanden und verteidigte
gegen ihn den Satz, daß die Ideen außer dem (göttlichen)
Novg für sich existieren. Dies beweist, daß die Lehre des
Ammonios sich von der Plotins noch wesentlich unterschied,
wenn sie ihr auch immerhin näher gekommen sein mag als
die der früheren Platoniker ^). Der wirkliche Begründer der
neuplatonischen Schule war Plotin os. Dieser hervorragende
Denker war 204/5 n. Chr. zu Lykopolis in Ägypten geboren,
hatte 11 Jahre lang den Unterricht des Ammonios genossen,
ging 244/5 nach Rom und begründete hier, wegen seines
Charakters allgemein verehrt und auch von dem Kaiser
Gallienus und seiner Gemahlin Salonina hochgeschätzt, eine
Schule, der er bis zu seinem Tod vorstand. Er starb 270 in
Campanien. Seine hinterlassenen Schriften gab Porphyrios,
der auch eine uns noch erhaltene Beschreibung seines Lebens
verfaßt hat, in sechs Enneaden heraus®). Nach Plotin be-
^) Die uns unter dem Titel JiovoaCov ^ Aoyylvov negl vxpovs über-
lieferte Schrift rührt nicht von dem Neuplatoniker L. her; sie ist wahr-
scheinlich im Anfange des 1. Jahrhunderts n. Chr. verfaßt.
2) Vgl. Archiv f. Gesch. d. Phil. VII, 295 flf.
^) Ausgaben von Marsilius Ficinüs (1492 , später wiederholt
abgedruckt, zuletzt Basel 1580. 1615), Creüzer (Oxf. u. Par. 1855),
A. KiKCHHOFF (1856), H. F. MiT^LB« (2 Bde. 1878/80), Volkmann (2 Bde.
1883 f.). Über Pl.s System : J^^ ^^^ Philosophie d. Plot. 1854. A. Richter
Neupiaton. Studien. 5 Hefib^ cJüfß' ^* ^- ^^'^'^^'^ Plotin. Studien 1883,
314 Dritte Periode.
zeichnen Jamblichos und die Schule von Athen die be-
deutendsten Wendepunkte in der Geschicihte des Neupiatonis-
mus. Durch jenen wurde die Lehre gatiz in den Dienst der
positiven Religion gezogen , durch diese . mit Hilfe der ari-
stotelischen Philosophie zu einer mit logischer Meisterschaft
ausgeführten formalistischen Scholastik umgebildet.
§96. Das System Plotins. Die tibersinnliche Welt.
Plotins System geht ähnlich, wie das Philons, von der
Gottesidee aus und kommt in der Forderung der Einigung
mit der Gottheit zum Abschluß. Zwischen diesen Polen liegt
alles, was einerseits über den Hervorgang des abgeleiteten
Seins aus der Gottheit, andrerseits über seine Rückkehr zur
Gottheit gelehrt wird.
In seiner Fassung der Gottesidee treibt nun Plotin den
Gedanken der Unendlichkeit und Überweltlichkeit Gottes
auf die äußerste Spitze. Indem er voraussetzt, daß das Ur-
sprüngliche außer dem Abgeleiteten, das Gedachte außer
dem Denkenden, das Eine außer dem Vielen sein müsse,
sieht er sich genötigt, den letzten Grund alles Wirklichen
und Erkennbaren schlechthin über alles Sein und Erkennen
hinauszurücken. Das Urwesen (to TtQwzov) ist ohne Grenze,
Gestalt und Bestimmung, das Unbegrenzte oder Unendliche
{arteiQOv); nicht bloß keine körperliche, sondern auch keine
geistige Eigenschaft, weder Denken noch Wollen noch Tätig-
keit kann ihm beigelegt werden. Denn alles Denken hat
den Unterschied des Denkenden vom Denken und vom Ge-
dachten, alles Wollen den Unterschied des Wesens und der
Tätigkeit, also eine Vielheit in sich, alle Tätigkeit richtet
sich auf ein andres; das Erste aber muß eine in sich ge-
schlossene Einheit sein. Um ferner zu denken oder zu wollen
oder tätig zu sein, muß man dessen bedürfen, worauf die
Tätigkeit geht; die Gottheit aber bedarf keines andern. Sie
und in mehreren andern Abhldgen. Drews PI. u. d. Untergang d. antiken
Weltanschauung 1907.
§ 96. Plotin: die übersinnliche Welt. 315
bedarf aber auch ihrer selbst nicht und kann sich nicht von
sich selbst unterscheiden, wir können ihr daher kein Selbst-
bewußtsein zuschreiben. So tritt die von Karneades (S. 2 — )
vorbereitete Leugnung der Persönlichkeit Gottes hier zuerst
mit grundsätzlicher Entschiedenheit auf. Es läfit sich dem-
nach der Gottheit überhaupt keine bestimmte Eigenschaft
beilegen: sie ist das, was über alles Sein und alles Denken
hinausliegt. Zu ihrer positiven Bezeichnung würden sich die
Begriffe des Einen und des Guten noch am ehesten eignen;
aber doch sind auch sie unzureichend; denn jener drückt
nur die Verneinung der Vielheit aus, dieser nur eine Wirkung
auf andres. Die Gottheit ist daher zwar der Grund, auf den
wir alles Sein, die Kraft, auf die wir alle Wirkungen zurück-
fuhren müssen; aber von ihrem Wesen können wir nichts
wissen, als dafi es von allem Endlichen und uns Bekannten
durchaus verschieden ist
Sofern nun die Gottheit die Urkraft ist, muß sie alles
hervorbringen; da sie aber ihrem Wesen nach über alles
erhaben ist und keines andern bedarf, kann sie sich weder
substantiell an ein andres mitteilen noch die Erzeugung des
andern sich zum Zweck setzen; jene Hervorbringung darf
weder (mit den Stoikern) als eine Verteilung des göttlichen
Wesens, sein teilweises Übergehen in das Abgeleitete, noch
darf sie als ein Willensakt gedacht werden. Allein diese Be-
stimmungen in einem klaren und widerspruchslosen Begriff
zu vereinigen, will Plotin nicht gelingen; er hilft sich daher
mit Bildern: das Erste, sagt er, fließe wegen seiner Voll-
kommenheit gleichsam über, strahle andres von sich aus usw.
Der Hervorgang des Abgeleiteten aus dem Urwesen soll natur-
notwendig, aber für dieses selbst in keiner Weise Bedürfnis,
mit keiner Veränderung in ihm selbst verbunden sein. Das
Abgeleitete hängt daher zwar durchaus an dem, aus dem es
entsprungen ist, und strebt ihm zu, es hat kein Sein, das
nicht von jenem in ihm gewirkt wäre, es ist von ihm er-
füllt und getragen, hat seinen Bestand nur daran, daß es
von ihm hervorgebracljt Wi^d*, aber das Hervorbringende
316 I>ritte Periode.
bleibt seinerseits ungeteilt in sich und außer dem Hervor-
gebrachten, und Plotins Systems kann insofern weniger ein
Emanationssjstem als ein System des dynamischen Pan-
theismus genannt werden. Weil nun das Frühere seinem
Wesen nach aufier dem Späteren bleibt, ist dieses notwendig
unvollkommener als jenes, seine blofie Abschattung und Ab-
spiegelung; und indem sich dieses Verhältnis bei jeder neuen
Erzeugung wiederholt, jedem seine Teilnahme au dem Höheren
durch seine nächste Ursache vermittelt ist, bildet die Gesamt-
heit der von dem Urwesen abstammenden Wesen eine Stufen-
reihe abnehmender Vollkommenheit, und diese Abnahme setzt
sich so lange fort, bis am Ende das Sein sich zum Nichtsein,
das Licht zur Finsternis abschwächt.
Das erste Erzeugnis des Urwesens ist der Novgj das
Denken, welches zugleich das höchste Sein ist; wie ja schon
Plotins Vorgänger das wahrhaft Seiende, die Ideen, in das
göttliche Denken verlegt hatten, während Piaton dem Seien-
den Vernunft und Denken zuschrieb. Plotin war zu dem
„Ersten** gekommen, indem er über alles Sein und Denken
hinausging; im Herabsteigen von jenem müssen diese die
nächste Stelle nach ihm einnehmen. Das Denken des Novg
ist nicht diskursives, sondern zeitloses, in jedem Augenblick
volbndetes, anschauendes Denken; seinen Gegenstand bildet
teilo das Erste (von dem aber freilich auch dieses voU-
konimenste Denken kein vollkommenes, durchaus einheit-
liches Bild gewinnen soll), teils, wie beim aristotelischen
Novg, es selbst als das Gedachte, das Seiende ; dem dagegen,
was unter ihm ist, wendet es sich nicht zu. Sofern der Novg
das höchste Sein ist, kommen ihm die fünf Kategorien des
Intelligibeln zu, die Plotin Piatons „Sophist" entnommen hat:
Sein, Bewegung, Beharren (atdaig), Identität und Unterschied.
Die späteren Neuplatoniker jedoch, seit Porphyrios, ließen
diese Kategorien des Intelligibeln fallen und begnügten sich
mit den zehn aristotelischen Kategorien, gegen die Plotin
ebenso wie gegen die vier stoischen manche Einwürfe er-
hoben hatte, und die er nur für die Erscheinungswelt gelten
§ 96. Plotin: die übersinnliche Welt. 317
ließ. Das Gemeinsame, dais durch die Kategorien näher be-
stimmt wird, nennt Plotin das Unbegrenzte oder die intelli-
gible Materie. In ihm liegt der Grund der Vielheit, welche
der Novg im Unterschied vom Ersten in sich hat, und ver-
möge deren er sich in die übersinnlichen Zahlen, die Ideen,
auseinanderlegt, von denen nicht allein jeder Gattung, sondern
auch jedem Einzelwesen eine als das Urbild seiner indivi-
duellen Eigentümlichkeit entsprechen soll. Diese Ideen werden
aber zugleich in einer bei Plotin noch beliebteren Darstellungs-
form mit Philon als wirkende Kräfte oder Geister (vol, voegal
dvvafxeig) gefafit. Und da sie nun nicht außer einander sind,
sondern ineinander, ohne sich jedoch deshalb zu vermischen,
schließen sie sich auch wieder zur Einheit der intelligiblen
Welt (xoofiog vorjfc6g\ des platonischen avxotf^v, zusammen,
die als das fieich der Ideen auch das der Schönheit, das
Urschöne ist, in dessen Nachbildung jede andre Schönheit
besteht
Aus der Vollkommenheit des Novg folgt nun von selbst,
daß er gleichfalls ein andres aus sich erzeugen muß, und
dieses sein Erzeugnis ist die Seele. Auch sie gehört noch
zu der göttlichen, übersinnlichen Welt: sie hat die Ideen in
sich und ist selbst Zahl und Idee; sie ist als Erscheinung
des Novg Leben und Tätigkeit, und sie führt wie jener ein
ewiges, zeitloses Leben. Aber sie steht bereits an der Grenze
jener Welt: an sich selbst unteilbar und unkörperlich, neigt
sie sich doch zugleich zum Teilbaren und Körperlichen, für
das sie ihrer Natur nach sorgt und ihm die vom Novg aus-
gehenden Wirkungen vermittelt. Sie ist deshalb auch nicht
so eigenartig wie der Novg, Die erste Seele oder die Welt-
seele ist nicht bloß ihrem Wesen nach außer der Körperwelt,
sondern sie wirkt auf diese auch nicht unmittelbar ein ; und
wenn ihr Plotin auch Selbstbewußtsein zuschreibt, findet er
doch die Wahrnehmung, Erinnerung und Reflexion ihrer
nicht würdig. Diese erste Seele strahlt aber eine zweite von
sich aus, welche Plotin die Natur nennt, und erst sie ist mit
dem Leibe der Welt ebenso verbunden wie unsre Seele mit
318 Dritte Periode.
unserm Leibe. Jede von diesen Seelen erzeugt und umfaßt
aber eine Vielheit besonderer Seelen, die in ihr als ihrem
Ursprung verknüpft sind und sich von ihr in die einzelnen
Teile der Welt erstrecken. Mit diesen Teilseelen ist die untere
Grenze der übersinnlichen Welt erreicht; stmgt die göttliche
Kraft noch weiter herab, so entsteht als ihre unvollkommenste
Erscheinung die Materie.
§ 97. Plotins Lehre von der Erscheinungswelt.
In seiner Ansicht von der Erscheinungswelt und ihren
Gründen schließt sich Plotin zunächst an Piaton an. Die
Sinnenwelt ist, im Gegensatz zu der übersinnlichen, das Ge-
biet des geteilten und veränderlichen, der Naturnotwendig-
keit, dem Raum- und Zeitverhältnis unterworfenen, der
wahren Wirklichkeit entbehrenden Seins. Der Grund davon
kann nur in der Materie liegen, die wir als das allgemeine
Substrat alles Werdens und aller Veränderung voraussetzen
müssen. Sie ist, wie sie schon Piaton und Aristoteles be-
schrieben, das Form- und Bestimmungslose, das Schattenbild
und die bloße Möglichkeit des Seins, das Nichtseiende, die
Beraubung, die Penia. Sie ist aber auch — und darin geht
Plotin über Piaton hinaus — das Böse, ja das Urböse, und
sie ist dies eben, weil sie das Nichtseiende ist, denn alles
Böse wird von Plotin auf einen Mangel, ein Nichtsein zurück-
geführt; aus ihr stammt alles Böse in der Körper weit und
aus dem Leibe das in der Seele. Trotzdem ist sie aber
notwendig: das Licht mußte schließlich in der weitesten
Entfernung von seinem Ursprung zur Finsternis, der Geist
zur Materie werden, die Seele das Körperliche als ihren Ort
hervorbringen. Indem die Seele das, was unter ihr ist, er-
leuchtet und gestaltet, tritt sie zu diesem in Beziehung; in-
dem sie das Übersinnliche in die Materie überträgt, die es
nur sukzessiv zu fassen vermag, erzeugt sie die Zeit als die
allgemeine Form ihres eigenen und des Weltlebens. Diese
Tätigkeit der Seele (oder der Natur, vgl. S. 317) ist in-
dessen nicht ein Wollen, sondern ein bewußtloses Schaffen,
§ 97. Plotin: Erscheinungswelt. 3igf
eine notwendige Folge ihres Wesens, und eben deshalb ist
die Welt ohne Anfang und Ende, wie Plotin mit Aristoteles
lehrt, während er zugleich nach stoischem Vorgang eine
periodische Wiederkehr derselben Weltzustände annimmt.
So notwendig aber jene Tätigkeit ist, so ist sie doch immer
ein Herabsinken der Seele in die Materie, und sie wird des-
halb auch als ihr Fall bezeichnet.
Sofern nun diese Welt eine materielle ist, wird sie von
Plotin als ein schattenhaftes Abbild der wahrhaft wirklichen,
übersinnlichen betrachtet. Da es aber doch die Seele ist, die
sie schafft und ihr die Züge ihres Urbilds aufdrückt, ist alles
in ihr nach Zahlen und Ideen geordnet, durch die schöpfe-
rischen Begriffe (die koyoc aTcegfioTiKoi ^ vgl. S. 229 f.), die
das Wesen der Dinge sind, gebildet. Sie ist daher so schön
und vollkommen, wie dies eine materielle Welt überhaupt
sein kann. Die Naturverachtung der christlichen Gnostiker
wird von Plotin noch mit dem vollen Natursinn des Griechen
zurückgewiesen; und wenn er eine auf Absicht und Willen
beruhende und auf das Einzelne gerichtete Fürsorge der
Götter für die Welt allerdings nicht kennt, der Begriff der
Vorsehung vielmehr bei ihm nur die natürliche Einwirkung
des Höheren auf das Niedrigere bezeichnet, so wird doch der
Vorsehungsglaube als solcher von ihm, im Anschluß an die
platonische und stoische Theodizee, um so erfolgreicher ver-
teidigt, da seine Ansichten über die Willensfreiheit und die
jenseitige Vergeltung ihn in den Stand setzen, gerade die
Übel, welche der stoischen Theodizee am meisten zu schaffen
gemacht hatten, anderweitig zurechtzulegen. An die Stoiker
(vgl. S. 231) knüpft Plotin auch mit seiner Lehre von der
„Sympathie aller Dinge" an; aber während jene mit der
selben nur den natürlichen Kausalzusammenhang bezeichnet
hatten, bedeutet sie bei Plotin eine Wirkung in die Ferne,
welche darauf beruht, daß bei der durchgängigen Lebendig-
keit und Beseeltheit der ^e\t alles, was einem ihrer Teile
widerfährt, von dem Qtun^eu und infolgedessen auch von
allen andern Teilen Qitiy^f ^äen wird.
320 Dritte Periode.
Im Weltganzen ist es der Himmel, in welchen die Seele
sich zuerst ergiefit, dem daher auch die reinste und edelste
Seele innewohnt , nächst ihm die Gestirne, die auch von
Plotin als die sichtbaren Götter gepriesen werden. Über
Wandelbarkeit und Zeitleben erhaben und deshalb weder der
Erinnerung noch des willkürlichen Handelns noch einer Vor-
stellung dessen, was unter ihnen ist, fUhig, bestimmen sie
dieses mit jener Naturnotwendigkeit, die im Zusammenhang
und in der Sympathie des Universums begründet ist; die
Astrologie dagegen und die ihr zugrunde liegende Vor-
stellung von einem willkürlichen Eingreifen der Gestirne in
den Weltlauf wird von Plotin entschieden bestritten und die
astrologische Vorbedeutung auf das Erkennen zukünftiger
Ereignisse aus ihren natürlichen Vorzeichen beschränkt. Der
Raum zwischen den Gestirnen und der Erde ist der Wohn-
platz aller Dämonen; Plotin teilt die Vorstellungen der
platonischen Schule über diese Wesen, wiewohl er sie auch
wieder, wie in seiner Lehre vom Eros, psychologisch umdeutet.
Von den irdischen Wesen hat nur der Mensch für unsern
Philosophen ein selbständiges Interesse; und wenn auch seine
Anthropologie in ihren Grundzügen nur eine Wiederholung
der platonischen ist, bringt sie doch im weiteren neben
Aristotelischem auch manches Eigenartige und manche Be-
weise einer feinen, besonders auch das Gefühlsleben betreffenden
Beobachtung. Er schildert eingehender und in dogmatischerem
Ton als Piaton das Leben, welches die Seele in der über-
sinnlichen Welt führte, in der sie wie die Seelen der Götter
keinem Wechsel und keiner Zeit unterworfen, ohne Er-
innerung, Selbstbewußtsein und Reflexion, den Novg und das
Seiende und das Urwesen in sich selbst unmittelbar anschaute.
Er betrachtet ihr Herabsteigen in einen Körper (bei dem sie
sich zuerst im Himmel mit einem ätherischen Leib umkleiden
soll) zugleich als eine Naturnotwendigkeit und als eine
Schuld, sofern sie durch einen unwiderstehlichen inneren
Drang in den ihrer Beschaffenheit entsprechenden Körper
herabgezogen wurde. Er findet das eigentliche Wesen des
§§ 97. 98. Plotin: Erscheinungswelt ; Erhebuug z. ÜbersinnlicLen. 321
Menschen in seiner höheren Natur , zu der aber durch ihre
Verbindung mit dem Leibe ein zweites Ich, eine niedrigere
Seele hinzukam, die zwar an jener hängt, aber von ihr in
den Leib hinabreicht. Er führt das Verhältnis der Seele
zu ihrem Leibe mit Aristoteles auf das der wirkenden Kraft
zu ihrem Werkzeug zurück und erklärt es hieraus , daß sie
ihn unräumlich umfasse^ dafi sie allen seinen Teilen inne-
wohne , ohne sich selbst zu teilen oder mit ihm zu ver-
mischen, daß sie alles, was in ihm vorgeht, wahrnehme und
miterlebe, ohne doch selbst dadurch eine Veränderung zu
erleiden. Er sucht die leidentlichen Seelenzustände und die
auf das Sinnliche bezüglichen Seelentätigkeiten als Vorgänge
zu begreifen, die sich teils in dem Leibe, teils in ihm und
der niederen Seele gemeinsam vollziehen und von der höheren
bloß wahrgenommen werden. Er läßt andrerseits den Novg
und die höhere Seele zunächst unbewußt wirken und dieses
ihr Wirken erst durch Reflexion und Abspiegelung zu einem
bewußten werden. Er verteidigt die Willensfreiheit gegen
den stoischen und jeden andern Fatalismus aufs entschiedenste,
geht aber dabei nicht sehr tief und wiederholt auch seiner-
seits die Behauptung, das Böse sei unfreiwillig. Mit der
Vorsehung wird die Freiheit durch die Bemerkung ver-
einigt: die Tugend sei frei, aber ihre Werke in den Welt-
zusammenhang verflochten. Plotin wiederholt ferner die
platonischen Beweise für die Unsterblichkeit der Seele, die
aber doch dadurch wieder in Frage gestellt wird, daß die
Seelen in der übersinnlichen Welt sich des Erdenlebens nicht
erinnern sollen. Die Seelenwanderung dehnt er bis zur Ein-
kehr in Pflanzenleiber aus, und die Vergeltung, zu der sie
führt, macht er zu einer bis ins einzelste sich erstreckenden
Wiedervergeltung nach dem jtis talionis.
§ 98. Plotins Lehre von der Erhebung in die
übersinnliche Welt.
Da die Seele ihrem Wesen nach einer höheren Welt
angehört, kann auch ihre höchste Aufgabe nur die sein, daß
Zell er, Grundrifs. 21
322 Dritte Periode.
sie ausschließlich in dieser Welt lebe und sich von jeder
Neigung zum Sinnlichen befreie. Die Glückseligkeit besteht
nach Plotin in dem yoUkommenen Leben, und dieses besteht
im Denken; von den äußeren Zuständen dagegen ist sie
seiner Ansicht nach so unabhängig , daß sich kein Stoiker
hierüber entschiedener aussprechen kannte. Ihre erste Be-
dingung ist die Lossagung vom Leibe und von allem, was
mit ihm zusammenhängt, die Reinigung (xd^aoaig)'^ aus
dieser folgt von selbst, daß die Seele durch nichts Fremd-
artiges gehemmt, sich der ihr eigentümlichen Tätigkeit
überläßt: die Katharsis schließt alle Tugenden in sich.
Daß sich diese Lossagung von der Sinnlichkeit durch ein
asketisches Leben betätige, wird von Plotin trotz der Ent-
haltungen, die er sich selbst auferlegte und auch an andern
belobte, noch nicht allgemein verlangt; und in seinen Aus-
führungen über den Eros erkennt er mit Piaton an, daß auch
die sinnliche Schönheit uns zur unsinnlichen führen könne.
Aber seine ganze Ethik ist von der Ansicht beherrscht, daß
für die Seele ihre Verbindung mit dem Leibe der Grund alles
Übels sei, und daß jede Tätigkeit um so höheren Wert
habe, je weniger sie uns mit der Sinnenwelt in Berührung
bringt. Die praktische und politische Tätigkeit ist zwar
unentbehrlich, und der Tugendhafte wird sich ihr nicht ent-
ziehen, aber sie verwickelt uns zu tief in die Außenwelt,
sie macht uns von anderm abhängig; die ethischen und
politischen Tugenden sind nur ein unvollkommener Ersatz
der theoretischen. Auch diese sind aber von sehr ungleichem
Wert. Die sinnliche Wahrnehmung zeigt uns nur dunkle
Spuren der Wahrheit. Weit höher steht das vermittelte
Denken (didvoiay Xoyujfiog) und seine kunstmäßige Übung,
die Dialektik. Sie hat es mit dem wahrhaft Wirklichen,
den Ideen und dem Wesen der Dinge, zu tun. Aber dieses
mittelbare Erkennen selbst setzt ein unmittelbares, die
Selbstanschauung des denkenden Geistes voraus, die zugleich
Anschauung des göttlichen Novg ist. Doch auch sie genügt
unserem Philosophen noch nicht. Sie führt uns zwar zum
§ 98. Plotin: Erhebung zum Übersinnlichen. ^23
Novg, aber nicht über ihn hinaus, und sie läßt den Unter-
schied des Anschauenden vom Angeschauten noch bestehen.
Zu dem Höchsten gelangen wir erst dann, wenn wir bei
vollkommener Vertiefung in uns selbst, auch über das
Denken uns erhebend, im Zustand der Bewußtlosigkeit, der
Entzückung (^Taaig), der Vereinfachung (a7tX(aaig)y von
dem göttlichen Lichte plötzlich erfüllt und mit dem Urwesen
selbst so unmittelbar eins werden, daß jeder Unterschied
zwischen ihm und uns verschwindet. Plotin ist mit diesem
Zustande, der freilich immer nur ein vorübergehender sein
kann, aus eigener^ Erfahrung wohl bekannt; von seinen
griechischen Vorgängern hat keiner ein solches Hinausgehen
über das Denken verlangt, wie ja auch keiner die Gottheit
über dieses hinausrückt ; nur Philon ist ihm hierin voran-
gegangen.
Im Vergleich mit dieser geistigen Erhebung zur Gottheit
hat die positive Religion für Plotin im ganzen doch
nur eine untergeordnete Bedeutung. Er ist allerdings weit
entfernt, sich ihr kritisch gegenüberzustellen. Sein System
kennt ja außer der Gottheit im absoluten Sinn noch eine
Menge höherer Wesen, die sich teils als sichtbare, teils als
unsichtbare Götter betrachten ließen; er tadelt es ausdrück-
lich, wenn man ihnen (wie die Christen) die ihnen ge-
bührende Ehre verweigere, und er deutet auf sie die Götter
der Mythologie und ihre Geschichte mit der herkömmlichen
Willkür, ohne sich doch mit dieser Mythendeutung so eifrig
zu befassen, wie dies manche von den Stoikern getan hatten.
Er benützt ferner seine Lehre von der Sympathie aller Dinge
zu einer vermeintlich rationalen Begründung der Bilder-
verehrung, der Weissagung, des Gebets und der Magie, unter
deren Begriff er schließlich jede Neigung und Abneigung,
jede Wirkung des Äußeren auf das Innere stellt; so wenig
er auch eine Wahrnehmung dessen, was auf der Erde ge-
schieht, oder eine persönliche Einwirkung auf den Weltlauf
mit der Natur der Götter vereinbar findet. Aber so gewiß
er damit den Grund g^ip^rt hat, auf dem seine Nachfolger
324 Dritte Periode.
bei ihrer Verteidigung und Systematisierung der Volksreligion
fortbauten, so ist doch seine eigene Stellung zu dieser immer
noch eine yerhäitnismäfiig freie. Seinem idealen Sinn genügt
für sein eigenes Bedürfnis der innere Gottesdienst des Philo-
sophen: „Die Götter," sagt er bei Pokph. vita Plot. 10, als
ihn Amelios in einen Tempel mitnehmen will, „müssen zu
mir kommen, nicht ich zu ihnen. ^
§99. Plotins Schule; Porphyrios.
Unter Plotins Schülern zeigt sich der eben genannte
Gentilianus Amelius in dem wenigen, was über ihn
mitgeteilt wird, als einen unklaren Denker, einen Geistes-
verwandten und Bewunderer des Numenios. Ein weit hellerer
Kopf ist der gelehrte Porphyrios (eigentlich: Malchos)
aus Tyros, der, 232/3 geboren, erst Longin, dann Plotin
zum Lehrer hatte, und nach 301, vielleicht in Rom, starb.
Neben einigen platonischen Schriften hatte er auch mehrere
aristotelische erklärt und namentlich der aristotelischen Logik
seine Aufmerksamkeit zugewendet (seine Einleitung zu den
Kategorien und die kleinere von seinen Erklärungen dieser
Schrift ist noch vorhanden) *) ; und dieses Studium des Aristo-
teles mußte ebenso wie Longins Einfluß das Streben nach
Deutlichkeit der Begriffe und des Ausdruckes bei ihm be-
fördern. Er betrachtet als seine Aufgabe die Darstellung
und Erläuterung, nicht die Prüfung oder systematische Fort-
bildung der Lehre Plotins; und er hat auch wirklich alles
getan, sie verständlich zu machen, und seine Schriften haben
durch die Klarheit ihrer Darstellung vielen Beifall gefunden.
In seinem Abriß der Metaphysik (dq)OQfial tvqoq tä voijud)
legt er das größte Gewicht auf die scharfe Unterscheidung
des Geistigen und des Körperlichen, ohne im übrigen von
^) Von den übrigen uns erhaltenen Schriften sind vier: Vit. Pyth.
(vgl. o. S. 11), de antro nympharum, de abstinentia, ad Marcellam von
Nauck hrsg. (2. Aufl. 1886). Über P. als Biograph seines Lehrers und
Herausgeber seiner Schriften s. S. 118.
§ 99. Plotins Schule; Porphyrios. 325
Plotins Bestimmungen abzuweichen; im Novg unterschied er
das Sein, das Denken und das Leben, aber deshalb von drei
Hypostasen des Novg zu reden, wie dies A m e 1 i o s von einer
ähnlichen Unterscheidung aus getan hatte, würde er ohne
Zweifel Bedenken getragen haben. In seiner Anthropologie,
der er mehrere Schriften gewidmet hatte, tritt, soweit sie
uns bekannt ist, namentlich das Bestreben hervor, die Ein-
heit der Seele mit der Mehrheit ihrer Tätigkeiten und Kräfte
zu vereinigen. Die Seele, sagt er, habe die Formen (Xoyoi)
aller Dinge in sich ; je nachdem sich ihr Denken auf diesen
oder jenen Gegenstand richte, nehme es die ihm entsprechende
Gestalt an. Er will deshalb die Annahme verschiedener Teile
der Seele nur im uneigentlichen Sinne gestatten. Ebenso soll
die allgemeine Seele das Wesen der Einzelseelen ausmachen,
ohne sich an sie zu verteilen. Die Verbindung der Seele mit
dem Leibe soll eine vollkommene Vereinigung, doch ohne
Vermischung oder Veränderung, sein. Den Tieren legt Por-
phyrios Vernunft bei, will aber die Seelen Wanderung nicht aut
Tierleiber ausdehnen und die Menschenseelen sich andrerseits
auch nicht zu übermenschlicher Natur erheben lassen; doch
stellt er auch den geläuterten Seelen eine gänzliche Ablösung
von den vernunftlosen Kräften in Aussicht, bei der aber frei-
lich mit der Begierde auch die Erinnerung an das Erdenleben
erlöschen soll. Die Hauptaufgabe der Philosophie liegt aber
für unsern Philosophen in ihrer praktischen Wirkung, in der
ijRettung der Seele", und hier ist ihm das Wichtigste jene
Reinigung, jene Ablösung der Seele vom Leibe, die in seiner
Ethik noch stärker betont wird als bei Plotin, wiewohl die
reinigende Tugend an sich zwar über der praktischen, aber
unter der theoretischen und der paragdimatischen (dem Novg
als solchem zukommenden) stehen soll. Für diese Reinigung
verlangt er entschiedener als Plotin gewisse asketische
Übungen: die Enthaltung von Fleischspeisen, für die er in
einer eigenen Schrift (tt. auox^g i^tpvxfov) streitet, die Ehe-
losigkeit, die Zurückziehung von Schauspielen und ähnlichen
Belustigungen; und für den Kampf mit der Sinnlichkeit ist
32Ö Dritte Periode.
ihm die Unterstützung der positiven Religion in höherem
Grade Bedürfnis als einem Plotin. Auch er weiß sich aller-
dings mit vielem in dem Glauben und dem Kultus seiner
Zeit nicht zu befreunden: er erkennt an, dafi frommes Leben
und heilige Gedanken der beste, der übersinnlichen Götter
allein würdige Gottesdienst seien ; und in dem merkwürdigen
Briefe an den ägyptischen Priester Anebon erhebt er gegen
die herrschenden Vorstellungen 4iber die Götter, die Dämonen,
die Weissagung, die Opfer, die Theurgie, die Astrologie so
eingreifende Zweifel, dafi man glauben sollte, er hätte allen
diesen Dingen den Rücken kehren müssen. Dies ist jedoch
ni&ht seine Meinung. Wir müssen uns, wie er sagt, durch
die natürlichen Zwischenstufen — die Dämonen, die sicht-
baren Götter, die Seele und den Notg — zum Ersten erheben ;
und von diesem Standpunkte aus bietet ihm namentlich seine
Dämonologie, die von allem Aberglauben seiner Zeit und
seiner Schule erfüllt ist, die Mittel, die Religion seines Volkes,
als deren Vorkämpfer er in seinen 15 Büchern gegen die
Christen auftrat, auch gegen seine eigenen Zweifel in Schutz
zu nehmen. Einesteils nämlich glaubt er, diese Religion sei
von bösen Dämonen verfälscht worden, so dafi ihrer Reinigung
von dem, was ihm darin zum Anstoß gereicht, nur eine
Wiederherstellung ihres ursprünglichen Wesens sein soll.
Andrerseits aber weiß er alle wesentlichen Bestandteile der
Volksreligion vor der Vernunft zu rechtfertigen. Die Mythen
sind allegorische Darstellungen philosophischer Wahrheiten,
die Götterbilder und die heiligen Tiere Symbole des Über-
sinnlichen, die Weissagung eine Deutung natürlicher Vorzeiichen,
die auch wohl durch Dämonen auf Tierseelen vermittelt wird,
cUe Magie und die Theurgie eine Einwirkung auf die
niedrigeren Seelen- und Naturkräfte und die Dämonen; und
auch solches, was der Philosoph an sich mißbilligt, wie die
blutigen Opfer, gestattet er der öffentlichen Gottesverehrung
als ein Mittel zur Beschwichtigung unreiner Geister. Nur
die Privatreligion des Philosophen soll davon frei bleiben.
§ 100. Jamblichos und seine Schule. 327
§ 100. Jamblichos und seine Schuie.
Was bei Porphyrios meist nur ein Zugeständnis an die
ttberiieferte Glaubensform war, tritt bei seinem Schüler
Jamblichos (aus Chalkis, gest. um 330) in den Mittelpunkt
seiner wissenschaftlichen Tätigkeit; gerade deshalb aber wurde
er von seinen Schülern und von den späteren Neuplatonikern
vergöttert (^elog ist sein stehendes Beiwort). Jamblichos ge-
hörte nicht bloß seiner Abstammung nach Syrien an, sondern
er scheint auch sein Leben hier zugebracht zu haben , und
ebenso machen sich in seiner Philosophie die orientalischen
Einflüsse sehr fühlbar. Er war zwar immerhin ein kenntnis-
reicher Gelehrter, ein Erklärer platonischer und aristotelischer
Werke und ein fruchtbarer Schriftsteller (erhalten sind aufier
vielen weiteren Bruchstücken fünf Bücher seiner awayioyi^
TÜv nv&ayoQBiwv doyfidv(üv) ^). Aber er ist weit mehr spe-
kulativer Theolog als Philosoph; und die theologische Über-
lieferung schöpft er, kritiklos wie er ist, mit Vorliebe aus
den trübsten und spätesten Quellen. G^gen die Mängel des
irdischen Daseins, den Druck der Naturnotwendigkeit, weifi
er nur bei den Göttern Hilfe zu finden; seinem phantasti-
schen Denken verdichtet sich jedes Begriffsmoment zu einer
eigenen Hypostase; sein Glaubensbedürfnis weiß sich mit
Vervielfältigung des Göttlichen nicht genug zu tun. Nach
dem Grundsatz, dafi zwischen jede Einheit und das, dem sie
sich mitteilt, ein Vermittelndes treten müsse, unterschied er
von dem einen unaussprechlichen Ur wesen eine zweite Ein-
heit, die zwischen ihr und der Vielheit in der Mitte stehe.
Plotins Novs zerlegte er in eine intelligible (vorjzog) und eine
intellektuelle (voeQog) Welt; die erstere trotz ihrer Einheit,
welche jede Vielheit von sich ausschliefien sollte, in eine
Dreiheit, die sich abermals zu drei Triaden erweiterte; das
Intellektuelle ebenfalls in drei Triaden, von denen ihm die
') Das erste von diesen ist die Lebensbeschreibang des Pythagoras
(s. S. 11), hrog. Ton Nauck (1884).
328 Dritte Periode.
letzte, wie es scheint, auch wieder zur Hebdomas wurde.
Zum Intelligibeln sollten die Urbilder gehören, zum Intellek-
tuellen die Ideen. Aus der ersten Seele ließ Jamblichos noch
zwei weitere hervorgehen, von denen er aber den zu ihnen
gehörigen NoSg, und zwar gleichfalls in doppelter Gestalt,
abtrennte. Diesen überweltlichen Göttern zunächst stehen
die innerweltlichen in drei Klassen: 12 himmlische Götter,
die sich weiter zu 36 und dann zu 360 vervielfältigen; 72
Ordnungen von unterhimmlischen und 42 von Naturgöttern
(die Zahlen scheinen teilweise aus astrologischen Systemen
zu stammen). Auf sie folgen dann noch Engel, Dämonen
und Heroen. Auf diese metaphysischen Wesen wurden die
Götter des Volkes mit der herkömmlichen synkretistischen
Willkür gedeutet, und in ähnlicher Weise wurde die Bilder-
verehrung, die Theurgie und die Mantik mit Gründen ver-
teidigt, in denen sich der irrationalste Wunderglaube mit dem
Wunsche, das Wunder doch auch wieder als etwas Rationales
erscheinen zu lassen, widerspruchsvoll verbindet. An diese
theologische Spekulation schließt sich bei Jamblichos die
Zahlenspekulation an, der er nach neupythagoreischem Vor-
gang weit höheren Wert beilegt als der wissenschaftlichen
Mathematik, so hoch er diese auch preist. In seiner Kosmo-
logie sind neben der Lehre von der Ewigkeit der Welt, die
er mit seiner ganzen Schule teilt, das Bemerkenswerteste
seine Bestimmungen über die Natur oder das Schickaal (el-
[ÄaQf>i€vr]), sofern er dieses als eine den Menschen bedrückende
Macht schildert, aus deren Banden er nur durch das Ein-
greifen der Götter gelöst werden könne. In seiner Psycho-
logie tritt noch mehr als bei Porphyrios das Bestreben her-
vor, der Seele ihre Mittelstellung zwischen den über- und
untermenschlichen Wesen zu wahren ; wie er denn auch mit
jenem einen Übergang von Menschenseelen in Tierleiber be-
stritt, und dies um so mehr, da er den Tieren nicht, wie er,
Vernunft beilegte. Porphyrios' vier Klassen von Tugenden
(s. S. 325) fügte er als fünfte und höchste „die einheitlichen"
(snalat) oder „priesterlichen" bei, durch die man sich zum
§ 100. Jamblichos und seine Schale. 329
Urwesen als solchem erhebe; aber als das Notwendigste er-
scheint doch auch bei ihm die Reinigung der Seele, durch die
sie allein sich der Anhänglichkeit an die Sinnenwelt und der
Abhängigkeit von der Natur und dem Verhängnis entzieht.
Die Denkweise, deren entschiedensten Vertreter wir in
Jamblichos kennen gelernt haben, beherrscht von da an die
neuplatonische Schule. Oanz in seinem Geiste wird in der
ihm selbst beigelegten Schrift von den Mysterien, wahr-
scheinlich von einem seiner unmittelbaren Schüler, das Opfer-
wesen, die Mantik, die Theurgie usw. gegen Porphyrios
(s. S. 326) mit Geschick und Gewandtheit auf Grund des
Satzes verteidigt, dafi man zu dem Höheren nur durch das
Niedrigere gelange, und daß wenigstens der Mensch wegen
seiner sinnlichen Natur diese materiellen Vermittlungen nicht
entbehren könne. Zugleich wird aber nachdrücklich ein-
geschärft, daß uns nur die göttliche Offenbarung über die
Mittel belehren könne, durch die wir mit der Gottheit in
Verbindung treten, und daß deshalb die Priester, als die Träger
dieser Offenbarung, weit höher stehen als die Philosophen. —
Unter den Schülern des Jamblichos, deren Namen uns be-
kannt sind, scheint Theodoros von Asine, der auch noch
Porphyrios gehört hatte, der bedeutendste gewesen zu sein.
In den Mitteilungen über ihn, die wir fast ausschließlich
Proklos verdanken, erscheint er als ein Vorgänger dieses in
dem Versuche, eine dreigliedrige Ordnung durch alle Teile
der übersinnlichen Welt durchzuführen. Auf das ürwesen,
von dem er aber nicht, wie Jamblichos, eine zweite Einheit
unterschied, ließ er drei Triaden folgen, in die er den Novg
zerlegte: eine intelligible, eine intellektuelle (Sein, Denken,
Leben ; vgl. S. 325) und eine demiurgische, die aber wieder
drei Triaden umfassen sollte; dann drei Seelen, von denen
die unterste die Weltseele oder das Verhängnis , ihr Leib
die Natur ist. Was uns von seinen näheren Bestimmungen
über diese Wesen bekannt ist, lautet sehr formalistisch
und geht teilweise zu kindischer Spielerei fort. Von
zwei weiteren Schülern Jamblichos', Ädesios und Sopa-
330 Dritte Periode.
troB, wiBsen wir nur, dafi jener ihm in der Leitung der
Schule folgte und dieser unter Konstantin I. Einflufi bei
Hofe gewann y aber schliefilicb hingerichtet wurde. De-
xippoB ist uns durch seine Erklärung der Kategorien be-
kannt, die jedoch ganz von Porphyrios und Jamblichos ab-
hängig ist. Unter den Schülern des Ädesios verfolgte zwar
Eusebios eine wissenschaftlichere Richtung; den größeren
Einflufi hatte aber Maximus, dem seine Selbstüberhebung
und seine theurgischen Künste am Ende (um 370) den Tod
brachten. Er und sein Gesinnungsgenosse Chrjsanthios,
persönlich anspruchsloser und achtungswerter, gewann den
E^iser Julianus für die Philosophie und die alten Götter;
weitere Männer aus diesem Kreise sind Priscus, Sallustius,
EunapioB (s. S. 11) und der berühmte Redner Libanios.
Als Julian nach seiner Thronbesteigung (361) eine Wieder-
herstellung der hellenischen Religion unternahm, war es die
neuplatonische Philosophie, welche ihn dabei leitete. Aber
der Versuch hätte mißlingen müssen, wenn ihm auch nicht
der frühe Tod seines Urhebers (363) ein jähes Ende bereitet
hätte. Julians Schriften, soweit sie philosophischen Inhalts
sind, zeigen so wenig als seines Freundes Sallustius Buch
über die Götter eine selbständige Fortsetzung der von Jam-
blichos entlehnten Sätze. Auch die geistvolle Hypatia, welche
der platonischen Schule zu Alexandreia vorstand und diese
zu hoher Blüte brachte, schliefilich aber (415) dem Fanatis-
mus des christlichen Pöbels zum Opfer fiel, scheint die neu-
platonische Lehre, nach den Schriften ihres Schülers, des
Bischofs Synesios von Ptolemais (um 366 — 415), zu
schließen, in der Gestalt vorgetragen zu haben, die ihr Jam-
blichos gegeben hatte.
§ 101. Die Schule von Athen;
der Ausgang der neuplatonischen Schule.
Zu einer letzten Wendung der neuplatonischen Wissen-
schaft führte das Studium des Aristoteles, das in der Schule
während des 4. Jahrhunderts zwar nicht erloschen war, aber
§ 101. Die Schule von Athen. 33I
doch unverkennbar seit Jamblichos unter den theosophischen
Spekulationen und dem theurgischen Treiben an Einfluß find
Bedeutung verloren hatte, das aber jetzt mit um so größerem
und nachhaltigerem Eifer wieder aufgenommen wurde, je
mehr sieh die Schule seit dem Scheitern des Julianischen
Kestaurationsversuchs in die Stellung einer unterdrückten
und verfolgten Sekte zurückgedrängt und je ausschließlicher
sie sich mit ihren Hoffnungen auf ihre wissenschaftliche
Tätigkeit beschränkt sah. In Konstantinopel widmete sich
Themis tios während der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts
der Erklärung der aristotelischen und auch der platonischen
Schriften; und wenn er auch mit seinem ziemlieh oberfläch-
lichen Eklektizismus nicht zu den Neuplatonikern gezählt
werden kann, traf er doch mit ihnen in der Überzeugung
von der durchgängigen Übereinstimmung des Aristoteles und
Piaton zusammen. Der Hauptsitz der aristotelischen Studien
wurde aber die platonische Schule in Athen; und sie war es
auch, in der sich jene Verbindung des Aristotelismus mit
Jamblichos' Theosophie vollzog, welche dem Neuplatonismus
des 5. und 6. Jahrhunderts und dem von ihm abstammenden
christlichen und mohammedanischen sein eigentümliches Ge-
präge gab. Hier treffen wir um den Anfang des 5. Jahr-
hunderts den Athener Plutarchos, des Nestorios Sohn,
der 431/2 in hohem Alter starb, als Schulvorsteher und ge-
feierter Lehrer; einen Mann, der platonische und aristote-
lische Werke mit gleichem Eifer in Schriften und Lehr-
vorträgen erklärte. Das Wenige, was uns über seine
philosophischen Ansichten mitgeteilt wird, geht über die
Überlieferung seiner Schule nicht hinaus; es betrifft vor-
zugsweise die Psychologie, die er auf aristotelisch - plato-
nischer Grundlage sorg<ig behandelt. Zugleich hören wir
aber, daß er allerlei magische und theurgische Künste von
seinem Vater erlernt hatte und fortpflanzte. Von seinen
Schülern ist uns Hierokles^), der in seiner Vaterstadt
^) Zn unterBcheiden von dem älteren Stoiker gleichen Namens;
s. S. 275 Anm. 1.
332 Dritte Periode.
Alexandreia gleichzeitig mit dem Aristoteliker Olympio-
doros Philosophie lehrte ^ durch einige Schriften und Aus-
züge aus Schriften bekannt; und diese zeigen uns in ihm
einen Philosophen, der zwar im allgemeinen auf dem Boden
des Neuplatonismus steht, der aber auf die praktisch-frucht-
baren Lehren, auf den Vorsehungsglauben und reine sittliche
Grundsätze viel höheren Wert legt als auf metaphysische
Spekulation ; in der gleichen Richtung folgte ihm sein Schüler
Th^osebios. Um so eifriger wurde jene Spekulation von
Hierokles' Landsmann und Mitschüler Syrianos, dem Mit-
arbeiter und Nachfolger Plutarchs, betrieben. Dieser von
Proklos und den Späteren hoch gepriesene Platoniker war
zwar gleichfalls ein genauer Kenner und eifriger Ausleger
des Aristoteles; aber die maßgebenden Autoritäten sind für
ihn neben Piaton, gegen den er Aristoteles tief herabsetzt,
die neupythagoreischen und orphischen Schriften und die an-
geblich chaldäischen Göttersprüche, und der Lieblingsgegen-
stand seiner Spekulation ist die Theologie. Seine Behandlung
dieser*) bleibt aber doch an systematischer Ausarbeitung
hinter der des Proklos noch erheblich zurück. Aus dem
gegensatzlosen Einen ließ er zunächst mit den Neupytha-
goreern das Eins und die unbestimmte Zweiheit als die all-
gemeinsten Gründe der Dinge hervorgehen. Im Novg unter-
schied er mit Jamblichos das Intelligible und das Intellek-
tuelle, an dessen Spitze der Demiurg steht; die Ideen sollten
ursprünglich als die Urbilder oder die einheitlichen Zahlen
im Intelligibeln , erst abgeleiteter weise im Verstand des De-
miurg sein. Über die Seele bemerkt er (nach Prokl. in Tim.
207 B ff.), daß sie teils in sich bleibe , teils aus sich heraus-
trete, teils zu sich zurückkehre, ohne doch diese Unter-
scheidung (wenn sie wirklich schon ihm angehört) auf die
Gesamtheit des Wirklichen anzuwenden. Von seinen sonstigen
^) So weit wir sie aus dem Einzigen, was von ihm übrig ist, einem
Teil seines Kommentars zur Metaphysik (hrsg. von Useneb in Bd. V der
Berl. akad. Ausg. des Aristot. S. 837 ff. u. von Kroll in Bd. V, Tl. I der
Aristoteles-Kommentare 1902) und aus Proklos und Timaos kennen.
§ 101. Die Schule von Aiheu. 333
Ansichten ist zu erwähnen, dafi er von den „immateriellen"
Körpern behauptet, sie könnten mit andern denselben Raum
einnehmen, und daß er annahm, die Seelen blieben nach dem
Tode mit ihren ätherischen Leibern und den höheren von den
vernunftlosen Lebenskräften für immer, mit den niedrigeren
von diesen nur eine Zeitlang verbunden. Im übrigen scheint
er sich von der Überlieferung seiner Schule nicht entfernt
zu haben.
Plutarchs und Syrians Schüler war nun der Nachfolger
des letzteren, der Lykier Proklos, der, 410 in Konstanti-
nopel geboren, in seinem 20. Jahr nach Athen kam und 485
ebendaselbst starb; neben ihm kommt sein Mitschüler Her-
meias, der in Alexandreia lehrte, nicht in Betracht. Durch
seinen eisernen Fleifi, seine Gelehrsamkeit, seine logische
Meisterschaft, seinen systematischen Geist, seine fruchtbare
Tätigkeit als Lehrer und als Schriftsteller^) ragt Proklos
unter den Platonikem ebenso hervor wie Chrysippos unter
den Stoikern. Zugleich war er aber ein Asket und Theurg,
der Offenbarungen zu erhalten glaubte und sich in Religions-
übungen nicht genugtun konnte; er teilte die religiöse Be-
geisterung seiner Schule, ihren Glauben und ihren Aber-
glauben, ihre Verehrung gegen orphische Gedichte, chal-
däische Orakel und ähnliche Erzeugnisse; und er unternahm
es nun, die ganze ihm von seinen Vorgängern überlieferte
Masse theologischer und philosophischer Überzeugungen zu
einem einheitlichen, methodisch ausgeführten System zu ver-
arbeiten, das in der Folge der mohammedanischen wie der
christlichen Scholastik zum Vorbild gedient hat. Mit ihnen
teilt es bei großer formeller Vollendung die innere Unfreiheit
des Denkens, aus dem es hervorging, den Mangel an einer
wirklich wissenschaftlichen Begründung und Behandlung. Das
allgemeinste Gesetz, nach dem dieses System sich aufbaut,
^) Über Proklos' Schriften (vgl. S. 12), von denen nur ein Teil erhalten
ist: Phil. d. Gr. III 2*, 838 ff. Feeudenthal im Hermes XVI, 214 ff. Seine
sämtl. Werke hrsg. von Cousin, 2. Aufl. in 6 ßden. (1864); Coram. in Plat.
remp. von Kroll (2. Bde. 1899/1901)-, Comm. in Tim. von Dikhl (1908/4).
334 Dritte Periode.
ist das der triadiacben Entwicklang. Das Hervorgebrachte
iBt dem Herrorbringenden einesteils ähnlich , denn dieses
kann jenes nur hervorbringen, indem es sich ihm mitteilt;
andrerseits ist es von ihm verschieden wie das Geteilte von
dem Einheitlichen^ das Abgeleitete von dem Ursprünglichen.
Nach jener Beziehung bleibt es in seiner Ursache, und diese
ist, wenn auch nur unvollständig, in ihm, nach dieser tritt
es aus ihr heraus. Weil es aber doch an ihr hängt und ihr
verwandt ist, wendet es sich trotz der Trennung zu ihr hin,
sucht sie auf niedrigerer Stufe nachzubilden und sich mit ihr
zu einigen. Das Sein des Hervorgebrachten im Hervorbringen-
den, sein Heraustreten aus ihm und seine Rückkehr zu ihm
(ftoptjj TtQoodog^ i7tiGtQ(xptj) sind die drei Momente, durch
deren fortgesetzte Wiederholung die Gesamtheit der Dinge
aus ihrem Urgrund sich entwickelt. Die letzte Quelle dieser
Entwicklung kann natürlich nur das Urwesen bilden, das
Proklos nach Plotins Vorgang schildert, als absolut erhaben
über alles Sein und Erkennen, höher als das Eins, Ursache,
ohne Ursache zu sein, weder seiend noch nichtseiend usf.
Aber zwischen dieses Erste und das Intelligible schiebt er
mit Jamblichos (S. 327) ein Zwischenglied ein : die absoluten
Einheiten (aircaceXBig evddsg), welche die einheitliche, über-
wesentliche Zahl bilden, welche aber zugleich als die höchsten
Güter bezeichnet werden und als solche Prädikate erhalten,
die für ihr abstraktes Wesen viel zu persönlich lauten. Auf
sie folgt erst das Gebiet, welches Plotin dem Novg zugewiesen
hatte: Proklos zerlegt es in teil weisem Anschlufi an Jam-
blichos und Theodoros (vgl. S. 327. 329) in drei Sphären:
das Intelligible, das Intellektuell-Intelligible (vovjtdv a^a %ai
voBQOv) und das Intellektuelle : als Grundeigenschaft des
ersten bezeichnet er das Sein, des zweiten das Leben, des
dritten das Denken. Die zwei ersten von diesen Sphären
werden dann wieder, zum Teil nach den gleichen Teilungs-
gründen, in je drei Triaden, die dritte in sieben Hebdo-
maden gegliedert und die einzelnen Glieder jeder Reihe zu-
gleich als Götter gefaßt und mit einer von den Gottheit^i
§ 101. Die Schule von Athen. 335
der Volksreligion identifiziert. Die Seele, deren Begriff ebenso
bestimmt wird wie bei Plotin, umfaßt drei Klassen von Teil-
seelen: göttliche, dämonische und menschliche. Die gött-
lichen werden in drei Ordnungen verteilt: die vier Triaden
hegemonischer Grötter, ebenso viele „weltfreie" (aTtölvtoi)
G^ötter, und die zwei Klassen der innerweltlichen Grötter, die
Sterngötter und die Elementargötter. Bei der Deutung der
Volksgötter auf diese metaphysischen Wesen findet es Proklos
nötig, einen dreifachen Zeus, eine doppelte Köre, eine drei-
fache Athene zu unterscheiden. An die Götter schliefien
sich die Dämonen an, die näher in Engel, Dämonen und
Heroen zerfallen und unter Einmischung vielfachen Aber-
glaubens in der herkömmlichen Weise beschrieben werden;
an sie diejenigen Seelen, die zeitweise in materielle Leiber
eintreten. — Von der Seele hatte nun Plotin die Materie
erzeugt werden lassen; Proklos leitet sie unmittelbar von
dem Unbegrenzten her, das bei ihm mit dem Begrenzten
und dem Gemischten die erste von den intelligiblen Triaden
bildet ; was ihr Wesen betrifft, so ist sie nach ihm nicht das
Böse, sondern weder gut noch böse. Seine kosmologischen
Vorstellungen stimmen in allem wesentlichen mit denen
Plotins überein, nur dafi er den Raum für einen aus dem
feinsten Licht bestehenden Körper hält, welcher den der Welt
durchdringt (vgl. Syrian S. 333). Mit Plotin verteidigt er
die Vorsehung wegen des Übels in der Welt; an ihn und
Syrian schließt er sich in seinen Annahmen über die Herab-
kunft und das künftige Schicksal der Seelen an; in seiner
Psychologie verbindet er platonische und aristotelische Be-
stimmungen, vermehrt aber die Zahl der Seelenvermögen
dadurch, daß er von dem Denken oder der Vernunft noch
das Einheitliche oder Göttliche im Menschen unterscheidet,
das höher sei als jene, und mit dem allein das Göttliche er-
kannt werden könne. Seine Ethik verlangt eine durch die
fünferlei Tugenden (die wir S. 328 bei Jamblichos trafen)
stufenweise aufsteigende Erhebung zum Übersinnlichen, deren
letztes Ziel auch bei ihm die mystische Einigung mit der
336 l>itte Periode.
Gottheit ist. Aber je fester er überzeugt ist, dafi alles
höhere Wissen auf göttlicher Erleuchtung beruhe, und daß
nur der Glaube uns mit der Gottheit verknüpfe, um so
weniger will er auf alle jene religiösen Hilfsmittel verzichten,
denen die neuplatonische Schule seit Jamblichos einen so
hohen Wert beilegte, und deren Wirksamkeit auch Proklos
mit den herkömmlichen Gründen verteidigt. In dem
gleichen Geiste sind selbstverständlich seine Mythendeutungen
gehalten.
Durch Proklos bat die neuplatonische Lehre die ab-
schließende Gestalt erhalten, in der sie der Folgezeit über-
liefert wurde. Nach ihm hatte die Schule zwar immer noch
einzelne achtungswerte Vertreter, aber keinen, der ihm an
wissenschaftlicher Kraft und an Einfluß zu vergleichen wäre.
Sein Schüler A mm oni OS, des Hermeias (S. 333) Sohn, der
in Alexandreia, wie es scheint, geraume Zeit, lehrte und sich
großen Ansehens erfreute, war ein tüchtiger Ausleger der
platonischen, namentlich aber der aristotelischen Schriften
und in den mathematischen Wissenschaften wohl bewandert;
eigentümliche Ansichten von einiger Erheblichkeit treten bei
ihm nicht hervor. Asklepiodotos, den SiKPLiKiOS (in
Phys. 795, 13) Proklos' besten Schüler nennt, ein aus-
gezeichneter Mathematiker und Physiker, scheint sich durch
eine nüchterne , den theologischen Überschwenglichkeiten
und theurgischen Künsten abgeneigte Denkweise von der
Mehrzahl seiner Parteigenossen unterschieden zu haben.
Marin OS, der Biograph des Proklos und sein Nachfolger
im Scholarchat, war unbedeutend; sein Nachfolger, der von
Damaskios (vita Isid. b. Phot. Cod. 181. 242) bewunderte
Isidoros, ein unklarer Theosoph in Jamblichos' Art; über
Hegias, der ihm folgte, auch noch einen Schüler des
Proklos, ist uns so wenig als über andre Schüler jenes
Philosophen, deren Namen überliefert sind. Näheres bekannt,
Damaskios, der Schüler des Marines, Ammonios und
Isidoros, der um 520—530 der Schule in Athen vorstand,
ein Bewunderer und Geistesverwandter des Jamblichos, be-
§ 101. Die Schule von Athen. 337
müht sich in seinem Werk über die letzten Gründe (tt. oq-
Xtiv) *) vergeblich, von dem Urwesen, über dessen Unbegreif-
lichkeit er sich nicht stark genug auszudrücken weiß, durch
Einschiebung einer zweiten und dritten Einheit den Über-
gang zum Intelligibeln zu finden; und schließlich sieht er
sich zu dem Bekenntnis gedrängt, daß man eigentlich gar
nicht von einem Hervorgang des Niedrigeren aus dem
Höheren, sondern nur von einem einheitlichen unterschieds-
losen Sein reden dürfe. Der letzten Generation heidnischer
Neuplatoniker gehört Simplikios (S. 12) an, ein Schüler
des Ammonios and Damaskios, dessen Kommentare zu
mehreren aristotelischen Werken für uns von unschätzbarem
Wert sind und nicht bloß von der Gelehrsamkeit, sondern
auch von dem selbständigen und klaren Denken ihres Ver-
fassers Zeugnis ablegen, aber doch nirgends über den Rahmen
der neuplatonischen Überlieferung hinausgehen ; ferner
Asklepios und der jüngere Olympiodoros; zwei Schüler
des Ammonios, von denen wir gleichfalls noch Kommentare
besitzen, und mehrere andre. Aber in dem christlich ge-
wordenen Römerreiche konnte die Philosophie sich nicht
länger in einer von der siegreichen Kirche unabhängigen
Stellung behaupten. Im Jahre 529 erließ Justinian das Ver-
bot, fernerhin in Athen Philosophie zu lehren. Das Ver-
mögen der platonischen Schule, das ziemlich beträchtlich war,
wurde eingezogen. Damaskios wanderte mit sechs Genossen,
unter denen sich auch Simplikios befand, nach Persien aus,
von wo sie aber bald enttäuscht zurückkehrten. Kurz nach
der Mitte des sechsten Jahrhunderts scheinen die letzten von
den Piatonikern, die nicht in die christliche Kirche ein-
getreten waren, ausgestorben zu sein; Olympiodor verfaßte
seinen Kommentar zur Meteorologie um 564.
^) Von KuELLE in 2 Bänden 1889/91 herausgegeben. Über seine
sonstigen Schriften: Phil. d. Gr. III 2*, 902 f., 3. Heitz in den Straß-
burger Abhandlungen zur Philosophie (1884) S. 1 ff.
Zeller, Grundrifs. 22
338 Dritte Periode.
In der Westhälfte des Römerreicbs scheint sich der Neu-
platonismus nur in der einfacheren und reineren Gestalt, die
er bei Plotin und Porphjrios hatte, fortgepflanzt zu haben.
Spuren seines Daseins finden sich vielleicht in den logischen
Arbeiten und den Übersetzungen des Mari us Victorin us
(um 350), des Vegetius (Vectius, Vettius) Prätextatus
(wahrscheinlich 387 gest.) und Albinus, so weit wir von
ihnen wissen, und in dem enzyklopädischen Werk des Mar-
cianus Capella (um 350 — 400); bestimmtere bei Augu-
stinus (353 — 430) und den beiden Piatonikern Macrobius
(um 400) und Chalcidius (wohl im 5. Jahrh.). Der letzte
Vertreter der alten Philosophie ist hier der edle Anicius
Manlius Severinus Boethius, der um 480 geboren
war und 525 auf Theodorichs Befehl hingerichtet wurde.
Denn wiewohl er äußerlich der christlichen Kirche angehörte,
ist doch seine eigentliche Religion die Philosophie. In dieser
bekennt er sich zu Piaton und Aristoteles, die seiner Ansicht
nach miteinander durchaus übereinstimmen; sein Platonis-
mus hat die neuplatonische Färbung; auch der Einflufi der
stoischen Moral läflt sich aber in seiner „philosophischen
Trostschrift" nicht verkennen.
Namenverzeichnis.
Die Hanptstellen bei den Philosophen^ sind fettgedruckt.
AaU 16.
Achaikos 268.
Adam 129, 1.
^drastos 283, 1.
Adesios 329 f.
Alianos 6.
Alius Stilo 265.
Amilius Paulus 263.
Anesidemos 30. 258. 287—290. 291 f.
Äschines d. Sokrat. 107.
— d. Akadem. 268.
Aetios 7.
Agrippa 290 f.
Akademie, alte 158—162. 262. 295;
neuere 29 f. 228—262; nach
Kleitomachos 26g— 270. 272 f.
Akusilaos 24.
Albinus d. alt. 285. 301 ; d. jung.
338
Alexander d. Gr. 29. 77. 164. 171.
218. 257.
— V. Agae 283.
— V. Aphrodisias 12. 288 f.
— Polyhistor 10. 294. 297.
Alexinos 108.
Alkidamas 86.
Alkinoos 285, 1.
Alkmäon 52. 81.
Amafinius 245.
Amelios 324 f.
Anmionios, Lehrer Plutarchs 284.
— Sakkas 312 f.
— Hermeias' Sohn 336 f.
Amyntas 163.
Anacharsis 26.
Anaxagoras 22. 27. 33. 40. 52. 70 f.
77—82. 83. 95. 101. 135.
Anaxarchos 77, 257.
Anaximander 24. 32. 36—38. 42. 44.
53. 56. 64.
Anaximenes v. Milet 32. 38 f. 40 f.
— V. Lampsakos 169.
Anchipylos 110.
Andromkos 12. 165 f. 168. 171 f.
270 f. 283.
Anebon 326.
Annikeris d. alt. 120; d.jüng. 113.
119.
Anonymus bei Jamblichos 86, 1.
Antigonos Karystios 9.
Antiochos Epiphanes 303.
— V. Askalon 8. 259. 2e0f. 271. 273.
285. 287.
— d. Skeptiker 290.
Antipatros d. Kyrenaiker 115.
— d. Stoiker 221. 240. 265.
Antiphon 86, 1. 88. 90.
Antisthenes d. Kyniker 110 — 115.
116. 127. 222 f. 224. 238.
— d. Peripatetiker 9. 216.
Antoninus, M. Aurel. 244. 275 f.
280 f.
Anytos 105.
ApeUas 290, 1.
Apellikon 172.
Apelt 123, 2. 124, 3. 161, 1.
ApoUodoros d. Chronist 9.
— d. Stoiker 267.
— d. Epikureer 10. 245. 264.
ApoUomos d. Stoiker 10.
— V. Tyana 10. 295. 297 f.
Apuleius 285. 300 f.
Aratos 220.
Archedemos 221. 230.
Archelaos 82. 95.
Archytas 45. 121. Ps.-Arch. 294.
296.
Areios Didymos 8. 267. 270. 295.
Arete 115.
Aristarchos 244.
22*
340
Namenverzeichnis.
Aristippos d. alt. 116—118. 258, 2.
— d. Jung. 115 f.
— d. Akademiker 9.
Aristobulos 305.
Aristokles 10. 288.
Ariston, Piatons Vater 119.
— aus Chios 220. 222. 226, 2. 286f.
288 f.
— aus Keos 216 f.
— jüngerer Peripat. 271.
Aristophanes d. Komiker 41. 96.
— V. Byzanz 11. 125.
Aristos 270.
Aristoteles 7. 9. 12. 20. 24. 27. 28 f.
43. 47, 2. 54. 60, 1. 66. 76. 80.
88 f. 94. 97 f. 101. 121 f. 136. 140.
155 f. 160. 168—212. 213f. 215. 217.
219. 222 f. 224. 227 f. 232 f. 253, 2.
265 f. 279. 283 f. 285 f. 296. 299.
311 f. 816. 818 f. 320 f. 324. 330 f.
332. 335. 338.
Aristoxenos 9. 51. 95. 215.
Arkesilaos 162. 268 f. 260. 268.
Arnim, H. v. 68, 1. 126, 1. 221, 2.
275. 1. 286, 1. 288, 1.
Arrianos 279.
Artemon 171.
Asklepiades 64.
Asklepiodotos 336.
Asklepios 337.
Aspasios 283.
Ast 123, 1. 125.
Athenäos 6.
Athenaeoras 283.
Athenodoros, zwei 267.
Atomiker 33. 70—77. 81. 187. 215, 2.
Attalos 275.
Attikos 285 f. 301.
Augustinus 7. 8. 338.
Augustus 267. 270.
Aurelianus 313.
Barth 221, 3. 225, 2. 226, 1. 234, 1.
Basileides 245.
Baumann 15.
Bäumker 15. 59, 1.
Bekker 165, 1.
Beiger 167, 1.
Bender 15.
Bergk 127, 2.
Bemays 57, 1. 61, 2. 170, 1. 211.
Bias 26.
Bion 111. 115.
Blass 86, 1. 124, 1. 5.
Böckh 13. 42, 2.
Böhm 51, 1.
Boethius 338.
Boethos d. Stoiker 221. 266. 266.
— d. Peripat. 271.
Bonhöffer 221, 3. 225, 2. 226, 1.
234, 1. 238, 1. 279, 1.
Bonitz 121, 2. 136, 1. 165, 1. 167, 2.
168, 1.
Brandis 14. 15. 46, 1. 47, 1. 128, 1.
159, 1. 165, 1. 167, 1. 168, 1.
Brieger 61, 2. 73, 1. 249, 1.
ten Brink 74, 1.
Brochard 253, 2. 257, 1.
Brucker 12 f.
Buhle 13.
Bumet 15. 46, 1. 47, 1. 121, 1.
Burrus 276.
Bussemaker 165, 1.
Bywater 61, 2. 64, 1.
Campbell 108, 1. 126, 1. 128, 1.
129, 1.
CapeUe 231, 1. 271, 2.
Carus 163, 1.
Cato 267.
Celsus, Cornelius 274.
— d. Platoniker 285. 301.
Chäremon 275.
Chaignet 42, 3. 119, 1.
Chalcidius 338.
Chamäleon 215.
Charmidas 268.
Charondas 294.
Chilon 26.
Christ 124, 5. 167, 2.
Chrysanthios 330.
Chrysippos 24. 220. 221, 2. 228 f.
225 £227 f. 281. 283f. 236 f. 287.
242, 1. 248. 265. 333.
Cicero 7. 170. 226. 266. 268f. 272f.
288 294
Clemens Alex. 7. 8. 17. 20. 305.
Cohen 136, 1.
Cohn 306, 1.
Comutus 275 f.
Cousin 14 f. 333, 1.
Crassitius 274.
Creuzer 313, 1.
Crönert 14, 1. 111, 3. 220, 1.
Cumont 271, 1.
, Dähne 306, 1.
Damaskios 336 f.
Namenverzeichnis.
341
Dardauos 266.
Decharme 16.
Demetrios d. Phaler. 215.
— d. Kyniker 281 f.
— d. Epikureer 245.
— d. Magnesier 10.
Demokritos 17. 20. 52. 61—77. 140.
173. 187. 193. 248 f. 251. 253, 2.
Demonax 282.
Demosthenes 165.
Derkylides 12.
Descartes 225, 2.
Dexippos 330.
Di alexeis (Siaaol Xo^^oi) 86, 1.
Dikäarchos 9. 215.
Diehl 331, 1.
Diels 7. 8. 16. 20, 1. 38, 1. 42, 4.
58, 1. 2. 54, 1. 56, 1. 57, 1. 58, 1.
60, 1. 61, 1. 2. 64, 1. 65, 1. 67, 1.
69, 2. 70, 1. 3. 71, 1. 74, 1. 78, 1.
82, 1. 85, 1. 86, 1. 90, 1. 122, 1.
169, 2. 170, 1. 215, 2, 257, 2. 290,
1. 294, 1.
Dilthey 15.
Diodoros Kronos 108. 109 f. 219.
— d. Peripatetiker 216 f.
Diogenes v. Apollonia 32. 40 f.
— d. Demokriteer 77.
— d. Kyniker 110. 111. 114 f. 2*^.
238. 240. 281.
— V. Oinoanda 244, 2.
— V. Seleukeia 216. 221. 265.
— Laertios 8. 10 f. 270, 2.
Diokles 10.
Dion aus Syrakus 120.
— Chrysostomos 286.
Dionysios, d. beiden Tyrannen 115.
120 f.
— d. Stoiker 267.
— d. Epikureer 245.
Dionysodoros 86. 89.
Dissen 98.
Dittenberger 126, 1.
Döring 14. 85. 48, 1. 59, 1. 95, 1.
123. 129. 159, 1. 204, 1.
Domitianus 279. 286.
Drews 313, 3.
Drummond 306, 1.
Dübner 165, 1.
Dümmler 82, 1. 110, 1.
Duris 215.
Dyroff 2aS, 1. 288, 1.
Eklektiker 29 f. 262—287.
Ekphantos 52. 162.
Eleaten 32 f. 5a— 61.
Elische Schule 110.
Elter 16. 305.
Empedokles 33. 40. 52. 60. 66—70.
78. 86. 307,
Empirische Arzte 288. 291.
Epicharmos 53.
Epiktetos 275 f. 279 f.
Epikureer 9. 29. 244-246. 264. 278 f.
298 f 300
Epikuros 9.* 10. 30 f. 71, 1. 77. 117.
244-256. 276. 286. 299.
Epimenides 24.
Epiphanios 8.
Eratosthenes 9. 220. 240.
Erdmann, E. u. B. 15.
Eretrische Schule 110.
Erymneus 216.
Essener 90^—905. 306.
Euandros 259.
Eubulides 108.
Eucken 15.
Eudemos 7. 24. 49. 140. 169. 170, 1.
213. 214 f.
Eudokia 11.
Eudoros 8. 12. 270. 295. 298.
Eudoxos 159, 1. 161. 191. 192, 2.
253, 2.
Euemeros 115 f.
Euenos 86.
Eukleides 108 f. 120. 127.
Eunapios 11. 380.
Euphrates 275.
Euripides 82.
Eurytos 45.
Eusebios d. Neuplat. 380.
— V. C&sarea 6. 8. 17. 805.
Euthydemos 86. 88. 89.
Fabianus Papirius 274.
Fabricius 13.
Falter 306, 1.
Favorinus 10. 292.
Feddersen 90, 1.
Figulus s. Nigidius.
Flaminius 268.
Fredrich 61, 2. 82, 1.
Freudenthal 54, 2. 285, 1. 838, 1.
Füllebom 13.
Gaius 284. 285.
Galenos 7. 8. 286 f. 291.
342
Namenverzeichnis.
Gallienns 313.
Gave 147, 1.
Gelliufl 6.
Greminus 267.
Gercke 164, 1. 166, 3. 270, 2. 276, 1.
Gilbert 58, 1.
Giussani 244, 2.
Gladisch 17.
Gnostiker 301. 319.
Goedeckemeyer 168, 1. 248, 1.
257, 1. 288, 1. 290, 1. 2. 292, 1.
Gomperz, Th. 14. 50, 1. 54, 2. 62, 1.
82, 1. 85, 1. 2. 95, 1. 106, 1. 107, 1.
108, 1. 119, 1. 123, 1. 126, 1. 2.
127, 1. 129, 1. 141, 1. 144, 1. 156, 1.
158, 1. 161, 1. 162, 1. 163, 1. 177, 1.
181, 1. 183, 1. 2. 186, 1. 188, 1.
189, 1. 192, 1. 193, 1. 197, 1. 199, 3.
200, 1. 220, 1.
— , H. 136, 1.
Gorgias 86-(K). 110. 112.
Grant 163, 1.
Grote 15. 85. 119, 1. 123, 1. 124.
163, 1.
Guyau 253, 1.
Haas 287, 1.
Hamelin 166, 5.
Harpokration 285. 302.
Hecht 119, 1.
Hegel 4. 13 f. 64. 85.
Hegesias 115. 119.
Hegesinos (— sllaos) 259.
Hegias 336.
Heidel 36, 2.
Heinze, M. 15. 16. 306, 1.
— , R. 111, 1. 159, 2.
Heitz 165, 1. 171, 1. 337.
Hekaton 266.
Hense 6, 1. 112, 2. 276, 1. 278, 1.
Herakleides d. Pont. 8. 158. 161 f.
264.
— Lembos 9.
— d. Skeptiker 287.
Herakleitos v. Ephesos 11. 17. 33.
42, 4. 52 f. 57, 1. 61—66. 68. 83.
87. 135. 137. 223. 232. 289f. 290, 1.
— d. Stoiker 275 f.
Herillos 220. 222. 208.
Hermann, K. F. 47, 1. 85. 119, 1.
123, 1. 125. 126.
Hermarchos 244.
Hermeias v. Atarneus 163.
— d. Neuplat. 333.
Hermeias d. Christ 8.
Hermes Trismegistos 302 f.
— Herause. Senecas 276, 1.
Herminos 283.
Hermippos 9. 166. 216.
Hermodoros d. Platoniker 8. 120.
140.
— V. Ephesos 65.
Hermotimos 78.
Herodotos d. Histor. 17. 20. 42, 4.
43 f.
— d. Skeptiker 290.
Hesiodos 24. 25. 305.
Hestiäos 158. 162.
Hesychios 11. 166, 1.
Hicks 167, 1. 197, 1.
Hierokles d. Stoiker 275, 1. 331, 1.
— d. Neuplat. 275, 1. 312 f. 381 f.
Hieronymos d. Bhodier 216 f.
Hiketas 52.
Hildebrand 16. 205, 1.
Hipparchia 111.
Hippasos 52.
Hippias 86. 88. 90—92.
Hippon 40.
Hippobotos 10.
Hippokrates 52.
Hippolytos 7.
flirmer 129.
Hirzcl 75, 1. 110, 1. 221, 3. 246, 1.
253, 2. 257, 1. 265, 1. 287, 1.
290, 1.
Hody 303.
Homeros 25. 63. 305.
Hom 123, 2.
Hosius 276, 1.
Huit 15 f.
Hultsch 192, 1.
Hypatia 330.
Jacoby 9. 42. 220, 1. 2.
Jamblichos 7. 11. 314. 827—829.
330 f. 332. 335 f.
Janeil 126, 1.
Jason 267.
Ichthyas 108.
Idäos 40.
Idomeneus 10. 245.
Immisch 129.
Joannes Philoponos 12.
— Stob. s. Stobäos.
Joel 95, 1. 98, 3. 4. 104, 1. 129, 1.
305.
Ionische Philosophen 32. 84-41. 80.
Namen verzei chn i s .
343
Josephas 804.
Irenaos 7. 8.
Isidoros 336.
Isokrates 43. 88. 163.
Juba 294.
Jüd.-griech. Philosophie 30. 293.
8oa-dii.
Jolianus 330 f.
Justinianus 337.
Jnstinus 7.
Kaibel 53, 1.
Kallikles 86 f. 91.
Kallimachos 9.
KaUippos 191. 192.
KaUisthenes 164. 215.
Kant 136, 1.
Karneades d. alt. 7. 216. 25»— 262.
264 f. 266. 268. 273. 291. 315.
— d. jung. 260. 262 f.
Karsten 54, 1. 56, 1. 67, 1.
Kebes 107.
Kenyon 169.
Kinkel 14.
Kirchhoff 293, 1.
Kirchner 313, 3.
Kleanthes 9. 11. 220. 221, 2. 224.
225, 1. 226, 2. 230. 283. 234r-2a6.
240. 243 f. 257, 2. 307.
Klearchos 9. 215.
Kleinias 45.
Kleist, H. V. 313, 3.
Kleitomachos 7. 9. 260. 262. 268.
291.
Kleobulos 26.
Kleomedes 275 f.
Kleomenes 220.
Klytos 215.
Knoke 211, 1.
KöstUn 16.
Koheleth 303; s. Salomo.
Kolotes 111, 3. 245.
Konstantinos I 330.
Kralik 95, 1.
Krantor 11. 162.
Krates d. Kyniker 111. 115. 219.
222.
~ d. Akad. 162. 258.
— d. Neuakad. 262.
Kratippos 271.
Kratylos 66. 119.
Krische 159, 1.
Kritias 86 f. 91.
Kritolaos 216 f.
Krohn 104, 1. 129.
Kroisos 34.
KroU 332, 1. 333, 1.
Kronios 285. 302.
Kühnemann 14.
Kyniker 110—115. 152. 222. 254.
278 f. 281 f. 286.
Kyrenaiker 115—119.
liachmann 244, 2.
Lälius 265.
I Lakydes 259.
! Lange 15. 248, 1.
I Lassalle 61, 2. 64.
! Lasson 168, 1.
Leibniz 165. 225, 2.
I Leon 215.
Leukippos 33. 40. 60. 67. 69, 2.
70—75. 77 f. 78. 83. 87. 140.
Lewes 15. 163, 1.
Libanios 330.
Liepmann 73, 1.
Linos 305.
Lobeck 305.
Longinos 313. 324.
Lortzing 73, 1. 75, 1.
Lotze 136, 1.
Lncanus 275.
Lucretius 245. 250. 252.
Lucollns 268.
Latze 36, 2.
Lukianos 286.
Lutoslawski 123, 1. 126, 1. 127,
1, 2. 129, 1. 136, 1.
Lykon, Ankläger d. Sokrat. 105.
— d. Pythag. 8.
— d. Peripat. 216 f.
Lykophron 86.
Lysis 45.
Macrobius 838.
Maier 174, 1.
Macrianus Capeila 888.
Marcks 281, 1.
Marinos 836.
Mark Anrel s. Antoninas.
Marsilius Ficiuus 313, 3.
Maximas a. Tyros 285. 300 f.
— d. Neaplat. 380.
Megariker 108— 110. 128.
Memeke 6, 1.
Meiners 13.
Meiser 116.
Meletos 105.
344
Namenverzeichnis.
MelissoB 60 f. 88.
Mekler 158, 1.
MenedemoB d. Eretr. 110.
— d. Kyniker 111.
— d. Akad. 158.
Menipnos 111.
Menoootos 290.
Menon 215.
Meton 66.
Metrodoros a. Chios 77. 267.
— d. Anaxagoreer 82.
— d. Epikureer 245.
— V. Stratonike 268.
Meyer, Ed. 124, 5.
— , J. B. 194, 1.
Mnesarchos, Vater d. Pythag. 42.
— d. Stoiker 266.
Moderatus 10. 296. 297.
Moschos 110.
Moses 801. 804. 307.
Müller, H. F. 313, 1.
Mullach 16.
Munk 123, 1. 126.
Munro 244, 2.
Musonius ßufus 242, 1. 275. 278.
279.
Myson 26.
Mysterien, Schrift v. d. 329.
Natorp 15. 71, 3. 75, 1. 108, 1. 124.
136 f. 141, 1. 144, 1. 147, 1.
150, 1. 156, 1. 246, 1. 253, 2.
287, 1. 290, 1.
Nauck 324, 1. 827, 1.
Nausiphanes 77. 244. 253, 2.
Neanthes 9.
Neleus 172.
Nemesios 313.
Neokles 244.
Nero 275 f. 283.
Nessos 77.
Nestorios 331.
Neuhäuser 36> 2.
Neuplatoniker 30. 284. 293. 311
his338.
Neupythagoreer 30. 208—298. 304.
312. 328. 332.
Newman 168, 1.
Nigidius Figulus 294.
Nigrinus 285.
Nilias y. Nikäa 10.
Nikolaos V. Damaskos 271.
Nikomachos, Vater d. Aristoteles
163.
Nikomachos y. Gerasa 10. 295. 297.
Numenios 7. 285. 295. 801 f.
(Dinomaos 281 f.
Okellos (Okkelos) 294. 297.
Olympiodoros d. <. 332.
— d. jung. 337.
Oncken 123 f. 205, 1.
Onomakritos 24.
Ori^enes d. Platoniker 313.
— d. Kirchenlehrer 7. 318.
Orpheus 305.
Orphische Lehre 50, 1. 70. 294. 304.
382 f.
— Theogonie 24.
Pabst 60, 1.
Pamphilos 244.
Panätios 9. 107. 221. 231, 1. 244.
263. 265 f. 267. 274.
Pappenheim 290, 1.
Parmenides 32f.49. 52. 66-^. 60, 1.
61. 62. 67. 69, 2. 70. 72. 77. 83.
109. 134. 137. 307.
Pasikles 108.
Pater 119, 1.
Patin 57, 1. 61, 2. 65, 1.
Patron 245.
Paulus d. Apostel 277.
Pearson 291, 2.
Peregrinus Proteus 282.
Periander 26.
Perikles 78. 85.
Periktione 119.
Peripatetiker 30, 164, 172. 212—217.
223. 270—272. 288 f. 295. 297 f.
300. 305.
Persäos 220.
Persius 275.
Pfleiderer 61, 2. 66. 95, 1. 119, 1.
129.
Pflug 166, 4.
Phädon 110.
Phädros 245.
Phänarete 95.
Phanias 9. 215.
Pherekydes 24. 43.
Philippos, König v. Maked. 164.
— y. Opus 147. 160 f. 124, 1.
Philodemos 7. 10. 169. 244, 2. 245.
248.
Philolaos 42, 2. 46. 46. 47. 48f. 60.
61. 107. 137.
Philon d. Megariker 108. 110.
Namenverzeichnis.
345
Philon V. Larissa 259. 268 f.
— d. Jude 271, 1. 288, 1. 301. 304.
806-311. 312. 314. 323.
Philonides 245.
Philostratos 295. 297.
Phokylides 25.
Phormion 216.
Photios 6.
Pittakos 26.
Piaton 6. 8. 11. 17. 20. 24 f. 27 f.
29. 43. 47, 1. 49. 55 f. 66. 80. 84 f.
86. 88. 94. 95 f. 97 f. 102f. 108, 1.
109. 112. 116. 119—157. 158 f.
160 f. 163. 166, 3. 171 f. 180 f.
187. 189. 191. 193. 198f. 201. 203.
205 f. 207 f. 210. 212. 214. 219.
223 f. 228. 253, 2. 266 f. 269. 277.
286. 295 f. 297. 301. 305. 307 f.
809 f. 311 f. 313. 316 f. 318 f. 320 f.
322. 331 f. 335. 338.
Platoniker d. ersten Jahrb. n. Chr.
30. 284—286. 312.
— , pythagorisierende 298—308.
Plimus d. alt. 304; d. jung. 275.
Plotina 245.
Plotinos 30. 308. 813-324. 325. 326.
334. 338.
Plutarchos v. Chäroneia 7. 12. 172.
284 f. 298—300. 301.
— V. Athen 881. 333.
Pöhlmann 16. 98, 4.
PolemoB 151, 1. 162. 219. 234.
PoUio 278.
PoUis 120.
Polos 86. 91.
Polyänos 245.
Polystratos 245.
Poiphyrios 7. 10. 11. 313. 316. 324
bis 326.
Poseidonios 226, 2. 231, 1. 242, 1.
266 f. 271, 2. 276 f. 280 f.
Potamon 270.
Prächter 105, 2. 275, 1.
Prantl 15. 166, 3. 5. 174, 1.
Praxipbanes 215.
PreUer 15. 56, 1. 67, 1.
Priscus 330.
Prodikos 86. 90, 1. 91—92.
Proklos 7. 12. 329. 332. 333—386.
Protagoras 22. 71. 75. 85—92. 112.
115 f.
Protarchos d. Rhetor 86.
— d. Epikureer 245.
Proxenos 163.
Prytanis 216.
Ptolemäos Philometor 305.
— d. Peripatet. 166. -
— d. Skeptiker 287 f.
Pyrrhon 77. 257 f. 259. 287 f. 289.
Pythagoras 8. 10. 11. 17. 32. 41—45.
48 f. 50. 297 f. 305. 307.
Pythagoreer 8. 10. 11. 17. 32. 41
bis 62. 59, 1. 70. 120. 137. 156.
159 f. 215. 256. 274. 295. 298. 310.
Vgl. Neupyth.
— , der des Alexander Polyhistor
294. 297.
Pythias 163.
Baeder 123, 1. 124, 5. 127, 1. 2.
129, 1.
Ramsauer 168, 1.
Rehmke 15.
Reinhold 47, 1.
Ribbing 123, 1.
Richter, A. 313, 3.
— , R. 257, 1.
Ritter, H. 14. 15. 36, 3. 47, 1. 123, 1.
136.
— , C. 125, 1. 157, 1. 161, 1.
Robert 75, 2.
Rödler 167, 1.
Roth 17. 42, 3.
Rohde 16. 51, 1. 65, 1. 71, 1. 127, 2.
129. 220, 1.
Rose 165, 1. 166, 3. 171, 1.
Ruelle 337, 1.
Sallustius 336.
Salomo, Weisheit 306; Prediger s.
Koheleth.
Salonina 313.
Sarpedon 287 f.
Satuminus 290. 292.
Satyros 9. 216.
Scävola 266.
Schaarschmidt 42, 2. 123, 1.
Schanz 98, 4.
Schaubach 78, 1.
Schenkl 104, 1.
Schiaparelli 112, 1.
Schleiermacher 13. 38. 61, 2. 64. 98.
101. 108, 1. 123, 1. 125. 127.
Schmekel 265, 1. 272, 1.
Schmidt, L. 16.
Schneider 213, 1.
Scholastik 333.
Schorn 78, 1.
346
Namenverzeidmig.
Schalte» 15. 127, 1.
Schuster 61, 1.
Schwegler 15. 167, 2.
Scipio Ämilianng 263. 265.
Seneca 7. 233. 242. 275. 276—278.
280 f.
Severas 285.
Seztins, die 274. 294.
Seztufl £mpir. 7. 288. 289 f. 2»1 f.
Siebeck 16. 103, 1. 161, 1. 183, 1.
189, 1.
Sieben Weise 25.
Simmias 107.
Simplikios 12. 887.
Siron (Skiron) 245.
Skeptiker, filtere 29. 267—262. 269.
— , lungere 31. 55. 287—292.
Socher 123. 125.
Sokrateg 8. 22. 27 f. 71. 76. 94. »5
big 107. 108. llOf. 113. 118. 119f.
130- 132. 133 f. 135. 150 f. 172.
177. 189, 1. 219. 222. 239.
Sokratiker 10. 107 f. 222. 235.
Solon 23. 25. 26. 34.
Sopatros 329 f.
Sophigten 27. 33 f. 82— »2. 96. 98 f.
101. 261.
Sophronigkog 95.
Soranog 290.
Sogiseneg ^3.
Sogikrateg 9.
Sotion d. Peripatet. 9. 216.
— jüngerer Peripatet. 288.
— Schüler d. Sextier 274.
Soulier 61, 2.
Spengel 166, 3.
Speugippog 8. 109. 116. 139. 16S f.
160. 201.
Sphärog 9. 20. 243.
Stahr 163. 164, 1.
Stallbaum 123, 1.
Stageas 271.
Stein, H. 56, 1. 67; 1.
— H. V. 119, 1. 123, 1.
— , L. 221, 3.
Steinhart 119, 1. 123, 1.
Stich 280, 1.
Stilpon 108. 110. 219.
Stobäog, Joa. 6. 7.
Stoiker 29 f. 112. 219--244. 247, 1.
252. 254 f. 259. 260 f. 270. 273.
282. 286. 295 f. 297. 298 f. 300 f.
306. 307 f. 309 f. 311. 316. 319.
321. 323. 338.
< Stoiker, jüngere 26&-2II7. 274—281.
Strabon 172. 267.
Straton 216 f. 217.
, Strümpell 14.
Sturz 61, 1. 167, 1.
, Suckow 123, 1.
Sudhaag 253, 2.
Suidag 11.
I Sulla 172.
I Sugemihl 123, 1. 156, 1. 168, 1.
I Synegiog 330.
I Syrianog 882 f. 335.
Tanneiy 15. 95, 1.
Taurug 284 f.
Teichmüller 61, 2. 147.
Telekleg 259.
Teleg 111. 220 f.
Tennemann 13.
TertuUianug 7. 290.
Thaleg 26. 32. 34 f. 36. 40.
Theageneg 262.
Themigtiog 284. 831.
Theodag (Theudag) 290.
Theodoretog 7.
Theoderich 338.
Theodorog d. Atheigt 115. 118.
— V. Agine 329.
Theognig 23. 25.
Theomnegtog 270.
Theon, d. Smymäer 284. 301.
Theophragtog 7. 9. 12. 54. 169. 172.
212—214. 215. 217.
Theogebiog 332.
Therapeuten 306.
Thragybulos 106.
Thragyllog 12. 125. 270.
Thragymachos d. Megariker 108.
110.
— d. Rhetor 86. 91. 92.
Tiedemann 13.
Tim&og, d. Lokrer 296.
Timon 257 f.
Traianug 286.
Trendelenburg 167, 1.
Tubero 288.
Tyrannion 172. 271.
berweg 15. 123, 1.
^berweg-Heinze 161, 1. 211, 1.
Ugener 127. 129. 165, 1. 332, 1.
Yalckenaer 305.
Valentinug, Gnogtiker 301.
Namenverzeichnis.
347
Varro 7. 278 f. 281. 294.
Vatinius 294.
Vatke 56, 1.
Vegetius (Vectius, Vettius) 338.
Victorinus 338.
Volkmann, R. 298, 1. 313, 3.
Vorländer 15. 136, 1.
Voft, O. 161, 3.
Wachsmuth 6, 1. 16. 221, 2. 257, 2.
Wachtier 52, 1.
Waitz 166, 2.
Wallace 246, 1.
Walter 16.
Weber 86, 1.
Welcker 90, 1.
Wellmann, Ed. 15. 167, 2. 221, 2.
Welt, Buch V. d. 271 f.
Wendland 122, 1. 169, 3. 306, 2.
Wilamowitz-MöUendorf, U.v. 90, 1.
111, 2.
WiUiam 244, 2.
Wimmer 213, 1.
Winckelmann 110, 1.
Windelband 15. 46, 1. 79, 1. 119, 1.
123. 129. 149, 1.
Wotke 244, 2.
Xanthippe 96.
XenarchoB 271.
Xeniades 86. 88.
Xenokrates 8. 130. 158. 159 f. 162.
, 163. 219. 295. 297.
! Xenophanes 32. 44. 51. 53--55. 56.
; 60, 1. 62. 70. 114.
Xenophon 8. 90, 1. 95. 97 f. 99.
102 f. 107. 189, 1.
, Zaleukos 294.
Zeller 14. 36, 2. 54, 2. 57, 1. 59, 1.
I 61, 2. 63, 1. 73, 1. 74, 1. 75, 1.
; 85, 1. 87, 1. 90, 1. 95, 1. 98, 4.
108, 1. 112, 1. 122, 1. 123. 124, 5.
126, 1. 127, 2. 128, 1. 129, 1. 141, 1.
156, 1. 159, 1. 2. 160, 1. 161, 1.
178, 1. 179, 1. 189, 1. 198, 2. 200, 1.
220, 1. 225, 2. 234, 1. 253, 2. 271, 2.
; 287, 1. 288, 1. 290, 1. 294, 1. 305, 1.
313, 2. 333, 1. 337, 1.
I Zenon v. Elea 68-<0. 88. 109. 124.
! — V. Kition 110. 213. 219 f. 221, 2.
222f. 224f. 226, 2. 227. 233-287.
238. 240. 243. 246. 259. 265. 269.
307.
— V. Tarsos 221. 265.
— d. Epikureer 245. 264.
ZeuxippoB 290.
Zeuzis 290.
Ziegler 16.
Nachträge.
Zu S. 216 Z. 17. Über Ariston s. Gercke Arch. f.
Gesch. d. Philös. V 198 ff. , wo nachgewiesen wird , daß er
sich in seiner Sprache den Borystheniten Bion (s. S. 111)
zum Vorbilde nahm.
Zu S. 244 Z. 10 V. u. Später ist Epikur in einem wich-
tigen Punkte seiner Lehre zu Nausiphanes in einen aus-
f gesprochenen Gegensatz getreten, wenn er sich auch schwer-
ich in so plumpen Schmähworten gegen ihn ergangen hat,
wie sie bei Diogenes X 8 überliefert werden (s. Crönert
Eolotes und Menedemos S. 16 ff., wo alle solche angeblichen
Verunglimpfungen andrer Philosophen durch Epikur auf einen
ihm untergeschobenen Brief surückgeführt werden). Während
Nausiphanes den Philosophen zur politischen Betätigung
auffordert und als die beste Vorbereitung für einen Staats-
mann und Redner die demokritische Naturlehre betrachtet,
verweist Epikur den Weisen auf sich selbst und auf ruhigen
G^nuß (s. S. 256). Ganz im Sinne des Meisters hat dann
Metrodor eine scharfe Polemik gegen Nausiphanes' Stand-
?unkt gerichtet, aus der uns noch längere Bruchstücke in
*hilodems Rhetorik II erhalten sind; s. Sudhaus in der
S. 253 Anm. 2 erhaltenen Abhandlung und H. v. Arnim
Über Dion von Prusa (1898) S. 43 ff.
Zu S. 245 Z. 5 V. u. Die Notiz bei Diogenes rührt
sicherlich nicht von diesem selbst her, sondern wahrschein-
lich von seiner Hauptquelle, mag dies nun, wie Usener an-
nimmt, Nikias von Nikäa (s. S, 10 f.) oder, wie Gercke
De quibusdam Laertii auctoribus (1899) S. 67 ff. vermutet,
ein rlatoniker aus der ersten Hälfte des 2. Jahrh. n. Chr.
sein. Vgl. S. 270 Anm. 1. Dagegen bezeugen das Fort-
bestehen der epikureischen Schule für das Ende des 2. Jahr-
hunderts n. Chr. Aristokles bei Eusebios praep. ev. XIV 21
und die Inschrift des Diogenes von Oinoanda (s. S. 244
Anm. 2), für das 3. Jahrhundert auch der Bischof Dionysios
von Alexandreia.
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