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Full text of "Grundriss der Geschichte der griechischen Philosophie"

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GESCHICHTE DER GRIECHISCHEN 
PHILOSOPHIE. 



GRUNDRISS 

DER 

GESCHICHTE 

DER 

GRIECHISCHEN PHILOSOPHIE. 

VON 

D« EDUARD ZELLER. 



NEUNTE AUFLAGE 

BEARBEITET VON 

DR FRANZ LOBTZING. 




LEIPZIG, 
O. R. REISLAND. 

1908. 



Alle Rechte vorbehalten. 



Altenburg. 
Pierersche Hofbuchdruokerei 
Stephan Qeibel & Co. 



S/73 



Vorwort zur ersten Auflage. 



Schon seit Jahren trug ich mich mit dem Gedanken, 
zu dessen Ausführung ich auch von verschiedenen Seiten 
aufgefordert wurde, meinem größeren Werk über die Philo- 
sophie der Griechen eine kurze Bearbeitung des gleichen 
Gegenstandes folgen zu lassen. Aber erst nachdem jenes in 
seiner dritten Auflage zum Abschluß gekommen war, fand 
sich die Muße zu dieser Arbeit. Derartige Darstellungen 
werden nun je nach dem Zweck, den sie sich setzen, ein 
verschiedenes Verfahren einschlagen müssen. Der mein ige 
lag an erster Stelle in der Absicht, den Studierenden ein 
Hilfsmittel für die akademischen Vorlesungen in die Hand 
zu geben, welches ihnen die Vorbereitung auf dieselben er- 
leichtern und das zeitraubende Nachschreiben ersparen sollte, 
ohne doch dem Vortrag des Lehrers vorzugreifen und Fesseln 
anzulegen. Ich machte es mir daher zur Aufgabe, meinen 
Lesern von dem Inhalt der philosophischen Systeme und 
dem Gang ihrer geschichtlichen Entwicklung ein Bild zu 
geben, das alle wesentlichen Züge enthielte, und auch die 
wichtigeren literarischen Nachweisungen und Quellenbelege 
zu liefern; aber wie ich mich in der letzteren Beziehung 
auf das Nötigste beschränkte, so habe ich auch in der Ge- 
schichtsdarstellung die Punkte in der Regel nur ganz kurz 
angedeutet, an welche sich teils allgemeinere historische Be- 
trachtungen, teils speziellere Erläuterungen und Untersuchungen 
anknüpfen lassen, oder bei denen eine Ergänzung meines 



334 



VI Vorwort zur ersten Auflage. 

früheren Werkes angemessen erschien; einen ausführlichen 
Zusatz der letzteren Art enthält der dritte und vierte Para- 
graph. Mein Grundriß ist zunächst auf Anfänger berechnet, 
wie sie die große Mehrzahl der ZuhOrer zu bilden pflegen; 
solche werden aber mehr verwirrt als gefördert, wenn man 
ihnen den Geschichtsstoff reichlicher mitteilt, als sie ihn mit 
Hilfe der Lehr vortrage verarbeiten können, oder sie mit den 
Titeln von Büchern und Abhandlungen überschüttet, von 
denen sie den kleinsten Teil jemals zu sehen bekommen. 
Wer andrerseits die Geschichte der Philosophie oder einzelne 
Teile derselben genauer kennen lernen will, der darf sich 
überhaupt nicht mit Kompendien begnügen, sondern er muß 
die Quellen selbst und die ijpafassenderen Bearbeitungen der- 
selben zu Rate ziehen. Dabei verkenne ich nicht im ge- 
ringsten, daß auch solche Lehrbücher, die nicht nach dem 
Plane des gegenwärtigen eingerichtet sind, ihre Berechtigung 
haben, daß z. B. eine zuverlässige und mit den erforderlichen 
Winken über den Wert und Inhalt der einzelnen Werke ver- 
sehene Bibliographie oder eine nach Art der Prell er sehen, 
nur mit strengerer Auswahl, bearbeitete Chrestomathie sehr 
dankenswerte Hilfsmittel des Unterrichts wären ; und ebenso- 
wenig ist es gegen meinen Sinn, wenn die vorliegende Schrift 
auch über ihren nächsten Zweck hinaus Leser findet. Aber 
der Meinung bin ich allerdings, daß jede wissenschaftliche 
Darstellung von einer genau abgegrenzten Zweckbestimmung 
ausgehen muß, und daß es nicht zuträglich ist, wenn man 
neben seinem Hauptzweck fortwährend nach solchen, die 
ihm fremd sind, hinschielt. 

Berlin, den 27. September 1883. 

Der Verfasser. 



Vorwort zur neunten Auflage. 



Als ich im Anfange des vorigen Jahres auf den 
Wunsch des hochbetagten Verfassers, der sich bei dem leiden- 
den Zustand seiner Augen des Lesens und Schreibens ent- 
halten mußte, die Bearbeitung einer neuen Auflage des Grund- 
risses tibernahm, war ich mir der besonderen Schwierig- 
keiten dieser Aufgabe wohl bewußt. Da die letzten Auflagen 
nur wenige Änderungen und Ergänzungen gebracht hatten 
(die inzwischen erschienene achte Auflage ist ein unveränderter 
Abdruck der siebenten), war es ein dringendes Bedürfnis, 
die Schrift einer genaueren Durchsicht zu unterziehen. Auf 
der andern Seite gebot die Pietät gegen den Verfasser, der in 
seinem größeren Werke über die Philosophie der Griechen 
ein TiTr^fxa ig aei geschaffen hat, die Anordnung des Ganzen 
sowie in der Hauptsache auch die Darstellung der einzelnen 
Systeme unangetastet zu lassen und selbst Änderungen des 
Wortlautes auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken. 
Diese Verpflichtung wurde dadurch, daß der verehrte Mann 
leider noch vor Vollendung der neuen Bearbeitung (am 
19. März d. J.) aus dem Leben schied, eher gesteigert als 
verringert. 

So erscheint denn der Text des Buches im großen und 
ganzen in der Gestalt, die ihm der Verfasser zuletzt gegeben 
hat. Nur an verhältnismäßig wenigen Stellen ist er mit 
schonender Hand ergänzt oder verändert worden, am häufigsten 
bei den chronologischen Angaben und in der Zusammenstellung 
der Quellenschriften und der neueren Hilfsmittel (§§3 und 4). 
Im übrigen sind die notwendigen Ergänzungen und Berich- 
tigungen in die Anmerkungen verwiesen worden. Dabei habe 
ich in allen den Fällen, wo ich es für erforderlich hielt, einen 
von Zellers Meinung abweichenden Standpunkt zum Ausdruck 
zu bringen, das Neue von dem Alten durch eckige Klammern 
(f ]) deutlich geschieden. Selbstverständlich sind derartige 



VIII Vorwort zur neunten Auflage. 

Bemerkungen im Einklänge mit dem Zwecke des Grundrisses, 
wie er im Vorwort zur ersten Auflage ausgesprochen ist, nur 
da eingefügt worden, wo durch neuere Untersuchungen eine 
Angabe des Verfassers unzweifelhaft berichtigt oder seine 
Auffassung widerlegt oder doch stark in Frage gestellt zu 
sein schien. Neu hinzugekommen sind auch einzelne wichtige 
Quellenbelege und eine größere Zahl von Nachweisungen aus 
der neueren Literatur; doch glaube ich mich auch hierin 
innerhalb der durch den Charakter des Buches gezogenen 
Grenzen gehalten zu haben. 

An Zellers klarer, abgerundeter und dem Gegenstande 
der Darstellung durchaus gemäßen Schreibweise ist im ganzen 
nichts geändert worden. Nur hin und wieder habe ich kleine 
Unebenheiten beseitigt und gewisse jetzt veraltet erscheinende 
Wendungen und Wortbildungen durch die gebräuchlichen er- 
setzt; das papierne „derselbe" im Sinne des persönlichen Für- 
wortes, das Zeller, wie freilich auch heute noch manche 
jüngere Schriftsteller, häufig anwendet, habe ich überall aus- 
gemerzt. — Die Rechtschreibung ist von dem Setzer durchweg 
den nunmehr auch in wissenschaftlichen Werken allgemein 
durchgeführten Regeln angepaßt worden, und die griechischen 
Eigennamen, die bisher, wenn auch nicht ganz konsequent, 
lateinisiert waren, treten jetzt in ihrer ursprünglichen Form 
auf. — Das Namenverzeichnis hat, auch abgesehen von der 
Vermehrung, die sich aus den Änderungen und Erweiterungen 
des Textes ergab, durch eine neue, sorgfältige Durchsicht 
eine bedeutende Bereicherung, namentlich an Stellen, erfahren. 

Möge diese Neubearbeitung dazu beitragen, das Buch, 
das sich bisher so trefflich bewährt hat, auf der Höhe zu er- 
halten, auf die es sein Verfasser von Anfang an gestellt hat, 
und ihm in den Kreisen, für die es vornehmlich bestimmt 
ist, neue Freunde zu gewinnen! 

Wilmersdorf bei Berlin, den 2. November 1908. 

F. Lortzing. 



Inhaltsverzeichnis. 



Seite 

Binleitung« A. Methodologisch-literarische« 

§ 1. Die Geschichte der Philosophie 1 

§ 2. Die griechische Philosophie 5 

§ 3. Quellenschriften. Die Geschichte der Philosophie bei 

den Alten 6 

§ 4. Neuere Hilfemittel 12 

B. Historische Einleitung. 

§ 5. Entstehung der griechischen Philosophie : angebliche 

orientalische Abkunft 17 

§ 6. Einheimische Quellen der griechischen Philosophie. . . 20 

§ 7. Die EntTvicklung des g^riechischen Denkens bis zum 

6. Jahrhundert 23 

§ 8. Charakter und Entwicklungsgang der griechischen 

Philosophie 26 

Erste Periode. Die vorsokratische Philosophie. 

§ 9. Ihr Entwicklungsgang 32 

I. Die drei ältesten Schulen. 

A. Die alten lonier. 

§ 10. Thaies 34 

§ 11. Anaximander 36 

§ 12. Anaximenes . . ; 38 

§ 13. Spätere Anhänger der altionischen Schule; Diogenes . . 40 

B. Die Pythagoreer. 

§ 14. Pythagoras und seine Schule 41 

§ 15. Das pythagoreische System : die Zahl und ihre Elemente 46 

§ 16. Die pythagoreische Physik 48 

§ 17. Religiöse und ethische Lehren der Pythagoreer .... 50 

§ 18, Der Pythagoreismus in Verbindung mit anderen Lehren. 52 



X Inhaltsverzeichnis. 

Seite 
C. Die Eleaten. 

§ 19. Xenophanes 53 

§ 20. Parmenides 55 

§ 21. Zenon und Melissos 58 

n. Die Physiker des 5. Jahrhunderts. 

§ 22. Heraklit 61 

§ 23. Empedokles 66 

§ 24. Die atomistische Bchule 70 

§ 25. Anaxagoras 77 

III. Die Sophisten. 

§ 26. Entstehung und Eigentämlichkeit der Sophistik. ... 82 

§ 27. Die bekannteren sophistischen Lehrer 85 

§ 28. Die sophistische Skepsis und Eristik 87 

§ 29. Die sophistische Ethik und Rhetorik 89 

Zweite Periode. Sokrates» Platon, Aristoteles. 

§ 30. Einleitung 93 

I. Sokrates. 

§ 31. Sein Leben und seine Persönlichkeit 95 

§32. Die Philosophie des Sokrates: Quellen, Prinzip, Methode. 97 

§ 33. Der Inhalt der sokratischen Lehre 101 

§ 34. Das Ende des Sokrates 105 

IL Die kleineren sokratischen Schulen. 

§ 35. Die Schule des Sokrates; Xenophon, Äschines .... 107 

§ 36. Die megarische und die elisch-eretrische Schule. . . . 108 

§ 37. Die kynische Schule 110 

§ 38. Die kyrenaische Schule 115 

III. Piaton und die alte Akademie. 

§ 39. Piatons Leben 119 

§ 40. Piatons Schriften 121 

§ 41. Charakter, Methode und Teile des platonischen Systems . 129 
§ 42. Die propädeutische Begründung der platonischen Philo- 
sophie 131 

§ 43. Die Dialektik oder die Ideenlehre 134 

§ 44. Piatons Physik. Die Materie und die Weltseele ... 139 

§ 45. Das Weltgebäude und seine Teile 144 

§ 46. Piatons Anthropologie 146 

§ 47. Piatons Ethik 148 

§ 48. Piatons Staatslehre 151 

§ 49. Piatons Ansichten über die Religion und die Kunst . . 153 

§ 50. Die spätere Gestalt der platonischen Lehre, die Gesetze. 155 

§ 51. Die alte Akademie 158 



Inhal toveireichnis. XI 

Seit« 
IT. Aristoteles nnd die peripatetische Schule. 

§ 52. Aristoteles' Lehen 168 

§ 53. Aristoteles' Schriften 165 

§ 54. Die aristotelische Philosophie. Einleitendes 172 

§ 55. Die aristotelische Logik 174 

§ 56. Aristoteles* Metophysik 180 

§ 57. Aristoteles* Physik: ihr Standpunkt und ihre Grund- 
hegriffe 186 

§ 58. Das Weltgebäude und seine Teile 189 

§ 59. Die lebenden Wesen 192 

§ 60. Der Mensch 196 

§ 61. Die aristotetische Ethik 200 

§ 62. Die aristotelische Politik 206 

% 63. Bhetorik und Kunstlehre; Aristoteles" Verhältnis sur 

Religion 209 

§ 64. Die peripatetische Schule 212 

IMtte Periode. Die naeharistotellsche Philosophie. 

§ 65. Einleitung 218 

Erster Abschnitt. Stoizismus, Epikureismus, Skepsis. 
I. Die stoische Philosophie. 

§ 66. Die stoische Schule im 8. und 2. Jahrhundert .... 219 

§ 67. Charakter und Teile des stoischen Systems 221 

§ 68. Die stoische Logik 224 

§ 69. Die stoische Physik : die letzten Gninde und das Welt- 

ganse 228 

§ 70. Die Natur und der Mensch 282 

§ 71. Die stoische Ethik: ihre allgemeinen Grundsüge . . . 288 
§ 72. Fortsetzung: die angewandte Moral. Das Verh&ltnis 

des Stoizismus zur Religion 289 

n. Die epikureische Philosophie. 

§ 73. Epikur und seine Schule 244 

§ 74. Das epikureische System ; Allgemeines. Kanonik . . . 246 

§ 75. Epikurs Physik; die Götter 248 

§ 76. Epikurs Ethik 253 

m. Die Skepsis. 

§ 77. Pyrrhon und die Pyrrhoneer 257 

§ 78. Die neuere Akademie 258 

Zweiter Abschnitt. Eklektizismus , erneuerte Skepsis , Vor- 
läufer des Neuplatonismus. 
I. Eklektizismus. 

§ 79. Seine Entstehimgsgründe und sein Charakter 262 



XII InhaltsyeneichniB. 

Seite 

(J 80. Die Stoiker: Boethos, Pan&tios, Poseidonios 265 

§ 81. Die Akademiker des letzten Jahrhunderts v. Chr. . . . 268 

§ 82. Die peripatetische Schale 270 

8 88. Cicero, Varro, die Sextier 272 

§ 84. Die ersten Jahrhundert« n. Chr. : Stoische Schule . . . 274 

§ 85. Die jfingeren Kyniker 281 

§ 86. Die peripatetische Schule in der Zeit n. Chr 288 

§ 87. Die Platoniker der ersten Jahrhunderte n. Chr 284 

§ 88. Dion, Lukian und Qalen 286 

II. Die jüngeren Skeptiker. 

§ 89. Änesideinos und seine Schule 287 

in. Die Vorl&afer des Neuplatonismus. 

§ 90. Einleitung 292 

1. Die rein griechischen Schulen. 

§ 91. Die neuen Pythagoreer 293 

§ 92. Die pythagorisierenden Platoniker 298 

2. Die jüdisch-griechische Philosophie. 

§ 93. Die jüdisch-griechische Philosophie vor Philon .... 808 

§ 94. Philon von Alexandreia 806 

Dritter Abschnitt. Der Neuplatonismus. 

§ 95. Entstehung, Charakter und Entwicklung des Neu- 
platonismus 811 

§ 96. Das System Plotins. Die übersinnliche Welt 314 

§ 97. Plotins Lehre von der Erscheinungswelt 818 

§ 98. Plotins Lehre von der Erhebung in die übersinnliche 

Welt 321 

§ 99. Plotins Schule; Porphyrios 824 

§ 100. Jamblichos und seine Schule 827 

§ 101. Die Schule von Athen; der Ausgang der neuplatonischen 

Schule 330 

Namenverzeichnis 339 

Nachträge 348 



Einleitnng. 

A. Methodologisch-literarische. 

§ 1. Die Geschichte der Philosophie. 

Die Philosophie hat die Aufgabe, die letzten Gründe de» 
Erkennens und Seins wissenschaftlich zu untersuchen und 
alles Wirkliche in seinem Zusammenhang mit ihnen zu be- 
greifen. Die Versuche zur Lösung dieser Aufgabe bilden den 
Gegenstand, mit welchem die Geschichte der Philosophie sich 
beschäftigt. Aber sie bilden ihn nur, wiefern sie sich zu 
größeren Ganzen , zu zusammenhängenden Entwicklungs- 
reihen verknüpfen. Die Geschichte der Philosophie soll 
zeigen, durch welche Veranlassungen der menschliche Geist 
der philosophischen Forschung zugeführt wurde; in welcher 
Gestalt man sich ihrer Aufgaben zuerst bewußt wurde, und 
wie man sie zu lösen unternahm; wie sich das Denken mit 
der Zeit immer weiterer Gebiete bemächtigte, immer neue 
Fragestellungen und Antworten nötig befunden wurden, und 
wie aus der mannigfaltigsten Wiederholung dieses Vorganges 
alle die philosophischen Theorien und Systeme hervorgingen, 
die uns bald vollständiger, bald unvollständiger bekannt sind. 
Sie soll mit einem Worte die Entwicklung des philosophischen 
Denkens von seinen ersten Anfängen an so vollständig, als 
es der Zustand unsrer Quellen gestattet, in ihrem geschicht- 
lichen Zusammenhang darstellen. 

Da es sich nun hierbei um die Erkenntnis geschicht- 
licher Tatsachen handelt, und da Tatsachen, die wir nicht 
selbst beobachtet haben, uns nur durch Überlieferung be- 

Z eller, Grundrii's. 1 



2 Einleitung. 

kannt werden können, muß die Geschichte der Philosophie, 
wie alle Geschichte, mit der Sammlung der unmittelbaren 
und mittelbaren Zeugnisse, der Prüfung ihres Ursprungs und 
ihrer Glaubwürdigkeit, der quellenmäßigen Feststellung der 
Tatsachen beginnen. Läßt sich aber schon diese Aufgabe 
nicht ohne die Berücksichtigung des geschichtlichen Zu- 
sammenhanges lösen, in dem das Einzelne erst seine nähere 
Bestimmtheit und seine volle Beglaubigung erhält, so ist 
vollends das Verständnis eines zusammengesetzten geschicht- 
lichen Verlaufes nur dadurch möglich, daß die einzelnen Tat- 
sachen nicht bloß im Verhältnis der Gleichzeitigkeit und 
Aufeinanderfolge aneinandergereiht werden, sondern auch 
ihre Kausalverknüpfung erkannt, jede Erscheinung aus ihren 
Ursachen und Bedingungen erklärt, ihr Einfluß auf gleich- 
zeitige und nachfolgende Erscheinungen aufgezeigt wird. 
]Nun sind die Annahmen und Systeme, mit denen es die 
Geschichte der Philosophie zu tun hat, zunächst das Werk 
einzelner Personen, und als solches sind sie teils aus den 
Erfahrungen, die zu ihrer Bildung Anlaß gegeben haben, 
teils aus der Denkweise und dem Charakter ihrer Urheber, 
aus den Überzeugungen, Interessen und Bestrebungen zu 
erklären, unter deren Einfluß sie gebildet wurden. Aber 
wenn wir auch durch unsere Quellen in den Stand gesetzt 
wären, diese biographische und psychologische Erklärung 
weit vollständiger durchzuführen, als wir sie tatsächlich 
durchführen können, würde sie doch nicht ausreichen; denn 
sie würde uns nur über die nächsten Gründe der geschicht- 
lichen Erscheinungen Aufschluß geben, ihre entfernteren 
Ursachen dagegen und den umfassenderen Zusammenhang, 
dem sie angehören, außer acht lassen. Die Ansichten der 
Einzelnen hängen zwar nicht bei allen in demselben Grade, 
aber sie hängen doch immer von den Vorstellungen, den Be- 
strebungen, der Empfindungs weise der Kreise ab, aus denen 
ihr Geist seine Nahrung zieht, und unter deren Einfluß er 
sich entwickelt; und ebenso ist ihre geschichtliche Wirkung 
dadurch bedingt, daß sie den Bedürfnissen ihrer Zeit ent- 



§ 1. Die Geschichte der Philosophie. 3 

sprechen und in ihrer Zeit Anerkennung finden. Andererseits 
aber bleiben jene Ansichten nicht auf ihre ersten Urheber 
beschränkt; sie verbreiten und erhalten sich in Schulen und 
durch Schriften, es bildet sich eine wissenschaftliche Über- 
lieferung; die Späteren lernen von den Früheren, werden 
durch sie zur Ergänzung, Fortbildung und Berichtigung ihrer 
Ergebnisse, zur Aufwerfung neuer Fragen, zur Aufsuchung 
neuer Antworten und Methoden angeregt. Die philosophischen 
Systeme erscheinen so, wie eigenartig und selbständig sie auch 
sein mögen, doch immer zugleich als Glieder eines umfassen- 
deren geschichtlichen Zusammenhanges, sie lassen sich nur 
aus diesem Zusammenhang vollständig begreifen, ihre ge- 
schichtliche Wirkung wird durch ihn bedingt, gefördert oder 
gehemmt, in diese oder jene Bahn gelenkt; und je weiter 
wir dieses Verhältnis verfolgen, um so mehr schließt sich 
das Einzelne zu einem Ganzen historischer Entwicklung zu- 
sammen, und es entsteht die Aufgabe, nicht bloß das Ganze 
aus den einzelnen es bedingenden Momenten, sondern ebenso 
diese auseinander und somit das Einzelne aus dem Ganzen 
zu erklären. Dies kann nun freilich nicht in der Art ge- 
schehen, daß die geschichtlichen Vorgänge apriorisch, aus 
dem Begriff des Lebensgebietes, um dessen Geschichte es sich 
handelt, oder aus der Idee des durch diese Geschichte zu 
erreichenden Zieles, konstruiert würden. Sondern auf rein 
historischem Wege, auf Grund der Überlieferung sollen die 
Bedingungen ermittelt werden, unter denen der geschichtliche 
Verlauf sich vollzog, die Ursachen, aus denen er hervorging, 
die Verkettung des Einzelnen, die sich hieraus ergab. — Jene 
Ursachen und Bedingungen lassen sich nun, sofern es sich 
um die Geschichte der Philosophie handelt, auf drei Klassen 
zurückführen: die allgemeinen Bildungszustände jeder Zeit 
und jedes Volkes; den Einfluß der früheren Systeme auf die 
späteren; die individuelle Eigentümlichkeit der einzelnen 
Philosophen. Beschränkt man sich für die Erklärung der 
philosophischen Theorien auf die letztere, so erhält man jenen 
biographischen und psychologischen Pragmatismus, von dem 

1* 



4 Einleitung. 

schon oben gesprochen wurde. Geht man von der Erwägung 
aus, daß die Philosophie kein isoliertes Gebiet, sondern nur 
ein einzelnes Glied in dem Gesamtleben der Völker und der 
Menschheit bildet; daß sie in ihrer Entstehung, ihrem Fort- 
gang und ihrem Charakter durch die religiösen und politi- 
schen Zustände, den Stand der allgemeinen Geistesbildung^, 
die Entwicklung der übrigen Wissenschaften bedingt ist, so 
wird man den Versuch machen, sie aus diesen ihren all- 
gemeinen kulturgeschichtlichen Bedingungen zu begreifen. 
Legt man das entscheidende Gewicht auf die Kontinuität der 
wissenschaftlichen Überlieferung, den inneren Zusammenhang 
und die geschichtliche Wechselwirkung der philosophischen 
Schulen und Systeme, so erscheint die Geschichte der Philo- 
sophie als ein in sich abgeschlossener, von einem bestimmten 
Anfangspunkt aus mit innerer Gesetzmäßigkeit fortschreiten- 
der Verlauf, den man um so gründlicher versteht, je voll- 
ständiger es gelingt, in jeder späteren Erscheinung die logische 
Konsequenz der nächst vorangehenden, und somit in dem 
Ganzen, wie dies Hegel unternahm, eine mit dialektischer 
Notwendigkeit sich vollziehende Entwicklung nachzuweisen. 
Aber wenn auch dieses Moment um so mehr an Bedeutung 
gewinnt, je selbständiger die Philosophie auf ihrem Gebiete 
wird, so ist doch die Richtung und Gestalt des philosophischen 
Denkens jederzeit durch die übrigen mitbestimmt. Nur 
stehen diese zueinander hinsichtlich ihres Einflusses und 
ihrer Bedeutung nicht immer in demselben Verhältnis; es 
macht sich vielmehr bald das schöpferische Eingreifen hervor- 
ragender Persönlichkeiten, bald die Abhängigkeit der späteren 
Systeme von den früheren, bald die Einwirkung der all- 
gemeinen Kulturzustände stärker geltend. Der Geschicht- 
schreiber hat zu untersuchen, welche Bedeutung für die 
Herbeiführung der geschichtlichen Ergebnisse jedem von 
diesen Elementen im gegebenen Falle zukommt, und auf 
Grund dieser Untersuchung ein Bild von dem historischen 
Verlauf und dem Zusammenhang der Erscheinungen, aus 
denen er sich zusammensetzt, zu entwerfen. 



§ 2. Die griechische Philosophie. 5 

§ 2, Die griechische Philosophie. 

Die Frage nach den Ursachen, von denen die Welt und 
das Menschenleben bestimmt wird, hat den menschlichen Geist 
schon in den frühesten Zeiten und an den verschiedensten 
Orten beschäftigt. Aber das, was sie hervorrief, war ur- 
sprünglich weniger der Erkenntnistrieb als das Gefühl der 
Abhängigkeit von höheren Mächten und der Wunsch, sich 
ihrer Gunst zu versichern; und der Weg, auf dem ihre 
Beantwortung versucht wurde, war nicht die wissenschaft- 
liche Forschung, sondern die mythologische Dichtung. Nur 
bei wenigen Völkern sind aus dieser mit der Zeit theologische 
und kosmologische Spekulationen hervorgegangen, welche ein 
umfassenderes Bild von der Entstehung und Einrichtung der 
Welt zu gewinnen versuchen; aber solange diese Spekula- 
tionen noch von der mythologischen Überlieferung ausgehen 
und sich mit der Ausführung und Umbildung mythischer 
Anschauungen begnügen, können sie nur den Vorgängern 
der Philosophie, nicht den philosophischen Theorien als solchen 
zugezählt werden. Die Philosophie beginnt erst da, wo man 
das Bedürfnis empfindet und betätigt, die Erscheinungen aus 
natürlichen Ursachen zu erklären. Dieses Bedürfnis kann 
nun an verschiedenen» Orten, wenn die Vorbedingungen dazu 
vorhanden waren, selbständig hervorgetreten sein; und wir 
finden wirklich bei Indern und Chinesen Lehrsysteme, die 
sich von den theologischen Vorstellungen dieser Völker weit 
genug entfernen, um als ihre „Philosophie" bezeichnet werden 
zu können. Aber kräftiger und mit nachhaltigerem Erfolg 
als bei beiden hat sich der Gedanke einer rationalen Erkennt- 
nis der Dinge bei den Hellenen zur Geltung gebracht, und 
sie sind es auch allein, von denen sich eine fortlaufende 
wissenschaftliche Überlieferung bis zu uns herab erstreckt. 
Die Begründer der griechischen Philosophie sind zugleich 
die Stammväter der unsrigen; ihre Kenntnis hat daher für 
uns nicht bloß ein historisches, sondern auch ein sehr ein- 
greifendes praktisch- wissenschaftliches Interesse; auch jenes 



() Einleitung. 

geht aber über das, welches die übrige Wissenschaft der 
alten Welt darbietet, ebenso weit hinaus, als die griechische 
Philosophie selbst durch ihren geistigen Gehalt, ihre wissen- 
schaftliche Vollendung, ihre reiche und folgerichtige Ent- 
wicklung über jene hinausgeht. 

§ 3. Quellenschriften. Die Geschichte der Philo- 
sophie bei den Alten. 

Unter den Quellen, denen wir unsre Kenntnis der alten 
Philosophie verdanken, nehmen die erhaltenen Schriften der 
Philosophen und die Bruchstücke ihrer verlorenen Werke, 
so weit sie echt sind, als unmittelbare Quellen die erste 
Stelle ein. Unechte Schriften können in dem Maße, wie sich 
ihr Ursprung und ihre Abfassungszeit bestimmen läßt, als 
Selbstzeugnisse über den Standpunkt und die Ansichten der 
Kreise, aus denen sie hervorgingen, benützt werden. Zu den 
mittelbaren Quellen gehören außer den selbständigen ge- 
schichtlichen Berichten über die Persönlichkeit, das Leben 
und die Lehren der Philosophen, auteh alle die Werke, in 
denen ihrer gelegentlich gedacht wird. Die rieichste Aus- 
beute gewähren unter den letzteren teils Sammelwerke, die 
uns Bruchstücke älterer Schriftsteller erhalten haben, wie 
die des Athenäos, Gellius und Älian, Eusebios^ 
7tQ07raQaay.€v^ evayyelvynj (um 330 n. Chr.) , Joanne» 
Stobäos' (wohl zwischen 450 und 550) vier Bücher IxAo- 
ycüv ano(pd^eyiJL(iT(av v7co^7]y,(j5v^ die, soweit erhalten, in unseren 
Handschriften an die „Eklogen" und das „Florilegium" ver- 
teilt sind^), und Photios' (gest. 891) „Bibliothek", teils 
solche Lehrschriften, deren Verfasser für die Begründung 
ihrer eigenen Annahmen auf die ihrer Vorgänger näher ein- 
gehen; wie dieses in umfassenderer Weise unsers Wissens 



') Herausgegeben von Meineke in 4 Bänden (1855 — 1864), auf neuer 
kritischer Grundlage von Wachsmuth (Bd. 1 u. 2, die „Eklogen" ent- 
haltend) und O. Hense (Bd. 3, die erste Hälfte des „Florilegiums" ent- 
haltend; Bd. 4 steht noch aus), Berlin 1884. 1886. 1894. 



§ 3. Quellenschriften. ^ 

zuerst Platon, noch viel vollständiger Aristoteles tat, in der 
Folge Schriftsteller wie Philodem, Cicero, Seneca, Plutarch, 
Galen, Sextus Empirikus, Numenios, Porphyrios, Jamblichos, 
Proklos, Philon von Alexandria und die christlichen Kirchen- 
lehrer, ein Justin, Eirenäos, Clemens, Origenes, Hippolytos, 
TertuUian, Augustin, Theodoret usw. 

Von Aristoteles ging durch die kritische Übersicht 
über die Prinzipien seiner Vorgänger im 1. Bande seiner Meta- 
physik der Anstoß zu der selbständigen Bearbeitung der Ge- 
schichte der Philosophie aus, welche Theophrast in den 
18 Büchern seiner „Lehren der Physiker" (qwCLKat do^ai^ 
auch als „Geschichte der Physik", q)vaiicij laTogia^ angeführt) 
und in zahlreichen Monographien unternahm, während Eu- 
dem OS die Geschichte der Arithmetik, der Geometrie, der 
Astronomie, vielleicht auch der theologischen Vorstellungen, 
in eigenen Werken behandelte. Auf Theophrasts Geschichte 
der Physik beruhten, wie Diels (Doxographi Grseci 1879) 
nachgewiesen hat, die Übersichten über die Lehren der ver- 
schiedenen Philosophen, die Kleitomachos (um 120 v.Chr.) 
im Zusammenhang mit Karneades' Kritik der philosophi- 
schen Theorien gab, und die eine Hauptfundgrube für die 
späteren Skeptiker gebildet zu haben scheinen, und die Be- 
arbeitung der Placita, die in der ersten Hälfte des 
ersten vorchristlichen Jahrhunderts von einem Unbekannten, 
vielleicht von Poseidonios, verfaßt und schon von Cicero und 
Varro benutzt wurde ; ein Auszug aus ihr ist uns durch die 
pseudoplutarchischen Placita philosophorum , die 
Eklogen des Stobäos (s. S. 6) und Theodorets (f 457) 
'^EllrjviiiCüv Tta&fjfÄCcTcav d^sganevTCXT] IV, 5 ff. großenteils er- 
halten. Den Verfasser dieses Auszuges nennt Theodoret 
Aätios^); seine Abfassungszeit scheint in das erste Drittel, 
die der plutarchischen Placita in die Mitte des zweiten Jahr- 



*) Die „Aetii Placita" hat Diels Doxogr. 273 ff. aus Pseudoplutarch 
und Stobäos, deren Texte in zwei Kolumnen einander gegenübergestellt 
sind , wiederhergestellt. Nach dieser Zusammenstellung wird im folgenden 
zitiert. 



g Einleitung. 

hunderte n. Chr. zu fallen. Aus einer Epitome der theo- 
phrastischen do^at schöpfte, wie es scheint um 150 n. Chr., 
der Verfasser der pseudoplutarchischen OTQu/^aTelg 
(deren Bruchstücke bei Eüseb. pr. ev. I, 8) und aus ähnlichen 
Auszügen zwei von Hippolytos (algiascov i'leyxogj B. I, früher 
als Philosophumena des Origenes bezeichnet) und Diogenes 
Laertios benützte Doxographen. Weitere Spuren dieser 
Literatur lassen sich bei den Kirchenvätern Irenäos (um 190), 
Clemens (um 200), Eusebios (gest. um 340), Epiphanios (gest. 
403), Augustinus (gest. 430) nachweisen; ihre letzten uns 
erhaltenen Ausläufer sind die pseudogalenische Schrift 
Ttegl q)ikoa6g)ov loTogiag und Hermias' diaavQfxog xtjv e^ta 
(piloa6g)a)v. Aus teilweise unhistorischen Motiven ging die 
synkretistische Darstellung der akademischen, peripatetischen 
und stoischen Lehre hervor, durch welche der Akademiker 
An ti och OS von Askalon (gest. um 70 v. Chr.) seinen 
Eklektizismus zu rechtfertigen suchte; ihm folgte in der- 
selben Richtung gegen das Ende des Jahrhunderts der 
Akademiker E u d r o s und der eklektische Stoiker A r e i o s 
Didymos (dessen Fragmente bei Diels Doxogr. 445 ff. ; 
Stob. Ekl. II S. 37 ff.; Wachsm.); vgl § 81. 

Diesen dogmengeschichtlichen Übersichten über die An- 
sichten der Philosophen geht eine zweite Reihe von Schriften 
zur Seite, welche die Philosophen teils einzeln, teils nach 
Schulen biographisch behandelten, und die Darstellung der 
Lehren mit den Nachrichten über das Leben der Philosophen 
(die gemeinsamen Lehren einer Schule mit denen über ihren 
Stifter) verbanden. Hierher gehören schon Xenophons 
Denkwürdigkeiten des Sokrates und was in Piatons Ge- 
sprächen für geschichtlich zu halten ist, nebst den verlorenen 
Schriften der Platoniker Speusippos, Xenokrates, 
Philippos und Hermodoros über ihren Lehrer, des 
Herakleides Pontikos über die Pythagoreer, des Pytha- 
goreers Lykon (um 320) über Pythagoras. Seinen Hauptsitz 
hatte aber auch dieser Zweig der philosophie-geschichtlichen 
Literatur in der peripatetischen Schule und bei den ihr ver- 



§ 3. Quellenschriften. 9 

wandten alexandrinischen Gelehrten. Schon von Aristoteles 
und Theophrast werden Monographien über einzelne Philo- 
sophen und Auszüge aus ihren Schriften genannt; ebenso 
von den Aristotelikern Dikäarchos, Aristoxenos (Bioi 
avdquiv. üv^ayogi^xal äTtoqxxastg), Klearchos, Phanias. 
Um 250 V. Chr. verfaßte der berühmte Kallimachos aus 
Kyrene in Alexandria sein großes, auch für die Geschichte 
der Philosophie wichtiges literarhistorisches Werk: Ttiva'^eg 
%Sifv iv Ttdatj TtaiÖBiif diaXafixpdytcjv 'Kai wv avveyqaxpav^ um 
240Neanthes von Kyzikos ein Werk tcbqI evdo^fav avdQ(jiv\ 
um 225 Antigenes von Karystus seine ßLoi\ um 200 der 
Peripatetiker Hermippos 6 KaXkifxdxBiogj gleichfalls ßioi., 
eine reichhaltige Fundgrube biographischer und literarhisto- 
rischer Notizen für die Späteren, der Aristarcheer Satyros, 
ebenfalls ein Peripatetiker, seine ßioi'^ bald nachher So tion 
seine diadox^ tüv q)iloa6q)<jjVj welche für die Einteilung der 
einzelnen Philosophen in Schulen maßgebend blieb ; Auszüge 
aus den beiden letzteren verfertigte Herakleides Lembos 
(um 180 — 150). Nach diesem schrieb der Peripatetiker 
Antisthenes (fraglich, ob mit dem Historiker aus Rhodos 
identisch) q)iXoo6q>(av diadoxai^ ein gleichnamiges Werk des 
Sosikrates ist wahrscheinlich in Ciceros Zeit zu setzen. Der 
akademischen Schule gehörte Aristippos (um 210 v. Chr.) 
an, der 7t, q>vaiok6ya}v schrieb; aus derselben stammt 
Kletomachos' Werk Ttegl aigiaetov^ vielleicht von dem 
S. 7 genannten nicht verschieden. Aus der stoischen ging 
Eratosthenes (284 — 204) hervor, der berühmte Gelehrte, 
dessen chronologische Bestimmungen auch für die Geschichte 
der Philosophie zur Geltung kamen; an ihn hat sich sein 
Schulgenosse ApoUodoros (um 140 v. Chr.) in seinen 
„Chronika", einer ergiebigen Quelle für alle Späteren (die 
Fragmente gesammelt von F. Jacoby, 1902), vielfach an- 
geschlossen; inwieweit dagegen die Abhandlungen eines 
Kleanthes und Sphäros über einzelne Philosophen und 
Panätios' Schrift über die Philosophenschulen einen histo- 
rischen Charakter hatten, ist fraglich. Auch Epikur scheint 



10 Einleitung. 

die früheren Philosophen nicht im geschichtlichen Sinne be- 
sprochen zu haben ; aus seiner Schule kennen wir einige Werke, 
die dies versuchten : von Idomeneus (um 270 v. Chr.) eine 
unzuverlässige Schrift über die Sokratiker; von Apollodor 
(um 120 V. Chr.) eine owaytoyt] twv öoyfÄorwv und ein Leben 
Epikurs, von Philodem (um 50 v. Chr.) eine avvTa^ig züv 
(fiXoaocpioVj der zwei herkulanensische Verzeichnisse der 
akademischen und der stoischen Philosophen entnommen zu 
sein scheinen. Jüngere Zeitgenossen des Philodem sind die 
beiden Magnesier Demetrios und Diokles, von denen 
jener über gleichnamige Männer, dieser eine iTtiÖQOfX'^ xüv 
(piloaoqxov geschrieben hat, und der Stoiker ApoUonios 
aus Tyros, von dem ein Leben Zenons angeführt wird ; etwas 
älter ist Alexander Polyhistor, der eine Geschichte der 
Philosophenschulen (qnloootpwv diadoxai) und eine Erklärung 
pythagoreischer Symbole verfaßte. Frühestens um 70 v. Chr. 
hat Hippobotos sein ^ Philosophen Verzeichnis und seine 
Schrift 7t. aigiaetov, etwa um 70 n. Chr. Nikias von Nikäa 
seine öiadoxai geschrieben. Seit dem ersten Jahrhundert 
unsrer Zeitrechnung wurde die Geschichte und Lehre des 
Pythagoras in der neuen Pythagoreerschule mehrfach, aber 
durchweg kritiklos und ohne historischen Sinn dargestellt: 
so um 60 — 80 n. Chr. von Moderatus und ApoUonios 
von Tyana, um 130 von Nikomachos. Viele Notizen 
zur Geschichte der Philosophen lieferten die Schriften des 
Favorinus (s. unten § 89 g. E.); von des Peripatetikers 
Aristokles (um 180 n.Chr.) kritischer Übersicht über die 
philosophischen Systeme hat Eusebios Bruchstücke erhalten. 
Nur in Bruchstücken und durch einzelne Anführungen ist 
uns überhaupt die große Mehrzahl der bisher besprochenen 
Schriften zur Geschichte der Philosophie bekannt; und von 
den letzteren verdanken wir einen beträchtlichen Teil den 
zehn Büchern des Diogenes Laärtios über Leben und 
Lehre der namhaften Philosophen. Denn so nachlässig und 
urteilslos auch diese, wahrscheinlich dem zweiten Viertel des 
3. Jahrhunderts n. Chr. angehörige Kompilation, vielleicht die 



§ 8. Quellenschriften. H 

Bearbeitung eines Auszuges aus Nikias (s. S. 10) ^), abgefaßt ist^ 
so unschätzbar sind doch für uns bei dem Verlust der meisten 
älteren Quellen die Nachrichten, welche sie uns, in der Regel 
erst aus dritter und vierter Hand, aber sehr häufig unter 
Nennung der Zeugen mitteilt, denen Diogenes oder die von 
ihm ausgeschriebenen Werke sie verdankten. Unter den Neu- 
platonikern machte sich der gelehrte Porphyrios (um 232 
bis 304 n. Chr.) außer seinen Kommentaren auch durch seine 
(piXoaocpog iatogia, aus der das Leben des Pythagoras sich 
erhalten hat, um die Kenntnis der älteren Philosophen (bis 
auf Piaton) verdient ; einem dogmatischen Werke diente seines 
Schülers Jamblichos ausführliches Leben des Pythagoras 
zur Einleitung. Für die Geschichte der neuplatonischen 
Schule sind Eunapios' (um 400 n. Chr.) ßioc aoq)i(nüiy 
(Philosophen und Rhetoren) eine Hauptquelle; die spätere 
Zeit dieser Schule behandelte Damaskios' (um 520 n.Chr.) 
in Bruchstücken erhaltene g>tl6aog>og laTOQia. Nach 550 ver- 
faßte Hesychios aus Milet sein Werk 7t. xüv ev naideitje 
dcaXafiipdvTWv, aus welchem die Artikel über die alten Philo- 
sophen in Suidas' Lexikon (zwischen 1000 und 1150 n.Chr.) 
zunächst entlehnt sind ; die Schrift jedoch, welche wir unter 
Hesychius' Namen besitzen, ist eine spätbyzantinische Kom- 
pilation aus Diogenes und Suidas; das angebliche „Violarium'' 
der Kaiserin Eudokia (1060 — 1070) scheint sogar erst aus 
dem 16. Jahrhundert zu stammen. 

Unter unseren Quellen für die Kenntnis der alten Philo- 
sophen nehmen auch die Schriften, welche der Erklärung 
ihrer Werke gewidmet sind, eine bedeutende Stelle ein. Wie 
frühe das Bedürfnis solcher Erläuterungsschriften empfunden 
wurde, zeigt schon der Umstand, daß der Akademiker 
Krantor (um 280 v. Chr.) Piatons Timäos, der Stoiker 
Kleanthes (um 260) Heraklits Schrift kommentierte, der 
Grammatiker Aristophanes von Byzanz (um 200) Piatons 
Werke in Trilogien ordnete. Die Blütezeit der Kommentatoren - 

^) Über die Quellen des Diog. s. jetzt Cbönert Kolotes u. Menedemos 
133 ff. 



12 Einleitung. 

tätigkeit beginnt aber erst um die Mitte des ersten Jahr- 
hunderts V. Chr. Um diese Zeit begründete in der peripate- 
tischen Schule der Rhodier Andronikos, der Herausgeber 
des Aristoteles und Theophrast, das gelehrte Studium der 
aristotelischen Schriften ; von ihm zieht sich bis auf 
Alexander von Aphrodisias (um 200 n.Chr.), den be- 
rühmten Exegeten, eine lange Reihe von Männern herab, 
welche diese Schriften teils in Kommentaren, teils in ein» 
leitenden und zusammenfassenden Werken bearbeiteten. Diesem 
Beispiel folgte die platonische Schule. Bald nach Andronikos 
machten sich Derkylides und Eudoros, etwas später 
Thrasyllos durch Schriften über Piaton bekannt, und seit 
Plutarch wird dieser Philosoph in der akademischen Schule 
ebenso eifrig ausgelegt wie Aristoteles in der peripatetischen. 
Die Neuplatoniker (und einzelne Gelehrte auch schon früher) 
widmeten sich beiden bis ins 6. Jahrhundert herab mit 
gleichem Fleiß. Von den uns erhaltenen Kommentaren (die 
zu Aristoteles von der Berliner Akademie neu herausgegeben) 
sind von hervorragendem Wert für die Geschichte der Philo- 
sophie, namentlich durch die Mitteilung von Bruchstücken 
philosophischer Schriften, die des Alexander über die 
aristotelische Metaphysik, des Simplicius (um 530 n. Chr.) 
über die Physik und die Bücher vom Himmelsgebäude; 
nächstdem die übrigen Erläuterungsschrifteri dieser beiden 
Exegeten und des Joannes Philoponos (um 530) über 
aristotelische, die des Proklos (410 — 485) über platonische 
Werke. 

§4. Neuere Hilfsmittel. 
Von neueren Schriften über die griechische Philosophie 
sollen hier nur solche aus den letzten zwei Jahrhunderten, 
und auch aus dieser Zeit nur die angeführt werden, 
welche flir die Geschichte unserer Wissenschaft von beson- 
derer Bedeutung oder als brauchbare Hilfsmittel für ihr 
Studium in der Gegenwart hervorzuheben sind. Als grund- 
legende Arbeit ist unter ihnen zunächst Bruckers 



§ 4. Neuere Hilfsmittel. 13 

„Historia critica philosophise" (1742 ff.; die alte Philosophie 
behandeln Bd. 1. 2) zu nennen, eine gelehrte und kritische 
Leistung von hervorragendem Wert, wenn auch der Stand- 
punkt der geschichtlichen Beurteilung nicht über ihrer Zeit 
steht; neben ihr die hierhergehörigen Abschnitte von J. A. 
Fabricius' „Bibliotheca Grseca" (1705 ff., erheblich ergänzt 
in der Ausgabe von Harleß 1790 ff.), um das Ende des 18. 
und den Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Geschichte 
der Philosophie ihrem ganzen Umfang nach in drei ausführ- 
lichen Werken dargestellt : Tiedemanns „Geist der spekula- 
tiven Philosophie" (1791 — 97), Buhl es „Lehrb. der Gesch. 
d. Phil." (1796—1804) und Tennemanns „Gesch. d. Phil." 
(1798—1819; Bd. 1 von Wendt bearbeitet 1829). Jedes von 
diesen Werken hat seinen Wert ; am längsten erhielt sich das 
von Tennemann trotz der Einseitigkeit, mit der Kant sein 
historisches Urteil beherrscht, in verdientem Ansehen. Neben 
ihnen sind für die alte Philosophie die Arbeiten von Mein er s 
„Gesch. d. Wissenschaften in Griechenland u. Rom" (1781ff. u. a.) 
und Füll e bor n, „Beiträge" (1791 ff.) zu erwähnen. Bald 
machte sich aber auch der Einfluß der nachkantischen Philo- 
sophie und des neuen Geistes geltend, in dem man die Alter- 
tumswissenschaft zu betreiben anfing. Schleiermacher 
gab durch seine Untersuchungen über verschiedene griechische 
Philosophen (jetzt: Werke, zur Phil. 2. u. 3. Bd.), nament- 
lich aber durch die Einleitungen und Anmerkungen zu einer 
Platon-Übersetzung („Piatons Werke" 1804 — 1828), denen 
nach seinem Tode eine gedrängte, durch eigentümliche Auf- 
fassungen anregende „Geschichte der Philosophie" (1839, 
W. zur Phil. 2. Bd. 1. Abt.) folgte, Böckh durch seine 
klassischen Arbeiten über Philolaos (1819) und Piaton außer 
den Bd. 3 der Kl. Schriften abgedruckten, von 1807—1865 
herabreichenden: „in Plat. Minoem", 1806; „Untersuch, über 
das kosmische System des Plato", 1852), das Vorbild für eine 
in die Eigentümlichkeit der alten Philosophen und die innere 
Werkstätte ihrer Gedanken tiefer eindringende Geschichts- 
behandlung. Hegels Vorlesungen über die Geschichte der 



J4 Einleitung. 

Philosophie (nach seinem Tode 1833 f. 1840 f. in Bd. 13-15 
der „Werke" herausgegeben) heben zwar die dialektische 
Notwendigkeit im Hervorgang des Späteren aus dem Früheren 
nicht ohne Einseitigkeit hervor, aber für das wissenschaft- 
liche Verständnis und die geschichtliche Würdigung der philo- 
sophischen Systeme haben sie eingreifend gewirkt. An 
Schleiermacher schließen sich ihrer allgemeinen Richtung 
nach die verdienstvollen Werke von Ritter, „Gesch. der 
Philosophie« (Bd. 1 — 4, 1829 f. 1836 f.) und Brandis, 
„Handbuch d. Gesch. d. grie'ch.-röm. Phil." (3 Tle. in 6 Bden., 
1835 — 66) an. Zwischen der gelehrten Forschung und der 
spekulativen Geschichtsbetrachtung zu vermitteln, die Einsicht 
in die Bedeutung und den Zusammenhang des Einzelnen aus 
der Überlieferung selbst durch kritische Sichtung und ge- 
schichtliche Verknüpfung zu gewinnen, ist die Aufgabe, welche 
meine „Philosophie der Griechen" (1. Aufl. 1844 — 1852; 
3. Aufl. 1869-1882; Tl. I, 5. Aufl. 1892; Tl. IIa, 4. Aufl. 1888; 
Tl. III b, 4. Aufl. 1903) sich stellte. Kürzer hat S t r ü m p e 1 1 , 
aus dem Standpunkt der Herbartschen Schule, 1854 die 
„Gesch. der theoretischen Philosophie d. Griechen", 1861 die 
„Gesch. der praktischen Phil, der Griechen vor Aristoteles" 
behandelt. Die alte Philosophie in ihrem Zusammenhang 
mit allen übrigen Lebensgebieten zu schildern, ist der leitende 
Gedanke von Gomperz' noch nicht vollendetem Werke 
„Griech. Denker" (2. Bde. 1. Bd.: Die Vorsokratiker, 1896, 
2. Aufl. 1903; 2. Bd.: Sokrates und Piaton, 1901; 2. Aufl. 
1903). In Dörings „Gesch. d. griech. Phil." (2 Bde. 1903) 
wird die antike Philosophie ihrem Grundcharakter nach als 
Güterlehre aufgefaßt. Die ältere Philosophie bis auf Platon 
behandelt E. Kühnemann, „Grundlehren d. Phil." (1899), 
und von neukantianischem Standpunkte aus W. Kinkel, 
„Gesch. d. Phil.", Tl. I: „Von Thaies bis auf die Sophisten" 
(1906). Unter den außerdeutschen Gelehrten, denen die 
Kenntnis der griechischen Philosophie in der neueren Zeit 
eine Förderung zu verdanken hat, sind V. Cousin (1792 
bis 1867) mit seinen „Fragments philosophiques", seiner „In- 



§ 4. Neuere Hilfismittel. 15 

troduction ä Thistoire de la philosophie" und seiner „Histoire 
gön^rale de la philosophie" ; George Grote (1794 — 1871) 
mit den hierhergehörigen Teilen seiner „History of Greece", 
namentlich Bd. VIII, seinem „Plato" (1865) und dem un- 
vollendeten „ Aristo tle" (1872) hervorzuheben. Für die vor- 
sokratische Zeit siud von Wichtigkeit die Werke von Tan- 
nery, „Pour Fhistoire de la science hellene" (1887), und 
von J. Burnet, „Early greek philosophy" (1892). Von den 
zahlreichen Kompendien, welche unseren Gegenstand behandeln, 
mögen die folgenden angeführt werden: Brandis, „Gesch. 
der Entwicklungen der griech. Philosophie" (1862. 1864). 
Prell er (erst: Ritter und Pr.), „Historia philosophiae 
grseco-romanse ex fontium locis contexta" (1838; 7. Aufl. [von 
Schulteß und Wellmann] 1888; 8. Aufl. [von Well- 
mann] 1898). Schwegler, „Gesch. d. Phil im Umriß" 
(1848; 16. Aufl. 1905). Ders., „Gesch. d. griech. Phil." 
(herausg. von Köstlin, 1859; 4. Aufl. 1886). Überweg, 
„Grundriß d. Gesch. d. Phil." (1. Tl. 1862; 9. Aufl. [von 
M. Heinze] 1903). K Er d mann, „Grundriß d. Gesch. 
d. Phil," (1. Tl. 1866; 4. Aufl. [von B. Erdmann] 1896). 
Lewes, „History of philosophy" (Vol. I. 1867; deutsch 
2. Aufl. .1873). Windelband, „Gesch. d. alten Phil." 
(1888; 2. Aufl. 1894). Ders., „Gesch. d. Phil." (1892; 
4. Aufl. 1907). Rehmke, „Grundriß d. Gesch. d. Phil." 
(1896, S. 1—86). Vorländer, „Gesch. d. Phil." (in 2 Bdn., 
1903; 2. Aufl. 1908). Baumann, „Gesamt Gesch. d. Phil." 
(1903). Die Geschichte einzelner philosophischer Fächer und 
Lehren behandeln: Prantl, „Gesch d. Logik im Abend- 
land" (Bd. 1; 1855). Natorp, „Forschungen zur Gesch. d. 
Erkenntnisproblems" (1884). Dilthey, „Einleitung in die 
Geisteswissenschaften" (Bd. 1; 1883). Bender, „Mythologie 
und Metaphysik" (Bd. 1; 1899). Eucken, „Die Anschau- 
ungen der großen Denker" (1890; 6. Aufl. 1905). Lange, 
„Gesch. d. Materialismus" (1. Tl. 2. Aufl. 1873; 7. Aufl. 1902). 
Bäumker, „Das Problem d. Materie in d. griech. Phil." 
(1890). Ch. Huit, „La philosophie de la nature chez les 



10 Einleitang. 

anciens** (1901). Heinze, Die Lehre vom Logos in der 
griech. Phil." (1872). Aall, „Gesch. der Logosidee in der 
griech. Phil." (2 Tle. 1896. 1899). Sieb eck, „Gesch. d. 
Psychologie" (1. TL 1. Abt 1880; 2. 1884). E. Rhode, 
„Psyche. Seelenkalt u. Unsterblichkeitsglauben d. Griechen" 
(1897; 3. Aufl. in 2 Bdn. 1903). P.Decharme, „La critique 
des traditions religieuses chez les Grecs" (1904). Ziegler, 
„Gesch. d.Ethik" (I.Abt. 1881). Köstlin, „Gesch. d. Ethik" 
(1. Tl. 1887). L. Schmidt, „Die Ethik d. alten Griechen" 
(2 Bde. 1882). Hildebrand, „ Gesch. u. System d. Rechts- 
u. Staatsphilosophie" (1. Bd. 1860). Pöhlmann, „Gesch. d. 
antiken Kommunismus" (2 Bde. 1892. 1901). Walter, „Gesch. 
der Ästhetik im Altertum" (1893). Die griechischen Doxo- 
graphen hat Diels, „DoxographiGr8eci"(1879) herausgegeben 
und ihre Quellen untersucht. Um die Florilegienliteratur haben 
sich Wachsmuth durch seine „Studien z. d. griech. Flori- 
legien" (1892) (über seine Ausgabe der „Eklogen des Stobäus" 
s. S.6) und Elter in einer Reihe von Abhandlungen verdient 
gemacht. Die wissenschaftlich unzulängliche, aber bis jetzt um- 
fassendste Sammlung von Bruchstücken alter Philosophen, die 
Mullach, „Fragmenta philosophorum Grsec." (3 Tle. 1860. 
1867. 1881) herausgegeben hat, ist neuerdings zum großen 
Teil ersetzt worden durch die von Diels auf streng kritischer 
Grundlage gesammelten „Fragmente der Vorsokratiker" (1903; 
2. durch einen Kommentar und zwei Register bereicherte 
Auflage in zwei Bänden 1906. 1907 ; Bd. 3 soll einen ausführ- 
lichen Wortindex bringen) ^). Die wichtigsten Monographien 
über einzelne Philosophen und ihre Lehren werden an ihrem 
Ort genannt werden; ihr Leben und ihre Schriften werden 
auch in den Lehrbüchern der Literaturgeschichte und der 
allgemeinen Geschichte besprochen. Vielfach berührt werden 
ihre Lehren auch in den auf die Geschichte der antiken 
Mathematik, Astronomie, Medizin, Erdkunde, Sprachwissen- 
schaft und Religion bezüglichen Schriften. 

^) Nach der 2. Auflage der Di eis sehen Sammlung wird im folgenden 
zitiert. 



§ 5. Entstehung der griech. Philosophie: der Orient. 17 

B. Historische Einleitung. 

§ 5. Entstehung der griechischen Philosophie: 
angebliche orientalische Abkunft. 

Eine alte Überlieferung behauptet, daß mehrere von den 
bedeutendsten griechischen Philosophen, Pythagoras, Demokrit, 
Piaton u. a., ihre wissenschaftlichen Lehren orientalischen 
Völkern zu verdanken haben. Nachdem schon zu Herodots 
Zeit die Ägypter sich den Griechen als die Stammväter der 
griechischen Religion zu empfehlen gesucht hatten, begegnet 
uns seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. die Meinung, welche 
vielleicht zuerst von Orientalen aufgebracht, aber von den 
Griechen bereitwillig angenommen und weiter entwickelt 
wurde, daß die ganze griechische Philosophie oder doch viele 
von ihren einflußreichsten Lehren und Systemen aus dem 
Orient stammen. Den gleichen Anspruch erhoben die Juden 
der alexandrinischen Schule seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. 
für die Propheten und die heiligen Schriften ihres Volkes, 
und die christlichen Gelehrten von Clemens und Eusebios 
bis über das Ende des Mittelalters herab schenkten ihnen 
Glauben. Heutzutage sind zwar diese jüdischen Fabeln all- 
gemein aufgegeben ; dagegen findet die Annahme eines orien- 
talischen Ursprungs der griechischen Philosophie als solcher 
fortwährend ihre Verteidiger; als ihre eifrigsten Verfechter 
sind um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Roth, ^Gesch. 
d. abendl. Phil.« (1. Bd. 1846. 1862; 2. Bd. 1858) und 
Gladisch (seit 1841 in einer Reihe von Schriften; vgl. 
„Phil. d. Gr." I, 27 f.) aufgetreten. Auch in den letzten 
Jahrzehnten sind mehrfach erneute Versuche gemacht worden, 
die Lehren einzelner griechischer Philosophen aus dem Orient 
herzuleiten, so die Heraklits aus Ägypten, die des Pythagoras 
und Demokrit aus Indien, und neuerdings macht sich das 
Bestreben geltend , babylonische Einwirkungen auf die grie- 
chische Philosophie nachzuweisen. 

Zeller, Orundrifs. 2 



18 Einleitiuig. 

Nun haben allerdings die Vorfahren der Hellenen aus 
ihren Stammsitzen mit der ältesten Form ihrer Sprache 
auch gewisse religiöse und sittliche Vorstellungen, welche 
denen der übrigen indogermanischen Völker verwandt sind, 
in ihre spätere Heimat mitgebracht; und sie haben in 
dieser selbst viele Jahrhunderte lang den Einfluß ihrer öst- 
lichen Nachbarn erfahren, und erst unter dieser Einwirkung 
hat sich aus dem altpelasgischen Volkstum das spätere 
hellenische herausgebildet. Ihre nächsten Lehrmeister scheinen 
tiberwiegend die Phönizier, die entfernteren Babylonier und 
Ägypter gewesen zu sein. Orientalische Kulte und Götter 
verschmolzen mit den altgriechiscben oder traten ihnen zur 
Seite; auf orientalische Lehrer und Muster weisen die alten 
Königsburgen und Königsgräber, Festungs- und Wasserbauten 
der vorhomerischen Zeit wie die ersten Anfänge der bilden- 
den Kunst; von den Phöniziern haben die Griechen ihr 
Alphabet erhalten und die Schreibkunst gelernt; mit Maßen, 
Gewichten und Münzen sind auch die Anfänge der Rechen- 
und Meßkunst, mit der Vervollkommnung der Schiffahrt die 
der Sternkunde von Osten her bei ihnen eingewandert. Daß 
sie dagegen auch philosophische Lehren und Methoden eben- 
daher entlehnt haben, läßt sich (abgesehen von einzelnen 
späten Erscheinungen) nicht erweisen. So oft uns auch diese 
Behauptung bei Schriftstellern der alexandrinischen und nach- 
alexandrinischen Zeit begegnet, so weist sich doch keiner von 
ihnen darüber aus, daß er sie einer zuverlässigen und auf 
die Tatsachen selbst zurückreichenden Überlieferung verdanke ; 
es zeigt sich vielmehr die merkwürdige Erscheinung, daß 
die Zeugnisse für sie um so vollständiger verstummen, je mehr 
wir uns den angeblichen Vorgängen selbst zeitlich nähern, 
und um so reichlicher fließen, je weiter wir uns von ihnen 
entfernen, und daß in demselben Maße, wie die Griechen mit 
weiteren orientalischen Völkern bekannt werden, auch die an- 
geblichen Lehrer ihrer älteren Philosophen sich vermehren. 
Dieser Sachverhalt weist entschieden darauf hin, daß die 
späteren Angaben nicht aus geschichtlicher Erinnerung 



§ 5, Entstehung der griech. Philosophie: der Orient. 19 

fitammen, nicht Zeugnisse sind, sondern bloße Vermutungen. 
Glaubt man andererseits auf eine Abhängigkeit der griechi- 
schen Philosophie von orientalischen Spekulationen aus ihrer 
inneren Verwandtschaft mit solchen schließen zu können, 
so verschwindet doch dieser Schein, sobald man beide in 
ihrer geschichtlichen Bestimmtheit auffaßt und weder den 
Griechen noch den Orientalen unterschiebt, was erst spätere 
Ausdeutung in ihre Lehren hineingelegt hat. Ihr Zusammen- 
treffen zeigt sich dann auf solche Punkte beschränkt, bei 
denen es zu seiner Erklärung der Annahme nicht bedarf, daß 
die griechischen Philosophen ihre Lehren ganz oder teilweise 
aus orientalischen Quellen geschöpft haben. — Diese Annahme 
ist aber nicht bloß unerweislich, sondern es stehen ihr auch 
schwerwiegende positive Gründe entgegen. Die östlichen 
Völker, mit denen die Griechen bis auf Alexander herab in 
Berührung kamen, hatten nach allem, was uns über sie be- 
kannt ist, zwar Mythologien und mythische Eosmogonien, 
aber keines von ihnen besaß eine Philosophie, keines machte 
den Versuch einer natürlichen Erklärung der Dinge, die den 
griechischen Denkern für die ihrigen als Quelle oder Vorbild 
hätte dienen können; und wenn sich auch etwas von Philo- 
sophie bei ihnen gefunden hätte, würde schon die Schwierig- 
keit der sprachlichen Verständigung seiner Übertragung zu 
den Hellenen große Hindemisse in den Weg gelegt haben. 
Die griechische Philosophie ihrerseits trägt ein durchaus 
nationales Gepräge; es zeigt sich in ihr gerade bei ihren 
ältesten Vertretern keine von allen den Erscheinungen, die 
8onst überall vorkommen, wo ein Volk seine Wissenschaft aus 
dem Auslande bezieht: kein Kampf des Einheimischen mit 
dem Fremden, kein Gebrauch unverstandener Formeln, keine 
Spur von unselbständiger Aneignung und Nachahmung des 
Überlieferten; und während bei den Orientalen die Wissen- 
schaft durchaus Monopol der Priesterschaft und daher von 
ihren Satzungen und Traditionen abhängig ist, tritt die grie- 
chische Philosophie nicht allein von Anfang an in voller Freiheit 
und Selbständigkeit auf, sondern es fehlt dem griechischen 



20 Einleitung. 

Volke auch überhaupt, um so vollständiger, je weiter man in 
seine Urzeit hinaufgeht, an einem eigenen Priesterstand und 
einer Hierarchie. Hören wir endlich die älteren und zuver* 
lässigeren Zeugnisse ab, so gesteht Aristoteles (Metaph. I» 
1. 981 b 23) den Ägyptern zwar die erste Erfindung der 
mathematischen Wissenschaften zu, aber ägyptischer oder 
sonstiger orientalischer Philosopheme erwähnt er nirgends^ 
so sorgfUItig er auch allen Spuren der späteren Lehren bei 
den Früheren nachgeht ; zu Herodots Zeit scheinen selbst die 
ägyptischen Priester noch nicht daran gedacht zu haben, daß 
philosophisches Wissen von ihnen zu den Griechen gekommen 
sein könnte; Demokrit (b. Clemens Strom. I, 15, 69 S. 356 f. P. 
I 53 f. St.) räumt auch in der Geometrie den ägyptischen Ge- 
lehrten keinen Vorrang vor sich ein ^), und Platon weist (Rep. 
IV, 435 E. Gess.V, 747 C) den Ägyptern und Phöniziern das 
q}i'ko%QYiiAaxov j den Hellenen das q>iXoiia&€g als charakte- 
ristische Eigenschaft zu. 

§ 6# Einheimische Quellen der griechischen 
Philosophie. 
Die wirklichen Entstehungsgründe der griechischen Philo- 
sophie liegen in der glücklichen Begabung des griechischen 
Volkes, in den Anregungen, die seine Lage und Geschichte 
ihm zuführte, in der Entwicklung, die sein religiöses, sitt- 
liches, politisches und künstlerisches Leben bis zu der Zeit 
genommen hatte, in welcher uns die ersten Versuche einer 
wissenschaftlichen Forschung bei ihm begegnen. Kein anderes 
Volk des Altertums zeigt sich uns schon von Hause aus mit 
so reichen und vielseitigen Anlagen ausgerüstet wie das helle- 
nische ; in keinem ist das praktische Geschick und die rührige 
Tatkraft mit einem so feinen Gefühl für das Schöne, einem 
so regen und tiefen Wissensdrang, der gesundeste Bealismua 
mit so viel Idealität, die scharfe Auffassung des Einzelnen 
mit einem so ausgesprochenen Sinn für seine geordnete und 

Dieses Bruchstück ist jetzt von üiels mit guten Gründen für un- 
echt erklärt worden (vgl. „Vors." II, 727 f.). 



§ 6. Einheimische Quelle9 der griech. Philosophie. 21 

geftlllige Verknüpfung, für Gestaltung eines schönen und in 
eich einstimmigen Ganzen verbunden. Dieser natürlichen Aus- 
stattung kam ferner die Gunst einer Lage entgegen, welche 
ihr die mannigfaltigsten Anregungen und Hilfsmittel zuführte, 
aber ihre Gaben nur solchen anbot, die sie durch eigene 
Tätigkeit zu erwerben wußten. An der Brücke, die Asien 
mit Europa verbindet, auf Inseln und reich entwickelten 
Küsten von mäßiger Fruchtbarkeit angesiedelt, waren die 
Griechen auf den lebhaftesten Verkehr miteinander und mit 
ihren Nachbarn angewiesen; sie erfuhren von einem Teile 
dieser, solange sie ihnen an Macht und Bildung über- 
legen waren, einen nachhaltigen Einfluß (vgl. S. 18); sie 
wußten sich aber auch rechtzeitig von diesem Einfluß zu 
befreien, die Fremden zu verdrängen oder zu hellenisieren, 
der eigenen Nationalität durch großartige Kolonisation ein 
weites Arbeitsfeld aufzuschließen. So entwickelten sich in 
den kleinen Gemeinwesen der hellenischen Städte schon- früh- 
zeitig, Hand in Hand mit dem steigenden Verkehr und Wohl- 
stand, die Grundlagen einer Bildung, die an sich selbst und 
in ihrer geschichtlichen Wirkung einzig dasteht. Jene Natur- 
anschauungen , von welchen die Götterverehrung der vor- 
hellenischen Zeit ausgegangen war, wurden ethisch vertieft 
und künstlerisch umgebildet, die Götter zu sittlichen Mächten, 
zu Idealen menschlicher Tätigkeiten und Zustände erhoben ; 
und kam auch die Religion als solche in den Mysterien so 
wenig wie im öffentlichen Kultus über die Schranken eines 
anthropomorphistischen Polytheismus hinaus, so enthielt sie 
doch lebenskräftige Keime, die nur weiter entwickelt werden 
durften, um über sie hinauszuführen. Und weil es sich in 
ihr mehr um den Kultus handelte als um die Lehre, weil sie 
keine gleichförmige und allgemein anerkannte Dogmatik hatte, 
sondern nur eine in den mannigfaltigsten Abwandlungen über- 
lieferte, durch die bewegliche Phantasie des Volkes und seiner 
Dichter in beständigem Fluß erhaltene Mythologie, vor allem 
aber, weil es keine fest organisierte und mit äußerer Macht 
ausgestattete Priesterschaft gab, legte sie der freien Bewegung 



22 Einleitung. 

und dem Fortschritt des Denkens bei den Griechen trotz der 
Angriffe y denen ein Anaxagoras, Protagoras und Sokrates 
ausgesetzt waren (Aristoteles gehört kaum hierher), doch im 
ganzen und großen keine Hindernisse in den Weg, welche 
sich mit denen irgend vergleichen ließen, mit denen das 
Denken in den orientalischen Reichen und im Mittelalter zu 
kämpfen hatte. Die gleiche Freiheit beherrscht ferner das 
sittliche Leben der Einzelnen und des Gemeinwesens. In 
der Mehrzahl der griechischen Städte wurden die alten 
Aristokratien, meist nach einer länger oder kürzer andauern- 
den, für die allgemeine Bildung im ganzen sehr ersprieß- 
lichen Herrschaft von „Tyrannen", durch demokratischere 
Einrichtungen verdrängt oder beschränkt ; und gerade in den 
Teilen des hellenischen Volkes, die für seine Wissenschaft am 
meisten getan haben, in den ionischen und italisch-sizilischen 
Städten und Athen, kam das bürgerliche Leben zur freiesten 
Entwicklung. Nicht minder wichtig war aber für die Ent- 
stehung und Gestaltung der griechischen Wissenschaft jene 
Achtung vor Sitte und Gesetz, jene Unterordnung der Ein- 
zelnen unter das Ganze, ohne welche die republikanischen 
Verfassungen der hellenischen Städte nicht hätten bestehen 
können. Aus der Freiheit, mit der man sich in allen Lebens- 
verhältnissen bewegte, schöpfte das wissenschaftliche Denken 
die Unabhängigkeit und Kühnheit, die wir schon an den 
ältesten griechischen Philosophen bewundern; der Sinn für 
Ordnung und Gesetz, welcher sich in den praktischen Lebens- 
verhältnissen ausgebildet hatte, verlangte auch für die theore- 
tische Weltansicht, daß das Einzelne zu einem Ganzen zu- 
sammengefaßt und von den Gesetzen dieses Ganzen abhängig 
gemacht werde. Wie wesentlich ohnedies die formelle Übung 
des Denkens und der Rede durch die lebhafte Bewegung und 
die mannigfaltigen Anforderungen des bürgerlichen Lebens ge- 
fördert werden mußte, und wieviel dieser Fortschritt auch 
für die wissenschaftliche Tätigkeit zu bedeuten hatte, liegt am 
Tage. Einen ähnlichen Dienst leistete dieser aber auch die 
Poesie, welche als epische, lyrische und didaktische in den 



§ 7. Die Entwicklung des griech. Denkens bis zum 6. Jahrb. 23 

vier Jahrhunderten, die der ersten Entstehung einer griechi- 
schen Philosophie vorangingen, eine so reiche Entwicklung 
durchlief: sie fafite die theologischen, .^osmologischen und 
ethischen Anschauungen der griechischen Stämme in Schilde- 
rungen und Aussprüchen zusammen, die der Mitwelt und der 
Nachwelt als der Ausdruck allgemein anerkannter Wahrheit 
galten , und sie bezeichnete dadurch der beginnenden Philo- 
sophie die Voraussetzungen, an die sie in Zustimmung oder 
Widerspruch anzuknüpfen hatte. Von den wissenschaftlichen 
Bestrebungen, die neben der philosophischen Welterklärung 
hergehen, sind für diese in der älteren Zeit einesteils die 
eng mit ihr verknüpften mathematischen und astronomischen 
Studien, andererseits die von denkenden Ärzten gemachten 
anatomischen und physiologischen Beobachtungen am wich- 
tigsten geworden. 

§ 7. Die Entwicklung des griechischen Denkens 
bis zum 6. Jahrhundert. 
Überblicken wir nun den Stand, den das Denken der 
Griechen bis ins 6. Jahrhundert in den angegebenen Be- 
ziehungen erreicht hatte , so bewegen sich zunächst die 
theologischen Vorstellungen zwar im allgemeinen, wie 
natürlich, auf dem Boden der überlieferten homerischen und 
hesiodischen Mythologie; aber doch lassen sich bei den 
Dichtern des 7. und 6. Jahrhunderts die Spuren einer all- 
mählichen Läuterung der Gottesidee wahrnehmen, indem Zeus 
als der einheitliche Vertreter und Hüter der sittlichen Welt- 
ordnung aus der Vielheit der Götter stärker hervorzutreten 
beginnt, und einerseits (Selon Fr. 12, 17 f. ed. Hiller) der 
Unterschied der göttlichen Gerechtigkeit von der mensch- 
lichen beachtet wird, andererseits aber auch (Theognis, 
um 540, V. 373 ff.) Zweifel an jener laut werden , die zur 
kritischen Besinnung über die überlieferten Vorstellungen 
führen konnten. Aber entschiedener und nachhaltiger betätigt 
sich das Bedürfnis, würdigere Vorstellungen über die Gottheit 
zu gewinnen, doch erst bei den Dichtern des 5. Jahrhunderts, 



24 Einleitung. 

als die Philosophie ihre ÄngriiSFe auf den Yolkstümlichen 
Götterglauben bereits eröflfnet hatte. — Für die kosmo- 
logischen Annahmen bildet die Grundlage Hesiods Theogonie, 
von der sich auch die spärlichen Überreste einiger anderen 
Darstellungen (Akusilaos, der angebliche Epimenides u. a.) 
und der ältesten, von Platon, Aristoteles und Eudemos benutzten, 
von Aristoteles Onomakritos (um 520) zugeschriebenen orphi- 
schen Theogonie nicht weit entfernen; während die uns be- 
kanntere, jenen aber und selbst Chrysippos noch unbekannte, 
sogen, rhapsodische Theogonie und ihre Ableger mit ihrem 
theologischen Synkretismus und Pantheismus und ihrer stoi- 
sierenden AUegorik sicher erst der nacharistotelischen Zeit 
(jene vermutlich dem Ausgang des 3. Jahrhunderts) angehören. 
Indessen sind es doch nur sehr einfache Wahrnehmungen und 
Reflexionen, welche in diesen alten Kosmogonien zu einem 
Bild der Weltentstehung verarbeitet werden, und an die Frage 
nach den natürlichen Ursachen der Dinge wird noch nicht 
gedacht. Etwas näher kommt dieser Frage Pherekydes 
aus Syros (um 540), der aber vielleicht bereits den Einfluß 
Anaximanders erfahren hat. Wenn er Zeus, Chronos und 
Chthon als das Erste und Ewige bezeichnete, die Erde von 
Zeus mit ihrem bunten Gewände bekleidet werden ließ und 
mit einer Überwindung des Ophioneus durch Chronos und die 
Götter erzählte, so scheint dieser Darstellung der Gedanke zu- 
grunde zu liegen, daß die Weltbildung eine Folge von der 
Einwirkung des Himmlischen auf das Irdische sei, und daß 
bei ihr die ungeordneten Naturgewalten nur allmählich haben 
gebändigt werden können. Aber die mythische Darstellungs- 
form verbirgt die Gedanken unter rätselhaften Symbolen, und 
was aus seinen natürlichen Gründen erklärt werden sollte, 
erscheint noch durchaus als eine unverstandene Wirkung der 
Götter. 

Auf den Willen der Götter wurden bei den Griechen, 
wie überall, auch die allgemein anerkannten sittlichen Gebote 
zurückgeführt und ihre ünverletzlichkeit mit dem Glauben an 
die vergeltende Gerechtigkeit der Götter begründet. Dieser 



§ 7. Die Entwicklung des griech. Denkens bis zum 6. Jahrb. 25 

Glaube gewann in hohem Grade an Kraft, seit die Vorstel- 
lungen vom Zustand nach dem Tode in seinen Dienst traten, 
und das schattenhafte Dasein im Hades, über welches der 
Unsterblichkeitsglaube des homerischen Zeitalters nicht hinaus- 
kam , durch die Lehre von einer jenseitigen Vergeltung mit 
einem lebensvolleren Inhalt erfüllt wurde. Aber wenn auch 
dieseWendung mit der zunehmenden Ausbreitung des Mysterien- 
wesens schon seit dem 8. und 7. Jahrhundert sich allmählich 
vollzog, und wenn namentlich die orphisch - dionysischen 
Mysterien durch das Dogma von der Seelenwanderung zu 
ihrer Herbeiführung beitrugen, so scheint es doch, daß die 
herrschende Denkweise bis gegen das Ende des 6. Jahrhunderts 
von dem Glauben an das Jenseits nicht tiefer berührt wurde, 
und daß er selbst zunächst nur ein Mittel war, die Weihen 
durch Furcht und Hoffnung zu empfehlen; erst unter dem 
Einfluß des Pythagoreismus scheint jener Glaube allgemeiner 
verbreitet und in reiner sittlicher Tendenz verwertet worden 
zu sein. — Dieser religiösen Behandlung der sittlichen Fragen 
geht aber, wie dies bei einem so aufgeweckten und lebens- 
gewandten Volke nicht anders sein konnte, auch die Aus- 
bildung der verstandesmäßigen moralischen Reflexion zur Seite. 
Ihre Spuren lassen sich von den homerischen Charakterbildern 
und Sittensprüchen und den Lebensregeln Hesiods durch die 
Bruchstücke der jüngeren Dichter verfolgen ; am entschiedensten 
treten sie bei den Gnomikem des 6. Jahrhunderts, einem 
Solon, Phokylides und Theognis, hervor. Auf ihre Entwicklung 
in dieser Zeit weist auch der Umstand, daß ihr die meisten 
von den Männern angehören, die den sogen. siebenWeisen 
beigezählt werden. Im übrigen ist in der Sage von den sieben 
Weisen (die vielleicht ursprünglich aus schriftstellerischer Er- 
findung hervorging; uns begegnet sie zuerst, aber schon als 
allgemein anerkannt, bei Platon Prot. 343 A) alles ungeschicht- 
lich : nicht bloß, was von ihrem Dreifuß, ihren Sinnsprüchen, 
ihren Zusammenkünften, ihren Briefen berichtet wird, sondern 
auch die Annahme, daß gerade sieben Männer von ihren Zeit- 
genossen als die weisesten anerkannt worden seien. Auch ihre 



26 Einleitung. 

NameD werden sehr verschieden angegeben : wir kennen deren 
22 aus weit auseinanderliegenden Zeiten; in allen Aufzählungen 
linden sich von ihnen nur vier : Thaies, Bias, Pittakos, Selon ; 
neben diesen am häufigsten Kleobulos, Myson, Chilon, Peri- 
ander, Anacharsis. Auf den Zusammenhang dieser Lebens- 
weisheit mit den Anfängen der griechischen Wissenschaft weist 
der Zug, daß an der Spitze der Sieben der gleiche Mann steht, 
welcher die Reihe der griechichen Physiker eröflFnet. 

§ 8. Charakter und Entwicklungsgang der grie- 
chischen Philosophie, 
Als ein Erzeugnis des hellenischen Geistes trägt die 
griechische Philosophie seine charakteristischen Züge ; sie 
begleitet seine Entwicklung mit der ihrigen, greift mit zu- 
nehmender Bedeutung in sie ein und wird in dem Leben des 
griechischen Volkes seit dem Untergang seiner politischen Un- 
abhängigkeit die führende Macht. Im praktischen Leben er- 
starkt, wendet sich das Denken beim Erwachen des wissen- 
schaftlichen Bedürfnisses zunächst der Betrachtung der Welt 
zu, als deren Teil der Grieche sich fühlt, in der er die ur- 
sprünglichste Offenbarung der göttlichen Mächte zu verehren 
schon durch seine Religion gewöhnt ist; und es tut dies mit 
jenem unbefangenen Selbstvertrauen, welches der beginnenden, 
mit den Schwierigkeiten, die sie erwarten, noch unbekannten, 
durch keine Täuschungen entmutigenden Forschung so natür- 
lich ist, und welches einem Volke besonders nahe lag, das 
sich in der Welt so heimisch und so wohl fühlte und selbst 
mit seinen Göttern im großen und ganzen auf einem so ver- 
trauten Fuße stand wie das hellenische. So ist denn die 
griechische Philosophie in ihrer ersten Periode, was ihren 
Gegenstand betrifft, Naturphilosophie; denn ihr wesent- 
liches Interesse gilt der Frage nach der Entstehung und den 
Gründen des Weltganzen , die nach der Natur und der Auf- 
gabe des Menschen wird nur vereinzelt und mehr in populärer 
als in wissenschaftlicher Form berührt. Sie ist ferner, ihrem 
Verfahren nach betrachtet, Dogmatismus, d. h. sie sucht 



§ 8. Charakter und Entwicklungsgang der griech. Philosophie. 27 

eine Ansicht von der objektiven Welt zu gewinnen, ehe sie 
sich über die Aufgabe und die Bedingungen des wissenschaft- 
lichen Erkennens Rechenschaft abgelegt hat. Sie ist endlich 
in ihren Ergebnissen realistisch, ja in gewissem Sinne, 
wenn auch nur unbewußt, materialistisch, und erst gegen das 
Ende dieser Periode wird durch Anaxagoras der Unterschied 
des Geistigen und Körperlichen zum Bewußtsein gebracht. 
Bereits beginnt aber auch das Interesse, im Zusammenhang 
mit der Veränderung, welche seit den Perserkriegen in den 
Zuständen und Bedürfnissen des griechischen Volkes vor sich 
gegangen war, von dieser ganzen naturphilosophischenForschung 
sich abzuwenden ; die Sophisten zerstören durch Skepsis und 
Eristik den Glauben an die Erkennbarkeit der Objekte und 
verlangen statt dessen ein praktisch nutzbares, den Zwecken 
des Subjektes dienendes Wissen; aber erst Sokrates ist es, 
der nicht bloß für diese praktische Philosophie, sondern für 
die Philosophie überhaupt einen neuen Grund legt. 

Durch Sokrates, Piaton und Aristoteles wird die griechische 
Philosophie auf ihren wissenschaftlichen Höhepunkt gebracht. 
Die Besinnung über die Aufgabe und die Bedingungen des 
Wissens führt zur Ausbildung der Logik; die Physik wird 
einerseits durch die Ethik, andererseits durch die Metaphysik 
(Piatons „Dialektik", Aristoteles' „erste Philosophie") ergänzt; 
die Bildung, Zergliederung und Verknüpfung der Begriffe 
bildet den festen Kern des wissenschaftlichen Verfahrens ; das 
unsinnliche Wesen der Dinge, welches der Gegenstand des be- 
grifflichen Denkens ist, ihre Idee oder Form, tritt ihrer Er- 
scheinung als eine höhere Wirklichkeit gegenüber, der Geist 
unterscheidet sich als denkendes Wesen von seinem Leibe; 
und wie es der Mensch als seine Aufgabe erkennt, diesen 
höheren Teil seiner selbst auszubilden und die niedrigeren 
durch ihn zu beherrschen, so geht auch die schöpferische 
Tätigkeit der Natur darauf aus, die Form als den Zweck 
ihrer Gebilde in dem Stoffe zur Erscheinung zu bringen. 
Soweit aber damit nicht allein über die bisherige Philosophie^ 
sondern über den bisherigen Standpunkt der hellenischen 



28 Einleitung. 

Weltanschauung überhaupt hinausgegangen, so unverkennbar 
jene Harmonie des Inneren und des Äußeren, jene unbefangene 
Einheit des Geistes mit der Natur durchbrochen wird, welche 
die ursprüngliche Voraussetzung für die klassische Schönheit 
des hellenischen Lebens bildete, so war doch teils diese 
Wendung selbst in der Entwicklung des griechischen Volkes 
vorbereitet, teils verleugnen sich auch in ihr die Züge nicht, 
welche die alte Philosophie von der neueren unterscheiden. 
In der Begriffsphilosophie des Sokrates und seiner Nachfolger 
vollzieht sich ein ähnlicher Fortschritt auf dem wissenschaft- 
lichen Gebiete wie in der bildenden Kunst und der Poesie 
des 5. Jahrhunderts auf dem künstlerischen : aus der Mannig- 
faltigkeit der Erscheinungen werden die gemeinsamen Züge, 
die unveränderlichen Formen der Dinge als das Wesentliche 
herausgehoben, und der eigentliche Gegenstand sowohl der 
künstlerischen Darstellung als der wissenschaftlichen Erkennt-' 
nis wird in ihnen gesehen: die Wissenschaft und die Kunst 
begegnen sich in der Richtung auf das Ideale. Und dieser 
Idealismus trägt selbst bei einem Piaton nicht den modernen, 
subjektiven Charakter : die Formen der Dinge sind nicht Er- 
zeugnisse des Denkens, weder des göttlichen noch des mensch- 
lichen, sondern sie stehen als ihre Urbilder dem Geiste, 
der sie anschaut, in plastischer Objektivität gegenüber. So- 
weit ferner schon die sokratische, noch mehr die platonische 
Ethik den altgriechischen Standpunkt überschreitet, so ent- 
schieden bleibt sie doch sowohl dem ästhetischen als dem 
politischen Charakter der griechischen Sittlichkeit treu; und 
wenn Aristoteles mit Piaton durch seine Bevorzugung der 
wissenschaftlichen Tätigkeit über diese hinausgeht, ist doch 
seine Tugendlehre echt griechisch, und auch er hält an der 
Verbindung der Ethik mit der Politik, an der vornehmen Ver- 
achtung der materiellen, auf den Erwerb gerichteten Arbeit 
und an jenem Gegensatze der Hellenen und Barbaren fest, 
dessen stärkster Ausdruck seine Verteidigung der Sklaverei ist. 
Der schärfereBegriff der Persönlichkeit fehlt Piaton und Aristo- 
teles, und ihre Rechte werden von ihnen, namentlich von 



§ 8. Charakter und Entwicklungsgang der griech. Philosophie. 29 

Platon^ nur anvollständig anerkannt Der Naturforschung 
wendet nicht bloß Aristoteles wieder das lebhafteste Interesse 
zu, sondern auch einen Piaton hindert sein Idealismus nicht 
an einer hohen Bewunderung für die Schönheit und Göttlich- 
keit der sichtbaren Welt, und mit ihm trifft sein Schüler in 
der Überzeugung von der Zweck tätigkeit der Natur, in jener 
ästhetischen Naturbetrachtung und Naturverehrung zusammen, 
welche uns die Nachwirkung der Anschauungen noch deutlich 
erkennen läßt, deren ältestes Erzeugnis die griechische Natur- 
religion ist. 

Eine eingreifende Änderung vollzog sich nun allerdings 
in der Philosophie wie in der gesamten Denkweise des grie- 
chischen Volkes seit dem Ende des 4. Jahrhunderts unter dem 
Einfluß der Zustände, welche durch Alexanders Eroberungen 
geschaffen worden waren« Der Sinn für Naturforschung und 
für rein theoretische Forschung überhaupt ist unverkennbar 
im Rückgang begriffen ; der akademischen und peripatetischen 
Schule treten in den Stoikern und Epikureern Philosophen 
zur Seite und drängen sie bald entschieden zurück, welche 
den Schwerpunkt ihrer Forschung in die Ethik verlegen, da- 
gegen in der Physik sich an vorsokratische Systeme anlehnen 
und auch aus diesen vorzugsweise nur die Elemente sich an- 
eignen und weiterbilden, welche auf die sittliche und religiöse 
Weltansicht Einfluß haben. Die Ethik selbst trägt bei Stoikern 
und Epikureern teils den Charakter des Individualismus, teils 
den eines abstrakten Eosinopolitismus : soweit sie im übrigen 
auseinandergehen, verlangen doch beide Erhebung über die 
Schranken der Nationalität, Unabhängigkeit von allem Äußeren, 
Befriedigung des Weisen in seinem inneren Leben. Und hierin 
stimmen auch die gleichzeitigen Skeptiker mit ihnen überein, 
nur daß sie das gleiche praktische Ziel auf einem anderen Wege, 
durch den gänzlichen Verzicht aufs Wissen, zu erreichen suchen. 
Aus dem Verkehr dieser Schulen miteinander und mit den 
älteren geht unter der Einwirkung der neuakademischen 
Skepsis und zugleich im Gegensatz gegen sie seit der zweiten 
Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts jener Eklektizis- 



30 Einleitung. 

mus hervor, der sieh der akademisehen Schule am ent- 
schiedensten bemächtigt, aber auch in der stoischen und peri- 
patetischen Eingang findet, während in der des Änesidemos 
die Skepsis einen neuen Mittelpunkt gewinnt, und bei den 
Neupythagoreern und den mit ihnen verbündeten Piatonikern 
die eklektischen Neigungen der Zeit mit den skeptischen zur 
Erzeugung einer halborientalischen, teils auf dem Boden des 
griechischen, teils auf dem des jüdischen Hellenismus sich 
entwickelnden Offenbarungsphilosophie zusammenwirken. In 
den ersten Jahrhunderten nach Christus verbreitet sich diese 
Denkweise immer mehr, und seit der Mitte des dritten wird 
sie durch Plotin im Neuplatonismus zu einem umfassenden 
System ausgebildet, das alle anderen teils verdrängt, teils in 
sich aufnimmt. Mit der Auflösung der neuplatonischen Schule 
im 6. Jahrhundert verschwindet die griechische Philosophie 
als selbständige Erscheinung vom Schauplatz der Geschichte 
und lebt nur noch, mit fremdartigen Elementen versetzt und 
in den Dienst neuer Bildungsformen gezogen, in der mittel- 
alterlichen und der neuereu Wissenschaft fort. 

Es läßt sich nicht verkennen, daß diese Entwicklung 
das griechische Denken von seinen ursprünglichen Ausgangs- 
punkten immer weiter abführte. Aber doch zeigen uns tief- 
eingreifende Züge, daß wir uns mit ihr noch immer auf 
griechischem Boden befinden. So schroflF auch der Gegensatz 
ist, in welchen die stoische Ethik Vernunft und Sinnlichkeit 
setzt, so bleibt doch das naturgemäße Leben ihr Wahlspruch ; 
in der Physik kehrt die Stoa von dem platonisch-aristotelischen 
Dualismus zu dem heraklitischen Hylozoismus zurück, durch 
ihre teleologische Weltbetrachtung nähert sie sich den Anthropo- 
morphismen der Volksreligion, und in ihrer Theologie macht 
sie sich die Verteidigung derselben Vorstellungen zur Pflicht, 
mit denen die Wissenschaft in Wahrheit schon längst gebrochen 
hatte. Epikur seinerseits tritt mit seiner mechanischen Physik 
in den ausgesprochensten Gegensatz zu dem Volksglauben wie 
zu der teleologischen Naturerklärung; aber sein ästhetisches 
Bedürfnis führt ihn zu einer neuen, wenn auch noch so 



§ 8. Charakter und Entwicklungsgang der griech. Philosophie. 31 

dürftigen Götterlehre, und wenn seine Ethik das politische 
Element der altgriechischen noch viel vollständiger ausscheidet 
als die stoische, so steht dafür jene Harmonie des sinnlichen 
und des geistigen Lebens, die sein praktisches Ideal ist, der 
ursprünglich hellenischen Auffassung um ebensoviel näher. 
Auch die skeptischen Schulen entfernen sich aber von dieser 
in ihren praktischen Grundsätzen nicht allzu weit; während 
sie andererseits die Unmöglichkeit des Wissens als ein natür- 
liches Verhängnis mit einer Ruhe hinnehmen, welche der 
christlichen Zeit nicht mehr so leicht möglich ist. Aber auch 
die Erscheinung, welche den Übergang der griechischen 
Welt in die christliche am lautesten ankündigt, die neupytha- 
goreische und neuplatonische Spekulation, läfit doch ihren 
Zusammenhang mit der antiken Anschauungsweise noch deut- 
lich erkennen. So tief sie die sichtbare Welt unter die un- 
sichtbare stellt, so gilt ihr doch auch jene immer noch für 
erfüllt von göttlichen Kräften, für eine in ihrer Art voll- 
kommene Erscheinung der höheren; die Schönheit der Welt 
wird gegen die Naturverachtung der Christen, ihre Ewig- 
keit gegen die Annahme einer Weltschöpfung verteidigt; 
und jene Ordnungen von übermenschlichen Wesen, in denen 
die göttlichen Kräfte zur Welt herabsteigen, mit deren Bei- 
stand die Menschen sich zur Gottheit erheben sollen, sind 
das metaphysische Gegenbild des volkstümlichen Polytheismus, 
dessen letzte Vorkämpfer diese Philosophen gewesen sind. 



Erste Periode. 

Die vorsokratische Philosophie. 

§ 9. Ihr Entwicklungsgang. 

Den ersten Versuch einer wissenschaftlichen Welterklärung 
machte unter den Griechen der Milesier Thaies, an den seine 
Landsleute Anaximander und Anaximenes, später Diogenes 
der ApoUoniate und andere Vertreter der altionischen Schule 
sich anschlössen. Durch die lonier Pythagoras und Xenophanes 
wurden diese Bestrebungen nach Unteritalien verpflanzt und 
mit so eigenartiger Forschung weitergeführt, daß von jedem 
der beiden eine neue Schule ausging. Diese drei ältesten, 
ihrer Entstehung nach noch dem 6. Jahrhundert y. Chr. an- 
gehörigen Schulen treffen nun darin zusammen, daß sie bei 
den Gründen der Dinge, welche die Wissenschaft aufzeigen 
soll, zunächst an ihre substantiellen Gründe, d. h. an das- 
jenige denken, aus dem sie entstanden sind und ihrem Wesen 
nach fortwährend bestehen, daß sie dagegen die Aufgabe 
noch nicht ausdrücklich ins Auge fassen, das Entstehen, das 
Vergehen und die Veränderung als solche zu erklären ; dazu 
hat vielmehr erst Parmenides dadurch den Anstoß gegeben, 
daß er ihre Möglichkeit bestritt. In diesen Sinne fragen die 
altionischen Philosophen nach dem Stoff, aus dem die Welt 
gebildet wurde, und nach der Art, wie sie aus ihm entstanden 
sei. Die Pythagoreer suchen das Wesen, aus dem die Dinge 
bestehen, in der Zahl, deren Bestand und Beschaffenheit sie 
von der festen, nach Zahlen bestimmbaren Gesetzmäßigkeit 
der Erscheinungen herleiten. Die eleatische Philosophie, von 



Die vorsokratische Philosophie. § 8, Ihr Entwicklungsgang. 33 

der Einheit der Welt ausgehend, erkennt in Parmenides ihr 
Wesen in dem Schein als solchem; und indem sie nun aus 
dem Begriff des Seienden alles Nichtsein unbedingt aus- 
schließt, erklärt sie die Vielheit der Dinge und die Bewegung 
für undenkbar. 

Eine neue Wendung der naturphilosophischen Forschung 
beginnt mit Heraklit ^). Indem er es aussprach, daß es in dem 
unablässigen Wechsel der Stoffe und der Stoffverbindungen 
überhaupt nichts Bleibendes gebe als das Gesetz dieses 
Wechsels, stellte er seinen Nachfolgern die Aufgabe, diese 
Erscheinung selbst zu erklären, den Grund der Veränderung 
und Bewegung anzugeben. Empedokles, Leukippos und Anaxa- 
goras versuchten dies in der Art, daß sie alles Werden und 
alle Veränderung auf die Verbindung und Trennung un- 
gewordener, unvergänglicher und an sich selbst unveränder- 
licher Stoffe zurückführten, daß sie also das Werden selbst 
von einem ursprünglichen Sein herleiteten, welches sich zwar 
durch seine Vielheit und Geteiltheit von dem Seienden des 
Parmenides unterächeidet, im übrigen aber dessen wesentliche 
Eigenschaften teilt. Als den ersten Urheber dieses Gedankens 
haben wir wahrscheinlich Leukippos zu betrachten. Jene Ur- 
stöffe denkt sich Empedokles qualitativ verschieden, der Zahl 
nach begrenzt, ins unendliche teilbar; Leukippos qualitativ 
gleichartig, der Zahl nach unbegrenzt, unteilbar ; Anaxagoras 
qualitativ verschieden, der Zahl nach unbegrenzt, ins unend- 
liche teilbar. Um die Bewegung zu erklären, auf der alle 
Verbindung und Trennung der Stoffe beruht, fügt Empedokles 
den Elementen die bewegenden Kräfte in mythischer Gestalt 
bei ; Leukippos und Demokrit versetzen die Atome in den leeren 
Raum, in dem sie sich von Urbeginn an bewegen ; Anaxagoras 
endlich nimmt seine Zuflucht zu dem weltbildendeu Geiste. 

Hiermit ist der bisherige Standpunkt der Physik in Wahr- 
heit überschritten ; grundsätzlich aufgegeben wird er von der 



*) Über das zeitliche Verhältnis zwischen Heraklit und Parmenides 
siehe jetzt 8. 57 Anm. 1. 

Zeller, Grundrifs. 3 



34 Erste Periode. 

Sophistik. Sie bestreitet jede Möglichkeit des Wissens 
(Protagoraa und Gorgias), beschränkt die Philosophie auf 
die Fragen des praktischen Lebens, entzieht aber auch diesem 
selbst jede allgemeingültige Norm, und sie arbeitet dadurch 
der sokratischen Reform der Philosophie teils unmittelbar in 
die Hände, teils macht sie mittelbar, durch die Einseitigkeit 
und Bedenklichkeit ihrer eigenen Ergebnisse, eine solche 
Beform zum Bedürfnis. 

I. Die drei ältesten Schulen. 
A. Die alten lonier. 

§ 10. Thaies. 

Thaies war ein Bürger von Milet, der von böotischen 
Eadmeern abstammte, ein Zeitgenosse des Solon und Erösos. 
Seine Geburt wurde von ApoUodor nach DiOG. I, 37 auf 
Ol. 35, 1, 640/39 v. Chr. (wahrscheinlich aber erst Ol. 39, 1, 
624/3 V. Chr.), sein Tod Ol. 58, 3 (546/5 v. Chr.) angesetzt; 
wobei für die Berechnung des ersteren die Sonnenfinsternis 
des Jahres 585 (s. u.) maßgebend gewesen zu sein scheint. 
Seine Stellung an der Spitze der sieben Weisen (s. S. 26) und 
die Berichte bei Herod. I, 75. 170 und DiOG. I, 25 zeugen für 
das Ansehen, in dem er wegen seiner praktischen Klugheit 
und staatsmännischen Einsicht stand. Zugleich wird aber das 
mathematische und astronomische Wissen gerühmt, das er sich 
(nach EüDEMOs) — vielleicht auf Handelsreisen — in Phönizien 
und Ägypten erworben und nach Griechenland verpflanzt 
habe : von den Beweisen dieses Wissens, die ihm zugeschrieben 
werden, ist der berühmteste, daß er die Sonnenfinsternis, 
welche 585 v, Chr. den 28. Mai (nach julianischem Kalender) 
stattfand, für das Jahr ihres Eintretens vorhergesagt haben 
soll (Herod. I, 74 u. a.). Mit diesen mathematischen Studien 
und dem durch sie geweckten wissenschaftlichen Sinn stand 
es nun wohl in Verbindung, wenn er auch die Frage nach 
den letzten Gründen der Dinge in anderer als mythologischer 



§ 10. Thaies. 35 

Form zu beantworten übernahm ; und andererseits entspricht 
es dem elementaren Charakter jener ältesten griechischen 
Mathematik, daß seine Physik nicht über einen ersten An* 
fang hinauskam. Er erklärte nämlich das Wasser für den 
Stoff, aus dem alles entstanden sei und bestehe ; wie er denn 
auch sagte, die- Erde schwimme wie ein Holz auf dem Wasser, 
und daraus ihr Beharren im Mittelpunkte der Welt erklärte. 
Über die Gründe dieser Annahme spricht schon Aristoteles ^) 
nur nach eigener Vermutung, denn eine Schrift des Thaies 
lag ihm nicht vor, und es gab eine solche ohne Zweifel über- 
haupt nicht ; die, welche von Späteren erwähnt werden, sind 
samt den Lehren, die sie daraus mitteilen, für untergeschoben 
zu halten. Über die Art, wie die Dinge aus dem Wasser 
entstehen, hatte sich Thaies, wie es scheint, nicht näher er- 
klärt; er dachte sich wohl mit dem Stoffe die wirkende Kraft 
unmittelbar verknüpft und diese selbst im Geiste der alten 
Naturreligion als etwas der menschlichen Seele Analoges; 
wie dies auch die Aassprüche (Abist. De an. I, 5. 411a 7, 
405a 19) andeuten, daß alles von Göttern erfüllt sei, uncl 
daß der Magnet eine Seele (d. b. Leben) habe, da er das Eisen 
anziehe. Er faßte demnach den Stoff als belebt und beseelt 
auf, eine Anschauung, die auch bei seinen Nachfolgern 
wiederkehrt, und die man zutreffend als Hjlozoismus oder 
auch als Hjlopsychismus (Döring) bezeichnet hat. Daß er 
dagegen die weltbildende Kraft ausdrücklich als Gottheit 
oder Geist oder Weltseele vom Stoff unterschied , läßt sich 
nicht annehmen. Wie dürftig aber dieser erste Anfang einer 
physikalischen Theorie uns erscheinen mag, so wichtig war 
es doch, daß mit einer solchen Theorie überhaupt ein Anfang 
gemacht war. Einen erheblichen Fortschritt finden wir schon 
bei Anaximander. 



^) Metaph. 1, 8. 988 b 22 ; bestimmter druckt sich Theophbast bei 
SmPL. Phys. 28, 21 (Diels Doxogr. 475) aus; vgl. jedoch S. 40, 1. 



36 Srste Periode. 

§ 11. Anaximander. 

Dieser bedeutende und einflußreiche Denker war ein 
Mitbürger des Thaies, dem dessen Ansichten auch dann nicht 
unbekannt geblieben sein können^ wenn er sie nicht durch 
förmlichen Unterricht fortpflanzte. 610/9 v. Chr. geboren, 
starb er bald nach 547/6 (DiOG. II, 2). Durch astronomische 
und geographische Kenntnisse in seiner Zeit hervorragend, 
nahm er auch die von Thaies angeregten kosmologischen 
Untersuchungen mit selbständiger Forschung auf; seine Er- 
gebnisse legte er, der älteste griechische Prosaiker und der 
erste philosophische Schriftsteller, in einer eigenen, frühe ver- 
lorenen Schrift nieder. Ais den Anfang (a^x^') von allem be- 
zeichnete er das Unbegrenzte (aTceiQov), d. h. die unendliche 
Masse des Stoffes, aus der alle Dinge entstanden sind, und 
in die sie durch ihren Untergang zurückkehren, um „einander 
Buße und Strafe zu zahlen für ihre Ungerechtigkeit nach der 
Ordnung der Zeit" ^). Bei diesem ürstoff dachte er aber 
weder an eines von den späteren vier Elementen noch an. 
einen Stoff, der zwischen Luft und Feuer oder Luft und, 
Wasser in der Mitte stehe*), noch endlich an ein solches Ge- 
menge der besonderen Stoffe, in dem diese als bestimmte und 
qualitativ verschiedene enthalten gewesen wären ^). Es ergibt 
sich vielmehr nicht allein aus Theophrasts bestimmter Angabe 



J) SiMPL. Phys. 24, 18 (JDiels Doxogr. 476). Vgl. Phil. d. Gr. I, 229, 2.. 

') Zwei von Aristoteles ohne Neimang ihrer Urheber erwähnte, vpn. 
mehreren seiner Kommentatoren, /«um Teil im Widerspruch mit ihren 
eigenen sonstigen Angaben, Anaximander beigelegte Annahmen. Die zweite 
schreibt ihm mit andern Lütze Über das uneiQov A.s (Leipzig 1878) zu, 
beide zugleich Neuhäuser Anaximander Miles. (1883) S. 44—273. — Neuer- 
dings hat Heidel Arch. f. G. d. Phil. XIX 333 ff. nachzuweisen versucht, 
daß Anaximander und mit ihm sämtliche Vorsokratiker überhaupt keine 
qualitative Veränderung {dXloCtooig im Sinne des Aristoteles), sondern nur 
eine quantitative angenommen haben. 

*) Über diese von Ritter I, 201 ff. 283 ff. seiner Einteilung der ionischen 
Philosophen in Mechaniker und Dynamiker zugrunde gelegte und immer 
noch von einzelnen geteilte Annahme s. Phil. d. Gr. I^, 201 ff. 



§ 11. Anaximander. ' 37 

<b. SiMPL. Phys. 27, 17 ff. 154, 14 ff. [Diels Doxogr. 479]), 
sondern auch aus aristotelischen Aussagen ^), daß Anaximander 
sein Unbegrenztes von allen bestimmten Stoffen entweder 
ausdrücklich unterschieden oder, was wahrscheinlicher ist, 
dafi er sich über seine nähere Beschaffenheit gar nicht er- 
klärt hatte, aber mit ihm eben nur denjenigen Stoff be- 
zeichnen wollte, welcher noch keine von den unterscheiden- 
den Eigenschaften der besonderen Stoffe besitze. So wurde 
ihm sein als räumlich unbegrenzt (infinitum) aufgefaßtes 
ccTteiQOv zugleich auch zu einem in sich selbst, seiner Be- 
schaffenheit nach Unbestimmten (indefinitum, aoQiavov), Für 
die Unbegrenztheit dieses Urstoffes machte Anaximander, 
freilich mit Unrecht, geltend, daß er sich sonst in der Er- 
zeugung der Dinge erschöpfen würde ^), Als der Urstoff ist 
das Unbegrenzte ungeworden und unvergänglich, und ebenso 
ewig ist seine Bewegung. Eine Folge der letzteren ist die 
„Ausscheidung** (ixxQlvea&ai) bestimmter Stoffe. Zunächst 
trennten sich das Warme und das Kalte, aus beiden entstand 
das Feuchte; aus diesem sonderten sich die Erde, die Luft 
und der Feuerkreis ab, welcher diese als kugelförmige Schale 
umgab. Indem der letztere zersprang, bildeten sich rad- 
förmige, mit Feuer gefüllte, mit Öffnungen versehene Hülsen, 
welche, durch Luftströmungen bewegt, sich um die Erde in 
geneigt horizontaler Richtung drehen; di^s Feuer, das diese 
während ihrer Drehung aus ihren Öffnungen ausströmen, 
und das durch die Ausdünstungen der Erde sich fortwährend 
erneuert, gibt die Erscheinung der durch den Himmelsraum 
ziehenden Gewitter; — eine Vorstellung, die sich für uns 
zwar fremdartig genug ausnimmt, die aber in Wahrheit der 
erste uns bekannte Versuch ist, die regelmäßige Bewegung 
der Gestirne in der Weise der späteren Sphärentheorie 



1) Phys. I, 187 a 20, lU, 5. 204 b 22 flf. De coelo III, 5. 303 b 13 ff. 
Vgl. Phü. d. Gr. I«, 213 f. 

2) Abist. Phys. lU, 4. 203 b 18. c. 8. 208 a 8 vgl. m. Aet. I 3, 3 (Doxogr. 
277) u. a.; s. Phil. d. Gr. I^, 198. 



38 * Srste Periode. 

mechanisch zu erklären^). Die Erde hat die Gestalt einer 
Walze; durch ihren gleichmäßigen Abstand von den Grenzen 
der Welt (die somit als Kugel gedacht zu sein scheint) er- 
hält sie sich in Ruhe. Anfangs in flüssigem Zustand , ließ 
sie bei ihrer allmählichen Austrocknung die lebendigen Wesen 
aus sich hervorgehen^); die Menschen zuerst, in fischartige 
Umhüllungen eingeschlossen, im Wasser, das sie erst dann 
verließen, als sie so weit herangewachsen waren, daß sie sich 
auf dem Lande fortbringen konnten. Daß schon Anaximander, 
den Voraussetzungen seiner Kosmologie entsprechend, einen 
periodischen Wechsel von Weltbildung und Weltzerstörung, 
und infolge davon eine anfangs- und endlose Reihe aufeinander- 
folgender Welten angenommen habe, wird von einer glaub- 
würdigen, auf Theophrast zurückzuführenden Überlieferung 
behauptet und von Schleiermacher®) mit Unrecht bezweifelt 
Unwahrscheinlich dagegen ist, daß er auch ein Nebeneinander 
zahlloser Weltsysteme im unendlichen Räume gelehrt hat. 

§ 12. Anaximenes. 

Anaximenes, gleichfalls ein Milesier, wird von Späteren 
der Schüler Anaximanders genannt, dessen Einfluß sich bei 
ihm deutlich verrät. Seine Lebenszeit*) ist nach ApoUodor 
zwischen 585/4 und 528/4 v. Chr. zu setzen. Von einer Schrift 
in ionischer Prosa, hat sich nur ein kleines Bruchstück er- 
halten. 

In seiner physikalischen Theorie weicht Anaximenes darin 
von Anaximander ab, daß er als das Erste nicht mit jenem 



1) A.s Annahmen über Große und Entfernung der Gestirne bespricht 
DiELS Arch. f. Gesch. d. Phil. X, 228 flf. 

2) Nach Aet, V 19, 4 (Doxogr. 430) sollen die ersten Tiere im Feuchten 
entstanden und mit stacheligen Rinden umhüllt gewesen sein, die sie bei 
ihrem Übergange zum Lande abgeworfen hätten. 

8) Über Anaximandros. Werke, 3. Abt. II, 195 flf. 

*) Auf -Grund der von Diels berichtigten Angabe Hippolyt. Refut. hfier. 
I, 7, daß seine clxfirj (= dem 40. Lebensjahr) Ol. 58, 3 (546/5 v. Chr.) falle, 
und unter der Voraussetzung, daß bei Diog. II, 3 die Data verwechselt 
seien und das yeyivrjTai die axfxrj bezeichne. 



§ 12. Auaximenes. 39 

den unendlichen Stoff ohne nähere Bestimmung, sondern mit 
Thaies einen qualitativ bestimmten Stoff setzt; aber er schließt 
sich dadurch wieder an ihn an, daß er hierfür einen solchen 
Stoff wählt, dem die wesentlichen Eigenschaften des anaxi- 
mandrischen ürwesens, die Unbegrenztheit und die unauf- 
hörliche Bewegung, gleichfalls zuzukommen schienen. Dieses 
beides findet sich aber bei der Luft. Sie breitet sich nicht 
bloß ins Grenzenlose aus, sondern sie ist auch in beständiger 
Bewegung und Veränderung begriffen und erweist sich (nach 
der altertümlichen Vorstellung, für welche die Seele mit der 
Lebensluft zusammenfällt) als der Grund alles Lebens und 
aller Bewegung in den lebenden Wesen. „Wie die Luft als 
unsere Seele uns zusammenhält, so umfaßt auch die ganze 
Welt der wehende Hauch {nvevfxa) und die Luft" (Anax. 
b. Aet. I 3, 4 [Doxogr. 278]). Durch ihre anfangs- und end- 
lose Bewegung erleidet die Luft eine Veränderung, welche 
näher zwiefacher Art ist: Verdünnung (ßdvwaig, agalwaig) 
oder Lockerung („xaAa^oi/") und Verdichtung (TtvKvioaig) 
oder Zusammenziehung (avaTelXeGd-ai). Jene ist zugleich 
Erwärmung, diese Erkältung. Durch Verdünnung wird die 
Luft zu Feuer, durch Verdichtung zu Wind, weiter zu Wolken, 
Wasser, Erde, Steinen; was sich Anaximenes zunächst wohl 
von den atmosphärischen Vorgängen und Niederschlägen ab- 
strahiert hat. Bei der Weltentstehung bildete sich zuerst die 
Erde, welche nach Anaximenes flach ist wie eine Tischplatte 
und deshalb von der Luft getragen wird; die von ihr auf- 
steigenden Dünste verdünnten sich zu Feuer; Teile dieses, 
von der Luft zusammengedrückt, sind die Gestirne; von 
ähnlicher Gestalt wie die Erde umkreisen sie diese auf der 
Luft schwebend (falls dies nicht bloß von den Planeten ge- 
sagt wurde) in seitlicher Richtung wie ein um den Kopf 
gedrehter Hut. Mit Anaximander nahm, wie glaubhaft be- 
richtet wird, auch Anaximenes einen Wechsel der Weltbildung 
und Weltzerstörung an. 



40 Erste Periode. 

§ 13. Spätere Anhänger der altionischen Schule; 

Diogenes. 
Die Schule, welche die milesischen Philosophen im sechsten 
Jahrhundert begründet hatten, begegnet uns auch noch im 
fünften. H i p p o n , der im zweiten Drittel dieses Jahrhunderts 
lebte, hielt mit Thaies das Wasser oder genauer das Feuchte 
(vyQov)^ für den Grundstoff der Welt; dabei leitete ihn ^) zu- 
nächst die Analogie des tierischen Lebens, wie er denn auch 
die Seele für eine aus dem Samen entstandene Feuchtigkeit 
hielt. Aus dem Wasser sollte das Feuer und aus der Über- 
windung des Wassers durch das Feuer die Welt hervor- 
gegangen sein. An Anaximenes hielt sich der sonst unbekannte 
Idäos, wenn er die Luft für das Ursprünglichste erklärte; 
ebenso stehen die S. 36, 2 berührten vermittelnden Annahmen 
der seinigen am nächsten (vgl. Diels „Vorsokr." I 327, 30). 
Noch um 430 machte Diogenes aus Apollonia, der nach 
Theophrast (Doxogr. 477) sich in eklektischer Weise vielfach 
an Anaxagoras aber auch an Leukippos anschloß, den Versuch, 
Anaximenes' monistischen Materialismus gegen die Lehre des 
Anaxagoras von dem weltbildenden Geiste dadurch zu schützen, 
daß er in der Luft selbst schon die Eigenschaften nachwies, 
welche jener nur dem Geiste zusprechen zu dürfen glaubte. 
Wenn nämlich einerseits (wie Diogenes wohl Empedokles und 
Anaxagoras entgegenhält) e i n gemeinsamer Stoff aller Dinge 
angenommen werden müsse, da sonst keine Mischung und 
Wechselwirkung der Dinge möglich wäre; andererseits eben 
dieser Stoff auch ein denkendes und vernünftiges Wesen sein 
müsse, wie dies teils seine zweckmäßige Verteilung, teils und 
besonders das Leben und Denken der Menschen und Tiere 
beweise: so finden sich eben diese Merkmale in der Luft 
vereinigt. Sie sei es, die alles durchdringe und (als Seele) 



1) Nach der aus Simpl. Phys. 23, 18 f. Aet. I, 3, 1 (Doxogr. 276, vgl. 
220) zu entnehmenden Angabe Theophrasts, welche sich zwar hinsichtlich 
des Thaies nur auf Vermutung, bei H i p p o n dagegen auf seine Schrift zu 
gründen scheint. 



§ 13. Spätere lonier. 41 

in den Tieren das Leben, die Bewegung, das Denken erzeuge. 
Sie ist daher nach Diogenes das ungewordene, unbegrenzte, 
vernünftige Wesen , das alles beherrscht und ordnet. Bloße 
Umwandlungen (hegoidaeig) der Luft sind alle Dinge. Näher 
besteht ihre Umwandlung (nach Anaximenes) in der Ver- 
dünnung und Verdichtung oder, was dasselbe, in der Er- 
wärmung und Erkältung. Das Dichtere und Schwerere sank 
nieder, das Leichtere stieg empor, und es sonderten sich so 
die zwei Massen, aus denen im weiteren Verlauf durch die 
von dem Warmen bewirkte Drehung die Erde und die Ge- 
stirne entstanden. Aus dem Erdschlamm gingen (wohl durch 
den Einfluß der Sonnenwärme) Pflanzen, Tiere und Menschen 
hervor; die Seele der lebenden Wesen besteht aus einer Luft, 
welche zwar lange nicht so heiß ist wie die der Sonne, aber 
wärmer als die atmosphärische. Nach der näheren Beschaffen- 
heit dieser Luft richtet sich die der verschiedenen Arten von 
lebenden Wesen. Die Erscheinungen des körperlichen und 
des seelischen Lebens, wie namentlich den Blutumlauf (eine 
genaue Beschreibung des Adersystems von ihm ist uns noch 
erhalten 5 s. Fr. 6), die Sinnestätigkeiten und das Denken, 
bemühte sich Diogenes nicht ohne Scharfsinn aus seiner 
Theorie zu erklären. Mit den älteren loniern und Heraklit 
nahm auch er eine unendliche Reihe aufeinanderfolgender 
Welten an. Daß sich seine Lehre schnell und in den weitesten 
Kreisen verbreitete, beweist ihre Verspottung in den Wolken 
des Aristophanes (s. besonders V 225 ff. 264. 828 ff.). 

B. Die Pythagoreer. 

§ 14. Pythagoras und seine Schule. 

Die Geschichte des Pythagoras wurde schon frühe, und 
je länger sie sich in der Überlieferung fortpflanzte, um so 
mehr, von so vielen unhistorischen Sagen und Vennutungen 
über wuchert, in seine Lehre wurde namentlich seit dem Auf- 
kommen der neupythagoreischen Schule und durch die von 



42 Erste Periode. 

ihr im großen betriebene Unterschiebung pythagoreischer 
Schriften so viel Späteres hineingetragen^ daß es der umsich- 
tigsten Kritik bedarf , um die ungeschichtlichen Bestandteile 
der uns vorliegenden Berichte auszuscheiden. Ein höherer 
Grad von Sicherheit läßt sich, was die Geschichte der pytha- 
goreischen Schule und ihres Stifters betrifft ^), nur für wenige 
Hauptpunkte, hinsichtlich ihrer Lehre nur für die Bestand- 
teile gewinnen, über welche uns die echten Bruchstücke des 
Philolaos *), die Mitteilungen des Aristoteles und die Angaben 
der späteren Doxographen unterrichten , die wir auf Theo- 
phrast zurückzuführen berechtigt sind^). 

Pythagoras, der Sohn des Mnesarchos, wurde in Samos 
geboren, wohin seine Vorfahren, tyrrhenische Pelasger, aus 
Phlius eingewandert waren. Von den ungenauen, vielfach 
auseinandergehenden Angaben über seine Lebenszeit kommen 
der Wirklichkeit wohl am nächsten die wahrscheinlich auf 
ApoUodor zurückgehenden Ansätze (s. Jacoby, „ApoUodors 
Chronik" 215 flf.)> ^ach denen er 571/0 geboren, 532/1 nach 
Italien kam und 497/6 im Alter von 75 Jahren starb. Als 
den gelehrtesten Mann seiner Zeit bezeichnet ihn schon 
Heraklit*); aber wie und woher er sich seine Kenntnisse 

^) Über Pythagoras' uns bekannte griechische Biographien vgl. S. 8. 10. 

3) Sämtliche Bruchstücke des Philol. hat Böckh Philolaos d. Pythag. 
Lehren (1819) bearbeitet; nachdem ich von einem Teil derselben gezeigt 
hatte, daß er untergeschoben sei, suchte Schaarschmidt (die angebl. Schrift- 
stellerei d. Philol. 1864) dies von allen nachzuweisen; mir hat sich bei 
wiederholter Prüfung die Unechtheit der aus dem Buche mql ilfvxrjg stam- 
menden und die Echtheit der übrigen, zum Teil schon von Aristoteles be- 
nützten, bestätigt. Vgl. Phil. d. Gr. 1», 287 ff. 371 f. 416 ff. 

') Unter den neueren Darstellungen der pythagoreischen Philosophie 
ist neben den bekannten umfassenderen Werken Chaionet Pythagore et la 
phil. pyth. (2 Bde. 1873) als eine sorgfaltige Arbeit zu nennen, die aber 
doch unzuverlässigen Berichten noch zu viel Vertrauen schenkt; Roths 
kritiklose und romanhafte Gesch. uns. abendländischen Philosophie Bd. 2 
(1858) kann nur mit größter Vorsicht benützt werden. 

*) Fr. 129 D. = 17 Byw. b. Diog. Vm, 6: Hv^ayogrjs MvtiadQ/ov 
taroQ^riv rjaxtiaev av&Q(a7i(ov [idhara ndvxtüv' x«l Ixlt^dfjievoe ravtag ras 
avyyQa(päg (wofür Her. wahrscheinlich nur ravia geschrieben hatte) inoir' 



§ 14. Pythagoras und seine Schule. 43 

erwarb, wissen wir nicht. Die Angaben Späterer über seine 
Bildungsreisen in die östlichen und südlichen Länder können 
bei der Unzuverlässigkeit der Zeugen, dem späten Auftreten 
dieser Nachrichten und den (S. 18 f. berührten) verdächtigen 
Umständen, unter denen sie auftreten, nicht für Überliefe- 
rungen, die auf geschichtlicher Erinperung beruhten, sondern 
nur für Vermutungen gelten, zu denen namentlich die Lehre 
von der Seelenwanderung und einige orphisch-pythagoreische 
Gebräuche Anlaß gaben. Selbst von einer Anwesenheit des 
Pythagoras in Ägypten, der an sich keine innere Unwahr- 
scheinlichkeit entgegenstände, war der älteren Überlieferung 
allen Anzeichen nach nichts bekannt. Das früheste Zeugnis 
dafür ist eine Prunkrede des Isokrates, die auf Glaub- 
würdigkeit selbst keinen Anspruch macht (Busir. 11, 28, 
vgl. 33)5 Herodot (II, 81. 123, vgl. c. 49. 53) scheint von 
einem Aufenthalt des Philosophen in Ägypten noch nichts 
zu wissen ; von Platon und Aristoteles vollends ist es (nach 
S. 20) sehr unwahrscheinlich, daß sie ein so einflußreiches 
System, wie das pythagoreische, aus Ägypten herleiteten; 
die Lehre von der Seelenwanderung , die Pythagoras in 
Ägypten^) kennen gelernt haben soll, war den Griechen 
schon vor ihm bekannt, während sie der ägyptischen Religion 
(trotz Herod. II, 123) fremd war. Glaubwürdiger, aber doch 
auch nicht sicher, ist die (seit der Mitte des 4. Jahrhunderts 
bei DiOG. I, 118 ff. u. a. bezeugte) Angabe, daß er Pherekydes 
zum Lehrer gehabt habe, und wenn auch sein Schüler- 
verhältnis zu Anaximander (bei Porph. v. Pyth. 2. 11) zu- 
nächst nicht auf Überlieferung, sondern auf bloßer Vermutung 



auTo iavTov aotpCriv noXvfia^eCriv xaxoTf;^y/'i;y. Diels (Vorsokr. II 660 zu 
I 80, 16) geht wohl zu weit, wenn er dieses ganze Fragment als unecht 
bezeichnet. Als Vielwisser erscheint Pythagoras auch bei Heraklit Fr. 40. 
Vgl. auch Hebod. IV, 95 : ^ElXrivtov ov t^ aad^av^axaTt^ aoq)i(ny Hud-ayogru. 
^) Auch der Versuch L. v. Schbödees „Pythagoras und die Inder" 
1884, die pythagoreische Seelenwanderungslehre aus der ihr in mancher 
Hinsicht ähnlichen Lehre der Inder herzuleiten, muß als mißglückt be- 
zeichnet werden. 



44 Brste Periode. 

ZU beruhen scheint, spricht doch das Verhältnis der pytha- 
goreischen Mathematik und Astronomie zu der Anaximanders 
(s. 0. S. 37 f.) für seine Bekanntschaft mit dem milesischen 
Philosophen. Nachdem Pythagoras seine Wirksamkeit, wie 
es scheint, schon in seiner Heimat begonnen hatte, fand 
er ihren Hauptschauplatz in Unteritalien (s. o.). Er ließ 
sich in Eroton nieder und stiftete hier einen Verein, der 
unter den italischen und sizilischen Griechen zahlreiche An- 
hänger fand. Die spätere Sage schildert sein Auftreten in 
diesen Gegenden als das eines Propheten und Wundertäters, 
seine Schule als einen Bund von Asketen, unter strenger 
Ordenszucht in Gütergemeinschaft lebend, der Fleischkost, 
der Bohnen, der wollenen Kleidung sich enthaltend, mit un- 
verbrüchlich gewahrtem Schulgeheiranis. Der geschichtlichen 
Betrachtung stellt sich der pythagoreische Verein zunächst 
als eine Form des damaligen Mysterien wesens dar: seinen 
Mittelpunkt bilden die „Orgien", deren Herodot H, 81, sein 
Hauptdogma die Lehre von der Seelenwanderung, deren schon 
Xenophanes (Fr. 7 bei DiOG. VHl, 36) erwähnt. Von den Ge- 
weihten wurde eine Reinheit des Lebens (IIvd-ayoQeiog XQOTiog 
Tov ßiov) (Platon Rep. X, 600 B) verlangt, die ihnen jedoch, 
den besten Zeugen zufolge, nur wenige und leicht zu erfüllende 
Enthaltungen auferlegte. Was den pythagoreischen Verein 
vor allen verwandten Erscheinungen auszeichnet, ist die 
ethisch-reformatorische Wendung, die dem mystischen Dogma 
und Kultus von Pythagoras gegeben wurde, das Bestreben, 
seine Mitglieder, im Anschluß an dorische Sitte und Lebens- 
ansicht, zu leiblicher und geistiger Gesundheit, zur Sittlichkeit 
und Selbstbeherrschung zu erziehen. Mit diesem Bestreben 
steht nicht bloß die Pflege mancher Künste und Fertigkeiten, 
der Gymnastik, der Musik, der Heilkunde, sondern auch die 
wissenschaftliche Tätigkeit in Verbindung, die innerhalb 
des Bundes nach dem Vorgang seines Stifters geübt wurde, 
und an der sich, auch ohne eigentliches Schulgeheimnis, 
andere als seine Mitglieder wohl nur selten beteiligen 
konnten. Die mathematischen Wissenschaften hatten bis um 



§ 14. Pythagoras und seine Schale. 45 

den Anfang des 4. Jahrhunderts ihren Hauptsitz in der 
pythagoreischen Schule, und an sie schloß sich jene Natur- 
lehre an, die auch bei den Pythagoreern den wesentlichen 
Inhalt ihres philosophischen Systems bildet. Daß aber eine 
ethische Reform, wie sie Pythagoras erstrebte, sofort auch 
zur politischen werden mußte, war für den Griechen in jener 
Zeit selbstverständlich. In der Politik waren die Pythagoreer, 
dem ganzen Geist ihrer Lehre gemäß, Verteidiger der dorisch- 
aristokratischen, auf strenge Unterordnung des Einzelnen unter 
das Ganze abzielenden Einrichtungen; und sie beherrschten 
in diesem Sinn längere Zeit durch ihren Einfluß viele von 
den großgriechischen Städten. Indessen gab diese politische 
Parteistellung des pythagoreischen Vereins schon frühe Anlaß 
zu Angriffen gegen ihn, die Pythagoras selbst noch be- 
stimmten, von Kroton nach Metapontum auszuwandern ^ Wo 
er sein Leben beschloß; und nach vieljährigen Reibungen 
gab später, wahrscheinlich erst um 440 — 430 v. Chr., die Ver- 
brennung des pythagoreischen Versammlungshauses in Kroton 
das Zeichen zu einer über ganz Unteritalien sich erstrecken- 
den Verfolgung, in der viele von den Pythagoreern umkamen 
und die übrigen zersprengt wurden. Zu diesen Flüchtlingen, 
durch welche das mittlere Griechenland erst mit dem Pythar 
goreismus bekannt wurde, gehören Philo laos (s. o. S.42, 2) 
und Lysis, der Lehrer des Epameinondas, die beide in Theben 
lebten. Ein Schüler des ersteren war Eurytos, dessen 
Schüler von Aristoxenos als die letzten Pythagoreer bezeichnet 
werden. Um den Anfang des 4. Jahrhunderts treffen wir 
in Tarent Kleinias, und bald nachher den berühmten 
Archytas, durch welchen dem Pythagoreismus aufs neue 
die Leitung eines mächtigen Gemeinwesens zufiel; bald nach 
ihm scheint aber die pythagoreische Philosophie, die sich 
in der alten Akademie mit dem Piatonismus verband, inner- 
halb des pythagoreischen Bundes auch in Italien zur Be- 
deutungslosigkeit herabgesunken zu sein, während die pytha- 
goreischen Mysterien allerdings (vgl. § 91) sich erhielten und 
sogar an Verbreitung gewannen. 



46 Irrste Periode. 

§ 15* Das pythagoreische System: die Zahl und 
ihre Elemente, 

Wie die praktischen Bestrebungen des Pythagoras daraut 
ausgingen, das menschliehe Leben geordnet und harmonisch 
zu gestalten, so fafit auch die Weltansicht, die sich an sie 
anschloß, und deren leitende Gedanken doch wohl von Pjtha- 
goras selbst herrühren *) , vor allem jene Ordnung und Har- 
monie ins Auge, durch welche die Gesamtheit der Dinge zu 
einem schönen Ganzen, einem Kosmos, verknüpft ist, und 
welche sich uns namentlich im Einklang der Töne und in 
der regelmäßigen Bewegung der Gestirne zu erkennen gibt. 
Diese beruht aber, wie die Pjthagoreer als Mathematiker 
bemerken, darauf, daß alles in der Welt nach Zahlenverhält- 
nissen geordnet ist: die Zahl ist es nach Philolaos (Fr« 11 
b. Stob. Ekl. I S. 16, 20 W.), welche das Verborgene erkenn- 
bar macht, die göttlichen Dinge (d. h. das Weltgebäude) und 
die Werke der Menschen, Musik und Handwerk, beherrscht, 
keine Lüge zuläßt. Alles ist insofern den Zahlen nachgebildet ^). 
Ihrem noch ungeübten realistischen Denken verwandelt sich 
nun aber dieser Satz sofort in den andern, daß die Zahl das 
Wesen der Dinge sei, daß alles Zahl sei und aus Zahlen be- 
stehe, und die Unklarheit, welche hierin liegt, aufzulösen und 
den Pythagoreem die bestimmte Unterscheidung zwischen 
den Zahlen und den nach Zahlenverhältnissen geordneten 



^) Was von den einzelnen Lehren der Schule auf den Stifter zurück- 
geht , läßt sich bei dem Stande unsrer Überlieferung nicht mit Sicherheit 
ermitteln. Doch geht Windelband, „Gesch. d. alten Phil.^ S. 21 ff. zu 
weit, wenn er, wie schon vor ihm Brandis, Fythagoras aus der Reihe 
der eigentlichen Philosophen völlig ausschließt und ihn nur als 
sittlich-religiösen Reformator betrachtet. Im wesentlichen auf Windelbands 
Standpunkt stehen Burnet, „Early greek phil." S. 89 ff., und Döring, 
„Gesch. d. gr. Phil." I 50 ff. Der letztere unterscheidet auch innerhalb der 
altpytbagoreischen Schule noch yier wissenschaftliche Entwicklungsstufen. 

•) Abist. Metaph. I, 6. 987 b. 11; fitfxr^a€i> tu ovra (paalv €hai t<uv 



§ 15. Das pythagoreische System: die Zahl und ihre Elemente. 47 

Dingen zuzuschreiben, hiefie die Eigentümlichkeit ihrer An- 
schauungsweise verkennen ^). 

Die Zahlen sind nun teils ungerade, teils gerade, und aus 
den gleichen Bestandteilen sind auch die einzelnen Zahlen 
zusammengesetzt. Ungerade Zahlen sind aber die, welche 
der Zweiteilung eine Grenze setzen, gerade die, welche dies 
nicht tun: jene sind begrenzt, diese unbegrenzt. Hieraus 
schließen die Pythagoreer, daß das Ungerade und das Gerade 
oder, allgemeiner ausgedrückt, das Begrenzende^) und das 
Unbegrenzte die Grundbestandteile der Zahlen und aller 
Dinge (die ngdyfdaTa i§ wv övvaOTa b %6afjLog^ Philol, Fr. 5) 
seien. Und da nun das Begrenzte den Griechen für voll- 
kommener galt als das Unbegrenzte und Formlose, die un- 
gerade Zahl für glückbringender als die gerade, so verknüpfte 
sich hiermit die Betrachtung, daß der Gegensatz des Be- 
grenzten und Unbegrenzten, des Besseren und Schlechteren, 
sich durch alles hindurchziehe, und es wurde (wohl erst von 
Jüngeren) ein Verzeichnis von zehn Grundgegensätzen auf- 
gestellt, welches so lautet: 1. Begrenztes und Unbegrenztes; 
2. Ungerades und Gerades ; 3. Eins und Vielheit ; 4, Rechtes 
und Linkes; 5. Männliches und Weibliches; 6. Buhendes 
und Bewegtes; 7. Gerades und Krummes; 8. Licht und 
Finsternis; 9. Gutes und Böses; 10. Quadrat und Rechteck. 

Wegen dieser Gegensätzlichkeit der letzten Gründe be- 
darf es aber eines Prinzips, das die Entgegengesetzten ver- 
einigt, und dieses ist die Harmonie als „Einheit des Mannig- 
faltigen und Übereinstimmung des Zwiespältigen". Wie daher 
alles Zahl genannt wird, so kann auch gesagt werden, alles 



^) Über den ursprünglich arithmetischen Charakter der pythagoreischen 
Grundbegriffe s. „Phil. d. Gr." I ^, 878 ff. , wo die gegenteiligen Ansichten 
Ton Bitter, K. F. Hermann, Beinhold, Brandis u. a., daß die 
Pythagoreer ihre Prinzipien ursprünglich geometrisch oder körperlich gefaßt 
hätten, zurückgewiesen werden. Neuerdings hat Burnet a. a. O. S. 300 ff. 
die gegnerische Auffassung wieder zu stützen gesucht. 

^ Von Philol. nach Aet. I, 8, 10 (Dox. 288) Trf^iceei'ov genannt; bei 
Platon und Arist. steht dafür auch n^gaSt TiintQaofji^voVy nigag ^/or. 



48 Srste Periode. 

sei Harmonie; dabei wird aber nach der unklaren Weise der 
Schule, das Einzelnste dem Allgemeinsten^ das Symbol dem 
damit bezeichneten Begriff gleichzusetzen, nicht allein zwischen 
der Harmonie im kosmischen Sinne und der musikalischen 
Harmonie, sondern auch zwischen jener und der Oktave, die 
gleichfalls „Harmonie" genannt wurde, nicht deutlich unter- 
schieden. 

§ 16. Die pythagoreische Physik. 

In der Anwendung ihrer Zahlenlehre auf die gegebenen 
Erscheinungen verfuhren die Pythagoreer großenteils sehr 
unmethodisch und willkürlich. Wo ihnen an einem Dinge 
eine Zahl oder ein Zahlen Verhältnis ins Auge fiel, erklärten 
sie diese für sein Wesen; wobei freilich nicht selten der 
gleiche Gegenstand mit verschiedenen Zahlen bezeichnet, noch 
viel häufiger aber dieselbe Zahl für die verschiedensten 
Gegenstände gebraucht und deshalb dann auch wohl diese 
untereinander (z. B. ycmgög und die Sonne) in Beziehung ge- 
setzt wurden. Doch wurde auch eine methodischere Durch- 
führung der Zahlenlehre Versucht, indem die verschiedenen 
Klassen der Dinge nach Zahlen geordnet und ihre Eigen- 
schaften aus Zahlen erklärt wurden. Das Grundschema der 
Zahlen selbst ist das dekadische System; jede einzelne von 
den zehn ersten Zahlen hat ihre eigene Kraft und Bedeutung; 
vor allen tritt unter diesen die Dekas als die vollkommene, 
allumfassende Zahl hervor, nächst ihr die potentielle Zehn, 
die Tetraktys, auf welche die bekannte Schwurformel sich 
bezieht. Auf Zahlenverhältnissen beruht ferner, wie die 
Pythagoreer (und vielleicht schon ihr Stifter) zuerst entdeckten, 
die Höhe und der Einklang der Töne; ihr Verhältnis, noch 
nicht nach der Schwingungszahl, sondern nach der Länge 
der tönenden Saiten bestimmt und auf die diatonische Ein- 
teilung des Heptachords (später : Oktachords) berechnet, gibt 
schon Philolaos (Fr. 5) für die Oktave (aQfxovia, später diä 
Ttaawv) auf 1 : 2, für die Quinte {di o^etävy später ätä nivre) 
auf 2 : 3, für die Quarte {ovXXaßdj später öiä TSOodgcDv) auf 



§ 16. Die pythagoreische Physik. 49 

3 : 4, für den Ton auf 8:9 an. Von den Zahlen werden die 
Raumgestalten (an denen die griechische Mathematik die 
Zahlen Verhältnisse zur Anschauung zu bringen pflegt) her- 
geleitet, wenn die Zwei die Zahl der Linie heißt, die Drei 
der Fläche, die Vier des Körpers. Von der Gestalt ihrer 
kleinsten Teile macht dann weiter Philolaos die elementarische 
Beschaffenheit der Stoffe abhängig, indem er von den fünf 
regelmäßigen Körpern das Tetraeder dem Feuer zuweist, das 
Oktaeder der Luft, das Ikosaeder dem Wasser, den Würfel 
der Erde, das Dodekaeder dem Weltganzen (bzw. dem Äther). 
Die Ewigkeit der Welt legen unsern Philosophen nur Spätere, 
im Widerspruch mit Aristoteles, bei; die Weltbildung sollte 
von dem Eins, d. h. dem Feuer der Mitte, ausgegangen sein, 
welches die nächstliegenden Teile des Unbegrenzten an- 
gezogen und begrenzt habe. In ihm liegt auch fortwährend 
der Mittelpunkt und Zusammenhalt der Welt, es ist „die 
Hestia", „die Burg des Zeus" usw. Um dieses Zentralfeuer 
soll mit den Gestirnsphären auch die Erde sich bewegen, so 
daß hier zuerst der Gedanke auftritt, die scheinbare tägliche 
Bewegung des Himmels aus einer Bewegung der Erde zu 
erklären. Um aber für diese Himmelskörper die vollkommene 
Zahl Zehn zu erhalten, wurde zwischen die Erde und das 
Zentralfeuer die Gegenerde eingeschoben. Dieses bei Philolaos 
nachweisbare astronomische System scheint jedoch Pythagoras 
noch nicht anzugehören, während die Sphärentheorie als 
solche, die Kugelgestalt der Erde und die Beleuchtung des 
Mondes durch die Sonne, die auch Parmenides kennt, bereits 
ihm beizulegen sein werden. Altertümlicher nimmt sich die 
Annahme der Sphärenharmonie aus, welche, von der gewöhn- 
lichen geozentrischen Vorstellung ausgehend, die sieben Planeten 
als die tönenden Saiten des himmlischen Heptachords be- 
handelt. Seine Lehre vom Weltjahr (§ 45 g. E.) scheint Plato 
von den Pythagoreern entlehnt zu haben; durch Eudemos 
(b. SiMPL. Phys. 732, 26) erfahren wir, daß nach Ablauf des 
Weltjahres alle Dinge und Zustände genau so, wie sie waren, 
wiederkehren sollten. Die Annahme einer Weltseele wurde 

Zell er, Grundrifs. 4 



50 Erste Periode. 

den Pythagoreern in untergeschobenen Schriften neupytha- 
goreischen Ursprungs beigelegt ; indessen geht aus Aristoteles 
klar hervor, daß sie ihnen fremd war. Auch über die mensch- 
liche Seele scheinen sie keine eingehenderen Untersuchungen 
angestellt zu haben : Aristoteles weiß von ihnen nur zu be- 
richten, daß sie die Sonnenstäubchen, oder auch das, was diese 
bewegt, für Seelen gehalten haben (De an. I, 2. 404 a 16); 
derselbe nennt Metaph. 1, 5, 985 b 30 unter dem , was die 
Pythagoreer auf Zahlen zurückführten, Seele und Verstand 
(vovg), und er bestätigt dadurch die Angabe (Theol. Arithm. 
55), daß Philolaos im Anschluß an seine Ableitung des 
Körpers (S. 49) die physischen Eigenschaften der Fünf-, die 
Beseelung der Sechs-, den Verstand (votg), die Gesundheit 
und das „Licht" der Sieben-, die Liebe, Klugheit und Ein- 
sicht der Achtzahl zuweise. Auch als Harmonie, vielleicht 
auch als die Harmonie ihres Leibes, wurde die Seele be- 
zeichnet; und ebenso mag es richtig sein, daß Philolaos den 
Sitz und Keim (agxd) des Verstandes in den Kopf verlegte, 
den des Lebens {rpvxa) ins Herz, der Anwurzlung und des 
Wachstums in den Nabel, der Besamung und Erzeugung in 
die Geschlechtsteile. Was uns dagegen weiteres, der plato- 
nischen Psychologie näher stehendes, als altpythagoreisch über- 
liefert wird, ist nicht für authentisch zu halten. 

§ 17. Eeligiöse und ethische Lehren der 

Pythagoreer. 
Neben den wissenschaftlichen Bestimmungen des pytha- 
goreischen Systems ist als pythagoreisch noch eine Reihe 
weiterer Lehren überliefert, welche unabhängig von jenen 
entstanden waren und mit ihnen in keine oder nur in eine 
lose Verbindung gebracht wurden. Dahin gehört vor allem 
der Glaube an eine Seelen Wanderung, den Pythagoras aus 
den orphischen Mysterien herübernahm (vgl. S. 44) *). Ferner 



^) S. die Darstellung des orphisch-pythagoreischeu Seelenglaubens 
fcei GoMPEBz, „Griech. Denker" S. 100 ff. 



§ 17. Beligiose und ethische Lehren der Pjthagoreer. 51 

der Glaube an Dämonen^ bei denen vorzugsweise an die in 
der Luft umherschwebenden (s. S. 50) oder im Hades ver- 
weilenden Seelen gedacht wurde. Endlich auch einige theo- 
logische Aussprüche, die Philolaos beigelegt werden, von 
denen aber gerade der, welcher an Xenophanes und seine 
reinere Gottesidee anklingt (Fr. 20), nicht sicher verbürgt 
ist, die andern kein philosophisches Gepräge tragen. Mit dem 
Dogma von der Seelenwanderung werden die ethischen 
Vorschriften der Pythagoreer durch den Hinweis auf eine 
Vergeltung nach dem Tode verknüpft; indessen hat diese 
religiöse Motivierung, die nicht blofi pythagoreisch ist, mit 
einer wissenschaftlichen Begründung der Ethik nicht« gemein. 
Ebensowenig findet sich eine solche in den Lebensregeln 
und Vorschriften, welche uns teils in symbolischen Sinn- 
i^prüchen ^), teils in anderer Form überliefert sind ; eine Samm- 
lung solcher Vorschriften (frühestens wohl aus dem 1, Jahr- 
hundert V. Chr.) enthält das sogen, goldene Gedicht (eine 
zweite, wahrscheinlich durch eigene Zutaten erweitert, hatte 
Aristoxenos — s. o. S. 9 — verfaßt). Die sittlichen Grund- 
sätze der Pythagoreer kommen darin zum Ausdruck : es wird 
Ehrfurcht vor den Göttern, den Eltern, der Obrigkeit und 
den Gesetzen, Vaterlandsliebe, Treue gegen Freunde, Selbst- 
prüfung, Mäßigkeit, Reinheit des Lebens verlangt ; aber eine 
wissenschaftliche Formulierung und Begründung erhalten diese 
Forderungen hier so wenig wie in der Spruchweisheit des 
Volkes und der Dichter. Der einzige beglaubigte Versuch, 
ihre Zahlenlehre auf das ethische Gebiet anzuwenden, liegt 
in dem Satze, daß die Gerechtigkeit eine gleichmal gleiche 
Zahl (oder näher eine der beiden ersten Quadratzahlen, 
4 und 9) sei, weil sie Gleiches mit Gleichen vergilt. Auch 
das mag richtig sein, daß die Tugend als Harmonie bezeichnet 
wurde, womit aber nichts Eigentümliches von ihr ausgesägt 

^) Diese pythagoreischen avfjißola spiegeln zum guten Teile oralten 
religiösen Aberglauben wieder und sind erst später im ethischen Sinne um- 
gedeutet worden. S. Bohde, „Psyche'^ passim und Böhm, „De symbolii 
Pythagoreis** 1905. 

4* 



52 Erste Periode. 

würde. So wertvoll daher die ethische Richtung des pytha- 
goreischen Bandes in praktischer Beziehung auch war, so 
dürftig ist doch der Beitrag, den seine Sittenlehre flir die 
wissenschaftliche Behandlung der ethischen Fragen geliefert 
hat; das Bedürfnis einer solchen wird hier der unmittelbaren 
ethischen und religiösen Ermahnung gegenüber noch nicht 
empfunden. 

§ 18. Der Py thagoreismus in Verbindung mit 
anderen Lehren. 
Aus einer Verbindung der pythagoreischen Lehre mit 
anderen Standpunkten gingen die physikalischen Annahmen 
des Hippasos und Ekphantos hervor. H i p p a s o s aus 
Metapontum (wohl um 450), ein Mann, der allgemein als 
Pythagoreer bezeichnet wird, scheint das pythagoreische 
Zentralwesen mit Heraklits UrWesen kombiniert zu haben, 
wenn er das Feuer für den Grundstoff der Welt erklärte. 
Ekphantos (wie es scheint, um den Anfang des 4. Jahr- 
hunderts) verknüpfte die pythagoreische Lehre mit der demo- 
kritischen, indem er an die Stelle der Einheiten, welche die 
Elemente der Zahl sind, körperliche Atome setzte; für die 
Weltbildung nahm er aber mit Anaxagoras den göttlichen 
Geist zu Hilfe. Schon vor ihm hatte Hiketas aus Syrakus^ 
dem er hierin beitrat, die Bewegung der Erde um das Zentral- 
feuer mit einer solchen um ihre eigene Achse vertauscht. — 
Dafi andererseits auch solche, die nicht zum pythagoreischen 
Verein gehörten, von einzelnen seiner Lehren berührt wurden^ 
zeigt außer Parmenides und Empedokles auch der krotonia- 
tische Arzt Alkmäon (Anfang des 5. Jahrhunderts)*); ein 
Mann , der durch seine anatomischen Forschungen und ihre 
Verwertung für die Heilkunst nicht bloß Hippokrates, sondern 
auch den Philosophen der Folgezeit vorgearbeitet, die Sinnes- 
empfindungen zuerst untersucht und im Gehirn das Zentral- 



^) S. Wachtleb , „De AlcmsBone Crotoniata" 1896, wo auch die Frag- 
mente gesammelt sind. 



§ 19. Xeuophaiies. 53 

Organ der Wahrnehmungs- und Verstandestätigkeit erkannt 
hat. Wenn er bemerkte, daß das menschliche Leben sich 
zwischen Gegensätzen bewege, und daraus für den Arzt die 
Aufgabe ableitete, die Bestandteile des Leibes im Gleich- 
gewicht zu erhalten, so erinnert dies ebenso an die Lehre der 
Pythagoreer über die Gegensätze und die Harmonie, wie es 
an ihren Unsterblichkeitsglauben erinnert, daß er sagte: die 
Seele sei unsterblich, denn sie gleiche den unvergänglichen 
himmlischen Wesen, den Gestirnen, da sie ebenso wie diese 
in beständiger Bewegung begriffen sei. Auch in den Bruch- 
stücken des berühmten Komikers Epicharmos (um 550 
bis 460 V. Chr.) begegnet uns neben Sätzen des Xenophanes 
und Heraklit der pythagoreische Unsterblichkeitsglaube, aber 
ihn mit einigen von den Alten einen Pythagoreer zu nennen, 
sind wir um so weniger berechtigt, als die pythagoreisch ge- 
färbten Bruchstücke aus einer späteren Sammlung stammen, 
die neben manchem Echten vieles Unechte enthält*). 

C. Die Eleaten. 

§19. Xenophanes. 

Der Stifter der eleatischen Schule war ebenso wie der 
der pythagoreischen ein nach Unteritalien ausgewanderter 
lonier. Um 580 — 576 (Ol. 50, wie Apollodor statt des über- 
lieferten Ol. 40 wahrscheinlich gesagt hatte) geboren, durch- 
wanderte er als Dichter und Rhapsode lange Jahre die Städte 
der Griechen und ließ sich schließlich in Elea nieder, wo er 
mehr als 92 Jahre alt starb ^). Seine „Polymathie** bezeugt 
schon Heraklit (Fr. 16 b. DiOG. IX, 1); Theophrast (b. DiOG. 
IX, 21) bezeichnete ihn als einen Schüler Anaximanders. 
Seine Gedichte waren mannigfaltigen Inhalts; die Kenntnis 



^) S. DiELS Vors. II, 668 f. Die Fragmente finden sich gesammelt bei 
Kaibel Com. Gr. fr. I und Diels Vors. I, 89 ff. 

2) Diels setzt jetzt (Vors. II 658) auf Grund der Angaben in Fr. 8 
und 22 seine Geburt in 565, seinen Tod nach 473. 



54 Erste Periode. 

seiner philosophischen Ansichten verdanken wir den Über- 
bleibseln eines Lehrgedichtes n, (piaBcog ^) und den aus ihm 
geflossenen Mitteilungen des Aristoteles und Theophrast (bei 
Simplicius u. a. Diels Doxogr. 480 f.) ; dagegen ist die an- 
geblich aristotelische Schrift De Melisso Xenophane Gorgia 
weder ein Werk des Aristoteles oder Theophrast noch ein 
glaubwürdiger Bericht über die Lehre des Xenophanes. — 
Den Ausgangspunkt der letzteren scheint jene kühne Kritik 
des griechischen Götterglaubens gebildet zu haben, durch 
welche Xenophanes in der Geschichte der Religion eine so 
bedeutende Stelle einnimmt. Nicht bloß die menschliche Ge- 
stalt der Götter und die Unwürdigkeit der homerischen und 
hesiodischen Erzählungen über sie fordert seinen Spott und 
Unwillen heraus ; sondern er findet auch (wie wir fortwährend 
annehmen müssen) schon ihre Vielheit mit einem reineren 
Gottesbegriff unvereinbar. Das Beste, sagt er, kann nur 
Eines sein; keiner der Götter kann von einem anderen 
beherrscht werden. Ebensowenig ist es denkbar, daß die 
Götter entstanden seien oder von einena Ort zum andern 
wandern. Es gibt also nur Einen Gott, „Sterblichen nicht 
an Gestalt noch an Gedanken vergleichbar", „ganz Auge, 
ganz Ohr, ganz Denken", der „mühelos mit seinem Denken 
alles beherrscht" ^). Mit dieser Gottheit fällt aber unserem 
Philosophen die Welt zusammen. „Indem er auf das Welt- 
ganze hinblickte, erklärte er das Eine (oder, wie Theophr. 
b. SiMPL. Phys. 22, 30 sagt, xö ev tovzo koI nav) für die 
Gottheit" (Arist. Metaph. I, 5. 986 b 20); daß er zuerst die 
Lehre aufgebracht habe, alle Dinge seien Eines, bezeugt auch 
Platon Soph. 242 D. Dieses Eine göttliche Wesen ist ewig 



^) Gesammelt und bearbeitet von Kaestjsn philosoph. Graec. rel. I, 1. 
1835; DiELs Poet, philos. fr. 1901 und Vors. 1 2 34 ff. 

2) S. Phil. d. Gr. I* 526 ff., wo die von Freüdenthal „Über die Theo- 
logie d. Xen.^ 1886 entwickelte Ansicht, daß Xenophanes kein Monotheist 
in strengem Sinne gewesen sei, zurückgewiesen wird, und Freudenthals 
Erwiderung Arch. f. Gesch. d. Phil. 11 322 ff. Auf Freudenthals Seite stellt 
sich u. a. GoMPEBz Gr. Denker I 131 f. 



§ 20. Parmenides. 55 

und unveränderlich; ob es begrenzt oder unbegrenzt sei, 
darüber hatte sich Xenophanes nach Aristoteles' und Theo- 
phrasts bestimmter Aussage nicht ausgesprochen; wenn ihn 
daher De Mel. 3. 977 b 3 ausdrücklich beweisen läßt, daß es 
weder unbegrenzt noch begrenzt sei, so verdient diese An- 
gabe keinen Glauben. Eher kann er in anderem Zusammen- 
hang von der ünermeßlichkeit des Luftraumes und der Erd- 
tiefe und andererseits von der Kugelgestalt des Himmels ge- 
sprochen haben 7 ohne zu untersuchen, wie sich beides mit- 
einander verträgt, und ohne diese Aussagen auf das göttliche 
Wesen mit zu beziehen. Auch das ist glaublich, daß er die 
Welt für ungeworden und unvergänglich erklärte; er kann 
jedoch dabei nur ihren Stoff im Auge gehabt haben, denn 
von dem Weltgebäude nahm er dieses nicht an: die Erde 
sollte sich aus dem Meer gebildet haben, wie er dies aus 
den von ihm beobachteten Versteinerungen bewies, und zeit- 
weise wieder in das Meer versinken ; die Sonne aber und die 
Gestirne hielt er für brennende Dunstmassen, die sich jeden 
Tag neu bilden. Mit der Erde sollte auch das Menschen- 
geschlecht untergehen und bei ihrer Neubildung (aus ihr; 
vgl. Anaximanders Lehre S. 38) neu entstehen. — Wenn 
spätere Skeptiker unsern Philosophen zu den Ihrigen zählten, 
so konnten sie sich hierfür zwar auf Äußerungen von ihm 
berufen, in denen er die Unsicherheit und Beschränktheit des 
menschlichen Wissens beklagt ; indessen zeigt die dogmatische 
Haltung seiner Lehre, wie weit er trotzdem von einer grund- 
sätzlichen Skepsis entfernt war. 

§ 20. Parmenides. 
Wenn Xenophanes die Einheit und Ewigkeit der Gottheit 
und des Weltganzen behauptet hatte, so werden dieselben 
Eigenschaften von Parmenides ; allem Wirklichen überhaupt 
als unabweisbare Folgerungen aus seinem Begriff beigelegt, 
und es wird deshalb die Vielheit und Veränderung der Dinge 
für bloßen Schein erklärt. Dieser im Altertum hochverehrte 
und namentlich von Piaton bewunderte Denker könnte nach 



56 Srste Periode. 

der Darstellung des letzteren im Parmenides nicht vor 520 
bis 515 V. Chr. geboren sein; diese Angabe gehört jedoch 
wahrscheinlich zu den Anachronismen, deren sich Piaton so 
manche aus künstlerischen Rücksichten erlaubt, und DiOG. 
IX, 23 kommt der Wahrheit näher, wenn er (ohne Zweifel 
nach ApoUodor) seine Blüte (ax^u?^', herkömmlich in das 
40. Lebensjahr verlegt) Ol. 69, also seine Geburt OL 59 
(544/0 V. Chr.) setzt. Auf seine Bildung hatten zwei Pytha- 
goreer Einfluß, und ihm selbst wird ein pythagoreisches 
Leben nachgerühmt; aber seine philosophische Theorie schließt 
sich in den Grundgedanken an Xenophanes und nur seine 
hypothetische Kosmologie an die des Pythagoras, vielleicht 
auch an die Anaximanders an^). IJer^Begriffj von dem er 
ausgeht^ ist der des Seienden in seinem Gegensatz zum Nicht- 
seienden; wobfei er aber unter dem Seienden nicht das Ab- 
straktum des reinen Seins, sondern das „Volle", die raum- 
erfüllende Masse ohne jede nähere Bestimmung versteht. „Nur 
dSÄ. Seiende ist, das Nichtseiende ist nicht und kann nicht 
gedacht werden" (Fr. 4. 6, If.) — aus diesem Grundgedanken 
leitet er alle seine Bestimmungen über das Seiende ab. Das 
Seiende kann nicht anfangen oder aufhören zu sein, denn 
es kann weder aus dem Nichtseienden noch zum Nichtseien- 
den werden, es war nie und wird nie sein, sondern ist un- 
geteilt gegenwärtig (vvv eaxiv ofÄOv 7mv ev ^vve%ig). Es ist 
unteilbar, denn es ist das, was es ist, überall gleichsehr, und 
es gibt nichts, durch das es geteilt werden könnte. Es ist 
jinbewegt und unveränderlich, überall sich selbst gleich, einer 
wohlgerundeten Kugel* zu Vergleichen, vom Mittelpunkt nach 



^) Sein Gedicht n, iftatmg beginnt mit der Fiktion einer Wagenfahrt 
des Dichters in die Region des Lichtes, wo ihm die Göttin die untrügliche 
Wahrheit und dann auch die trüglichen Meinungen der Menschen verkündet. 
Es zerföllt demnach in zwei Teile, die Lehre vom Sein (L4^»i^€*«) und die 
Lehre vpm Schein (^fo|«)- ^^^ Fragmente des Gedichts bei BLä.rsten phil. 
Gr. rel. I, 2. Vatke Parm. doctrina 1864. Stein S. 763 ff. der Symb. philol. 
Bonnens. 1864 ff. Preller » (s. o. S. 15) S. 86 ff. Diels Parm. Lehrgedicht 
1897, Poet. phil. fr. S. 48 ff . und Vors. I» 105 ff. 



§ 20. Parmenides. • 57 

allen Seiten gleichmäßig verbreitet. Auch das De nke n^ ist 
vom Sein verschieden, denn es ist nur Denken des Seienden 
(Fr. 8, 34 ff.). Nur dasjenige Erkennen hat daher Wahrheit, 
welches uns in allem dieses Eine unveränderliche Sein zeigt, 
nur die Vernunft (loyog)'^ die Sinne dagegen, die uns eine 
Vielheit von Dingen, ein Entstehen, ein Vergehen und eine 
Veränderung, überhaupt also ein Sein des Nichtseienden vor- 
spiegeln, sind die Quelle alles Irrtums^). 

Nichtsdestoweniger unternahm es Parmenides in dem 
zweiten Teil seines Gedichtes, zu zeigen, wie man sich die 
Welt auf dem Standpunkt der gewöhnlichen Vorstellungsweise 
zu erklären hätte. In Wa hrheit ^xi^tiert nur das Seieade; 
die Meinung der Menschen stellt ihm das Nichtseiende zur 
Seite und denkt sich so alles aus zwei Elementen zusammen- 
gesetzt, von welchen das eine dem Seienden, das andere dem 
Nichtseienden entspricht; aus dem Lichten und Feurigen 
(cpXoycg ald^eqiov ^vq), und der „Nacht", dem Dunkeln, 
Schweren und Kalten, das Parmenides auch Erde nannte. 
Jenes beschrieb er nach Theophrast als das wirkende, dieses 
als das leidende Prinzip, fügte ihnen aber noch die mythische 
Gestalt der Göttin bei, die alles lenke. Er verspricht zu 
zeigen, wie man sich unter diesen Voraussetzungen die Ent- 
stehung und Einrichtung der Welt zu erklären habe; es ist 
uns jedoch von diesen Ausführungen nur wenig erhalten. Er 
beschreibt das Weltgebäude als zusammengesetzt aus der Erd- 
kugel und den verschiedenen um sie gelagerten, von dem 
festen Himmelsgewölbe umspannten, teils lichten, teils dunkeln. 



^) Die Annahme, mit welcher Bernays viele Zustimmung gefunden hat, 
daß Parm. bei dem Tadel derjenigen, die Sein und Nichtsein für dasselbe 
halten (Fr. 6, 4 ff.), Heraklit im Auge haben, ist m. A. nach durch seine 
Schilderung dieser Gegner nicht gefordert und mit dem Altersverhältnis 
der beiden Philosophen schwer zu vereinigen ; vgl. Phil. d. Gr. I ^, 737 f. 
[Bernays' Auffassung wird jetzt fast allgemein anerkannt. S. Diels Parm. 
68 ff., wo auch Zellers chronologische Bedenken zerstreut werden. Hiernach 
hat Parm. seine Lehre im bewußten Gegensatze gegen die Heraklits ent- 
wickelt. Vgl. Patin Parm. im Kampfe gegen Heraklit 1899.] 



58 Erste Periode. 

teils gemischten Sphären^). Die Menschen ließ er, wie es 
scheint, aus dem Erdschlamm entstehen. Nach der stofflichen 
Beschaffenheit des Leibes soll ihr Vorstellen sich richten: 
jedes der beiden Elemente erkennt das ihm verwandte; der 
Charakter der Vorstellungen hängt davon ab, welches von 
beiden überwiegt; sie haben daher größere Wahrheit, wenn 
das Warme (das Seiende) im Übergewicht ist. 

§ 21. Zenon und Melisse s. 

Eine dritte Generation eleatischer Philosophen ist durch 
Zenon und Melissus vertreten. Zenon aus Elea, dessen helden- 
mütiger Untergang bei der Bekämpfung eines Tyrannen be- 
rühmt ist, war der Lieblingsschüler des Parmenides, nach 
Platon (Parm. 127 B) 25, nach ApoUodor 40 Jahre jünger als 
dieser. In einer prosaischen Schrift aus seinen jüngeren 
Jahren verteidigte er die Lehre des Parmenides auf indirektem 
Wege, durch Widerlegung der gewöhnlichen Vorstellungsweise, 
mit solchem Scharfsinn, daß ihn Aristoteles (nach DiOG. VIII, 
57. IX, 25) den Erfinder der Dialektik nannte. Seine uns 
bekannten Beweise wenden sich teils gegen die Annahme einer 
Vielheit von Dingen, teils gegen die Bewegung. Gegen die 
Vielheit wird bemerkt: 1. Wenn das Seiende vieles wäre, 
müßte es sowohl unendlich klein als unendlich groß sein: 
jenes, denn die Einheiten, aus denen es zusammengesetzt 
wäre, müßten unteilbar, mithin ohne Größe sein; dieses, 
denn jeder seiner Teile müßte einen anderen vor sich haben, 
von dem er entfernt wäre, ebenso aber auch dieser usf. 
2. Ebenso müßte es der Zahl nach sowohl begrenzt als un- 
begrenzt sein: begrenzt, denn es wären nicht mehr Dinge 
als es sind; unbegrenzt, denn um mehrere zu sein, müßten 
je zwei Dinge ein drittes zwischen sich haben, ebenso aber 



^) S. DiELS Parm. 103 ff. Eine neue, von Diels vielfach abweichende 
Erklärung der Kosmogonie des Parm. gibt jetzt Gilbert Arch. f. Gesch. d. 
Phil. XX (1906) 25 ff. 



§ 21. Zenon und Melissos. 59 

diese und jene und so ins Unendliche ^). 3. Wenn alles in 
einem Räume ist, muß es auch dieser selbst sein, ebenso aber 
sein Raum usf. 4. Endlich wird die Behauptung erwähnt, 
wenn ein Scheflfel Körner beim Ausschütten ein Geräusch 
hervorbringe, müßte auch jedes Korn und jeder Teil eines 
solchen eines hervorbringen^). Noch berühmter und be- 
deutender sind aber die vier Beweise gegen die Bewegung 
(Arist. Phys. VI, 9 und seine Kommentatoren) : 1. Um einen 
bestimmten Weg zurückzulegen, müßte ein Körper erst die 
Hälfte zurücklegen, hierzu erst die Hälfte dieser Hälfte usf., 
d. h. er müßte in einer begrenzten Zeit unbegrenzt viele 
Räume durchlaufen; die Bewegung könnte also keinen An- 
fang nehmen. 2. Dasselbe in anderer Wendung (der sogen. 
Achilleus); Achilleus kann die Schildkröte nicht einholen, 
wenn sie irgendeinen Vorsprung vor ihm hat ; denn während 
er an ihren Standort (A) gelangt, gelangt sie an einen 
zweiten (B), während er nach B gelangt, sie nach C usf.; 
die Bewegung könnte also nicht zu Ende kommen. 3. Der 
fliegende Pfeil ruht, denn er ist in jedem Augenblick nur in 
einem und demselben Raum, er ruht also in jedem Augen- 
blick seiner Flugzeit, also auch in dieser ganzen Zeit. 
4. Gleiche Räume müßten bei gleicher Geschwindigkeit in 
der gleichen Zeit durchmessen werden. Nun kommt aber 
ein bewegter Körper an einem zweiten, wenn dieser sich 
ihm entgegenbewegt, doppelt so schnell vorbei, als wenn er 
ruht. Also stehen die Gesetze der Bewegung mit den Tat- 
sachen in Widerspruch. — Später sind diese Beweise in 



^) Daß diese beiden Beweise g^egen die angebliche Lehre der Pytha- 
goreer von der Zusammensetzung der Dinge aus räumlich ausgedehnten 
Punkten (s. o. S. 47 Anm. 1) gerichtet seien, ist durch Tannery sc. hell. 248 flf. 
(vgl. Bäumkeb Probl. d. Mat. 60 und DöRisa Gesch. d. gr. Phil. 175 f.) nicht 
erwiesen worden. S. Phil. d. Gr, I*^ 594. 

^) Der 3. und 4. Beweis waren vielleicht nicht unmittelbar zur Wider- 
legung der Yielheitslehre bestimmt, sondern jener wandte sich gegen die 
(pythagoreische oder atomistische ?) Annahme eines leeren Raumes, dieser 
gegen die Zuverlässigkeit unsrer Sinneswahrnehmungen. 



60 Erste Periode. 

skeptischem Sinne verwendet worden ; Zenon selbst wollte nur 
die Sätze des Parmenides damit stützen, gab aber durch die Art, 
in der er diesen Zweck verfolgte, nicht allein zur Ausbildung 
der Dialektik, sondern auch zur Erörterung der in den Be- 
griffen des Raumes, der Zeit und der Bewegung liegenden 
Probleme einen nachhaltigen Anstoß. Die Fehler seiner Be- 
weise und namentlich den Grundfehler, die Verwechslung 
der unendlichen Teilbarkeit von Raum und Zeit mit einer 
unendlichen Geteiltheit, bemerkte er selbst gewiß nicht. 

M e 1 i s s s aus Samos, derselbe, welcher 441 v. Chr. als 
Nauarch die athenische Flotte besiegte, trug in seiner Schrift 
n. q)vae(ag^) (oder: n:. xov ovrog) die Lehre des Parmenides vom 
Seienden vor, welche er hier, wie es scheint, *,ußer gegen 
andere auch schon gegen Empedokles und Leukippos verteidigte. 
Er bewies mit den gleichen Gründen, wie Parmenides, die 
Ewigkeit und Unvergänglichkeit des Seienden; zog dann 
aber hieraus, von ihm abweichend, die unzulässige Folgerung, 
daß es auch räumlich anfangs- und endlos, also unbegrenzt 
sein müsse. Zur weiteren Begründung dieser Bestimmung 
diönte ihm die (vermutlich gegen Leukippos gerichtete) Be- 
streitung des leeren Raumes; diese hielt er auch der An- 
nahme entgegen, daß es eine Mehrheit von Dingen gebe. 
Denn an der Einheit und Ungeteiltheit des Seienden hielt er 
mit Parmenides fest. Mit ihm leugnete er jede Bewegung 
und ebenso auch jede Veränderung in der Beschaffenheit der 
Dinge und in der Anordnung ihrer Teile, da jede Veränderung 
Untergang des Bestehenden und Entstehung eines Neuen wäre, 
und infolge davon bestritt er (gegen Empedokles) auch die 
Teilung und Mischung der Stoffe; wobei er gegen die räum- 
liche Bewegung wieder die Undenkbarkeit des Leeren geltend- 



1) Pabst De Mel. fragmentis (1889) hat gezeigt, daß Fr. 1—5 Mull, 
eine jüngere Bearbeitung von Fr. 6 — 14 sind. Bei Diels Vors. I 143 ff. 
sind daher die ersteren als Paraphrase des Simplicius unter den Text der 
echten Fragmente gesetzt. Diese echten Bruchstücke rechtfertigen vollauf 
das Urteil des Aristoteles, der (Metaph. I 5, 589 b 25) Melissos ebenso wie 
Xenophanes im Vergleiche zu Parmenides fiixQov dygoixoreQoi nennt. 



§ 22. Heraklit. ßl 

machte, ohne das doch weder eine Bewegung noch eine Ver- 
dünnung und Verdichtung möglich sei. Mit Parmenides ver- 
warf er endlich das Zeugnis der Sinne, denen er den Wider- 
spruch vorrückte, daß sich uns die Dinge in der Folge oft 
verändert zeigen, was nicht möglich wäre, wenn sie wirklich 
so beschaflTen gewesen wären, wie sie sich uns zuerst darstellten. 

IL Die Physiker des fünften Jahrhunderts. 

§ 22. Heraklit. 

Herakleitos war ein Ephesier aus edlem Geschlecht, ein 
Zeitgenosse des Parmenides (über dessen Verhältnis zu ihm 
S. 57 Anm. 1 zu vergleichen ist) ; seine axjwif fällt nach ApoUo- 
dor (Diog. IX 1) wie die des Parmenides in Ol. 69 (504/0 
v.Chr.), seine Geburt demnach 544/0*). Ernsten und tief- 
sinnigen Geistes, voll Geringschätzung gegen das Treiben und 
die Meinungen der Menschen, und auch von den bewundertsten 
Weisen seiner Zeit und seines Volkes nicht befriedigt, ging 
er in der Forschung seinen eigenen Weg (-editrjadiÄrjv Sfiecmrtöv 
Fr. 101 ; eJg i/xol ixvqiol eäv agiatog g Fr. 49). Ihre Ergeb- 
nisse legte er in seiner Schrift 7t. q)va€(jog ohne nähere Be- 
gründung in prägnanten, bilderreichen, nicht selten orakel- 
haften und bis zur Undeutlichkeit wortkargen Sprüchen nieder, 
und diese Darstellungsweise hat ihm den Beinamen des 
Dunkeln (dessen erste Spur sich bei Livius XXIII, 39 findet) 
eingebracht; ihm selbst schien sie der Würde des Gegen- 
standes zu entsprechen, und uns gibt sie das treue Bild seines 
mehr in Anschauungen als in Begriffen sich bewegenden, 
mehr auf die Verknüpfung als auf die Unterscheidung des 
Mannigfaltigen gerichteten Denkens^). 

^) Sein Todesjahr läßt sich nicht näher bestimmen ; Diog. VIII 52, 
wo nach der handschriftlichen Überlieferung seine Lebensdauer auf 60 Jahre 
angegeben wird, ist mit Sturz und Diels (Vors. I 15) für ^HQaxXstrov zu 
schreiben: *HQaxXs£dfig. 

^) Seine Bruchstücke sind gesammelt und monographisch bearbeitet 
von ScHLEiERMACHBE Hcraklcitos (1807; jetzt: Werke z. Phil. II, 1 — 146); 



62 Brste Periode. 

Wie Xenophanes und Parmenides, so geht auch Heraklit 
von der Betrachtung der Natur aus, und diese begreift auch 
er als ein einheitliches Ganzes, das als solches weder ent- 
standen ist noch vergeht. Aber während jene an dem Natur- 
ganzen die Beharrlichkeit der Substanz so ausschließlich ins 
Auge fassen, daß sich ihnen die Vielheit und der Wechsel 
der Erscheinungen schließlich in einen bloßen Schein auflöst, 
macht auf Heraklit umgekehrt der unaufhörliche Wechsel der 
Dinge, die Unbeständigkeit alles Einzelnen, einen so starken 
Eindruck, daß er gerade hierin das allgemeinste Weltgesetz 
sieht, die Welt nur als ein in unablässiger Veränderung be- 
griffenes, in immer neue Gestalten sich umsetzendes Wesen 
zu betrachten weiß. Alles fließt und nichts hat Bestand^); 
„wir können nicht zweimal in denselben Strom steigen" 
(Fr. 12. 49 a. 91); alles geht fortwährend in anderes über, 
und es zeigt sich ebendamit, daß es Ein Wesen ist, das die 
entgegengesetzten Gestalten annimmt, durch die verschieden- 
artigsten Zustände hindurchgeht, daß „alles aus Einem wird, 
und Eines aus allem" (Fr. 10): „Gott ist Tag und Nacht, 
Sommer und Winter, Krieg und Frieden, Sättigung und 
Hunger" (Fr. 67). Dieses Wesen aller Dinge ist aber nach 
Heraklit das Feuer: „Diese Welt, die Eine für alle, hat 



Lassalle Die Philos. Herakleitos des Dunkeln, 1858. 2 Bde. Schuster 
Heraklit, 1873. Bywater Heraoliti Keliquise, Oxf. 1877. Diels Herakleitos 
y. Eph. griech. u. deutsch, 1901, und Vors. I 54 ff. Weiter vgl. m. neben 
den umfassenderen Werken von Monographien: Bebnays Heraclitea (1848. 
Ges. Abhandl. I, 1 — 108). Teichmöllee Neue Studien z. Gesch. d. Begriffe. 
1. H. 1876; 2. H. 1878. E. Pfleidereb Die Philos. d. Her., 1866. Soülier 
Eraclito. Born. 1885. Gompebz Zu Her.s Lehre. 1887. Patin Heraklits 
Einheitslehre, 1885. Ders. Heraklitische Beispiele I. II, 1892/93. Brieger 
Die Grundzüge d. herakl. Physik Hermes 39 (1904). S. 182 ff. Über die 
hippokrateische Schrift 77. SinCiTis^ die als Quelle für Heraklit seit Bernajs, 
vielfach in unkritischer Weise, benutzt worden ist, s. Phil. d. Gr. I ^ 694 ff. 
und FRm)RiCH Hippokratische Untersuchungen 1899. 

^) navxa . . . ^Hv, dvai öh nayCtog ov&^v Arist. De coelo lU, 1. 298 b. 
29. ra ovTci Uvat r€ ndvrct xcct fA(vHV ovöiv . . . „ndvta x^oqu xal ov6hv 
fi^n"" Platon Krat. 401 D. 402 A. 



», '..„..- lAv.(«^ .^'"/u,../'.; !''%■('■- .'.,-,'■ ':"■';' , 



§22. Heraklit. 63 

tveder der Götter noch der Menschen einer gemacht ; sondern 
sie war immer und ist und wird sein ein ewig lebendes 
Feuer" (Fr. 30). Der Grund dieser Annahme liegt in letzter 
Beziehung darin, daß das Feuer dem Philosophen der Stoflf 
T^vi sein schien, welcher von allem am wenigsten einen festen 
Bestand hat oder bei anderem duldet, und er verstand des- 
halb unter seinem Feuer nicht bloß die Flamme, sondern das 
Warme überhaupt, weshalb es auch als Dunst (avadvfxiaacg) 
oder Hauch (tpvxri) bezeichnet wird. Aus .dem Feuer ent- 
stehen die Dinge durch Umwandlung in andere Stoflfe, und 
auf dem gleichen Wege kehren sie dahin zurück: „alles wird 
umgetauscht gegen Feuer und Feuer gegen alles, wie Waren 
gegen Gold und Gold gegen Waren" (Fr. 90). Da aber 
dieser Umwandlungsprozeß nie stille steht, kommt es niemals 
zu beharrenden Produkten, sondern alles ist beständig im 
Übergang von einem Zustand in einen entgegengesetzten be- 
griffen und hat eben deshalb die Gegensätze, zwischen denen 
es in der Mitte schwebt, gleichzeitig an sich: „Der Streit 
(Ttolefiog) ist das Recht der Welt (JUtj), der Vater und 
König aller Dinge ^)" ; „was gegeneinander strebt, stützt sich 
(awl^ovv ovficpeQov Fr. 8), was auseinandergeht, geht mit 
sich zusammen" (Fr. 51, vgl. Byw. Fr. 45; vgl. Platon Soph. 
224 D.); „auf entgegengesetzter Spannung beruht die Har- 
monie der Welt, wie die der Leier und des Bogens {naXiv' 
Tovog [al. 7ta'kLvtQcmog\ agixovir] xocfxov oKiaausq XvQtjg xat 
To^ov Fr. 51, vgl. Byw. Fr. 56). Heraklit sprach daher von 
dem Zeus-Polemos und tadelte Homer, daß er die Zwietracht 
verwünscht. Aber nicht minder stark hob er es hervor, daß 
die „verborgene Harmonie" der Natur aus den Gegensätzen 
immer wieder den Einklang herstelle, daß das göttliche Ge- 
setz, die Dike, das Verhängnis, die Weisheit {yvvifiri), die 
gemeinsame Vernunft {X6yoq)j Zeus, oder die Gottheit alles 
regiere, daß das Urwesen nach festen Gesetzen sich in alle 
Dinge umsetze und aus ihnen wieder zurücknehme. 



1) Fr. 80. 53. 67; vgl. Phil. d. Gr. I» 655—664. 



! 



64 Erste Periode. 

In seiner Umwandlung durchläuft das Urwesen drei 
Grundformen : aus dem Feuer wird Wasser, aus dem Wasser 
Erde; in umgekehrter Richtung aus der Erde Wasser, aus 
dem Wasser Feuer. Jenes ist der Weg nach unten, dieses 
der nach oben, und daß sich beide durch die gleichen 
Momente bewegen, spricht der Satz (Fr. 60) aus: „Der Weg 
nach oben und unten ist Einer". Alle Dinge unterliegen 
dieser Veränderung fortwährend ; aber sie scheinen dieselben 
zu bleiben, solange ihnen von der einen Seite ebenso viele 
Stoffe einer bestimmten Art zufliefien, als sie nach der 
anderen abgeben. Ein bezeichnendes Beispiel dieses Wechsels 
bietet Heraklits sprichwörtlich gewordene Meinung, daß die 
Sonne jeden Tag neu sei, indem das im Sonnennachen an- 
gesammelte Feuer des Abends erlösche, und sich während 
der Nacht aus den Dünsten des Meeres neu bilde. Den 
gleichen Gesichtspunkt wandte aber der Philosoph (im An- 
schluß an Anaximander und Anaximenes) auch auf das Welt- 
ganze an : wie die Welt aus dem Urfeuer hervorgegangen ist, 
so soll sie auch, wenn das Weltjahr abgelaufen ist, durch 
Verbrennung dahin zurückkehren, um sich nach einer be- 
stimmten Zeit wieder aufs neue aus ihm zu bilden, und es 
soll sich so die Geschichte der Welt periodisch (ein Weltjahr 
umfaßt 10800 Sonnenjahre) in endlosem Wechsel zwischen 
dem Zustand des geteilten Seins {nXqr^oiioavvri^) und dem der 
Einigung aller Dinga im Urfeuer („xo^og**. Fr. 65) bewegen. 
Wenn Schleiermacher, Hegel und Lassalle dem Philosophen 
diese Lehre absprechen, so widerstreitet diese Ansicht nicht 
allein dem einstimmigen Zeugnis der Alten seit Aristoteles, 
sondern auch Heraklits eigenen Aussagen, und auch auf Platon 
Soph. 242 D f. kann sie sich nicht stützen. 

Ein Teil des göttlichen Feuers ist die Seele des Menschen ; 
je reiner dieses Feuer ist, um so vollkommener ist sie: „die 
trockene Seele ist die weiseste und beste" (Fr. 118)*). Da 



^) Der obigen Übersetzung liegt die Fassung des Ausspruches bei 
Bjwater Fr. 74 zugrunde: avr] ipvx^i aoipojTuttj xal a^Carri. Diels zieht 



§ 22. Heraklit. 65 

aber das Seelenfeuer gleichfalls fortwährender Umwandlung 
unterliegt, muß es sich durch die Sinne und den Atem aus 
dem Licht und der Luft außer uns ergänzen. Daß es frei- 
lich beim Austritt der Seele aus dem Leibe nicht erlöschen, 
sondern Jndividuell fortdauern sollte, und daß Heraklit dem- 
gemäß die Seelen (mit den Orphikern und Pythagoreern) aus 
diesem Leben in ein höheres übergehen ließ, dazu gab ihm 
seine Physik kein Recht ^). Dagegen ist es ganz folgerichtig, 
wenn der Philosoph, der im Wechsel der Einzeldinge nur 
das allgemeine Gesetz als ein bleibendes betrachtet, auch nur 
dem vernünftigen, auf das Gemeinsame gerichteten Erkennen 
Wert beilegt (Fr. 113. 114), die Augen und Ohren der Un- 
verständigen dagegen für „schlechte Zeugen" erklärt (Fr. 107), 
und wenn er labenso für das praktische Verhalten den Grund- 
satz aufstellt: „alle menschlichen Gesetze nähren sich von 
Einem, dem Göttlichen" (Fr. 114); ihm müsse man daher 
folgen, dagegen „den Übermut löschen, mehr als eine Feuers- 
brunst" (Fr. 43). Aus dem Vertrauen auf die göttliche Welt- 
ordnung entspringt jene Zufriedenheit (evageaTtjaig) , die 
Heraklit für das höchste Gut erklärt haben soll; das Glück 
des Menschen hängt seiner Überzeugung nach von ihm selbst 
ab: f^v^og av&Q(jj7i(fi daifxcav (Fr. 119). Auf der Gesetzlichkeit 
beruht das Wohl des Gemeinwesens: „das Volk muß für das 
Gesetz kämpfen wie für seine Mauer" (Fr. 44). Aber auch 
das, meint der aristokratische Philosoph, sei Gesetz, dem Rat 
eines einzelnen zu folgen (Fr. 33), und gegen die Demokratie, 
die seinen Freund Hermodor verbannt hat, richtet er (Fr. 121) 

jetzt die bei Philon u. a. überlieferte- Lesart vor: avyri ^tjqtj ^v^fj xrA, und 
übersetzt: „trockner Glast: weiseste und beste Seele". 

*) Nach Diels Her. Anm. zu Fr. 63 läßt Heraklit nur die Seelen der 
Beinen und Auserwählten nach dem Tode als Heroen oder Dämonen fort- 
leben (vgl. Fr. 26. 24. 25). Die Ansicht Patins Her. Beispiele H und 
BoHDES Psyche ^ 422 ff., daß Her. kein persönliches Fortleben, sondern nur 1 
ein Aufgehen der Seelen in dem Ewig-Einen, dem Weltfeuer, angenommen | 
habe, läßt sich bei unbefangener Prüfung der Überlieferung kaum recht- 
fertigen ; mit der physikalischen Lehre Her.s würde eine solche Auffassung I 
allerdings im vollen Einklänge stehen. 

Zeller, Grundrifs. 5 



66 Ente Periode. 

den herbsten Tadel. In ebenso schroffer Unabhängigkeit 
stellte er sich den religiösen Meinungen und Bräuchen des 
Volkes gegenüber, wenn er nicht allein die dionysischen 
Orgien, sondern auch die Bilderverehrung und die blutigen 
Opfer mit scharfen Worten angriff. Daß er selbst, wie 
E. Pfleiderer glaubt, von den Mysterien einen für sein 
ganzes System maßgebenden Einfluß erfuhr, ist durchaus 
unerweisbar und unwahrscheinlich. 

Heraklits Schule erhielt sich nicht bloß in ihrer Heimat 
bis um den Anfang des 4. Jahrhunderts, sondern sie fand 
auch in Athen Anklang; Piatons Lehrer Kratylos gehörte 
ihr an. Aber diese späteren Herakliteer, und namentlich 
auch Kratylos, waren in ein so unmethodisches, enthusiasti- 
sches Wesen und in solche Übertreibungen geraten, daß so- 
wohl Piaton als Aristoteles sich sehr geringschätzig über sie 
äußern. 

§ 23. E m p e d k 1 e s. 

Der Agrigentiner Empedokles war nach ApoUodor 
483/2 V. Chr. geboren und starb sechzigjährig 424/3; wahr- 
scheinlich aber ist seine Lebenszeit um etwa zehn Jahre 
(492 — 432) heraufzurücken. Durch seine schwungvolle 
Beredsamkeit und seine Tatkraft erhielt er sich, wie sein 
Vater Meton, längere Zeit an der Spitze der agrigentinischen 
Demokratie; noch wichtiger war aber ihm selbst die Rolle 
des Religionslehrers , Propheten, Arztes und Wundertäters,, 
zu der ihn seine bedeutende, der des Pythagoras ähnliche 
Persönlichkeit befähigte. Über seinen Tod kamen schon 
frühe abenteuerliche Erfindungen, teils vergötternde, teils 
herabsetzende, in Umlauf; das Wahrscheinlichste ist, daß er 
schließlich, von der Volksgunst verlassen, als Verbannter im 
Peloponnes starb*). Von den Schriften, die seinen Namen 
trugen, lassen sich ihm nur die zwei Lehrgedichte, die 
q>vaiycd^ die in zwei Bücher zerfielen, und die Tca^aginol, mit 



^) Vgl. BiDEz La biographie d'Emp^docle 1894. 



§ 23. Empedokles. 67 

Sicherheit beilegen ; von beiden haben sich zahlreiche Bruch- 
stücke^) erhalten. 

In seiner mystischen Theologie schließt sich Empedokles 
,an die orphisch-pythagoreischen Lehren an, in seiner Physik 
dagegen sucht er einen Mittelweg zwischen Parmenides und 
der von diesem bestrittenen Weltansicht. Mit Parmenides 
leugnet er, daß ein Entstehen oder Vergehen im strengen 
Sinn denkbar sei 5 aber deshalb die Vielheit der Einzeldinge, 
ihr Werden und ihre Veränderung zu bestreiten, kann er 
sich nicht entschließen; und so ergreift er, wahrscheinlich 
nach Leukippos' Vorgang, den Ausweg, die Entstehung auf 
eine Verbindung, das Vergehen auf eine Trennung, die Ver- 
änderung auf eine teilweise Verbindung und Trennung un- 
entstandener, unvergänglicher und unveränderlicher Stoffe 
zurückzuführen. Diese Stoffe denkt er sich aber voneinander 
qualitativ verschieden und quantitativ teilbar, nicht als Atome, 
sondern als Elemente {axoixeia), und er ist der erste, der 
diesen Begriff des Elementes aufgebracht hat ; der Name 
allerdings ist später: Empedokles selbst nennt sie „die 
Wurzeln (^t^cJ^a-ra) von allem". Auch die Vierzahl der 
Elemente : Feuer, Luft, Wasser, Erde, rührt von Empedokles 
her. Keiner von diesen vier Stoffen kann in den anderen 
übergehen oder sich mit ihm zu einem neuen verbinden : jede 
Mischung der Stoffe besteht nur darin, daß kleine Teile von 
ihnen mechanisch gemengt werden, und ebenso jede Wirkung, 
die substantiell getrennte Körper aufeinander ausüben, darin, 
daß von dem einen kleine Teilchen {ano^^oai) sich ablösen 
und in die Poren des andern eindringen; wo die Poren und 
Ausflüsse zweier Körper sich entsprechen, ziehen sie sich an 
wie der Magnet und das Eisen. Damit aber die Stoffe zu- 
sammentreten oder auseinandertreten, müssen zu ihnen die 
bewegenden Kräfte hinzukommen, und dieser müssen es zwei 



^) Gesammelt und erläutert von Stürz Empedokles 1805; Karsten 
Empedoclis carm. rel. 1838; Stein Empedoclis fragm. 1852; Preller ^ 
S. 12 flf.; Diels Poet. phil. fr. S. 74 ff. und Vors. I 149 ff. 

5* 



68 Knie Periode. 

sein: eine vereinigende und eine trennende, Empedokles 
nennt jene die Liebe {q)iX6vrig^ arogyTJ) oder auch die Har- 
monie, diese den Haß {yely^og, xoTog), 

Diese Kräfte wirken nun aber nicht immer in der 
gleichen Weise. Wie vielmehr Heraklit die Welt periodisch 
aus dem Urfeuer hervorgehen und wieder dahin zurückkehren 
ließ, so nimmt auch Empedokles an, daß die Elemente in 
endlosem Wechsel bald von der Liebe zur Einheit zusammen- 
geführt, bald vom Hasse getrennt werden. In dem ersten 
von diesen Zuständen, als vollkommene Mischung aller Stoffe, 
bildet die Welt den kugelförmigen Sphairos, der als ein 
seliger Gott beschrieben wird, weil aller Haß aus ihm ver- 
bannt ist. Das Gegenstück dazu ist die gänzliche Trennung 
der Elemente. Zwischen diesen Extremen liegen diejenigen 
Weltzustände, in denen Einzelwesen entstehen und unter- 
gehen ^). Bei der Bildung der gegenwärtigen Welt sollte die 
Liebe zuerst in der Mitte der vom Haß getrennten Stoffe 
einen Wirbel hervorgebracht haben, in den diese allmählich 
hereingezogen wurden ; aus diesem Gemenge schied sich durch 
die Wirbelbewegung zuerst die Luft oder der Äther ab, aus 
dem sich das Himmelsgewölbe bildete, hierauf das Feuer, 
welches unmittelbar unter diesem seinen Ort einnahm; aus 
der Erde wurde durch einen Umschwung das Wasser aus- 
gepreßt, aus dem dann wieder Luft (d. h. die untere atmo- 
sphärische) ausdünstete. Der Himmel besteht aus zwei Hälften^ 
einer feurigen und einer dunkeln, mit eingesprengten Feuer- 
teilen: jenes der Tag-, dieses der Nachthimmel. Die Sonne 
hielt Empedokles mit den Pythagoreern für einen Spiegel, 
welcher die Strahlen des himmlischen Feuers sammle und 
zurückwerfe, wie der Mond die der Sonne. Daß die Erde 



^) H. V. Arnim Festschrift f. Gomperz 1902 S. 16 ff. sucht nachzuweisen^ 
daß Emp. nur eine Periode der Weltbildung und der Entstehung von 
Einzelwesen angenommen habe. Doch scheinen dieser Auffassung bestimmte 
Zeugnisse des Aristoteles und der Fragmente (s. bes. Fr. 17 u. 26) zu wider- 
sprechen. Geschildert hat Emp. allerdings nur eine dieser beiden Perioden» 



§ 23. Empedokles. 69 

und die Welt sich an ihrer Stelle erhalten, sollte die Ge- 
schwindigkeit des Umschwunges bewirken. 

Aus der Erde sind nach Empedokles die Pflanzen und 
die Tiere entsprossen. Wie aber die Vereinigung der Stoffe 
durch die Liebe überhaupt nur allmählich erfolgt, so nahm 
er auch bei der Entstehung der lebenden Wesen einen stufen- 
weisen Fortschritt zu vollkommeneren Erzeugnissen an. Erst 
sollten nur einzelne Gliedmaßen aus der Erde hervorgekommen 
sein, dann diese, wie es sich traf, sich zu ungeheuerlichen 
Gebilden vereinigt haben-, und auch als die jetzigen Tiere 
und Menschen entstanden, waren sie zuerst unförmliche 
Klumpen, die erst mit der Zeit ihre Gliederung erhielten. 
Daß dagegen schon Empedokles den zweckmäßigen Bau der 
Organismen durch die Annahme erklärt habe, von den 
Schöpfungen des Zufalles hätten nur die lebensfähigen sich 
erhalten, ist weder an sich wahrscheinlich, noch sagt es 
Aristoteles (Phys. II, 8) ^). Mit den lebenden Wesen scheint 
sich Empedokles sehr eingehend beschäftigt zu haben. Er 
stellte über ihre Erzeugung und Entwicklung, über die ele- 
mentarische Zusammensetzung der Knochen und des Fleisches, 
über den Atmungsprozeß (welcher teilweise durch die Haut 
erfolgen sollte) und ähnliche Erscheinungen in ihrer Art 
sinnreiche Vermutungen auf. Er suchte die Sinnestätigkeiten 
durch seine Lehre von den Poren ^) und Ausflüssen zu er- 
klären, wobei er, das Gesicht betreffend, annahm, daß dem 
gegen das Auge sich bewegenden Licht Ausflüsse aus dem 
Feuer und Wasser des Auges entgegenkommen. Er stellte 
für das Erkennen überhaupt den Grundsatz auf, daß jedes 
Element von dem gleichartigen in uns erkannt wurde ^) (wie 
auch die Lust durch das Verwandte, die Unlust durch das 
Widerstrebende hervorgerufen werden sollte) 5 daß daher die 



1) Vgl. meine Vorträge und Abhandl. III, 41 ff. Phil. d. Gr. I, 795 f. 

^) Durch diese wahrscheinlich dem Leukippos entlehnte Annahme von 
Poren gerät Emp. mit sich selbst in Widerspruch, da er mit Parmenides 
das Leere leugnet (Fr. 13. 14); s. Diels Über Leukipp u. Demokrit S. 105. 

^) yaty fjikv yccQ yaictv ontonafAiv usw. Fr. 109. 



70 Erste Periode. 

Beschaffenheit des Denkens sich nach der des Körpers und 
namentlich des Blutes richte, das sein Hauptsitz sei. Auch er 
ließ sich aber durch diesen Materialismus nicht abhalten, das 
sinnliche Erkennen dem vernünftigen nachzusetzen, wenn er 
es ihm auch nicht so schroff entgegenstellt wie Parmenides. 
Neben diesem naturphilosophischen System begegnet uns 
bei Empedokles die mystische, an die Orphiker und Pytha- 
goreer anknüpfende Lehre von dem Herabsinken der Seelen 
ins Erdenleben, von ihrer Wanderung durch menschliche^ 
tierische und Pflanzenleiber und von der dereinstigen Rück- 
kehr der geläuterten Seelen zu den Göttern; und daran» 
ergibt sich das Verbot der Tieropfer und der tierischen 
Nahrung, von denen die goldene Urzeit der Menschheit noch 
nichts wußte (Fr. 128). Aber er hat diese Lehren mit seiner 
Physik nicht bloß in keine wissenschaftliche Verbindung ge- 
bracht, sondern auch den Widerspruch beider zu beseitigen 
keinen Versuch gemacht ; so wenig sich auch verkennen läßt^ 
daß in beiden eine Auffassung sich ausspricht, welcher der 
Streit und Gegensatz der Grund alles Übels, Einheit und 
Harmonie das Seligste ist. Auch die reine Gottesidee, die 
er in den Katharmen (Fr. 131. 132) mit Xenophanes der 
anthropomorphistischen Götter Vorstellung entgegensetzt, ver- 
trägt sich nicht mit seiner physikalischen Lehre ^). 

§ 24. Die atomistische Schule. 

Der Stifter der atomistischen Schule war Leukippos, 
ein Zeitgenosse des Anaxagoras und Empedokles, dessen 
Lebenszeit wir jedoch nicht genauer bestimmen können, 
Theophrast b. SiMPL. Phys. 28, 4 nennt ihn einen Schüler 
des Parmenides, weiß aber nicht, ob er aus Milet oder Elea 
stammte. Die Schriften, aus denen Aristoteles und Theophrast 



^) Der Widerspruch zwischen der empedokleischen Mystik und Physik 
wird psychologisch erklärlich, wenn man mit Diels Über d. Gedichte d. Emp, 
1898 S. 11 ff. die Schrift thqI (pvaewg in die jüngeren Jahre, das Sühnelied 
dagegen in die Zeit der Verbannung des Philosophen setzt. 



§ 24. Die atomistische Schule. 71 

über seine Lehren berichten, Meyag diaytoaidog und liegt vov, 
scheinen sich später unter denen Demokrits befunden zu 
haben ^). Dieser berühmte Philosoph und Naturforscher, ein 
Bürger Abderas, war nach seiner eigenen Aussage (DiOG. IX, 
41) noch jung, als Anaxagoras bereits alt war (veog xazä 
TiQeaßvTTjv Idva^ayoQav) ; ob er aber gerade 40 Jahre jünger 
als jener und somit um 460 v. Ghr. geboren war, wie Apol- 
lodor annahm, ist zweifelhaft; Thrasyll setzte seine Geburt 
in Ol. 77, 3 (470/69 v. Chr.), vielleicht auf Grund der Stelle 
bei Aristoteles (d. part. an. I, 1 b. 42 a 26), die schon im 
Altertum so aufgefaßt wurde, als ob darin Demokrit für 
jünger als Sokrates erklärt würde. Seine Wißbegierde soll 
ihn, wie ein späteres Zeugnis mitteilt, nach Ägypten und 
Babylonien geführt haben; ob in die Zeit, die er in der 
Fremde zubrachte (Fr. 299)^), auch sein Verkehr mit Leu- 
kippos ßillt, dessen Schüler er nach Aristoteles und Theo- 
phrast war, wird nicht berichtet; das Wahrscheinlichere 
ist,, daß er wie Protagoras mit Leukippos zu Abdera ver- 
kehrt hat. Außer ihm kannte Demokrit auch andere ältere 
und gleichzeitige Philosophen, wie er denn der erste Ge- 
lehrte und Naturfoscher seiner Zeit war. Sein Lebensalter 
wird von Diodor, vermutlich nach ApoUodor, auf 90, von 
anderen auf 100 und noch mehr Jahre angegeben. Aus 
seinen Schriften sind zahlreiche Bruchstücke erhalten®), aus 
denen aber das Unechte auszuscheiden -^ namentlich bei den 
moralischen Aussprüchen — oft schwierig ist. 

Die atomistische Theorie ist in ihren wesentlichen Bestand- 
teilen als ein Werk des Leukippos zu betrachten, während 



^) Und daraus erklärt es sich, daß Epikur Leukippos' Existenz leug- 
nete (DioG. X, 13). Wenn jedoch Rohde Über Leucipp und Demokrit 
(Verhandl. d. 34. Philologenversamml. 1881. Jahrb. f. Philol. 1882 S. 741 ff.) 
zu zeigen suchte, daß Epikur darin recht habe, so ist er von Diels 
(Verhandl. d. 35. Philologenvers. S. 96 ff.) überzeugend widerlegt worden. 
^) [Das jedoch als unecht ansusehen ist; s. oben S. 20 Anm. 1.] 
^) Gesammelt bei Diels Vors. I 350 ff. ; die ethischen Fragmente bei 
Natorp Die Ethika d. Dem. 1893. 






72 Erste Periode. 

ihre Anwendung auf alle Teile der Naturwissenschaft über- 
wiegend das seines Schülers gewesen zu sein scheint. Leu- 
kippos war (wie Arist. gen. et corr. I, 8 sagt) mit Parmenides 
von der Unmöglichkeit eines absoluten Entstehens und Ver- 
gehens überzeugt, aber die Vielheit des Seins, die Bewegung, 
das Entstehen und Vergehen der zusammengesetzten Dinge 
wollte er nicht leugnen-, und da nun alles dieses, wie Par; h i - 
menides gezeigt hatte, ohne das Nichtseiende sich nicht 
denken läßt, so behauptete er, das Nichtseiende sei so gut 
wie das Seiende. Das Seiende ist aber (nach Parmenides) * ij^^^' 
das Raumerfüllende, Volle, das Nichtseiende das LeererXls'x:.-^ 
die Grundbestandteile aller Dinge bezeichneten demnach ^*^* 
\ Leukippos und Demokrit das Volle und das Leere ; §her um 
\iie Erscheinungen hieraus erklären zu können, dachten sie 
dch das Volle in zahllose, wegen ihrer Kleinheit nicht ge- 
sondert wahrnehmbare Körperchen zerteilt, die durch das 
Leere voneinander geschieden, selbst aber deshalb unteilbar 
sein sollten, weil sie ihren Raum vollständig ausfüllen und 
kein Leeres in sich haben; weshalb sie Atome (ccTOfio) oder 
auch „dichte Körper" (vaatd) genannt werden. Diese Atome 
sind genau so beschaffen wie das Seiende des Parmenides, 
wenn man sich dieses in zahllose Teile zerschlagen und in 
einen unbegrenzten leeren Raum versetzt denkt : ungeworden, 
unvergänglich, ihrem Stoffe nach durchaus gleichartig, unter- 
scheiden sie sich nur durch ihre Gestalt und ihre Größe und 
sind keiner qualitativen Veränderung, sondern nur des Orts- 
wechsels fähig. Nur hierauf haben wir daher auch die 
Eigenschaften und Veränderungen der Dinge zurückzuführen. 
Da alle Atome aus dem gleichen Stoffe bestehen, muß ihr 
Gewicht ihrer Größe genau entsprechen; wenn mithin zu- 
sammengesetzte Körper bei gleicher Grröße ein verschiedenes 
Gewicht haben, so kann dies nur davon herrühren, daß in 
dem einen mehr leere Zwischenräume sind als in dem andern. 
Alles Entstehen des Zusammengesetzten besteht in dem Zu- 
sammentreten getrennter, alles Vergehen in der Trennung 
verbundener Atome; ebenso sind alle Arten von Veränderung 



§ 24. Die atomistische Schale. 73 



C 






teils hierauf, teils auf Änderungen in der Lage und Ordnung 
der Atome zurückzuführen. Jede Einwirkung der Dinge auf-< 
«inander ist eine mechanische durch Druck und Stoß: jede7 
Wirkung in die Ferne (wie zwischen Magnet und Eisen, \ 
Licht und Auge) ist durch Ausflüsse vermittelt. Alle Eigen - 
fichaften der Dinge beruhen auf der Gestalt, Größe, Lage 
und Ordnung ihrer Atome; die sinnlichen Qualitäten, die 
wir ihnen beilegen, drücken (schon nach Leukippos) nur die 
Art aus, wie sie auf unsere Sinne wirken : v6f^(^ yXvxv, v6fÄ(p 
TtiTCQoVy vofxifi &eQfi6vj v6fi(p xfJvxQOVy v6ix(^ XQOiTjj ezefi de axofxa 
xat yievov (Fr. 9; vgl. 125). 

Vermöge ihrer Schwere bewegen sich nun alle Atome 'v^^c;\ 
von Ewigkeit her im unendlichen Räume nach u nten \) ; hier- 
bei müssen aber, wie die Atomiker meinten, die größeren 
Atome, weil sie schwerer sind, schneller fallen als die kleineren 
und leichteren; sie stoßen daher auf diese und drängen sie 
nach oben, und aus dem Gegenlauf dieser beiden Bewegungen, 
dem Zusammenstoß und Abprallen der Atome, erzeugt sich 
eine Wirbelbewegung. Infolge der letzteren werden nun 
einerseits die gleichartigen Atome zusammengeführt; andrer- 
seits bilden sich durch die Verwicklung verschiedengestaltiger 
Atome abgesonderte und nach außen abgeschlossene Atomen- 
komplexe oder Welten. Da die Bewegung keinen Anfang, 
die Masse der Atome und der leere Raum keine Grenze haben, 
muß es solcher Welten von jeher zahllose gegeben haben, 
die sich in den mannigfaltigsten Zuständen befinden und die 

^) Wie dies sowohl aus der Lehre von der Schwere der Atome als 
aus den Aussagen des Piaton, Aristoteles, Theoprast usw. Phil. d. Gr. I^ 
S. 868 ff. nachgewiesen und his jetzt durch keinen irgend stichhaltigen 
Gegengrund widerlegt ist. [Die von Zeller a. a. O. bekämpfte Ansicht 
Brieoebs (Die Urbewegung der Atome und die Weltentstehung bei Leuk. 
u. Dem. 1884) und Liepmanns (Die Mechanik der Leukipp-Demokritschen 
Atome 1886), wonach die Urbewegung (richtiger: die interkosmische Be- 
wegung) der Atome im leeren Räume nicht eine geradlinige Fallbewegung, 
sondern ein wirres Durcheinanderfliegen nach verschiedenen Bichtungen ist, 
hat den Beifall namhafter Forscher gefunden (s. Jahresber. f. Altertumsw. 
1903 I 136 ff.). Adhuc sub iudice lis est.] 



74 Erste Periode. 

verschiedensten Gestalten haben. Nur eine von diesen zahl- 
losen Welten ist die, der wir angehören. Demokrits Ver- 
mutungen über ihre Entstehung, die Bildung der Gestirne in 
der Luft, ihre allmähliche Austrocknung und Entzündung usw. 
entsprechen seinen allgemeinen Voraussetzungen. Die Erde 
denken sich Leukippos und Demokrit mit Anaximenes als 
runde Platte auf der Luft schwebend. Die Gestirne, von 
denen aber die zwei größten, Sonne und Mond, erst nach 
ihrer Entstehung in unser Weltsystem eingetreten sein sollen, 
drehten sich vor der Neigung der Erdachse horizontal seit- 
lich um die Erde. Von den vier Elementen besteht nach 
Demokrit das Feuer aus kleinen, glatten und runden Atomen, 
in den übrigen sind verschiedenartige Atome gemischt. 

Aus dem Erdjchlamm kamen die organischen W^sen 
hervor, denen Demokrit große Aufmerksamkeit zugewendet 
zu haben scheint; besonders eingehend beschäftigte er sich 
jedoch mit dem Menschen, und wenn schon sein Körperbau 
ein Gegenstand der höchsten Bewunderung für ihn ist ^), legt 
er noch viel höheren Wert auf die /Seele) und das geistige 
Leben . Auch die Seele kann er allerdings nur für etwas 
Körperli ches erklären: sie besteht aus feinen glatten und 
runden Atomen, also aus Feuer, das durch den ganzen Leib 
verteilt ist, und durch die Einatmung teils am Austritt ver- 
hindert, teils aus der Luft ergänzt wird; einzelne Seelen- 
tätigkeiten haben aber in bestimmten Organen ihren Sitz. 
Nach dem Tode zerstreuen sich die Seelenatome. Trotzdem 
ist aber die Seele das Edelste und Göttlichste im Menschen, 
und auch in allen andern Dingen ist so viel Seele und Ver- 
nunft, als Wärmestoff in ihnen ist ; von der Luft z. B. sagte 
Demokrit, es müsse in ihr viel Vernunft und Seele (vovg und 
x^fvxr]) sein, da wir diese sonst nicht durch den Atem in uns 

^) [Die Phil. d. Gr. I*^ S. 901 ff. hierfür beigebrachten Zeugnisse au» 
Fulgentius und dem von ten Brink den echten Bruchstücken zugewiesenen 
Briefe des Dem. an Hippokrates (Epist. Ps.-Hippocr. 23) werden jetzt von 
DiELs Vors. I 445 (Fr. 301) und S. 448 f. (vgl. H 731) mit Recht als Fäl- 
schungen bezeichnet] 



§ 24. Die atomistische Schale. 75 

aufnehmen könnten (Arist. De respir. 4). In der Veränderung, 
welche die von den Dingen ausgehenden und durch die 
Sinnesorgane eindringenden Ausflüsse in der Seele hervor- 
bringen, besteht die Wahrnehmung ; das Sehen z. B. entsteht 
(schon nach Leukippos) dadurch , daß 3Te Bilder der 
Gegenstände, die sich von diesen ablösen (cl'dwAo, deimela), 
die vor ihnen liegende Luft gestalten und diese mit den 
Ausflüssen unsrer Augen sich berührt; wobei jede Art 
von Atomen von den gleichartigen in uns erfaßt wird. In 
einer ähnlichen Veränderung des Seelenkörpers besteht auch 
das Denken: es ist richtig, wenn die Seele durch die Be- 
wegungen, die sie erfährt, in die richtige Temperatur versetzt 
wird. D>ieser Materialisnaus hält aber einen Demokrit so 
wenig wie andere ab (dem S. 73 angeführten entsprechend), 
zwischen der Wahrneh mung und demi Denken (der yvcif^v] 
äycoTiti und yvjjair]) in Beziehung auf ihren Wert^scharf zu 
unter schei den und nur von dem letzteren Aufschluß über die 
wahre Beschafi^nheit der Dinge zu erwarten; so wenig er 
auch verkennt, daß wir diese nur von der Beobachtung aus 
zu erkennen vermögen. Die UnvoUkommenheit des sinnlichen > 
Erkennens ist es wohl auch, die Demokrits Klagen über die 
Unsicherheit und Beschränktheit unseres Wissens zunächst 
veranlaßt; zum Skeptiker darf man ihn deshalb nicht machen: 
der Skepsis des Protagoras hat er ausdrücklich widersprochen. 
Und ebenso wie der Wert unsers Erkennens ist auch der 
unseres Lebens durch die Erhebung über das Sinnliche be- 
dingt. Das Wünschenswerteste ist wohl, sich möglichst viel 
zu freuen und möglichst wenig zu betrüben ; aber „Eudämonie 
und Kakodämonie der Seele wohnt nicht in Oold noch in 
Herden, sondern die Seele ist der Wohnsitz des Dänaon". 
(Vgl. Heraklit oben S. 65.) Die Grlückseligkeit besteht wesent- 
lich in der Ruhe und Heiterkeit des Gemütes (evd'Vfilri ^)j 

^) JI. 6v&v/Li{fig ißt der Titel der Schrift, welcher viele und besonders 
die umfangreicheren ethischen Brachstücke des Philosophen, soweit sie echt 
sind, entnommen zn sein scheinen; über sie handeln Lobtzinq Über die 
ethischen Fragm. D.s 1873, R. Hirzel Hermes XIV 354 — 407 und Natorp 



\<^ 



76 Erste Periode. 

eveatciy agfiovitj, a&afjtßirj) , und diese erreicht man am 
sichersten durch Mäßigung der Begierden und Gleichmaß 
des Lebens (fÄSTQioTrjtt zsQipiog 'Aai ßiov ^^ifÄergir]^ Fr. 191). 
In diesem Sinn sind Demokrits Lebensvorschriften ge- 
halten : sie zeigen eine reiche Erfahrung^ feine Beobachtung, 
reine Grundsätze. Sie mit seiner physikalischen Theorie 
wissenschaftlich zu verknüpfen; hat er allem nach nicht ver- 
sucht, und wenn der Grundgedanke seiner(^thik)inhaltl^ 
in dem Satze liegt, daß das Glück des Menschen ganz und 
gar von seinem Gemütszustand abhänge, so fehlt doch jeder 
Beweis dafür, daß er diesen Satz in ähnlicher Weise, wie 
etwa Sokrates den Satz, daß die Tugend im Wissen bestehe, 
durch allgemeine Erwägungen zu begründen unternahm. 
Akistoteles rechnet daher Demokrit trotz seiner Sittensprüche, 
die er freilich nirgends erwähnt, noch durchaus zu den 
Physikern^ und läßt die wissenschaftliche Ethik erst mit 
Sokrates beginnen (Metaph. XIII. 4, 1078 b 17. part. an. I, 
2. 642 a 26). 

Fremdartig nimmt sich fiir uns Demokrits Ansicht über 
6 >s^^^ ' die (^ötter)des Volksglaubens aus, wiewohl sie in Wahrheit 
seinerNaturerklärüng richtig angepaßt ist. So wenig er 
nämlich jenen Glauben als solchen teilen konnte, so nötig 
schien es ihm doch, ihn zu erklären; und wenn er auch 
hierfiir die Annahme nicht abwies, daß außerordentliche 
^ Naturersch einungen Anlaß gegeben haben, sie auf Götter als 
ihre Urheber zurückzuführen, oder daß gewisse allgemeine 
Begriffe in ihnen dargestellt seien, sagte doch seinem Sen- 
sualismus eine andere, realistischere Erklärung noch mehr zu. 
Wie der Volksglaube den Luftraum mit Dämonen bevölkerte, 
so nahm auch Demokrit an, daß sich in diesem Räume 
Wesen von menschenähnlicher Gestalt aufhalten, die aber 
den Menschen an Größe und Lebensdauer weit überlegen, 



in der S. 71 Anm. 3 angeführten Schrift. — Piaton Phileb. 43 D ff. Rep. X 
583 Bff. mit Hirzel und Natorp auf Demokrit zu beziehen, hat man kein 
Recht; vgl. Phil. d. Gr. Ua*, 308 f. 



§ 25. Anaxagoras. 77 

und deren Wirkungen teils wohltätige, teils schädliche seien ; 
die Bilder (vgl. S. 75), die von ihnen ausgehen und den 
Menschen im Schlaf oder im Wachen erscheinen, seien für 
Götter gehalten worden. Auch für die weissagenden Träume 
und den Einfluß des bösen Auges suchte Demokrit durch 
seine Lehre von den Bildern und den Ausflüssen eine natür- 
liche Erklärung zu gewinnen; ebenso glaubte er, daß sich 
den Eingeweihten der Opfertiere natürliche Anzeichen ge- 
wisser Vorgänge entnehmen lassen. 

Der bedeutendste Mann aus Demokrits Schule ist 
Metrodoros aus Chios, der entweder ihn selbst oder seinen 
Schüler Nessos zum Lehrer hatte. In den Grundzügen 
seiner Lehre mit Demokrit einverstanden, wich er doch in 
Einzelheiten der Naturerklärung an manchen Punkten von 
ihm ab und zog aus seinem Sensualismus skeptische Folge- 
rungen, mit denen er aber doch nicht beabsichtigt haben 
kann, die Möglichkeit des Wissens grundsätzlich zu leugnen. 
Ein Schüler Metrodors oder seines Schülers Diogenes ist 
Anaxarchos 6 EvdaifxoviKog, der Begleiter Alexanders, in 
seinem Tode würdiger als in seinem Leben. Mit Metrodor 
hängt vielleicht auch Nausiphanes zusammen, der Epikur 
in Demokrits Lehre einführte, der aber auch den Skeptiker 
Pyrrhon gehört haben soll. 

§ 25. Anaxagoras. 
Anaxagoras aus Klazomenä, nach ApoUodor (b. DiOG. 
II, 7, vermutlich nach Demetrius Phaler.) Ol. 70, 1 (500/499 
V. Chr.) geboren, widmete sich unter Vernachlässigung seines 
Vermögens der Wissenschaft und zeichnete sich namentlich 
als Mathematiker und Astronom aus. Über seine Lehrer 
ist nichts bekannt , und wenn ihn SiMPL. Phys. 27, 2 (nach 
Theophrast) wohl mit Recht aus der Schule des Anaximenes 
hervorgehen läßt, beweist doch sein System zur Genüge 
(mag dies auch neuestens bestritten worden sein), daß die 
Lehre des Parmenides und wahrscheinlich auch die des 
Leukippos einen bedeutenden Eindruck auf ihn gemacht 



78 Brote Periode. 

hatte. Dagegen ist es nur eine müßige Kombination, wenn 
ihn Neuere zum Schüler des Klazomenieni Hermotimos 
machen wollten, eines weit älteren, sagenhaften Wundermannes, 
in dessen Legende schon frühe (nach Arist. Metaph. 984 b 18) 
seine Lehre vom Novg hineingedeutet worden war. In Athen, 
wohin er (nach ApoUodor wahrscheinlich 460/59) übersiedelte, 
kam er mit Perikles in nahe Verbindung; durch Gegner 
dieses Staatsmannes wegen Leugnung der Staatsgötter verklagt, 
mußte er Athen (431/0 v. Chr.) verlassen. Er ging nach 
Lampaskos , wo er nach Apollodor 428/7 v. Chr. 72 Jahre 
alt starb (DiOG. II, 7). Von seiner Schrift n. q)vaecog haben 
sich wichtige Bruchstücke*) erhalten. 

Anaxagoras ist nun mit Leukippos und Empedokles 
darüber einig, daß ein Entstehen und Vergehen im strengen 
Sinn und deshalb auch die qualitative Veränderung eines 
Dinges undenkbar sei, daß daher alles Entstehen nur in der 
Verbindung, alles Vergehen in der Trennung schon vor- 
handener Stoffe bestehe^), jede Veränderung der Eigenschaften 
auf einer Veränderung der stofflichen Zusammensetzung be- 
ruhe. Aber schon die Bewegung, durch welche die Ver- 
bindung und Trennung der Stoffe herbeigeführt wird, weiß 
er sich aus dem Stoff als solchem nicht zu erklären (das 
Leere, das ihm Leukippos hierfür beigefügt hatte, bestritt er 
mit Parmenides und Melissos), noch weniger aber die wohl- 
geordnete Bewegung, die ein so schönes und zweckvolles 
Ganzes wie die Welt hervorgebracht hat. Diese kann nur 
das Werk eines Wesens sein, dessen Wissen und dessen Macht 
sich über alles erstreckt, das Werk eines denkenden, ver- 
nünftigen und dabei allmächtigen Wesens, des Geistes oder 



*) Erläutert von Schaübach Anaxag. fragmenta 1827, Schorn Anaxag. 
6t Diogenis fragmenta 1829, Diels Vors. I 298 ff. 

2) Fr. 17 (SiMPL. Phys. 163, 20): t6 cT^ yivsa&ai xal dnoXXva&ai ovx 
OQ^ais vofiC^ovOtv ol "SkXrjves. ovöhv yccg XQVf^" yCv^tat oiök dnoXXvTai, 
dXX^ dnb iovTwv /^ly^arwy avfjt^Cöy^Tal t€ xal äiaxqlvitai, xal ovttag 
äv OQt^tJÜg xaXoTsv t6 t« yivead-at avfjifJLiayEad-ai xaX to dnoXXvad-ai Stw 
xgivea&ai. 



§ 25. Anaxagoras. 79 

des Novg; und diese Macht und Verntinftigkeit kann dem Novg 
nur dann zukommen, wenn er mit keinem andern vermischt 
und daher auch durch kein andres gehemmt ist. Den leiten- 
den Gedanken des Anaxagoras bildet daher der Begriff des 
Geistes in seinem Unterschied vom Stoffe; und das wesent- 
lichste Merkmal dieses Unterschiedes findet er darin, daß der 
Geist durchaus einfach (ccTtloog) ist, der Stoff durchaus zu- 
sammengesetzt. Jener ist „mit nichts vermischt", „allein für 
sich" (fzovvoQ eq)^ icovrov), „das feinste und reinste von allen 
Dingen" ; er besitzt volle Erkenntnis jeglichen Dinges und 
die größte Kraft. Damit ist seine Unkörperlichkeit zwar 
nicht durchaus adäquat bezeichnet, aber doch unverkennbar 
gemeint, während die Frage nach seiner Persönlichkeit dem 
Philosophen noch fem liegt. Und ebenso besteht seine Wirk- 
samkeit wesentlich in der Scheidung des Gemischten, auf 
die sich auch sein Erkennen als ein Unterscheiden zurück- 
führen ließ. Der Stoff dagegen stellt, ehe der Geist auf ihn 
gewirkt hat, eine Masse dar, in der nichts von dem andern 
gesondert ist. Da aber alles aus dieser Masse durch bloße 
Scheidung ihrer Bestandteile entstehen soll, darf sie nicht als 
eine gleichartige Masse, auch nicht als eine Mischung so ein- 
facher Urstoffe, wie die empedokleischen Elemente oder die 
Atome, gedacht werden, aus deren mechanischer Verbindung 
sich Anaxagoras wohl die von den ihrigen so weit abweichen- 
den Eigenschaften der Dinge nicht zu erklären wußte; sie 
besteht vielmehr nach Anaxagoras aus einem Gemenge zahl- 
loser unentstandener, unvergänglicher und unveränderlicher, 
unsichtbar kleiner, aber doch nicht unteilbarer Körperchen 
von eigenartiger Beschaffenheit : Goldteilchen, Fleischteilchen, 
Knochenteilchen usf. Anaxagoras bezeichnet diese seine Ur- 



^) Wenn daher auch zuzugeben ist, daß Anaxag. die Unstofflichkeit 
des Geistes nicht mit voller Deutlichkeit und Schärfe hervorgehoben hat, 
so gehen doch diejenigen zu weit, die in dem Novg im Grunde nur ein 
materielles Prinzip, wenn auch von besonderer Art, erblicken, wie Windel- 
band Gesch. d. alten Phil.^ 8. 52 f., der ihn geradezu als „Denkstoff^ be- 
zeichnet. 



80 Erste Periode. 

Stoffe als öneQiiaTa oder xQTqfifna'^ Spätere nennen sie im 
Anschluß an die aristotelische Bezeichnung (of^oiOfÄeQtj) 
Homöomerien. 

Diesen Voraussetzungen entspriechend begann Anaxa- 
goras seine Kosmogonie mit der Schilderung des Zustandes^ 
in dem alle Stoffe durchaus gemischt waren (Fr. ] : ofiov 
TtcLvxa XQ^^ciza rjv). Ihre Scheidung bewirkte der Geist da- 
durch, daß er zunächst an einem Punkte eine Wirbelbewegung 
hervorbrachte, die, von hier aus sich ausbreitend, immer mehr 
Teile der unendlichen Masse in sich hereinzog und noch 
weitere hineinziehen wird. Daß Anaxagoras den Geist noch 
in andre Stadien des Weltbildungsprozesses eingreifen ließ^ 
wird nicht berichtet; vielmehr machen ihm Platon (Phädon 
97 Bff.) und Aristoteles (Metaph. I, 4. 985 a 18. c. 7 988 b 6) 
tibereinstimmend den Vorwurf, er habe sein neuentdecktes 
Prinzip nicht für eine teleologische Naturerklärung zu ver- 
wenden gewußt und beschränke sich ebenso wie seine Vor- 
gänger auf die blind wirkenden materiellen Ursachen. Durch 
die Wirbelbewegung (von welcher die Weltbildung herzuleiten 
Anaxagoras vielleicht durch Leukippos veranlaßt war) 
sonderten sich die von ihr ergriffenen Stoffe zunächst in 
zwei Massen, von denen die eine das Warme, Trockene, Lichte 
und Dünne umfaßte, die andre das Kalte, Feuchte, Dunkle 
und Dichte: den Äther und die Luft (oder genauer: den 
Dunst, Nebel, a^Q), Mit der Dauer der Bewegung schritt 
die Sonderung der Stoffe fort; aber doch kommt sie nie zu 
Ende; es sind vielmehr in allem Teile von allem, und nur 
deshalb ist es möglich, daß ein Ding, auch ohne eine Ände- 
derung seiner stofflichen Bestandteile, durch ihr Hervortreten 
ein andres Aussehen bekommt; wenn der Schnee nicht 
schwarz wäre (d. h. wenn nicht neben dem Hellen auch 
Dunkles in ihm wäre), könnte es auch das Wasser nicht sein^ 
in das er sich auflöst. Das Dünne und Warme wurde durch 
die Wirbelbewegung nach dem Umkreis geführt, das Dichte 
und Feuchte in die Mitte. Das letztere bildete die Erde^ 
die sich Anaxagoras mit den älteren loniern als flache Platte 



§ 25. Anaxagoras. gl 

von der Luft getragen dachte; aus Steinmassen, welche durch 
die Gewalt des Umschwunges von der Erde losgerissen und 
in den Äther geschleudert wurden, und welche in diesem 
zum Glühen kamen, bestehen die Gestirne. Diese bewegten 
sich (wie bei den Atomikern ; s. o. S. 75) anfangs horizontal 
um die Erdscheibe; erst seit sich diese mit ihrer südlichen 
Hälfte abwärts geneigt hat, schneiden sich ihre Bahnen mit 
der Ebene der Erdoberfläche. Den Mond dachte sich Anaxa- 
goras der Erde ähnlich xmd bewohnt; die Sonne, um ein 
Vielfaches größer als der Peloponnes, sollte außer ihm auch 
allen anderen Sternen den größeren Teil ihres Lichtes spenden. 
Durch die Wärme der Sonne wurde die Erde, welche an- 
fangs in schlammartigem Zustande war, mit der Zeit ge- 
trocknet. 

Aus dem Erdschlamm, den die in der Luft und dem 
Äther enthaltenen Keime befruchteten, gingen die lebenden 
Wesen hervor. Was sie belebt, ist der Geist, und dieser ist 
in allen, mit Einschluß der Pflanzen, derselbe; aber er ist 
ihnen in verschiedenem Maße mitgeteilt. Im Menschen ist 
auch die sinnliche Wahrnehmung Sache des Geistes. In den 
Sinneswerkzeugen, die im Gehirn als ihrem Zentralorgan* zu- 
sammenlaufen (vgl. Alkmäon, S. 52 f.), wird sie nicht durch 
das Gleichartige, sondern durch das Entgegengesetzte hervor- 
gerufen. Daß die Eigenschaften der Dinge, welche die Sinne 
uns zeigen, ihnen selbst zukommen, bezweifelt Anaxagoras 
nicht; um so stärker betont er dagegen, daß sie uns über 
ihre Grundbestandteile viel zu unvollständig unterrichten. 
Wahre Erkenntnis gewährt daher auch nach ihm nur die 
Vernunft. Wie ungeteilt Anaxagoras selbst der Forschung 
lebte, spricht sich in einigen seiner Apophthegmen aus; 
ebenso lassen uns weitere Äußerungen , die von ihm er- 
zählt werden, eine edle und. ernste Auffassung des Lebens 
erkennen; daß er sich in wissenschaftlicher Weise mit der 
Ethik beschäftigte, ist nicht überliefert. Ebensowenig ist ein 
religionsphilosophischer Satz von ihm bekannt; persönlich 
steht er der Volksreligion in voller wissenschaftlicher Freiheit 

Zeller, Orundrifs. 6 



82 Erste Periode. 

gegenüber, und vermeintliche Wunder, wie den Meteorstein 
von Ägospotamos, suchte er natürlich zu erklären. 

Von den Schülern des Anaxagoras, denen auch Euri- 
p i d e s beigezählt wird , kennen wir Metrodoros aus 
Lampsakos nur durch seine geschmacklose allegorische 
Deutung der homerischen Mythologie. Etwas mehr wissen 
wir von Archelaos aus Athen, dem angeblichen Lehrer 
des Sokrates. Im übrigen mit Anaxagoras einverstanden, 
näherte sich dieser Physiker doch dadurch Anaximenes und 
Diogenes, daß er das anfängliche Gemenge der Urstoffe Luft 
nannte, dieser den Geist beigemischt sein ließ, die Scheidung 
der StoflFe als Verdünnung und Verdichtung und die ersten 
auf diese Weise auseinandergetretenen Massen als das Warme 
und das Kalte bezeichnete. Die Angabe (DiOG. II, 16), er 
habe den Unterschied des Guten und Schlechten bloß vom 
Herkommen abgeleitet, scheint auf einem Mißverständnis zu 
beruhen ^). 

III. Die Sophisten. 

§ 26. Entstehung und Eigentümlichkeit der 
Sophistik. 

Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts begannen unter den 
Griechen Ansichten hervorzutreten, deren Verbreitung nach 
einigen Jahrzehnten in der Denkweise der gebildeten Kreise 
und in der Richtung des wissenschaftlichen Lebens eine ein- 
greifende Veränderung herbeiführte. Schon der Widerstreit 
der philosophischen Theorien und die Kühnheit, mit der sie 
der gewöhnlichen Vorstellungsweise entgegentraten, war ge- 



^) [Diese Auffassung wird von den neuesten Forschem nicht geteilt. 
Es liegt in der Tat kein zwingender Grund vor, zu bezweifeln, daß die 
Mitteilung des Diog. Laert n 16, Arch. habe behauptet: t6 Slxaiov ehcu 
x«i To aiaxQov oif (pvasi^ dXXa vo/jKp auf alter Überlieferung beruhe, und 
ihm die Beschäftigung mit ethischen Fragen abzusprechen. S. Dümiceleb 
Akad. 217, Gomperz Griech. D. I 323, Diels Arch. f. Gesch. d. Phil. I 250, 
Fredrich Hippokr. Unters. 133, 1.] 



§ 26. Entstehung nnd Eigentümlichkeit der Sophistik. 33 

eignet, gegen diese Versuche einer wissenschaftlichen Welt- 
erklärung Mißtrauen zu erregen. Wenn ferner ein Parmenides 
und Heraklit, ein Leukippos und Demokrit die Wahrheit 
der sinnlichen Erkenntnis bestritten hatten, so konnten sich 
hieran allgemeinere Zweifel an der Erkenntnisfähigkeit des 
Menschen um so leichter anschließen, da diesen Philosophen 
ihr Materialismus nicht die Mittel gewährte, und da selbst 
ein Anaxagoras seine Lehre vom Novg nicht dazu benützte, 
die höhere Wahrheit des vernünftigen Erkennens wissen- 
schaftlich zu rechtfertigen. Noch unaufhaltsamer drängte 
vaber die allgemeine Entwicklung des griechischen Volkslebens 
zu einer veränderten Richtung der wissenschaftlichen Tätig- 
keit hin. Je höher und rascher seit den Perserkriegen in 
ganz Hellas und vor allem in Athen, dem Mittelpunkt seines 
geistigen und politischen Lebens, die allgemeine Bildung stieg, 
um so lebhafter machte sich bei denen, welche sich aus- 
zeichnen wollten, das Bedürfnis einer besonderen Vorbildung 
für die politische Tätigkeit fühlbar ; je vollständiger die sieg- 
reiche Demokratie mit der Zeit alle Schranken beseitigte, 
welche Herkommen und Gesetz früher dem Belieben des 
«elbstherrlichen Volkes gezogen hatten, und je glänzendere 
Aussichten sich eben damit jedem eröffneten, der dieses Volk 
für sich zu gewinnen wußte, um so wertvoller und unent- 
behrlicher mußte ein Unterricht erscheinen, durch den man 
zum Redner und Volksführer befähigt wurde. Diesem Be- 
dürfnis kamen nun jene Männer entgegen, welche von ihren 
Zeitgenossen als Weise oder Sophisten (aoq)oi, aoq)iaTai) be- 
zeichnet wurden und sich selbst als solche ankündigten. Sie 
boten ihren Unterricht, in der Regel von Stadt zu Stadt 
wandernd, allen Lernbegierigen an und verlangten dafür eine 
verhältnismäßig hohe Bezahlung, was ihnen sachlich nicht zu 
verübeln ist, aber bis dahin nicht gebräuchlich und bei dem 
eingewurzelten Vorurteil der Griechen gegen alle dem Erwerb 
dienende Arbeit immerhin der Mißdeutung ausgesetzt war. 
Dieser Unterricht konnte nun an sich alle möglichen Kennt- 
nisse und Fertigkeiten umfassen, und so finden wir auch, daß 

6* 



g4 SfBte Periode. 

von Männern, die den Sophisten beigezählt werden, und auch 
von einigen der bedeutendsten unter ihnen selbst ganz 
mechanische Künste gelehrt wurden. Aber den Hauptgegen- 
stand der sophistischen Lehrtätigkeit bildete die Vorbereitung 
fürs praktische Leben, und als Sophisten im engeren Sinne 
pflegt man seit Piaton die zu bezeichnen, welche als be- 
rufsmäßige Lehrer der „Tugend" (dieses Wort in der um- 
fassenden Bedeutung der griechischen a^err; genommen) auf- 
traten, ihre Schüler zum Handeln und Reden geschickt (det- 
vovg TVQOTTeiv aal leyeiv) zu machen, sie zur Leitung des 
Hauswesens und des Gemeinwesens zu befähigen versprachen» 
Diese Beschränkung auf die praktischen Aufgaben gründet 
sich nun bei ihnen allen auf die Überzeugung, welche von 
einigen der hervorragendsten Sophisten in der Form skep- 
tischer Theorien ausgesprochen, von den meisten durch ihre 
Eristik betätigt wurde, daß eine objektiv wahre Erkenntnis 
unmöglich sei, unser Wissen über subjektive Erscheinungen 
nicht hinausgehe. Diese Ansicht mußte dann aber ihrerseits 
wieder auf die Ethik zurückwirken und nachgerade dazu 
führen, daß die in den Fehden und Parteikämpfen der Zeit 
großgezogene Auflehnung gegen Gesetz, Sitte und Recht 
in sophistischen Theorien eine scheinbare Rechtfertigung fand. 
Und die fortschreitende Bildung selbst gewährte dieser ethi- 
schen Skepsis die wirksamste Unterstützung. Je mehr der 
Gesichtskreis des griechischen Volkes sich erweiterte, je um- 
fassender man mit fremden Ländern und mit der eigenen 
Vergangenheit, mit der Verschiedenheit und Wandelbarkeit 
von Gesetzen, Staatseinrichtungen, Sitten und Religionen be- 
kannt wurde, um so weniger ließ sich die Frage abweisen^ 
was denn nun das Bleibende in diesem Wechsel, warum da& 
Einheimische und das eben Bestehende allein berechtigt sein 
solle; und damit war jene Unterscheidung, und solange e* 
an einer tieferen wissenschaftlichen Begründung der Ethik 
fehlte, jener Gegensatz von vofxog und q)vaig gegeben, der im 
Mittelpunkt der sophistischen Moral steht. Die sogenannten 
Sophisten erscheinen so als die hervortretendsten Wortführer 



§ 27. Die bekannteren sophistischen Lehrer. 85 

und Vermittler der griechischen Aufklärung im 5. Jahrhundert, 
und sie teilen alle Vorzüge und alle Schwächen dieser Stellung. 
Im Gegensatz za der herkömmlichen, von Piatons Auffassung 
beherrschten Verurteilung der Sophisten haben Heoel, K. Pr. 
Heemann, G. Grote u. a. ihre geschichtliche Bedeutung ans 
Licht gestellt; der letztgenannte hat aber darüber das Ober- 
flächliche, Ungesunde und Gefährliche verkannt, das sich bei 
ihnen von Anfang an mit dem Berechtigten und Wertvollen 
verband und im weiteren Verlauf immer stärker zum Vor- 
schein kam. 

§ 27. Die bekannteren sophistischen Lehrer. 

Der erste, der sich einen Sophisten nannte und als 
Tugendlehrer (Ttaidevaecag yial ager^g diddaxaXog) öffentlich 
auftrat, war nach Platon (Prot. 349 A) Protagoras aus 
Abdera. Nach ApoUodor Ol. 74 (484/0 v. Chr.), wahrschein- 
lieh am Schluß dieser Olympiade, um 480, geboren ^), widmete 
er sich 40 Jahre lang, ganz Hellas durchwandernd, mit 
glänzendem Erfolge seiner Lehrtätigkeit, hielt sich wiederholt, 
auch von Perikles geschätzt, in Athen auf, wurde hier aber 
schließlich des Atheismus angeklagt, mußte Athen verlassen 
und ertrank in seinem 70. Jahre auf der Überfahrt nach 
Sizilien. Von seinen Schriften sind nur wenige Bruchstücke 
übrig*). Gleichzeitig wirkte der Leontiner Gorgias (nach 
dem vermutlichen Ansätze ApoUodors 484/3 v. Chr. geboren) 
zuerst in Sizilien, seit 427 auch in Athen und anderen 
mittelgriechischen Städten als Lehrer; später ließ er sich in 
dem thessalischen Larissa nieder, wo er nach ApoUodor 
109 Jahre alt starb. Seinen Unterricht wollte er in seiner 



^) GoMPBBZ Gr. Denker I 471 setzt seine Geburt um 485 oder noch 
etwas früher. Die Entscheidung über das Geburtsjahr häng^ davon ab, ob 
man Prot.s Verurteilung und Tod in die Zeit der Vierhundert (411) oder vier 
bis fünf Jahre früher fallen läßt. 

*) Gesammelt bei Diels Vors. 11 525 ff. Warum ich die ps.-hippokra- 
tische Schrift n. r^/vrig nicht (mit Gomferz) als ein Werk des Prot, ansehen 
kann, habe ich Phil. d. Gr. I 1055, 8. 1089 angegeben. 



86 Erste Periode. 

späteren Zeit auf die Rhetorik beschränken; indessen kennen 
wir von ihm auch ethische Bestimmungen und skeptische 
Ausführungen, denen er (wahrscheinlich in jüngeren Jahren) 
eine eigene Schrift gewidmet hatte; auch mit Empedokle» 
hatte er aber eine Zeitlang in Verbindung gestanden und 
ihn sich nicht bloß als Redner zum Vorbild gewählt, sondern 
sich, wie es scheint, auch seiner Physik angeschlossen. Etwas^ 
jünger als Protagoras undGorgias sind die beiden Zeitgenossen 
des Sokrates: Prodikos aus Julis auf Keos, welcher sieb 
in dem nahen Athen bedeutenden Ansehens erfreute, und 
Hippias aus EHs, der in Vorträgen und Schriften seine 
mathematischen, physikalischen, historischen und technischen 
Kenntnisse, wie ihm vorgeworfen wird, mit ruhmrediger Ober- 
flächlichkeit auskramte; gleichzeitig scheint der nach Sext^ 
Matth. VII, 53 von Demokrit erwähnte Xeniades aus Korinth 
gelebt zu haben. Von den übrigen Sophisten sind die be- 
kanntesten: Thrasymachos aus Chalkedon, der sich als 
Rhetor hervortat, dessen Charakter aber von Platon un- 
günstig geschildert wird; die Gebrüder Euthydemos und 
Dionysodoros aus Chios , die komischen Helden de& 
platonischen Euthydem; der Rhetor, Tugendlehrer und Dichter 
Euenos aus Paros; der gleichzeitige Antiphon^), die 
Rhetoren aus Gorgias' Schule : Polos, Lykophron, 
Protarchos, Alkidamas. Eritias, der Führer der 
Dreißig, ist, ebenso wie der Kallikles des platonischen 



^) Die Bruchstücke des Sophisten Antiphon sind von Blass (zugleich 
mit denen des gleichnamigen Redners) in 2. Auflage 1881 und von Diel» 
Vors. 11 587 ff. herausgegeben worden. Blass hat in der „Gommentatio de 
Antiphonte sophista Jamblichi auctore" 1889 auch mehrere Abschnitte aus- 
Jambl. Protrept. c. 20 dem Antiphon zugeteilt; wenn er auch keine 
zwingenden Gründe für die Autorschaft gerade dieses Sophisten beigebracht 
hat, so ist doch durch seine Untersuchung erwieseui daß bei Jambl. Brach- 
stücke aus einer ethischen Schrift vorliegen, die alle Kennzeichen der 
älteren Sophistik an sich trägt. In dieselbe Zeit, gegen 400, fallen die gleich- 
falls anonym überlieferten, im dorischen Dialekt geschriebenen sogen. /Iia- 
XQiig (richtiger Jiaaol Xoyoi)^ hrsg. von E. Weber 1897 und Diels Vors.. 
II 635 ff. 



§ 28. Die sophistische Skepsis und Eristik. g7 

Qorgias, yon dem es jedoch nicht feststeht, ob er überhaupt 
eine geschichtliche Person ist, zwar kein Sophist im techni- 
sehen Sinn, aber ein Sophistenschüler. 

§ 28. Die sophistische Skepsis und Eristik. 

Schon Pro tagoras sprach die veränderte Stellung des 
Denkens zu seinem Gegenstand in dem Satze aus: ^aller 
Dinge Mafi sei der Mensch, des Seienden für sein Sein, des 
Nichtseienden für sein Nichtsein"^); d. h. es sei für jeden 
wahr und wirklich, was ihm so erscheint, es gebe aber 
ebendeshalb nur eine subjektive und relative, aber keine 
objektive und allgemeingültige Wahrheit. Zur Begründung 
dieses Satzes berief er sich (nach Platon Theät. 152 B. E. 
166 C. 179 D. Sext. Pyrrh. I, 216 f.), im Anschluß an die 
Lehre Heraklits von dem Fluß aller Dinge und dem Zu- 
sammensein der Gregensätze in demselben Objekte und viel- 
leicht auch an Leukippos' Lehre über die Subjektivität der 
Wahrnehmungen, darauf, daß wegen der fortwährenden Ver- 
änderung der äußeren Eindrücke und der wahrnehmenden 
Subjekte die Dinge verschiedenen Personen und denselben 
Personen in verschiedenen Zuständen verschieden erscheinen, 
daß ihnen daher von den Eigenschaften, die wir an ihnen 
zu bemerken glauben, die einen so wenig beigelegt werden 
können als die anderen^). Gorgias umgekehrt nahm sich 
in seiner Schrift „Über das Nichtseiende oder die Natur"®) 

^) Fr. 1 bei Platon Theat. 152 A. 160 C u. 5. Sext. Matth. VH, 60, 
Dioa. IX, 54 u. a. : nayxtov XQVf^^^tov fiixQov av&QtonoSy tuv fihv ovjtav . 
WS tttrii T(LV (T oux ovTfov WS ovx ^OTi, Der Satz und seine Begründang 
standen in einer Schrift, die wahrscheinlich den Titel Idl/j&Ha rj Kata- 
ß^Xlovres (sc. ioyoi) fahrte. Über den Versuch, den Satz im Sinne des 
Kantischen Kritizismus zu deuten, so daß nicht jeder einzelne Mensch, sondern 
der Mensch als Gattung das Maß der Dinge wäre, s. Phil. d. Gr. I^ 1095 ff., 
über die Zweideutigkeit des ws ebd. 1094, 1. 

2) Nach PhüT, adv. Col. c. 4, bestritt Demokrit den Satz des Prot. : fir^ 
fialXov tlvat lotov rj joiov iwv nqayfjLdjwv exaorov. 

') Deren Inhalt wir durch Sextus Math. VII, 65—87. Ps.-Arist. De 
Melisso etc. c. 5 f. (vgl. Isokr. Hei. 2 f.) kennen. 



88 Erste Periode. 

nicht allein Zenons dialektisches Verfahren zum Vorbild, 
sondern er benutzte auch Sätze des Zenon und Melissos, um 
nicht ohne Scharfsinn zu beweisen, daß 1. nichts sei, 2. das 
Seiende für uns unerkennbar wäre, und 3. das Erkannte 
sich anderen nicht mitteilen ließe. In der Schule des Gorgias 
begegnet uns (vgl. auch S. 112) die Lehre, man dürfe keinem 
Subjekt ein Prädikat beilegen, weil eines nicht vieles sein 
könne. Der Statz des Protagoras liegt sowohl der Behauptung 
des X e n i a d e s zugrunde, daß alle Meinungen der Menschen 
falsch seien, als der scheinbar entgegengesetzten des Eut hy- 
demos: es komme allem alles jederzeit und zugleich zu. 
Wenn ferner der letztere aus eleatischen Voraussetzungen 
folgert, man könnte Nichtseiendes und somit auch Falsches 
weder sagen noch denken, so kommt das gleiche nebst dem 
verwandten Satz, daß man sich nicht widersprechen könne, 
auch bei Protagoras und seinen Anhängern vor. — Noch 
deutlicher aber als diese skeptischen Theorien zeigt das tat- 
sächliche Verhalten der meisten Sophisten, wie tief der Ver- 
zicht auf ein objektives Wissen in dem ganzen Charakter 
dieser Denkweise begründet war. Selbständige Untersuchungen 
aus dem physikalischen Teil der Philosophie sind von keinem 
der Sophisten bekannt, wenn auch einzelne Annahmen der 
Physiker gelegentlich benutzt wurden , und ein Hippias 
seinen Unterricht, ein Antiphon seine Schriftstellerei auch 
auf Mathematik und Naturwissenschaft ausdehnte. Um so 
geläufiger ist ihnen dagegen jene Streitkunst oderEristik, 
welche nicht in der Gewinnung einer wissenschaftlichen Über- 
zeugung, sondern lediglich in der Widerlegung oder Ver- 
wirrung der Mitunterredner ihr Ziel und ihren Triumph sucht. 
„Eristiker" und „Sophist" gelten einem Piaton, Aristoteles, 
Isokrates fast als gleichbedeutende BegriflFe. Schon Prota- 
goras behauptete, man könne jeden Satz mit gleich guten 
Gründen beweisen und widerlegen. Er selbst gab persönlich 
und in Schriften Anleitung zu dieser Kunst, und sein Lands- 
mann Demokrit klagt (Fr. 150) über die „Zänker und Riemen- 
dreher** seiner Zeit. In der Folge finden wir die Theorie 



§ 29. Die sophistische Ethik und Bhetorik. g9 

und die Praxis der Sophisten in gleich trauriger Verfassung. 
Jene bestand nach Arist. Top. IX, 33. 183b 15 darin, daß 
die Lehrer ihre Schüler die gebräuchlichsten Fangschltisse 
auswendig lernen ließen. Diese zeigt uns der platonische 
Euthydem zur leersten Klopffechterei , ja zur förmlichen 
Possenreißerei entartet; und diese Darstellung, welche ihren 
satirischen Charakter nicht verbirgt, bloß für ein Zerrbild 
zu halten, verbietet uns Aristoteles' Abhandlung über die 
Trugschlüsse (Top. IX), die ihre Beispiele offenbar ebenso 
wie die megarische Eristik ihre Vorbilder ganz überwiegend 
von den Sophisten der sokratischen Zeit entlehnt hat. Einem 
Protagoras und Gorgias werden allerdings die Armseligkeiten 
eines Dionysodor und Euthydem nicht beigelegt; aber daß 
diese von jenen in gerader Linie abstammen, läßt sich nicht 
verkennen. Wenn nichtsdestoweniger diese Eristik die meisten 
in Verlegenheit zu bringen, bei vielen Bewunderung hervor- 
zurufen vermochte und noch einem Aristoteles ernsthafter 
Prüfung wert schien, so beweist dies, wie ungeübt das Denken 
damals im allgemeinen noch war, und welchen Anstoß zu 
seiner Schulung selbst die Verirrungen geben konnten, die 
sich schwer vermeiden ließen, als es, mit den Bedingungen 
eines richtigen Verfahrens noch unbekannt, seiner Macht sich 
zum erstenmal in ihrem vollem Umfang bewußt wurde. 

§ 29. Die sophistische Ethik und Ehetorik. 

Wenn es keine allgemein gültige Wahrheit gibt, kann 
es auch kein allgemein gültiges Gesetz geben ; wenn für jeden 
wahr ist, was ihm wahr scheint, muß auch für jeden recht 
sein, was ihm gut dünkt. Diese Folgerung haben die älteren 
Sophisten aus ihren Voraussetzungen noch nicht gezogen ^). 

^) [Protagoras hat aUerdings, wenn man annehmen darf, daß in der 
Verteidigungsrede, die ihm Sokrates bei Plat. Theät. 166 A ff. in den Mund 
legt, eigene Aussprüche des Sophisten benutzt worden sind, den Maßstab 
seines subjektiven Sensualismus auch an die Vorstellungen und Meinungen 
über das Gute und Verwerfliche auf sittlichem und politischem Gebiet ge- 
legt und so das Gutdünken des einzelnen Menschen und der einzelnen Volks- 



90 Brste Periode. 

Wenn sie als Lehrer der Tugend auftraten, verstanden sie 
unter der Tugend im wesentlichen das gleiche, was alle dar- 
unter zu verstehen pflegten. Wie der „Herakles" und andere 
moralische Vorträge des Prodikos ^), so hätten auch die 
Ratschläge, welche H i p p i a s dem Nestor in den Mund legte, 
gewifi nicht diesen Beifall gefunden, wenn sie den sittlichen 
Anschauungen ihrer Zeit widersprochen hätten. Protagoras 
stellt in dem Mythos bei Platon Prot. 320 C flF., den wir im 
wesentlichen als Nachbildung eines von dem Sophisten selbst 
gehaltenen, vielleicht auch veröffentlichten Vortrages betrachten 
dürfen, den Sinn für Recht und Pflicht (dinrj und aiddg) als 
eine Gabe der Götter dar, die allen Menschen verliehen sei ; 
er erkennt also ein natürliches Recht an, das er von dem 
positiven noch nicht, wie Hippias (s. u. S. 91), unterscheidet» 
Gorgias schilderte die Tugend des Mannes, der Frau, des 
Kindes, des Sklaven usf. im Sinn der gewöhnlichen Ansicht 
(Platon Menon 71 D f. Arist. PoHt. I, 13. 1260 a 27), der 
auch Antiphons moralische Fragmente entsprechen. Aber doch 
kommen schon bei den Sophisten der ersten Generation einige 
von den praktischen Konsequenzen ihrer Skepsis zum Vor- 



Gemeinschaft zum Richter über Recht und Unrecht gemacht. Der Kon- 
Sequenz, daß es dann überhaupt keine allgemein gültige sittliche Norm 
geben könne, wußte er sich jedoch in echt sophistischer Weise zu ent- 
ziehen durch die Unterscheidung, zwar nicht zwischen wahren und falschen 
Vorstellungen , aber zwischen solchen , die auf normalem , naturgemäßem,, 
und solchen, die auf einem abnormen, naturwidrigen Zustande beruhen. So 
konnte er dem Erzieher und Staatsmann die Aufgabe zuweisen, an die Stell» 
der schlechteren Vorstellung die bessere zu setzen.] 

^) [Daß Prod. eine Prunkrede über „Herakles^ wirklich zu halten 
pflegte, steht fest, nicht aber, ob er sie yeröffentlicht hat. Die Wiedergabe 
bei Xenophon Mem. II 1, 21 ff. ist sicher keine wörtliche. — Die Ansicht 
Welckers (Kl. Sehr. II 393 ff.) , der sich Zeller auch noch in der 5. Aufl.. 
d. Phil. d. Gr. I 1123 f. angeschlossen hat, daß die dem Prod. im Axiocho» 
p. 366 B ff. und im Eryzias p. 397 G ff. in den Mund gelegten Ausführungen 
über den Reichtum und über die Übel des Lebens imd den Tod authentisch 
seien, läßt sich nach den Forschungen von Feddersem Über Axioch. 1895^ 
V. WiLAMOwnz (Gott. Gel. Anz. 1896) u. a. nicht mehr aufrechterhalten ; 
s. DiELS Vors. n 572 f.] 



§ 29. Die sophistische Ethik und Rhetorik. 91 

schein. Protagoras erregte mit Recht Anstoß, als er durch 
das Versprechen, die schwächere Sache zur stärkeren zu 
machen (tov tJztu} loyov xgeizTco noielv), seine Rhetorik gerade 
von der Seite ihres möglichen Mißbrauchs empfahl; und 
Hippias stellt (Xen. Mem. IV, 14 fF. Platon Prot. 337 C) 
den Nomos zur Physis in einen Gegensatz, welcher später 
einen von den leitenden Gedanken der sophistischen Lebens- 
kunst bildet. Einem Thrasymachos, Polos und Kai- 
likles legt Platon die Ansicht in den Mund, deren weite 
Verbreitung in den sophistischen Kreisen auch Aristoteles 
(Top. IX, 12. 173a 7) bestätigt: das natürliche Recht sei 
lediglich das Recht des Stärkeren, alle positiven Gesetze 
willkürliche Satzungen, welche die jeweiligen Machthaber in 
ihrem eigenen Interesse aufstellen; wenn die Gerechtigkeit 
allgemein gelobt werde, rühre dies nur daher, daß die Masse 
der Menschen sie für sich vorteilhaft finde, wer dagegen die 
Kraft in sich fühle, sich über die Gesetze hinwegzusetzen, der 
habe dazu auch das Recht. Hippias bezweifelt die Natur- 
widrigkeit der Ehe zwischen Eltern und Kindern ; Lobredner 
der Weibergemeinschaft scheint es in sophistischen Kreisen 
schon im 5. Jahrhundert gegeben zu haben. Daß aber aller- 
dings die Unterscheidung von Gesetz und Natur auch zur 
Befreiung von nationalen Vorurteilen benutzt werden konnte, 
zeigen die auf sie gegründeten Angriffe gegen die Natur- 
gemäßheit der Sklaverei, deren Arist. Pol. I, 3. 6 erwähnt. 
Zu den menschlichen Satzungen gehörten nun auch der 
Götterglaube und die Götterverehrung, wie dies schon die 
Verschiedenheit der Religionen zu beweisen schien. „Von den 
Göttern", schrieb Protagoras, ^weiß ich nicht, weder daß 
sie sind, noch daß sie nicht sind, noch wie sie gestaltet sind.'' 
Prodi kos sah in den Göttern Personifikationen der Himmels- 
körper, der Elemente, der Früchte der Erde, überhaupt der 
für den Menschen nützlichen Dinge. In dem „Sisjphos*' des 
Kritias wurde der Götterglaube als die Erfindung eines 
Politikers dargestellt, der durch diesen Glauben von Ver- 
brechen abschrecken wollte. 



92 Erste Periode. 

Je Yollständiger sich aber der menschliche Wille von den 
Schranken befreite, die Glaube, Herkommen und Gesetz ihm 
bis dahin gezogen hatten, um so höher stieg der Wert der 
Mittel; durch welche man diesen allmächtigen Willen selbst 
für sich gewinnen und sich Untertan machen konnte; und 
diese alle faßten sich für die Sophisten in der Kunst der Rede 
zusammen, deren Macht unter den damaligen Verhältnissen ja 
wirklich eine ganz außerordentliche war, und von solchen, die 
dieser Kunst ihren ganzen Einfluß zu verdanken hatten, nun 
vollends überschätzt wurde. So ist denn auch von der großen 
Mehrzahl der Sophisten ausdrücklich überliefert, daß sie als 
Lehrer der Beredsamkeit auftraten, Anleitungen zu ihr verfaßten, 
Musterreden vortrugen und schrieben und von ihren Schülern 
sogar auswendig lernen ließen. Der ganze Charakter des 
sophistischen Unterrichts brachte es mit sich, daß dabei auf 
die technischen Mittel der Sprache und der Darstellung ein 
größeres Gewicht gelegt wurde als auf die logische und sach- 
liche Richtigkeit des Inhalts. Die Reden der Sophisten waren 
Schaustücke, die in erster Reihe durch eine geschickte Wahl 
ihres Themas, durch überraschende Wendungen, Fülle des Aus- 
drucks, gewählte, zierliche und blühende Sprache zu gefallen 
suchten. Gorgias vor allem verdankte diesen Eigenschaften 
den glänzenden Erfolg seiner Reden, die einem gereifteren 
Geschmack freilich, auch schon im Altertum, vielfach geziert 
und frostig erschienen. Doch haben sich manche von diesen 
sophistischen Rhetoren, wie namentlich Thrasymachos, 
um die Ausbildung der Redekunst und ihrer Technik wirk- 
liche Verdienste erworben ; und von ihnen sind auch die ersten 
sprachwissenschaftlichen Untersuchungen ausgegangen. Prota- 
goras unterschied, wohl zuerst, die drei. Geschlechter der 
Hauptwörter, die Zeiten der Zeitwörter und die Arten der 
Sätze; Hippias gab Regeln über Silbenmaß und Wohlklang, 
und Prodikos hat durch jene Unterscheidung sinnverwandter 
Wörter, der er freilich einen übermäßigen Wert beilegte, zu 
lexikalischen Untersuchungen und zur Ausbildung einer wissen- 
schaftlichen Terminologie einen Anstoß gegeben. 



Zweite Periode. 

Sokrates, Platon, Aristoteles. 

§ 30. Einleitung. 

Die Aufklärung der sophistischen Periode mußte in 
doppelter Beziehung auf das wissenschaftliche Leben zurück- 
wirken. Einerseits hatte das Denken im Gefühl seiner Macht 
allen Autoritäten den Gehorsam gekündigt •, es hatte sich ihm 
in den erkenntnistheoretischen und ethischen Fragen ein 
neues, bis dahin erst beiläufig berührtes üntersuchungsgebiet 
eröffnet, und es hatte durch die sophistische Dialektik eine 
vielseitige Übung gewonnen. Andererseits hatten aber die 
eigenen ErörteruDgen der Sophisten nur dazu geführt, auf 
eine wissenschaftliche Begründung der Ethik ebenso vollständig 
zu verzichten wie auf eine wissenschaftliche Weltkenntnis, 
mit dem Glauben an das menschliche Erkenntnisvermögen 
auch das Streben nach Erkenntnis der Wahrheit aufzugeben ; 
und da sie nun mit der unbedingten Geltung der mensch- 
lichen und göttlichen Gesetze die bisherige Grundlage der sitt- 
lichen Überzeugungen gleichfalls aufgegeben hatten, drohte 
mit dem wissenschaftlichen auch das sittliche und staatliche 
Leben des griechischen Volkes seinen Halt zu verlieren. In 
Wahrheit war dies nun freilich noch nicht zu befürchten. 
Gerade die sittlichen und die religiösen Anschauungen dieses 
Volkes hatten seit dem Anfang des 5. Jahrhunderts durch die 
Dichter und Schriftsteller dieser Zeit eine solche Läuterung 
und Bereicherung erfahren, die Fragen, welche für das mensch- 



94 Zweite Peiiode. 

liehe Leben von der höchsten Wichtigkeit sind, waren so 
vielseitig, wenn auch nicht in wissenschaftlicher Form, er- 
örtert worden, da6 es nur einer tieferen Besinnung des grie- 
chischen Geistes über sich selbst und seinen tatsächlich ge- 
wonnenen Inhalt bedurfte, um zu einer neuen und haltbareren 
Begründung der sittlichen Tätigkeit zu gelangen. Aber diese 
Selbstbesinnung konnte nur das Werk einer Wissenschaft 
sein, welche von den Zweifeln nicht getroflfen wurde, die das 
Vertrauen auf die bisherige Wissenschaft zerstört hatten, 
welche im Gegensatz zu dem Dogmatismus der letzteren von 
festen Grundsätzen über die Aufgabe und die Bedingungen 
des Erkennens ausging, im Gegensatz zu dem Sensualismus, 
von dem sich die Physiker nicht wirklich zu befreien ver- 
mocht hatten , das über die unmittelbare Wahrnehmung 
hinausgehende, nur im Denken erfaßbare Wesen der Dinge 
als den eigentlichen- Gegenstand des Wissens erkannte. Diese 
neue Form des wissenschaftlichen Lebens hat Sokrates durch 
die Forderung des begrifflichen Erkennens, die Anleitung zur 
dialektischen Begriffsbildung und die Anwendung dieses Ver- 
fahrens auf die ethischen und die mit ihnen zusammenhängen- 
den religiösen Fragen begründet. In den kleineren sokrati- 
schen Schulen wurden einzelne Elemente seiner Philosophie 
einseitig festgehalten und ebenso einseitig mit älteren Lehren 
verknüpft. Mit tieferem und umfassenderem Verständnis 
führte Piaton das Werk seines Lehrers fort. Indem er die 
sokratische Begriffsphilosophie, durch alle verwandten Ele- 
mente der vorsokratischen Lehren ergänzt, zu ihren meta- 
physischen Konsequenzen entwickelte und alle Dinge aus 
diesem Standpunkt betrachtete, schuf er ein großes System 
von idealistischer Haltung, dessen Schwerpunkt einerseits in 
der Anschauung der Ideen, andererseits in den Untersuchungen 
über das Wesen und die Aufgabe des Menschen lag. Aristo- 
teles ergänzte dieses System durch die eindringendste Natur- 
forschung; er bestritt die dualistische Schroffheit des platoni- 
schen Idealismus; aber an seinen Grundgedanken hielt auch 
er fest, und gerade indem er sie so weit umbildete, daß 



I. Sokrates. § 31. Sein Leben und seine Persönlichkeit. 95 

«le geeignet erschienen, die Gesamtheit des Wirklichen in sich 
aufzunehmen, brachte er die sokratische Begriffsphilosophie 
zu ihrer systematischen Vollendung. 

I. Sokrates^). 

§ 31. Sein Leben und seine Persönlichkeit. 

Sokrates war (angeblich am 6. Thargelion) 470 v. Chr. 
oder spätestens in den ersten Monaten des folgenden Jahres 
geboren^). Sein Vater Sophroniskos war Bildhauer, seine 
Mutter Phänarete Hebamme. Seine Jugendbildung scheint 
nicht über das landesübliche Maß hinausgegangen zu sein; 
Anaxagoras wird ihm nur von Späteren, auch Archelaos 
noch nicht von seinem Zeitgenossen, dem Dichter Ion, sondern 
erst von Aristoxenos, zum Lehrer gegeben (DiOG. II, 19. 23. 
45 u. a.); gegen beide Annahmen spricht das vollkommene 
Schweigen Platons und Xenophons, und die Äußerungen, 
welche jener Phädon 97Bff., Kriton 52 B, Apol. 26 D f., 
dieser Mem. IV, 7, 6 f. Symp. I, 1, 5 ihm in den Mund legt. 



*) Über die ihn betreffende monographische Literatur vgl. Phil. d. Gr. 
n a, 44 ff., über das später Erschienene Arch. f. Gesch. d. Phil. VII 97 ff., 
IX 519 ff., X 557 ff., XIII 272 ff. Von neueren Erscheinungen sind zu er- 
wähnen : JoEL Der echte und der xenophontische Sokr. Bd; I 1893, Bd. II, 
1. u. 2. Hälfte, 1901, Döring Die Lehre d. Sokr. als soziales Reformsystem 
1895, Ppleidfeek Sokr., Piaton u. ihre Schüler 1896, Kralik Sokr. nach 
d. Überlieferungen seiner Schule 1899, Gomperz Griech. Denker II (1901) 
S. 36 ff 

2) Wie dies aus den Angaben einerseits über die Zeit seines Todes 
und seiner Verurteilung (b. Diog. II, 44. Diodor XIV, 37, 6. Xenoph. 
Mem.* IV, 8, 2. Platon Phädon 59 D), andererseits über sein damaliges 
Alter (Platon Apol. 17 D. Kriton 52 E), hervorgeht. [Da die Delien nicht, 
wie man früher annahm, in den Thargelion (Mai — ^Juni), sondern in den 
Anthesterion (Februar — ^März) fielen (s. Robert Hermes 1886 S. 161 ff. und 
Frachter Herm. 1904 S. 473 ff.), die Verteidigungsrede also um die Mitte 
Februar gehalten wurde, so war Sokrates, der damals mindestens 70 Jahre 
s\t war, spätetens am Anfange des Jahres 469, wahrscheinlich aber schon 
470 oder 471 geboren.] 



96 Zweite Periode. 

Wenn er daher seine Kenntnisse später auch aus Büchern 
zu erweitem bemüht war, mit Sophisten verkehrte und ein- 
zelne ihrer Vorträge besuchte, so hatte er doch für seine 
Philosophie nächst seinem eigenen Nachdenken ohne Zweifel 
den Bildungsmitteln, welche das damalige Athen jedem dar- 
bot, und dem Umgang mit bedeutenden Männern und Frauen 
mehr zu verdanken als der direkten wissenschaftlichen Be- 
lehrung. Die Kunst seines Vaters scheint er erlernt zu haben ; 
aber seinen höheren Beruf ließ ihn die Stimme seines Innern, 
die ihm selbst als göttliche Stimme erschien (PLAT0NApol.33C), 
und die später vom delphischen Orakel bestätigt wurde, in 
der bildenden Einwirkung auf andere erkennen : Aristophanes 
zeigt ihn schon 424 v. Chr., Piaton vor dem Anfang des 
peloponnesischen Krieges in dieser Tätigkeit, der er sich bis 
zu seinem Ende unter den ärmlichsten Verhältnissen, an der 
Seite einer Xanthippe, mit vollendeter Selbstentäußerung ohne 
jede Belohnung widmete, und von der er sich weder durch 
die Sorge für seine Familie noch durch die Teilnahme an 
den öffentlichen Angelegenheiten abziehen ließ. Ein Muster 
von Bedürfnislosigkeit, Sittenreinheit, Rechtschaffenheit und 
Frömmigkeit, dabei voll echter Menschenfreundlichkeit, ein 
liebenswürdiger Gesellschafter, fein und geistreich, von un- 
zerstörbarer Heiterkeit und Gemütsruhe, war er für Menschen 
des verschiedensten Standes und Charakters Gegenstand einer 
begeisterten Verehrung. Ein Sohn seines Volkes, erfüllte er 
nicht allein seine Bürgerpflicht im Frieden wie im Felde un- 
erschrocken und fest auf jede Gefahr hin, sondern er ver- 
leugnete auch in seinem ganzen Wesen und Benehmen wie 
in seinen Ansichten nicht den Griechen und Athener. Zu- 
gleich begegnen uns aber in seiner Erscheinung auch Züge, 
welche schon seinen Zeitgenossen den Eindruck des Seltsamen 
und Fremdartigen, einer nie dagewesenen „Atopie^ machten: 
einerseits eine Prosa, eine Verstandespedanterie, eine Gleich- 
gültigkeit gegen die äußere Erscheinung, welche zwar mit 
der Silenengestalt des Philosophen übereinstimmt, aber mit 
der Empfindlichkeit des attischen Geschmacks auffallend kon- 



§ 32. Die Philosophie des Sokrates: Quellen, Prinzip, Methode. 97 

trastiert; andrerseits eine Vertiefung in die eigenen Qedanken, 
welche zeitweise den Eindruck der Geistesabwesenheit machte, 
und eine Gewalt der Empfindung, die so weit ging, daß ihm 
das unklare Gefühl, welches ihn schon in jüngeren Jahren 
nicht selten von irgendeinem Schritte zurückhielt, gerade als 
ein dämonisches Zeichen, ein ihm verliehenes inneres Orakel 
erschien ; wie er ja auch im Traume Weissagungen zu erhalten 
glaubte. Der letzte Grund aller dieser Züge liegt aber in der 
Energie, mit der sich Sokrates von der Außenwelt auf sich 
selbst zurückzieht, um sein Interesse ungeteilt den ^us der 
geistigen Natur des Menschen sich ergebenden Aufgaben 
zuzuwenden. Den gleichen Charakter trägt auch seine 
Philosophie. 

§ 32. Die Philosophie des Sokrates: Quellen, 
Prinzip, Methode. 

Da Sokrates keine Schriften hinterlassen hat, sind die 
seiner Schüler, für uns die xenophontischen und platonischen, 
die einzige authentische Quelle zur Kenntnis seiner Lehre. 
Von den Späteren kann nur Aristoteles in Betracht kommen, 
dessen kurze und präzise Mitteilungen über Sokrates für uns 
wertvoll sind, aber nichts enthalten, was sich nicht bei Piaton 
oder Xenophon fände. Nun liefern aber diese beiden ein 
wesentlich verschiedenes Bild der sokratischen Philosophie; 
und wenn Piaton seinem Lehrer seine eigenen Ansichten 
ohne Abzug in den Mund legt, so fragt es sich bei dem un- 
philosophischen Xenophon, ob er uns in seinen, zunächst 
einem apologetischen Zweck dienenden Denkwürdigkeiten 
auch nur die sokratischen unverkürzt und ihrem wahren 
Sinne nach wiedergibt, und ob er die Aufgabe der geschicht- 
lichen Berichterstattung streng genug gefaßt hat, um nicht 
ebenfalls manches Eigene in die sokratischen Reden ein- 
zumischen. Ist aber dieses Bedenken auch nicht ohne Grund, 
so berechtigt es uns doch nicht, die Treue der xenophonti- 
schen Darstellung in dem Maße zu verdächtigen, wie dies 

Zeller, GrundriA. 7 



98 Zweite Periode. 

nach dem Vorgang von DissEN ^) und Schleiermacher *) auch 
neuerdings vielfach und oft weit über jene hinausgehend*) 
geschehen ist. Es zeigt sich vielmehr, daß Xenophons An- 
gaben mit denjenigen Aussagen Piatons, welche ein geschicht- 
liches Gepräge tragen*), in allem Wesentlichen übereinkommen, 
und daß sich aus seinen Berichten über die Lehre und Lehr- 
weise des Sokrates, wenn man von dem durch jene Überein- 
stimmung Gesicherten ausgeht und mit Hilfe des Piaton und 
Aristoteles in die philosophische Bedeutung der sokratischen 
Sätze eindringt, wenigstens bei den Hauptpunkten ein in sich 
einstimmiges und der geschichtlichen Stellung und Bedeutung 
des Philosophen entsprechendes Bild gewinnen läßt. — 
Sokrates legt wie die Sophisten der naturwissenschaftlichen 
Forschung keinen Wert bei und will die Philosophie auf 
die Fragen beschränkt wissen, die das Wohl des Menschen 
betreflPen. Er verlangt mit ihnen, daß sich jeder unabhängig 
von Herkommen und Überlieferung seine Überzeugung durch 



^) De philosophia morali in Xenoph. de Socr. comment. tradita. 
Gott. 1812. (D.s Kl. Schriften S. 57 ff.) 

2) Über den Wert des Sokr. als Philosophen (1818). W.W. lU, 2, 
293 ff. 

*) Am weitesten geht Joel (s. S. 95 Anm. 1), nach dem Xenophon in 
den Memorabilien eine fast durchweg von Antisthenes abhängige und da- 
her stark kynisch gefärbte Darstellung gibt und den echten Sokr., der ein 
reiner Elenktiker gewesen sei, zum Protreptiker umstempelt. 

*) [Es sind dies die Apologie, der Kriton und die andern der „sokra- 
tischen" Periode Piatons (s. S. 126) angehörenden Dialoge. Die Apologie 
ist, wie schon früher von Georgii (dagegen Phil, d^ Gr. II 1*, 196 f.), so 
neuerdings von Joel I 450 ff., Schanz Ausg. d. Apologie 1893 S. 68 ff. und 
PöHLMANN Sokrat. Studien (1906) als eine freie Schöpfung Piatons hingestellt 
worden, die mit der wirklichen Verteidigungsrede nicht nur der Form, 
sondern auch dem Inhalte nach nicht zusammenfällt und von dem wahren 
Wesen des Sokr. kein geschichtlich treues Bild gibt. Diese Auffassung 
erregt trotz ihrer scharfsinnigen Begründung ebenso wie die in der vorigen 
Anmerkung angeführte Ansicht über Xenophons Mem. gewichtige Bedenken. 
Zuzugeben ist jedoch, daß Piaton in der Apologie (und wohl auch im Kriton) 
seinen Meister unwillkürlich idealisiert, während Xen. seine echte Frömmig- 
keit veräußerlicht und vergröbert.] 



§ 32. Die Philosophie des Sokrates: Quellen, Prinzip, Methode. QQ 

eigenes Nachdenken frei bilde. Aber wenn jene eine objek- 
tive Wahrheit und allgemein gültige Gesetze leugneten, ist 
er umgekehrt überzeugt, daß der Wert unsrer Vorstellungen, 
die Berechtigung unsers Tuns ganz und gar von ihrer Über- 
einstimmung mit dem abhänge, was an sich selbst wahr und 
recht ist. Will er sich daher auch auf praktische Fragen 
beschränken, so macht er doch die Richtigkeit des Handelns 
selbst von der des Denkens abhängig. Sein leitender Gedanke 
ist die Reform des sittlichen* Lebens durch wahres Wissen; 
das Erkennen soll dem Handeln nicht dienen, sondern es be- 
herrschen und ihm seine Ziele bestimmen, und das Bedürfnis 
des Erkennens ist in dem Philosophen so stark, daß er auch 
nach Xenophons Darstellung die selbstgezogene Grenze fort- 
während überschreitet. Die Grundfrage ist daher für Sokrates 
die Frage nach den Bedingungen des Wissens, und diese 
Frage beantwortet er mit dem Satze: daß man über keinen 
Gegenstand etwas aussagen könne, solange man nicht seinen 
Begriff, sein allgemeines, sich gleich bleibendes Wesen kennt, 
daß daher alles Wissen von der Feststellung der Begriffe aus- 
gehen müsse. Hieraus ergibt sich nun ftlr den Philosophen 
die Forderung, zunächst seine eigenen Vorstellungen darauf 
zu untersuchen, ob sie dieser Idee des Wissens entsprechen, 
die Forderung jener Selbstprüfung und Selbsterkenntnis 
die nach ihm der Anfang alles wahren Wissens und die Be- 
dingung alles richtigen Handelns ist. Weil ihm aber jene 
neue Idee des Wissens zwar als Forderung aufgegangen, aber 
noch nicht in einem wissenschaftlichen System verwirklicht 
ist, kann seine Selbstprüfung nur mit dem Bekenntnis seines 
Nichtwissens endigen. Allein der Glaube an die Möglichkeit 
und die Überzeugung von der Notwendigkeit des Wissens 
ist in ihm viel zu kräftig, um ihn beim Bewußtsein des Nichts* 
Wissens stehen bleiben zu lassen. Aus diesem Bewußtsein 
geht vielmehr nur um so energischer das Suchen des Wissens 
hervor, und dieses nimmt hier die Form an, daß sich der 
Philosoph an andre wendet, um sich das Wissen, das ihm 
selbst fehlt, mit ihrer Hilfe zu erwerben, die Form des ge- 



100 Zweite Periode. 

meinsameii) dialogischeD Forschens. Sofern nun diese andern 
schon ein Wissen irgendeiner Art zu besitzen glauben, hat 
er zu untersuchen, wie es mit diesem vermeintlichen Wissen 
bestellt ist, seine Tätigkeit besteht in der Menschen- 
prüfung, dem i^erdKeiv eavrdv xat Tovg allovQy worin er 
in der platonischen Apologie (28 E. 38 A), der Mäeutik, worin 
er im Theätet (149 ff.) seinen Beruf sieht; da aber den von 
ihm Geprüften selbst die wahre Idee des Wissens abgeht^ 
kann die Prüfung nur zu dem- Nachweis ihrer Unwissenheit 
führen, und es erscheint als bloße Ironie, daß sich Sokrates 
von ihnen Belehrung erbat. Sofern ihn andrerseits die Mit- 
unterredner beim Suchen des Wissens zu begleiten, sich auf 
dem von ihm entdeckten Weg seiner Führung zu überlassen 
versprechen, wie dies vorzugsweise bei der Jugend der Fall 
ist, sind sie für ihn der Gegenstand jener Zuneigung, welche 
jeden von seiner Natur zum Lehrer und Erzieher bestimmten 
Mann zu denen hinzieht, die seiner Einwirkung Empfänglich- 
keit entgegenbringen: der Philosoph ist (nach griechischer 
Anschauung) Erotiker, aber sein Eros gilt nicht der Schön- 
heit des Leibes, sondern der der Seele. — Den Mittelpunkt 
der Untersuchungen, die Sokrates mit seinen Freunden an- 
stellt, bildet immer die Bestimmung der Begriffe, und der 
Weg, auf dem diese gesucht wird, ist das dialektisch-induk- 
tive Verfahren ^). Ihren Ausgangspunkt nimmt diese Induktion 
nicht von einer genauen und erschöpfenden Beobachtung^ 
sondern von den bekanntesten Erfahrungen aus dem täglichen 
Leben, den allgemein anerkannten Sätzen; aber indem der 
Philosoph jeden Gegenstand von allen Seiten betrachtet, jede 
Bestimmung an den entgegenstehenden Instanzen prüft, immer 
neue Fälle herbeibringt, nötigt er das Denken, solche Begriffe 
zu bilden, die sich mit dem ganzen Tatbestand decken und 
alle wesentlichen Merkmale des Objekts in widerspruchsloser 



1) Ar£8t. Metaph. XIII, 4. 1087 b 27 : ovo yag lariv « Tis av ano^oirf 
JStoxQaTH öueaiws, rovg r* (naxrixovg koyovs xui ro oQl^^ü&ai xad-oXov» 
Ebd. I, 6. 987 b 1. part an. I, 1, 642 a 28 u. a. St. 



§ 33. Der Inhalt der sokratischen Lehre. 101 

Weise verknüpfen. In den Begriffen liegt für Sokrates der 
Maßstab der Wahrheit *), und so verschieden die Wendungen 
sind, deren er sich bald zur Widerlegung fremder Meinungen, 
bald zum Erweis seiner eigenen Ansichten bedient, so ftlhren 
sie doch immer darauf zurück, daß von jedem Ding nur das 
ausgesagt werden soll, was seinem richtig gefaßten Begriff 
entspricht. Eine logische oder methodologische Theorie hat 
aber Sokrates, abgesehen von dem allgemeinen Prinzip des 
begrifflichen Wissens, nicht aufgestellt. 

§ 33. Der Inhalt der sokratischen Lehre. 

Im Gegensatz zu den Physikern wollte sich Sokrates auf 
ethische Untersuchungen beschränken ; denn nur diese hätten 
für den Menschen einen Wert, und nur ihnen sei sein Er- 
kenntnisvermögen gewachsen ; die naturphilosophische Spekula- 
tion dagegen sei nicht bloß unfruchtbar, sondern auch aus- 
sichtslos, ja vermessen, wie dies die Uneinigkeit ihrer Wort- 
führer und die offenbaren Ungereimtheiten bewiesen, zu denen 
sie selbst einen Anaxagoras geführt habe (Xen. Mem. I, 1, 
11 ff., IV, 7, 6). Dieser Angabe mit Schleiermacher u. a. zu 
mißtrauen oder sie mit einigen Neueren auf die späteren 
Jahre des Philosophen zu beschränken, haben wir um so 
weniger Anlaß, da Aristoteles (Metaph. I, 6. 987 b 1. XIII, 
4. 1078 b. 17. part. an. I, 1, 642 a 28) sie bestätigt und Sokrates' 
ganzes Verhalten damit übereinstimmt; während das Zerrbild 
in den „Wolken" nicht das geringste gegen sie beweist. Der 
Mittelpunkt der sokratischen Ethik liegt nun, der Grund- 
richtung ihres Urhebers entsprechend, in der Zurückführung 
der Tugend aufs Wissen. Es ist nach Sokrates nicht bloß 
unmöglich, das Rechte zu tun, wenn man es nicht kennt, 
sondern auch, es nicht zu tun, wenn man es kennt. Denn 
da das Gute nichts andres ist als das, was dem Handelnden 



*) Xenoph. Mem. IV, 6, 13: €i J^ r^g avrtp thqC tov avnXiyoi, . . . 
knl rriv vnox^sniv (die allgemeine Voraussetzung, von der die Entscheidung 
auszugehen hat) fnctvrjyev av nccvra tov Xoyov, 



102 Zweite Periode. 

isum Besten dient, jeder aber sein eigenes Wohl wünscht, so 
ist es, wie Sokrates glaubt, undenkbar, daß jemand etwas 
andres tue als das, was er für gut hält: niemand ist frei* 
willig böse. Um daher die Menschen tugendhaft zu machen, 
ist nur erforderlich, dafi man sie darüber aufklärt, was gut 
ist: die Tugend entsteht durch Belehrung, und alle Tugenden 
bestehen in einem Wissen: tapfer ist, wer weiß, wie man 
sich in Gefahr zu verhalten hat; fromm, wer weiß, was den 
Göttern, gerecht, wer weiß, was den Menschen gegenüber 
recht ist usw. Alle Tugenden kommen daher auf eine, auf 
das Wissen oder die Weisheit, zurück. Zu dieser aber sind 
alle Menschen gleich sehr bestimmt: alle Menschenklassen 
haben die gleiche sittliche Aufgabe und Anlage; auch zwischen 
den Frauen und den Männern ist in dieser Beziehung kein 
wesentlicher Unterschied. — Was nun aber das Gute ist^ 
dessen Kenntnis tugendhaft macht, ist für Sokrates um so 
schwerer zu sagen, da es seiner Ethik an einem anthro- 
pologischen und metaphysischen Unterbau fehlt. Er erklärt 
daher einerseits (Xen. Mem. IV, 4, 6), gerecht sei, was den 
Gesetzen des Staates und den ungeschriebenen Gesetzen der 
Götter entspricht; andrerseits aber — und dies ist das Ge- 
wöhnlichere und Konsequentere — bemüht er sich, den 
Grund der sittlichen Gesetze in dem Erfolg der Handlungen,, 
die ihnen entsprechen, in ihrem Nutzen für den Menschen 
aufzuzeigen. Denn gut ist, wie er sagt (Xen. Mem. III, 8. 
9, 4. IV, 6, 8. Platon Prot. 343 D. 353 C ff. u. a. St. s. o.), 
was dem Menschen nützlich ist; gut und schön sind daher 
relative Begriffe: jedes ist gut und schön für das, wofür es 
nützlich und brauchbar ist Als unbedingt nützlich und vor 
allem andern nötig bezeichnet nun Sokrates allerdings nicht 
bloß bei Platon (schon Apol. 29 D f. Kriton 47 D f.), sondern 
auch bei Xenophon (Mem. I, 6, 9. IV, 8, 6. 2, 9. 5, 6) die 
Sorge für die Seele und ihre Vervollkommnung; aber seine 
unsystematische Behandlung der ethischen Fragen erlaubt ihm 
nicht, diesen Gesichtspunkt streng durchzuführen, und so 
tritt dieser tiefergehenden Zweckbestimmung wenigstens bei 



§ 33. Der Inhalt der sokratischen Lehre.' 103 

Xenophon sehr häufig eine eudämonistische Ableitung der 
sittlichen Anforderungen gegenüber, welche diese Anforde- 
rungen mit der Rücksicht auf die Folgen begründet, die ihre 
Erfüllung oder Verletzung für unser äußeres Wohl hat. Ihrem 
Inhalt nach zeigt sich die sokratische Moral freilich, auch 
wo ihre wissenschaftliche Begründung eine ungenügende ist, 
sehr edel und rein. Ohne einen asketischen Zug an sich zu 
haben, dringt Sokrates doch mit allem Nachdruck darauf, 
daß man sich durch Bedürfnislosigkeit, Mäßigkeit und Ab- 
härtung unabhängig mache, daß man auf die Ausbildung des 
Geistes höheren Wert lege als auf alle äußeren Güter. Er 
verlangt Rechtschaffenheit und werktätiges Wohlwollen gegen 
andre, preist die Freundschaft, verurteilt die Auswüchse der 
Enabenliebe unumwunden; wogegen sich seine Auffassung 
der Ehe nicht über die bei den Griechen herkömmliche er- 
hebt. Er erkennt die Bedeutung des Staatslebens in vollem 
Maße an ; er betrachtet es als Pflicht, sich nach Kräften daran 
zu beteiligen ; er bemüht sich, dem Staat tüchtige Bürger und 
Beamte zu bilden; er fordert jenen unbedingten Gehorsam 
gegen die Gesetze, den er selbst bis zum Tode bewährt hat. 
Da aber bloß das Wissen zum richtigen Handeln befähigt, 
gesteht er nur den Sachverständigen das Recht zur politischen 
Tätigkeit zu, er will sie allein als Herrscher anerkennen; da- 
gegen findet er die Besetzung der Ämter durch Wahl oder 
Los verkehrt und die Herrschaft der Masse verderblich; 
während er andrerseits der griechischen Verachtung der 
Handarbeit und des Gewerbes vorurteilsfrei entgegentritt 
Ein Bekenntnis zum Eosmopolitismus wird ihm (von CiC. Tusc. 
V, 37, 108 u. a.) gewiß mit Unrecht in den Mund gelegt; 
den Grundsatz, daß man auch den Feinden kein Übel zu- 
fügen dürfe, weil jedes yLayLOVQyeiv ein adirLBiv sei, schreibt 
ihm Platon (Kriton 48 Äff. Rep. I, 334 B ff.) im Widerspruch 
mit Xen. Mem. H, 6, 35 zu. 

Zu den wesentlichsten Pflichten rechnet nun Sokrates 
die gegen die Götter, und seine ganze Moral kann diesen 
Stützpunkt um so weniger entbehren, da er gerade wegen 



104 Zweite Periode. 

seiner Beschränkung auf die Ethik nicht die Mittel hat, den 
Zusammenhang zwischen den Handlungen und ihren Folgen, 
auf den die sittlichen Gesetze gegründet werden, als einen 
naturnotwendigen nachzuweisen, und da ihm deshalb diese 
Gesetze in herkömmlicher Weise als 'die ,, ungeschriebenen 
Satzungen der Götter" (Mem. IV, 4, 19 s. o.) erscheinen. 
Aber bei dem bloßen Glauben kann sich der Denker, dessen 
erster Grundsatz es ist, alles zu prüfen, auch nicht beruhigen : 
er muß sich von den Gründen des Glaubens Rechenschaft 
ablegen; und indem er dies versucht, wird er trotz seiner 
grundsätzlichen Abwendung von aller bloß theoretischen 
Spekulation fast wider Willen der Urheber einer Natur- 
ansicht und einer Theologie, welche bis auf den heutigen 
Tag einen maßgebenden Einfluß geübt hat. Sein leitender 
Gedanke ist aber hierbei der gleiche wie in der Ethik. Wie 
der Mensch sein Leben dann richtig einrichtet, wenn er alle 
seine Handlungen auf sein wahres Wohl als letzten Zweck 
bezieht, so sieht Sokrates die ganze Welt darauf an, wie sie 
sich zu diesem Zweck verhalte; er findet (Mem. I, 4, IV, 3*), 
daß alles in ihr, das Kleinste wie das Größte, dem Menschen 
zum Vorteil gereiche; und wenn er dies meistens mit einer 
sehr äußerlichen und unwissenschaftlichen Teleologie ausführt, 
unterläßt er doch nicht, die geistigen Anlagen und Vorzüge 
des Menschen als das höchste von den Gütern zu bezeichnen, 
welche die Natur ihm geschenkt hat. Diese Einrichtung der 
Welt kann nur von der Weisheit und Güte der weltbildenden 
Vernunft herstammen, und die letztere können wir nur bei 
den Göttern suchen. Bei den Göttern denkt nun Sokrates 
zunächst an die seines Volkes; aber die Vielheit der Götter 
geht ihm, wie den großen Dichtern des 5. Jahrhunderts, auch 
wieder zur Einheit zusammen, und Mem. IV, 3, 13 unter- 



*) Diese beiden Kapitel mit Krohn, Schenkl u. a. für eine stoische 
Interpolation zu galten, haben wir keinen hinreichenden Grund (s. Phil, 
d. Gr. II 1 S. 175 f.). Noch unwahrscheinlicher ist die Annahme Joels 
(s. S. 98 Anm. 3), daß Xenophon, durch kynische Einflüsse bestimmt, dem 
Sokr. eine teleologische Welterklärung in den Mund lege. 



§ 34. Das Ende des Sokrates. 105 

scheidet er von den anderen Gottheiten den Bildner und Be- 
herrscher des Weltganzen, den er sich (I, 4, 9. 17 f.) nach 
Analogie der menschlichen Seele als den der Welt inne- 
wohnenden Geist (Novg) denkt, über dessen Natur aber der 
Feind aller transzendenten Spekulationen gewiß keine ein- 
gehendere Untersuchung gewagt hat. Wie die Seele für ihren 
Leib, so sorgt die göttliche Vorsehung für die Welt und 
namentlich für den Menschen ; einen besonderen Beweis dieser 
Fürsorge sieht Sokrates in den mancherlei Arten der Weis- 
sagung. Für die Verehrung der Götter stellt er den Grund- 
satz auf, daß sich jeder dabei an den Brauch seiner Stadt 
halte; im übrigen lehrt er, es komme nicht auf die Größe 
des Opfers an, sondern auf die Gesinnung des Opfernden, 
und er verbietet, um bestimmte Güter zu bitten, da die 
Oötter selbst am besten wissen, was uns gut ist. Die Gott- 
verwandtschaft der menschlichen Seele bezweifelt er nicht; 
dagegen wagt er ihre Unsterblichkeit (b. Pläton Apol. 40 C f., 
vgl. Xen. Cyrop. VIII, 7, 19flf.) nicht bestimmt zu behaupten, 

§ 34. Das Ende des Sokrates. 

Als Sokrates ein volles Menschenalter in Athen gewirkt 
hatte, wurde gegen ihn von Meletos, Anytos und Lykon die 
Klage erhoben, daß er die Jugend verderbe, indem er die 
Staatsgötter leugne und statt ihrer neue Gottheiten einzu- 
führen versuche. Hätte er die herkömmliche Art der Ver- 
teidigung vor Gericht nicht verschmäht und den gewohnten 
Ansprüchen der Richter einige Zugeständnisse gemacht, so 
wäre er ohne Zweifel freigesprochen worden ; nachdem er mit 
geringer Mehrheit für schuldig erkannt war ^), trat er bei der 
Verhandlung über die Strafe dem Gericht mit ungebeugtem 
Stolz entgegen, und nun erfolgte mit größerer Mehrheit das 
von den Klägern beantragte Todesurteil. Die Flucht aus dem 



^) Nach Platon Apol. 36 A wäre dies unterblieben, wenn nur dreißig 
Ton den Heliasten (deren Zahl vermailich 500 oder 501 betrug) anders ge- 
stimmt hätten. 



106 Zweite Periode. 

Ge&ngnis, in dem er 30 Tage bis zur Rückkehr des Staats- 
Schiffes von Delos verbrachte (Xen. Mem. IV, 8, 2. . Platon 
Phaed. 51 Äff. Kriton 43 C f.), verwarf er als gesetzwidrig 
und trank mit philosophischer Heiterkeit den Schierlingsbecher. 
Daß bei seiner Anklage und Verurteilung persönliche Feind- 
schaft mit im Spiele war, ist zu vermuten, wenn auch die 
Sophisten keinen Anteil daran hatten; ihr entscheidendes 
Motiv lag aber allem nach in der Absicht der seit Thrasybul 
herrschenden Partei, der neuernden sophistischen Erziehung, 
welche man für das Unglück der letzten Jahrzehnte an erster 
Stelle verantwortlich machte, durch Bestrafung ihres Haupt- 
vertreters einen Riegel vorzuschieben, Sie ist ein Versuch 
der demokratischen Reaktion, die alte Zeit gewaltsam wieder- 
herzustellen. Dieser Versuch war aber nicht allein in der 
Art, wie er durchgeführt wurde, eine schwere Rechts* 
Verletzung, denn einer gesetzlich strafbaren Handlung hatte 
sich der Philosoph in keiner Beziehung schuldig gemacht; 
sondern er beruhte auch auf einer verhängnisvollen Täuschung: 
die alte Zeit ließ sich überhaupt nicht, und am wenigsten 
auf diesem Wege, wiederherstellen, und an ihrem Verschwinden 
trug Sokrates so wenig eine Schuld, daß er vielmehr seinen 
Zeitgenossen den allein fruchtbaren Weg zur Besserung des 
bestehenden Zustandes, den der sittlichen Reform, gewiesen 
hatte. Seine Hinrichtung ist vom rechtlichen und moralischen 
Gesichtspunkt betrachtet ein Justizmord, vom geschichtlichen 
ein grober Anachronismus *). Wie er selbst aber sich dieser 
Hinrichtung durch ein weniger schroffes Auftreten aller Wahr- 
scheinlichkeit nach hätte entziehen können, so hat sie auch statt 
des Erfolges, den seine Gegner hofften, den entgegengesetzten 
gehabt. Das zwar ist eine spätere Erfindung, daß das Volk 



') GoMPERz Griech. Denker II 89 f. sieht in diesem Kampfe zwischen 
Sokr. und dem athenischen Volke, wie einst Hegel, ein Bingen zwischen 
„zwei Weltanschauungen", und in der Verurteilung des Sokr. eine berech- 
tigte Notwehr gegen die staatszersetzenden Wirkungen seiner Lehre und 
seines Auftretens. S. die Widerlegung dieser Ansicht bei Pöhlmann Sokr. 
und sein Volk 1899. 



§ 35. Die Schule des Sokrates ; Xenophon, Äschines. 107 

von Athen selbst sein Urteil durch Bestrafung der Ankläger 
wieder aufgehoben habe ; um so vollständiger hat es aber die 
.Geschichte vernichtet : das Ende des Sokrates war der höchste 
Triumph seiner Sache, der leuchtende Höhepunkt seines 
Lebens, die Apotheose der Philosophie und des Philosophen. 

IL Die kleineren sokratischen Schulen. 

§ 35. Die Schule des Sokrates; Xenophon, Äschines. 
Unter den vielen, welche die wunderbare Persönlichkeit 
des Sokrates anzog und festhielt, hatte wohl die Mehrzahl 
mehr Sinn für seine sittliche Größe und für den ethischen 
Wert seiner Reden als für seine wissenschaftliche Bedeutung, 
Wie sich die sokratische Philosophie auf diesem Standpunkt 
darstellte und auf das menschliche Leben angewandt wurde, 
zeigt Xenophon (um 440 [nach Apollodor] oder wenige 
Jahre später geboren und nach 455 gestorben). So achtungs- 
wert die praktische Tüchtigkeit, die Frömmigkeit, die 
Ritterlichkeit dieses Mannes auch ist^), und so große 
Verdienste er sich um die Überlieferung der sokratischen 
Lehre erworben hat, so beschränkt erscheint doch sein Ver- 
ständnis ihres philosophischen Gehalts. In ähnlicher Weise 
scheint Äschines in seinen sokratischen Gesprächen die 
Lehre des Meisters nach ihrer praktischen und gemein- 
verständlichen Seite dargestellt zu haben. Als philosophischere 
Naturen schildert Platon (Phädon. Phädr. 242 B) die beiden 
Thebaner Simmias und Kebes, Schüler des Philolaos; 
wir wissen jedoch über keinen von ihnen etwas Näheres; 
ihre Schriften hatte schon Panätios für unecht (oder unglaub- 
würdig?) erklärt; das noch vorhandene „Gemälde" des Kebes, 
eine allegorische Darstellung stoischer Moral, ist dies jeden- 
falls. Als Stifter philosophischer Schulen kennen wir außer 
Platon vier Sokratiker. Eukleides begründete durch eine 
eigentümliche Verbindung eleatischer Lehren mit der Sokratik 



') Ein bedeutend ungünstigeres Charakterbild entwii-ft Gompebz Griech. 
Denker II 96 flf. 



108 Zweite Periode. 

die megarische, Phädon die verwandte elische Schule, Anti- 
sthenes unter dem Einfluß der gorgianischen Sophistik die 
kynische, Aristippos unter dem des Protagoras die kjrenaische. 

§ 36. Die megarische und die elisch-eretrische 

Schule. 
E u k 1 e 1 d e 8 aus Megara, der treue Verehrer des Sokrates, 
hatte (vielleicht schon vor seiner Verbindung mit diesem) 
auch die eleatische Lehre kennen gelernt. Nach Sokrates' 
Tode trat er selbst in seiner Vaterstadt als Lehrer auf. Die 
Leitung seiner Schule übernahm nach ihm Ichthyas. Ein 
jüngerer Zeitgenosse des letzteren ist der Dialektiker E u b u - 
lides, ein leidenschaftlicher Qegner des Aristoteles; diesem 
gleichzeitig Thrasy machos, etwas jünger Pasikles. 
Dem letzten Drittel und dem Ende des 4. Jahrhunderts ge- 
hören Diodoros Kronos (f 307 v. Chr.) und Stilpon aus 
Megara (um 370 — 290) an; jüngere Zeitgenossen Stilpons 
sind Alexin OS, der Eristiker, und Philon, der Schüler 
Diodors. — Den Ausgangspunkt der megarischen Philosophie 
bildete nach Platon Soph. 246 B ff. (dessen Schilderung 
Schleiermacher mit Recht auf sie bezieht)^) die sokratische 
Lehre von den Begriffen. Wenn nur das begriffliche Er- 
kennen Wahrheit hat (schließt Eukleides zunächst mit 
Platon), so kann auch nur dem Wirklichkeit zukommen, 
worauf dieses Erkennen sich bezieht, dem unveränderlichen 
Wesen der Dinge, den aavi^axa eidr} ; die Körperwelt dagegen, 



^) [Diese Ansicht Schleiermachers hat zahlreiche Verteidiger, 
aher auch nicht wenige Gegner gefunden (s. Phil. d. Qr. II 1, 252 ff.). Zu 
den letzteren ist neuerdings Gompebz Qriech. Denker II 454 f. u. 596 hinzu- 
gekommen, der in der Polemik gegen die MCiv (f>iXoi eine Kritik sieht, 
die Platon an der älteren Gestalt seiner eigenen Ideenlehre üht, während 
andre, wie Camphell und Natorp, Pl.s Ideenlehre S. 284 unter den Ideen- 
freunden solche Schüler Pl.s verstehen, die auf dem vom Meister hereits 
verlassenen Standpunkte stehen gehliehen waren. Hiemach ist es sehr 
fraglich, oh im Texte mit Recht die im Sophistes geschilderte Lehre den 
Megarikem zugeschrieben wird, zumal da sie sich mit der uns sonst über- 
lieferten Lehre dieser Sekte doch schwer vereinen läßt] 



§ 36. Die megarische und die elisch-eretrische Schule. 109 

welche die Sinne uns zeigen , ist überhaupt nicht ftir ein 
Seiendes zu halten: das Entstehen, das Vergehen, die Ver- 
änderung und Bewegung ist undenkbar, und es wird deshalb 
(Arist. Metaph. IX, 3. 104 b 29 ff.) von den Megarikern die 
Behauptung aufgestellt, nur was wirklich ist, sei möglich. 
Alles Seiende führt sich aber schließlich (wie bei Parmenides) 
auf das Seiende als Einheit zurück; und indem nun dieses 
dem obersten Begriff der sokratischen Ethik und Theologie, 
dem Guten, gleichgesetzt wurde, kam Eukleides bald genug 
zu der weiteren Behauptung: es gebe nur ein Gutes, das un- 
veränderlich und sich selbst gleich mit verschiedenen Namen, 
als Einsicht, Vernunft, Gottheit usw. bezeichnet werde ; ebenso 
gebe es nur eine Tugend, die Erkenntnis dieses Guten, und 
nur verschiedene Namen dafür seien die mancherlei Tugenden. 
Alles andere aber außer dem Guten wurde für nichtseiend 
erklärt und damit dann freilich auch die Mehrheit der „un- 
körperlichen Formen" wieder aufgehoben. (Den Einwürfen, 
die Eukleides von hier aus gegen Piaton erhob, tritt dieser, 
wie es scheint, im Parmenides entgegen.) — Zur Begründung 
dieser Ansichten bediente sich schon Eukleides nach Zenons 
Vorgang des indirekten Beweises durch Widerlegung der 
Gegner; seine Schüler trieben diese Dialektik mit solcher 
Vorliebe, daß die ganze Schule von ihr den Namen der 
dialektischen oder eristischen erhielt. Die meisten von den 
Wendungen, deren sie sich hierbei bedienten, der Verhüllte, 
der Lügner, der Gehörnte, der Sorites usw., sind von den 
Sophisten entlehnt oder in ihrem Geschmack ersonnen, und 
sie wurden wohl auch meist ebenso eristisch wie von diesen 
gehandhabt. Von Diodor kennen wir vier Beweise gegen 
die Möglichkeit der Bewegung, welche denen Zenons nach- 
gebildet sind, und eine Beweisführung für die megarische 
Lehre vom Möglichen, die unter dem Namen des yLvqi&üCDV 
Jahrhunderte lang bewundert wurde ^). Daß er aber trotz- 
dem nur sagte : möglich sei, was ist oder sein wird, es könne 



1) Man vgl. darüber Phil. d. Gr. U 1, 266 ff. 



HO Zweite Periode. 

sich etwas bewegt haben, aber nichts sich bewegen, war ein 
seltsamer Widerspruch. Noch weiter wich P h i 1 o n von der 
strengen Lehre seiner Schule ab. Stilpon, der neben 
Thrasymachos auch den Kyniker Diogenes zum Lehrer ge- 
habt hatte, bewies sich als dessen Schüler durch seine 
ethische Tendenz, durch die in Wort und Tat von ihm ge- 
lehrte Apathie und Autarkie des Weisen, durch seine freie 
Stellung zur Volksreligion und durch die Behauptung, daß 
man keinem Subjekt ein von ihm verschiedenes Prädikat bei- 
legen könne, wurde jedoch im übrigen der megarischen Schule 
nicht untreu. Sein Schüler Zenon führte dann diese zugleich 
mit der kynischen in die stoische über. 

Mit der megarischen Schule war die e 1 i s c h e verwandt, 
deren Stifter Phädon von Elis aus Piaton als ein Liebling 
des Sokrates bekannt ist. Es ist uns jedoch über seine Lehre 
nichts Näheres überliefert. Ein Schüler der EleerMoschos 
und Anchipylos war Menedemos aus Eretria (um 352 
bis 278) ; noch vorher aber hatte er Stilpon gehört, in dessen 
Geist er mit der elisch-megarischen Dialektik eine dem Kynis- 
mus verwandte, aber zugleich auf die megarische Tugendlehre 
zurückgehende Lebensauffassung verband. Indessen kann 
die Ausbreitung und Dauer der „eretrischen" Schule nur 
eine sehr beschränkte gewesen sein. 

§ 87. Die kynische Schule. 

Der Stifter der kynischen Schule, Antisthenes aus 
Athen, hatte den Unterricht des Gorgias genossen und war 
selbst schon als Lehrer tätig gewesen, ehe er Sokrates kennen 
lernte, dem er fortan mit höchster Verehrung anhing. Er 
scheint um ein merkliches älter gewesen zu sein als Piaton; 
das Jahr 371 v. Chr. hat er nach Plüt. Lykurg. 30 Schi, 
überlebt. Seine zahlreichen, stilistisch ausgezeichneten Schriften 
sind bis auf wenige Bruchstücke ^) verloren. Nach Sokrates*^ 



^) Gesammelt von Winckelmann Antisth. Fragm. 1842; vgl. Dümmler 
Antisthenica, Hibzel D. Dialog I HS ff. 



§ 37. Die kynische Schule. Hl 

Tod eröffnete er eine Schule in dem Gymnasium Kynosarges; 
teils von diesem Versammlungsort, teils von ihrer Lebensweise 
wurden seine Anhänger Kyniker genannt. Von seinen 
nächsten Schülern kennen wir nur Diogenes von Sinope, 
den Sonderling mit dem derben Humor und dem unbezwing- 
lichen Willen, der, von Hause flüchtig, meist in Athen lebte 
und in Korinth 323 v. Chr. hochbetagt starb. Unter seinen 
Schülern ist der bedeutendste K rat es aus Theben, ein ge- 
bildeter Mann, dessen Bettlerleben seine Gattin Hipparchia 
aus bewundernder Liebe teilte. In der ersten Hälfte des 
3. Jahrhunderts trat Bion von Borysthenis, der vielfach 
durch Krates in die kynische Lehre eingeweiht wurde, als 
Wanderlehrer und Verfasser von Moralpredigten (Diatriben) 
auf^). Ein schwächerer Nachahmer von ihm war Teles, der 
früher mit Unrecht zu den Stoikern gerechnet wurde. Aus 
seinen Diatriben (um 240) sind uns bei Stobäos längere Aus- 
züge erhalten^). Zu den letzten Mitgliedern dieser Schule, 
die uns bekannt sind, gehören Menedemos, der sich zu- 
erst dem Epikureer Kolotes anschloß, dann aber zu dem 
Kyniker Echekrates überging und seinen frühreren Lehrer 
angriff®), sowie der Stoiker M e n i p p o s , beide dem zweiten 
Drittel des 3. Jahrhunderts angehörig. Seit dieser Zeit scheint 
sie sich in die stoische verloren zu haben, aus der sie erst 
in dier Zeit des Augustus wieder hervortritt. 

Was Antisthenes an Sokrates bewunderte und nachahmte, 
war an erster Stelle die Unabhängigkeit seines Charakters; 
den wissenschaftlichen Untersuchungen dagegen legte er nur 



^) S. ß. Heinze De Horatio Bionis imitatore 1889. 

^) S. V. WiLAMOwiTz Der kynische Prediger Teles 1881. Teletis reli- 
quiae ed. O. Hense 1889. 

') S. Cbönebt Kolotes und Menedemos 1906 S. 1 ff., wo nachgewiesen 
wird, daß in den Bruchstücken zweier Streitschriften des Kolotes (Papyr. 
Hercul. 208) der Kyniker Menedemos angegriffen wird, und daß die bei 
DiOG. Laert. VI, 102 versehentlich in die Yita des Menedemos geratene 
'Mitteilung des Hippobotos über das zauberhafte Auftreten des Mannes zu 
der voraufgehenden Vita des Menippos zu ziehen ist 



112 Zweite Periode. 

dann einen Wert bei, wenn sie sich unmittelbar auf das 
Handeln beziehen. „Die Tugend", sagte er (DiOG, VI, 11)^ 
„genüge zur Glückseligkeit, und zur Tugend sei nichts er- 
forderlich als die Stärke eines Sokrates; sie sei Sache der 
Tat und brauche nicht viele Worte und Kenntnisse/ Er und 
die Seinigen verschmähten daher die Kunst und Gelehrsam- 
keit, die Mathematik und Naturwissenschaft; und wenn er 
sich die sokratische Forderung der BegriflFsbestimmung an- 
eignete, wendete er sie doch in einer Weise an, die alle 
wirkliche Wissenschaft unmöglich machte. Er wollte nämlich 
nicht allein, unter leidenschaftlichem Widerspruch gegen 
Piatons Ideenlehre, nur das Einzelne für etwas Wirkliches 
gelten lassen, und er dachte hierbei ohne Zweifel (vgl. Platon 
Soph. 246 A flF. Theät. 155 E) ebenso wie später die Stoiker 
nur an das Körperliche und sinnlich Wahrnehmbare ^); sondern 
er verlangte auch, daß jedem Ding nur sein eigener Name 
(der oiyteios loyog) beigelegt werde, und schloß dann daraus 
(wahrscheinlich nach Gorgias' Vorgang s. oben S. 88) weiter, 
man dürfe keinem Subjekt ein von ihm verschiedenes Prädikat 
beilegen. Er verwarf daher auch die Definition durch Merk- 
male, und wollte nur für das Zusammengesetzte eine Auf- 
zählung seiner Bestandteile zulassen, während das Einfache 
zwar durch Vergleichung mit anderem erklärt, aber nicht 
definiert werden könne ^). Er behauptete mit Protagoras, 
man könne sich nicht widersprechen, denn wenn man Ver- 
schiedenes sage, rede man auch von Verschiedenem. Er 
gab also der sokratischen BegriflEsphilosophie eine durchaus 
sophistische Wendung. 



^) [Die Beziehung der beiden Piatonstellen auf Ant. (s. Phil. d. Gr. 
II 1, 297 ff.) ist dadurch ausgeschlossen, daß Soph. 251 D die zuletzt von 
Platon erwähnten y^Qovreg, unter denen ohne Zweifel Ant. zu verstehen ist, 
deutlich von den vorher bekämpften Materialisten unterschieden werden.] 

«) S. Arist. Metaph. VIII 3, 1043 b 23 ff. u. Plat. Theät. 201 C ff. Die 
an der zweiten Stelle angefahrte Definition des Wissens als „richtige Vor- 
stellung in Verbindung mit Erklärung (^o^a aXtidijS /Äerä Xoyov)^ gehtT 
wahrscheinlich auf Ant zurück. 



§ 37. Die kynische Schule. 113 

Schon dieser Mangel an einer wissenschaftlichen Be- 
gründung brachte es nun mit sich, daß auch seine Ethik 
sehr einfach ausfallen mußte. Ihr Grundgedanke ist in dem 
Satz ausgesprochen, nur die Tugend sei ein Gut, nur die 
Schlechtigkeit ein Übel, alles andere sei gleichgültig. Denn 
ein Gut könne für den Menschen nur das sein, was ihm 
eigen (oi-^eiov) ist, und dies sei nur sein geistiger Besitz; 
alles übrige dagegen, Vermögen, Ehre, Freiheit, Gesundheit, 
das Leben selbst, sei an sich kein Gut, Armut, Schande, 
Knechtschaft, Krankheit, Tod an sich kein Übel ; am wenigsten 
aber dürfe die Lust für ein Gut, Mühe und Arbeit für ein 
Übel gehalten werden, da jene vielmehr, wo sie den Menschen 
beherrscht, ihn verderbe, diese ihn zur Tugend erziehe: 
Antisthenes sagte, er wolle lieber verrückt als vergnügt sein 
(f,iaveii]v fiäXlov rj ^ad'eirjv)^ und zu ihrem Vorbild wählten 
er und seine Schüler das mühevolle Leben des Herakles. Die 
Tugend selbst wird mit Sokrates auf die Weisheit oder die 
Einsicht zurückgeführt und daher auch ihre Einheit und 
Lehrbarkeit behauptet; mit der Einsicht fällt aber hier die 
Willensstärke, mit der Belehrung die sittliche Übung zu- 
sammen. Ihrem Inhalt nach hat diese Tugend einen über- 
wiegend negativen Charakter: sie besteht in der Unabhängig- 
keit vom Äußern, der Bedürfnislosigkeit, der Enthaltung vom 
Schlechten, und sie scheint (nach Arist. Eth. N. II, 2. 1104 b 
24) schon von den Kynikern als Apathie und Ruhe des Ge- 
müts*) beschrieben worden zu sein. Und je weniger nun die 
Kyniker diese Tugend bei ihren Zeitgenossen fanden, um so 
ausschließlicher zerfielen ihnen alle Menschen in die zwei 
Klassen der Weisen und der Toren, um so unbedingter legten 
sie jenen alle Vollkommenheit und Glückseligkeit, diesen 
alle Fehler und alle Unseligkeit bei; wie sie denn auch die 
Tugend des Weisen für unverlierbar erklärten. Ihr eigenes 
Verhalten zeigt als ihr Ideal die sokratische Bedürfnislosig- 



') Nach Clem. Strom. II c. 130, 7 hat Ant. als höchstes Gut die 
dtvipCtt, d. i. die Freiheit von leeren Einbildungen, bezeichnet. 
Zeller; GrundriB. 8 



114 Zweite Periode. 

keit im Extrem. Schon Antisthenes rühmt (Xen. Symp. 4, 
34 ff.) den Reichtum, den seine Beschränkung auf das absolut 
Unentbehrliche ihm gewähre; doch besitzt er noch eine, wenn 
auch noch so ärmliche, Behausung. Seit Diogenes führten 
die Kyniker ein förmliches Bettlerleben, ohne eigene Wohnung, 
mit der einfachsten Kost, der dürftigsten Kleidung (dem 
Tribon) sich begnügend; sie machten sich Abhärtung gegen 
Entbehrungen, Beschwerden und Beleidigungen zum Grund- 
satz ; sie bewiesen wohl auch ihre Gleichgültigkeit gegen das 
Leben durch freiwilligen Austritt aus ihm. Sie entsagten in 
der Regel dem Familienleben, statt dessen Diogenes Weiber- 
gemeinschaft vorschlug; sie legten dem Gegensatz der Frei- 
heit und Knechtschaft keinen Wert bei, denn der Weise sei 
auch als Sklave frei und geborener Herrscher; sie fanden 
für den Weisen das Staatsleben entbehrlich, weil er überall 
zu Hause, ein Bürger der Welt sei, und schilderten als ihren 
Idealstaat einen Naturzustand, in dem die ganze Menschheit 
wie eine Herde zusammenlebe. Sie schlugen durch ihr Ver- 
halten nicht allein dem Herkommen und Anstand, sondern 
nicht selten auch dem natürlichen Schamgefühl geflissentlich 
ins Gesicht, um ihre Gleichgültigkeit gegen die Meinungen 
der Menschen an den Tag zu legen. Sie traten dem religiösen 
Glauben und Kultus ihres Volkes als Aufklärer entgegen: 
denn in Wahrheit (xarä q)vaiv) gebe es (wie schon Antisthenes 
mit Xenophanes^) sagt) nur einen Gott, der nichts Sicht- 
barem gleiche, erst das Herkommen (y6f.iog) habe die vielen 
Götter geschaffen; und ebenso fanden die Kyniker einen 
wirklichen Gottesdienst nur in der Tugend, welche die Weisen 
zu Freunden der Götter (d. h. der Gottheit) mache ; über die 
Tempel dagegen, die Opfer, die Gebete, die Gelübde, die 
Weihen, die Weissagungen äußerten sie sich durchaus ver- 
werfend; homerische und andere Mythen wurden von Anti- 
sthenes moralisch umgedeutet. Als ihren besonderen Beruf 
betrachteten es die Kyniker, sich der sittlich Verwahrlosten 



*) S. jedoch S. '54 Anm. 2. 



§ 38. Die kyrenaisdie Schale. 115 

anzunehmen: als freiwillige Sittenprediger und Seelenärzte 
haben sie ohne Zweifel vielfach wohltätig gewirkt; und wenn 
sie die Torheit der Menschen rücksichtslos geißelten, der 
Überbildung den derben Mutterwitz des Plebejers, der Ver- 
weichlichung ihrer Zeit einen unbeugsamen, bis zur Roheit 
abgehärteten Willen mit tugendstolzer Menschenverachtung 
entgegenstellten, so wurzelt doch die Schroffheit ihres Auf- 
tretens selbst in dem Mitleid mit dem Elend ihrer Mitmenschen, 
und in der Geistesfreiheit, zu der namentlich Diogenes und 
Erates sich mit heiterem Humor zu erheben wußten. Die 
Wissenschaft hatte aber allerdings von dieser Bettlerphilosohie 
nicht viel zu erwarten, und ihre Auswüchse lassen sich schon 
bei ihren gefeiertsten Vertretern nicht verkennen. 

§ 38. Die kyrenaische Schule. 
Aristippos aus Kyrene, nach DiOG. 11, 83 älter als 
Äschines und so wohl auch etwas älter als Piaton, scheint 
schon in seiner Vaterstadt mit der Lehre des Protagoras be- 
kannt geworden zu sein ; in der Folge suchte er Sokrates in 
Athen auf und kam in nahe Verbindung mit ihm, ohne des- 
halb doch seinen Lebensgewohnheiten und Ansichten zu ent- 
sagen. Nach Sokrates' Tod (bei dem er nicht zugegen war) 
trat er selbst als „Sophist", d. h. als berufsmäßiger und be- 
zahlter Lehrer, auf, zuerst wohl in Athen, aber auch an 
andern Orten, und er kam als solcher auch an den sjra- 
kusanischen Hof; ob aber unter dem älteren oder dem 
jüngeren Dionys oder beiden, steht nicht fest. In Kyrene 
begründete er eine Schule, welche die kyrenaische, auch die 
hedonistische, genannt wird; zu ihr gehörte seine Tochter 
Arete und Antipater. Jene führte ihren Sohn Ari- 
stippos (ö ixrjfCQodidaYxog) in die Lehre seines Großvaters 
ein ; dessen Schüler war Theodoros der Atheist, mittelbare 
Schüler Antipaters waren Hegesias und Annikeris (alle 
drei um 320—280). Zu Theodors Schülern gehörte Bion 
der Borysthenite, der aber noch mehr Eyniker als Hedoniker 
ist (s. S. 111). AuchEuemeros (um 300), den seine platte 

8* 



116 - Zweite Periode. 

Umdeutung der Mythologie in eine Ftirstengeschichte be- 
kannt gemacht hat, hängt vielleicht mit der kjrenaischen 
Schale zusammen. 

Die systematische Ausführung der kyrenaischen Lehre 
(trotz EüS. pr. ev. XIV, 18, 31) schon dem älteren, nicht 
erst dem jüngeren Aristippos zuzuschreiben, berechtigt uns 
teils die Einheit der Schule, teils die Berücksichtigung jener 
Lehre durch Platon (Phileb. 42 D f. 53 C. Theät. s. u.), 
Aristoteles (Eth. VII, 12 f.) und Speusippos (der nach 
DiOG. IV, 5 einen „Aristippos" verfaßt hatte); wie denn auch 
allen Anzeichen nach von den Schriften, die Aristippos bei- 
gelegt werden, wenigstens ein Teil echt war. — Mit Anti- 
sthenes mißt auch Aristippos den Wert des Wissens ledig- 
lich an seiner praktischen Brauchbarkeit. Er verschmähte 
die Mathematik, weil sie nicht danach frage, was heilsam 
oder schädlich ist; er hielt die physikalischen Untersuchungen 
für aussichtslos und unnütz; er eignete sich auch von er- 
kenntnistheoretischen Erörterungen nur das an, was er zur 
Begründung seiner Ethik brauchbar fand. Unsre Wahr- 
nehmungen, sagte er im Anschluß an Protagoras (dessen 
Lehre ohne Zweifel von ihm die im platonischen Theätet 
152 C flf. und 155 D ff. berichtete Fortbildung erhielt), unter- 
richten uns nur über unsre eigenen Empfindungen, aber weder 
über die Beschaffenheit der Dinge noch über die Empfindungen 
andrer Menschen, da sie nur das momentane Erzeugnis aus 
dem Zusammentreffen von Bewegungen des Wahrgenommenen 
und des Wahrnehmenden seien ; und schon damit war es ge- 
rechtfertigt , wenn er auch das Gesetz unsers Handelns nur 
der subjektiven Empfindung zu entnehmen wußte. Alle Emp- 
findung besteht aber in einer Bewegung; wenn diese eine 
sanfte ist, entsteht das Gefühl der Lust, wenn sie eine rauhe 
und stürmische ist, das der Unlust; findet keine oder nur 
eine schwache und unmerkliche Bewegung statt, so empfinden 
wir weder Lust noch Unlust. Daß nun von diesen drei Zu- 
ständen die Lust allein begehrenswert ist, daß das Gute mit 
dem Angenehmen, das Schlechte mit dem Unangenehmen zu- 



§ (S8. Die kjrenaische Schale. 117 

eammenfkllt; sagt jedem, wis Aristippos glaubt, die Natur, 
und er selbst begründet dies damit, daß die Lust gar nichts 
andres sei als die Empfindung eines naturgemäßen Vorganges 
in unserem Leibe; und so ergibt sich für ihn als oberster 
Grundsatz seiner Ethik die Überzeugung, daß alle unsre 
Handlungen darauf ausgehen müssen, uns möglichst viele 
Lust zu verschafi'en. Bei dieser denkt jedoch Aristippos nicht 
wie später Epikur an die bloße Qemütsruhe, denn diese wäre 
Abwesenheit aller Empfindung, sondern an den positiven Ge- 
nuß; auch die Glückseligkeit als Gesamtzustand kann aber, 
wie er glaubt, nicht unser Lebenszweck sein, denn nur die 
Gegenwart gehört uns, die Zukunft ist unsicher, die Ver- 
gangenheit entschwunden. 

Was für Dinge und Handlungen es sind, die uns Lust 
gewähren, wäre an sich gleichgültig, denn jede Lust als 
solche ist ein Gut. Indessen wollten auch die Eyrenaiker 
nicht bestreiten, daß ein Gradunterschied unter den Genüssen 
stattfinde ; sie übersahen ferner nicht, daß manche von diesen 
nur durch größere Unlust erkauft werden können, und von 
solchen rieten sie ab ; wiewohl endlich die körperlichen Lust- 
und Schmerzempfindungen die ursprünglicheren und stärkeren 
sein sollten, erkannten sie doch an, daß es auch solche gebe, 
die nicht unmittelbar aus körperlichen Zuständen entspringen. 
Ebendamit ist aber auch die Notwendigkeit anerkannt, das 
Wertverhältnis der verschiedenen Güter und Genüsse richtig 
zu beurteilen; und diese Beurteilung, von der alle Lebens- 
kunst abhängt, verdanken wir der Einsicht (q>g6vr]aig, iTti- 
üZTj^fjy Tcaideia) oder der Philosophie. Denn sie zeigt uns, 
wie wir die Lebensgüter zu gebrauchen haben, sie befreit 
uns von den Einbildungen und Leidenschaften, die das Lebens- 
glück stören, sie befähigt uns, alles für unser Wohlsein aufs 
zweckmäßigste zu benützen. Sie ist daher die Grundbedingung 
alles Glückes. 

Diesen Grundsätzen gemäß geht nun Aristippos in seinen 
Lebensregeln wie in seinem Verhalten (soweit uns die Über- 
lieferung dieses zu beurteilen erlaubt) durchaus darauf aus, 



1\Q Zweite Periode. 

das Leben möglichst zu genießen, aber unter allen Umständen 
seiner selbst und der Verhältnisse Herr zu bleiben. Er ist 
nicht bloß der gewandte Weltmann, der nie in Verlegenheit 
ist, wenn es sich darum handelt, sich die Mittel zum Genüsse 
(mitunter auf unwürdige Weise) zu verschaffen, oder zur Ver- 
teidigung seines Verhaltens eine witzige und treffende Wendung 
zu finden; er ist auch der überlegene Oeist, der sich in jede 
Lage zu schicken, allem die beste Seite abzugewinnen, durch 
Beschränkung seiner Wünsche, durch Einsicht und Selbst- 
beherrschung, sich seine Heiterkeit und Zufriedenheit zu 
sichern weiß*). Andern Menschen tritt er liebenswürdig 
und wohlwollend entgegen; dem Staatsleben suchte er sich 
wohl auch später, wie bei Xen. Mem. H, 1, fernzuhalten, um 
seiner Unabhängigkeit nichts zu vergeben. Seinem großen 
Lehrer hat er die wärmste Verehrung bewahrt; und in dem 
Wert, den er der Einsicht beilegte, in der Heiterkeit und 
der inneren Freiheit, zu der sie ihm verhalf, läßt sich der 
Einfluß des sokratischen Geistes nicht verkennen. Aber 
seine Lustlehre und seine Genußsucht widerstreiten diesem 
Geiste allerdings, trotz ihrer teilweisen Anlehnung an die 
Begründung der sokratischen Ethik, ihrem Wesen nach ebenso^ 
wie sein skeptischerVerzichtäufs Wissen der Begriffsphilosophie 
seines Lehrers widerstreitet. 

In der kjrenaischen Schule selbst kam dieser Wider- 
spruch ihrer Elemente in den Veränderungen zum Ausdruck,, 
die um den Anfang des 3. Jahrhunderts mit Aristippos' Lehre 
vorgenommen wurden. Theodoros bekannte sich zwar im 
übrigen zu dieser Lehre und zog aus ihren Voraussetzungen 
(wenn ihm dies mit Recht nachgesagt wird) rücksichtslos die 
äußersten Konsequenzen. Aber um die Glückseligkeit des 
Weisen nicht von den äußeren Umständen abhängig zu 
machen, wollte er sie nicht in die einzelnen Genüsse, sondern 
in die frohe Gemütsstimmung (xctQa) verlegen, über welche 



1) Omnis Äristippum äecuit color et Status et res, Tentantem maiora,, 
fere prasentibus tBquum. Hör. ep. I, 17, 23. 



§ 89. Platous Leben. HQ 

die Einsicht Herr sei. Hegesias, der neiaid'dvaTa;, hatte 
ein so lebhaftes Gefühl für die Übel des Lebens, daß er an 
einer Befriedigung durch positiven Genuß überhaupt ver- 
zweifelte und, über Theodor noch hinausgehend, die höchste 
Aufgabe darin fand, sich durch Gleichgültigkeit gegen alles 
Äußere von Leiden und Unlust freizuhalten. Annikeris 
endlich wollte die Lustlehre zwar grundsätzlich nicht auf- 
geben, aber er beschränkte sie doch sehr wesentlich, wenn 
er der Freundschaft, der Dankbarkeit, der Familien- und 
Vaterlandsliebe einen so hohen Wert beilegte, daß der Weise 
auch Opfer für sie nicht scheuen werde. 

III. Piaton und die alte Akademie. 

§ 39. Piatons L e b e n ^). 

Piaton wurde nach den glaubwürdigen Angaben Her- 
modors und Apollodors (DiOG. III, 2. 6) Ol. 88, 1 (427 v.Chr.), 
alter Überlieferung zufolge am 7. Thargelion (26. — 30. Mai), 
geboren. Seine beiden Eltern, Ariston und Periktione, ge- 
hörten alten Adelsgeschlechtern an. Nach seinem Großvater 
soll er zuerst Aristokles genannt worden sein. Durch die 
gesellschaftliche und politische Stellung seiner Familie war 
die sorgiUltige Ausbildung seines reichbegabten Geistes ver- 
bürgt, und zugleich mußte sie diese vornehm angelegte Natur 
von Hause aus der Aristokratie zuführen. Das künstlerische 
Talent, das wir in Piatons Schriften bewundern, äußerte sich 
in den dichterischen Versuchen seiner Jugend. In der Philo- 
sophie unterrichtete ihn zuerst Kratylos (s. oben S. 66); in 
seinem 20. Jahre begann seine Verbindung mit Sokrates, in 

') Neuere Monographien darüber : K. P. Hebmann Gesch. u. Syst. der 
plat. Phil. 1. (einziger) Bd. 1839 S. 1—126. H. v. Stein 7 Bücher z. Gesch. 
d. Piatonismus (1864) II, 158 ff. Grote Piaton 1865, 3. ed. 1875. Chaignet 
La yie et les ecrits de Piaton 1871. Steinhabt Piatons Leben 1873. 
Pfleidebeb Sokrates und Piaton 1896 S. 109 ff. Windelband Piaton 1898 
(3. Aufl. 1901). GoMPEBz Griech. Denker H, 203 ff. Pateb Piaton u. der 
Platonismus. Aus d. Engl, übers. ▼. Hecht. 1904. 



120 Zweite Periode. 

dessen Geist er während eines achtjährigen vertrauten Ver- 
kehrs tiefer als irgendein andrer eindrang. Doch wird er 
diese Jahre auch dazu benutzt haben, sich mit den Lehren 
der älteren Philosophen bekannt zu machen. Nach dem Tode 
des Sokrates (bei dem er nach einer wahrscheinlich erdichteten 
Angabe Phädon 59 B nicht anwesend gewesen wäre) begab 
er sich mit anderen Sokratikern (nach Hermodors unanfecht- 
barem Zeugnis zunächst, um sich etwaiger Verfolgung zu ent- 
ziehen) nach Megara zu Eukleides ; er scheint sich aber hier 
nicht allzulange aufgehalten und dann eine Reise angetreten 
zu haben, die ihn nach Ägypten und Kyrene und vielleicht 
auch damals schon zu den Pythagoreern in Unteritalien führte. 
Von dieser kehrte er wahrscheinlich zunächst nach Athen 
zurück und war hier eine längere Reihe von Jahren nicht 
bloß als Schriftsteller, sondern auch als Lehrer tätig, ehe er 
(um 388, nach epistola VII, 324 A ungefähr 40 jährig) nach 
Sizilien ging. Hier kam er, wohl durch Dion, an den Hof 
des älteren Dionysios, . fiel aber bei diesem in solche Ungnade, 
daß er ihn dem Spartaner Pollis übergab , von dem er in 
Ägina auf den Sklavenmarkt gebracht wurde. Von einem 
Kyrenäer Annikeris losgekauft, kehrte er nach Athen zurück 
und eröffnete (oder erneuerte) seine Schule im Gymnasium 
des Akademos, aus dem er sich später in seinen benach- 
barten Garten zurückzog. Neben der Philosophie lehrte 
er auch die Mathematik, zu deren ersten Kennern in 
seiner Zeit er gehörte; neben dem dialogischen Unterricht 
hielt er, wie für die spätere Zeit sicher bezeugt ist, auch 
fortlaufende Vorträge ; die persönliche Verbindung des 
wissenschaftlichen Vereins kam in monatlichen Syssitien 
zum Ausdruck, Einer politischen Tätigkeit enthielt er sich, 
weil er in dem damaligen Athen keinen Boden für sie fand. 
Als er jedoch nach dem Tode des älteren Dionys (367) durch 
Dion zum Besuch seines Nachfolgers eingeladen wurde, ent- 
zog er sich dem Rufe nicht, und so übel der Versuch auch 
ablief, wiederholte er ihn doch, wie es scheint, um Dions 
willen, im Jahre 361 ; geriet aber jetzt durch das Mißtrauen 



§ 40. Piatons Schriften. 121 

des Tyrannen in eine Gefahr, aus der ihn nur Archytas und 
«eine Freunde, die damah'gen Leiter des mächtigen tarentini- 
schen Staatswesens, befreiten. Nach Athen zurückgekehrt, 
setzte er seine wissenschaftliche Tätigkeit mit ungeschwächter 
Kraft bis zu seinem Tode fort. Er starb OL 108, 1 
347 V. Chr.. nach Vollendung seines 80. Jahres. Von seinem 
Charakter spricht das Altertum mit einer fast ungeteilten 
Verehrung. Das Bild, welches uns aus seinen Schriften ent- 
gegentritt, ist das eines trotz mancher Enttäuschungen un- 
verwandt auf das Ideale gerichteten, in harmonischem Gleich- 
gewicht aller Kräfte zur sittlichen Schönheit entwickelten, 
in olympischer Heiterkeit über der Erscheinungswelt thronen- 
den Geistes ; und diese Vorstellung von ihm hat auch in jenen 
Mythen einen Ausdruck gefunden, durch welche der Philosoph 
Ächon frühe mit dem delphischen Gott in Verbindung ge- 
bracht worden ist. 

§ 40. Piatons Schriften*). 
Piatons schriftstellerische Tätigkeit erstreckt sich über 
mehr als 50 Jahre. Sie begann wahrscheinlich bald nach 
dem Tode des Sokrates und dauerte bis zu seinem eigenen 
Lebensende. Alle Werke, die er selbst für die Öflfentlichkeit 
bestimmt hatte, sind uns erhalten ; aber dem Echten ist nicht 
ganz wenig Unechtes beigemischt. Unsere Sammlung umfaßt 
außer 7 kleinen, schon im Altertum als unecht bezeichneten 
Dialogen 35 Gespräche, eine Zusammenstellung von Definitionen 
XLud 13 Briefe. Ein Teil dieser Schriften ist nun neben den 
inneren Gründen auch durch aristotelische Zeugnisse^) ge- 
schützt. Die Republik, der Timäos, die Gesetze, der Phädon, 
der Phädros, das Gastmahl, der Gorgias, der Menon, der 
(kleinere) Hippias werden von Aristoteles teils ausdrücklich 
unter Piatons Namen, teils in einer Form angeführt, die 
ihren platonischen Ursprung unzweideutig voraussetzt; den 

') Platons Werke mit krit. Apparat hrsg. von M. Schanz 1875 flF. (un- 
vollendet); von J. Burnet. 5 Bde. Oxford 1899/1906. 

2) Worüber Bonitz Index Arist. S. 598. Phil. d. Gr. II 1, 447 ff. 



122 Zweite Periode. 

Theätet, den PhileboSy den Sophisten, den Politikos, die 
Apologie berücksichtigt er so unverkennbar, dafi sich weder 
seine Bekanntschaft mit diesen Schriften noch seine An- 
erkennung ihres platonischen Ursprungs bezweifeln läfit, und 
ähnlich verhält es sich mit dem Protagoras und Kriton (44 A 
vgl. Aristot. Fr. 32). Weniger sicher ist dies hinsichtlich des 
Lysis, des Charmides, des Laches, des Eralylos und de» 
größeren Hippias ; den Euthydem berührt nur die endemische 
Ethik (VII, 14. 1247 b 15), den Menexenos ein anscheinend 
interpoliertes Zitat (Rhet. III, 14. 1415 b 30)*). Da sich aber 
nicht behaupten läßt, Aristoteles müsse alle ihm bekannten 
platonischen Schriften in seinen uns erhaltenen Werken er* 
wähnt haben, so könnte man daraus, daß er eine Schrift 
nicht anführt, auf seine Unbekanntschaft mit ihr nur dann 
schließen, wenn sich nachweisen ließe, daß er sich auf sie^ 
falls er sie kannte, an einer bestimmten Stelle hätte beziehen 
müssen; dieser Nachweis ist aber in Wirklichkeit nie zu 
führen. Was die inneren Merkmale zur Unterscheidung des 
Echten und Unechten betrifft, so darf man nicht übersehen, 
daß einerseits eine etwas geschickte Nachahmung einer unter- 
geschobenen Schrift das Ansehen der Echtheit geben konnte ; 
daß aber andrerseits auch ein Piaton nicht lauter gleich voll- 
kommene Werke geschaffen haben wird, daß ein so reicher 
Geist nicht auf einerlei Darstellungsform beschränkt war, 
daß er Gründe haben konnte, sich in einzelnen seiner Ge- 
spräche mit bloß vorbereitenden Erörterungen zu begnügen^ 
sein letztes Wort unausgesprochen zu lassen, daß aber auch 
seine Ansichten selbst wie seine Darstellungsweise im Laufe 
eines halben Jahrhunderts Veränderungen erfahren mußten,. 



*) [Gegen diese in der Phil. d. Gr. II 1 *, S. 461, 5 näher begrandete 
Annahme einer Interpolation spricht, daß der gleiche Ausspruch des Sokrate» 
auch im 1. Buche der Rhet. c. 9. 1367 b 8 angeführt wird und an beiden 
Stellen höchst wahrscheinlich dem Menexenos entnommen ist. S. Diels Über 
das 8. Buch d. aristotel. Khet. 1886 S. 20 ff., wo der Men. auch aus anderen 
Gründen für echt erklärt wird (vgl. Wejjdland Die Tendenz des piaton* 
Menex. 1891).] 



§ 40. Platons Schriften. 123 

daß endlich manches uns vielleicht nur deshalb auffallend 
erscheint, weil wir seine speziellen Veranlassungen und Be- 
ziehungen nicht kennen. Von den neueren Gelehrten*) ist 
die Echtheit des Protagoras, Gorgias, Phädros, Phädon, 
Theätet, der Republik, des Timäos allgemein oder fast all- 
gemein anerkannt. Der Sophist, Politikos und Parmenides 
werden von Socher und Schaarschmidt, teilweise auch von 
SüCKOW, Überweg, Windelband u. a., der Philebos von Schaar* 
SCHMIDT, HORN (Platonstudicn I, 1893 8. 359 flf.)^) und Döring 
(Gesch. d. gr. Phil. II 15 ff.), der Kratylos von Schaarschmidt, 
der Menon und der Euthydem von Ast und Schaarschmidt 
verworfen; indessen sind diese Gespräche teils durch ihren 
inneren Charakter, teils durch die aristotelischen Zeugnisse 
und platonischen Verweisungen ^) sichergestellt; und das gleiche 
gilt von dem Kritias, welchen Socher und SüCKOW, der 
Apologie und dem Kriton , welche Ast (den Kriton neuer- 
dings auch Meiser) Piaton abspricht. Die Gesetze, nach Ast 
in meinen piaton. Studien (1839), dann von SüCKOW, RiB- 
BiNG, Strümpell (Prakt. Phil. d. Gr. I, 457), Oncken (Staatsl. 



^) Außer den zahlreichen Erörterungen über einzelne Schriften gehören 
hierher: Schleiermacheb PLs Werke 1804 (2. Aufl. 1816). Ast Pl.s Leben 
und Schriften 1816. Socher Über PLs Schriften 1820. K. Fb. Hebmann 
(s. S. 119, 1). Bitter U, 181 fif. Brandis Ha, 151 ff. Stallbaum in den 
Einlieitungen s. Piatonausgabe. Steinhart in PLs Werke übers, v. Müller 
1850 ff. SucKow Form d. plat. Schriften 1855. Munk Natürliche Ordnung 
d. plat. Sehr. 1857. Susemihl Genet. Entwickl. d. plat. Phil. 2 Tle. 1855 
bis 1860. Überweg Untersuch, über Echtheit u. Zeitfolge plat. Sehr. 1861. 
Grundriß I, § 40. H. v. Stein 7 Bücher z. Gesch. d. Piatonismus 1862. 
1864, Schaarschmidt Die Samml. d. plat. Sehr. 1866. Grote Piaton 1865. 
BiBBiNQ Genet. Entwickl. d. plat. Ideenlehre 1863 f. II. Tl. Meine Phil, 
d. Gr. n 1, 436 ff. Gompebz Griech. Denker II, 224 ff. Raedeb PLs phil. 
Entwickl. 1905. LüTOSiAWSKI Origin and growth of Platons Logic 1898 
(2. Aufl. 1905). 

') Gegen Hom wendet sich Apelt Arch. f. Gesch. d. Phil. IX, 1 ff. 
Vgl. HoRN ebd. 271 ff. 

8) Auf den Philebos weist Rep. VI, 505 B. IX, 583 D. ff. ; auf Farm. 
129 B ff. 130 E ff. Phüeb. 14 C. 15 B; auf Soph. 251 A f. 252 E ff. PhiL 
14 C f* 16 E ff. ; auf Menon 80 D ff. Phädon 72 E f. 



124 Zweite Periode. 

d. Arist I, 194 ff.) angegriffen, sind aus inneren und äußeren 
Gründen für ein unvollendet hinterlassenes und (nach DiOG. 
III, 37 von Philippos von Opus) nicht unverändert heraus- 
gegebenes Werk Piatons zu halten ^). Auch der gut bezeugte 
kleinere Hippias läßt sich als Jugendarbeit, der Euthyphron, 
dessen Echtheit kürzlich noch Natorp (Piatons Ideenl. 38, 1) 
bezweifelt hat, aus inneren Gründen verteidigen; noch weniger 
Schwierigkeit machen in dieser Beziehung der Lysis, Ohar- 
mides und Lach es. Dagegen wird sich der Menexenos kaum 
halten lassen^); auch gegen die Echtheit des Ion, und noch 
mehr gegen die des größeren Hippias^) und des ersten Alki- 
biades, des Kleitophon sprechen überwiegende Gründe. Der 
zweite Alkibiades, der Theages, die Anterasten, die Epino- 
mis*), der Hipparch und der Minos werden fast nur noch von 
Grote (wegen der vermeintlichen Urkundlichkeit der alexan- 
drinischen Verzeichnisse bei DiOG. III, 56 ff.) festgehalten; 
ebenso ist die Unechtheit der Definitionen allgemein anerkannt, 
und von den Briefen, die aus verschiedenen Zeiten stammen, 
rührt keiner von Piaton her*). 



') Blass Über die Zeitfolge von Pl.s letzten Schriften in : Apophoreton 
1903 S. 52 ff. versteht die Mitteilung bei Diog. so, daß Philippos noch bei 
Piatons Lebzeiten die von diesem auf Wachstafeln {^v xr]g^) entworfenen 
Gesetze abgeschrieben (jjieT^yQaifjiv) und in ßtßUa (nach Suides in 12) ein- 
geteilt und ihnen selbst noch die Epinomis hinzugefugt habe. Kaeder PLs 
philos. Entwickl. 896 ff. schließt sich dieser Auffassung an, hält aber auch 
(S. 413 f.) die Epinomis für ein Werk Piatons. 

8) S. jedoch S. 122 Anm. 1. 

^) [Die Echtheit des größeren Hippias hat jetzt Apelt N. Jahrb. f. kl. 
Phil. 1907 S. 630 ff. durch sorgfältige Vergleich ung mit dem kleineren H. 
wahrscheinlich gemacht. Auch der Ion und der erste Alkibiades haben 
neuerdings Verteidiger ihrer Echtheit gefunden.] 

*) S. jedoch oben Anm. 1. 

^) [Diese unbedingte Verwerfung der Briefe entspricht dem in der 
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus von den angesehensten 
Gelehrten eingenommenen Standpunkt. In den letzten Jahrzehnten hat nach 
dem Vorgange Grotes auch in Deutschland eine andre Auffassung mehr 
und mehr Boden gewonnen, nach der einzelne Briefe, wie der 7. und 8. oder 
der 13. (so Chbist, s. dagegen Phil. d. Gr. II 1*, 483, 5) oder auch samt- 



§ 40. Piatons Scbriften. 125 

Die Abfassungszeit der platonischen Schriften läßt sich 
nur bei wenigen aus ihrer Beziehung auf Zeitereignisse 
(Euthyphron, Apologie, Kriton, Gorgias 521 C, Menon 90 A, 
Theät. Anf., Symp. 193 A, Menexenos 245 A ff.) oder aus 
glaubwürdigen Angaben (Gresetze s. o.) annähernd bestimmen. 
Ihre Reihenfolge kann man sich aus einer planmäßigen An- 
ordnung oder aus Piatons eigener Entwicklung oder aus 
dem zufälligen Verhältnis der einzelnen Veranlassungen und 
Antriebe erklären, welche zur Abfassung jedes Werkes den 
Anstoß gäben; der erste von diesen Erklärungsgründen ist 
von ScHLEiERMACHER, der zweite von Hermann, der dritte von 
SocHER und Ast einseitig ins Auge gefaßt worden, während 
die Mehrzahl der neueren Forscher alle drei als relativ be- 
rechtigt anerkennt, aber allerdings über den Anteil eines 
jeden an dem Ergebnis sehr verschieden urteilt Für die 
Entscheidung der Frage und die Ausmittlung der Ordnung, 
in welcher die einzelnen Schriften verfaßt wurden, geben die 
aus dem Altertum überlieferten Einteilungen der Gespräche, 
auch die Trilogien, in welche Aristophanes von Byzanz 
(um 200 V. Chr.) fünfzehn, und die Tetralogien, in welche 
Thrasyllos (unter dem Kaiser TibQrius) sämtliche Gespräche 
verteilte, keine Beihilfe. Wir sind daher neben den spär- 
lichen chronologischen Spuren ganz auf die inneren Merk- 
male beschränkt, unter denen die direkten und indirekten 
Hinweisungen der Gespräche aufeinander und der in jedem 
sich kundgebende Stand der philosophischen Ansichten die 
sichersten Anhaltspunkte gewähren ; nächst ihnen kommt der 
Charakter der künstlerischen Darstellung und der Sprache 
in Betracht; dagegen ist es bis jetzt nicht gelungen, der 



liehe als echt zu betrachten sind. Die Hauptvertreter der letzteren Ansicht 
sind neuerdings Blass (zuletzt im Apophoreton S. 54 ff.), Ed. Meyer Gesch. 
d. Altert. V (bes. S. 500 ff.) und Raeder Rh. Mus. 1906 S. 427 ff., 511 ff., 
der nur den 1. Brief für unplatonisch hält. Die Frage bedarf noch einer 
gründlichen Prüfung. Von ihrer Entscheidung hängt das Urteil über Pl.s 
Charakter ab. Als Zeugnisse zur Geschichte Siziliens behalten die Briefe 
in jedem Falle ihren Wert.J 



126 Zweite Periode. 

einen oder der andern ein für die ganze Anordnung der 
platonischen Werke entscheidendes Kriterium zu entnehmen ^) ; 
MuKKs Annahme vollends, daß die Reihenfolge der Dialoge 
dem Lebensalter des Sokrates in ihnen entspreche , ist ganz 
undurchführbar. Nach diesen Merkmalen können wir nun 
zunächst einen Teil der Gespräche mit Hermann Piatons 
„sokratischer^ Periode, d. h. der Zeit zuweisen, in der er 
noch nicht wesentlich über den Standpunkt seines Lehrers 
hinausging und auch seiner Darstellung etwas von der 
Trockenheit der sokratischen Gesprächführung anhaftet; eine 
Periode, die mit seiner ägyptischen Reise zum Abschluß ge- 
kommen sein mag. Dahin gehört der kleinere Hippias, der 
Euthyphron "), die Apologie, der Kriton, der Lysis, Laches, 
Charmides und als Höhe- und Schlußpunkt dieser Reihe der 
Protagoras. Dagegen treten uns schon im Gorgias, Menon 
und Eutbydem, und noch bestimmter im Theätet, Sophisten, 
Politikos, Parmenides und Kratylos die Lehren von den Ideen, 
von der Präexistenz, der Unsterblichkeit und den Wanderungen 
der Seele, und mit ihnen die Beweise der Bekanntschaft mit 
dem Pythagoreismus viel zu entschieden entgegen, als daß 
wir mit Hermann den Eutbydem, Menon und Gorgias noch 



^) [Gegenüber den Versuchen, aus sprachlichen und stilistischen Merk- 
malen die Zeitfolge der platonischen Schriften zu ermitteln, die zuerst von 
Campbell im Jahre 1867, dann seit Dittenbeboer (1881) von zahlreichen 
Forschem wie Schanz, C. Rittee, v. Arnim, LUTOStAWSKI (fl. S. 123 Anm. 1), 
Natorp, Janell u. a. gemacht worden sind, hat sich Zellek Phil. d. Gr. II 
1*, 506 f. 512 flf. u. Arch. f. Gesch. d. Phil. H, 677 flf. wohl zu ablehnend 
und zweifelnd verhalten, während Gompebz Griech. Denker II 281 fif. diese 
Untersuchungen viel günstiger beurteilt. In der Tat haben sie in ihrer 
Gesamtheit zu dem Ergebnisse geführt, daß sich auf Grund der sprachlichen 
Kriterien fast alle Dialoge in drei zeitlich getrennte Gruppen einordnen 
lassen und diese Ordnung sich im großen imd ganzen mit der aus sonstigen 
inneren und äußeren Gründen gewonnenen deckt. Innerhalb dieser Gruppen 
jedoch und teilweise auch auf den Grenzgebieten ist eine genauere Fest- 
stellung der Reihenfolge nach sprachlichen Gesichtspunkten kaum möglich.] 

^) [Der Euthyphron ist seinem Inhalte nach wahrscheinlich hinter den 
Gorgias zu setzen. S. Gomperz Griech. Denker U 289 ff.] 



§ 40. Piatons Schriften. 127 

in die „sokratische" Periode verlegen, die dialektischen Ge- 
spräche (Theät. usw.) einer „megarischen" Periode, für die 
es an einem genügenden geschichtlichen Anhalt durchaus 
fehlt, zuteilen, Piatons genauere Kenntnis der pythagoreischen 
Philosophie erst von seiner sizilischen Reise herleiten und 
den Phädros in die Zeit nach der letzteren (387/6 v. Chr.) 
herabrücken dürften. Kann vielmehr der Phädros auch nicht 
mit Schleiermacher für Piatons erste Schrift gehalten oder 
gar mit Usener (Rh. Mus. XXXV, 131 flf.) in 402/3 v. Chr. 
hinaufgesetzt werden, so spricht doch vieles dafür, daß er 
anmittelbar nach dem Menon (der nach S. 90 A nicht vor 
395 V. Chr. geschrieben sein kann) und dem Gorgias, um 
394 V. Chr., verfaßt sei ^) ; daß es daher im wesentlichen auf 
der Absicht einer methodischen Begründung seiner Lehre 
und dem Bedürfnis ihrer Verteidigung (gegen Antisthenes 
und Eukleides) beruhe, wenn Piaton in den dialektischen Ge- 
sprächen die Untersuchungen, deren Ergebnis er im Phädros 
summarisch verkündigt hatte, nun Schritt für Schritt führt. 
Von den letzteren muß der Theätet um 391 verfaßt sein*); 
den nächsten Jahren scheinen der Sophist, Politikos und Parme- 



^) [Dem Phädros wird von vielen neueren Forschem eine spätere Stelle 
ang^ewiesen. Einige, wie Gompebz, setzen ihn unmittelbar hinter das Sym- 
posion, andre, wie Schultess (Piaton. Forsch. 1875), hinter den Phädon oder, 
wie LuTOSIiAWSKI und Raedeb, hinter diesen und den Staat. Dafür, daß der 
Phädon dem Phädros und dem Staate vorangeht, spricht besonders, daß in 
Jenem die Seele als einheitlich, in diesen beiden (und im Timäos) als aus 
drei Teilen bestehend dargestellt wird; auch die Sprachstatistik fuhrt zu 
demselben Ergebnis.] 

*) fS. Zeller II 1 *, 406 flf. Doch sind die chronologischen Gründe, die 
er für eine so frühe Abfassung des Dialoges anführt, nicht zwingend. Un- 
sicher sind freilich auch die Ansätze von Gompebz Griech. Denker 11 593 
(zwischen 374 u. 867) und von Berge, Rohde, LutosIjAWSKI u. a., die ihn 
in eine noch spätere Zeit hinabrücken; aber sein Inhalt, seine dialogische 
Einkleidung und auch die sprachlichen Kriterien scheinen ihm seinen Platz 
hinter dem Staate anzuweisen (s. Raeder Pl.s phil. Entwickl. 50 f. 295 ff.). 
In seine Nähe ist wohl auch der Eratjlos zu setzen, der vielfache Be- 
rührungspunkte mit ihm aufweist (s. Gomperz a. a. O. 595).] 



128 Zweite Periode. 

nides anzugehören *). Das Gastmahl ist (nach S. 193 A) nicht 
vor 385, aber auch wohl nicht nach 384 v. Chr. geschrieben ;. 
nach ihm, wie es scheint, der Phädon und der Philebos. An 
den letzteren schließt sich (vgl. S. 123 Anm. 3) die Republik 



^) Diese drei Gespräche nebst dem Philebos mit Campbell (Soph. and 
Polit. XXIV ff. Rep. n, 46 ff.) und manchen neueren deutschen Gelehrten- 
in Piatons letzte Lebensperiode herabzurücken, halte ich für durchaus un- 
statthaft. Vgl. Arch. f. Gesch. d. Phil. II 681 f. X 576 ff. 892 ff. V 549 ff. 
XI 11 ff. 158 ff. [Die hier von Zeller abgelehnte Ansicht hat sich mehr und 
mehr durchgesetzt und ist jetzt fast zur herrschenden geworden. Die diesen» 
Gesprächen eigentumliche Stellung zu den philosophischen Grundproblemen,. 
die Art, wie die Untersuchung in ihnen gefuhrt wird, die lehrhafte und un- 
dramatische Darstellung, das ihnen (mit Ausnahme des Philebos) gemeinsame- 
Zurücktreten der Person des Sokrates, endlich auch die sprachlichen Kriterien 
unterscheiden sie deutlich von den konstruktiven Dialogen, dem Phädon,. 
Phädros und Staat , und nötigen uns , sie der Altersperiode Piatons zu- 
zuweisen und in eine Reihe mit dem Timäos und den Gesetzen zu stellen.- 
Bereits durch die erkenntnistheoretischen Untersuchungen des Theätet vor- 
bereitet, wird hier eine neue, von der früheren wesentlich verschiedene Auf- 
fassung der Ideen entwickelt. Nachdem Piaton im Parmenides (daß dieser 
dem Sophistes voranzustellen ist, zeigt schon die Anspielung auf ihn 
Soph. 267 C) die sich an Parmenides anschließende Lehre der megarischen 
Schule bekämpft und eine Brücke zwischen dem Einen und dem Vielen gc 
schlagen hat, wendet er sich im Sophistes gegen seine eigene bisherige An- 
schauung von den Ideen (s. S. 108 Anm. 1) als starren, unveränderlichen 
Wesenheiten und sucht, indem er ihnen Bewegung und Leben, Beseeltheit 
und Vernunft, Kraft und Wirken zuschreibt, eine Verbindung zwischen 
ihnen selbst sowie zwischen der Welt des Seins und der des Werden» 
oder des Nichtseins herzustellen. Im Politikos und Philebos zieht er dann 
die Konsequenzen des neugewonnenen Standpunktes für das staatliche 
und das sittliche Gebiet. Es sind hiernach außer der frühesten 
sokratischen Periode und der letzten Gestalt der platonischen Lehre,- 
die auch Zeller getrennt behandelt hat (s. § 50), in der mindesten» 
drei Jahrzehnte umfassenden Zwischenzeit noch zwei Hauptphasen im 
Denken Piatons zu unterscheiden. Dieser Entwicklungsgang kann bei der 
Zellerschen Einteilung in einen propädeutischen und einen systematischen 
Abschnitt, die beide jene ganze Zwischenzeit umfassen, nicht zur Geltung- 
kommen. Es haben daher mit Recht die neuesten Darstellungen der 
platonischen Philosophie fast alle ihre zeitliche Entwicklung zum Einteilungs- 
grunde genommen, ein Verfahren, bei dem freilich starke Verschiedenheiten 
im einzelnen unvermeidlich sind.] 



§ 41. Charakter, Methode und Teile des piaton. Systems. 129 

an, die vielleicht nicht ihrem ganzen Umfang nach gleich- 
zeitig erschien, die wir aber mit Hermann a. a. O., Krohn, 
Pfleiderer, Windelband, Usener, Rohde, Immisch, Döring u. a. 
in heterogene und nach keinem einheitlichen Plan ausgeführte 
Teile zu zerstückeln keinen Grund haben*); an sie der 
Timäos, dessen Fortsetzung, der Kritias, wahrscheinlich in- 
folge von Piatons letzten sizilischen Reisen unvollendet ge- 
blieben ist. Die Gesetze, das umfangreichste Werk Piatons, 
beschäftigten den greisen Philosophen ohne Zweifel während 
einer Reihe von Jahren und wurden erst nach seinem Tode 
herausgegeben; vgl. S. 124. 

§ 41. Charakter, Methode und Teile des 
platonischen Systems. 

Die platonische Philosophie ist zugleich die Fortsetzung 
und die Ergänzung der sokratischen. Piaton hat es so wenig 
wie sein Lehrer auf bloß theoretische Forschung abgesehen: 
das ganze Verhalten der Menschen soll von den Gedanken, 
die der Philosoph findet, durchdrungen und geleitet, ihr sitt- 
liches Leben durch die Wissenschaft reformiert werden ; und 
mit Sokrates ist auch er überzeugt, daß diese Reform nur 
auf das Wissen begründet werden könne, und daß ein wahres 
Wissen nur das sei, welches von der Erkenntnis der BegriflFe 
ausgeht. Aber er will dieses Wissen zum System entwickeln, 
und wie er hierbei zuerst unter den griechischen Philosophen 
alle seine Vorgänger berücksichtigt und alle Anknüpfungs- 
punkte, die sie ihm boten, benutzt, so geht er auch in der 
Ausführung des Systems weit über die Grenzen des sokrati- 



1) S. Phil. d. Qr. II 1^, 556 ff. Abgelehnt haben die Zerstfickelungs- 
versuche, die übrigens in ihren Ergebnissen wie in ihrer Begründung viel- 
fach voneinander abweichen, auch Campbell und Adam in ihren Ausgaben 
des Staates (1894 und 1902), Hibmek Entst. u. Komp. d. pl. Politeia 1897, 
LUT0S£AWSKI a. a. O., Goiipebz a. a. O. 359 f., Raedeb a. a. O. 186 ff., 
JoäL Festschr. z. Philologenvers. 1907 S. 295 ff. u. a. 

Zell er, Grundriß. 9 



130 Zweite Periode. 

sehen Philosophierens hinaus : aus der sokratischen Dialektik 
erwächst seine Ideenlehre, aus den ethischen Grundsätzen 
seines Lehrers eine ausgeführte Ethik und Politik, und beide 
ergänzt er nicht bloß durch eine mit seiner Metaphysik und 
seiner Ethik eng verbundene Anthropologie, sondern auch 
durch eine Naturphilosophie, welche die auffallendste Lücke 
der sokratischen Philosophie seinem ganzen Standpunkt ent- 
sprechend ausfüllt. Diesem Bedürfnis der Systematik ent- 
spricht es, wenn das wissenschaftliche Verfahren des Sokrates 
nicht allein tatsächlich nach der Seite der Begriffsbildung 
vertieft, nach der der Begriffsentwicklung erweitert wird, 
sondern auch die Regeln dieses Verfahrens bestimmter fest- 
gestellt werden und dadurch die aristotelische Logik sich 
vorbereitet. Doch wird in den platonischen Schriften die 
sokratische Weise der dialogischen Gedankenentwicklung fest- 
gehalten, weil die Wahrheit nicht als überlieferte, sondern 
nur als selbstgefundene besessen werden kann ; aber das per- 
sönliche Gespräch wird hier zum kunstmäßigen fortgebildet, 
und auch dieses nähert sich mehr und mehr dem fortlaufen- 
den Vortrag. Den Mittelpunkt dieser Gesprächführung bildet 
Sokrates : teils aus Pietät, teils aus künstlerischen Rücksichten, 
teils und vor allem, weil sich die Philosophie als lebendige 
Kraft nur an dem vollendeten Philosophen vollkommen dar- 
stellen läßt. Zur Belebung dieser Darstellung dienen auch die 
Mythen, in denen sich ebenso wie in der geistvollen Mimik 
vieler Gespräche Piatons Dichternatur betätigt; zugleich deuten 
sie aber auch auf die Lücken des Systems hin, da sie eben 
nur da einzugreifen pflegen, wo sich der Gegenstand einer 
genaueren wissoDschaftlichen Bestimmung entzieht. 

Die xenokratische Einteilung der Philosophie in Dialektik, 
Physik und Ethik (vgl. § 51) findet sich der Sache, wenn auch 
nicht der Fonn nach, schon bei Piaton ; diesen systematischen 
Ausführungen sind aber die propädeutischen voranzustellen, 
welche in den Schriften aus seinen früheren Jahren den 
größten Raum einnehmen und auch in späteren wiederkehren. 



§ 42. Die propädeutische Begründung der piaton. Philosophie. 131 

§ 42. Die propädeutische Begründung der 
platonischen Philosophie. 

Um die Berechtigung und die Aufgabe der Philosophie 
festzustellen, weist Piaton sowohl dem gewöhnlichen Bewußt- 
sein als der sophistischen Aufklärung, die sich an seine Stelle 
setzen wollte, Mängel nach, denen nur durch philosophisches 
Erkennen und Leben begegnet werden könne. Jenes ist in 
seinem theoretischen Verhalten vorstellendes Bewußtsein, es 
sucht die Wahrheit teils in der Wahrnehmung, teils in der 
Vorstellung oder Meinung (do^a) ; sein praktischer Charakter 
spricht sich in der gewöhnlichen Tugend und den herrschen- 
den sittlichen Grundsätzen aus. Piaton seinerseits zeigt, daß 
das Wissen weder in der Wahrnehmung noch in der richtigen 
Vorstellung bestehe; denn die Wahrnehmung zeige uns die 
Dinge nicht, wie sie sind, sondern nur, wie sie uns erscheinen, 
und eben deshalb mit den wechselndsten und entgegen- 
gesetztesten Bestimmungen (Theät. 151 E ff. u. a. St.); die 
Vorstellung aber sei sich, auch wenn sie ihrem Inhalte nach 
richtig ist, ihrer Gründe nicht bewußt; sie beruhe nicht auf 
Belehrung, sondern auf bloßer Überredung und sei daher 
immer in Gefahr, in Irrtum umzuschlagen; während das 
Wissen immer wahr sei, könne die Vorstellung sowohl wahr 
als falsch sein, aber auch die richtige Vorstellung stehe doch 
nur in der Mitte zwischen dem Wissen und Nichtwissen 
(Menon 97 ff. Theät. 187 ff. Symp. 202. Tim. 51 E. u. a.). 
Nicht anders verhält es sich aber nach Piaton auch mit der 
gewöhnlichen Tugend. Auf Gewöhnung und richtiger Vor- 
stellung, nicht auf Wissen beruhend und deshalb auch wirk- 
licher Lehrer entbehrend, ist sie in ihrem Bestände dem Zu- 
fall (der d^ela pioiqa) preisgegeben (Menon 89 D ff. Phädon 
82 A u. a.) ; sie ist so unklar über sich selbst, daß sie neben 
dem Guten auch Böses zu tun erlaubt (den Freunden Gutes, 
den Feinden Böses), und so unrein in ihren Motiven, daß 
sie die sittlichen Anforderungen selbst nur auf Lust und Vor- 
teil zu gründen weiß (Rep. I, 334 Bf. II, 362 E ff.). Nur das 



132 Zweite Periode. 

Wissen gewährt eine sichere Bürgschaft für die Richtigkeit 
des Handelns, denn dieses richtet sich immer nach der An- 
sicht des Handelnden, niemand ist freiwillig böse (vgl. S. 102); 
und Piaton führt deshalb in seinen früheren Schriften alle 
Tugenden mit Sokrates auf die Einsicht zurück, ohne zu 
sagen, ob und inwiefern trotzdem von mehreren Tugenden 
gesprochen werden kann; und ebenso erklärt er (Phädon 
68 B ff.) die Einsicht für das einzige, was der Mensch sich 
zum Lebenszweck machen und wofür er alles andere hin- 
geben solle. Diese Einsicht ist aber bei denen, welche sich 
selbst ihrer Zeit als Tugendlehrer empfahlen, den Sophisten 
(denen Piaton um so weniger gerecht wird, je schärfer er 
sich selbst von ihnen zu unterscheiden sich gedrungen fühlt), 
so wenig zu finden, daß ihre Lehre vielmehr alle Grundlagen 
der Wissenschaft wie der Sittlichkeit zerstören würde. Der 
Satz, daß der Mensch das Maß aller Dinge, daß für jeden 
wahr sei, was ihm wahr scheint, hebt alle Wahrheit und so 
auch seine eigene auf; auch läßt er sich schon durch die 
Meinungen über Zukünftiges widerlegen (Theät. 170f. 177 ff.). 
Die Behauptung, daß die Lust der höchste Lebenszweck, und 
daß jedem erlaubt sei, was ihm gut dünkt, verwechselt das 
Gute mit dem Angenehmen, das Wesenhafte und Unveränder- 
liche mit dem Werdenden, welches keiner festen Begrenzung 
fähig ist, das unbedingt Wertvolle mit dem, was sowohl 
schlecht als gut sein kann, und was in der Regel durch sein 
Gegenteil, die Unlust, bedingt ist (Gorg. 466 ff. 488 ff. Phileb. 
23 ff. Rep. I, 348 ff VI, 505 C. IX, 583 f.). Die Sophistik, 
welche diese Grundsätze aufstellt, kann ebenso wie die 
Rhetorik, welche sie praktisch verwertet, nur als das Gegen- 
teil aller wahren Lebenskunst und Wissenschaft, nur als 
eine von jenen Afterkünsten, jenen unwissenschaftlichen 
Fertigkeiten betrachtet werden, die den Schein an die Stelle 
des Seins setzen (Gorg. 462 ff. Soph. 223 B ff. 232 ff. 254 A. 
264 D ff. Phädr. 259 E ff.). 

' Nur die Philosophie leistet das wirklich, was die 
Sophistik verspricht. Ihre Wurzel ist der Eros, das Streben 



§ 42. Die propädeutische Begründung der piaton. Philosophie. 133 

des Sterblichen, sich zur Unsterblichkeit zu erheben, welches 
im Fortschritt vom Sinnlichen zum Geistigen, vom Einzelnen 
zum Allgemeinen, erst in der Anschauung und Darstellung 
der Idee sein eigentliches Ziel erreicht (Symp. 201 D ß. 
Phädr. 243 E fF.). Das Mittel zur Erkenntnis der Ideen ist 
aber das begriffliche oder dialektische Denken (dialeycTinc^ 
fjiid^odog Rep. VII, 533 C), und dieses hat eine doppelte Auf- 
gabe: die Bildung der Begriffe, durch die wir vom Einzelnen 
zum Allgemeinen, vom Bedingten zum Unbedingten aufsteigen, 
und ihre Teilung, welche uns methodisch durch die natür- 
lichen Zwischenglieder vom Allgemeinen zum Besonderen 
herabführt und uns dadurch über das gegenseitige Verhältnis 
der Begriffe, ihre Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit, ihre 
Über-, Unter- und Beiordnung unterrichtet. In der Begriffs- 
bildung folgt Piaton den gleichen, von ihm nur ausdrück- 
licher ausgesprochenen Grundsätzen wie sein Lehrer; als 
ein eigentümliches Hilfsmittel dient ihm hierbei jene Prüfung 
der Voraussetzungen an ihren Konsequenzen, die im Parme- 
nides unter Zenons Einfluß die Form einer antinomischen 
Begriffsentwicklung annimmt. Für die Einteilung verlangt 
er, daß sie sich auf die qualitativen Unterschiede der Dinge 
gründe, und daß sie stetig fortschreite, ohne ein Mittelglied 
zu überspringen (denn gerade dadurch unterscheidet sich 
nach Phileb. 18 A. S.oph. 253 B ff. das dtaXe^TtyLiog und das 
eQiauxwg Ttoielad^ai tovq X6yovQ)\ und er gibt deshalb der 
Zweiteilung vor jeder anderen den Vorzug *). Auch über die 
Richtigkeit des sprachlichen Ausdrucks hat, wie Pia ton im 
Kratylos zeigt, der Dialektiker zu entscheiden, da sie ganz 
davon abhängt, inwieweit er das Wesen der zu bezeichnen- 
den Dinge darstellt; wogegen es verkehrt ist, den Worten 
die Aufschlüsse entnehmen zu wollen, die nur der Begriff der 
Sache gewährt. Wie aber das begriffliche Erkennen und das 



^) Hauptquellen für das Obige sind: Phädr. 265 C ff. Bep. YII, 
533 C f. 537 C. VI, 511 B. Parm. 135 C ff. Soph. 251 ff. Polit. 262 f. 
Phileb. 16Bff. 



134 Zweite Periode. 

sittliche Handeln bei Sokrates aufs engste verknüpft waren, 
so verhält es sich auch bei Piaton: die Philosophie begreift 
nach seiner Auffassung nicht bloß alles Wissen, sobald dieses 
in der rechten Art betrieben wird, unter und in sich, sondern 
sie sichert auch allein und unfehlbar die Erfüllung der sitt- 
lichen Aufgaben. Sie ist Erhebung des ganzen Menschen 
aus dem Sinnenleben, Hinwendung des Geistes zur Idee; 
eine bloße Vorbereitung für sie ist (Rep. VII, 514 ff. 521 C ff. 
II, 376 E ff. III, 401 B ff.) alle sonstige Bildung und Erziehung : 
die Bildung des Charakters durch Musik und Gymnastik^ 
durch die man das Gute zu tun, das Schöne zu lieben sich 
gewöhnt, die Bildung des Denkens durch die mathematischen 
Wissenschaften, deren Hauptaufgabe es ist, vom Sinnlichen 
zum ünsinnlichen hinüberzuleiten ; ihr eigentliches Organ aber 
ist die Kunst des begrifflichen Denkens, die Dialektik, und 
der wesentliche Gegenstand dieses Denkens sind die Ideen. 

§ 43. Die Dialektik oder die Ideenlehre. 

Wenn Sokrates erklärt hatte, nur die Erkenntnis der 
Begriffe gewähre ein wahres Wissen, so geht Piaton zu der 
weiteren Behauptung fort, nur dem in den Begriffen Gedachten^ 
nur den Formen der Dinge, den Ideen, komme ein wahres, 
und ursprüngliches Sein zu. Dieser Satz ergab sich au& 
jenem vermöge der Voraussetzung, in der Piaton mit Parme- 
nides (s. o. S. 56 f.) übereinstimmte , daß nur das Seiende 
als solches erkannt werden könne und daher die Wahrheit 
unsrer Vorstellungen durch die Wirklichkeit ihres Gegen- 
standes bedingt sei und mit ihr gleichen Schritt halte (Rep. 
V, 476 E ff. VI, 511 D. Theät. 188 D ff.), daß das Gedachte 
von dem Vergestellten sich ebenso durchgreifend unterscheiden 
müsse wie das Denken von der Vorstellung (Tim. 51 D f.). 
Auf diesem Standpunkt erschien die Realität der Ideen als. 
die unerläßliche Bedingung für die Möglichkeit des wissen* 
schaftlichen Denkens^). Das gleiche ergab sich aber auch 

^) Parm. 135 B : et y^ jis rf ^ . . . av fxr] idaet, tMri rtSv ovxtav' 



§ 48. Die Dialektik oder die Ideenlehre. 135 

aus der Betrachtung des Seins als solchen. Alles, was wir 
wahrnehmen, unterliegt (wie Heraklit gezeigt hatte) einer 
unablässigen Veränderung; es schwebt immer zwischen ent- 
gegengesetzten Zuständen y stellt keine seiner Eigenschaften 
rein und ganz dar; ein Bleibendes, sich selbst Gleiches, mit 
keinem andern Vermischtes kann nur das sein, was, den 
Sinnen unzugänglich, bloß durchs Denken erkannt wird. 
Alles Einzelne ist ein Vielfaches und Geteiltes ; aber die 
Einzeldinge werden zu dem, was sie sind, nur durch ihr 
gemeinsames, im Begriff erfaßtes Wesen. Alles Werdende 
hat seinen Zweck an einem Sein: es ist so, weil es gut ist, 
daß es so sei (die Welt ist, wie Anaxagoras und Sokrates 
lehrten, das Werk der Vernunft); und ebenso soll all unser 
Tun einem vernünftigen Zweck dienen. Diese Zwecke 
können aber nur in der Verwirklichung dessen liegen, in 
dem das Denken die unwandelbaren Urbilder der Dinge 
erkennt, der Begriffe^). Wir sind somit, wie Piaton glaubt, 
in jeder Beziehung genötigt, das unsinnliche Wesen der Dinge 
als das allein wahrhaft Seiende von ihrer sinnlichen Er- 
scheinung zu unterscheiden. 

Dieses Wesen der Dinge sieht nun der Philosoph, wie 
schon aus dem bisherigen hervorgeht, in ihrer Form (eldogj 
idia^ beides gleichbedeutende Ausdrücke), d. h. in dem All- 
gemeinen, dem, was einer Reihe von Einzelwesen gemein- 
schaftlich zukommt, ihren gemeinsamen Begriff ausmacht. 
„Wir nehmen eine Idee an, wo wir eine Mehrheit von Einzel- 
dingen mit demselben Namen bezeichnen" (Rep. X, 596 A 
vgl. VI, 507 B. Theät. 185 B f. Parm. 132 C. Arist. Metaph. 
XIII, 4. 1078 b 30. I, 9. 990 b. 6 u. v. a. St.); dagegen kann 
ein Einzelding als solches (wie etwa die Seele, von der dies 



^Ivai . . . ov^l Snoi TQiifjat riiv 6$dvotav 'i^a& [iri iiov iSiav rtov ovrtov 
ixaarov Ttjv ttbriiv del €ha$, xal ovrtog r^y toO diaXiyiod-ai Svvafiiv 

1) Phadon 74Aflf. 78Dff. 97B— 103C. Rep. V, 478 E ff. VH, 523 C ff. 
X, 596 A. Tim. 27 D ff. 68 E f. Parm. 131 E f. Phileb. 54 Bf. Theat. 176 E. 
Arist. Metaph. I, 6 Anf. XIII, 9. 1086 a 31 ff. vgl. I, 9. 990 b 6 ff. 



136 Zweite Periode. 

ßlTTER u. a. glaubten) niemals eine Idee sein. Dieses All- 
gemeine existiert aber nach Piaton , dessen Streit mit Anti- 
sthenes (s. S. 112) sich um diesen Punkt dreht, nicht bloß 
in unserem Denken, aber auch nicht bloß im Denken der 
Gottheit^). Sondern rein für sich und bei sich selbst bleibt 
es immer in derselben Gestalt, keiner Veränderung irgend- 
einer Art unterworfen, als das ewige Urbild dessen, was an 
ihm teilhat, gesondert von diesem {xfaqig)^ nur mit dem 
Verstände zu schauen (Symp. 211 A. Phäd. 78 D. 100 B. Rep. 
VI, 507 B. Tim. 28 A. 51 B f.): die Ideen sind, wie Aristoteles 
sie zu bezeichnen pflegt, x(ji)Qioid\ und gerade in diesem 
ihrem Fürsichsein sind sie das allein wahrhaft und ursprüng- 
lich Wirkliche, dem alles Werdende und Veränderliche zu 
verdanken hat, was es von Wirklichkeit besitzt. Sie werden 
daher die ovaia, das owtog op, o sariv 6V, das Ansichseiende 
oder das Ansich der Dinge ^) genannt; und weil es von jeder 

^) Das letztere eine Annahme, die seit der Zeit der neupythagoreischen 
und neuplatonischen Schule bis heute viele Anhänger gefunden hat; Piaton 
widerspricht der Meinung, daß die Ideen nur Gedanken und nicht außer 
den Seelen vorhanden seien, Parm. 132 B ff. (vgl. Symp. 211 A). Tim. 51 B 
ausdrücklich. S. Phil. d. Gr. II 1 *, 664 ff., wo die modernen Vertreter der 
Ansicht, daß die Ideen nur menschliche Gedanken seien, und die ihr ver- 
wandte Auffassung Lotzes, Cohens, LuTOSLAWSEls u. a., daß das Fürsichsein 
der Ideen nur ihre stets sich selbst gleiche Geltung und Bedeutung ausdrücke 
(vgl. die diesem Standpunkt entsprechende Darstellung der Ideenlehre bei 
Vorländer Gesch. d. Phil. I ^ S. 92 ff.), als unhaltbar erwiesen wird. Auf 
demselben Boden steht Natorp Piatons Ideenlehre (1903), der sich nament- 
lich an Cohen anschließt und durch eine sehr scharfsinnige Interpretation 
der einzelnen Dialoge den Nachweis zu führen sucht, daß die Ideen Pl.s 
in Wahrheit keine verdinglichten Begriffe, keine Substanzen, wie sie Arist. 
in völligem Mißverständnis ihrer Bedeutung aufgefaßt habe , sondern 
Methoden , Gesetze , reine Setzungen des Denkens seien. Damit sind die 
Grundsätze des kritischen Idealismus Kants in der Gestalt, wie er bei Cohen 
und Natorp erscheint, auf Piaton übertragen. Die Unzulänglichkeit der von 
Natorp für seine These vorgebrachten Gründe hat H. Gomperz Arch. f. G. 
d. Phil. XVIII, 441 ff. dargetan. 

2) avro exaOTOv, uvto ro xaiov, ^txaiov avro Phäd. 65 D. 78 D, 
ttVTOif ^eanoTov, o eari ötanlrrig Parm. 133 D, a(fa(Qug avTrjs rijs d-eias 
Phileb. 62 A, avjo xaXov xal avTO ayadov, o ioTtv (^xftajov Rep. VI, 



§ 48. Die Dialektik oder die Ideenlehre. 137 

Klasse von Dingen nur eine Idee gibt (Pann. 132 A. C. 
Rep. VI, 493 E. 507 B), werden sie auch als hvdöeg oder /äo- 
vdöeg bezeichnet (Phileb. 15 A f.). Sie stehen also der Viel- 
heit der Dinge als das Einheitliehe, ihrer Wandelbarkeit als 
das Unveränderliche gegenüber. Wenn wir in der Sinnenwelt 
mit Heraklit nur ein Werden finden können, so zeigen uns 
die Ideen das Sein, in dem Piaton mit dem von ihm so hoch- 
verehrten Parmenides den einzigen wahren Gegenstand der 
Wissenschaft erkennt. Aber doch will er dieses Sein nicht 
wie das der Eleaten als ein solches gedacht wissen, das jeden 
Unterschied von sich ausschließt: er zeigt im Sophisten 
(244 B ff. 251 ff.), daß jedes Seiende, als ein bestimmtes, 
trotz seiner Einheit eine Mehrheit von Eigenschaften, und in 
seinem Unterschied von allem andern unendlich viel Nicht- 
sein (d. h. Anderssein) an sich- habe, daß daher bei jedem 
Begriff untersucht werden müsse, mit welchen andern er in 
Gemeinschaft treten könne und mit welchen nicht; und im 
Parmenides widerlegt er auf indirektem Wege sowohl die 
Annahme, daß es nur eine Vielheit ohne Einheit, als die 
andre, daß es nur eine Einheit ohne Vielheit gebe. In 
seiner späteren Zeit bezeichnete er deshalb die Ideen im An- 
schluß an die Pythagoreer als Zahlen (vgl. § 50); in seinen 
Schriften findet sich diese Darstellungsform noch nicht, aber 
doch nähert sich ihr der Philebos, wenn er 14 C ff. mit deut- 
licher Hinweisung auf die pythagoreische Lehre (und speziell 
Philolaos) auseinandersetzt, daß nicht bloß die Dinge, sondern 
auch die einheitlichen ewigen Wesenheiten aus Einem und 
Vielem bestehen, Grenze und Unbegrenztheit in sich haben. 
Und ebensowenig soll die Unveränderlichkeit der Ideen so 
gefaßt werden, daß es unmöglich würde, sie als die Ursachen 
des Gewordenen und Veränderlichen zu begreifen. Nur von 
ihnen kann ja diesem das Sein kommen, an dem es teilhat; 

507 B — daher bei Aristoteles nicht bloß avTO xo aya&ov usw., sondern 
auch uvTo aya&ov, uvri IV xal Svy und mit einer, wie es scheint, von 
Piaton überkommenen Ausdrucksweise uvToav&Qtonogf avTouyad^ovj avro- 
iTiiarri/Ltrjf avxoixaaiov usw., y^\, Bonitz Ind. Arist. 124 b. 52 ff. 123 b. 46 tf. 



138 Zweite Periode. 

und wirklich bezeichnet auch Piaton im Phädon 99 D ff. die 
Ideen als die Ursachen, durch die alles wird, was es ist; 
nach Rep. VI, 508 E. VII, 517 B ist die Idee des Guten die 
Ursache aller Vollkommenheit, alles Seins und Erkennens; 
mit dem Guten feilt aber (Phileb. 22 C) die göttliche Ver- 
nunft zusammen, und an der gleichen Stelle, welche sonst 
die Ideen einnehmen, treffen wir im Philebos (23 C f. 26 E f. 
28Cff.) die „Ursache", von der alle Ordnung und Vernunft 
in der Welt stammt. Noch bestimmter zeigt der Sophist 
(248 A ff.), daß das wahrhaft Seiende als wirkende Kraft ge- 
dacht, daß ihm daher Bewegung, Leben, Seele und Vernunft 
beigelegt werden müsse. Wie sich dies aber mit der ün- 
veränderlichkeit der Ideen verträgt, hat Piaton nicht zu 
zeigen versucht, und je mehr er seine Gedanken zum System 
entwickelte, um so mehr mußte die dynamische Auffassung 
der Ideen als wirkender Kräfte gegen die ontologisch-teleo- 
logische, nach der sie die unveränderlichen Formen und Ur- 
bilder der Dinge sind, zurücktreten*). 

Da nun die Ideen nichts andres sind als die allgemeinen 
Begriffe, zu metaphysichen Realitäten verselbständigt, so muß 
es von allem Ideen geben, was sich auf einen allgemeinen 
Begriff zurückführen, mit einem gemeinsamen Namen be- 
zeichnen läßt (s. S. 135). Diese Folgerung hat Piaton auch 
wirklich gezogen. Wir finden in seinen Schriften Ideen von 
allem Möglichen, nicht bloß von Substanzen, sondern auch 
von Eigenschaften, Verhältnissen und Tätigkeiten, nicht bloß 
von Naturdingen, sondern auch von Kunsterzeugnissen, nicht 
bloß von Wertvollem, sondern auch von Schlechtem und Ge- 
ringem ; die Größe an sich, die Zweiheit an sich, den Namen 
an sich, das Bett an sich, den Sklaven an sich, die Idee 
des Schmutzes, der Ungerechtigkeit, des Nichtseienden usw. 

') [Daß im Soph. eine neue Auffassung der Ideenlehre begründet wird, 
die sich von der früheren wesentlich unterscheidet, ist S. 128 Anm. 1 be- 
merkt worden. Spuren dieser Auffassung finden sich allerdings schon in 
den oben angeführten Stellen des Phädon und des Staates; aber zur vollen 
Entfaltung kommt sie erst in den späteren Dialogen.] 



§ 44. Piatons Physik. Die Materie and die Weltseele. 139 

Erst in einer späteren Zeit beschränkte Piaton die Ideen auf 
Naturdinge (vgl. § 50). Alle diese Ideen stehen untereinander 
in einem bestimmten Verhältnis, dessen systematische Dar- 
stellung die Aufgabe der Wissenschaft ist (vgl. S. 133). In- 
dessen ist nicht allein der Gedanke einer apriorischen Kon- 
struktion dieses Systems der BegriflFe Piaton fremd, sondern 
auch zu einer logischen Darstellung nimmt er kaum einen 
Anlauf. Nur über seine oberste Spitze hat er (Rep.VI, 504 E ff., 
VII, 517 B f.) sich eingehender geäußert, indem er als solche 
die Idee des Guten bezeichnet. Alles in der Welt ist so, 
wie es ist, weil es so am besten war, und es wird nur dann 
wirklich begriffen, wenn es auf das Gute als seinen letzten 
Zweck bezogen wird (Phädon 97 B ff.). Dieser Gedanke 
nimmt für Piaton die Gestalt an, daß das Gute der letzte 
Grund alles Seins und Erkennens, daß die Idee des Guten 
es sei, die, über beides erhaben, dem Seienden seine Wirk- 
lichkeit, dem Erkennenden seine Verntinftigkeit und sein 
Wissen gewähre. Das Gute feilt also für ihn als der abso- 
lute Grund alles Seins mit der Gottheit zusammen, die auch 
Tim 28 C. 37 A ganz so wie jenes charakterisiert und Phileb. 
220 (vgl. die abweichende Ansicht Speusipps bei Stob. Ekl.I, 
c. 1, p. 35, 3 W) für identisch mit der göttlichen Vernunft 
erklärt wird. Nun müßte freilich das Gute, wie alle Ideen, 
ein Allgemeines und als höchste Idee das Allgemeinste, die 
oberste Gattung sein, und so fragt es sich, wie es zugleich 
die Gottheit, also ein persönliches Wesen, sein könne. Allein 
diese Frage hat Piaton ohne Zweifel so wenig aufgeworfen, 
als er die Frage nach der Persönlichkeit Gottes überhaupt 
aufwarf. 

§ 44. Piatons Physik. Die Materie und die 
Weltseele. 
Wenn jede Idee eine ist, sind es der Dinge, die unter 
sie fallen, unbestimmt viele; wenn jene ewig und unwandel- 
bar ist, sind diese entstanden, vergänglich und in beständiger 
Veränderung begriffen ; wenn jene das, was sie ist, rein und 



140 Zweite Periode. 

ganz ist, sind sie dies niemals; wenn jener ein vollkommenes 
Sein zukommt, schweben sie ebenso zwischen Sein und 
Nichtsein, wie die Vorstellung, deren Gegenstand sie sind, 
zwischen Wissen und Nichtwissen. Diese UnvoUkommenheit 
des sinnlichen Daseins läßt sich, wie Pia ton glaubt, nur 
daraus erklären, daß es bloß teilweise aus der Idee, zum 
andern Teil dagegen aus einem andern von ihr verschiedenen 
Prinzip stammt; und da nun alles, was von Realität und 
Vollkommenheit in ihm ist, von der Idee herrührt, wird das 
Wesen jenes zweiten Prinzips nur in dem gesucht werden 
können, was die sinnliche Erscheinung von der Idee unser- 
scheidet: es wird nur als unbegrenzt, durchaus veränderlich; 
nichtseiend und unerkennbar gedacht werden können. Eben 
dies sind nun die Bestimmungen, die Piaton jenem Grunde 
des sinnlichen Daseins beilegt, den man mit einer auf Aristo- 
teles zurückgehenden Bezeichnung die platonische Materie 
zu nennen pflegt. Er beschreibt ihn als das Unbegrenzte 
(Phileb. 24 A ff.) oder, wie er (nach Aristoteles) später sagte, 
das Große und Kleine; als das, was an sich selbst gestaltlos, 
allen den wechselnden Gestalten der Erscheinung zugrunde 
liege und sie in sich aufnehme, als den Raum {x^Q^^ TOTtog), 
der allem Werdenden eine Stätte darbiete, als etwas, das 
weder mit dem Denken noch mit der Wahrnehmung und 
Vorstellung erkannt, sondern nur mit Mühe (durch einen 
Xoyiofxbg vod-og) erschlossen werde (Tim. 49 A — 52 D) ; und 
damit stimmt es überein, daß er ihn nach Aristoteles^), 
EuDEMOS^) und Hermodoros (b. Simpl. Phys. 248, 13) auch 
geradezu als das Nichtseiende bezeichnete. Denn den leeren 
Raum hatten schon Leukipp und Demokrit dem Nichtseien- 
den gleichgesetzt, und wenn in den sinnlichen Dingen Sein 
und Nichtsein gemischt sind, ihr ganzes Sein aber aus der 
Idee stammt, bleibt für ihren zweiten Bestandteil, die Materie, 
nur das Nichtsein übrig ; wenn sich das denkende Erkennen 

1) Phys. I, 9. 191 b 36. 192 a 6 vgl. III, 2. 201 b 20. 
«) Bei Simpl. Phys. 431, 8 ff. vgl. Tim. 52 E. 57 E. 



§ 44. Piatons Physik. Die Materie und die Weltseele. 141 

(nach Rep. V, 477 A) auf das durchaus Seiende bezieht, die 
Vorstellung und Wahrnehmung auf das zwischen Sein und 
Nichtsein Schwebende, so kann das, was sich auf keine von 
beiden Arten erkennen läßt, nur das Nichtseiende sein. Wir 
haben daher unter Piatons sogen. Materie in seinem Sinn 
nicht eine raumerfUllende Masse, sondern nur den Raum 
selbst zu verstehen, wie er sie denn auch nie das nennt, 
aus dem, sondern immer nur das, in dem die Dinge ent- 
stehen : die Körper bilden sich nach ihm (vgl. § 45) dadurch, 
daß gewisse Teile des Raumes in die Gestalten der vier 
Elemente gefaßt werden; daß es aber nicht eine körperliche 
Masse ist, aus der sie so entstehen, erhellt unwidersprechlich 
aus der Behauptung, sie lösten sich beim Übergang ineinander 
in ihre kleinsten Begrenzungs flächen auf, um sich aus 
ihnen neu zusammenzusetzen. Eine strenge Durchführung 
dieser Theorie war freilich schwer, und so stellt Piaton 
(Tim. 30 A. 52 D f. 69 B) die Sache auch wieder so dar, als 
ob die Gottheit, da sie an die Bildung der Elemente ging, 
„alles Sichtbare" als ein chaotisches, regellos bewegtes Ge- 
menge vorgefunden hätte. Allein diese Schilderung kann in 
keinem Fall eigentlich genommen werden, denn auch auf 
eine raumerfUllende, sonst aber (nach Tim. 49 E ff. 69 B) 
jeder Gestaltung und Bestimmung entbehrende Masse würde 
sie nicht passen, da eine solche nach Piatons ausdrücklicher 
Erklärung (Tim. 31 B) nicht sichtbar gewesen wäre, und 
auch die „Spuren" der Elemente (53 B. 52 D) nicht einmal 
vorübergehend an sich gehabt haben könnte. Muß man aber 
einmal zwischen dieser Darstellungsform und Piatons eigent- 
licher Meinung unterscheiden, so hindert uns nichts, auch 
die hier vorgenommene Verdichtung des Raumes zum Stoffe 
unter die mythischen Züge zu rechnen, an denen der Timäos 
so reich ist*). 



^) [Über diese Gleichsetzung der platonischen Materie mit dem (leeren) 
Räume s. das Nähere Phil. d. Gr. II, 1 S. 727 flF. VgL u. a. auch Wdjdkl- 
BAKD Gesch. d. alten Phil.« 8. 122 und Piaton (1900) S. 89. 106 f. Die 
entgegengesetzte Ansicht, daß unter der Urmaterie eine raumerfuUende 



142 Zweite Periode. 

Sofern es nun nur das Nichtseiende sein soll, was die 
Dinge von den Ideen unterscheidet^ ist das Reale in beiden 
dasselbe, die Dinge verdanken alles, was von Sein in ihnen 
ist, der Gegenwart (Ttagovaia) der Ideen, ihrer Teilnahme 
(fie&e^ig, yioivwvia) an diesen. Sofern andrerseits jenes 
„Nichtseiende" doch alle die Eigenschaften bewirkt, durch 
welche das Körperliche sich von dem Unkörperlichen unter- 
scheidet, muß in ihm eine zweite Art der Ursächlichkeit 
neben der der Ideen erkannt werden, die der blinden, ver- 
nunftlosen Notwendigkeit, welche sich nicht auf die Natur- 
zwecke, sondern auf die Bedingungen ihrer Verwirk- 
lichung bezieht und die Vernunft in dieser beschränkt (Tim. 
46 C f. 48 A. 56 C. Phädon 98Bff.); neben dem, was die 
Dinge von den Ideen zu Lehen tragen, ist in ihnen ein 
zweiter Bestandteil, dem wir gleichfalls ein Sein, nur von 
andrer Art als das der Ideen, beilegen müssen: die Ideen 
und die Dinge erscheinen getrennt voneinander, jene sind die 
Urbilder {TtaQadeiy/xcna Theät. 176 E. Tim. 28 C. u. ö.), diese 
das Abbild. Von jenem Standpunkt aus stellt sich das 
platonische System zwar nicht als ein pantheistisches (denn 
die vielen Ideen sind nicht bloß Teile oder Emanationen 
einer höchsten), aber doch als ein monistisches, ein reiner 
Idealismus dar: die Dinge sind den Ideen immanent. Aus 
dem andern betrachtet erscheint es dualistisch : die Ideen sind 
von den Dingen und diese von jenen getrennt. Aber in seiner 
Eigentümlichkeit hat man es nur dann begriffen, wenn man 
erkennt, weshalb sich Piaton weder der einen noch der andern 
Betrachtungsweise enthalten und somit keine von beiden 



Masse zu verstehen sei, vertritt nach dem Vorgange namhafter Forscher 
GoMPEBz Griech. Denker II, 484. 606, wobei er sich besonders darauf 
beruft, daß PI. den leeren Raum im Tim. (79 B u. ö.) ausdrücklich leugne. 
Die Schwierigkeit, die hieraus der Zell ersehen Auffassung erwächst, wird 
beseitig^, wenn man mit Natobp Pl.s Ideenlehre S. 355 annimmt, daß der 
Raum im Tim. der rein geometrische Raum sei, auf den sich die physika- 
lischen Unterschiede des Vollen und Leeren überhaupt nicht anwenden 
lassen.] 



§ 44. Piatons Physik. Die Materie und die Weltseele. 143 

rücksichtslos durchführen, ebensowenig aber auch beide 
widerspruchslos vereinigen konnte. 

Ist aber das Körperliche von der Idee durch einen so 
weiten Zwischenraum getrennt, wie Piaton annimmt, so be- 
darf es nur um so mehr eines Mittelgliedes, das beide ver- 
knüpft, und dieses kann nichts andres sein als die Seele. 
Nur die Seele als das Sichselbstbewegende kann der Grund 
der Bewegung und des Lebens (qqxV ^'^^^(f^oyg) für die 
Körperwelt sein; nur durch ihre Vermittlung kann dieser 
die Vernunft eingepflanzt, die Ordnung des Weltgebäudes, 
die Vorstellungs- und Denkkraft der einzelnen Vernunft- 
wesen hervorgebracht werden ^). Von der Bildung der Welt- 
seele gibt der Timäos (34 B ff.) eine Schilderung , als deren 
ernstlichei in viel phantastisches Beiwerk eingehüllte Meinung 
sich aber nur das ergibt, daß die Seele zwischen den Ideen 
und der Körperwelt in der Mitte stehe und beide verknüpfe, 
unkörperlich und sich selbst gleich, wie jene, aber durch 
diese verbreitet und vermöge ihrer eigenen ursprünglichen 
Bewegung sie bewegend ; daß sie alle Zahl- und Maßverhält- 
nisse in sich befasse, alle Gesetzmäßigkeit und Harmonie in 
der Welt erzeuge; daß ebenso alle Vernunft und Erkenntnis, 
in dem Weltganzen wie in dem Einzelwesen, durch ihre Ver- 
nünftigkeit und ihr Erkennen vermittelt sei; während die 
Frage nach ihrer Persönlichkeit von Piaton offenbar noch 
gar nicht aufgeworfen wurde. — Die gleiche Stellung, wie 
hier die Weltseele, nimmt im Philebos (25 A ff.) die „Grenze" 
(7t€Qag)j welche gleichfalls der Grund aller Ordnung und alles 
Maßes sein soll, und in der aristotelischen Darstellung der 
platonischen Lehre (§ 50) das „Mathematische" ein, dessen 
Betrachtung ja auch bei Piaton selbst (s. o.. S. 134) den 
Übergang zu der der Ideen vermittelt; nur daß hier die 
Form, bei der Seele die bewegende und belebende Kraft das 
Bindeglied zwischen Idee und Erscheinung bildet. So wenig 
aber Piaton beide einander unmittelbar gleichgesetzt hat, so 
wenig läßt sich doch ihre nahe Verwandtschaft verkennen. 

1) Phädr. 245 C. Gess. X, 891 E ff. Phileb. 30 A f. Tim. 30 A f. 



144 Zweite Periode. 

§ 45. Das Weltgebäude und seine Teile. 

Um nun die Welt aus ihren letzten Gründen zu erklären, 
bedient sich Piaton im Timäos der herkömmlichen Form 
einer Eosmogonie. Er läßt den Weltbildner (drjfiiovQyog) im 
Hinblick auf das Urbild des lebenden Wesens (das avto^ciov) 
die Seele der Welt aus ihren Bestandteilen zusammenmischen 
(S. 143), dann ihren Stoff in die Form der vier Elemente fassen 
und schließlich aus ihnen die Welt bauen und mit den 
organischen Wesen bevölkern. Indessen ist nicht bloß das 
Einzelne dieser Darstellung großenteils mythisch, sondern 
auch das Ganze hat eine so mythische Haltung, daß es 
schwer ist, genau zu bestimmen, wieviel davon Piatons 
eigentliche wissenschaftliche Überzeugung ausdrückt. Daß 
er die wahre Ursache der Welt in der Vernunft, den Ideen, 
der Gottheit erkennt, steht außer Zweifel; aber die Unter- 
scheidung des Weltbildners von den Ideen (oder genauer: 
von der höchsten der Ideen) gehört bereits zu den mythischen 
Zügen (vgl. S. 139); und gebraucht er auch die Vorstellung 
eines zeitlichen Weltanfangs, wie es scheint, nicht mit aus- 
drücklichem Bewußtsein als bloße Form zur Einkleidung des 
Gedankens an die Abhängigkeit aller Dinge von den idealen 
Gründen, so steht sie doch mit andern Bestimmungen seiner 
Lehre, namentlich mit der Ewigkeit des menschlichen Geistes 
(S. 146), in einem so auffallenden Widerspruch, daß man 
annehmen muß, es sei ihm bei ihr doch im wesentlichen nur 
um jenen Gedanken zu tun; ob aber hierfür eine zeitliche 
Weltentstehung nötig und ob sie an sich selbst denkbar sei, 
habe er gar nicht untersucht*). Um so wichtiger ist ihm 
aber jenes Allgemeine. Als das Werk der Vernunft ist die 
Welt durchaus zweckmäßig eingerichtet: nur die Endursachen 
sind die wahren Erklärungsgründe der Erscheinungen, die 



^) Anders Gompebz , der Gr. D. II 484 ff. 605 f. darzulegen versucht, 
daß es PI. mit der Erschaffung der Welt durch den Demiurgos voller Ernst 
sei; s. jedoch Natobp PLs Ideenl. S. 339 f. 



§ 45. Das Weli^bäude und seine Teile. 145 

materiellen blo6 die Bedingungen, ohne die sie nicht möglich 
wären (vgl. S, 142). Piaton legt daher der teleologischen 
Naturbetrachtung einen ungleich höheren Wert bei als der 
physikalischen, wie er dies im Timäos auch durch die 
äußere Sonderung beider und die Voranstellung der ersteren 
ausdrückt. 

Der erste Schritt zur Bildung einer Welt war die ihrer 
Grundstoffe, der vier Elemente. Piaton gibt flir diese eine 
doppelte Ableitung. Er verlangt vom teleologischen Gesichts- 
punkt aus Feuer und Erde als Bedingung für die Sichtbarkeit 
und Betastbarkeit der Körper und dann ein Band zwischen 
beiden, das in zwei Proportionalen bestehen müsse, weil es 
sich hier um Körper handle ; und er bezeichnet mit Philolaos 
(s. S. 49) vier von den fünf regelmäßigen Körpern als die 
Grundformen von Feuer, Luft, Wasser, Erde; konstruiert 
dann aber diese Körper selbst, über jenen hinausgehend, aus 
den kleinsten rechtwinkligen Dreiecken, aus denen ihre Be- 
grenzungsflächen sich zusammensetzen, und läßt sie beim 
Übergang eines Elementes in ein andres (der deshalb nur 
bei den drei oberen möglich ist) in jene Dreiecke sich auf- 
lösen und aus ihnen neu bilden (vgl. S. 141). Jedes Element 
hat seinen natürlichen Ort, dem es zustrebt; durch die Ge- 
samtheit der Elemente ist aller Raum in der Welt vollständig 
ausgefüllt. 

Diese selbst denkt sich Piaton als vollkommene Kugel, 
die Erde als Vollkugel in der Mitte ruhend, die Gestirne in 
Sphären oder Ringen (so, wie es scheint, die Planeten) be- 
festigt, durch deren Drehung sie herumgeführt werden ; wenn 
alle Gestirne in ihre ursprüngliche Stellung zurückgekehrt 
sind, ist das große Weltjahr (von 10 000 Jahren) abgelaufen, 
mit dem Piaton vielleicht auch die von ihm angenommenen 
Verheerungen der Erde durch Fluten und Brand (Tim. 22 C ff. 
Gess. III, 677 A ff.) in Verbindung gesetzt hat. Die Gestirne 
sind vernünftige, selige Wesen, die „sichtbaren Götter"; und 
ebenso ist der Kosmos der eine alle andren Wesen in sich 

Zell er, Grundrirs. 10 



146 Zweite Periode. 

befassende wahrnehmbare Gott, das Abbild des übersinnlichen, 
unvergänglich und nie alternd, das vollkommenste und herr- 
lichste von allem Geschaffenen. 

§ 46. Piatons Anthropologie. 

Zur Vollkommenheit der Welt gehört es, daß sie ebenso 
wie ihr Urbild, das ai/ro^i^ovy alle Arten von lebenden Wesen 
in sich enthalte. Indessen hat von diesen nur der Mensch 
für Piaton ein selbständiges Interesse: den Pflanzen und 
Tieren widmet er nur beiläufig einige ziemlich unerhebliche 
Bemerkungen. Eingehender beschäftigt sich der Timäos mit 
dem menschlichen Leibe; aber mit der platonischen Philo- 
sophie stehen nur wenige von diesen physiologischen An- 
nahmen in einem inneren Zusammenhang. Die Seele des 
Menschen ist ihrem Wesen nach der des Weltganzen gleich- 
artig, von der sie herstammt (Phileb. 30 A. Tim. 41 D f. 
69 C f.) ; einfacher und unkörperlicher Natur ist sie durch 
ihre Selbstbewegung Grund der Bewegung für ihren Leib; 
mit der Idee des Lebens unzertrennlich verknüpft, hat sie 
weder ein Ende noch auch^) einen Anfang ihres Daseins. 
Aus einer höheren Welt in den irdischen Leib herabgekommen, 
kehren die Seelen nach dem Tode, wenn sie ein reines und 
dem Höheren zugewendetes Leben geführt haben, wieder 
dorthin zurück, während die besserungsbedürftigen teils jen- 
seitigen Strafen, teils einer Wanderung durch menschliche 
und tierische Leiber unterworfen werden ; in seinem früheren 
Dasein hat unser Geist die Ideen geschaut, an die er sich 
beim Anblick ihrer sinnlichen Abbilder wieder erinnert*). 
Die weitere Ausführung dieser Sätze hat Piaton in mythischen 
Darstellungen gegeben, von denen er selbst andeutet, daß er 



^) Nach Phädr. 245 C ff., Menon 86 A f. und der Konsequenz des Uü- 
sterblichkeitsbeweises im Phädon 102 ff.; anders im Timäos, vgl. aber S. 144. 

^ Die Belege för das Obige finden sich außer dem Phädon, der fünf 
Beweise für die Unsterblichkeit fuhrt : Phädr. 245 C ff. Gorg. 523 ff. Menon 
81 A ff. Eep. X, 608 C ff. Tim. 41 D ff. 



§ 46. Platöns Anthropologie. I47 

ihren einzelnen vielfach voneinander abweichenden Zügen 
keinen wissenschaftlichen Wert beilege; aber sie selbst 
sprechen seine wirkliche Überzeugung aus, und nur hinsieht* 
lieh der Seelenwanderung fragt es sich, ob er den Eintritt 
menschlicher Seelen in Tierleiber im Ernst annahm. Ver- 
sucht man dagegen, Piaton (mit Teichmülleb) die Annahme 
einer persönlichen Unsterblichkeit und Präexistenz abzu- 
sprechen, so muß man die Erklärungen und Beweisführungen 
des Philosophen in der unzulässigsten Weise umdeuten oder 
das, was er als seine entschiedenste wissenschaftliche Über- 
zeugung vorträgt, für eine bloße Metapher oder Anpassung 
erklären; man übersieht aber dabei auch, wie eng der Un-» 
Sterblichkeitsglaube bei Piaton durch die Lehre von der 
Wiedererinnerung mit seiner Erkenntnistheorie, durch die 
Annahme einer dereinstigen Vergeltung mit seiner Ethik und 
Theologie, durch den Gegensatz zwischen dem Geistigen, das 
ewig, und dem Körperlichen, das vergänglich ist, mit seiner 
ganzen Metaphysik verknüpft ist^). 

Diesen Ansichten gemäß kann Piaton das eigentliche 
Wesen der Seele nur in ihrer geistigen Natur, ihrer Vernunft 
ßoytüTiyioVj Phileb. 22 C vovg) suchen. Sie allein ist ihr gött- 
licher und unsterblicher Bestandteil; erst beim Eintritt in 
den Leib verband sich mit diesem der sterbliche ; nur in dem 
Mythos des Phädros präexistiert auch dieser. Die sterbliche 
Seele hat dann wieder zwei Teile : den Mut (ßv^iogy Sv\Loeideg) 
und die Begierde (to iTtt^fiririytov, auch (piXoxQ'S^cetov). Die 
Vernunft hat ihren Sitz im Kopf, der Mut in der Brust, die 
Begierde im Unterleib (Rep. IV, 435 B ff. Tim. 69CfF. 



^) [Doch scheint Pl.s Unsterblichkeitslehre ebenso wie seine Ansichten 
von den Seelenteilen (s. u.) und den Ideen (s. S. 128 Anm. 1) gewisse Wand-^ 
Hingen durchgemacht zu haben (s. Gate The Platonic conception of im-* 
mortality and connexion with the theory of idea 1904). Besonders auffallig 
ist die Verschiedenheit der Auffassung im Phädon und im Gastmahl: in 
iisnem ist die Seele im Gegensatze zum sterblichen Leibe unsterblich, 
während dieses nur eine Unsterblichkeit durch ewige Fortzeugung des 
Körpers sowohl wie der Seele kennt. S. Natorp Pl.s Ideenl. S. 167 ff.] 

10* 



148 Zweite Periode. 

72 D ff. Phädr. 246). Wie aber freilich mit dieser Drei- 
teilung der Seele ') die Einheit des persönlichen Lebens sich 
▼ertrage, welchem Seelenteil das Selbstbewußtsein und der 
Wille- angehöre, wie in der körperfreien Seele noch eine 
Neigung zur Sinnen weit sein könne, wie die körperlichen 
Zustände und die Erzeugung auf den Charakter des Menschen 
den durchgreifenden Einfluß haben können, den er ihnen 
zuschreibt, darüber gibt uns Piaton keinen Aufschluß. Ebenso- 
wenig finden wir bei ihm eine Untersuchung über die Natur 
des Selbstbewußtseins und des Willens, und wenn er die 
Freiheit des letzteren entschieden voraussetzt (Rep. X, 617 E. 
619 B. Tim. 41 E ff. Gess. X, 904 B f.), so fehlt es doch an 
jeder Andeutung darüber, wie sich der ebenso bestimmt aus- 
gesprochene sokratische Satz, daß niemand freiwillig böse 
sei (Tim. 86 D ff. Gess. V, 731 C f. 734 B. IX, 860 D ff. 
Menon 77 B ff. Prot. 345 D f. 358 B f.), damit vereinigen läßt. 

^>§ 47. Piatons Ethik. 

Piatons Ethik erhielt ihre wissenschaftliche Gestalt und 
ihren idealen Charakter durch die Verbindung, welche die 
ethischen Grundsätze seines Lehrers mit seiner Metaphysik 
und seiner Anthropologie eingingen. Da die Seele ihrem 
wahren Wesen nach der übersinnlichen Welt angehört und 
nur in dieser ein wahres| und dauerndes Sein zu finden ist, 
so jrird sich der Besitz des Guten oder die Glückseligkeit, 
welche das letzte Ziel des menschlichen Lebens bildet, nur 
durch die Erhebung in jene höhere Welt erreichen lassen; 
der Leib dagegen und die Si nnlichkeit i st ein Grab und 
Kerker der Seele, welche ihre^ ernünftigen ^Bestandteile erst 
durch die Verbindung mit ihm erhalten hat, der Grund aller 
Begierden und aller Störungen der geistigen Tätigkeit. Die 



^) [Doch ging der Dreiteilang der Seele, die im Phädros und im Staat 
naher beschrieben wird, wahrscheinlich eine andere Auffassung, die von der 
Einheit der Seele (im Phädon), vorauf; vgl. S. 127 Anm. 1.] 



§ 47. Piatons Ethik. 149 

wa*hre Bestimmung des Menschen liegt daher in jener Flucht 
aus dem Diesseits, welche dem Theäiet 176 B zufolge darin 
besteht, daß man sich durch Tugend und Einsicht Gott ähn- 
lich macht, in jenem philosophischen Sterben, auf welches 
der Phädon (64 A — 67 B) das Leben des Philosophen zurück- 
führt.^^ Sofern aber andererseits das Sichtbare doch das Ab- 
bild des Unsichtbaren ist, ergibt sich die Aufgabe, die sinn- 
liche Erscheinung als das Hilfsmittel zur Anschauung der 
Idee zu benutzen und diese in jene einzuführen. Von diesem 
Standpunkt geht Piaton in seinen Sätzen über den Eros 
(S. 132 f.) und in der Untersuchung des Philebos über das 
höchste Gut aus (die Phil. 61 ff. ihr Resultat zieht); denn 
w^enn er auch dessen wertvollsten Bestandteil in der Vernunft 
und Einsicht sucht, will er doch nicht allein das erfahrungs- 
^^äßige Wissen, die richtige Vorstellung und die Kunst, 
Sondern auch die Lust, soweit sie sich mit der Gesundheit 
d^s Geistes verträgt, in seinen Begriff mit aufnehmen; wie 
er andererseits auch, was den Schmerz betrifft (Rep. Xy 
603 E f.), nicht Empfindungslosigkeit, sondern Beherrschung 
und Mäßigung der Empfindung verlangt. (Wird aber auch 
hierin die Bedeutung des Äußeren für den Menschen an- 
erkannt, so ist doch die wesentliche Bedingung seines Glückes 
nach Piaton ausschließlich seine geistige und sittliche Be- 
schaffenheit, seine Tugend ; und sie ist dies nicht bloß wegen 
des Lohnes, der ihr gleichfalls im Diesseits und im Jenseits 
gesichert ist; sondern auch dann wäre der Gerechte un- 
bedingt glücklicher als der Ungerechte, wenn jener von 
Göttern und Menschen behandelt würde, wie es dieser, und 
dieser, wie es jener verdient: Unrecht tun ist schlimmer als 
Unrecht leiden, und für seine Vergehen gestraft zu werden, 
wünschenswerter, ^^upiiraf los und infolge davon ungebessert 
zu bleiben. DiÄ^als'die Schönheit und Gesundheit der 
Seele Qst die Tugend unmittelbar auch die Glückseligkeit J 
sie trägt ihren Lohn ebenso wie die Schlechtigkeit ihre 
Strafe in sich selbst; sie ist die Herrschaft des Göttlichen 
im Menschen über das Tierische und als solche das einzige, 



150 _— — — ^^ Zweite Periode. 

(^w^yiJXB frei und reich macht, (wasjins dauernde Befriedigung 
und Gemütaruhe verschafft *^^::^3^ 

In seiner Tugend lehre selbst schließt Piaton sich an- 
fangs ganz an Sokrates an, indem er die gewöhnliche Tugend, 
weil sie nicht auf Einsicht gegründet ist, gar nicht als wirk- 
liche Tugend gelten läßt und seinerseits umgekehrt alle 
Tugenden auf die Einsicht zurückführt und mit ihrer Ein- 
^ . h^t auch ihre Lehrbarkeit behauptet^^ So im Laches, 
CHarmides und Protagoras *) (vgl. S. 132). ^Aber schon im 
Menon (96 D ff.) räumt er ein, daß neben dem Wissen auch 
die richtige Vorstellung zur Tugend bewegen könne, und in 
der Republik (II, 376 E ff. III, 401 B ff. 410 B ff.) erkennt er 
in dieser unvollkommenen, auf Gewöhnung und richtigen 
Vorstellungen beruhenden Tugend die unentbehrliche Vorstufe 
der höheren, auf wissenschaftliche Erkenntnis gegründeten. 
^*^£ben80 gibt er aber jetzt nicht allein zu , daß die sittlichen 
Anlagen, das ruhige und das feurige Temperament {aoxpqo" 
0VV7} und ävdQsia Polit. 306 f.), die Sinnlichkeit, die Willens- 
kraft und das Denkvermögen (Rep. III, 415. IV, 435 E f. 
VI, 487 A) , an die einzelnen und an ganze Völker ungleich 
verteilt seien, sondern seine Psychologie macht es ihm auch 
möglich, mit der Einheit der Tugend eine Mehrheit von 
Tugenden zu vereinigen, indem er jeder von den Grund- 
tugenden einen bestimmten Ort in der Seele anweist.! Dieser 
zählt er nun vier, deren Deduktion er zuerst versucht und 
deren Zahl er zuerst fest bestimmt zu haben scheint. In 
der richtigen Beschaffenheit der Vernunft besteht die Weis- 
heit; darin, daß der Mut die Entscheidung der Vernunft 



') Gorg. 504AfiF. Rep. I, 353 A flF. IV, 443 C ff. IX, 583 B ff. X, 
609 B ff. Theat. 177 A f. u. ö. 

^) Nach Natobp Ideenl. S. 10 ff. hätte PL noch im Prot, wie in der 
Apologie im vollen Ernste, nicht etwa ironisch, die Nichtlehrbarkeit der 
Tugend behauptet und wäre erst im Menon zu der Erkenntnis gelangt, daß 
sie lehrbar sei , und zwar durch das Erwecken der Selbstbesinnung 
{avdfivriats). Die hierfür beigebrachten Gründe sind jedoch nicht über- 
zeugend. 



§ 48. . Piatons Staatslehre. 151 

über das, was zu fürchten oder nicht zu fürchten ist, gegen 
Lust und Schmerz aufrecht hält, die Tapferkeit ; in der Über- 
einstimmung aller Seelenteile über die Frage, wer von ihnen 
zu befehlen und wer zu gehorchen hat, die Selbstbeeherrschung 
(ao)g)Qoavvrj) ; in dem Ganzen dieses Verhältnisses, darin, dafi 
jeder Seelenteil seine Aufgabe erfüllt und nicht über sie 
hinausgreift, die Gerechtigkeit (Rep. IV, 441 C ff.). Dieses 
chema zu einem ausgeführten System der Tugendlehre zu 
entwickeln, hat Piaton nicht versucht; in seinen gelegent* 
liehen Äußerungen über sittliche Tätigkeiten und Pflichten 
stellt er uns die Ethik seines Volkes in ihrer edelsten Ge- 
stalt dar; und wenn erJdurch einzelne Sätze, wie namentlich 
durch das Verbot, den Feinden Böses zu tun (s. S. 131), 
über sie hinausgeht, weiß er do&h bei anderen Punkteb, wie 
in seiner Auffassung der Ehe, seiner Verachtung der Hand- 
arbeit, seiner Anerkennung der Sklaverei j ihre Schranken 
nicht zu durchbrechen. 

§ 48. Piatons Staatslehre. 
Zu dem Hellenischen in Piatons Ethik gehört vor allem 
ihre enge Verbindung mit der Politik. Während aber die 
altgriechische Auffassung die sittlichen Aufgaben fast ganz 
in den politischen aufgehen ließ, führt Piaton umgekehrt die 
politischen Aufgaben auf die sittlichen zurück. Er ist mit 
Sokrates überzeugt, daß der Mensch zuerst an sich selbst 
und erst an zweiter Stelle für das Gemeinwesen arbeiten solle 
(Symp. 216 A); er findet nicht bloß unter den bestehenden 
Verhältnissen für den Philosophen keinen Raum zu politischer 
Tätigkeit (Rep. 488 A ff. u. ö.) , sondern er betrachtet diese 
auch in seinem Idealstaat als ein Opfer, das er der Gesamt- 
heit bringe (Rep. 519 C ff. 347 Äff. 500 Bf.); er hält das 
Staatsleben überhaupt nur deshalb für notwendig, weil es das 
einzige Mittel ist, um die Tugend in der Welt zu erhalten 
und zur Herrschaft zu bringen (Rep. 490 E ff. u, ö.). Sein 
wesentlicher Zweck ist daher die Tugend und ebendamit die 
Glückseligkeit der Staatsbürger, seine Hauptaufgabe die Er- 



152 Zweite Periode. 

Ziehung des Volkes zur Tugend (Gorg. 464 Bf. 521 D ff. 
Polit. 309 C. Rep. 500 D. u. 0.); und entspringt es auch zu- 
nächst aus dem physischen Bedürfnis (Rep. 3(59 B ff.) ^ so 
würde doch eine Gesellschaft, die sich auf die Befriedigung 
der Bedürfnisse beschränkte (wie der kynische Eulturstaat), 
den Namen eines Staates nicht verdienen (Rep. 372 D. Polit. 
272 B). Alle wahre Tugend ruht aber auf wissenschaftlicher 
Erkenntnis, auf der Philosophie. Die Grundbedingung jedes 
tüchtigen Staatswesens ist daher die Herrschaft der Philo- 
sophie oder, was dasselbe, der Philosophen (Rep. 473 Off. 
Polit. 293 C). Diese Herrschaft muß eine unbedingte sein, 
und sie kann nur den wenigen anvertraut werden, die dazu 
fllhig sind, denn die Philosophie ist nicht Sache der großen 
Masse (Polit. 293 A. Rep. 428 D f.). Die Verfassung des 
platonischen Staates ist daher eine Aristokratie, die absolute, 
durch kein Gesetz beschränkte Herrschaft der Sachverstän- 
digen, der Philosophen (Rep. 428 E. 433 ff. Polit. 294 Äff. 
297 A ff.). Damit dieser regierende Stand die erforderliche 
Macht hat, und der Staat nach außen geschützt ist, muß zu 
ihm als zweiter der Kriegerstand (^iJXofx«^, inUovqoi) hinzu- 
kommen ; während die Masse des Volkes, die Landbauer und 
Gewerbetreibenden, einen dritten, von aller politischen Tätig- 
keit ausgeschlossenen, auf den Erwerb beschränkten Stand 
bilden (Rep. 373 D ff.). Platon begründet diese Trennung 
der Stände mit dem Grundsatz der Arbeitsteilung; ihr eigent- 
liches Motiv liegt aber in der Überzeugung (Polit. 292 E 
u. a. St.); daß nur eine Minderheit der Ausbildung für die 
höheren politischen Funktionen fähig sei; und indem er nun 
ferner voraussetzt (Rep. 415 ff.) , daß die Anlage dazu sich 
in der Regel vererbe, nähert sich der Unterschied der drei 
Stände einem Kastenunterschied ; er selbst vergleicht sie den 
drei Teilen der Seele und verteilt die Tugenden des Gemein- 
wesens an sie ebenso , wie die des einzelnen an jene (Rep. 
427 D ff.). Damit aber die beiden höheren Klassen ihrem 
Berufe genügen (um die Lebensweise und die Erziehung des 
dritten Standes kümmert sich der aristokratische Philosoph 



§ 49. Piatons Ansichten über die Religion und die Kunst. 153 

nicht), mufi ihre Bildung und Lebensordnung ganz und gar 
vom Staat geleitet und auf seine Zwecke berechnet sein. 
Der Staat sorgt dafür, daß seine Bürger von den tüchtigsten 
Eltern und unter den günstigsten Umständen erzeugt werden; 
er gibt ihnen durch Musik (worüber S. 155) und Gymnastik 
eine Erziehung, an der ebenso wie später an der politischen 
und kriegerischen Tätigkeit auch die Frauen teilnehmen ; er 
bildet die künftigen Regenten durch die mathematischen 
Wissenschaften und die Dialektik für ihren Beruf aus, um 
sie dann nach vieljähriger praktischer Tätigkeit, wenn sie 
sich allseitig bewährt haben, im fünfzigsten Jahre in den 
ersten Stand aufzunehmen, dessen Mitglieder die Staatsleitung 
abwechselnd besorgen. Er nötigt sie aber auch in der Folge, 
ganz ihm zu gehören, indem er durch Aufhebung des Privat- 
eigentums und der Familie dem Erbfeind der Staatseinheit, 
dem Privatinteresse, die Wurzeln abschneidet. Daß es Piaton 
mit diesen Vorschlägen vollster Ernst ist, daß er sie nicht 
allein für heilsam, sondern auch für ausführbar hält, steht 
außer Zweifel; wie er denn auch alle andern Staatsformen, 
außer der seinigen (deren er Polit. 300 ff. sechs, Rep. VIII. 
IX vier zählt), als verfehlte bezeichnet (Rep. 449 A u. ö.). Zu 
ihrer Erklärung reicht aber weder der Vorgang spartanischer 
und pythagoreischer Erscheinungen noch der Gegensatz 
gegen die Ausschreitungen der attischen Demokratie aus, 
sondern ihr letzter Grund liegt darin, daß der ganze Charakter 
seines Systems den Philosophen verhindert, in der sinnlichen 
und individuellen Seite des menschlichen Daseins etwas 
andres als ein Hindernis der wahren Sittlichkeit zu sehen, 
sie als das natürliche Mittel flir die Verwirklichung der Idee 
zu begreifen. 

§ 49. Piatons Ansichten über die Religion und 

die Kunst. 

Nach sittlich -politischen Gesichtspunkten richtet sich 

auch Piatons Stellung zu der Religion und der Kunst seines 

Volkes; welche beiden ihrerseits da im engsten Zusammen- 



154 Zweite Periode. 

hang standen, wo die Dichter die Steile der Theologen und 
der 0£fenbaruDg8urkanden vertraten und das Theater ein 
Bestandteil des Kultus war. Piatons eigene Religion ist 
jener philosophische Monotheismus, für welchen die Gottheit 
mit der Idee des Guten zusammen&Ut, der Vorsehungsglaube 
mit der Überzeugung, daß die Welt das Werk der Vernunft 
und das Abbild der Idee sei, die Gottesverehrung mit der 
Tugend und Erkenntnis. In demselben Sinn sind auch seine 
populären Äußerungen über Gott oder die Götter gehalten; 
diese gehen aber allerdings, namentlich in seinem Vorsehungs- 
glauben und seiner Theodizee, über die strenge Eonsequenz 
seines Systems um so leichter hinaus, je weniger er die be- 
griffliche und die vorstellungsmäßige Form jenes Glaubens 
kritisch verglichen und insbesondere die erst viel später 
hervortretende Frage über die Persönlichkeit Gottes sich 
vorgelegt hat. Neben der Gottheit im absoluten Sinn werden 
die Ideen als die ewigen Götter, der Kosmos und die Ge^ 
stirne als sichtbare Götter bezeichnet; während der Philosoph 
nicht verbirgt, daß er die Götter der Mythologie für Ger 
schöpfe der Phantasie hält (Tim. 40 D f.), und über die vielen 
unsittlichen und der Gottheit unwürdigen Bestandteile der 
Mythologie scharfen Tadel ausspricht (Rep. 377 E ff. u. ö.). 
Aber trotzdem will er die hellenische Religion als die seines 
Staates, ihre Mythen als erste Grundlage des Unterrichts 
festhalten, nur daß sie von jenen schädlichen Beimischungen 
gereinigt werden sollen; was er verlangt, ist nicht eine Ver- 
drängung, sondern feine Reform des Volksglaubens. 

Wie die Religion, so wird auch die Kunst von Piaton 
zunächst nach ihrer ethischen Wirkung beurteilt. Gerade 
weil er selbst philosophischer Künstler ist, weiß er die reine, 
keinem anderweitigen Zweck dienende Kunst nicht zu 
würdigen. Der Begriff des Schönen wird von ihm in 
sokratischer Weise, ohne schärfere Zergliederung seiner 
Eigentümlichkeit, auf den des Guten zurückgeführt; die 
Kunst betrachtet er als eine Nachahmung (filfiTjaig) , nicht 
des Wesens der Dinge, sondern ihrer sinnlichen Erscheinung; 



§ 50. Die spätere Gestalt der platonisehen Lehre, die Gesetze. 155 

und er wirft ihr vor, dafi sie, aus unklarer Begeisterung 
ifiavia) entsprungen ; unsre Teilnahme für Falsches und 
Wahres, Schlechtes und Gutes gleichsehr in Anspruch nehme, 
daß sie in vielen ihrer Erzeugnisse, wie namentlich im Lust- 
spiel, den niedrigsten Neigungen schmeichle, weil sie durch 
ihr buntes Spiel die Einfachheit und Geradheit des Charakters 
gefährde. Um eine höhere Berechtigung zu gewinnen, mufi 
sich die Kunst in den Dienst der Philosophie stellen; sie 
muß als sittliches Bildungsmittel behandelt werden und ihre 
höchste Aufgabe darin suchen, daß sie den Wert der Tugend 
und die Verwerflichkeit des Lasters einschärft. Nach diesem 
Maßstab soll sich die staatliche Leitung und Beaufsichtigung 
richten, welcher Piaton in seinen zwei großen politischen 
Werken die Kunst und namentlich die Dichtkunst und Musik 
bis ins einzelnste unterworfen wissen will; den gleichen legt 
er selbst an, wenn er nicht bloß alle unsittlichen und un- 
würdigen Erzählungen über Götter und Helden, sondern auch 
alle üppige und verweichlichende Musik und die gesamte 
nachahmende Poesie und daher auch Homer aus seinem 
Staate verbannt. Ebenso verlangt Piaton, daß die Rede- 
kunst, deren gewöhnliche Übung aufs entschiedenste ver- 
urteilt wird (vgl. S. 132), zum Hilfsmittel der Philosophie 
umgebildet werde. 

§ 50. Die spätere Gestalt der platonischen Lehre, 
die Gesetze. 
Das System, welches sich uns in den platonischen 
Schriften bis zum Timäos und Kritias herab darstellt, erfuhr 
in dem letzten Abschnitt von Piatons Leben, etwa seit seiner 
Zurückkunft von der letzten sizilischen Reise, erhebliche 
Veränderungen. Nach Aristoteles beschränkte Piaton 
damals, als dieser ihn hörte, den Umfang der Ideen auf die 
Arten der Naturwesen. Die Ideen selbst bezeichnete er als 
Zahlen (vgl. S. 137), unterschied aber diese Idealzahlen 
(ccQix^/Jol vorjTot) von den mathematischen dadurch, daß jene 
nicht, wie diese, aus gleichartigen Einheiten bestehen und 



156 Zweite Periode. 

daher nicht zusammengezählt werden können ; aus den Ideal- 
zahlen liefi er die idealen, aus den mathematischen die 
mathematischen Größen hervorheben ; denn das Mathematische 
stellte er zwischen die Ideen und die sinnlichen Dinge (s. o. 
S. 143). Er begnügte sich ferner jetzt nicht mehr damit, in 
den Ideen den letzten Grund der Erscheinungen aufzuzeigen, 
sondern fragte nach den Bestandteilen (aTOix^ia) der Ideen 
selbst und fand diese in dem Eins, welches er dem Guten 
gleichsetzte, und dem Unbegrenzten, das er das Große und 
Kleine (fieya nat fiiKgov) nannte, weil es weder nach oben 
noch nach unten begrenzt ist, und sofern die Zahlen aus 
ihm hervorgehen, die Vielheit oder die „unbestimmte Zwei- 
heit". Wie aber dieses Unbegrenzte zu dem, welches der 
Grund der Körperwelt ist, sich verhalte, scheint er nicht 
untersucht und dadurch den Schein ihrer (von Aristoteles an- 
genommenen) völligen Einerleiheit hervorgerufen zu haben ^). 
Mit den Pythagoreem, denen er sich in alledem annäherte, 
unterschied er jetzt auch den Äther als fünften Körper in 
den vier Elementen. 

In den gleichen Jahren, denen diese Lehrform angehört, 
machte Piaton in den Gesetzen (worüber aber S. 124 zu 
vergleichen) den Versuch, zu zeigen, wie auch auf dem Boden 
der bestehenden Verhältnisse und ohne die Voraussetzungen 
des Philosophenstaates, auf dessen Ausführbarkeit er jetzt 
verzichtet hat, eine wesentliche Besserung der staatlichen Zu- 
stände sich herbeiführen ließe. Die Herrschaft der Philosophie, 
nach der Bepublik das einzige, was der Menschheit helfen 
kann, ist jetzt aufgegeben : an die Stelle der philosophischen 

^) Die aristotelischen Hauptstellen darüber finden sich Metaph. I, 6. 
9. Xni, 6 ff., wozu Alexandebs Kommentar zu vergleichen. Weiteres Phil, 
d. Gr. II 1, 946 ff. Piaton. Studien 217 ff. Süsemihl Genet. Entwiekl. d. 
plat. Phil. II, 509 ff. 532 ff. Natorp Ideenl. S. 413 ff. geht in seiner Dar- 
stellung von der kaum glaublichen Voraussetzung aus, daß Aristoteles, wie 
überhaupt Pl.s Ideenlehre, so auch ihre letzte Gestalt völlig mißverstanden 
habe (vgl. S. 136 Anm. 1). Nach Gompebz Griech. Denker III Heft 1 S. 6ff. 
sind die Idealzahlen als Zahlprinzipien anzusehen, in denen PI. die Ur- 
gründe der Dinge zu erkennen glaubte. 



§ 50. Die spatere Gestalt der platonischen Lehre, die Gesetze. 157 

Regenten tritt ein Verein der Einsichtigsten ohne amtliche 
Befugnisse, an die Stelle der Dialektik als einer wissenschaft- 
lichen Erkenntnis der Ideen teils die Mathematik, teils die 
Religion; und wenn die letztere ihrem Inhalt nach Piatons 
Grundsätzen durchaus entspricht, geht sie doch in keiner 
Beziehung über jene nach ethischen Gesichtspunkten ge- 
reinigte Volksreligion hinaus, welche in der Republik nur 
der Masse als Ersatz für die Dialektik bestimmt war. 
Ebensowenig kann die Leitung der Einzelseele der Weisheit 
im höchstem Sinne übertragen werden: ihre Stelle nimmt 
die praktische Einsicht ((pQovrjaig) ein, welche sich von der 
Sophrosjne kaum unterscheidet, während die Tapferkeit 
gegen beide auffallend zurückgesetzt wird. Was endlich 
die Staatseinrichtungen betrifft, so begnügt sich Piaton in 
seinem späteren Werk statt der Aufhebung des Privateigen- 
tums mit seiner gesetzlichen Beschränkung und der unver- 
änderten Erhaltung einer bestimmten Zahl von Landstellen 
(5040); statt der Aufhebung der Familie mit einer sorg- 
fältigen Überwachung der Ehen und des häuslichen Lebens ; 
an dem Grundsatz der öffentlichen, für beide Geschlechter 
gleichen Erziehung wird festgehalten, der Verkehr mit dem 
Ausland ängstlich beaufsichtigt und beschränkt. Handel, 
Gewerbe und Landbau sollen ausschließlich von Metöken 
und Sklaven besorgt werden, so daß von den drei Ständen 
der Republik nur noch der zweite den Bestand der aktiven 
Staatsbürger bildet. Für die Verfassung des Staates wird 
eine gleichmäßige Verknüpfung monarchischer oder richtiger 
oligarchischer und demokratischer Bestandteile zum Grund- 
satz gemacht, und sowohl die organischen Bestimmungen der 
Verfassung als die bürgerlichen und Strafgesetze werden mit 
einer in alle Einzelheiten eingehenden Sorgfalt einsichtsvoll 
und sachkundig ausgeführt. Daß jedem Gesetz eine be- 
gründende Einleitung vorangeht, ist ein Zugeständnis an die 
Forderung, nicht aus blindem Gehorsam, sondern aus eigener 
Überzeugung zu handeln*). 

') Näheres über die Gesetze bei Gonst. Kitteb, „Piatons Gesetze, 



158 Zweite Periode. 

§ 51, Die alte Akademie*). 

Der wissenschaftliche Verein ^ den Piaton gestiftet und 
geleitet hatte, erhielt sich auch nach seinem Tode in der 
Akademie unter eigenen Scholarchen; und es war dadurch 
der Folgezeit die Form für die Organisation des wissenschaft- 
lichen Unterrichts vorgezeichnet Ihrer äußeren Gestalt und 
rechtlichen Stellung nach bildeten diese Philosophenvereine 
Genossenschaften (d^iaaot) zur gemeinschaftlichen Verehrung 
der Musen; das Scholarchat und die Nutznießung des Vereins- 
vermögens wurde nur von Piaton selbst durch Vermächtnis, 
in der Folge durch Wahl übertragen. Piatons erster Nach- 
folger war sein.Schwestersohn Speusippos, dem sein Mit^ 
Schüler Xenokrates aus Chalkedon 339/8 v.Chr. folgte; 
unter den übrigen unmittelbaren Schülern Piatons sind die 
bekanntesten, abgesehen von Aristoteles : Herakleides aus 
dem pontischen Herekleia, P h i 1 i p p o s aus Opus, Hestiäos 
aus Perinth, Menedemos der Pjrrhäer. Alle diese Männer 
verfolgen nun, soweit wir mit ihren Ansichten bekannt sind, 
im Anschluß an den Pythagoreismus die Richtung, die Piatons 
Philosophie in seiner letzten Zeit genommen hatte. Speu* 
sippos scheint nicht allein dem erfahrungsmäßigen Wissen 
(der ^iTtiatf}fiovi%^ aia&tjaiQ^) einen größeren Wert beigelegt 
zu haben als Piaton, sondern er gab auch die Lehre, mit 
welcher dieser in den entschiedensten Gegensatz zu der ge- 
wöhnlichen Vorstellungsweise getreten war, in ihrer plato- 
nischen Form ganz auf, indem er an die Stelle der Ideen 
die mathematischen Zahlen, diese aber allerdings als getrennt 
von den Dingen setzte; ganz pythagoreisch lautet ein Bruch- 
stück von ihm über die Dekas. Als allgemeinste Urgründe 
bezeichnete er dementsprechend das Eins und die Vielheit; 
er unterschied aber das Eins sowohl von der weltbildenden 



DarstelL d. Inhalts" und „Kommentar zum griech. Text" 1896. — Über die 
Annahme einer bösen Weltseele in den Ges. s. u. S. 161 Anm. 1. 

^) Mekler Academicorura philosophorum index Herculanensis 1902. 
GoMPERZ Griech* Denker III Heft 1 S. 1—13. 



§ 5L Die alte Akademie. 159 

Vernunft, die er sich als Weltseele gedacht und mit dem 
pythagoreischen Zentralfeuer kombiniert zu haben scheint, 
als auch von dem Guten und Vollkommenen, das nicht als 
Grund alles Seins am Anfang, sondern als Ziel und Ergebnis 
am Ende der Weltentwicklung stehe. Aus der Einheit und 
Vielheit leitete er zunächst nur die Zahlen ab, für die Raum- 
großen und die Seele stellte er besondere analoge Prinzipien 
auf; zugleich wird aber berichtet (DiOG. IV, 2), er habe die 
mathematischen Wissenschaften in enge Verbindung unter- 
einander gebracht. Mit den Pythagoreern (und Piaton) fügt 
er den vier Elementen den Äther bei; vielleicht um der 
Seelenwanderung willen ließ er die niederen Seelenteile den 
Tod überdauern. In seiner Ethik folgte er der platonischen, 
über die er nur darin hinausging, daß er die Lust geradezu 
für ein Übel erklärte*). 

Nicht ganz so weit ging Xenokrates^) in der An- 
näherung an den Pythagoreismus : ein Mann von reinem, 
ehrwürdigem Charakter, aber schwerfälligen Geistes, frucht- 
barer Schriftsteller und ohne Zweifel Hauptvertreter der 
akademischen Schule, die er 25 Jahre lang leitete. Er unter- 
schied, wie es scheint zuerst, ausdrücklich die drei Hauptteile 
des philosophischen Systems: Dialektik, Physik und Ethik. 

1) [Phil. d. Gr. II 1 S. 1009, 1 wird die Ansicht von Krische und 
BuAiiDis (s. auch Dörinq Gesch. d. gr. Phil. II 10 f.), daß Sp. in seinen 
Erörterangen über die Lustlehre des Eudoxos (s. S. 162) entgegengetreten 
sei; als unerweislich bezeichnet. Doch scheint sich in der Tat aus Arist 
Eth. N. 1172 b 85 u. 1158 b 4 ihre Richtigkeit zu ergeben. — Nach Clem. 
AI. Strom, n § 188, 4 S. 186, 19 St erklarte er die Glückseligkeit für 
einen „ToUkommenen Zustand in dem der Natur Gemäßen" (s. Polemons 
Lehre S. 162). Vgl. Döring S. 11 ff., wo die Ausgestaltung dieser Lehre 
in der alten Akademie nach Cic. d. fin. IV 14 ff. u. a. a. St. kurz zusammen- 
gefaßt wird. Wenn derselbe aber S. 19 ff. die im Phileb. 4SJ)fL bekämpfte 
Lehre yon Männern, die die Existenz der Lust leugnen (s. S. 76 Anm.), 
dem Sp. beilegt (auf Grund der in der angefahrten Stelle bei Clem. hinzu- 
gefagten Bemerkung, die Guten strebten nach der ao/iti/cr/ff), so wird diese 
Vermutung dadurch hinfällig, daß sie zur Voraussetzung die y6n Döring 
angenommene (s. S. 128), aber nicht erwiesene Unechtheit des Phileb. hat] 

2) R. Heinze Xenokrates. 1892, vgl. Arch. f. Gesch. d. Phil.Vffl, 134 ff. 



160 Zweite Periode. 

Als Urgründe bezeichnete er, an die Pythagoreer sich anlehnend, 
das Eins oder das Ungerade und die unbestimmte Zweiheit, das 
Gerade (jenes „der Vater**, dieses „die Mutter der Götter"), 
indem er das Eins dem Novg oder Zeus gleichsetzte. Ihr 
erstes Erzeugnis sind die Ideen, die aber zugleich mathe- 
matische Zahlen sein sollen. Für die Ableitung der Größen 
aus den Zahlen bediente er sich der Annahme kleinster und 
somit unteilbarer Linien^). Indem zu der Zahl das Selbige 
und das Andre hinzutritt, entsteht die (Welt-) Seele, welche 
Xenokrates (auf Grund des Timäos) als eine sich selbst be- 
wegende Zahl definierte; diese Entstehung der Seele wollte 
er aber (wahrscheinlich durch Aristoteles hierzu veranlaßt) 
nicht als eine zeitliche gedacht wissen. Die in den Ter* 
schiedenen Teilen der Welt, dem Himmel, den Elementen usw. 
wirkenden Kräfte scheint er als Götter bezeichnet zu haben; 
neben ihnen spielten bei ihm, wie in dem Volksglauben und 
bei den Py thagoreern , die guten und bösen Dämonen eine 
große Rolle. Die Elemente, denen er gleichfalls den Äther 
beifügte, sollten aus kleinsten Körpern entstanden sein. Mit 
Speusippos ließ er die unvernünftigen Teile der menschlichen 
Seele und vielleicht auch die Tierseelen den Tod über- 
dauern ; die Fleischnahrung widerriet er, weil die Unvernunft 
der Tiere durch sie Einfluß auf uns gewinnen könne. Seine 
ethischen Ansichten hatte er in zahlreichen Schriften nieder- 
gelegt; was uns darüber bekannt ist, zeigt, daß er dem 
Geist der platonischen Sittenlehre treu blieb; die Glückselig- 
keit setzt er in den „Besitz der Tugend und der ihr dienen- 
den Mittel**. Bestimmter als Piaton unterschied er zwischen 
der wissenschaftlichen und der praktischen Einsicht ; nur die 
erstere nennt er (mit Aristoteles) Weisheit 

Mehr Mathematiker als Philosoph war nach der pseudo- 
platonischen Epinomis, die höchstwahrscheinlich sein Werk 



^) Gegen diese Annahme war nach dem Zeugnis einiger alten Kom- 
mentatoren die unter Aristoteles* Namen überlieferte Schrift II, dro/ucnv 
QyafZfx£v (s. S. —2) gerichtet; vgl. Phil. d. Gr. U 1 S. 1017, 2. 



§ 51. Die alte Akademie. "[Ql 

ist (s. S. 124 Anm. 1), zu urteileD, Philippos. Das höchste 
Wissen gewähren seiner Ansicht nach die Mathematik und 
Astronomie; in ihrer Kenntnis besteht die Weisheit, auf ihr 
beruht mit den richtigen Vorstellungen tlber die himmlischen 
Götter alle wahre Frömmigkeit. Die Götter der Mythologie 
lehnt Philippos mit Piaton ab; um so wichtiger sind ihm 
als Vermittler alles Verkehrs mit den Göttern die Dämonen, 
von denen er drei Klassen kennt. Von dem Menschenleben 
dagegen und den irdischen Dingen hat er eine geringe 
Meinung; und die schlechte Weltseele (988 D f.) hat wahr- 
scheinlich er erst auch in die Gesetze (896 E — 898 D) ein- 
geschwärzt ^). Was uns über die Not des irdischen Daseins 
erhebt und uns die dereinstige Rückkehr in den Himmel 
sichert, sind neben der Tugend wieder vornehmlich die 
Mathematik und die Sternkunde. — Viel weiter als Philippos 
entfernte sich aber sein berühmter Fachgenosse Eudoxos^) 
aus Knidos, der nach ApoUodor etwa von 407 — 355 lebte, 
von der Lehre Piatons, den er ebenso wie den Archytas ge- 
hört hatte, wenn er nicht bloß die Ideen den Dingen wie 
Stoffe beigemischt sein ließ, sondern auch die Lust, wie Aristipp 
(S. 116 f.), für das höchste Gut erklärte und diese Lehre 
logisch zu begründen suchte (Aristot. Eth. N. 1101 b 27 ff. 
1172b 9 ff.). — Der Pontiker H er akl eides»), der um 



*) [Vgl. Phil. d. Gr. II 1 S. 973 f. 981 Anm. 1. S. dagegen Const. 
RiTTEB Komm. z. Pl.s Ges. S. 307 ff., wo dargelegt wird, daß Fiat, an 
der angeführten Stelle der Ges. in Wahrheit gar nicht die Existenz einer 
hosen Weltseele neben der g^ten behauptet; ähnlich Siebeck Gesch. d. 
Psych. I S. 279 u. Apelt N. Jahrb. f. kl. Ph. 1907 S. 266. Nach andern 
wie GoMPBRZ Griech. Denker II 486 f. und Übebweg-Heinze Grundr. I* 
S. 194 hat PI. in den Ges. tatsächlich und in vollem Ernste eine böse 
Weltseele angenommen, ohne sich jedoch dadurch mit andern Bestimmungen 
seines Systems in Widerspruch zu setzen.] 

^) Berühmt besonders durch seine an Piatons astronomische Lehren 
(s. S. 145) anknüpfende, auf streng wissenschaftlicher Grundlage au%ebaute 
Sphärentheorie (s. S. 191). 

8) Voss De Her. Pont, vita et scriptis 1897. 
Zeller, Grundrifs. 11 



1(J2 Zweite Periode. 

339 V. Chr. in seiner Heimat eine eigene Schale errichtete, 
entlehnte von dem Pythagoreer Ekphantos (s. S. 52) außer 
der Annahme kleiner ürkörper (ovaQfioi — d. h. wohl : nicht 
miteinander verbundene*) — oyKOi), aus denen der göttliche 
Geist die Welt gebaut habe, auch die Lehre von der täg- 
lichen Drehung der Erde, die er noch erweiterte durch die 
Annahme, dafi sich Merkur und Venus um die Sonne drehen; 
die Seele hielt er für ein Wesen aus ätherischem Stoff. An 
die Pythagoreer erinnert auch die Leichtgläubigkeit, welche 
der gelehrte und phantasiereiche, aber kritiklose Mann dem 
Wunder- und Weissagungi^lauben entgegenbrachte. — Von 
Hestiäos wissen wir, dafi er sich an jenen metaphysisch- 
mathematischen Spekulationen beteiligte, über die Aristoteles 
außer dem oben Angeführten noch das eine und andre ohne 
Nennung von Namen mitteilt. 

Xenokrates' Nachfolger, der Athener Polemon, leitete 
von 314/3 — 270/69 die Akademie. Er stand als Moralphilosoph 
in Ansehen. Die ethischen Grundsätze, in denen er mit 
Xenokrates übereinstimmte, faßte er in die Forderung des 
naturgemäßen Lebens zusammen. — Von seinen Schülern ist 
der berühmteste Erantor aus Soloi in Eilikien, der aber 
auch noch Xenokrates gehört hatte und vor Polemon starb, 
der erste Kommentator des Timäos, dessen Psychogonie er 
mit Xenokrates nicht zeitlich gefaßt wissen wollte, und der 
Verfasser vielgerühmter, mit der altakademischen Lehre 
durchaus übereinstimmender ethischer Schriften, darunter der 
JT. Ttevd^ovg, mit der er die literarische Gattung der Trost- 
schriften (consolationes) begründete. Nach Polemon übernahm 
Erat es aus Athen die Leitung der akademischen Schule. 
Durch Erates' Nachfolger Arkesilaos (§ 78) erhielt die 
Philosophie dieser Schule einen wesentlich veränderten 
Charakter. 



*) Anders Gomperz Griech. Denker III Heft 1 S. 12. 



§ 52. Aristoteles' Leben. 163 



TV. Aristoteles und die peripatetische Schule. 

§52. Aristoteles' Leben ^). 

Aristoteles wurde Ol. 99, 1. 384/3 v, Chr. zu Stageira 
geboren. Sein Vater Nikomachos war der Leibarzt des 
makedonischen Königs Amyntas; nach dem Tode seiner 
Eltern sorgte Proxenos aus Atarneus für seine Erziehung. 
In seinem 18. Jahre (367/6 y. Chr.) kam er nach Athen und 
trat in den platonischen Schülerkreis ein, dem er bis zu 
Piatons Tode angehörte; und sc)ion dieser Umstand wider- 
legt, in Verbindung mit andern gesicherten Tatsachen, die 
Behauptung, daß durch Aristoteles' Rücksichtslosigkeit und 
Undankbarkeit gegen seinen Lehrer schon längere Zeit vor 
diesem Zeitpunkt ein Zerwürfnis zwischen beiden eingetreten 
sei. Dagegen ist anzunehmen, daö Aristoteles während seiner 
zwanzigjährigen Lehrzeit in Athen neben Piaton nicht allein 
die Yorplatonischen Philosophen studierte, sondern auch zu 
seinem sonstigen geschichtlichen und naturwissenschaftlichen 
Wissen den Grund legte; und wenn er in einer Reihe von 
Schriften sich nach Form und Inhalt an Piaton anschloß, 
legte er doch in ihnen bereits auch seine Angriffe auf die 
Ideenlehre und seine Überzeugung von der Ewigkeit der 
Welt nieder. Schon damals scheint er auch Isokrates durch. 
Unterricht in der Redekunst entgegengetreten zu sein. Nach 
Piatons Tode begab er sich mit Xenokrates nach Atarneus 
in Mysien zu dem Fürsten dieser Stadt, ihrem Mitschüler 
Hermeias, dessen Nichte (oder Schwester) Pythias er in der 
Folge heiratete; drei Jahre später, nach Hermeias' Unter- 



^) Neuere Monographien über Leben, Schriften und Lehre: Stahr 
Aristotelia. 2 Tle. (1830/32). Lewes Arietotle. Übers, von Carus (1865). 
Grote Arist 2 Bde. (1872; 3. Ausg^. 1884). Grant Arist.; übers, voa 
Imelmann (1878). Siebeck Aristot. (1899; 2. Aufl. 1902). — Von Gompebz 
Griech. Denken Bd. III behandeln die bisher veröffentlichten beiden ersten 
Hefte (1906. 1908) S. 13 ff. das Leben, die Schriftstellerei und einen großen 
Teil der Lehre d. A. 

11* 



1(J4 Zweite Periode. 

gang, nach Mytilene. Daß er von da wieder nach Athen 
zurückkehrte ^X ^^^ unwahrscheinlich. 343/2 folgte er einem 
Ruf an den makedonischen Hof, um die Erziehung Alexanders 
zu übernehmen, welcher (356/5 geboren) damals eben in das 
Jünglingsalter eintrat; und er blieb hier, bis Alexander 
seinen Zug nach Asien antrat. Den wohltätigen Einfluß des 
Philosophen auf seinen genialen Zögling und die Verehrung 
dieses gegen jenen rühmt Plutargh Alex. 8; der Gunst 
Philipps oder Alexanders hatte Aristoteles den Wieder- 
aufbau seiner von Philipp zerstörten Vaterstadt zu verdanken. 
335/4 kehrte Aristoteles nach Athen zurück und eröffnete 
hier im Lykeion eine Schule, welche den Namen der peri- 
patetischen, wahrscheinlich nicht von ihrem Orte, sondern 
von der wissenschaftlichen Unterhaltung im Auf- und Ab- 
gehen erhielt. Sein Unterricht erstreckte sich neben der 
Philosophie auch auf die Rhethorik; mit dem fortlaufenden 
Vortrag war ohne Zweifel Gesprächsführung verbunden, der 
wissenschaftliche Verein zugleich, wie der platonische, ein 
Kreis von Freunden mit der Einrichtung regelmäßiger ge- 
meinsamer Mahle. Von Hause aus wohlhabend und könig- 
licher Unterstützung, falls er ihrer bedurfte (auch abgesehen 
von den Übertreibungen späterer Zeugen), sicher, war 
Aristoteles in der Lage, sich alle Hilfsmittel der Forschung, 
die seine Zeit darbot, zu verschaffen, und so war er nament- 
lich der erste, der eine größere Sammlung von Büchern zu- 
sammenbrachte. In welchem Umfang er diese Hilfsmittel 
benutzte, zeigen seine Schriften. Seit dem gewaltsamen Ende 
seines Neffen Eallisthenes trübte sich Aristoteles' Verhältnis 
zu Alexander; aber nur die Verleumdung konnte ihm des- 
halb eine Beteiligung an Alexanders angeblicher Vergiftung, 
die selbst eine Parteilüge ist, schuldgeben. Der unerwartete 
Tod des Königs brachte ihn vielmehr in die unmittelbarste 
Gefahr, indem er beim Ausbruch des lamischen Krieges aus 



*) Wie Stahb Aristotelia S. 84 und Gercke bei Pauly-Wissowa II 
1014. 1017 annehmen. 



§ 53. Aristoteles' Schriften. 165 

politischem Haß wegen angeblicher Religionsvergehen belangt 
wurde. Er flüchtete sich nach Chalkis auf Euböa, erlag 
aber hier schon im Sommer 322 v. Chr., wenige Monate vor 
Demosthenes' Tode, einer Krankheit. Sein* Charakter, von 
politischen und wissenschaftlichen Gegnern schon frühe aufs 
stärkste verunglimpft, erscheint in seinen Schriften durchaus 
edel, und keine erweisliche Tatsache liegt vor, die uns Grund 
gäbe, diesem Eindruck zu üiißtrauen ; seine wissenschaftliche 
Größe steht außer Zweifel, und in der Vereinigung eines 
äußerst vielseitigen Wissens mit selbständigem Urteil, ein- 
dringendem Scharfsinn, umfassender Spekulation und metho- 
discher Forschung steht er so einzig da, daß höchstens Leibniz 
in dieser Beziehung sich mit ihm vergleichen läßt. 

§53. Aristoteles' Schriften^). 

Unter dem Namen des Aristoteles ist uns eine Sammlung 
von Schriften überliefert, die ihrem wesentlichen Bestände 
nach wohl sicher auf die von Andronikos (vgl. § 82) um 
50 — 60 V. Chr. veranstaltete Ausgabe der aristotelischen Lehr- 
schriften zurückgeht. Die meisten und wichtigsten von diesen 
Schriften sind unzweifelhaft echt, wenn auch einzelne von 
späteren Zutaten und Änderungen nicht freigeblieben zu sein 
scheinen. Neben den erhaltenen Werken kennen wir aber 
noch eine große Anzahl verlorener, von denen freilich die 
meisten unecht gewesen sein mögen, teils aus den Anführungen 
späterer Schrifsteller, teils aus zwei noch vorhandenen Schrift- 



^) Die bedeutendsten Gesamtausgaben sind : die von der Berliner Ak. 
d. W. veranstaltete (Bd. 1 u. 2 reo. J. Bekeeb 1831 ; Bd. 3 lat Übers. 1831 
Bd. 4 Scholia [in Auszügen] coli. Bbandis 1836; Bd. 5 Fragmenta coli 
y. Kose; scholiorum supplementum ed. Usemeb; Index Aristotelicus conf. 
BoNiTz 1870) u. die Didotsche Ausg. ed. Dübneb, Bussemakeb, Heitz, 5 Bde, 
1848/74. — Die seit 1882 gleichfalls auf Veranstaltung der Berl. Äk. heraus 
gegebene Ausgabe der griechischen Kommentatoren in 33 Bdn. ist jetzt 
ihrem Abschluß nahe (dazu ein Supplementum Aristotelieum in mehreren 
Bänden). 



166 Zweite Periode. 

Verzeichnissen. Das ältere von diesen *), welches wahrschein- 
lich von dem Alexandriner Hermippos (um 200 v. Chr.) 
herrührt, gibt die Gesamtzahl der aristotelischen Schriften 
auf fast 400 Bücher an; da aber wichtige Stücke unsrer 
Sammlung darin fehlen, scheint es nur die auf. der alexan- 
drinischen Bibliothek zur Zeit seiner Anfertigung vorhandenen 
aristotelischen Werke zu enthalten. Das jüngere Verzeichnis, 
von arabischen Schriftstellern unvollständig überliefert, hatte 
zum Verfasser Ptolemäos, vermutlich einen Peripatetiker 
des 1. oder 2. Jahrhunderts n. Chr. ; es nennt fast alle Be- 
standteile unsrer Sammlung und berechnet die Bücherzahl 
der sämtlichen Schriften (mit Andronikös) auf 1000. 

Unsre Sammlung enthält die folgenden Stücke: 1. Lo- 
gische Schriften (erst in der byzantinischen Zeit unter 
dem Namen des „Organen'' zusammengefaßt)^): die Kate- 
gorien, wahrscheinlich von c. 9. 11 b 7 an verstümmelt und 
von einer späteren Hand um die sogen. Postprädikamente 
c. 10 — 15 vermehrt®); tt. sq^xtivBiag (über die Sätze), wohl 
das Werk eines Peripatetikers aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. ; 
die beiden Analytiken {avaXvtiyfja TtQoreqa und tWe^a), von 
denen die erste die Schlüsse, die zweite die Beweisführung 
behandelt; die Topik, welche die „Dialektik", d. h. die Kunst 
des Wahrscheinlichkeitsbeweises zum Gegenstand hat ; ihr 
letztes (9.) Buch wird gewöhnlich als eigene Abhandlung 
TT. aoq)iaTixcdv iXeyxcov aufgeführt*). — 2. Naturwissen- 
schaftliche Schriften: Die Physik (qwaiKtj äxQoaatg)^) 

^) Bei Dioo. V, 21 ff., und mit mehreren Auslassungen und Zusätzen 
in einer wahrscheinlich von Hesychios (nach 55Ö n. Chr.; vgl. S. 11) her- 
stammenden Biographie des Aristoteles, dejn sog. Anonymus Menagii. 

2) Ar. Organon ed. Waitz, 2 Bde. (1844/46). 

') Die Kateg. hat nach Spenoel, Pbaktl u. Rose (s. dagegen Phil. d. 
Gr. n 2» 8. 68 f.) Gekcke Arch. f. G. d. Ph. IV (1891) S. 424 ff. für unecht 
erklärt. Derselbe sucht auch nachzuweisen, daß die Katego'rienlehre ihrem 
Ursprünge nach auf Piaton zurückgeht 

^) Daß das uns erhaltene 5. Buch der Topik nicht von Arist. stammt, 
weist Pflug de Ar. Topicorum libro V (1908) nach. 

^) Griech. u. dtsch. mit Anm. hrsg. von Prantl 1854 (ebenso d. Sehr. 



§ 53. Aristoteles' Schriften. IÖ7 

in 8 Büchern, von denen jedoch das 7. zwar aristotelischen 
Aufzeichnungen entnommen, aber erst später eingeschoben 
zu sein scheint; vom Himmel 4B.; vom Entstehen und Ver- 
gehen 2 B.; Meteorologie 4 B.; das unechte (§ 82 zu be- 
sprechende) Buch TT. "Aoaiiov. Ferner die Untersuchungen, 
welche die lebenden Wesen betreflFen: die drei Bücher von 
der Seele ^) und die. an sie sich anschließenden kleineren 
Abhandlungen, von denen jedoch die /r. Jtv&ificcTog als nach- 
aristotelisch auszuscheiden ist; die umfassenden zoologischen 
Schriften, die Tierbeschreibung (tc. tä ^^a loTogiai) in 10 B. 
(wovon aber 7. 9. 10, wie es scheint, nacharistotelisch) und 
die drei systematischen Werke: von den Teilen der Tiere 
4 B. ; vom Gang der Tiere; von der Entstehung der Tiere 
(5 B., von denen jedoch das 5. eine eigene Schrift gewesen 
zu sein scheint), nebst der unechten Abhandlung /r. ^(^v 
TtivrflBCjg. Ob Aristoteles ein von ihm beabsichtigtes Werk 
über die Pflanzen ausgeführt hat, ist nicht sicher, die er- 
haltene Schrift TV. q)wcüv jedenfalls unecht. Ebenso die tt. 
XQfOfKXTcov, TT. anovatiov, 7t. d-avfiaalmv aTiovafidrcoVy die qwaio- 
yv(0(j,ovi7Ld , die ^Tjxccvind und die (vielleicht theoprastische) 
Abhandlung über die unteilbaren Linien. „Probleme" hatte 
Aristoteles geschrieben, aber in unsern 37 Büchern der Pro- 
bleme sind die Überbleibsel der aristotelischen unter einer 
Masse späterer Zutaten verschüttet. — 3. Die erhaltenen 
metaphysischen Schriften des Philosophen beschränken 
sich auf die Metaphysik (tä fierd xd q)vaixd)^); allen An- 
zeichen nach eine in der nächsten Zeit nach Aristoteles' Tod 
veranstaltete Zusammenstellung dessen, was sich in seinem 

vom Himmel u. vom Entst. u. Verg. 1857). Französ. Übers, m. Komm, von 
Hamelin 1907. 

^) Ausgaben von Tbendelenbubg mit Komm. 1833 (2. Aufl. bes. von 
Beiger 1877), Rodibe m. franz. Übers, u. Komm. 2 Bde. 1900, Hicks m. 
engl. Übers, u. Komm. 1907. 

^ Die besten Ausgaben von Bonitz (1848 f., mit Kommentar; dazu 
die Übersetzung hrsg. von Wellmann, 1890); Schweoler (1847 f., mit Kom- 
mentar) und Christ (1886). 



168 Zweite Periode. 

Nachlaß auf die „erste Philosophie" (vgl. S. 174) Bezügliches 
vorfand; ihren jetzigen Namen verdankt sie ihrer Stellung 
in der Sammlung des Andronikos. Ihren HauptkOrper bildet 
in den Büchern ^. B. F. E — 0. I Aristoteles' unvollendet 
gebliebenes Werk über die erste Philosophie, in das auch 
die ursprünglich selbständige Abhandlung, welche J ausfüllt, 
aufgenommen werden sollte; Ä, 1 — 8. 1065 a 26 ist ein 
älterer Entwurf, der später zu B. t. E. erweitert wurde, 
oder ein späterer Auszug aus diesen Büchern. Jf. N waren, 
wie es scheint, anfangs flir unser Werk bestimmt, wurden 
jedoch in der Folge zurückgelegt und teilweise ^, 6. 9 ein- 
verleibt; ^ ist eine eigene vor dem Hauptwerk, vielleicht 
als Grundlage für Vorlesungen, niedergeschriebene Abhand- 
lung; a und K von c. 8. 1065 a 26 an sind anerkannt un- 
echt^). Das Gleiche gilt von der S. 54 berührten Schrift 
über die eleatische Philosophie. — 4. Die Ethik hat 
Aristoteles in den 10 Büchern der wahrscheinlich von seinem 
Sohne Nikomachos veröffentlichten und nach diesem genannten 
Ethik") dargestellt, in deren B. V — VII indessen größere 
und kleinere Zusätze aus der endemischen gekommen zu sein 
scheinen, die Staatslehre®) in den 8 Büchern der Politik. 
In der letzteren gehören aber nicht allein B. VII und VIII 
inhaltlich zwischen III und IV (wohin sie von neueren Heraus- 

') [Von dieser sich auf die Untersuchungen von Brandis und Bonitz 
stützenden Ansicht über die einzelnen Bestandteile der Metaphysik weichen 
die neuerdings hierüber angestellten Untersuchungen in mehreren Punkten 
ab. So hat Goedeckemeyeb im Arch. f. Gesch. d. Phil. XX, 521 ff. u. XXI, 
18 ff. nach Ausscheidung von ui 8 — 10 eine engere Verbindung zwischen 
diesem Buche und « herzustellen versucht, das er als zu dem Hauptwerke 
gehörig ansieht, und so die Möglichkeit gewonnen, auch MN diesem an- 
zugliedern. Die Gründe, die er hierfür angibt, sind beachtenswert, bedürfen 
aber einer näheren Prüfung. Eine zum Teil ganz neue Anordnung der 
einzelnen Bücher findet sich auch in der Übersetzung der Metaphysik von 
Lasson (1907)]. 

^ Herausgegeben mit Kommentar von Ramsauer 1878. 

') Griech. u. deutsch m. Anm. hrsg. von Süskmihl, 2 Bde. (1879); 
m. engl. Komm, von Newman, 4 Bde. (1887/1902). 



§ 58. Aristoteles' Schriften. IQQ 

gebern wirklich versetzt werden), sondern es fehlt ihr auch 
vieles zur vollständigen Ausführung ihres Planes; wahrschein- 
lich weil ihre Vollendung ebenso wie die der Metaphysik 
durch den Tod des Philosophen verhindert wurde. Eine 
Vorarbeit der Politik, welche, nach der auf einem ägyptischen 
Papyrus entdeckten ^A&rjvaicov Tcohzela (1. Ausgabe von 
Kenyon 1891)*) zu schließen, für weitere Kreise bestimmt 
war, bildeten die Politien, in denen 158 hellenische und 
barbarische Verfassungen dargestellt waren, nebst den vofii/xa 
ßaqßaQtna und den dixaicifiara rwv Ttokewv. Eine von 
Eudemos verfaßte Bearbeitung der aristotelischen Ethik ist 
die endemische^ von der aber nur Buch I — III. VI erhalten 
sind; ein nach beiden, doch vorzugsweise der endemischen, 
zusammengestellter Abriß die „große Ethik". Der kleine 
Aufsatz „über die Tugenden und Fehler" gehört der Zeit 
des späteren Eklektizismus an (vgl. § 82 g. E.). Das 1. Buch der 
Ökonomik von Philodemos (De vitiis coL 7. 27), Theophrast 
beigelegt, ist keinesfalls aristotelisch; das zweite merklich 
jüDger. — 5. Über die Redekunst handeln die drei Bücher 
der Rhetorik, deren letztes sich als eine eigene, nicht zu ihr 
gehörige Abhandlung (tt. Ae^ewg) darstellt^); über die Dicht- 
kunst die Poötik, in ihrem jetzigen Bestand nur ein Teil 
des aus zwei Büchern bestehenden aristotelischen Werkes. 
Die „Rhetorik ai^ Alexander" hat den Rhetor Änaximenes 
zum Verfasser ®). 

Alle diese Schriften scheinen nun, soweit sie echt waren, 
und soweit sie nicht (wie vielleicht Metaph. ^) ihrem Ver- 
fasser bloß zu seinem eigenen Gebrauch dienen sollten, Lehr- 
schriften zu sein, die Aristoteles ftlr seine Schüler nieder- 
schrieb oder diktierte und auch nur ihnen mitteilte, für deren 
weitere Verbreitung er dagegen keine Sorge trug und sie 
vielleicht zunächst gar nicht gestattete; wie dies neben der 

^) Neu herausgegeben von demselben im Supplem. Aristot. (s. S. 165 
Anm. 1) vol. III pars n. 

^) Wie Diels in der S. 122 Anm. 1 angef. Abbdlg. nachgewiesen hat. 
*) S. Wendland Anaxim. von Lampsakos (1905). 



170 Zweite Periode. 

Anführung „herausgegebener" Schriften (s. u.) namentlich 
aus der Anrede an seine Schüler am Schluß der Topik, aus 
den zahlreichen Erscheinungen, welche die letzte Hand des 
Verfassers vermissen lassen, und aus dem Umstand hervor- 
geht ^ daß nicht selten in nachweisbar früheren Schriften 
solche Verweisungen auf spätere vorkommen, die längere Zeit 
nach ihrer Abfassung, aber vor ihrer Herausgabe nachgetragen 
zu sein scheinen. Zu diesen Lehrschriften gehörten von den 
verlorenen Werken außer dem problematischen über die 
Pflanzen auch die von Aristoteles selbst öfters angeführten 
avatofial und die daTQokoyLxa d-eioQ^fiara (Meteor. I, 339 b. 
7. 345 b 1. De coelo H, 291a 31); von den vielen andern 
Schriften dieser Klasse, die noch genannt werden, war viel- 
leicht keine einzige echt. 

Von den Lehrschriften der aristotelischen Schule sind 
nun die Bücher zu unterscheiden, welche Aristoteles selbst 
Poöt. 1454 b 17 „herausgegebene** (indedofxivoL) nennt, und an 
die er, wie es scheint, auch bei den Xoyot ev noivi^ yvp^ofxcvoi 
(De an. I, 407 b 29) und vielleicht auch bei den iyTcvuXia 
q>iXoaoqyt]ixttTa (De coelo I, 279 a 30. Eth. I, 1096 a 3) denkt i); 
von denen aber keine in den uns erhaltenen Büchern aus- 
drücklich angeführt wird, während diese selbst sich durch 
zahlreiche gegenseitige Verweisungen als ein zusammen- 
gehöriges Ganze darstellen. Alle Schriften dieser EUasse 
scheinen vor Aristoteles' letzter Anwesenheit in Athen ver- 
faßt zu sein ; ein Teil von ihnen hatte die dialogische Form ; 
nur auf sie kann es sich beziehen, wenn Aristoteles von 
Cicero u. a. wegen der Fülle und Anmut seiner Darstellung, 
des „goldenen Stromes seiner Rede" gerühmt wird. Auch 



*) Dagegen scheinen die loyot iifOTegtxoCy deren Aristoteles und 
Eademos öfters erwähnen, nicht eine eigene Klasse aristotelischer Schriften 
zu bezeichnen, wie man diese seit Bernays mit den alten Erklärern anzu- 
nehmen pflegte (dagegen Diels Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1883. 8. 477flF.); 
wenn auch vielleicht an einzelnen Stellen mit diesem, an sich allgemeinen 
Ausdruck auf Erörterungen verwiesen wird, die sich in Aristoteles' früheren, 
populären Schriften fanden. 



§ 53. Aristoteles' Schriften. 171 

unter sie ist aber schon frühe manches Unechte gekommen *). 
Zu den Gesprächen gehört der Eudemos, welcher dem plato- 
nischen Phädon nach Form und Inhalt nachgebildet und 
wahrscheinlich bald nach 352 v. Chr. verfaßt war, die drei 
Bücher über die Philosophie, in denen bereits die Kritik der 
Ideenlehre begann, die vier Bücher über die Gerechtigkeit, 
die drei Bücher /r. noiijvcSvj ob auch der Protreptikos , ist 
streitig; zu den übrigen Werken aus der früheren Zeit: die 
Schriften über das Gute und die Ideen, Berichte über den 
Inhalt platonischer Vorträge; die Geschichte der Rhetorik 
{tbxvwv awaycjpj); die Alexander gewidmete Abhandlung 
TT. ßaaiXelagy welche in Makedonien verfaßt sein wird, die 
didaanaXiaij neben denen noch viele auf Dichter und Kunst 
bezügliche Schriften (ob mit Recht, ist sehr fraglich) genannt 
werden. Dagegen waren die Auszüge aus einigen platonischen 
Werken und die Schriften über die Pythagoreer und andere 
Philosophen, soweit sie echt waren, wohl nur Aufzeichnungen 
zu eigenem oder Schulgebrauch. Wie viele von den Briefen 
echt waren, die schon vor Andronikos Artemon in acht Büchern 
gesammelt hatte, läßt sich nicht ausmachen ; in dem, was uns 
daraus mitgeteilt wird, findet sich unverkennbar Unter- 
geschobenes neben solchem, das echt sein kann. An der 
Echtheit einiger kleinen Gedichte und Gedichtfragmente zu 
zweifeln, haben wir keinen Grund. 

Da die aristotelischen Lehrschriften alle oder fast alle in 
den letzten zwölf Jahren vor Arsitoteles' Tode verfaßt zu 
sein scheinen und uns sein System, ohne jede erhebliche Ab- 
weichung im Inhalt oder in der Terminologie, in seiner aus- 
gereiften Gestalt zeigen, ist die Frage nach der Reihenfolge 
ihrer Entstehung von geringer Bedeutung für ihre Benutzung. 
Die Wahrscheinlichkeit spricht aber dafür, daß die Kategorien, 
die Topik und die Analytiken die ältesten Teile unsrer 

^) Ihre Überbleibsel haben Kose (Aristoteles pseudepig^aphus , Lpzg. 
1863; Arist. qu. f. libronim firagmenta, p. 1463 fF. der akadem. Ausgabe, 
2. Attfl. Lpzg. 1886) nnd Heitz Bd. lY b der Didotschen Aristoteles- Ausgabe 
zusammengestellt. 



172 Zweite Periode. 

Sammlung sind, auf diese die Physik und die an sie sich 
anschließenden Werke folgten , dann die Schriften über die 
Seele und die lebenden Wesen, hierauf die Ethik ; daß dann 
die Politik und die Metaphysik (außer den ihr einverleibten 
älteren Stücken) angefangen wurden, daß aber diese Werke 
unvollendet blieben, während einige später begonnene, die 
Poetik und Rhetorik, zum Abschluß gelangten. — Die Er- 
zählung SraABONs (XIII, 1, 54) und Plütarchs (Sulla 26), 
der zufolge Aristoteles' und Theophrasts Schriften nach dem 
Tode des letzteren an Neleus in Skepsis kamen, hier in einem 
Keller versteckt, zu Sullas Zeit durch Apellikon wieder ent- 
deckt, von Sulla nach Rom gebracht und von Tyrannion und 
Andronikos neu herausgegeben wurden , wird tatsächlich 
richtig sein; wenn diese Schriftsteller aber voraussetzten, 
infolge davon seien den Peripatetikern nach Theophrast von 
den Werken ihres Stifters nur wenige, meist exoterische, be- 
kannt gewesen, so widerlegt sich diese Behauptung neben 
ihrer inneren Un Wahrscheinlichkeit durch die Tatsache, daß 
sich der Gebrauch aller aristotelischen Lehrschriften, mit 
ganz unerheblichen Ausnahmen, auch tiXt die Zeit zwischen 
Theophrast und Andronikos trotz der Lückenhaftigkeit der 
literarischen Überlieferung tiber diese Periode nachweisen 
läßt^). 

§ 54. Die aristotelisehe Philosophie^). 
Einleitendes. 

Aristoteles rechnet sich selbst fortwährend zur plato- 
nischen Schule, und so scharf er die Lehre ihres Stifters an 
vielen Punkten und namentlich in ihrem Mittelpunkt, in der 
Ideenlehre, bestritten hat, so ist doch seine ganze Philosophie 
durch seinen Anschluß an Piaton viel tiefer und durch- 



^) Vgl. GoMPEKz Griech. Denker HI H. 1 S. 23 ff., der der Tatsache, 
daß die Originale der aristotelischen Schriften so lange in dem feuchten 
Kellergewölbe von Skepsis versteckt lagen, eine größere Tragweite beimißt. 

2) S. Biese Die Philosophie d. Aristoteles. 2 Bde. (1835/42). 



§ 54. Die aristotelische Philosophie. Einleitendes. 173 

greifender bestimmt als durch seinen Gegensatz gegen diesen. 
Er beschränkt die Philosophie allerdings ausschließlicher als 
Piaton auf das wissenschaftliche Gebiet und unterscheidet 
sie bestimmter von der sittlichen Tätigkeit; während er 
andrerseits dem erfahrungsmäfiigen Wissen eine größere Be- 
deutung für sie zuerkennt. Aber ihre eigentliche Aufgabe 
setzt auch er in die Erkenntnis des unveränderlichen Wesens 
und der letzten Gründe der Dinge, des Allgemeinen und Not- 
wendigen; und dieses Wesen der Dinge, das wahrhaft und 
ursprünglich Wirkliche, findet er mit Piaton in den Formen 
(den eY3rj)y welche den Inhalt unserer Begriffe bilden. Seine 
Philosophie will daher, wie die des Sokrates und Piaton, 
Begriffswissenschaft sein: das Einzelne soll auf allgemeine 
Begriffe zurückgeführt und durch Ableitung aus Begriffen 
erklärt werden. Aristoteles hat dieses Verfahren sowohl in 
der dialektisch*induktiven als in der logisch- demonstrativen 
Richtung zur höchsten Vollendung gebracht; er hat es mit 
Ausschluß des dichterischen und mythischen Schmuckes, den 
seine Jugendschriften nach Piatons Vorgang nicht verschmäht 
hatten, mit wissenschaftlicher Strenge durchgeführt; er hat 
auch seiner Darstellung durch die Schärfe und Kürze seiner 
Ausdrucksweise und die bewunderungswürdige Ausbildung 
der philosophischen Terminologie Vorzüge zu geben gewußt, 
durch welche sie die platonische ebensoweit übertrifft, wie 
sie in künstlerischer Beziehung, wenigstens in den erhaltenen 
Werken, hinter ihr zurückbleibt. Aber mit der Begriffs- 
philosophie verbindet sich bei dem Philosophen, der sich die 
Formen nicht als für sich bestehende, von den Dingen ge- 
trennte Wesen, sondern nur als das innere Wesen der Einzel- 
dinge selbst zu denken weiß, ein so entschiedenes Bedürfnis 
des umfassendsten erfahrungsmäßigen Wissens, wie es sich 
unter allen seinen Vorgängern höchstens bei Demokrit findet. 
Er ist nicht bloß ein Gelehrter, sondern auch ein Beobachter 
ersten Ranges, gleich hervorragend durch das mannigfaltigste, 
namentlich auch auf die früheren Philosophen sich erstreckende 
geschichtliche Wissen, wie durch die ausgebreitetste Natur- 



174 Zweite Periode. 

kenntnis und die eindringendste Katurforschung; so wenig 
man auch selbstverständlich von ihm erwarten darf, was nur 
mit den wissenschaftlichen Hilfsmitteln und Methoden unsrer 
Zeit geleistet werden konnte. 

Die Andeutungen des Aristoteles über die Einteilung des 
philosophischen Systems lassen sich auf den Inhalt seiner 
Schriften nur schwer anwenden. Er unterscheidet dreierlei 
Wissenschaften: theoretische, praktische und poietische, und 
unter den ersteren wieder die Physik, die Mathematik und 
die „erste Philosophie" (Metaphysik; vgl. S. 167 f. 180), die 
auch Theologie heißt, während er die praktische Philosophie 
in die Ethik und Politik zerlegt, aber auch wohl ihr Ganzes 
Politik nennt. Für uns erscheint es am zweckmäßigsten, der 
Darstellung des aristotelischen Systems als Haupteinteilung 
die Unterscheidung der Logik, Metaphysik, Physik und Ethik 
zugrunde zu legen und diesen Hauptteilen erst am Schlüsse 
noch einiges weitere beizufügen. 

§ 55, Die aristotelische Logik*). 

Aristoteles hat auf sokratisch-platonischer Grundlage die 
Logik als eigene Wissenschaft geschaffen. Er nennt sie 
Analytik, d. h, Anleitung zu der Kunst der Untersuchung, 
und behandelt sie als wissenschaftliche Methodologie. Das 
wissenschaftliche Erkennen im engeren Sinne (die iTtiatijfiij) 
besteht nun nach seiner Ansicht in der Ableitung des Be- 
sonderen aus dem Allgemeinen, des Bedingten aus seinen 
Ursachen. Aber die zeitliche Entwicklung des Wissens nimmt 
den umgekehrten Weg. Hat auch die Seele in ihrer denken- 
den Natur die Möglichkeit alles Wissens und insofern alles 
Wissen der Möglichkeit nach in sich, so kommt sie doch 
zum wirklichen Wissen nur allmählich. Was an sich das 
Bekanntere und Gewissere ist, ist dies nicht flir uns (Anal, 
post. I, 71b 33 ff, Phys. I, 184 a 16); wir müssen die all- 



1) S. Prantl Gesch. d. Logik im Abendlande. Bd. 1 (1855). H. Maier 
Die Syllogistik d. Aristot. 2 Tle. 1896/1900. 



§ 55. Die aristotelische Logik. 175 

gemeinen Begriffe aus den einzelnen Beobachtungen ab- 
strahieren , stufenweise von der Wahrnehmung mittelst der 
Erinnerung zur Erfahrung, von der Erfahrung zum Wissen 
aufsteigen (Anal. post. IL, 19. Metaph. A^ 1 u. a.); und 
wegen dieser Bedeutung der Erfahrung für das Wissen nimmt 
Aristoteles die Wahrheit der sinnlichen Wahrnehmung nach- 
drücklich in Schutz, indem er der Meinung ist, die Sinne 
als solche täuschten uns niemals, aller Irrtum entspringe viel- 
mehr erst aus der falschen Beziehung und Verknüpfung ihrer 
Aussagen. Die aristotelische Logik zieht daher (in der 
zweiten Analytik) neben der Beweisführung auch die In- 
duktion in Betracht; beiden aber schickt sie (in der ersten 
Analytik) die Lehre vom Schlüsse voran, der ihre gemein- 
same Form ist; nur im Zusammenhang mit der Schlußlehre 
bespricht Aristoteles selbst Begriff und Urteil. 

Ein Schluß ist nun „eine Rede, in der aus gewissen 
Voraussetzungen etwas Neues hervorgeht" (Anal. pr. I, 24 b 
18). Diese Voraussetzungen finden ihren Ausdruck in den 
Prämissen, also in Sätzen (beides von Aristoteles mit nf^- 
xaaiq bezeichnet) ; ein Satz aber besteht in einer bejahenden 
oder verneinenden Aussage und ist demnach aus zwei Be- 
griffen (^6qoi)j einem Subjekt und einem Prädikat, zusammen- 
gesetzt (die Kopula wird noch zum Prädikat gerechnet). 
Aristoteles behandelt jedoch die Begriffe eingehender erst 
aus Anlaß der Lehre von der Begriffsbestimmung und im 
Zusammenhang seiner metaphysischen Untersuchungen. Bei 
den Sätzen oder Urteilen. {an6q>avQiq) denkt er nur an 
die kategorischen Urteile, die er ihrer (jetzt so genannten) 
Qualität nach in bejahende und verneinende, ihrer Quantität 
nach in allgemeine, partikuläre und unbestimmte (tt. egfirpfeiag 
in allgemeine, partikuläre und singulare), ihrer Modalität nach 
in Aussagen über das Sein, das Notwendigsein und das bloßQ 
Möglichsein teilt. Er unterscheidet ferner die beiden Arten 
des Gegensatzes, den kontradiktorischen {dvTlq>aaiQ) und den 
konträren (ivawioTfjg) (vgl. S. 179). Er zeigt, welche Urteile 
sich einfach und welche sich nur mit Veränderung ihrer 



176 Zweite Periode. 

Quantität umkehren lassen. Er bemerkt endlich, daß erst aus 
der Verknüpfung der Begriffe im Urteil der Gegensatz von 
wahr und falsch entspringe. Den Hauptinhalt dieses Teiles 
seiner Logik bildet aber die Lehre vom Schlüsse. Aristoteles 
ist der erste, welcher im Schluß die Grundform, in der aller 
Fortschritt der Gedanken sich bewegt, entdeckt und auch 
den Namen dafür festgestellt hat. Seine in der ersten Analytik 
niedergelegte Syllogistik stellt die kategorischen Schlüsse in 
ihren drei Figuren, von denen die zweite und dritte ihre 
Beweiskraft durch ZurückfÜhrung auf die erste erhalten sollen, 
erschöpfend dar; auf die hypothetischen und disjunktiven 
geht sie nicht ein. 

Aus Schlüssen setzen sich die Beweise zusammen. 
Die Aufgabe aller Beweisführung {aTiodei^ig) ist jene Ab- 
leitung des Bedingten aus seinen Gründen, in der (s. S. 174) 
das Wissen als solches besteht. Die Voraussetzungen eines 
Beweises müssen daher aus notwendigen und allgemeingültigen 
Sätzen bestehen; und eine vollendete Beweisführung (eine 
vollendete Wissenschaft) ist nur da, wo das zu Beweisende 
aus seinen obersten Voraussetzungen durch alle Zwischen- 
glieder abgeleitet ist. Eine solche Ableitung wäre aber nicht 
möglich, wenn die Voraussetzungen, von dentm sie ausgeht, 
wieder abgeleitet werden müßten und so ins unendliche, oder 
wenn zwischen jenen Voraussetzungen und dem, was daraus 
abgeleitet werden soll, eine unendliche Zahl von Mittelgliedern 
läge. Alles vermittelte Wissen setzt daher ein unmittel- 
bares voraus, welches näher ein zwiefaches ist. Sowohl die 
allgemeinsten Grundsätze, von denen die Beweisführung aus- 
geht, als das Tatsächliche, auf das jene Grundsätze angewandt 
werden, müssen uns ohne Beweis bekannt sein ; und wie nun 
die Tatsachen uns durch die Wahrnehmung in unmittelbarer 
Weise bekannt werden, so erkennt Aristoteles in der Vernunft 
(vovg) das Vermögen einer unmittelbaren, anschauenden, und 
deshalb auch irrtumsfreien Erkenntnis der allgemeinsten 
Prinzipien. Ob diese Prinzipien bloß formale seien oder 
auch inhaltlich bestimmte Begriffe (wie etwa der der Gottheit) 



§ 55. Die aristotelische Logik. 177 

iu dieser Weise erkannt werden, hat Aristoteles nicht unter- 
sucht; als das oberste und unbestreitbarste Prinzip unsers 
Denkens bezeichnet er den Satz des Widerspruchs, für den 
er sowohl in seiner logischen wie in seiner metaphysischen 
Fassung verschiedene, sachlich übereinstimmende Formeln 
aufstellt^). Damit aber doch auch diese Überzeugungen 
einer wissenschaftlichen Begründung nicht entbehren, tritt 
bei ihnen an die Stelle des Beweises die Induktion 
(67taywyi])y welche eine allgemeine Bestimmung dadurch er- 
härtet, daß sie ihre tatsächliche Geltung an den sämtlichen 
unter ihr befaßten EinzelfkUen aufzeigt. Allein eine voll- 
ständige Beobachtung alles Einzelnen ist, wie sich Aristoteles 
nicht verbergen kann, unmöglich. Er sieht sich daher nach 
einer Vereinfachung des induktiven Verfahrens um, und er 
findet diese nach sokratischem Vorgang darin, daß er der 
Induktion die Annahmen zugrunde legt, welche durch die 
Zahl oder die Autorität ihrer Verteidiger die Vermutung 
für sich haben, aus wirklicher Erfahrung geflossen zu sein 
(die evdo^a), und nun durch dialektische Vergleichung und 
Prüfung dieser Annahmen die richtigen Bestimmungen zu 
gewinnen versucht^). Er hat dieses Verfahren namentlich 
in den „Aporien", mit denen er jede Untersuchung zu er- 

^) Die Haaptstelle istMetaph. r 1005 b 19: t6 yag avzo ufia unaQ- 
Xeiv T€ xal furi vnccQxeiv ddvvaxov r^ avT(^ xa\ xarä t6 aino. Den 
daraus sich unmittelbar ergebenden Satz vom ausgeschlossenen Dritten hat 
Ar. ebd. 1011 b 23 so formuliert: ovdk (jL^ra^v dvTKfdaetog ivd^x^rat elvai 
ovd'iv, all* dvdyxri (fdvat rj dnoqdvat tv xad^ kvog oriovv; vgl. Analyt. 
post. I, 72a 11: dvxCqamg (kontradiktorischer Gegensatz; s. S. 179) dk 
dvjCdiais TIS ovx fari /astu^v xa&* avTr^v. Der Satz des Widerspruchs in 
Verbindung mit dem seine Kehrseite bildenden Satze der Identität findet 
sich Metaph. r 1012 a 26 : to . . . liyHV ro ov fitf ilvtu ri %h fzrj 6v eJvac 
^€v6os, ro dk TÖ ov ilvat xal tö firi ov fiij eJvai dlfiS-ig, S. Gomferz 
Griech. Denker HI, 52 ff. 

*) Zu unterscheiden von der apodeiktischen wie von der dialektischen 
Beweisführung ist die eristische, die auf Trugschlüssen beruht. Von den 
verschiedenen Arten solcher Trugschlüsse handelt die Schrift n, aotpiarixdh 
iXiyxfov (s. S. 166). 

Zeller, GrandrlTs. 12 



178 Zweite Periode. 

öffnen pflegt, mit seltener Meisterschaft und Umsicht geübt; 
und wenn seine Beobachtung allerdings die Genauigkeit und 
Vollständigkeit, seine Benutzung fremder Angaben die Kritik 
nicht selten vermissen läßt, die wir zu verlangen heutzutage 
gewohnt sind, so hat es doch auch in dieser Beziehung alles 
geleistet, was sich nach dem Stand und den Hilfsmitteln der 
wissenschaftlichen Forschung in seiner Zeit billigerweise er- 
warten ließ. 

Teils auf Beweis, teils auf unmittelbarem, durch In- 
duktion zu erhärtendem Wissen beruht nun die Begriffs- 
bestimmung oder Definition (ogiCf^og). Wenn alle unsre 
Begriffe ein Allgemeines, den Dingen einer gewissen Klasse 
notwendig und immer Zukommendes bezeichnen, so bezeichnet 
der Begriff in dem engeren Sinn, in dem er Gegenstand der 
Definition ist, das Wesen der Dinge ^), ihre Form, abgesehen 
von ihrem Stoff, das, was sie zu dem macht, was sie sind. 
Drückt ein solcher Begriff das aus, was vielen, der Art nach 
verschiedenen Dingen gemein ist, so ist er ein Gattungs- 
begriff (yivog). Tritt zu der Gattung der artbildende Unter- 
schied (dta€poQa eidoTtoiog) hinzu, so entsteht die Art (eldog) ; 
wird diese durch weitere unterscheidende Merkmale näher 
bestimmt und dieses Verfahren so lange als möglich fortgesetzt, 
so erhalten wir die untersten Artbegriffe, die ihrerseits nicht 
mehr in Arten, sondern nur noch in Einzelwesen zerfallen, 
und diese sind es, welche den Begriff jedes Dinges aus- 
machen (Anal. post. II, 13). Die Begriffsbestimmung soll da- 
her die Merkmale, welche die Ableitung ihres Gegenstandes 
aus einem Gattungsbegriff vermitteln, nicht allein vollständig, 
sondern auch in der richtigen, dem stufen weisen Fortgang 
vom Allgemeinen zum Besonderen entsprechenden Ordnung 
enthalten ; das wesentliche Hilfsmittel der Begriffsbestimmung 
ist eine erschöpfende und logisch fortschreitende Ein- 

^) Ovaiay ilSog, t6 jC iari^ to otisq ovy t6 tlvat mit beigefug^m 
Dativ (wie ro KV&Qtuntp elvai)^ to rC ^v eJvai. tJber die Bedeutung der 
letztgenannten Formel, die Ar. zuerst angewandt hat, s. Phil. d. Gr. 112, 
S. 208 f. 



§ 55. Die aristotelische Logik. 179 

t eilung. Was unter denselben Gattungsbegriflf fällt, ist der 
Gattung, was unter denselben Artbegriff fällt, ist der Art 
nach identisch ; was innerhalb derselben Gattung am weitesten 
voneinander abliegt, ist sich konträr entgegengesetzt (Ivawiov)^ 
während zwei Begriffe in kontradiktorischem Gegensatz {dvti- 
g)aaig) stehen, wenn der eine die einfache Verneinung des 
andern (A, nicht — A) ist (vgl. S. 175). (Daß dieser Gegen- 
satz nur zwischen Sätzen, nicht zwischen unverbundenen Be- 
griffen stattfinden kann, hat Aristoteles wohl deshalb über- 
sehen, weil er die Kopula noch nicht als einen eigentüm- 
lichen Bestandteil des Urteils neben Subjekt und Prädikat 
erkannt hat.) Er fügt aber diesen Arten des Gegensatzes 
noch den der Verhältnisbegriffe und den des Habens (S^ig) 
und der Beraubung (oveQtjaig) bei*). 

Alle unsere Begriffe fällen nun (Kateg. 4. Top. I, 9) 
unter eine oder mehrere von den „Hauptgattungen der Aus- 
sagen" (yevfi oder ax'tjf^ctTa tcov narrjyoQidiv) oder Kategorien 
(noTTjyoQiai) j welche die verschiedenen Gesichtspunkte be- 
zeichnen, aus denen die Dinge sich betrachten lassen, während 
sie selbst keinen höheren Begriff als gemeinsamen Gattungs- 
begriff über sich haben. Aristoteles zählt ihrer zehn: Sub- 
stanz, Quantität, Qualität, Relation, Wo^Wann, Lage, Haben, 
Wirken, Leiden (ovaia oder ti iattj noaov, tioiov, TtQog Tt, 
Ttovj TtOTe, YMod^aif sxsiv^ Ttoielv^ naaxBiv). Die Vollständig- 
keit dieses Fachwerkes steht ihm fest; aber ein bestimmtes 
Prinzip für seine Ableitung will sich nicht zeigen, und die 
Kategorien des Habens und der Lage werden nur in den 
„Kategorien" und der Topik genannt, dagegen in allen 
späteren Aufzählungen *) übergangen. Auch von den übrigen 
haben aber nicht alle die gleiche Bedeutung ; die wichtigsten 
sind die vier ersten und unter ihnen die der Substanz, zu 
der alle andern sich verhalten wie das Abgeleitete zum Ur- 



^) Über die Vieldeutigkeit des letzgenannten Begriffspaares und sein 
unklares Verhältnis zu dem konträren und kontradiktorischen Gegensatz 
s. Phil. d. Gr. n 2, S. 216 Anm. 1. 

2) Anal. post. I, 83 a 21. b 15. Phys. V, 225 b 5. Met. z/, 1017 a 24. 

12* 



180 Zweite Periode. 

sprünglichen. Eben diese ist es nun^ welche nach Aristoteles 
den wesentlichen Gegenstand der „ersten Philosophie", der 
sogenannten Metaphysik, bildet. 

§ 56. Aristoteles* Metaphysik. 

Diese Wissenschaft beschäftigt sich mit der Untersuchung 
über die letzten Gründe, mit dem Seienden als solchem, dem 
Ewigen, ünkörperlichen und Unbewegten, welches die Ur- 
sache aller Bewegung und Gestaltung in der Welt ist-, und 
sie ist deshalb die umfassendste und wertvollste von allen 
Wissenschaften. Näher gruppiert sich ihr Inhalt um die 
drei Fragen nach dem Verhältnis des Einzelnen und des All- 
gemeinen, der Form und des Stoffes, des Bewegenden und 
des Bewegten. 

1. Das Einzelne und das Allgemeine. Wenn 
Piaton für das ursprünglich und schlechthin Wirkliche nur 
die Ideen, nur das Allgemeine gelten lassen wollte, das den 
Inhalt unserer Begriffe bildet, und wenn er deshalb die 
Ideen als fürsichseiende Wesenheiten beschrieb, die in ihrem 
Dasein von den Einzeldingen unabhängig seien, so ist Aristoteles 
damit nicht einverstanden. Er unterwirft Metaph. ^, 9, M, 
4 — 10 u. ö. die Ideenlehre und die mit ihr zusammenhängen- 
den Annahmen (vgl. S. 155 f.) der eindringendsten und (trotz 
einzelner Ungerechtigkeiten und Mißverständnisse) vernichten- 
den Kritik, und er hält ihr als besonders entscheidend ent- 
gegen : daß das Allgemeine nichts Substantielles sei ; daß das 
Wesen nicht außer den Dingen sein könne, deren Wesen es 
ist; daß den Ideen die bewegende Kraft fehle, ohne die sie 
nicht die Ursachen der Erscheinungen sein können. Er 
seinerseits weiß nur das Einzelne für ein Wirkliches im 
vollen Sinn, eine Substanz (ovaia) zu halten. l5enn wenn 
dieser Name nur dem zukommt, was weder von einem andern 
prädiziert wird noch einem andern als Akzidentelles anhaftet ^), 



^) Kateg. 2 a 11 : ovaia ^ä lariv , , , rj ^^r« xaS^* vnoxufjiivov rivog 
XiyiTat fjirJT* iv vnoxHfiivfj^ rivl iariv. Vgl. 1 a 20 iF. 



§ 56. Aristoteles' Metaphysik. 181 

«0 ist nur das Einzelwesen ein solches ; alle allgemeinen Be- 
griffe dagegen drücken nur gewisse Eigenschaften der Sub' 
stanzen und auch die Gattungsbegriffe nur das gemeinsame 
Wesen gewisser Substanzen aus. Auch sie können daher 
zwar (als devregai ovoiai) uneigentlich und abgeleiteterweise 
Substanzen genannt, aber sie dürfen nicht für etwas außer 
den Dingen Subsistierendes gehalten werden: sie sind nicht 
«in ^iv naqa za noXhi, sondern ein ?v xarä tioIIüv. Daß 
aber freilich zugleich der Form, die immer ein Allgemeines 
ist im Vergleich mit dem aus Form und Stoff Zusammen- 
gesetzten, die höhere Wirklichkeit zuerkannt wird (s. u.), und 
daß (nach S. 173. 174) nur das Allgemeine Gegenstand des 
Wissens, das an sich selbst Frühere und Bekanntere sein soll, 
ist ein Widerspruch, dessen Folgen sich durch das ganze 
aristotelische System hindurchziehen^). 

2. So lebhaft indessen der Philosoph das Fürsichsein 
und die Jenseitigkeit der platonischen Ideen bestreitet, so 
will er doch die leitenden Gedanken der Ideenlehre so wenig 
aufgeben, daß seine eigenen Bestimmungen über Form und 
Stoff vielmehr nur ein Versuch sind, diese Gedanken in 
einer haltbareren Theorie als die platonische durchzuführen. 
Den Gegenstand des Wissens, sagt er mit Piaton, kann nur 
das Notwendige und Unveränderliche bilden; alles Sinnliche 
aber ist zufällig und veränderlich, es kann sowohl sein als 
nicht sein (ist ein ivdexofÄevov xal elvai xai /uij elvav)'^ nur 
<das Unsinnliche, das in unsern Begriffen gedacht wird, ist 
so unveränderlich wie diese selbst. Noch wichtiger ist aber 
für Aristoteles die Erwägung, daß jede Veränderung ein Un- 
ireränderliches , alles Werden ein Ungewordenes voraussetze, 
welches näher zweifacher Art ist : das Substrat, das zu etwas 
wird und an dem die Veränderung sich vollzieht, und die 

^) Vgl. zu Punkt 1 GoMPEBz Griech. Denker III, 58 ff., wo die Wider- 
sprüche, in die sich Ar. dadurch verwickelt, daß er auf der einen Seite den 
Ideen Piatons jede Dinglichkeit abspricht und auf der andern selbst den 
Mrj oder Formen (s. o.) eine Substantialität zuerkennt, scharf hervor- 
gehoben werden. 



182 Zweite Periode. 

Eigenschaften, in deren Mitteilung an jenes Substrat sie be- 
steht. Jenes Substrat nennt Aristoteles mit einem von ihm 
dafür gestempelten Ausdruck die vXrj^ den Stoff; diese Eigen- 
schaften mit dem für die platonischen Ideen gebräuchlichen 
das eldog (auch (Aoqqyri)^ die Form. (Andre Bezeichnungen 
S. 178 Anm. 1.) Da das Ziel des Werdens erreicht ist, 
wenn der Stoff seine Form angenommen hat, ist die Form 
jedes Dinges seine Wirklichkeit und die Form überhaupt die 
Wirklichkeit {Iveqyeiay ivrelix^ia^ oder das Wirkliche (ivcQ- 
yei(f ov) schlechthin; da andrerseits der Stoff als solcher 
zwar noch nicht ist^ was in der Folge aus ihm wird, aber doch 
die Fähigkeit haben muß, es zu werden, ist er die Möglich- 
keit (dvvafiig) oder das Mögliche (dvmfiet ov). Denken wir 
uns den Stoff ohne alle Form, so erhalten wir die „erste 
Materie" (TtQOjTtj üAij), die als bestimmungslos auch das 
(qualitativ) unbegrenzte genannt wird, das gemeinsame Sub- 
strat aller bestimmten Stoffe, das aber als das bloß Mögliche 
nie für sich existiert oder existiert hat; dagegen lassen sich 
die Formen nicht als bloße Modifikationen oder gar als Ge- 
schöpfe einer allgemeinsten Form betrachten, jede von ihnen 
ist vielmehr als diese bestimmte Form ewig und unvergäng- 
lich wie die platonischen Ideen, nur daß sie nicht wie diese 
außer den Dingen ist und bei der Ewigkeit der Welt dies 
auch nie war. Die Form ist nicht bloß der Begriff und das 
Wesen jedes Dinges, sondern auch sein Endzweck und die 
Kraft, welche diesen Zweck verwirklicht; und wenn auch 
diese ihre verschiedenen Beziehungen in der Regel an ver- 
schiedene Subjekte verteilt sind und Aristoteles deshalb 
häufig vier Arten von Ursachen zählt: die materiale, die 
formale, die bewegende und die Endursache, so fallen doch 
die drei letztgenannten ihrem Wesen nach und in einzelnen 
Fällen (wie beim Verhältnis der Seele zum Leib und der 
Gottheit zur Welt) auch tatsächlich zusammen; ursprünglich 
ist nur der Unterschied der Form und des Stoffes. Dieser 
zieht sich nun durch alles hindurch: wo sich eines zum 
andern als das Vollendetere, das Bestimmende und Wirkende 



§ 56. Aristoteles' Metaphysik. 183 

verhält, wird jenes als die Form oder das Wirkliche, dieses 
als der Stoff oder das Potentielle bezeichnet. Tatsächlich 
erlangt aber freilich der Stoff auch bei Aristoteles eine Be- 
deutung, die weit über den Begriff der bloßen Möglichkeit 
hinausführt. Aus ihm stammt die Naturnotwendigkeit {avapiri) 
und der Zufall {avcofiaTov und Tvxri)^)^ welche das zweck- 
mäßige Wirken der Natur wie der Menschen beschränken 
und in dieses eingreifen; auf der Beschaffenheit des Stoffes 
beruht alle ünvoUkommenheit in der Natur, beruhen aber 
auch so durchgreifende Unterschiede wie der des Himmlischen 
und Irdischen, des Männlichen und Weiblichen; von dem 
Widerstand des Stoffes gegen die Form rührt es her, daß 
sich die Natur nur allmählich von den niedrigeren Gebilden 
zu den höheren erheben kann; nur aus dem Stoffe weiß es 
Aristoteles zu erklären, daß die untersten Artbegriffe in eine 
Vielheit von Individuen auseinandergehen. Es läßt sich nicht 
verkennen, daß der Stoff dadurch zu einem zweiten, mit 
eigener Macht ausgestatteten Prinzip neben der Form wird; 
und so groß die Vorteile sind, welche seine Lehre von Form 
und Stoff ^), in Verbindung mit dem von ihm neugeschaffenen 
Begriffspaar „Möglichkeit und Wirklichkeit" und dem Begriff 
der Bewegung, dem Philosophen für die Erklärung der Er- 
scheinungen gewährt, so störend ist doch die Unklarheit, 
welche (vgl. S. 150 f.) daraus entsteht, daß die ovaia bald dem 
Einzelwesen, bald der Form gleichgesetzt wird und die 
Materie bald in einem abstrakten, bald in einem konkreten 
Sinne gefaßt wird. 

^) über das Verhältnis des Zufalls zur Notwendigkeit und zum 
Kausalitätsprinzip vgl. Qomperz Griech. Denker IIT, 73 ff. 

2) Ein Vorzug seiner Welterklärung ist, daß er zuerst eine Ent- 
wicklung, wenn auch nicht im modernen Sinne, der Naturgebilde, ins- 
besondere der organischen, gelehrt hat. Die Begriffe freilich, mit denen 
er hierbei operiert, leiden nicht nur an Vieldeutigkeit, sondern tragen auch 
etwas Erkünsteltes an sich und werden von ihm vielfach in unfruchtbarer 
oder mißbräuchlicher Weise verwendet. Dies gilt namentlich, wie jetzt fast 
allgemein zugestanden wird, von der öuva/bttg und h^gyna. Vgl. Gomper» 
Griech. Denker HI Kap. 9 und Siebeck Aristot. S. 30—42. 



Ig4 Zweite Periode. 

3. Aus dem VerhältniQ der Form und des Stoffes geht 
die Bewegung oder, was dasselbe, die Veränderung her- 
vor, der alles in der Welt unterliegt, was einen Stoff an 
sich hat. Die Bewegung ist nämlich nichts andres als das 
Wirklichwerden des Möglichen als solchen (^ rov dvvdiABv 
ovcoQ ivrelex^ia, ^ toiovtov Phys. III, 201 a 10 u. ö.). Den 
Anstoß zu diesem Wirklichwerden kann aber nur ein solches 
geben, das schon ist, was das Bewegte durch seine Bewegung 
erst werden soll. Jede Bewegung setzt daher zweierlei vor- 
aus: ein Bewegendes und ein Bewegtes, und auch wenn ein 
Wesen sich selbst bewegt, muß dieses beides in ihm an ver- 
schiedene Elemente verteilt sein, wie im Menschen an Seele 
und Leib. Das Bewegende kann nur das Aktuelle, die Form 
sein, das Bewegte nur das Potentielle, der Stoff. Jene wirkt 
auf diesen dadurch, daß sie ihn reizt, sich der Wirklichkeit, 
der Formbestimmtheit entgegenzubewegen; denn der Stoff 
hat seiner Natur nach (sofern in jeder Anlage die Forderung 
ihrer Betätigung liegt) ein Verlangen {lq>Uo&aij OQiyea&ai, 
OQiiri) nach der Form als dem Guten und Göttlichen (Phys. 
I, 192 a 16. n, 192 b 18. Metaph. ^, 1072 b 3). Wo daher 
Form und Stoff sich berühren, entsteht immer und notwendig 
Bewegung. Und da nun nicht allein Form und Stoff selbst, 
sondern auch das Verhältnis beider, auf dem die Bewegung 
beruht, ewig sein muß (denn seine Entstehung wie sein Ver- 
schwinden könnte wieder nur durch eine Bewegung bewirkt 
werden), da auch die Zeit und die Welt, welche beide ohne 
Bewegung nicht gedacht werden können, anfangs- und end- 
los sind (vgl. S. 189), so kann die Bewegung nie begonnen 
haben und nie aufhören. Der letzte Grund dieser ewigen 
Bewegung kann aber nur in einem Unbewegten liegen. Denn 
wenn alle Bewegung durch die Einwirkung des Bewegenden 
auf das Bewegte entsteht und somit ein von dem Bewegten 
verschiedenes Bewegendes voraussetzt, so setzt das letztere, 
wenn es gleichfalls bewegt ist, seinerseits wieder ein von ihm 
verschiedenes Bewegendes voraus, und diese Forderung wieder- 
holt sich , solange wir nicht zu einem Bewegenden kommen, 



§ 56. Aristoteles' Metaphysik. 185 

das selbst nicht wieder bewegt ist. Wenn es daher kein 
unbewegtes Bewegendes gäbe, könnte es auch kein erstes 
Bewegendes und somit überhaupt keine Bewegung, noch 
weniger eine anfangslose Bewegung geben. Ist aber das 
erste Bewegende unbewegt, so muß es immateriell, Form 
ohne Stoff, reine Aktualität sein; denn wo Materie ist, da 
ist auch die Möglichkeit des Andersseins, der Fortgang vom 
Potentiellen zum Aktuellen, die Bewegung; nur das ün- 
körperliche ist unveränderlich und unbewegt. Und da nun 
die Form das vollkommene Sein ist, der Stoff das unvoll- 
kommene, so muß das erste Bewegende das schlechthin Voll- 
kommene sein, in dem die Stufenreihe des Seins zum Ab- 
schluß kommt. Da ferner die Welt ein einheitliches, wohl- 
geordnetes, auf einen letzten Zweck bezogenes Ganzes, die 
Bewegung der Weltkugel eine einheitliche und stetige ist, 
kann das erste Bewegende nur eines, nur jener letzte Zweck 
selbst sein. Das schlechthin unkörperliche Wesen ist aber 
nur der Geist oder das Denken (vovg). Der letzte Grund 
aller Bewegung liegt daher in der Gottheit als dem reinen, 
vollkommenen, seiner Kraft nach unendlichen Geiste. Die 
Tätigkeit dieses Geistes kann nur im Denken bestehen, denn 
jede andere Tätigkeit (jedes TtQovceiv und noieiv) hat ihren 
Zweck außer sich selbst, was bei der des vollkommenen, 
selbstgenugsamen Wesens undenkbar ist; und dieses Denken 
kann sich nie im Zustand bloßer Potentialität befinden, 
sondern es ist unaufhörliche Denktätigkeit (d^ecogla). 
Seinen Gegenstand aber kann nur es selbst bilden; denn 
der Wert des Denkens richtet sich nach dem seines Inhalts, 
das Wertvollste und Vollkommenste ist aber nur der gött- 
liche Geist selbst. Das Denken Gottes ist mithin „Denken 
des Denkens", und in dieser unwandelbaren Selbstbetrachtung 
besteht seine Seligkeit. Auch auf die Welt wirkt er nicht 
dadurch, daß er aus sich herausgeht, sein Denken und 
Wollen ihr zuwendet, sondern durch sein bloßes Dasein: 
das schlechthin vollkommene Wesen ist als das höchste Gut 
auch der letzte Zweck aller Dinge, das, dem alles zustrebt 



186 Zweite Periode. 

und sieb entgegenbewegt; von ihm bangt die einheitliche 
Ordnung, der Zusammenhalt und das Leben der Welt ab; 
einen auf die Welt gerichteten göttlichen Willen, eine schöpfe- 
i'ische Tätigkeit oder ein Eingreifen der Gottheit in den Welt- 
lauf hat Aristoteles nicht angenommen ^). 

§ 57. Aristoteles' Physik: 
Ihr Standpunkt und ihre Grundbegriffe. 

Wenn es die „erste Philosophie" mit dem Unbewegten 
und Unkörperlichen zu tun hat, bildet den Gegenstand der 
Physik das Bewegte und Körperliche und zwar das, welches 
den Grund seiner Bewegung in sich selbst hat. „Die Natur 
(g)vaig) ist der Grund der Bewegung und Ruhe in dem, 
welchem diese ursprünglich zukommen" (Phys. II, 192 b 20) ; 
wie wir uns aber diesen Grund näher zu denken haben, und 
wie er sich zu der Gottheit verhält, bleibt unklar, und so 
geläufig es dem Philosophen ist, die Natur wie eine reale in 
der Welt wirkende Kraft zu behandeln, so wenig gibt ihm 
doch sein System das Recht zu dieser Hypostasierung. 

Unter der Bewegung versteht nun Aristoteles (s. S. 184) 
im allgemeinen jede Veränderung, jedes Wirklichwerden eines 
Möglichen, und er zählt in diesem Sinne vier Arten der 
Bewegung: die substantielle: Entstehen und Vergehen; die 
quantitative: Zunahme und Abnahme; die qualitative: Um- 
wandlung (älXolwaigy Übergang eines StoflFes in einen andern); 
die räumliche ((poqd, Ortsveränderung); rechnet dann aber 
auch wieder nur die drei letztgenannten zur Bewegung im 
engeren Sinn (nivrjaig), während der Begriflf der Veränderung 
(ßeraßolTJ) alle vier umfaßt. Alle andern Arten der Ver- 
änderung sind durch die räumliche Bewegung bedingt; und 
Aristoteles untersucht (Phys. III. IV) eindringender als irgend- 
einer von seinen Vorgängern die Begriffe, welche sich zu- 



^) Die wichtigsten Stellen für die aristotelische Theologie finden sich 
Phys. VIII, 5. 6. 10. Metaph. ^, 6 f. 9 f. De coelo I, 279 a 17 ff. Fragm. 
12—16. — Vgl. GoMPERz Griech. Denker III Kap. 18. 



§ 57. Aristoteles' Grundbegriffe der Physik. 187 

nächst auf diese Art der Bewegung beziehen. Er zeigt, daß 
das Unbegrenzte nur potentiell, in der unendlichen Ver- 
mehrbarkeit der Zahlen und der unendlichen Teilbarkeit der 
Größen, nicht aktuell gegeben werden könne. Er definiert 
den Raum (TOTtog, seltener x^Q^)^ ^^^ ®r aber von dem Ort 
noch nicht scharf unterscheidet, als die Grenze des um- 
schließenden Körpers gegen den umschlossenen, die Zeit als 
die Zahl der Bewegung in Beziehung auf das Früher und 
Später {ccQid-fÄcg ycirtjaecag xarä to TtqoreQOv nai varegov); 
und er folgert daraus, daß es außer der Welt weder Raum 
noch Zeit gebe, daß ein leerer Raum (wie gegen die Atomistik 
eingehend ausgeführt wird) undenkbar sei, daß die Zeit, 
wie jede Zahl, eine zählende Seele voraussetze ^). Er beweist 
(um vieles andre zu tibergehen), daß die räumliche Bewegung 
und von den räumlichen Bewegungen die Kreisbewegung die 
einzige einheitliche und stetige Bewegung sei, welche anfangs- 
und endlos sein kann. — Indessen reicht die räumliche Be- 
wegung und die ihr entsprechende mechanische Natur- 
betrachtung nach Aristoteles' Überzeugung zur Erklärung 
der Erscheinungen nicht aus. Er behauptet ihr gegenüber 
die qualitative Verschiedenheit der Stoffe, und bestreitet 
nicht allein Piatons mathematische Konstruktion der Elemente, 
sondern auch die Atomenlehre mit Gründen, gegen welche 
sich diese in ihrer demokritischen Gestalt und nach dem 
damaligen Stande der Naturkenntnis nicht schützen ließ. 
Er sucht ebenso unter Bekämpfung der entgegenstehenden 
Theorien zu zeigen, daß sich die Stoffe und insbesondere die 
Elemente qualitativ ineinander umwandeln, indem die Eigen- 
schaften des einen unter der Einwirkung eines andern sich 
ändern ; dieses Verhältnis des Wirkens und Leidens ist aber, 
wie er glaubt, nur da möglich, wo zwei Körper einander 
teilweise ähnlich, teilweise unähnlich, d. h. wo sie sich inner- 
halb derselben Gattung entgegengesetzt sind. Und dement- 



^) Eine nähere Erklärung und kritische Würdigung der Auffassung 
des Baumes und der Zeit bei Gomperz Qriech. Denker III, 91 ff. 



188 Zweite Periode. 

sprechend verteidigt Aristoteles auch die Vorstellung ^ nach 
welcher die Mischung der Stoffe nicht in einem blofien Ge- 
menge, sondern in der Bildung eines neuen Stoffes aus den 
miteinander gemischten besteht (chemische Mischung), gegen 
die mechanischen Theorien ^). — Noch wichtiger ist ihm aber 
der Grundsatz, daß sich die Wirksamkeit der Natur über- 
haupt nicht bloß als eine physikalische, sondern wesentlich 
nur als Zwecktätigkeit betrachten lasse. Das Ziel alles 
Werdens ist die Entwicklung der Potentialität zur Aktualität, 
die Einbildung der Form in den Stoff. Aus der aristotelischen 
Lehre von Form und Stoff folgt daher ebenso wie aus der 
platonischen Ideenlehre ein Übergewicht der teleologischen 
Naturerklärung über die physikalische. „Die Natur**, erklärt 
Aristoteles, ,,tut nichts zwecklos;** „sie strebt immer nach 
dem Besten*', „sie macht nach Möglichkeit immer das Schönste*' ; 
nichts in ihr ist überflüssig, nichts umsonst, nichts unvoll- 
ständig; in allen ihren Werken, auch den geringsten, ist 
etwas Göttliches, und selbst die Abfälle verwendet sie wie 
ein guter Haushalter, um etwas Nützliches hervorzubringen. 
Daß dem so ist, zeigt die Naturbeobachtung, welche uns in 
der Einrichtung der Welt und in den Naturerzeugnissen im 
Größten wie im Kleinsten die bewunderungswürdigste Zweck- 
mäßigkeit erkennen läßt. Diese Zweckmäßigkeit aber auch 
auf eine durchgängige Zwecktätigkeit zurückzufLlhren, 
nötigt uns die Erwägung, daß das, was regelmäßig eintritt, 
sich nicht vom Zufall herleiten läßt ; und wenn wir der Natur 
allerdings keine Überlegung zuschreiben können, beweist 
dies doch nur, daß sie ebenso wie die vollendete Kunst das 
Zweckmäßige mit jener unfehlbaren Sicherheit vollbringt, die 
jede Wahl ausschließt. Der eigentliche Grund der Natur- 
dinge liegt daher in den Endursachen; die materiellen Ur- 

^) Daß Ar.s Elementarlehre zum größten Teil auf willkürlichen 
Spekulationen beruht und seine Annahme (s. S. 190) von den „natürlichen 
Orten" der Elemente und ihrer Umwandlung ineinander einen Rückschritt 
nicht nur hinter die Atomiker, sondern auch hinter Empedokles und andre 
Ältere Philosophen bedeutet, zeigt Gomperz Griech. Denker III, 46 ff. 



§ 58. Das Weltgebäude und seine Teile. IgQi 

Sachen dagegen betrachtet Aristoteles mit Piaton (vgl. S. 142)» 
zwar als ihre Bedingungen, als unentbehrliche Hilfsmittel 
(«1 V7co&ias(og avayxäiovy awalxiov^ xb ov ovn avev tc ev\ 
aber nicht als ihre positiven Ursachen. Welchen Widerstand 
aber freilich diese Mittelursachen der Zwecktätigkeit der 
Natur leisten, wie sie diese in ihrem Erfolge beschränken 
und sie in der irdischen Welt (denn die himmlische hat einen 
anders gearteten Stoff) zu einem stufenweisen Fortgang vom 
Unvollkommeneren zum Vollkommeneren nötigen, ist schon> 
S. 183 bemerkt worden^). 

§ 58. Das Weltgebäude und seine Teile. 

Aus der Ewigkeit der Form und des Stoffes folgt mit: 
der Anfangs- und Endlosigkeit der Bewegung (s. o. S. 184) 
auch die des Weltgebäudes, welche der Philosoph (s. S. 163) 
schon frühe behauptet hat; die Annahme, daß die Welt zwar 
entstanden sei, aber ewig dauern werde (vgl. Piatons Lehre 
S. 144 ff.), übersieht, daß Entstehen und Vergehen sich 
gegenseitig bedingen und nur das unvergänglich sein kann, 
dessen Natur das eine ebenso ausschließt wie das andre. 
Selbst in der irdischen Welt sind es immer nur die Einzel- 
wesen, die entstehen und vergehen; die Gattungen dagegen 
sind anfangslos, und es hat deshalb immer Menschen gegeben ; 
nur daß diese (wie schon Piaton annahm) von Zeit zu Zeit 

^) Die teleologische Welterklärung des Ar. erhebt sich weit über die- 
enge und äußerliche Auffassung, wie sie uns bei Sokrates in Xenophons 
Denkwürdigkeiten entgegentritt (s. S. 104). Die zweckmäßige Gestaltung 
der Dinge stammt nach ihm nicht von einer außerhalb der Natur liegenden. 
Ursache, etwa einem Weltschöpfer oder Weltordner, sondern sie ist der 
Natur immanent, die das Prinzip der Bewegung in sich selbst hat Daher 
stellt er auch nicht den Menschen in den Mittelpunkt seiner teleologischen- 
Betrachtungen, sondern die Ordnung und den Zusammenhang des Welt- 
ganzen. Daß er in der Anwendung dieses Prinzips auf die einzelnen Ge- 
biete und ErscheinuDgen des Naturlebens vielfach fehlgreift, kann bei dem 
damaligen Stande der Naturforschung kein Wunder nehmen. S. Ph. d. Gr. 
ra 2 S. 422 ff. 487 ff. Gompebz Griech. Denker III, 101 ff. Siebeck Arist. 
S. 59 ff. 



190 Zweite Periode. 

durch verheerende Naturereignisse auf weiten Strecken teils 
vertilgt, teils in den Rohzustand zurückgeworfen werden. 
Durch diese von ihm zuerst aufgestellte und tief in sein 
System eingreifende Lehre von der Ewigkeit der Welt kommt 
der kosmogonische Teil der Physik für Aristoteles in Weg- 
fall : er hat nicht die Entstehung, sondern nur die Beschaffen- 
heit der Welt zu erklären. 

Die Grundlage hierfür bildet nun für ihn die Unter- 
scheidung der zwei ungleichen Hälften, aus denen das Welt- 
ganze besteht: der Welt über und der unter dem Monde, 
der himmlischen und der irdischen, des Jenseits (to iiui) 
und des Diesseits (tö ivravd-a). Die unvergängliche Natur 
der Gestirne und die unwandelbare Regelmäßigkeit ihrer 
Bewegungen beweist, was Aristoteles auch aus allgemeinen 
Gründen darzutun versucht, daß sie schon ihrem Stoffe nach 
vpn den vergänglichen, einem beständigen Wechsel unter- 
liegenden Dingen verschieden sind. Jene bestehen aus dem 
Äther, dem gegensatzlosen Körper, der keiner Veränderung 
außer der Ortsveränderung fähig, und dem von allen Be- 
wegungen nur die Kreisbewegung eigen ist; diese aus den 
vier Elementen, die untereinander in einem doppelten Gegen- 
satz stehen: dem der Schwere und Leichtigkeit, welcher von 
der ihnen eigentümlichen geradlinigen Bewegung nach ihren 
natürlichen Orten herrührt, und dem qualitativen, der sich 
aus den verschiedenen möglichen Kombinationen der Grund- 
eigenschaften , warm und kalt, trocken und feucht, ergibt 
(das Feuer ist warm und trocken, die Luft warm und feucht, 
das Wasser kalt und feucht, die Erde kalt und trocken). 
Wegen dieses Gegensatzes gehen sie beständig ineinander 
über; dieser Übergang ist aber für die, welche sich ferner 
stehen (Erde und Luft, Wasser und Feuer), durch die Um- 
wandlung in eines der zwischen ihnen liegenden Elemente 
vermittelt^). Schon hieraus folgt nun nicht allein die Ein- 
heit der Welt, welche durch die des ersten Bewegenden 



1) Vgl. hierzu S. 188 Anm. 1. 



§ 58. Das Weltgebäude und seine Teile. IQl 

ohnedies sichergestellt ist, sondern auch ihre Kugelgestalt, 
die aber Aristoteles noch mit vielen andern physikalischen 
und metaphysischen Gründen zu beweisen sucht. In der 
Mitte der Welt ruht als ein verhältnismäßig kleiner Teil von 
ihr die Erde, ihrer Gestalt nach gleichfalls eine Kugel; um 
sie lagern sich in konzentrischen, kugelförmigen Schichten 
das Wasser, die Luft und das Feuer (oder genauer: der 
WärmestoflF, vttixxavfia, denn die Flamme ist vTtegßoX^ ^v^og); 
dann kommen die himmlischen Sphären, deren Stoff um so 
reiner sein soll, je ferner sie der Erde sind. Die äußerste 
von diesen Sphären ist der Fixsternhimmel (tvqwtoq ovqavog)^ 
dessen tägliche Drehung von der ihn raumlos (vgl. S. 187) 
umgebenden Gottheit bewirkt wird. Die Bewegung jeder 
Sphäre besteht in einer durchaus gleichmäßigen Drehung um 
ihre Achse, wie dies Aristoteles mit Piaton und der ganzen 
gleichzeitigen Astronomie voraussetzt, von der ersten Sphäre 
aber auch eingehend beweist. Wir mttssen daher (nach einer 
von Piaton herrührenden Fassung des Problems) die Anzahl 
von Sphären annehmen und ihnen die Bewegungen beilegen, 
welche vorausgesetzt werden müssen, um die tatsächliche 
Bewegung der sieben Planeten aus lauter gleichmäßigen 
Kreisbewegungen zu erklären. Unter dieser Voraussetzung 
hatte nun Eudoxos (S. 161) die Zahl der Sphären, welche die 
Bewegung der Planeten bewirken, mit Einschluß der sieben, 
in denen diese selbst befestigt sind, auf 26, Kallippos auf 33 
berechnet. Aristoteles schließt sich an sie an; da sich aber 
nach seiner Theorie die äußeren Sphären zu den inneren ver- 
halten wie die Form zum Stoff, das Bewegende zum Be- 
wegten, so müßte jede allen von ihr umschlossenen ihre Be- 
wegung ebenso mitteilen, wie die äußerste dies tut, indem 
sie alle bei ihrer täglichen Drehung mit herumführt, und es 
müßte dadurch die Eigenbewegung jedes Planeten von denen 
der sämtlichen ihn umschließenden Sphären gestört werden, 
wenn nicht besondere Vorkehrungen dagegen getroffen wären. 
Aristoteles nimmt daher an, zwischen den Sphären jedes 
Planeten und denen des nächstunteren bewegten sich in einer 



192 Zweite Periode. 

den Bewegungen der ersteren entgegengesetzten Riditang 
so viele „zurückführende'' (avelivcovaai) Sphären, als nötig 
sind, um den Einfluß der einen auf die andern aufzuheben* 
Ihre Zahl berechnet er auf 22, und indem er diese zu denen 
des Kallippos hinzufügt, erhält er im ganzen, die Fixstern-» 
Sphäre mitgerechnet, 56 himmlische Sphären. Jeder von diesen 
muß aber ebenso wie dem „ersten Himmel'' ihre. Bewegung 
von einer ewigen und unbewegten, also unkörperlichen Sub- 
stanz, einem ihr zugehörigen Geiste mitgeteilt werden, und 
es müssen demnach dieser Sphärengeister ebenso viele sein: als 
der Sphären; und die Gestirne werden deshalb auch von 
Aristoteles als beseelte, vernünftige, hoch über dem Menschen 
stehende, göttliche Wesen gepriesen. Dem jedoch, was er 
über die Zahl der Sphären und Sphärengeister sagt, will ei* 
nicht mehr als Wahrscheinlichkeit beilegen. (Metaph. ^, 8. 
SiMPL. zu de coelo S. 488, 3 ff. Heib.)*). 

Durch die Bewegung der himmlischen Sphären soll nun 
infolge der Reibung, namentlich an den Stellen, welche unter 
der Sonne liegen, in der Luft, Licht und Wärme entstehen; 
dieser Erfolg tritt aber wegen der Neigung der Sonnenbahn 
in den verschiedenen Jahreszeiten fiir jeden Ort in verschie- 
denem Mafie ein, und die Folge davon ist der Kreislauf des 
Entstehens und Vergehens, dieses Abbild des Ewigen im 
Vergänglichen, das Auf- und Abströmen der Stoffe und die 
Umsetzung der Elemente ineinander, woraus alle jene atmo- 
sphärischen und irdischen Erscheinungen hervorgehen, mit 
denen Aristoteles' Meteorologie sich beschäftigt. 

§ 59. Die lebenden Wesen. 

Der Betrachtung der organischen Natur hat Aristoteles 
einen großen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit gewidmet 



^) Zur Astronomie des Ar. vgl. Qompebz Qriech. Denker m, 175 ff., 
wo anch das Verhältnis seiner Sphärentheorie zu der des Eudoxos und 
Kallippos, teilweise im Gegensatz zu Schiaparellis und Haltschs Aufifassong, 
näher erörtert wird. 



§ 59. Die lebenden Wesen. 193 

(vgl. S. 167); und konnte er auch hierfür ohne Zweifel schon 
manche Untersuchung von Naturforschern und Ärzten, wie 
namentlich die Demokrits, benutzen, so gingen doch seine 
eigenen Leistungen allen Anzeichen nach über die ihrigen 
so weit hinaus, daß wir ihn unbedenklich nicht bloß den 
hervorragendsten Vertreter, sondern auch den Haupturheber 
der vergleichenden wie der systematischen Zoologie bei den 
Griechen, und selbst wenn er sein Pflanzen werk nicht ge- 
schrieben haben sollte, jedenfalls wegen seiner Lehrtätigkeit 
auch den ersten Begründer einer wissenschaftlichen Pflanzen- 
kunde nennen dürfen^). 

Das Leben besteht in der Fähigkeit, sich selbst zu be- 
wegen. Jede Bewegung setzt aber zweierlei voraus: eine 
Form, die bewegt, und einen Stoff, der bewegt wird. Dieser 
Stoff ist der Leib, jene Form ist die Seele des lebenden 
Wesens. Die Seele ist daher weder ohne Körper noch selbst 
etwas Körperliches; sie ist ebendamit auch unbewegt, nicht 
das sich selbst Bewegende, wie Piaton wollte; ihre Verbindung 
mit ihrem Leib ist die gleiche wie überhaupt die der Form 
mit dem Stoffe. Als die Form ihres Leibes ist sie ferner 
auch sein Zweck (vgl. S. 182), der Leib ist nur das Werk- 
zeug der Seele, dessen Beschaffenheit sich nach dieser Be- 
stimmung richtet, und eben dies ist der (von Aristoteles zu- 
gleich mit dem Worte zuerst gebildete) Begriff des Org^a- 
nischen. Wenn daher die Seele als die erste Entelechie 
eines organischen Leibes (ivrelixeta r^ TtQWTfj oaifÄaTog q)vaixov 
OQyavmovy De an. II, 412b 4) definiert wird, so heißt dies: 
sie sei sein Lebensprinzip, die Kraft, die ihn bewegt und als 
ihr Werkzeug aufbaut; und es ist deshalb ganz natürlich, 
daß die Zwecktätigkeit der Natur gerade an den lebenden 
Wesen am deutlichsten zum Vorschein kommt, weil hier 



^) Die großen Verdienste des Ar. um die Erforschung der organischen 
Natur werden eingehend gewürdigt, aber auch die Schwächen seiner Be- 
trachtungsweise auf diesem Gebiete dargelegt von Gompebz Gr. Denker JII, 
Kap. 12 — 14, von denen das letzte seine Bedeutung als Embryologe hervor- 
treten läßt. 

Zeller, Grundrifs. 13 



194 Zweite Periode. 

alles von Anfang an auf die Seele und die von ihr aus- 
gehenden Wirkungen berechnet ist. Kann aber jene Zweck - 
tätigkeit den Widerstand des StoflFes schon überhaupt nur 
allmählich überwinden (vgl. S. 183), so ist das Seelenleben 
auch an sich selbst von sehr ungleicher Beschaffenheit. Das 
Leben der Pflanzen besteht in der Ernährung und Fort- 
pflanzung; bei den Tieren kommt dazu die Sinnesempfindung 
und bei ihrer großen Mehrzahl auch die Ortsveränderung; 
beim Menschen endlich verbindet sich mit beiden das Denken. 
Aristoteles nimmt daher, in teil weisem Anschluß an Piaton 
(S. 147 f.), drei Arten von Seelen an, welche da, wo sie sich 
zu einer individuellen Seele verbinden, ebensoviele Teile 
dieser bilden, und welche sich zueinander so verhalten, daß 
die höheren nicht ohne die niedrigeren vorkommen, wohl 
aber diese ohne jene : die ernährende oder Pflanzenseele, die 
empfindende oder Tierseele, die vernünftige oder Menschen- 
seele. Der fortschreitenden Entwicklung des Seelenlebens 
entspricht die Stufenreihe der lebenden Wesen, welche sich 
stetig, durch allmähliche Übergänge vermittelt, von den un- 
vollkommensten zu den höchsten erstreckt; daß es aber die 
gleichen Gesetze sind, von denen diese ganze Reihe beherrscht 
ist, zeigen die zahlreichen Analogien, die sich zwischen ihren 
verschiedenen Teilen finden. 

Die unterste Stufe nehmen die Pflanzen ein, die, auf 
die Funktionen der Ernährung und Fortpflanzung beschränkt, 
eines einheitlichen Mittelpunktes (fieaorrjg) für ihr Leben ent- 
behren und deshalb noch keiner Empfindung fähig sind. In- 
dessen berührt sie Aristoteles in den erhaltenen Schriften 
immer nur beiläufig. Um so eingehender beschäftigt er sich 
darin mit den Tieren*); und er macht es sich dabei durch- 
aus zur Aufgabe, mit der genauesten Kenntnis des Einzelnen 
zugleich die seiner Bedeutung für das Ganze und seiner 
Stellung im Ganzen zu verknüpfen. — Der Körper der Tiere 
ist aus den gleichteiligen Stoffen (ofioiofÄBQrj; vgl. S. 80) zu- 



^) J. B, Meyee Aristoteles' Tierkunde. 1855. 



§ 59. Die lebenden Wesen. 195 

gammengesetzt , die ihrerseits eine . Miischung der elemen- 
tarischen sind; unter ihtien ist das Fleisch als Sitz der 
Empfindung . (die Nerven sind erst später entdeckt worden) 
von besonderer Beideutung. Der unmittelbare Träger der 
Seele ist das Pneuma als Grund der Lebenswärme, ein dem 
Äther verwandter Körper, mit dem sie durch den Samen 
vom Vater in das Kind übergeht; der Hauptsitz der Lebens- 
wärme ist das Zentralorgan, welches bei den blutführenden 
Tieren das Herz ist; im Herzen wird aus den Nahrungs- 
stoffen, welche die Adern (der Unterschied der Schlag- und 
Blutadern ist Aristoteles noch unbekannt) ihm zuführen, das 
Blut gekocht, das teils zur Ernährung des- Körpers dient, teils 
auch (s. . u*) die Bildung gewisser Vorstellungen vermittelt. 
Die Entstehung der Tiere hat verschiedene Formen, die der 
Philosoph sorgfältig untersucht hat; neben der geschlecht- 
lichen Erzeugung nimmt er auch eine Urzeugung, selbst 
noch bei einigen Fischen und Insekten, an. Die erstere Art 
der Entstehung gilt ihm jedoch für die vollkommenere. Bei 
dieser soll sich der männliche Teil zum weiblichen verhalten 
wie die Form zum Stoffe, von jenem die Seele, von diesem 
der Leib des Kindes ausschließlich herstammen; der physio- 
logische Grund dieses verschiedenen Verhaltens soll aber 
darin liegen, daß das weibliche Geschlecht wegen seiner 
kälteren Natur das zur Bildung des Zeugungsstoffes dienende 
Blut nicht vollständig auskochen kann. Die Art, wie sich 
der Organismus bildet, besteht im allgemeinen in der Ent- 
wicklung aus der Wurmform durch die Eiform zur organi- 
schen Gestalt. Im einzelnen aber finden sich hinsichtlich 
ihrer Entstehung wie hinsichtlich ihres Körperbaues, ihrer 
Wohnorte, ihrer Lebensweise, der Art ihrer Fortbewegung 
unter den Tieren die eingreifendsten Unterfichiede. Aristoteles 
bemüht sich, den stufen weisen Fortgang vom Niedrigeren 
zum Höheren, den er annimmt, in allen diesen Beziehungen 
nachzuweisen; daß es ihm nicht gelungen ist, diesen Ge- 
sichtspunkt ohne Schwanken durchzuführen oder aus ihm 
eine natürliche Klassifikation des Tierreiches aufzustellen, 

13* 



196 Zweite Periode. 

kann nicht überraschen. Unter den neun Klassen von Tieren, 
die er gewöhnlich aufzählt (lebendiggebärende Vierfllßer, 
eierlegende Vierfüßer, Vögel, Fische, Wale, Weichtiere, 
Weichschaltiere, Schal tiere, Insekten) tritt als durchgreifend- 
ster Gegensatz der der blutlosen und blutführenden Tiere 
hervor, von dem er selbst (h. an. III, 516 b 22 ff.) bemerkt, 
daß er mit dem der wirbellosen und Wirbeltiere zusammenfalle. 



§ 60. Der Mensch. 

Was den Menschen von allen andern lebenden Wesen 
unterscheidet, ist der Geist (vovg), der* sich bei ihm mit der 
tierischen Seele verbindet; und auch sein Körperbau und 
seine niederen Seelentätigkeiten entsprechen der höheren Be- 
stimmung, die sie durch diese Verbindung erhalten. In jenem 
kündigt sich diese Bestimmung schon durch seine aufrechte 
Stellung und das Ebenmaß seiner Gestalt an; er hat das 
meiste und reinste Blut, das größte Gehirn, die höchste 
Lebenswärme; ihm sind in den Sprach Werkzeugen und der 
iHand die wertvollsten Organe verliehen. Unter den sinn- 
lichen Seelen tätigkeiten ist die Wahrnehmung {aXa^rjOig) 
eine Veränderung, welche von dem Wahrgenommenen durch 
Vermittlung des Leibes in der Seele bewirkt wird, und welche 
näher darin besteht, daß dem Wahrnehmenden die Form des 
Wahrgenommenen mitgeteilt wird. /Die einzelnen Sinne als 
solche unterrichten uns aber immer nur über die Eigen- 
schaften der Dinge, auf die sie sich speziell beziehen; und 
was sie hierüber aussagen (die aia&r]aig xwv idi(av) , ist 
immer wahr. Ihre allgemeinen Eigenschaften dagegen, über 
die wir durch alle Sinne etwas erfahren, Einheit und AnzahL 
Größe und Gestalt, Zeit, Ruhe und Bewegung, erkennen wir 
nicht durch einen einzelnen Sinn, sondern nur durch den 
Gemeinsinn (cdad-rßYiQiov iioiv6v\ in welchem die in den 
Sinnesorganen erzeugten Bilder sich vereinigen ; ebenso 
können wir nur durch ihn die Wahrnehmungen der ver- 
fcbie(}eifen Sinne vergleichen und unterscheiden, die Bilder, 



§ 60. Der Mensch. 197 

die sie uns liefern, auf Gegenstände beziehen und uns unsrer 
Wahrnehmung als der unsrigen bewußt werden. Das Organ 
dieses Gemeinsinnes ist das Herz; /das Medium , durch das 
die Bewegungen der Sinnesorgane zu ihm gelangen, scheint 
das Pneuma zu sein. Wenn sich die Bewegung im Sinnes- 
organ über die Dauer der Wahrnehmung hinau&f erhält, sich 
in das Zentralorgan fortpflanzt und hier ein erneuertes Auf- 
treten des sinnlichen Bildes hervorruft, entsteht die Ein- 
bildung (q)avTaalay das aber auch die Einbildungskraft 
bezeichnet); und diese kann ebenso wie die Aussagen des 
Gemeinsinnes nicht bloß wahr , sondern auch falsch sein. 
Wird eine Einbildung als Abbild einer früheren Wahrnehmung 
erkannt (worüber man sich freilich gleichfalls nicht selten 
täuscht), so nennen wir sie eine Erinnerung (fxvTjfÄf])'^ 
das bewußte Hervorrufen einer Erinnerung ist die Besinnung 
(avdfjivr^aig)^). Das Gedächtnis hat daher seinen Sitz gleich- 
falls im Gemeinsinn. Eine durch die Verdauung herbei- 
geführte Veränderung im Zentralorgan bewirkt den Schlaf, 
ein Erlöschen der Lebenswärme in ihm den Tod. Innere 
Bewegungen in den Sinnesorganen oder auch solche, die 
durch äußere Eindrücke hervorgerufen werden, erzeugen, 
wenn sie zum Zentralorgan gelangen, die Träume, die deshalb 
unter Umständen Anzeichen eines im Wachen unbemerkt ge- 
bliebenen Vorganges sein können. Wird das Wahrgenommene 
unter den Gesichtspunkt des Guten oder Übeln gestellt, so 
entsteht Lust oder Unlust (welche somit, wie De an. IH, 7 
andeutet, immer ein Werturteil enthalten) und aus diesem 
ein Begehren, sei dieses nun Verlangen oder Widerstreben. 
Auch diese Zustände gehen von dem Mittelpunkt der Emp- 
findung (der alö&r^i'Ktj (xea6nf]g a. a. O. 431 a 11) aus. 
Zwischen Gefühl und Begehren wird noch nicht schärfer 



^) [Den Unterschied zwischen ^vrffiri (juvrjfjioveveiv) und avafAvriaig 
hat Ar. nicht mit voller Klarheit entwickelt, und die Ansichten der Neueren 
darüber sind daher geteilt. Eine von der obigen abweichende Auffassung 
8. bei GoMPERz Griech. Denker III 143 ; vgl. Hicks Arist. d. an., p. LVI f.^ 



198 Zweite Periode. 

unterschieden, und wenn Aristoteles mit Piaton die eTti&vfiia 
und den 9vfi6g als die rein sinnliche und die edlere Form 
des vernunftlosen Begehrens sich gegenüberstellt, hat er doch 
den Begriff des dvfAog nicht genauer bestimmt: er versteht 
darunter den Zorn, den Mut und das Gemüt ^). 

Alle diese Funktionen gehören aber als solche der ani- 
malischen Seele an. Erst im Menschen kommt zu dieser der 
Geist oder die Denkkraft (der vovg) hinzu. Während jene 
mit dem Leibe, dessen Form sie ist, entsteht und vergeht, 
ist der Geist unentstanden und unvergänglich; er tritt von 
Außen (dvQad^ev) in den Seelenkeim ein, der vom Vater auf 
das Kind übergeht, hat kein körperliches Organ, ist keines 
Leidens und keiner Veränderung fähig (aTtadrfi) und wird 
vom Untergang des Leibes nicht betroffen. Aber als der 
Geist eines menschlichen Individuums, in Verbindung mit 
einer Seele, wird er von dem Wechsel ihrer Zustände doch 
berührt. In dem Einzelnen geht das Denkvermögen dem 
wirklichen Denken voran ; sein Geist ist wie eine leere Tafel, 
auf die erst durch das Denken selbst (das heißt aber nicht: 
durch die sinnliche Wahrnehmung, sondern: durch die An- 
schauung der vorjrä) ein bestimmter Inhalt eingeschrieben 
wird; und sein Denken ist immer von sinnlichen Bildern 
{q>avzaoiiai:a) begleitet.. Aristoteles unterscheidet daher einen 
doppelten Novg: den, der alles wirkt, und den, der alles wird, 
den tätigen und den leidenden ^). Der letztere soll mit dem 
Körper entstehen und vergehen, während der tätige seiner 
Natur nach ewig (jener q)d^aQT6g, dieser aldiog) ist. Da aber 



^) Auf die Affekte geht Ar. weder in der Seelenlehre noch in der Ethik 
näher ein, dagegen bespricht er sie ausführlich im 2. B. der Rhetorik c. 1 
bis 11, wo uns zum ersten Male in der philosophischen Literatur eine ge* 
naue Definition der einzelnen Affekte gegeben wird, die nach Ar. in einer 
Mischung von Lust und Unlust bestehen und je nach dem Überwiegen der 
einen oder der andern in Lust- und Unlustaffekte zerfallen. 

") Den letzteren nennt er selbst vovg nnd-riTixog, den ersteren be- 
zeichnet er zwar als das notodVi aber vovg noiriTixdg findet sich erst bei 
den Spateren. 



§ 60. Der Mensch. 199 

üDBer Denken als individuelles nur durch ein Zusammen- 
wirken beider zustande kommt, haben wir keine Erinnerung 
an das frühere Dasein unseres Geistes, und ebensowenig wird 
sonst eine von den Tätigkeiten, die nach Aristoteles nur dem 
aus dem Novg und der Seele zusammengesetzten Wesen zu- 
kommen ^), dem körperlosen Geiste vor oder nach dem gegen- 
wärtigen Leben beigelegt werden können^). Genauere Be- 
stimmungen über das Wesen der leidenden Vernunft und ihr 
Verhältnis zur tätigen suchen wir aber freilich bei Aristoteles 
vergeblich. Wir sehen wohl, daß er in ihr ein Band zu ge- 
winnen sucht, welches den Zusammenhang zwischen dem 
Novg und der animalischen Seele herstellen soll ; aber er zeigt 
uns nicht, wie die verschiedenen Eigenschaften, die er ihr 
beilegt, sich widerspruchslos vereinigen lassen, und ebenso- 
wenig hat er die Frage auch nur aufgeworfen, wo die mensch- 
liche Persönlichkeit ihren Sitz hat, wie der körperlose Novg 
ohne Erinnerung usw. ein persönliches Leben führen, wie 
andrerseits das Selbstbewußtsein und die persönliche Lebens- 
einheit, deren Ausdruck es ist, durch die Verbindung des Novg 
mit der tierischen Seele, des Ewigen mit dem Vergänglichen, 
entstehen und wie das aus beiden zusammengesetzte Wesen 
ihr Subjekt sein könnte*). 

Auf der Verbindung der Vernunft mit den niederen Seelen- 
kräften beruhen nun die Geistestätigkeiten, durch die der 
Mensch sich über die Tiere erhebt. Die Tätigkeit des Novg 
rein als solche ist jenes unmittelbare Ergreifen der höchsten 
Wahrheiten, dessen schon S. 176 gedacht wurde. Von ihm 
unterscheidet Aristoteles (mit Piaton) das mittelbare Erkennen 
als didvoia oder eTtiatrjfirj und von diesem die Meinung (öo^a), 
die sich auf das Nichtnotwendige bezieht, ohne doch dieses 



^) Das ÖMVoeiadaif (pilnr, juiastv, /nvrifiovivetv, welche nach De an. 
I, 408 b 25 flf. nicht nddri des Novg, sondern des xoivov sind. 

2) Das obige nach De an. HI, 4. 5. c. 7. 431 a 14. b. 2. c. 8. 432 a 8. 
I, 408 b 18 ff. II, 413 b 24. gen. an. II, 3 vgl. Phil. d. Gr. H 1, 566 ff. 
602 ff. Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1883* Nr. 49. 

^) Vgl. über die Lehre vom Noüj Gompeez Gr. D. III Kap. 17. 



200 Zweite Periode. 

oder jenes psychologisch näher zu erklären. Wird das Be- 
gehren von der Vernunft geleitet , so wird es zum Willen 
(ßovXrjaig). Die Freiheit des Willens" setzt Aristoteles un- 
bedingt voraus und beweist sie mit der Freiwilligkeit der 
Tugend und der allgemein anerkannten Zurechenbarkeit 
unserer Handlungen; und er behauptet deshalb auch^ über 
die letzten Zwecke unsres Handelns (die allgemeinsten sitt- 
lichen Werturteile) entscheide unsre Willensbeschaffenheit, 
die Tugend sei es, von der die Richtigkeit unsrer Ziele 
abhänge (Eth. VI, 1144a 6 u.a.). Dagegen hat die Über- 
legung festzustellen , was die besten Mittel für jene Zwecke 
sind. Sofern die Vernunft dieses leistet, heifit sie die über- 
legende oder praktische Vernunft (votg oder Xoyog 
nganziTLog^ didvoia ngaiiTixij, to loyiatinov im Unterschied 
vom irtiatrjiiovniov), in deren Ausbildung die Einsicht (q^Qo- 
vrjoig) besteht. Genauere Untersuchungen über die inneren 
Vorgänge, durch welche die Willensakte zustande kommen, 
die Möglichkeit und die Grenzen der Willensfreiheit, finden 
wir bei Aristoteles nicht*). 

§ 61. Die aristotelische Ethik. 

Der Zweck aller menschlichen Tätigkeit ist im allgemeinen 
(wie dies kein griechischer Ethiker bezweifelt) die Glück- 
seligkeit; denn sie allein ist das, was um keines andern, 
sondern lediglich um seiner selbst willen begehrt wird. Aber 
den Mafistab, nach dem die Bedingungen der Glückseligkeit 
bestimmt werden, entnimmt Aristoteles nicht dem subjektiven 
Gefühl, sondern dem objektiven Charakter der Lebenstätig- 
keiten: die „Eudämonie" besteht in der Schönheit und Voll- 
kommenheit des Daseins als solcher, der Genufi, welcher dem 
Einzelnen aus dieser Vollkommenheit erwächst, ist nur ihre 
Folge, aber weder ihr letzter Zweck noch der Grund und 



') Über die W^idersprüche und Unklarheiten in der Auffassung der 
Willensfreiheit bei Ar. vgl. Phil. d. Gr. II 2 S. 587 ff. Gompbrz Gr. D. III 
Kap. 16. 



§ 61. Die aristotelische Ethik. 201 

das Maß ihres Wertes. Wie für jed^s lebende Wesen das 
Oute in der Vollkommenheit seiner Tätigkeit besteht^ so 
kjinn es auch für den Menschen, wie Aristoteles ausführt, 
nur in der Vollkommenheit der eigentümlich menschlichen 
Tätigkeit bestehen. Diese ist aber die Vernunfttätigkeit, und 
die ihrer Aufgabe entsprechende Vernunfttätigkeit ist die 
Tugend. Die Glückseligkeit des Menschen als solche be- 
st^hf demnach in der Tugend. Oder wenn zwei Arten ver- 
nünftiger Tätigkeit und zwei Reihen von Tugenden zu unter- 
scheiden sind, die theoretischen und die praktischen, so bildet 
die wissenschaftliche oder die reine Denktätigkeit den wert- 
vollsten *)," die ptÄktißcha.J|ltigkeit oder die ethische Tugend 
den zweiten wesentlichen Bestandteil der Glückseligkeit. Dazu 
muß nun allerdings noch weiteres hinzukommen^ Zur Glück- 
seligkeit gehört Reife und Vollendung des Lebens : ein Kind 
kann nicht glückselig sein, weil es noch keiner vollkommenen 
Tätigkeit {ageri]) fähig ist. Armut, Krankheit und Unglück 
stören die Glückseligkeit und entziehen der tugendhaften 
Tätigkeit die Hilfsmittel, die Reichtum, Macht und Einfluß 
gewähren; Freude an Kindern, Verkehr mit Freunden, Ge- 
sundheit, Schönheit, edle Geburt sind an sich selbst wertvoll. 
Aber das positive, konstituierende Element der Glückseligkeit 
ist nur die innere Tüchtigkeit, zu der sich die äußeren und 
leiblichen Güter lediglich als negative Bedingungen verhalten 
(wie in der Natur die materiellen zu den Endursachen) ; auch 
das äußerste Unglück kann einen wackeren Mann nicht elend 
{ccx^Xiog) machen, wiewohl es seiner Eudämonie im Wege steht. 
Ebensowenig bildet die Lust einen selbständigen Bestandteil 
des höchsten Gutes in dem Sinne, daß sie für sich zum 
Zweck des Handelns gemacht werden dürfte. Denn wenn 
sie auch als das naturgemäße Ergebnis jeder vollendeten 
Tätigkeit von dieser selbst untrennbar ist und die Vorwürfe, 
die ihr Piaton und Speusippos gemacht hatten, nicht verdient. 



1) Metaph. XII, 1072 b 24: rj ^6(OQttt t6 rj^torov xal agtOTov. Eth. 
X, 7. 1178 b Iff. "^^ 



202. Zweite Periode. 

SO; hängt doch ihr Wert ganz und gar von dem der Tätigkeit 
ab, aus der sie entspringt j\ sie ist die naturgemäße Vollendung 
jeder Tätigkeit, ihr unmittelbares Ergebnis (Eth. X, 1174 b 31): 
tugendhaft ist nur der, den das Vollbringen des Guten und 
Schönen ohne jede Zutat befriedigt, und der dieser Be- 
friedigung alles andre mit Freuden opfert. (Eth. I, 5 — 11. 
X, 1—9; vgl. VII, 12—15.) 

Von den Eigenschaften , auf denen die Glückseligkeit 
hiernach beruht, den Vorzügen des Denkens und des WoUens, 
den dianoetischen und den ethischen Tugenden, bilden nun 
die letzteren den Gegenstand der Ethik. Der Begriff der 
ethischen Tugend bestimmt sich aber durch drei Merkmale: 
sie ist eine Willensbeschaffenheit, welche die unsrer Natur 
angemessene« Mitte einhält, gemäß einer vernünftigen Be- 
sti mmung, wie sie der Einsichtige ^ehen wird (^'ftc Ttgoai- 
germ^ iv /AeaoTrjTL otaa t^ ngog ^fiSg, wQtafÄevrj X6y(p aal 
(jjg av 6 (pQOvi^og ogiaeiev Eth. II, 6 Anf.)* Diese Bestim- 
m.ungen werden Eth. I, 13 — II, 9 zunächst im allgemeinen 
nachgewiesen, sodann wird III, 1 — 8 die erste, III, 9 — V, 15 
die zweite, B. VI die dritte näher ausgeführt. 

1. Alle Tugenden beruhen zwar auf gewissen natürlichen 
Anlagen (agezal (px)aiy(.aL)\ aber zur Tugend im eigentlichen 
Sinne {yivqia agsi;!]) werden diese nur dadurch, daß sie von 
der Einsicht geleitet werden. Andrerseits aber hat die Tugend 
als ethische ihren Sitz wesentlich im Willen : wenn sie Sokrates 
aufs Wissen zurückführte, übersah er, daß es sich bei ihr 
nicht um die Kenntnis der sittlichen Gesetze, sondern um 
ihre Anwendung, um die Beherrschung der Affekte durch 
die Vernunft handelt, die Sache der freien Willensentscheidung 
ist ;l und Aristoteles widmet deshalb (Eth. III) den Begriffen, 
welche die verschiedenen Formen der Willensbestimmung be- 
zeichnen, denen des Freiwilligen, Vorsätzlichen usw., eine 
eingehende Erörterung. I Zur Tugend wird aber die Willens- 
bestimmung erst dann, wenn sie eine dauernde Beschaffenheit 
(f §4g), eine grundsätzlich feststehende Gesinnung ist, wie diese 
nur bei dem gereiften Menschen vorkommt, j ^ 



§ 61. Die aristotelische Ethik. 203 

2. Ihrem Inhalt nach betrachtet, ist die WillensbeschaflFen- 
heit eine sittliche . zu nennen, welche die richtige Mitte 
zwischen dem Zuviel und Zuwenig einhält; worin aber diese 
bestehe, ist durch die Eigentümlichkeit des Handelnden mit- 
bedingt, denn wais für den einen das Richtige ist, kann für 
den andern zu viel oder zu wenig sein. / Jede Tugend ist 
daher ein Mittleres zwischen zwei Fehlern, von denen jedoch 
bald der eine, bald der andre sich weiter von ihr entfernt. 

^Aristoteles weist dies an den einzelnen Tugenden, der Tapfer- 
keit, Selbstbeherrschung usw. des näheren nach, ahne doch 
diese so, wie Piaton seine Grundtugenden, pach einem be- 
stimmten Prinzip abzuleiten, f Am ausführlichsten behandelt 
er unter ihnen die politische Haupttugend, die Gerechtigkeit, 

/der er das ganze fünfte Buch seiner Ethik (bis über das 
Mittelalter herab die Grundlage, des Naturrechts), gewidmet 
hat. / Als ihre Aufgabe betrachtet er die richtige Verteilung 
von Vorteilen und Nachteilen {xegdog und tri^ia)*^ und je 
nachdem es sich nun hierbei um das öffentliche oder das 
Privatrecht handelt, unterscheidet er die austeilende (<Jta- 
vBfArjfiimi) und die ausgleichende (diog&cjTiycij) Gerechtigkeit. 
Jene hat die EJhren und Vorteile, die den Einzelnen vom 
Gemeinwesen zufließen, ihrer Würdigkeit gemäß zu verteilen; 
diese hat dafür zu sorgen, daß teils in den freiwilligen Rechts- 
geschäften (awaXi^ayfictia iyiovoia) der Gewinn und Verlust 
jedes Kontrahenten, teils in den unfreiwilligen Vergehen und 
Strafe sich die Wage halten; für j^ne gilt (wie Aristoteles 
schief sagt) der Grundsatz der geometrischen, für diese der 
der arithmetischen Proportion. Das Recht im strengen Sinn 
ist das, welches für Gleichstehende gilt, das „politische" 
Recht. Dieses selbst ist teils natürliches, teils gesetzliches; 
in einer Berichtigung des zweiten durch das erste besteht die 
Billigkeit {to STtiei^eg). 

3. Wer soll nun aber im gegebenen Fall bestimmen, wo 
die richtige Mitte liegt. Dies, sagt Aristoteles, ist Sache der 
Einsicht (vgl. § 60 Schi), die sich eben durch ihre Beziehung 
zum Willen von den übrigen dianoetischen Tugenden unter- 



204 Zweite Periode. 

scheidet; denn die einen von diesen richten sich nur auf das 
Notwendige, wie vovQj iniazijfiri (worüber S. 174. 176. 198) 
und die aus beiden bestehende aoqtia^ die andern, wie die 
rix^rj^ beschäftigen sich zwar gleichfalls mit dem Veränder- 
lichen, aber für den Zweck des Hervorbringens, nicht des 
Handelns (vgl. S. 174). 

Von den Tugenden und Fehlern im eigentlichen Sinn 
d. h. den richtigen und verkehrten WillensbeschaffenheJten 
unterscheidet Aristoteles (VII, 1 — 11) noch die Zustände, 
welche weniger aus einer habituellen Willensrichtung als aus 
der Stärke oder Schwäche des Willens im Verhältnis zu den 
Affekten entspringen : einerseits die Mäßigkeit und Ausdauer 
(syAQaTEia und xagvegla), andrerseits die Unmäßigkeit und 
Weichlichkeit. Er wendet sich endlich (B. VIII. IX) in der 
schönen, an den feinsten Beobachtungen und treffendsten 
Bemerkungen reichen Abhandlung über Liebe und Freund- 
schaft (denn cpiXia bezeichnet beides) einem sittlichen Ver- 
hältnis zu, in dem bereits zum Ausdruck kommt, daß der 
Mensch seiner Natur nach ein geselliges Wesen, ja daß jeder 
Mensch mit jedem verwandt und befreundet ist (VIII, 1155 a 
16 ff. ll&l b 5), und ein gemeinsames Recht alle verknüpft 
(Rhet. I, 13 Anf.). Eben dieser Zug ist nun die Grundlage 
der Familie und des Staates ^). 



') Döring Geach. d. gr. Phil. II stellt in der Darstellung der Philo- 
sophie des Ar. (8. 39 ff.) die Ethik an die Spitze und sucht nicht nur seine 
Lehre vom besten Staate (s. u. S. 208), sondern auch seine Anschauungen 
auf dem theoretischen und poietischen Gebiete in ihren Grundzdgen aus 
seiner Auffassung des Ethischen abzuleiten; er hält sich daher für berech- 
tigt, ihn mit den älteren Akademikern von Piaton zu trennen und der 
dritten Hauptperiode der griechischen Philosophie zuzuweisen, die er als 
„Herrschaft der wissenschaftlich begründeten Güterlehre" (360 v. Chr. bis 
200 n.Chr.) bezeichnet. Diese Auffassung, die, wie D. selbst zugesteht, 
mehr auf Vermutungen als auf bestimmten Äußerungen des Ar. selbst be- 
ruht, verkennt die grundlegende Bedeutung der Metaphysik als ngtorri 
q>tloao(f(a (s. S. 174) für das ganze aristotelische System. 



§ 62. Die aristotelische Politik. 205 

§ 62. Die aristotelische Politik*), 

In der Natur des Menschen liegt der Trieb zur Gemein- 
schaft mit Seinesgleichen (av&Qwnog qwaei noliTixdv Ki^v 
Polit. I, 1253 a 2), und er bedarf dieser Gemeinschaft nicht 
allein zur Erhaltung, Sicherung und Vervollkommnung seines 
physischen Daseins, sondern vor allem deshalb, weil nur in 
ihr eine gute Erziehung und eine Ordnung des Lebens durch 
Recht und Geeetz möglich ist (Eth. X, 10). /Die vollkommene, 
alle andern umfassende Gemeinschaft ist aber der Staat.l 
Sein Zweck beschränkt sich daher nicht auf die Sicherung 
des Rechtszustandes, die Abwehr äußerer Feinde und die Er- 
haltung des Lebens, seine Aufgabe ist vielmehr eine höhere 
und umfassendere: die Glückseligkeit der Bürger in einer 
vollkommenen Lebensgemeinschaft (17 tov ev Krjv ytoiviovia . . . 
tio^g tekeiag xdqiv nat amaQTiovg, Pol. III, 1288 b 30);/ und 
eben deswegen ist der Staat seiner Natur nach früher als der 
Einzelne und die Familie, wie ja überhaupt die Teile eines 
Ganzen durch das Ganze als den Zweck, dem sie dienen, 
bedingt sind (Pol. I, 1252 b 27 ff.), /und da nun die Tugend 
den wesentlichsten Bestandteil der Glückseligkeit bildet, so 
erkennt auch Aristoteles wie Piaton die Hauptaufgabe des 
Staates in der Erziehung des Volkes zur Tugend, und er 
mißbilligt es deshalb entschieden, wenn ein Staatswesen statt 
der friedlichen Pflege der sittlichen und wissenschaftlichen 
^Bildung auf Krieg und Eroberung angelegt ist./ 

Der Zeit nach gehen aber dem Staate allerdings die 
Familien und Gemeinden voran. Die Natur führt zu- 
nächst Mann und Frau zur Begründung eines Hausstandes 
zusammen; die Familien breiten sich zu Dorfgemeinden 
(y,iüfiai) aus; die Verbindung mehrerer Gemeinden führt zur 
Stadtgemeinde (/cohg), die auch Aristoteles von dem Staat 
noch nicht unterscheidet. Die Dorfgemeinde bildet nun eine 



^) S. Hildebrand Qesch. u. System d. Bechts- u. StaatsphUosophie 
Bd. I (1866); Oncken Die Staatslehre d. Ar. 2 Bde. (1870/75). 






Zweite Periode. 



blofie Übergangsstufe zum Staat, die in ihm aufgeht. | Da- 
gegen zeigt Aristoteles (Pol. II, 1 ff.) aufs treffendste, daß 
Piatons Forderung, auch die Familie und das Privateigentum 
der Staatsgemeinschaft zum Opfer zu bringen, nicht bloß in 
jeder Beziehung unausführbar sei, sondern auch von einer 
falschen Vorstellung über diese Gemeinschaft ausgehe; Jdenn 
der Staat: sei kein bloß einheitliches Wesen, sondern ein aus 
vielen und verschiedenartigen Teilen bestehendes Ganzes./ Er 
selbst behandelt (Pol. I, 2. 13. Eth. VIII, 14 u. ö.) die Ehe 
und die übrigen Verhältnisse des Familienlebens mit einem 
^.^ sittlifchen Verständnis, wie es uns im Altertum selten begegnet./ 
'*' aJagiegen entrichtet auch er dem griechischen Nationalvorurteil 
und den bestehenden gesellschaftlichen Zuständen seinen Zoll, 
wenn er den unhaltbaren Versuch macht, die Sklaverei 
.mittelst der Voraussetzung zu rechtfertigen, daß es Menschen 
/gebe, die nur körperlicher Arbeit fähig seien und deshalb 
von andern beherrscht werden müssen, und daß dieses im 
allgemeinen das Verhältnis der Barbaren zu den Hellenen 
^ei (Pol. I, 4 ff.) '\ und dasselbe gilt von seinen Erörterungen 
ijber Erwerb und Besitz (I, 8 ff.), in denen er. nur die Er- 
verbsarten als natürliche gelten lassen will, welche der Be- 
friedigung der Bedürfnisse unmittelbar dienen , alle Geld- 
geschäfte dagegen mit Geringschätzung und Mißtrauen be- 
bandelt und alle „banausischen^ Tätigkeiten des freien Mannes 
unwürdig findet, jl 

In seiner Lehre über die Staatsverfassungen stellt 
Aristoteles nicht, wie Piaton in der Bepublik, eine einzige 
Verfassung als die allein richtige dar, alle andern als verfehlte; 
er sieht vielmehr^nNiaß sich die Verfassungseinrichtungen 
nach dem Charakter und Bedürfnis des Volkes richten 
müssen, für das sie bestimmt sind, daß für verschiedene 
Verhältnisse Verschiedenes richtig und auch das an sich 
selbst Unvollkommene doch möglicherweise das Beste sein 
kann, was sich unter den gegebenen Bedingungen erreichen 
läßt. iWenn nämlich die Richtigkeit der Verfassungen 
von der Bestimmung des Staats zwecks abhängt und rieh- 



§ 62. Die aristotelische Politik. 207 

tige Verfassungen die sindj für welche das gemeine Beste, 
nicht der Vorteil der Regierenden den letzten Zweck des 
Staatswesens bildet, alle andern dagegen verfehlte, so hängt 
die Form der Verfassung von der Verteilung der politischen 
Gewalt ab. J Diese hat sich aber nach der tatsächlichen Be- 
deutung der verschiedenen Volksklassen für das Staatswesen 
zu richten ;|denn eine Verfassung ist nur dann lebensfähig, 
wenn ihre Freunde stärker sind als ihre Gegner, und sie ist 
nur dann gerecht, wenn sie den Bürgern, soweit sie sich 
gleichstehötf, gleiche, soweit sie ungleich sind, ungleiche 
politische Rechte zuerkennt. | Die wichtigsten Unterschiede 
unter den Bürgern betreffen aber ihre „Tugend" (d. h. ihre 
persönliche Tüchtigkeit in allem dem, wovon das Wohl des 
Staates abhängt), ihr Vermögen, ihre edle oder unedle Ab- 
kunft, ihre Freiheit. / Wiewohl daher Aristoteles die her- 
kömmliche Unterscheidung der Verfassungen nach der Zahl 
der Regierenden sich aneignet und demnach (mit Platon 
Polit. 300 ff.; vgl. S. 153) sechs Hauptverfassungsformen 
zählt : Königtum, Aristokratie, Politie (Eth. VIII, 1160 a 83 
auch Timokratie genannt) als richtige, Demokratie, Oligarchie, 
Tyrannis als verfehlte (^f^agzifjuivaij naQeytßdaeig)jj^ ixnter' 
läfit er eis doch nicht, zu bemerken, daß jener Zahlenunter- 
schied nur ein abgeleiteter sei ; das Königtum entstehe natur- 
gemäß, wenn einer, die Aristokratie, wenn eine Minderzahl 
alle andern an Tüchtigkeit so übertreffe, daß sie die ge- 
borenen Herrscher seien, die Politie, wenn alle Bürger an 
Tüchtigkeit sich annähernd gleichstehen (was aber freilich 
im wesentlichen nur hinsichtlich der kriegerischen Tüchtig- 
keit der Fall sein werde);! die Demokratie, wenn die Masse 
der Unbemittelten und Freien, die Oligarchie, wenti die 
Minderzahl der Reichen und Edelgeborenen , die Tyrannis, 
wenn ein einzelner als Gewaltherrscher die Leitung des 
Staates in der Hand habe;|und nach denselben Rücksichten 
richte sich in den gemischten Verfassungen der Anteil des 
einen oder andern Elements an ihnen (III, 6 — 13 vgl. c. 17. 
1288 a 8 ff. IV, 11 f. IV, 4. VI, 2 u. a.). | Es läßt sich aber 



208 Zweite Periode. 

allerdings nicht verkennen, daß er diese verschiedenen G^e- 
Sichtspunkte nicht vollständig in Übereinstimmung zu bringen 
und nicht ohne Schwanken durchzuführen vermocht hat ) 

Seiner Schilderung des „besten Staates'' (B. VII f., 
eigentlich IV f., vgl. S. 168) legt Aristoteles, wie Piaton, die 
Verhältnisse einer griechischen Stadtrepublik zugrunde. I Einer 
griechischen, denn nur bei den Hellenen findet er, mit Piaton, 
die Eigenschaften, welche die Vereinigung von Freiheit und 
staatlicher Ordnung möglich machen. I Einer Republik, denn 
für . das Königtum in seinem Sinn (III, 14 ff.) weiß er die 
Bedingungjen nur etwa in der heroischen Vorzeit zu finden;/ 
in seiner Zeit, glaubt er (V, 1313 a 3 ff.), könne kein Ein- 
zelner mehr über alle andern so hoch emporragen, daß ein 
freies Volk seine Alleinherrschaft willig ertragen würde./ 
Sein firtUterstaat ist eine „Aristokratie", welche der plato- 
nischen in ihrem Grundgedanken nahe genug steht, s o weit 'v 
sie sich auch in seiner Auffassung von ihr entfernt.tAUe ^ 
Staatsbürger sollen zwar zur Teilnahme an der Staats- 
verwaltung berechtigt sein) und (zur Ausübung dieses Rechts 
berufen werden ,){)venn' sie in die höhere Altersklasse vor- 
rücken. I Aber Bürger sollen in dem besten Staate nur die 
seid, welche durch ihre Lebensstellung wie durch ihre Bildung 
zu seiner Leitung befähigt sind. \ Aristoteles verlangt daher 
einerseits, wie Piaton in den „Gesetzen", daß alle körperliche 
Arbeit, Landbau und Gewerbe, von Sklaven oder Metöken 
besorgt werde ; | und, andrerseits schreibt er eine durchaus 
vom Staat geleitete Erziehung vor, welche der von Piaton 
geforderten sehr nahe kommt. | Indessen ist weder der Ab- 
schnitt über die Erziehung noch die Schilderung des besten 
Staates überhaupt in unserm unvollendeten Werke zum Ab- 
schluß gebracht ; | so ist z. B. die Frage , inwieweit sich der 
Staat der wissenschaftlichen Erziehung annehmen soll, nicht 
berührt. | 

Neben seinem Musterstaat hat Aristoteles (IV — VI) auch 
die unvollkommenen Staatsformen mit eindringender Sorgfalt 
besprochen.! Er unterscheidet die verschiedenen Arten der 



§ 63. Aristoteles : EoDst und Beligion. 209 

Demokratie, Oligarchie und Tyrannis, die sich teils aus der 
verschiedenen Beschaffenheit der Regierenden, teils daraus 
ergeben, daß die Eigentümlichkeit jeder Verfassungsform 
bald gemäßigter , bald rücksichtsloser durchgeführt wird. | 
Er untersucht die Bedingungen, von denen die Entstehung, 
die Erhaltung und der Untergang jeder Staatsfbrm abhängen, 
und die ihr entsprechenden Einrichtungen und Verwaltungs- 
grundsätze. ^Er fragt endlich, welche Verfassung sich für die 
Mehrzahl der Staaten und unter den gewöhnlichen Verhält- 
nissen am besten eigne, und er antwortet: es sei dieses eine 
solche Verbindung oligarchischer und demokratischer Ein- 
richtungen, durch welche der Schwerpunkt des Staatslebens 
in den wohlhabenden Mittelstand verlegt werde; |denn damit 
werde seinem Gange jene Stetigkeit und jenes Einhalten der 
richtigen Mitte gesichert, welche die beste Bürgschaft für 
die Dauer einer Verfassung in sich trägt und den ethischen 
Grundsätzen des Philosophen am besten entspricht! Ari|toteles 
nennt diese Staatsform „Politie", erklärt sich aber nicht über 
ihr Verhältnis zu der gleichnamigen, die er unter den rich- 
tigen Verfassungen aufgeführt, aber nicht genauer geschildert 
hat. /Ihr steht die, welche „gewöhnliche Aristokratie" genannt 
wird (IV, 7), nahe. /Auch dieser Teil der aristotelischen 
Politik ist jedoch nicht zu Ende geführt. / 

§ 63. Rhetorik und Kunstlehre; Aristoteles' 
V e rhältnis zur Religion. 

Eine gewisse Mittelstellung zwischen den „praktischen ^^ 
und den „poietischen" Wissenschaften nimmt die Rhetorik 
ein. Einesteils wird sie nämlich als Eunstlehre (Tix^rj) be- 
zeichnet, andernteils als ein Nebenzweig der Dialektik (in 
dem S. 166 besprochenen Sinn) und der Politik oder Ethik, 
eine Verwendung der ersteren für die Zwecke der letzteren. 
Die Aufgabe des Redners besteht in der Überzeugung durch 
Wahrscheinlichkeitsgründe, die der Rhetorik in der kunst- 
mäßigen Anleitung dazu auf den verschiedenen Gebieten, auf 

Zell er, GrundriTs, 14 



210 Zweite Periode. 

welche die beratende, die gerichtliche und die epideiktische 
Rede sich beziehen. Die Hauptsache ist daher für sie die 
Lehre von der rednerischen Beweisführung, der B. I. II der 
Rhetorik gewidmet ist (über B. III S. 169); neben ihr legt 
Aristoteles dem, worin die Rhetorik bis dahin ihre Stärke 
zu suchen gewohnt war, der Erregung von Zorn oder Mitleid, 
der zierlichen Sprache, dem kunstvollen Vortrag, nur einen 
sehr untergeordneten und bedingten Wert bei. 

Von den schönen Künsten scheint Aristoteles nur 
die Dichtkunst in eigenen Werken behandelt zu haben, und 
da uns seine Poetik auch nur verstümmelt erhalten ist (vgl. 
S. 160), läfit sich den Schriften des Philosophen nicht bloß 
keine vollständige ästhetische Theorie, sondern auch keine 
vollständige Kunstlehre entnehmen. Der GrundbegriflF der 
heutigen Ästhetik, der Begriff des Schönen, bleibt bei Aristo- 
teles so unbestimmt wie bei Piaton (s. S. 154) und wird von 
dem ^es Guten nicht genauer unterschieden. Die Kunst 
stellt er wie dieser unter den Gesichtspunkt der Nachahmung 
(jxLfiriaig)\ aber das, was sie nachahmend darstellt, ist nach 
ihm nicht die sinnliche Erscheinung, sondern das innere 
Wesen der Dinge, nicht was geschehen ist, sondern was 
der Natur der Sache nach zu geschehen hat (das aray^^alov 
rj eluog) : ihre Gestalten sind Typen (TtaQcideiyfÄa) allgemeiner 
Gesetze ; und die Poesie ist deshalb wertvoller und steht der 
Philosophie näher als die Geschichte (Poet. 9. 15)^). Und 
eben hierauf beruht auch ihre eigentümliche Wirkung. Wenn 
Aristoteles (Pol. VIII, 5. 7) zunächst von der Musik einen 
vierfachen Gebrauch unterscheidet : zur Unterhaltung (naidid), 
zur sittlichen Bildung (/raideta), zur genußreichen Beschäf- 
tigung (diaywy^y mit cpgovrjoig zusammengestellt) und zur 
„Reinigung** (/.d&agaigX und wenn sich alle Kunst in einer 
von diesen Richtungen gebrauchen läßt, so kann die bloße 
Unterhaltung überhaupt nie ihr letzter Zweck sein; die drei 



^) Poet. 1451b 5: (ptloao(f>(6T€Qov xal anovSaioi^Qov nodjaig tarty 



§ 63. Aristoteles: Kunst und Religion. 211 

andern Wirkungen aber beruhen alle darauf, dafi das Kunst- 
werk in dem Einzelnen allgemeingültige Gesetze zur An- 
schauung und Anwendung bringt. Auch die Katharsis, d. h. 
die Befreiung von störenden Gemütsbewegungen, wird man 
nicht mit Bernais u. a. bloß darin finden können, dafi den 
Affekten Gelegenheit gegeben werde, sich durch Betätigung 
zu entladen; sondern als künstlerische kann sie nur durch 
eine solche Erregung von Gemütsbewegungen bewirkt werden, 
bei der diese einem festen Mafi und Gesetz unterworfen und 
Von den eigenen Erlebnissen und Zuständen auf das allen 
Menschen Gemeinsame hingelenkt werden. In diesem Sinn 
ist die berühmte Definition der Tragödie^) zu verstehen. 

Über die Religion hat sich Aristoteles nur vereinzelt 
geäufiert. Seine eigene Theologie ist ein abstrakter Mono- 



^) Poet. 6. 1449 b 24: ^ariv ovv rgayip^ta /ui/unjatg ngd^etog anov- 
6a(ag xal releiasj (xfye&og ix^^^VSy ri^vOfjiivffi ^oy^» X^Q^^ ixdarov töjv 
MdSv (die Arten des ridvOfx, Xoy.^ nämlich Xi^ig und fiiXog) iv rotg juogtoig 
(Dialog und Chöre), ^Qtovrav xal ov 6& dnayysUagy ^i (Kov xa\ tpoßov 
nsQaCvovaa r^v rdov toiovtcjv nad-rjfAdttov xäd-aQCfir. [Das Wichtigste 
aus der immer mehr anschwellenden Literatur über Ar.s Auffassung der 
Kunst, insbesondere der tragischen, s. bei Überweg-Heinze Grundr. I^ 
S. 273 ff. Neuerdings nimmt Knoke Begriff d. Tragödie nach Ar. (1906) an, 
daß in der angeführten Stelle die eigentliche Definition mit den Worten 
(Ti* duayyiX^ag zu Ende sei und das darauffolgende die spezifische Wirkung 
enthalte, die nicht eigentlich zum Wesen des Begriffes gehöre (als ob das 
Spezifische nicht gerade ein wesentlicher Bestandteil des Begriffsinhaltes 
wäre!), und sucht dann nachzuweisen, daß in diesen Schlußworten die 
Reinigung der beiden Affekte von ihrer Erregung scharf zu scheiden und 
demgemäß hinter ^i ikiov x. tpoßov zu interpungieren sei. Eine be- 
friedigende Lösung der vielumstrittenen Katharsisfrage ist damit schwerlich 
gegeben. In der Hauptsache besteht doch wohl auch heute noch das Er- 
gebnis der Bemayschen Untersuchung zu Recht, wonach die Reinigung in 
der Tragödie als eine erleichternde Entladung der durch das Kunstwerk 
erregten Affekte anzusehen ist, die sich mit analogen Erscheinungen auf 
medizinischem Gebiet vergleichen läßt. Wie wir uns aber diesen psycho- 
logischen Vorgang des näheren vorzustellen haben, läßt sich bei dem Still- 
schweigen, das Ar. in der Poetik hierüber beobachtet, nicht mit Sicherheit 
ermitteln. Auch die im Text gegebene Erklärung ist nur durch Vermutung 
aus dem ganzen Geiste des Systems gewonnen.] 

14* 



212 Zweite Periode. 

theismuS; der jedes Eingreifen der Gottheit in den Weltlauf 
ausschließt (vgl. S. 186); und wenn er auch in der Natur 
und ihrer Zwecktätigkeit und noch unmittelbarer im mensch- 
lichen Geist etwas Göttliches sieht, liegt ihm doch der Ge- 
danke, irgendeinen Erfolg auf andre als natürliche Ursachen 
zurückzuführen, so fern, daß der sokratische Vorsehungs- 
glaube auch in der Form, in der ihn Piaton sich angeeignet 
hatte (s. S. 154), bei ihm keinen Raum findet Ebenso fehlt 
ihm der Glaube an eine jenseitige Vergeltung, Er erkennt 
in der Gottheit den letzten Grund für den Zusammenhalt," 
die Ordnung und Bewegung des Weltganzen, aber alles 
Einzelne darin soll rein natürlich erklärt werden; er ver- 
ehrt sie mit bewundernder Liebe, aber er verlangt von ihr 
keine Gegenliebe und keine spezielle Fürsorge. Auch in der 
Religion seines Volkes liegt daher für ihn die Wahrheit, die 
er ihr wie jeder allgemeinen und unvordenklichen Über- 
zeugung zugesteht, nur in dem Glauben an eine Gottheit 
und an die göttliche Natur des Himmels und der Gestirne; 
„das weitere dagegen sind mythische Zutaten", die der 
Philosoph teils von der Neigung der Menschen zu anthropo- 
morphistischen Vorstellungen, teils von politischer Berechnung 
herleitet. (Metaph. XII, 1074 a 38 ff. De coelo I, 270 b 16. 
II, 284 a 2. Meteor. I, 339 b 19. Pol. I, 1252 b 24.) Im 
Staat will er aber die bestehende Religion aufrechterhalten 
wissen, und ihre Umgestaltung etwa in der Art, wie sie Piaton 
nötig gefunden hatte, wird nicht verlangt. 



§ 64. Die peripatetische Schule. 

Nach dem Tode ihres Stifters bekam die peripatetische 
Schule an seinem treuen Freunde, dem gelehrten und be- 
redten Theophrastos aus Eresos auf Lesbos (nach DiOG. 
V, 36. 40. 58 288/6 v. Chr. 85 Jahre alt gestorben) einen 
Vorsteher, welcher durch seine lange und erfolgreiche Lehr- 
tätigkeit und seine zahlreichen, das ganze Gebiet der Philo- 



§ 64. Die peripatetische Schule. 213 

Sophie umfassenden Schriften *) ungemein viel zu ihrer Aus- 
breitung und Befestigung beitrug, wie er ihr auch ein eigenes 
Grundstück hinterliefi. Als Philosoph hielt er sich zwar im 
ganzen durchaus auf dem Boden des aristotelischen Systems, 
war aber bestrebt, es im einzelnen mit selbständiger Forschung 
zu ergänzen und zu berichtigen. Die aristotelische Logik er- 
hielt durch ihn und Eudemos verschiedene Erweiterungen und 
Änderungen; die wich^gsten bestehen in der abgesonderten 
Behandlung der Lehre von den Sätzen, der Beschränkung 
ihrer Modalitätsunterschiede auf den Grad der subjektiven 
Gewißheit, der Bereicherung der Syllogistik durch die Lehre 
von den „hypothetischen" Schlüssen, zu denen aber auch die 
disjunktiven gerechnet werden. Theophrast fand ferner, wie 
das Bruchstück seiner metaphysischen Schrift (Fr. 12) zeigt, 
in wesentlichen Bestimmungen der aristotelischen Metaphysik, 
wie namentlich in denen über die Zwecktätigkeit der Natur 
und über das Verhältnis des ersten Bewegenden zur Welt, 
Schwierigkeiten, von denen wir nicht wissen, wie. er sie ge- 
löst hat, so wenig er auch deshalb jene Bestimmungen selbst 
aufgeben wollte. Er modifizierte die Lehre des Aristoteles 
von der Bewegung und stellte seiner Definition des Raumes 
erhebliche Bedenken entgegen ; während er allerdings in der 
überwiegenden Mehrzahl der Fälle der aristotelischen Physik 
folgt und. so namentlich ihre Lehre von der Ewigkeit der 
Welt (gegen den Stoiker Zenon) verteidigt (b. Philon De 
setern. mundi c. 23 ff.). Er ist durch seine beiden noch vor- 
handenen Werke über die Pflanzen, die sich aber in ihren 
leitenden Gedanken durchaus an Aristoteles halten, der Lehrer 
der Pflanzenkunde bis über das Ende des Mittelalters herunter 
geworden. Die menschliche Denktätigkeit bezeichnet er, von 
Aristoteles abweichend, als eine Bewegung der Seele und hob 
die Bedenken, welche der Unterscheidung der leidenden und 
der tätigen Vernunft entgegenstehen, eingehend hervor, ohne 



*) Die erhaltenen und die Überbleibsel der verlorenen sind von 
ScHNEiDKE (1818 flf.) und Wimmer (1854. 1862) herausgegeben; vgl. auch S.7. 



214 Zweite Periode. 

jedoch diese Unterscheidung deshalb aufzugeben. Seiner 
Ethik, die er in mehreren Schriften niedergelegt und mit 
großer Menschenkenntnis ins einzelne ausgeführt hatte ^), wird 
von (stoischen) Gegnern Überschätzung der äußeren Güter 
vorgeworfen ; indessen findet zwischen ihm und seinem Lehrer 
in dieser Beziehung höchstens ein leichter Gradunterschied 
statt. Weiter entfernt er sich von diesem durch seine Ab- 
neigung gegen die Ehe, von der er fine Störung der wissen- 
schaftlichen Tätigkeit befürchtet, und seine Mißbilligung der 
blutigen Opfer und des Fleischgenusses, die er mit der Ver- 
wandtschaft aller lebenden Wesen begründete. Dagegen folgt 
er nur seinem Vorgang (s. S. 204), wenn er erklärt, daß alle 
Menschen, nicht bloß die Volksgenossen, von Natur mit- 
einander verbunden und verwandt seien. 

Neben Theophrast ist E u d e m o s aus Rhodos, der gleich- 
falls als Lehrer der Philosophie, wohl in seiner Vaterstadt, 
wirkte, der angesehenste unter den persönlichen Schülern des 
Stagiriten. Durch seine gelehrten historischen Werke (s. S.7) 
erwarb er sich um die Geschichte der Wissenschaft ein großes 
Verdienst. In seinen Ansichten entfernte er sich noch weniger 
als Theophrast von seinem Lehrer : Simpliciüs nennt ihn 
Phys. 411, 15 seinen treuesten (yvtjaicoraTog) Schüler. In der 
Logik schloß er sich Theophrasts Verbesserungsvorschlägen 
an ; seine Physik hielt sich, wie iKre JBruchstücke ^) beweisen, 
fast durchaus, und nicht selten wörtlich, an die aristotelische. 
Der wichtigste Unterschied zwischen seiner (in die aristote- 
lische Sammlung aufgenommenen) Ethik und der des Aristoteles 
besteht in der Verbindung, in welche er die Ethik nach 
Piatons Vorgang mit der Theologie bringt. Er leitet nämlich 
teils die Anlage zur Tugend von der Gottheit her, teils faßt 
er die Theorie, in der Aristoteles das höchste Glück gesucht 

^) Hierher gehört auch die Schilderung menschlicher Fehler, die uns 
in den /a^axr^()€ff (hrsg. , erkl. u. übers, von der Philolog. Gesellsch. zu 
Leipzig, 1897) erhallen ist und im großen und ganzen von Th. selbst her- 
zurühren scheint. 

2) Vgl. Eudemi fyagm. ed. Spengel (1866, 2. Ausg. 1870). 



§ 64. Die peripatetische Schule. 215 

hatte, bestimmter als Gotteserkenntnis und will den Wert 
aller Dinge und Handlungen an ihrem Verhältnis zu dieser 
gemessen wissen. Die innere Einheit aller Tugenden findet 
er in der Liebe zum Guten und Schönen um seiner selbst 
willen, der na'ko'myad^ia. 

Ein dritter Aristoteliker, Aristoxenos aus Taren t, ist 
durch seine uns erhaltene Harmonik und andre Schriften 
über Musik berühmt. Aus der pythagoreischen Schule in die 
peripatetische übergegangen, verband dieser Philosoph in 
seinen sittlichen Vorschriften wie in seiner Theorie der Musik 
Pythagoreisches mit Aristotelischem*). Mit einzelnen von 
den jüngeren Pythagoreem erklärte er die Seele flir die 
Harmonie ihres Leibes und bestritt deshalb ihre Unsterblich- 
keit; und hierin schloß sich sein Mitschüler Dikäarchos 
aus Messene an ihn an. Dieser entfernte sich von Aristoteles 
dadurch, daß er dem praktischen Leben vor dem theoretischen 
den Vorzug gab; wogegen sein „Tripolitikos** wesentlich 
auf dem Boden der aristotelischen Staatslehre stand. Von 
Phanias und Elearchos ist uns nur wenig, meist ge- 
schichtliche (von jenem auch naturgeschichtliche) Angaben, 
überliefert; Kallisthenes (vgl. S. 164), Leon von Byzanz 
und Klytos sind uns nur als Historiker, Menon nur als 
Arzt 2) bekannt. Ähnlich verhält es sich mit Theophrasts 
Schülern Demetrios Phalereus, Duris, Chamäleon, 
Praxiphanes; sie sind mehr Gelehrte und Literaten als 
Philosophen. 

Um so bedeutender ist Straton aus Lampsakos, der 
„Physiker", Theophrasts Nachfolger, welcher der peripate- 
tischen Schule in Athen 18 Jahre lang vorstand. Dieser 
scharfsinnige Forscher fand nicht nur im einzelnen manche 
Berichtigung der aristotelischen Annahmen nötig®), sondern 



1) Vgl. auch S. 7. 

2) Die Überreste seiner ^laTQixa hat Diels Supplement. Aristotel. 
III, 1 (s. S. 165 Anm. 1) herausgegeben. 

^) Er legte z. B. mit den Atomikem allen Körpern Schwere bei und 
leitete das Aufsteigen der Luft und des Feuers von dem Druck der schwereren 



216 Zweite Periode. 

er trat auch der ganzen Bpiritualistisch - dualistischen Welt- 
ansicht des Aristoteles entgegen, indem er die Gottheit der 
unbewußt wirkenden Naturkraft gleichsetzte und statt der 
aristotelischen Teleologie eine rein physikalische Erklärung 
der Erscheinungen verlangte, deren allgemeinste Gründe er 
in der Wärme und Kälte und namentlich in der ersteren 
als dem tätigen Prinzip suchte. Im Zusammenhang damit 
beseitigte er auch im Menschen den Geist als ein von der 
animalischen Seele verschiedenes Wesen und betrachtete alle 
Seelentätigkeiten, das Denken wie die Empfindung, als Be- 
wegungen desselben vernünftigen Wesens, welches im Kopfe, 
in der Gegend zwischen den Augenbrauen, seinen Sitz habe, 
und sich von da (wie es scheint, mit dem Pneuma als seinem 
Substrat) in die verschiedenen Teile des Leibes ergieße. Die 
Unsterblichkeit der Seele bestritt er folgerichtig. 

Straten folgte Lykon, welcher die Schule 44 Jahre lang, 
bis 228/5 V. Chr., leitete ; diesem A r i s t o n aus Keos ; Ariston 
Kritolaos aus Phaseiis in Lykien, welcher 155 v.Chr., wie 
es scheint schon betagt (er wurde über 82 Jahre alt), mit 
Diogenes und Karneades die Stadt Athen als Gesandter in 
Rom zu vertreten hatte ; ihm D i o d o r o s von Tyros und 
diesem (wohl um oder vor 120 v. Chr.) Erymneus. Zeit- 
genossen Lykons sind Hieronymos aus Rhodos und 
Prytanis; um den Anfang des zweiten Jahrhunderts lebte 
Phormion in Ephesos; um dieselbe Zeit und später die S. 9 
genannten: Hermippos, Satyros, Sotion, Anti- 
sthenes. Die philosophischen Leistungen dieser Männer 
scheinen sich jedoch fast durchaus auf die Überlieferung der 
peripatetischen Lehre beschränkt, und sie scheinen sich dabei 
tiberwiegend mit der praktischen Philosophie beschäftigt zu 



Körper auf die leichteren her; er nahm innerhalb der Welt leere Bäume 
an und definierte den Raum als das zwischen dem umschließenden und 
dem umschlossenen Korper liegende Leere ; er wollte die Zeit nicht die Zahl 
der Bewegung, sondern das Maß der Bewegung und Ruhe genannt wissen ; 
er ließ den Himmel, wie berichtet wird, aus feurigem, nicht aus ätherischem 
Stoffe bestehen. 



§ 64. Die peripatetische Schale. 217 

haben, so sehr auch die Vorträge eines Lykon, Ariston, 
Hieronymos und Kritolaos von seiten ihrer Form gerühmt 
werden. Kritolaos verteidigte die Ewigkeit der Welt gegen 
die Stoiker, dagegen näherte er sich ihnen, wenn er sich, im 
8inne Stratons, den göttlichen wie den menschlichen Novg an 
den Äther als sein Substrat gebunden dachte. Eine erheb- 
liche Abweichung von der aristotelischen Ethik ist uns nur 
von Hieronymos bekannt, sofern dieser die Schmerzlosigkeit, 
die er aber von der Lust scharf unterschied, für das höchste 
Gut erklärte. Weniger hat es auf sich, dafi dieses von Dio- 
doros in einem tugendhaften und schmerzlosen Leben gesucht 
wurde, denn für seine unerläßlichste Bedingung erklärte er 
mit Aristoteles die Tugend. Auch die von den unechten 
Bestandteilen unsrer aristotelischen Sammlung, welche wir 
noch dem dritten Jahrhundert oder wenigstens der Zeit vor 
dem Ende des zweiten zuweisen dürfen, entfernen sich nur 
in Einzelheiten, die für das Ganze des Systems wenig zu 
bedeuten haben, von Aristoteles; und wenn sie auch immer 
einen weiteren Beweis dafür liefern, daß die wissenschaftliche 
Tätigkeit in der peripatetisehen Schule auch nach Theophrast 
und Straten nicht ausstarb, bestätigen sie doch zugleich die 
Tatsache, daß diese Schule zwar Einzelnes zu ergänzen und 
zu berichtigen, aber für die Lösung der größeren Aufgaben 
keine neuen Wege zu zeigen vermochte. 



Dritte Periode. 

Die nacharistotelische Philosophie. 

§ 65. Einleitung. 

Von der Umwälzung, welche das Aufkommen der make- 
donischen Macht und die Eroberungen Alexanders in dem 
Leben des griechischen Volkes herbeiführten, mußte auch 
dessen Wissenschaft aufs tiefste berührt werden. Während 
sich diesem Volke in den Ländern des Ostens und des Südens 
ein unermeßliches .Arbeitsfeld erschloß, eine Fülle neuer An- 
schauungen ihm zuströmte, neue Mittelpunkte des Völker- 
verkehrs und der Bildung entstanden und in die griechischen 
Schulen selbst immer mehr graecisierte Orientalen als Lehrer 
und als Schüler eintraten, war das hellenische Mutterland 
seiner politischen Selbständigkeit und Bedeutung beraubt, ein 
Gegenstand des Streites für die Fremden, ein Schauplatz 
ihrer Kämpfe; der Wohlstand und die Bevölkerung sanken 
unaufhaltsam ; das sittliche Leben, dem der alte Götterglaube 
schon längst keine haltbare Stütze mehr gewährte und der 
Rückhalt einer kräftigen und auf große Ziele gerichteten 
politischen Tätigkeit gleichfalls entschwand, drohte in den 
kleinen Interessen des Privatlebens, in der Jagd nach Genuß 
und Gewinn, in dem Kampf um die tägliche Notdurft zu ver- 
sumpfen. Unter solchen Umständen war es natürlich, wenn 
die Lust und die Kraft zur freien, rein wissenschaftlichen 
Weltbetrachtung sich verlor, die praktischen Aufgaben sich 
in den Vordergrund drängten und der Hauptwert der Philo- 



§ 66. Die stoische Schale im 3. und 2. Jahrhundert. 219 

Sophie mehr und mehr darin gesucht wurde, daß sie dem 
Menschen eine Zuflucht gegen die Not des Lebens gewähre; 
wofür aber immerhin, der spekulativen Neigung des griechi- 
schen Volkes und den seit Sokrates tief eingewurzelten Über- 
zeugungen entsprechend eine bestimmte wissenschaftliche 
Theorie unentbehrlich gefunden wurde. Ebenso erklärlich 
ist es aber auch, wenn man jener Aufgabe nur dadurch zu 
genügen wußte, daß der Einzelne sich von allem Äußeren 
unabhängig mache und sich ganz auf sein inneres Leben 
zurückziehe, und wenn auch die menschliche Gemeinschaft 
von denen, die ihren Wert anerkannten, den Verhältnissen 
der alexandrinischen und römischen Zeit gemäß, weniger im 
politischen als im kosmopolitischen Sinn empfohlen wurde. 
Und dies um so mehr, da schon Piaton und Aristoteles durch 
ihre Metaphysik wie durch ihre Ethik diese Abkehr von der 
Außenwelt vorbereitet hatten. Die Stadien, welche die Ent- 
wicklung dieser Denkweise in den Jahrhunderten nach 
Aristoteles durchlief, wurden schon S. 29 f. angegeben. 



Erster Absehnitt. 

itoizismus, Epikureismus, Skepsis. 



I. Die stoisch^ Philosophie. 

§ 66. Die stoische Schule im 3. und 2. Jahrhundert. 

Der Stifter der stoischen Schule war Z e n o n aus Kition 
auf Kypros, einer griechischen Stadt mit phönikischem Zuzug. 
Sein Tod ftlllt 262, seine Geburt, da er 72 Jahre alt wurde 
(nach Persäos bei DiOG. VII, 28, wogegen der untergeschobene 
Brief ebenda 9 nichts beweist), 334/3. In seinem 22. Jahre 
kam er nach Athen, schloß sich an den Kyniker Krates, 
später an Stilpon an, benutzte aber auch den Unterricht 
des Megarikers Diodoros, des Xenokrates und Polemon. 



220 Dritte Periode. 

Im Jahre 300 v. Chr. trat er selbst als Lehrer und philo- 
sophischer Schriftsteller auf^); seine Schüler wurden erst 
Zenoneer, dann von ihrem Versammlungsort, der Stoa Poikile, 
Stoiker genannt. Wegen seines Charakters allgemein ver- 
ehrt, schied er freiwillig aus dem Leben. Ihm folgte Kle- 
anthes aus Assos in Troas; ein Mann von seltener Willens- 
stärke, Bedürfnislosigkeit und Sittenstrenge, aber geringer 
Beweglichkeit des Denkens; nach Ind. Stoic. Hercul. (s. o. 
S. 10) col. 29, 1 331/0 V. Chr. geboren und wahrscheinlich 
99 jährig, also 232,1*), durch freiwillige Aushungerung ge- 
storben. Neben ihm sind unter Zenons persönlichen Schülern 
die namhaftesten: sein Landsmann und Hausgenosse Per- 
säos, Ariston von Chios und Herillos von Karthago 
(über diese S. 222 f. 235 f.), S p h ä r o s aus Bosporos, der Lehrer 
des spartanischen Königs Kleomenes, der Dichter Aratos aus 
Soloi in Kilikien. Kleanthes' Nachfolger war Chrysippos 
aus Soloi (Ol. 143, 208,4 v.Chr. 73jährig gestorben, also 
280/76 geboren), der scharfsinnige Dialektiker und arbeit- 
same Gelehrte, der durch seine erfolgreiche Lehrtäigkeit und 
seine ungemein zahlreichen, freilich aber auch allzu weit- 
schweifigen, in Stil und Darstellung vernachlässigten Schriften 
nicht bloß für die äußere Verbreitung des Stoizismus das be- 
deutendste leistete, sondern auch sein Lehrsystem zum Abschluß 
brachte. Zeitgenossen des Chrysippos sind Eratosthenes 
aus Kyrene (276/2— 197/2) 8), der berühmte Gelehrte, ein 
Schüler Aristons, und der • Moralprediger Tel es, dessen 
Kynismus vermuten läßt, daß gleichfalls Ariston seinen Zu- 



^) [Die oben angegebenen Daten, die von den Ansätzen Zellers: Tod 
um 270, Geburt um 842 (s. Phil. d. Gr. III 1 S. 27 f.) erheblich abweichen, 
sind jetzt durch genaue Feststellung des Textes im Index Stoic. Hercul. 
c. IV gesichert worden ; s. Crönebt Kolotes u. Menedemos S. 188. Vgl. auch 
RoHDE Rh. Mus. XXXni, 622 ff. Gomperz ebd. XXXIV, 154 ff. u. Jacoby 
Apollodors Chronik S. 362 ff.] 

") [Zeller gibt als Todesjahr 251 an; s. jedoch Jacoby Ap.s Chr. 
S. 869 ff.] 

8) [Danach ist der Ansatz S. 9: 284—204 zu berichtigen.] 



§ 67. Charakter und Teile des stoischen Systems. 221 

sammeuhang mit der Stoa (Stob. Floril. 95, 21) vermittelte *). 
Chrysippos folgten zwei seiner Schüler, erst Zenon von 
Tarsos, dann Diogenes aus Seleukia (D. der Babylonier), 
der noch 155 v. Chr. an der Philosophengesellschaft nach 
Rom (s. S. 21G) teilnahm, sie aber wahrscheinlich nicht lange 
überlebte. Von Diogenes' zahlreichen Schülern war Anti- 
patros aus Tarsos (gestorben 129 v.Chr.) sein Nachfolger 
auf dem Lehrstuhl in Athen, während Archedemos, gleich- 
falls aus Tarsos, in Babylon eine Schule begründete. Zwei 
weitere Schüler von ihm, Boethos und Panätios, werden uns 
§ 80 begegnen. 

§ 67. Charakter und Teile des stoischen 
Systems. 

Da sich von den zahllosen Schriften stoischer Philosophen 
aus den ersten drei Jahrhunderten der Schule nur Bruch- 
stücke erhalten haben ^) , die späteren Berichte aber die 
stoische Lehre in der Regel als ein Ganzes behandeln, ohne 
ausdrücklich anzugeben, welche ihrer Bestimmungen schon 
Zenon, welche erst seinen Nachfolgern, namentlich Chrysippos, 
angehören®), bleibt auch uns nur übrig, das System in der 
Gestalt, die es seit Chrysippos hatte, darzustellen, zugleich 



*) [Wenn Teles sich auch vielfach mit der Stoa berührte, wie ja über- 
haupt diese Schule schon ihrem Ursprünge nach mit der kynischen nahe 
verwandt ist (s. u.), so ist er doch nach neueren Untersuchungen den 
Eynikem einzureihen; s. S. 111.] 

^) Die Fragmente des Zenon u. Kleanther sind gesammelt von Pearson 
1891 (vgl. auch E. Wellmann Die Philos. d. Stoikers Z. 1873 u. N. Jahrb. 
f. Philol. 1873 S. 433 ff. sowie Wachsmuth Commentat. I et IL de Zenone 
Citiensi et Cleanther Assio 1874), die des Zenon u. Chrysippos nebst denen 
ihrer Schüler von J. v. Arnim in 3 Bdn. (1903/05). 

^) Ausführliche Untersuchungen hierüber, deren Ergebnisse jedoch 
ziemlich weit auseinandergehen, finden sich bei R. Hirzel Untersuch, zu 
Cic. phil. Sehr. IIa. 1882. L. Stein Die Psychologie der Stoa I. n. 1886. 
1888. — Wichtig für die Kenntnis auch der älteren stoischen Lehre sind 
die angef. beiden Werke von Bonhöffer. Vgl. auch Barth Die Stoa 1903 ; 
2. Aufl. 1908. 



222 Dritte Periode. 

aber auch die Lehrunterschiede innerhalb der Schule, soweit 
sie uns bekannt sind oder sich wahrscheinlich machen lassen, 
zu bemerken. 

Was den Stifter der stoischen Schule zur Philosophie 
hinführte, war in erster Reihe das Bedürfnis, einen festen 
Rückhalt für sein sittliches Leben zu finden; und die Be- 
friedigung dieses Bedürfiiisses suchte er zunächst bei dem 
Kyniker Erates. Auch seine Nachfolger betrachteten sich 
als Abkömmlinge des kynischen Zweiges der sokratischen 
Schule, und wenn sie die angeben wollten, welche ihrem 
Ideal des Weisen am nächsten gekommen seien, nannten sie 
neben Sokrates einen Diogenes und Antisthenes. Mit diesen 
Philosophen gehen sie darauf aus, den Menschen durch seine 
Tugend unabhängig und glückselig zu machen; mit ihnen 
definieren' sie die Philosophie als Übung der Tugend (aaxtjaig 
ägev^Qy Studium virtutis, sedper ipsam virtutem Sen. ep, 89, 8) 
und machen den Wert der theoretischen Forschung von ihrer 
Bedeutung für das sittliche Leben abhängig. Und auch ihre 
Auffassung der sittlichen Aufgaben steht der kynischen nahe 
genug (vgl. § 71 f.). Aber was die Stoa vom Kynismus 
grundsätzlich unterscheidet, und was schon ihren Stifter 
über jenen hinausführte, das ist die Bedeutung, welche die 
Stoiker der wissenschaftlichen Forschung beilegen. Der 
letzte Zweck der Philosophie liegt für sie in ihrem Einfluß 
auf den sittlichen Zustand des Menschen; aber die wahre 
Sittlichkeit ist ohne wahre Erkenntnis nicht möglich: „tugend- 
haft" und „weise" werden als gleichbedeutend behandelt, und 
wenn die Philosophie mit der Tugendübung zusammenfallen 
soll, wird sie doch zugleich als „Erkenntnis des Göttlichen 
und Menschlichen" definiert. Wenn Herillos das Wissen 
für das höchste Gut und den letzten Lebenszweck erklärte, 
kehrte er damit allerdings von Zenon zu Aristoteles zurück ; 
aber andrerseits war es ein Versuch, den Stoizismus beim 
Kynismus festzuhalten, wenn Ariston nicht allein die ge- 
lehrte Bildung verachtete, sondern auch von der Dialektik 
und der Physik nichts wissen wollte, weil jene unnütz sei, 



§ 67. Charakter und Teile des stoischen Systems. 223 

diese das menschliche Erkenntnisvermögen übersteige, und 
wenn er selbst in der Ethik nur den grundsätzlichen Er- 
örterungen einen Wert beilegte, die spezielleren Lebensregeln 
dagegen für entbehrlich erklärte. Zenon selbst sah im wissen- 
schaftlichen Erkennen die unerläßliche Bedingung des sitt- 
lichen Handelns; wie er denn auch schon die Einteilung der 
Philosophie in Logik, Physik und Ethik von den Akademikern 
(vgl. S. 159 f.) entlehnt hatte. Für diese systematische Be- 
gründung seiner Ethik ging er nun zunächst auf Heraklit 
zurück, dessen Physik sich ihm wohl vor allem durch die 
Entschiedenheit empfahl, mit der sie den Gedanken durch- 
führte, daß alles einzelne in der Welt nur die Erscheinung 
eines und desselben Urwesens, und daß es ein Gesetz sei, 
welches den Naturlauf bestimme und das Tun der Menschen 
bestimmen solle ; dagegen mußte ihn an der platonischen und 
aristotelischen Metaphysik teils der Dualismus abstoßen, der 
den Wirkungen der Vernunft in der Welt die der Notwendig- 
keit zur Seite setzte (vgl. S. 142. 183. 189) und dadurch auch 
die Alleinherrschaft der Vernunft im menschlichen Leben zu 
gefährden schien, teils war ihr Idealismus und Spiritualismus, 
auch abgesehen von den Schwierigkeiten, in die er sie ver- 
wickelt hatte, mit seinem von Antisthenes überkommenen 
materialistischen Nominalismus (vgl. S. 112) zu unvereinbar, 
und er schien ihm wohl auch zu wenig geeignet, eine feste 
Grundlage für das Handeln zu gewähren, als daß er ihm 
hätte beitreten können. Um so entschiedener nahmen er und 
seine Schule die sokratisch-platoni6che Teleologie und den 
damit verbundenen Vorsehungsglauben in seine Weltansicht 
auf, und im einzelnen ergänzte er die heraklitische Physik 
vielfach durch die aristotelische. Noch größer ist der Ein- 
fluß der peripatetischen Logik auf die stoische, namentlich 
seit Chrysippos. Aber auch in der Ethik bemühte sich Zenon 
(s. u.) mit dem bedeutendsten Erfolge, die Härten und 
SchroflFheiten des Kynismus zu mildern. Die stoische Philo- 
sophie ist daher keineswegs bloß eine Fortsetzung der ky- 
uischen^ sondern sie bat diese unter Benützung alles dessen, 



224 Dritte Periode. 

was die früheren Systeme hierfür boten, nach allen Seiten 
umgebildet und ergänzt. 

Die drei Teile der Philosophie, welche die Stoiker 
zählten (wenn auch Eleanthes der Logik die Rhetorik, der 
Ethik die Politik, der Physik die Theologie beifügte), wurden 
im Unterricht nicht immer in derselben Ordnung vorgetragen, 
und auch über ihr Wertverhältnis lauten die Urteile ver- 
schieden, sofern bald der Physik als der Erkenntnis der 
„göttlichen Dinge", bald der Ethik als der für den Menschen 
wichtigsten Wissenschaft die oberste Stelle angewiesen wird. 
Indessen gehören Zenon und Chrysippos zu denen, welche 
mit der Logik begannen, dann zur Physik fortgingen und 
mit der Ethik schlössen. 

§68. Die stoische Logik. 

Unter dem Namen der Logik, den vielleicht Zenon auf- 
gebracht hat, faßten die Stoiker seit Chrysippos alle Unter- 
suchungen zusammen, welche sich auf die innere und äußere 
Rede (den Xoyog ivöidd^ecog und TtgocpOQiTtog) beziehen, und 
sie teilten sie deshalb in die Rhetorik und die Dialektik ; der 
letzteren wird die Lehre von den Kriterien und den Begriffs- 
bestimmungen bald untergeordnet, bald beigeordnet. In der 
Dialektik unterscheiden sie die Lehre vom Bezeichnenden 
(atjiÄaLVov) und die vom Bezeichneten {arjfxatvofxevov) und 
rechneten ssu jener die Poetik, die Theorie der Musik und 
die Grammatik, auf deren Entwicklung in der alexandrinischen 
und römischen Zeit der Stoizismus erheblich eingewirkt hat; 
die Lehre vom Bezeichneten entspricht im wesentlichen unserer 
formalen Logik, die von den Kriterien enthält die Erkenntnis- 
theorie der Schule. 

Im Gegensatz zu Piaton und Aristoteles sind die Stoiker 
ausgesprochene Empiriker. Hatte schon Antisthenes nur den 
Einzeldingen Wirklichkeit zuerkannt, so folgert Zenon daraus, 
daß auch alles Erkennen von der Wahrnehmung des Ein- 
zelnen ausgehen müsse. Bei ihrer Geburt gleicht die Seele 
nach stoischer Lehre einer unbeschriebenen Tafel (daher der 



§ 68. Die stoische Logik. 225 

Ausdruck „tabula rasa" in der scholastiechjeii Philosophie und 
bei Locke); jeder Inhalt muß ihr von den Objekten gegeben 
werden; die Vorstellung (q>avTaala) ist, wie Zenon und 
Eleanthes sagten, ein Abdruck (Tvmaaig) der Dinge in r4er 
Seele *), wie Chrysippos wollte, eine durcjh , sie bewirkte -Ver- 
änderung der Seele. Auch über unsre inneren Zustände 
und Tätigkeiten unterrichtet uns (nach Chrysippos), die .Wahr- 
nehmung ; da aber auch diese in materiellen Vorgängen be^ 
stehen sollen, brauchen die Stoiker deshalb keinen Artuater- 
schied zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung anzu- 
nehmen. Aus der Wahrnehmung entstehen die Erinnerungen, 
und aus diesen die Erfahrung (vgl. S. 175). Durch Schlüsse 
aus dem Wahrgenommenen kommen wir zu den allgemeinen 
Vorstellungen (IWotat)« Sofern diese von Natur ^nd kunst- 
los aus allgemein bekannten Erfahrungen abgeleitet werden^), 
bilden sie jene ^gemeinsamen Überzeugungen'* (%oival evpoiaiy 
notitios communes)y welche aller wissenschaftlichen Unter- 
suchung vorangehen und deshalb mit einer von Epikur ent- 
lehnten, in diesem Siüne, wie es scheint, zuerst von Chrysippos 
gebrauchten Bezeichnung, ngokijilfeig genannt werden. Auf 
kunstmäßiger Beweisführung und Begriffsbildung beruht die 
Wissenschaft , deren eigentümlicher Vorzug daria besteht, 
daß sie im Gegensatz zu der Meinung ((Jo|ö) eine durch 
Einwürfe nicht zu erschütternde Überzeugung {xavalr^tffig 
aaq)al^g aal afĀtdnta)wg VTto Xoyov) oder ein System solcher 



^) Kleantbes verglich die runioais fv tJ t/^u/J in grot materialisti£(cher 
Weise mit dem Abdrücke eines Siegelringes im Wachse (s.Sext. Emp< 
Math VII, 228 ti. ö.); gegen diese Auffassung wandte, sich .Chrysi|>pos. . 

2) [Ob die xoivttl hvoiai wirklich nach stoischer Auffassung erst aus 
der Erfahrung abgeleitet wurden (vgl. Phil. d. Gr. III 1 S. 75), ist zu be- 
zweifeln. Da sie in den Quellen wiederholt als (fvat,xat oder ^/LKfwroi, be- 
zeichnet werden, so sind sie wohl als vor aller Erfahrung in uns vorhanden 
anzusehen, freilich nicht ihrem Inhalte nach wie die ideae innatae von 
Descartes und Leibniz, wohl aber in dem Sinne, daß die Anlage zu ihrer 
Entstehung uns angeboren ist. S. Babth Die Stoa S. 72f. Vgl. Bonhöpper 
Epiktet u. d. Stoa S. 191.] 

Zeller, Grundriß. l^ 



226 Dritte Periode. 

Überzeugungen ist. (Vgl. Piaton S. 131.) — Da nun alle 
unsre Vorstellungen aus Wahrnehmungen entspringen, wird 
auch ihr Erkenntnis wert davon abhängen , ob es Wahr- 
nehmungen gibt, deren Übereinstimmung mit den wahr- 
genommenen Gegenständen gesichert ist. Eben dieses be- 
haupten aber die Stoiker. Ein Teil unsrer Vorstellungen 
ist ihnen zufolge so beschaffen, daß sie uns nötigen, ihnen 
Beifall zu schenken (avyxaTazld'ea&ai)y sie sind mit dem Be- 
wußtsein yerknilpft, daß sie nur von etwas Wirklichem her- 
stammen können, sie haben unmittelbare Evidenz {ivagyeiro) ; 
wir ergreifen daher, wenn wir ihnen zustimmen, den Gegen- 
stand selbst, und eben darin, in der Zustimmung zu einer 
so beschaffenen Vorstellung, besteht nach Zenon der Begriff 
(xazdkrjipigj ein von Zenon neu gebildeter Ausdruck), welcher 
daher (im Unterschied von der evvoia ; s. S. 225) den gleichen 
Inhalt hat wie die bloße Vorstellung, aber durch das Bewußt- 
sein seiner Übereinstimmung mit dem Objekt und durch 
seine daraus hervorgehende Unwandelbarkeit sich von ihr 
unterscheidet. Eine Vorstellung, welche dieses Bewußtsein 
mit sich führt, nannte Zenon eine begriffliche Vorstellung 
(q>avTaaia y,aTaXrjnTnii] , d. h. eine solche, die ihren Gegen- 
stand zu begreifen geeignet ist; Cicero erklärt sie allerdings 
von einem visum quod percipi potest, und er behauptete dem- 
gemäß, die begriffliche Vorstellung sei das Kriterium der 
Wahrheit *). Da aber aus den Wahrnehmungen die „gemein- 
samen Überzeugungen** als ihre Folgen hervorgehen, konnten 
auch diese als natürliche Normen der Wahrheit betrachtet, 
und es konnten von Chrysippos die aiox^riaig und die tcqo' 
Irjxpig als Kriterien bezeichnet werden ^). Daß aber überhaupt 



') [Barth a. a. O. S. 66 f. faßt, wohl zutreffender, die (pavr, xaraX. 
als „greif bare Vorstellung" , d. h. eine solche, deren Objekt greifbar ist 
Vgl. über diese schwierige Frage Bonhöppbb a. a. O. S. 160 ff.J 

*) Daß dagegen die Angabe, einige von den älteren Stoikern hätten 
(statt der (pavr. xaraL) den OQ&og koyog zum Kriterium gemacht (Posei- 
donios bei Dioo. VII, 54), sich auf Zenon und Kleanthes beziehe, ist nn- 
wahrscheiolichy und was Zenon betrifft, mit Sext. Matth. VU, 150 ff. Cic. 



§ 68. Die stoische Logik. 227 

ein Wissen möglich sein müss^, bewiesen die Stoiker in 
letzter Beziehung mit der Behauptung, andernfalls wäre kein 
Handeln nach vernünftiger Überzeugung möglich. Dabei ver- 
wickelten sie sich jedoch in den Widerspruch, daß sie einer- 
seits die Wahrnehmung zur Norm der Wahrheit machten, 
andrerseits aber ein vollkommen gesichertes Wissen nur von 
dem wissenschaftlichen Erkennen erwarteten, wie dies freilich 
nicht bloß ihrem wissenschaftlichen Bedürfnis, sondern auch 
den praktischen Anforderungen eines Systems entsprach, 
welches die Tugend und Glückseligkeit des Menschen von seiner 
Unterordnung unter ein allgemeines Gesetz abhängig macht. 
Der Teil der „Dialektik", welcher unsrer formellen Logik 
entspricht, hat es mit dem Bezeichneten oder Ausgesprochenen 
(IsxTOv) zu tun, und dieses ist entweder unvollständig oder 
vollständig: jenes die Begriffe, dieses die Sätze. Von den 
Bestimmungen über die Begriffe ist das wichtigste die 
Kategorienlehre. Die Stoiker zählten nämlich statt der 
zehn aristotelischen Kategorien deren nur vier, welche sich 
zueinander so verhalten sollten, daß jede folgende eine nähere 
Bestimmung der vorangehenden ist und somit diese in sich 
enthält: das Substrat (vnoxel^evoyj auch oiaia), die wesent- 
liche Beschaffenheit (t6 noiov oder 6 noiOQ sc. X6yog\ welche 
ihrerseits in das tloivüq noiov und das ideo/g noiov zerfkUt, 
die zufällige Beschaffenheit {nu)^; e%ov) und die beziehungs* 
weise zufällige Beschaffenheit {nqoq xL nwg i'xov). Als der 
gemeinsame Gattungsbegriff, unter den alle Kategorien fallen, 
wurde von den einen (wahrscheinlich Zenon) das Seiende, 
von den andern (Chrysippos) das Etwas (xi) bezeichnet, 
welches dann wieder in das Seiende und das Nichtseiende 
geteilt wurde. Von den vollständigen Aussagen oder den 
Sätzen sind Urteile oder Behauptungen (a^iwfiava) die, 
welche entweder wahr oder falsch sind; unter ihnen unter- 
schieden die Stoiker einfache (kategorische) und zusammen- 



Acad. n, 77. I, 42 nicht zu vereinigen. Eher könnte man an Ariston 
denken. Poseidonios scheint damit einverstanden gewesen zu sein« 

15* 



228 Dritte Periode. 

gesetzte y und unter den letzteren widmeten sie den hypo- 
thetischen besondere Sorgfalt. . Ebenso: bevorzugten sie in 
ihrer Behandlung der Schlüsse diö hypothetischen und 
disjunktiveij so entschieden^ daß sie nur diese für eigentÜehe 
Schlüsse gelten lassen wollten. Indessen ist dei^ wissenschaft- 
Jiche Wert dieser Logik ein sehr mäßiger, und wenn die 
Stoiker allerdings im einzelnen das eine und andre genauer 
untersucht habßn,j konnte doch der pedantische äußerliche 
Pormalismus, den namentlich Chrysippos in die Logik einführte^ 
dem Gesamtzustand der Wissenschaft nicht, förderlich, sein. 

§ 69. Die stoische Physik: die letzten Gründe 
unddas Welt ganze. 

Die Weltanschauung der stoischen Schule ist von einer 
dreifachen Tendenz beherrscht. Im Gegensatz zu dem Düa^ 
lismus der platonisch-aristotelischen Metaphysik, dringt sie 
auf die Einheit, der letzten Ursache und der von ihr aus^ 
gehenden Weltordnung: sie ist monistisch. Im Gegensatz zu 
ihrem Idealismus ist sie realistisch, ja materialistisch. Nichts- 
destoweniger will sie aber, wie dies schon ihre ethischen 
Grundsätze verlangten, alles iu der Welt als das Werk der 
Vernunft und ihren letzten Grund als die absolute Vernunft 
anerkannt wiesen: ihr Standpunkt ist ein wesentlich teleo- 
logischer und ihr Monismus selbst wird dadurch zum Pantheis- 
mus. Vgl. S. 223. 

Ein Wirkliches sind, nach der Lehre der Stoiker nur die 
Körpen Denn wirklich, sagen sie, sei. was wirkt oder leidet; 
diese Eigenschaft komme aber nur körperlichen Wesen zu. 
Sie erklärten daher nicht bloß alle Substanzen, die mensch- 
liche Seele und die Gottheit nicht ausgenommen, für Körper^ 
sondern auch alle Eigenschaften der Dinge sollten in^ etwas 
Körperlichem, in den Luftströmungen {nvevfxaza) bestehen, 
welche sich. durch sie verbreiten und ihnen die Spannung 
(rovog) mitteilen, die sie zusammenhält; und da dies natürlich 
auch von dem Seelenkörper gelten muß, werden auch die 
Tugenden, die Affekte^ die Weisheit, das Gehen usw. als Zu- 



§ 69. Die stoische Physik: letzte Gründe. 229 

stände der Seele Eörper und lebende Wesen genannt; daß 
der leere Raum, der Ort, die Zeit und das Gedachte (iexTor, 
vgl. S. 227) keine Körper sein sollten, war nur eine, freilieh 
unvermeidliche, Inkonsequenz. Um es von ihrem Standpunkt 
aus erklirren zu können, daß sich die Seele durch den Leib, 
die Eigenschaften der Dinge durch die Dinge ihrem ganzen 
Umfang nach verbreiten, leugneten die Stoiker in ihrer Lehre 
von der ngäaig dv oXiav die Undurchdringlichkeit der Körper, 
indem sie behaupteten, ein Körper könne einen andern in 
allen seinen Teilen durchdringen, ohne doch zu einem StoflF 
mit ihm zu werden. — Indessen unterscheiden sie trotz ihrem 
Materialismus doch auch zwischen dem Stoff und den Kräften, 
die in ihm wirken. Sie bezeichnen jenen für sich genommen 
als eigenschaftslos und leiten alle Eigenschaften der Dinge 
von der ihn durchdringenden vernünftigen Kraft {i.6yog) und 
schon die Raumerfüllung selbst von zwei Bewegungen her, 
einer verdichtenden und einer verdünnenden, einer nach 
innen und einer nach außen gehenden. Alle in der Welt 
wirkenden Kräfte können aber nur von einer Urkräft her- 
stammen; wie dies die Einheit der Welt, der Zusammenhang 
und die Übereinstimmung aller ihrer Teile beweist. Wie alles 
Wirkliche, muß auch diese körperlich und näher als warmer 
Hauch (ttv«?;^«) oder (was dasselbe) als Feuer gedacht werden; 
denn die Wärme ist es, die alles erzeugt, belebt und bewegt. 
Aber andrerseits zeigt die Vollkommenheit und Zweckmäßig- 
keit der Welteinrichtung und insbesondre die Vernünftigkeit 
der menschlichen Natur j daß diese letzte Weltursache zu- 
gleich die vollkommenste Vernunft, das gütigste, menschen- 
freundlichste Wesen, mit einem Wort die Gottheit sein muß; 
und sie ist dies eben deshalb, weil sie aus dem voll- 
kommensten Stoffe besteht. Da alles in der Welt seine 
Eigenschaften, seine Bewegung und sein Leben ihr zu ver- 
danken hat, muß sie zu dem Weltganzen in einem ähnlichen 
Verhältnis stehen wie unsre Seele zu unserm Leibe; sie 
durchdringt alle Dinge als das Pneuma oder das künstlerische 
Feuer {nvq rex^r/ov), das sie belebt und ihre Keimformen 



230 Dritte Periode. 

(koyoi aTtegfiaTiKoi) in sich schliefit; sie ist die Seele , der 
Geist (vovg)f die Vernunft (Xoyog) der Welt, die Vorsehung, 
das Verhängnis, die Natur, das gemeinsame Gesetz usw.; 
denn alle diese Begriffe bezeichnen den gleichen Gegenstand, 
nur nach verschiedenen Seiten. Wie aber in der Seele des 
Menschen, obwohl sie dem ganzen Leibe gegenwärtig ist 
doch der beherrschende Teil von den übrigen unterschieden 
und ihm ein besonderer Sitz angewiesen wird, so geschieht 
dies auch mit der Seele des Weltganzen: die Gottheit oder 
Zeus soll im äußersten Umkreis der Welt (nach Archedemos 
in ihrer Mitte, nach Kleanthes in der Sonne) ihren Sitz haben 
und sich von hier aus durch die Welt verbreiten. Aber ihr 
Unterschied von der Welt ist immer nur ein relativer, nur 
der des unmittelbar und des mittelbar Göttlichen: an sich 
sind beide dasselbe, es ist das gleiche Wesen, von dem ein 
Teil die Gestalt der Welt annimmt, während ein andrer seine 
ursprüngliche Gestalt beibehält und jenem in dieser als die 
wirkende Ursache oder die Gottheit gegenübertritt, und auch 
diese Verschiedenheit der Erscheinung ist eine vorübergehende, 
sie ist in der Zeit entstanden und hebt sich seiner Zeit 
wieder auf. 

Um die Welt zu bilden, verwandelte die Gottheit einen 
Teil des feurigen Dunstes, aus dem sie besteht, zunächst in 
Luft, dann in Wasser, dem sie selbst als bildende Kraft 
(Xoyog anBQfxaTiyLog) innewohnte ; von dem Wasser schlug sich 
unter ihrer Einwirkung ein Teil als Erde nieder, ein andrer 
blieb Wasser, ein dritter wurde zu Luft, und aus dieser ent- 
zündete sich bei weiterer Verdünnung das elementarische 
Feuer. So bildete sich der Leib der Welt im Unterschied 
von ihrer Seele, der Gottheit. Aber wie dieser Gegensatz in 
der Zeit entstanden ist, so hebt er sich mit der Zeit auch 
wieder auf: nach Ablauf der gegenwärtigen Weltperiode ver- 
wandelt ein Weltbrand alle Dinge in eine ungeheure Masse 
feurigen Dunstes: Zeus nimmt die Welt in sich zurück, um 
sie zur vorbestimmten Zeit wieder aus sich zu entlassen 
(vgl. S. 64) ; so daß demnach die Geschichte der Welt und 



§ 69. Die stoische Physik: das Weltganze. 231 

der Gottheit sich in endlosem Kreislauf zwischen Weltbildung 
und Weltzerstörung bewegt. Da aber diese Bewegung immer 
denselben Gesetzen folgt, sind alle die zahllosen aufeinander- 
folgenden Welten sich so ununterscheidbar ähnlich , daß in 
jeder von ihnen bis aufs kleinste hinaus die gleichen Per- 
sonen, Dinge und Ereignisse vorkommen wie in allen andern. 
Denn eine unverbrüchliche Notwendigkeit, ein festverketteter 
Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen bestimmt alles 
Geschehen ; wie dies in einem so streng pantheistischen 
System durchaus folgerichtig ist und auch in den stoischen 
Definitionen des Verhängnisses oder Schicksals, der Natur und 
der Vorsehung sich ausdrückt. Auch der menschliche Wille 
macht in dieser Beziehung keine Ausnahme; der Mensch 
handelt freiwillig, sofern es sein eigener Trieb (6^/ii?) ist, 
der ihn bestimmt, und auch das, was das Schicksal verfügt, 
kann er frei, d. h. mit eigener Zustimmung, tun; aber tun 
muß er es unter allen Umständen: volentem fata ducunt, 
nolentem trahunt Auf diesem Zusammenhang aller Dinge 
(avfircd^eia twv oXcjv) beruht die Einheit, auf der Vernünftig- 
keit der Ursache, von der er ausgeht, beruht die Schönheit 
und Vollkommenheit der Welt; und je eifriger sich nun die 
Stoiker bemühten, ihren Vorsehungsglauben durch Beweise 
aller Art zu begründen, um so weniger konnten sie sich 
auch der Aufgabe entziehen, die durchgängige Vollkommen- 
heit der Welt nachzuweisen und gegen die Einwürfe, die das 
vielfache Übel in ihr an die Hand gab, zu verteidigen. Der 
Haupturheber dieser Physikotheologie und Theodizee scheint 
Chrysippos zu sein. Gerade von ihm wissen wir aber auch, 
daß er den Satz, die Welt sei um der Menschen und Götter 
willen gebildet, mit der kleinlichsten und äußerlichsten 
Teleologie durchführte; und wenn der Grundgedanke der 
stoischen Theodizee^), daß selbst die UnvoUkommenheit des 



') Vgl. Capelle Arch. f. Qesch. d. Phil. XX S. 173 ff., wo ein Unter- 
schied zwischen der Auffassung der älteren Stoa (Chr^'sippos) und der der 
mittleren (Panaitios und Poseidonios) in bezug auf das göttliche Walten 
in der Natur nachgewiesen- wird. 



232 Dritte Periode. 

Eiazeln^n der Vollkommenheit des Ganzen diene, allen 
späteren fthnliehen Versuchen zum Vorbild gedient hat, so 
war doch die Aufgabe, das moralische Über mit ihrem theo* 
logischen Determinismus zu vereinigen, für die Stoiker um 
so schwerer, je greller säe (s. S.237) seinen Umfang und seine 
Macht zu schildern pflegten. 

§ 70. Die Natur und der Mensch. 

In ihrer Naturlehre halten sich die Stoiker, wie dies 
der damalige Stand der Naturwissenschaft mit sich brachte, 
weniger an Heraklit als an Aristoteles. Ihm folgten sie, ab- 
gesehen von untergeordneten Abweichungen, in ihrer Lehre 
über die vier Elemente, und wenn sie auch neben diesen 
den Äther als fünften Körper entbehrlich fanden, unterschieden 
sie doch zwischen dem ätherischen und dem irdischen Feuer: 
jenes sollte sich kreisförmig, dieses geradlinig bewegen (vgl. 
S. 190). Daß alle Elementarstoffe fortwährend ineinander 
tibergehen, alle Dinge in beständiger Umwandlung begriffen 
sind und eben hierauf der Zusammenhalt der Welt beruht, 
Wird von den Stoikern vielfach hervorgehoben; deshalb mit 
Heraklit jeden festen Bestand der Dinge zu leugnen, ist nicht 
ihre Absicht, aber ebensowenig wird dieser Wechsel mit Aristo- 
teles (S. 192) auf die Welt unter dem Monde beschränkt. 

In ihren Vorstellungen über das Weltgebäude hielten sie 
sich an die herrschenden Annahmen. Die Gestirne denken 
sie sich in ihren Sphären befestigt; ihr Feuer soll sich von 
den Ausdtini^tungen der Erde und der Gewässer nähren; 
ihre Göttlichkeit und Vernünftigkeit wird von der Reinheit 
dieses Feuers hergeleitet. Die sämtlichen Naturwesen werden 
in vier Klassen geteilt, die sich dadurch unterscheiden, dafi 
die unorganischen Dinge von einer bloßen ?^ig zusammen- 
gehalten werden^ die Pflanzen von einer q)i'Oig^ die Tiere von 
einer Seele, die Menschen von einer vernünftigen Seele. 

Ein höheres Interesse hat unter den Naturwesen für 
unsre Philosophen nur der Mensch und am Menschen seine 
Seele. Sie ist zwar wie alles Wirkliche körperlicher Natur, 



§§ 70. 71. Stoiker: Die Natur und der Mensch; ßthik: Örundzüge. 2äS 

und sie entsteht zugleich mit dein Leibe auf dem physischen 
Wege der Zeugung; aber ihr Stoff ist der reinste und edelste, 
eiö Teil des göttlichen Feuers, der sieh bei der ersten Ent- 
stehung der Menschen aus dem Äther in ihre Leiber herab- 
gesenkt hat, und von den Eltern ids ein Ableger ihrer Seelen 
auf die Kinder übergeht. Dieses Seetenfeuer nährt sich vom 
Blute, uiid im Zentrum deis Blutlaufes, im Herzen, hat (nach 
Zenon, Eleanthes, Chrjsippos usw., von denen nur einzelne 
abwichen) der beherrschende Teil der Seele (das '^yefjiovmov) 
seinen Sitz; Von hier aus verbreiten sich seine sieben Ab- 
leger, nämlich die fünf Sinne, das Sprach- und das Zeugungs- 
vermögen ^ zu den entsprechenden Organen. Aber der Sitz 
der Persönlichkeit liegt nur in dem beherrschenden Teil oder 
der Vernunft, der die niederen wie die höheren Seelen tätig- 
keiten angehören, und in deren Gewalt die Zustimmung zu 
den Vorstellungen ebenso Hegt wie die Willensentschlüsse. 
Beides aber freilich nur in dem Sinn, den der stoische 
Determinismus allein gestattet (vgl. S. 231). Nach dem Tode 
sollen die Seelen, wie Eleanthes annahm, alle, nach Chry- 
sippos dagegen nur die , welche sich die nötige Kraft dazu 
erworben haben, die der Weisen, bis zum Weltende fort- 
dauern, um dann mit allem andern in die Gottheit zurück- 
zukehren. Die beschränkte Dauer dieses Fortlebens hält in- 
dessen die Stoiker, namentlich einen Seneca, nicht ab, die 
Seligkeit des höheren Lebens nach dem Tode mit ähnlichen 
Farben zu schildern wie Piaton und die christlichen Theologen. 

§ 71. Die stoische Ethik: ihre allgemeinen 
G r u n d z tt g e ^). 
Wenn auch alles den Weltgesetzen gehorcht, so ist doch 
nur der Mensch durch seine Vernunft beftlhigt, sie zu er- 
kennen und ihnen mit Bewußtsein zu folgen. Eben dies ist 
nun der leitende Gedanke der stoischen Sittenlehre. Ihr 
oberster Grundsatz ist im allgemeinen das naturgemäße 
Leben, das b(>ioXoy6vfAeviog t^ g)vaei t^v, und daß erst die 

^) S. Dyropp Die Ethik der alten Stoa 1897. 



234 I>ri*te Periode. 

Nachfolger Zenons diesen Grundsatz so formulierten, während 
er selbst nur das ofioXoyovfAevwg C^r, ein mit sich tiberein- 
stimmendes Leben verlangte (Areios Did. b. Stob. Ekl. 11, 
7, 6 a S. 75, 11 W.), ist um so unwahrscheinlicher, da DiOG. 
VII, 87 das Gegenteil bestimmt sagt, und da schon Zenons 
Lehrer Polemon das naturgemäße Leben verlangt hatte 
(vgl. S. 162) ^) ; wenn Kleanthes die Natur, der unser Leben 
gemäß sein soll, als die xocvrj q>vaig bezeichnete, Chrysippos 
als die allgemeine und im besondern die menschliche, so hat 
der eine den andern doch mehr nur im Ausdruck berichtigt. 
Der allgemeinste Naturtrieb ist aber der Selbsterhaltungstrieb; 
für jedes Wesen kann nur, was seiner Selbsterhaltung dient, 
einen Wert (a^ia) haben und zu seiner Glückseligkeit (etdcrt- 
fÄOvia, &jQOia ßiov) beitragen. Für vernünftige Wesen hat 
daher nur das Vernunftgemäße einen Wert: nur die Tugend 
ist für sie ein Gut, nur in ihr besteht ihre Glückseligkeit, 
die deshalb an keine weitere Bedingung geknüpft ist (die 
Tugend ist airagntig ngog ti]v evdaifxoviav). Ebenso ist um- 
gekehrt das einzige Übel die Schlechtigkeit (naxia). Alles 
andere dagegen ist gleichgültig {adtd(pOQOv)i Leben, Ge^ 
«undheit, Ehre, Besitz usw. sind keine Güter, Tod, Krank- 
heit, Schmach, Armut usf. keine Übel. Am allerwenigsten 
darf die Lust für ein Gut oder gar für das höchste Gut ge- 
halten und um ihrer selbt willen erstrebt werden ; sie ist eine 
Folge unsrer Tätigkeit, wenn diese von der rechten Art ist 
(denn das Rechthandeln gewährt freilich die einzige wahre 
Befriedigung), aber sie darf nie ihr Zweck sein; und wenn 
auch nicht alle Stoiker so weit gingen wie Kleanthes, der 
sie gar nicht zu den naturgemäßen Dingen gerechnet wissen 
wollte, so leugneten doch alle, daß sie für sich genommen 
irgendeinen Wert habe; und sie suchten eben deshalb das 

>) Vgl. Phil. d. Gr. HI 1 S. 211, 1 und Bonhöppeb Ethik Epiktete 
S, 11 ff. Im Grunde stehen heide Forderungen nach stoischer Auffassung 
im engsten Zusammenhange miteinander. Babth Die Stoa S. 102 ff. 108 
hat daher schwerlich recht, wenn er Zenon ausschließlich das ofjLoXoyovfiivfog 
Cvjv, also ein rein formales Prinzip des Handelns« zuschreibt 



§ 71. Die stoische Ethik: Grandzüge. 235 

eigentümliche Glück des Tugendhaften ganz überwiegend nar 
in der Freiheit von Störungen, der Gemütsruhe, der inneren 
Unabhängigkeit. Weil die Tugend allein für den Menschen 
ein Gut ist, bildet das Streben nach ihr das allgemeine Ge- 
setz seiner Natur; und dieser Begriff des Gesetzes, der Pflicht, 
kommt bei den Stoikern stärker als bei den früheren Moral- 
predigern zur Geltung. Da aber neben den vernünftigen 
Trieben auch unvernünftige und maßlose, oder Affekte*) 
in uns sind (welche schon Zenon auf vier Hauptaffekte : Lust, 
Begierde, Bekümmernis und Furcht zurückführte), trägt die 
stoische Tugend wesentlich den Charakter eines Kampfes mit 
den Affekten; sie sind etwas Vernunftwidriges und Krank- 
haftes {a^^tDOTTJfÄCcra , und wenn sie habituell werden, voaoi 
if^vx^gX sie sollen nicht bloß (wie Akademiker und Peripatetiker 
wollten) gemäßigt, sondern ausgerottet werden : unsre Aufgabe 
ist die Freiheit von Affekten, die Apathie. Im Gegensatz 
zu den Affekten besteht die Tugend in der vernunftmäßigen 
Beschaffenheit der Seele. Ihre erste Bedingung sind richtige 
Ansichten über das, was zu tun und zu lassen ist; denn wir 
streben (sagt Zenon mit Sokrates) immer nach dem, was wir 
für ein Gut halten, wenn es auch in unsrer Gewalt liegt, 
einer Meinung hierüber unsre Zustimmung zu gewähren oder 
zu versagen. Die Tugend wird deshalb als ein Wissen, die 
Untugend als Unwissenheit bezeichnet, die Affekte auf falsche 
Werturteile zurückgeführt. Aber mit dem sittlichen Wissen 
denken sich die Stoiker die Geistes- und Willensstärke (rovog, 
evroviOj laxvg^ xgccvog), die namentlich Kleanthes betonte, 
so unmittelbar verbunden, daß das Wesen der Tugend ebenso 
gut auch in ihr gefunden werden kann. Als die gemeinsame 
Wurzel aller Tugenden bezeichnete Zenon die Einsicht 
((pQ6v7]aig)y Kleanthes die Seelenstärke (icr%i;g, yiQazog), 
Ariston die Gesundheit; seit Chrysippos ist es üblich, 
sie in der Weisheit (aoq)ia) als der Wissenschaft von den 

') ITa&oSi als aloyöe V^vxrj^ xtvriaig oder OQ/Liri nXtovdCovaa d. h. 
„ein übermäßiger Trieb" definiert 



236 Dritte Periode. 

göttlichen und den menschlichen Dingen zu suchen. Aus ihr 
sollten vier Grundtugenden hervorgehen , die dann wieder 
vielfach gespalten wurden: die Einsicht, Tapferkeit, Selbst- 
beherrschung {aioq^Qoövvrj) und Gerechtigkeit; Kleanthes 
jedoch setzte an die Stelle der Einsicht die Beharrlichkeit 
(iyxQfheia). Voneinander sollten sich die verschiedenen 
Tugenden nach Ariston (und im Grunde auch nach 
Kleanthes) hur durch die Gegenstände unterscheiden, an 
denen sie sich äußern; Chrysippos und die Späteren 
nahmen innere, qualitative Unterschiede zwischen ihnen an;: 
Aber daran hielten auch sie fest, daß sie als Äußerungen- 
einer und derselben Gesinnung- unzertrennlich verbunden 
seien, daß da, wo eine Tugend ist, notwendig alle sein 
müssen und ebenso, wo ein Fehler ist, alle Fehler; daß 
daher alle Tugenden an Wert, alle Fehler an Vierwerflich- 
keit einander gleich stehen. Denn nur auf die Gesinnung 
komme es an; nur sie mache die Pflichterfüllung (xa^^xov) 
zur tugendhaftfen Handlung (xar(5(?^Wjua) ; in welcher Form 
diese sich äußert, sei unerheblich. Diese Gesinnung kann 
aber, wie die Stoiker glaubet], nur ganz oder jgar nicht vor- 
handen sein. Tugend und Schlechtigkeit sind Beschaffen- 
heiten, die keines Gradunterschiedes fähig sind {dtax^iceiQ^ 
nicht bloße ^^tig), es liegt daher nichts zwischen ihnen in 
der Mitte, man kann sie nicht teilweise haben, sondern nur 
haben oder nicht haben, nur tugendhaft oder lasterhaft, nur 
ein Weiser oder ein Tör sein,> und es ist deshalb der Über* 
gang von der Torheit zur Weisheit ein momentaner : die 
Fortschreitenden (ngoyLomovzeg) gehören noch zu den Toren. 
Der We i s e ist das Ideal aller Vollkommenheit, und da diese die 
einzige Bedingung dei* Glückseligkeit ist, auch das aller Glück- 
seligkeit, der Tor das aller Schlechtigkeit und Unseligkeit 
Jener ist (wie dies mit deklamatorischem Pathos ausgeführt 
wird) allein frei, allein schön, reich, glücklich usw.; er besitzt 
alle Tugenden und alles Wissen, tut immer in allen Dingen 
und allein das Richtige, ist der einzige wirkliche König, 
Staatsmann, Dichter, Wahrsager, Steuermann usw., ist durch- 



§ 71. Die stoische EÜiik; Grundzüge. 237 

aus frei von Bedürfnisfi^en und Leiden, ist der einzige- Freund 
der Qöttiar. Seine Tugend, ist unverlierbar (oder geht höchstena^ 
wieC h ry s i ppo s einräumte^ dureh Geisteskrankheit verloren), 
seine Glückseligkeit kömmt der des Zeus gleich '.und kann 
durch die Zeitdauer nicht vermehrt werden. Der Tor seiner- 
seits ist; durchausachlecht und elend, ein Sklave, ein Bettler, 
eia Unwissender; er kann hichts Gutes 1;un, kann nicht 
anders als fehlen; alle Toren sind yerrüökte (nSg aq^gum 
^aivercci). Toren sind aber, wie die Stoiker glaubten, alle 
Menschen mit wenigen, fast verschwindenden Ausnahmen; 
selbst den gefeiertsten Staatsmännern : und Helden wird 
höchstens das inkonsequente Zugeständnis gemacht^ dafi sie 
mit den gemeinsamen Fehlern in' etwas geringerem Maße 
behaftet gewesenv seien als die andern ^ und namentlich von 
jüngeren Anhängern der Schule, wie Seneca, wird der Umfang 
und die Tiefe der menfichlichen: Sündhaftigkeit nicht- selten 
mit ebenso lebhaften Farben geschildert wie; gleichzeitig .und 
später von den christlichen Theologen. ; - < ., ?■ , v. ^ 
In alledem folgen die. Stoiker im wesentlichen, den 
Grundsätzen desKynismus; wenn auch mit den Abweichungen, 
welche sich aus ihrer wissenschaftlichen Begründung und 
Darstellung ergaben. Indessen konnte schon Zenon sich nicht 
verbergen > daß diese Grundsätze eingreifender Milderungen 
und Einschränkungen bedürfen ; und diese Milderungen war^n 
nicht nur die Bedingung, unter d.er, . sie: allein die engen 
Grenzen .einer Sekte überschreiten und zu einen geschicht- 
lichen Macht werden' konnten, sondern sie ergaben sich ^uoh 
aus den allgemeinen Voraussetzungen der 'Stoischen £thik. 
Denn ein System, das in praktischer: Beziehung die Natur- 
gemäßheit, in theoretischer die allgemeine Überzeugung als 
Norm anerkannte, durfte sich mit keiner von beiden in einen 
so grellen Widerspruch setzen, wie ihn eiti Antisthenes und 
Diogenes ohne Bedenken auf sich gehöinmen hätten. So 
würden denn zunächst in der Güterlehre. unter den sittlich 
gleichgültigen Dingen drei Klassen unterschieden; solche, die 
naturgemäß sind und deshalb einen Wert (a|/a) .haben, die 



238 l>ritte Periode. 

daher wünschenswert und für sich genommen vorzuziehen 
(ftQorjyfAeva) sind; solche, die naturwidrig und deshalb im 
Unwert {ctna^ia) und zu vermeiden (drvoTrQOfjy^iva) sind; 
und endlich die, welchen weder ein Wert noch ein Unwert 
zukommt, die Adiaphora im engeren Sinn. Ariston, der 
diese Unterscheidung bestritt und gerade in der vollständigen 
Gleichgültigkeit gegen sie die höchste Aufgabe des Menschen 
(tilog) sehen wollte, zog sich durch dieses Zurückgehen von 
Zenon zu Antisthenes den Vorwurf zu, daß er jedes Handeln 
aus Gründen unmöglich mache; Herillos freilich wich auch 
von Zenon ab, wenn er behauptete, daß ein Teil der sittlich 
gleichgültigen Dinge, ohne auf den letzten Lebenszweck (das 
tiXog) bezogen zu werden , doch einen selbständigen Neben- 
zweck (ynorelig) bilden könne. Nur durch diese Modifikation 
ihrer Güterlehre war es den Stoikern möglich, ein positives 
Verhältnis zu den Aufgaben des praktischen Lebens zu ge- 
winnen; indessen wurde von ihr auch nicht selten ein Ge- 
brauch gemacht, der sich mit der Strenge der stoischen 
Grundsätze nicht vertrug. Auf das Verhalten zu dem 
Wünschenswerten und Verwerflichen beziehen sich nun die 
bedingten oder „mittleren" Pflichten (^eaa xa^iyxovra), die 
von den vollkommenen, den %atOQ^(jiiJLata ^ unterschieden 
werden*): denn bei ihnen allen handelt es sich um Vor- 
schriften, die unter Umständen außer Kraft treten können. 
Wie ferner eine bedingte Wertschätzung gewisser Adiaphora 
gestattet, ja verlangt wird, so wird auch die Apathie des 
Weisen so weit gemildert, daß gesagt wird, die Anfänge der 
Affekte kommen auch bei ihm vor, nur ohne seine Zu- 
stimmung zu gewinnen, und gewisse vernunftmäßige Gemüts - 



^) Die gleichen Ausdrucke bezeichnen aber auch den Unterschied der 
Legalitat und Moralität (s. S. 236), wobei es ohne Verwirrung nicht ab- 
geht. [BoNHöFFER Ethik Epiktets S. 229 ff. läßt diese Unterscheidung 
zwischen Legalität und Moralität in gewissem Sinne gelten, hält aber die 
andre Deutung, daß das xa&rjxov eine bedingte, das xaTogf^oifia eine un- 
bedingte Pflicht bezeichne, für unzutreffend. Vgl. Dtroff Ethik d. alten 
Stoa S. 133 f.] 



§§ 71. 72. Stoische Ethik: Grondsüge; angewandte Moral. 239 

bewegungen (eifnä&eiai) finden sich sogar nur bei ihm. Je 
weniger endlich die Stoiker selbst einen aus ihrer Mitte als 
einen Weisen zu bezeichnen wagten, je zweifelnder sich viele 
von ihnen in dieser Beziehung sogar über einen Sokrates 
und Diogenes äußerten, um so unvermeidlicher war es, daß 
sich bald genug die „Fortschreitenden" in immer größerer 
Bedeutung zwischen die Toren und die Weisen einschoben 
und den letzteren in den stoischen Schilderungen fast un- 
ünterscheidbar nahegerückt wurden. 

§ 72. Fortsetzung: die angewandte Moral. 
Das Verhältnis des Stoizismus zur Beligion. 

Wenn die Erörterungen über einzelne sittliche Verhält- 
nisse und Aufgaben in der nacharistotelischen Zeit überhaupt 
einen breiten Raum einnahmen, so ließen die Stoiker (mit 
Ausnahme Aristons ; vgl. S. 222 f.) sich diese ganz besonders 
angelegen sein; und sie scheinen hierbei namentlich auch 
die kasuistischen Fragen, zu denen die Kollision der Pflichten 
Anlaß gibt, mit um so größerer Vorliebe besprochen zu 
haben, je reicher die Gelegenheit zur Betätigung ihrer dia- 
lektischen Kunst war, die solche Erörterungen gewährten. 
So wichtig aber diese spezielleren Ausführungen für den 
praktischen Einfluß der stoischen Ethik und für die Ver- 
breitung reinerer sittlicher Begriffe waren, so scheint doch 
ihr wissenschaftlicher Wert nicht sehr erheblich und ihre 
Behandlung nicht selten eine allzu kleinliche gewesen zu 
sein. Als charakteristisch tritt in ihnen, soweit sie uns be- 
kannt sind, das doppelte Bestreben hervor: den Einzelnen 
einesteils in seiner sittlichen Selbstgewißheit von allem 
Äußeren unabhängig zu machen, andern teils aber den Auf- 
gaben gerecht zu werden, die sich aus seinem Verhältnis zu 
dem größeren Ganzen, dessen Teil er ist, ergeben. Auf 
jener Seite liegen die Züge, welche den Stoizismus als einen 
Abkömmling des Rynismus bezeichnen ; auf dieser die , wo- 
durch er jenen überschreitet und ergänzt. Die vollkommene 



240 Dritt© Periode. . 

Upabhätigigkeit von allem, was UD^re sittliche Beschaffen^ 
heit -nicht beeinflußt., die Erhabenheit über äußere Verhält- 
nisse and körperliche Zustände, die Selbstgenügsamkeit des 
Weisen, die ' Bedürfnislosigkeit ein^s Diogenes ist auch 
stoisches. Ideal;; und so. wenig die kynische Lebensweise alit 
gemein verlangt wird, so würdig findet man sie doch des 
Philosophen, fall* die Umstände sie gestatten. Der Grund- 
satz, daßr der sittliche Charakter der Handlungen nur von 
der Gesinnung abhänge,., nicht von der äußerwi Tat, ver-»' 
leitete die Stoiker, wie ihre Vorgänger, zu manchen auf- 
fallenden und einseitigen Behauptungen; wenn auch immer- 
hin das Anstößigste, was ihnen in dieser Beziehung vor- 
geworfen wird, teils nur hypothetisch, teils als eine t'olgerung 
aus den von ihnen bekämpften Ansichten vorgetragen worden 
zu sein scheint« Um endlich dem -Menschen seine Unab- 
hängigkeit für alle Fälle zu, sichern, .gestatteten sie den frei- 
willigen Austritt aus dem Leben (e§oywyi^') nicht etwa nur 
alai Zuflucht in ider äußersten. Not, sondern sie «ahen darin 
geradezu die höchste Bewährung der sittlichen Freiheit, einen 
Sehritt, durch den man beweist, daß man auch da? Leben 
zu den gleichgültigen Dingen rechnet, undzu dem man be^ 
rechtigt ist, sobald es irgendwelche» Umstände naturgemäßer 
erscheinen lassen, das irdische Leben zu verlassen als länger 
darin zu bleiben, Zenon, Kleanthes, Eratosthenes, Antipatros, 
und viele andre Stoiker haben auf diese Weise geendet. 

So unabhängig sich aber der Stoiker allem entgegeri- 
stelU, was nichter selbst ist, so .eng fühlt er sich mit seines- 
gleichen verbunden. Vermöge seiner Vernünftigkeit erkennt 
der Mensch sich' selbst als Teih des Weltganzen und .eben* 
damit als verpflichtet j für dieses Ganze zu wirken; er weiß 
sich allen Vernunftwesen vpn Natur vei:wandt, sieht sie alle 
als gleichartig und gleichberechtigt, unter demselben Natur- 
und Vernunftgesetz stehend .an, er betrachtet es als ihre 
natürliche Bestimmung, füreinander zu leben; Der Trieb 
nach, Gemeinschaft ist daher unmittelbar ia der menöchlischen 
Natur begründet, die zwei Grundbedingungen dieser Ge-. 



§72. Stoiker: angewandte Moral. :241 

meiiiscbaftyf die Gerechtigkeit ün4 die tMöhschenKebe ; rsiBd 
durch sie geforderte ^ Es sind nicht bloß allö Wleisen,: wib 
die Stoiker sagen;; sich von Natur befreund^et^ tmicJ. W wird 
überhaupt der Freundschaft: vop ihnen ein : so hoher Wert 
beigelegt, daß es »ihnen nicht ganz gelingt^ ihre Sätze ypp 
der Selbstgenügsamkeit des Weis(9i^ mit dieser^ FrQundschaftö- 
bedürfnis durchaus in Einklang. zu bringen; sondern ; auch 
alle; andern Verbindungen unter den Menschen werden in 
ihrer sittlichen Bedeutung anerkannt. Sie empfehten die 
Ehe und wollen sie in rein sittlichem, leiste geführt wisscin ; 
und kennen sie, auch z^i der politischen Tätigkeit kein recht^ß 
Herz fassen, so sind sie doch unter den PhilQsophensch;ule|i 
des späteren Altertums immer noch die, w/elcbe sich mit d,en 
.Aufgaben des Staatslebens am eingehendsten beschäftigt und 
die meisten unabhängige;n politischen Charaktere gebildet Mt. 
Weijt wichtiger, jaber als di€i. Veflpindung des Ein?;elwn ,mit 
seinem Volke ist ihnen allerdings seine Verbindung mit dem 
Ganzsen der Menschheit; an, die Stellei der Pjölitik; tritt ihi^r 
der Kosmopoliti^mus, dessen eifrigste ui^d eirfolgreichste 
Verkündiger die Stoiker, waren. Djaf es ; die .Qleicl^bejit ; der 
Vernunft in, den Einzelnen ist, auf ; der, alle Gemeinseljiäft 
unter d^n Jlenschen beruht, so muß sich diese ^^ch; ebenso- 
weit erstrecken als jene. Alle Menschen sind sich yerwandj^ 
alle haben den. glpichen Ursprung und, dieselbe Bestimmung, 
alle; stehen unter eineiig .Gesetz, sin^ Bürger eines 
Stjäates, Glieder eines Leibes. Alle Menschen haben als 
Menschen Anspruch auf wser Wohlwollen ; selbst die Sklaven 
können ihr Recht von uns fordern, unsrer Hochschätzung 
sich würdig erweisen , selbst unsern Feinden sipd wir: als 
Menschen verzeihende Milde , bereitwillige Unterstützung 
fiichuldig, . wie .dies, , namentlich die Stpikjör ai^gf : der Rö^nerzeit 
vielfach und eindringlich hervorheben. Dieser Kosmopolitis- 
mus ist einer der eingreifendsten von den Zügen, welche den 
Stoizismus zum echten Vertreter der hellenistischen und 
römischen Periode gemacht und ihm seine nicl^t hoch geni^g 

Zeller, Grundriü. ; ,''"■'. Iß 



242 Dritte Periode. 

anzuschlagende Bedeutung für die Entstehung und die Ver- 
breitung des Christentums gegeben haben. 

Wird die Zusammengehörigkeit aller Vernunftwesen noch 
weiter ausgedehnt, so erhalten wir den Begriflf der Welt als 
eines aus den Göttern und Menschen bestehenden Gemein- 
wesens*) und die Forderung der unbedingten Unterwerfung 
unter die Gesetze und die Verfügungen dieses Gemeinwesens ; 
und eben hierin, in dem Gehorsam gegen die Weltgesetze 
und der Ergebung in das Schicksal, die uns von den 
Stoikern so unablässig eingeschärft wird, besteht auf ihrem 
Standpunkt das Wesentliche der Religion. Die Frömmigkeit 
ist die Kenntnis der Verehrung der Götter (iTtiatijfif] 9eüv 
^eganeioQ DiOG. VII, 119. Stob. Ekl. II, 7, 5b 2 p. 62, 
2 W.). Diese besteht aber ihrem Wesen nach in richtigen 
Vorstellungen über sie, im Gehorsam gegen ihren Willen, in 
der Nachahmung ihrer Vollkommenheit (Sen. ep. 95, 47. 
Epikt. Ench. 31, 1), in der Reinheit des Herzens und des 
Willens (CiC N. D. II, 71. Sen. Fr. 123), also mit einem 
Wort in der Weisheit und Tugend. Die wahre Religion ist 
von der Philosophie nicht verschieden. Was dagegen der 
Volksglaube darüber Hinausgehendes enthält, daran fanden 
auch die Stoiker viel auszusetzen. Die Ungereimtheit des 
antropomorphischen Götterglaubens, die Unwürdigkeit der 
mythischen Erzählungen über Götter und Heroen, die 
Albernheit der herkömmlichen Zeremonien wird seit Zenön 
von älteren und jüngeren Mitgliedern der Schule, unter den 
uns bekannten von. keinem schärfer als von Seneca, ge- 
tadelt. Aber trotzdem sind die Stoiker, im ganzen genommen, 
nicht Gegner, sondern Verteidiger der Volksreligiön : teils, 
wie es scheint, weil sie in ihrer allgemeinen Anerkennung 
einen Beweis ihrer Wahrheit sahen, teils und vor allem, weil 



^) 2vaTt]f4a ix OetSv xal av^gdintov xat roiv 'ivexa rovtoiv y^yovojiov 
(DioG. Vn, 138. Stob. Ekl. I, 21, 5 p. 184, 8 W. Dach PoseidoDios und 
Chiysippos); noUg § avv^arrixsv i^ avB^Qtanmv t€ xal S^ediv (Muson. b. Stob. 
Foril. 40, 9, p. 749, 10 H.). 



§ 72. Stoiker: angewandte Moral. 243 

sie sieh nicht entschließen konnten^ der Masse der Menschen 
eine für sie unentbehrliche Stütze der Sittlichkeit zu ent- 
ziehen. Pen eigentlichen Inhalt der Mythologie sollte die 
philosophische Theologie bilden; in den Göttern dieser sollte 
der eine Gott des Stoizismus teils unmittelbar, teils mittel- 
bar verehrt werden : unmittelbar unter der Gestalt des 
Zeus *), mittelbar unter der dßr übrigen Götter, sofern diese 
nichts andres seien als Darstellungen der göttlichen Kräfte, 
die sich uns in den Gestirnen, den Elementien, den F^rüchten 
der Erde, den großen Männern und Wohltätern der Mensch- 
heit zu erkennen geben. Das Mittel aber, um diese philo- 
sophisch« Wahrheit (den (fvamög Xoyog) in den Mythen nach- 
zuweisen, war für die Stoiker deren allegorische Aus- 
leg u n g ; ein Verfahren, das vor ihnen nur vereinzelt vorkommt, 
das aber von ihnen und allem nach schon von Zenon zum 
System gemacht und bereits von einem Kleanthes und 
Chrysippos in einem solchen Umfang und mit so un- 
glaublicher Willkür und Geschmacklosigkeit zur Anwendung 
gebracht wurde, daß sie hierin von ihren Nachfolgern auf 
heidnischem, jüdischem und christlichem Gebiet kaum über- 
troflfen werden konnten. In demselben Geist wurde die Weis- 
sagung, auf die sie den größten Wert legten, schon von 
Zenon, Kleanthes, Sphäros, namentlich aber von 
Chrysippos und seinen Nachfolgern behandelt. Das Ir- 
rationale wurde auch hier künstlich rationalisiert; vermöge 
des Zusammenhangs {avfxndd^eia s. S. 231) aller Dinge sollten 
zukünftige Ereignisse sich durch gewisse natürliche Vor- 
zeichen ankündigen, zu deren Kenntnis und Deutung teils 
eine natürliche, auf der Gottesverwandtschaft des Menschen 
beruhende Begabung, teils kunstmäßige Beobachtung be- 
fähige; und keine Erzählung von eingetroflfenen Vorbedeu- 
tungen war so abenteuerlich und so schlecht beglaubigt, daß 
man sie mit dieser Auskunft nicht zu rechtfertigen gewußt 
hätte. Mochten daher die Stoiker vielleicht auch schon vor 



^) S. Kleanthes' Lobgesang auf Zeus bei Stob. Ekl. 1 1, 12 S. 25 f. W. 

16* 



?ä44 ■ ' ' Dritte' PeHö^e.' "^ '; 

'Patiätfo^s^^ eine dreifache Th6ol(%iö- unterscheide^^ die der 

Philcf^ptiert, der Ötfitätbraftnrier^ ufid der Üföhtör, und'inochtfen 

%ih tianüenttidb dör. letatbreii, -die in' Wahrhöit nichts andrem 

^ist'alö' die -Mythologie -dös" VolksgUubeng, noch ^so 'ein- 

ßchtfdideilder Vorwürfe machen ,- 'so - ließen 'siö sich döch^dk- 

'^^durch" nicht abhalten y jeden efnötlicben Angriff auf diebe- 

■ stehende Religion ä^actidrttcklich aurückzuweisön, ^ wiW diös 

•unter' andierem .Kle^änthes* Verhalten gegen Aristarchos-vön 

Säiiiös,' den er in einer gegen ihn^ gerichteten^ Schrift (Diöo. 

VII- 174) der Gottlosigkeit berichtigte, weil er die Erde,' „den 

Herd 'der Welt") sich bewegen lasftev (Plut. di fab. tun. 

-923' A)j und Mark Aürejs Strenge Vgegeri diö Christen beweist. 



.;;:.' JL V Die epikureische Philosophie.; .^h 

§73. Epikur und seine Schule. 

,? !'u-Bpikurosj^ der Söhn 'des Atheners l?eokles, • war im 
^Januar (7. Gamelion) 341 v;Ghr. in Samos geboren. »Van 
-N au siph a ii es (S. 77) in Demökrit» Lehre eingeführt, auch 
von dorn Platoniker Pam philo s^ unterrichtet, trat' er selbst 
in >Kolof)hon, Mytiiene ünd^ Lampsakos und seit 307/6 v. Chr. 
in' Athen als Lehrer auf. Sein Garten •würde hier der 
Sammelplatz eines Kreises *X ^^^ von unbedingter Verehruhg 
für ihn und seine Lehre erfüllt, einen vertrauten geselligen 
Verkehr mit den philosophischen Studien, ver'band; Und dein 
audh Frauen angehörten. Seine Lehren legte EpikxiT in einef 
Mäss^ von* Schriften nieder, deren Stil er geringe Sorgfalt 
.widmet^^)i. Als er 271/0 v. Chr. starb, übernahm-Her^marchös 



; . . / . ly. Dalier hießen • die Epikureer öt itno ' täfV xfin onr. -".:■'■■ 

;., , *) Von jden wenigen bei Dioq: X' erhaltenen Schriften, den Übe^- 
'blei^eln ,dfdx. yerrprenen, init Aus^^hrne. der herkulanischen. Schrift jii <fth- 
atcpff,. ,.und den, aus ihnem entnommenen Angaben, hat Usjener (Epicure^ 
1887) eine kritische Auingabe veranstaltet, und sie (Wiener Stud. X, 1888, 
S. 178 flf.) durch eine von Wotke in Rom aufgefundene Sentenzensammlung 
-e^j^anit.. Weitere : Urkunden dier» epikureischen Lehre isriii^ Äahlreiche in 



§ 73. Epikur und .B^iiie Schule. 245 

die ^Li^ituBg^ seäi^^s ^Yör^ins; .^ein iJ^e^^lingsschtileri Metrio^:^ 

vor ihm gestorben^ i^lNöbea; 4 Jesenisfnö Von .Epikur« per^öö* 
liehen Schülern Kolotes (s.S. 111 Anm. 3) und der Histo- 
riker ^.14 qu|en,eu s. .(.S^ IQ), zu. neinnein. f yielleJcht gehörte 
auch Polystratos, der» Nachfolger = des Hermarchos, noch 
zu ihnen. Auf Polystratos folgte Dipnysios, auf diesen 
B'äsiTei de's^ Dem zVveiten Viertel des zwei teil Jahrhunderts 
gehö rte* wohl r r ö ta r c h o s' * äüs Bar^-yliön ', dem d r i^ieh uiiä' 
viertfeti D e m'e t; r i o s ' dfer LakoniVr uila A p ö H o d o Ydh B 
iii]7iot^uQa\i'Vog XS. lO) ah.' 'Ein 'Zeitgenosse 'des "Prota^^^ 
der 'Mathematiker P Kilonides aus deftn syriächeti Läö'dikeiä.' 
Zu bedeuteöder ' Verbreitung gelängte die Schule ixi'ddt 
förnischen' Welt, iii der scton um' die Mittö des feweiteii Jäht*- 
hutiderts V. Chr Ö. Amä'fihiüs mit lateinischen Üärötellungerf 
d^r epikureischen', Lehre Beifäll fatid. 'Äpöllodörä Schüler 
lind Nachfol|^er,'Zetfbh "AUS Sido'n; lehrte bis nacli^78 v.^öhr|.* 
hilf' vielem Erfolg in Athen ; seihen' 'Mitschüler Und späiei^en 
i^s^chfölger P h ädfbs" hörte Cicero liiÄ/OO vVCHi-.' in 'Körn.' 
Diesem fölg^tePätföh in Athen; in tlöin wii^ktö urii 50 vl'Chr.' 
Siroh (Skiron), dW Lebrer Vergilö, ' und PHilödeiüos 
(S: 10).' Defselbeii' ;^öit' gehörte deV ' Dichter de^ 'Schüfe; 
Lucretius Carus (wahrscheinlich OÖt-^SS v. CKf.) ' ärf! 
Sböh zäiilreiöhe Namen von Epiktire^i*h ^sitid iih^ bbKannt, 
(iafuriterihrö 'eifrige öönnerih, iTrajahs Gfemahliri P l'b t i n ä; 
Die Sctiule; 'd^rehVerbreitüti^ vorf DiÖG. X' 9 üni 230 n. Cfii^.V 
Vöb liACtANT; rhst. III, 17 "hoch um 32Ö bezeugt, Wird, "erlosch 
^rst im >^i6rt<eh christlichen Jähi-huhdert. 'Ihr^ urissl^nschkYi- 
iicbe'EntWickTüngsfähigk^it War aber gerrng, uhä Wi^hn'Epikui* 
seine ÖiiKüle'r streng arr- deni' Wortlaut' seiner ' tehr^^'fest- 

äerculknum ^ g:efnncl eiiö , Ineist vbn PiärtJÖDEMOS ' h^rrfihrötide ' Schiifteii vtita 
die -iräf der Wfttnd 'feinisi' Säutenl^alle entdeökteik . Fragmeütö des - iDtoc^E^Bd 
von Oinoanda (um 200 n. Chr.), zuletzt hrsg. von William (1907); die wert- 
yolbte Qia^Ue.;aber ist XtU^Rfi^JÜe D« natura .rieruoa (hr^g.-^^^Ki^'™™^^^'' 
von JLaghmank ;1850)) Münäo (5. 'Aufl-lOOS); Giussasi ,(|896 ff.). .,,rr .; ; - 
1) 3^ine Fragfioente gesfun^melt von Körte (lS90)v ,,,...',; ... .:[ ,;..,»" 



246 Dritte Periode. 

zuhalten bemüht war (DiOG. X, 12 u. ö.), so ist ihm dies so 
vollständig gelungen, daß uns von keinem ein nennenswerter 
Versuch zu ihrer Fortbildung bekannt ist. 

§ 74. Das epikureische System; Allgemeines. 
Kanonik^). 

Sein philosophisches System ist für Epikur noch viel 
ausschließlicher als für Zenon ein bloßes Mittel für die prak- 
tischen Au%aben. Er hielt wenig von gelehrter Forschung 
und von den mathematischen Wissenschaften, denen er vor- 
warf, daß sie uns nichts nützen und der Wirklichkeit nicht 
entsprechen; und seine eigene Bildung war in beiden Be- 
ziehungen sehr ungenügend. Aber auch unter den philoso- 
phischen Lehrfächern legte er auf dem Gebiete der Dialektik 
nur den Untersuchungen über das Kriterium Wert bei und 
nannte deshalb diesen Teil seines Systems Kanonik ; und von 
der Physik sagte er, wir bedürften ihrer nur deshalb, weil 
uns die Kenntnis der natürlichen Ursachen von der Furcht 
vor den Göttern und dem Tode befreie und die Kenntnis der 
menschlichen Natur uns zeige, was wir zu begehren und zu 
vermeiden haben. Auch dieser Teil der Philosophie hat also 
keine selbständige Bedeutung. 

Wie nun mit der praktischen Einseitigkeit des Stoizismus 
sein Empirismus und Materialismus zusammenhängt, so tritt 
derselbe Zusammenhang bei Epikur noch stärker hervor. 
Einer Ethik, die den Einzelnen ganz auf sich selbst stellt, ent- 
spricht es vollkommen, wenn nur das materielle Einzelwesen 
für das ursprünglich Reale, nur die sinnliche Empfindung 
für die Quelle unsrer Vorstellung gehalten wird; und wenn 
der Mensch seine höchste Aufgabe darin findet, sein indi- 
viduelles Leben vor Störungen zu bewahren, so wird er 
weder in dem Weltganzen den Spuren einer Vernunft nach- 



*) Wallack Epicureanism (1880). Über Ditferenzen in der epikur. 
Schule HiBZEL zu Cics philos. Schriften I S. 98 ff. Über die Erfahmngs- 
lehre Ep.s Natobp Forsch, z. Gesch. d. Erkenntnisproblems S. 209 ff. 



§ 74. Das epikureische System; Allgemeines. Kanonik. 247 

gehen, auf die er sich zu stützen und deren Gesetzen er sich 
zu unterwerfen hätte, noch wird er den Versuch machen, 
durch die Erkenntnis dieser Gesetze seinem Verhalten eine 
theoretische Grundlage zu geben. Die Welt stellt sich ihm 
als ein Mechanismus dar, innerhalb dessen er sich möglichst 
gut einrichtet, von dem er aber nicht das Bedürfnis hat, 
mehr zu wissen als das, wovon sein eigenes Wohl und Wehe 
berührt wird; und hierfür scheinen die Erfahrung und der 
natürliche Verstand ohne viel logischen Apparat auszureichen. 
Diesem Standpunkt gemäß betrachtet Epikur zunächst 
in der Eanonik als das Kriterium der Wahrheit in theo- 
retischer Beziehung die Wahrnehmung, in praktischer (worüber 
§ 76) das Gefühl der Lust und Unlust. Die Wahrnehmung 
ist das Augenscheinliche (ivagyeia), was immer wahr ist; an 
ihr können wir nicht zweifeln, ohne mit dem Wissen auch 
das Handeln unmöglich zu machen (vgl. S. 226 f.) ; und auch 
die Sinnestäuschungen beweisen nichts dagegen, denn der 
Fehler liegt bei ihnen nicht an der Wahrnehmung, sondern 
am Urteil: das Bild, das wir zu sehen glaubten, hat unsre 
Seele wirklich berührt, wir haben nur nicht das Recht zu 
der Annahme, daß ihm ein Gegenstand entspreche, oder daß 
es diesen vollständig wiedergebe. (An welchem Merkmal wir 
aber freilich die Bilder, denen ein Gegenstand entspricht, von 
denen unterscheiden können, denen keiner entspricht, erfahren 
wir nicht.) Aus den Wahrnehmungen entstehen gedächtnis- 
mäßige Vorstellungen oder Begriffe {7tq6Xri\pi,g) ^), indem sich 
das, was man wiederholt wahrgenommen hat, der Erinnerung 
einprägt. Da diese Begriffe sich auf frühere Wahrnehmungen 
beziehen, sind auch sie immer wahr; es können daher neben 
den Wahrnehmungen (alad-r^aeig) und Gefühlen (Ttd&rj) auch 
die Begriffe zu den Kriterien gerechnet werden. Und da die 
Phantasievorstellungen nach Epikur gleichfalls durch die Ein- 
wirkung objektiver, der Seele gegenwärtiger Bilder entstehen 



^) Diese sind wohl zu unterscheiden von der xoival iwoiat oder ttqo' 
XTJifffcg der Stoiker (s. S. 225). 



2M^^ .>'..^.^ii,:':: .-; - -^ ;: Dritte ^Periddet'- "--•-;;.•• •^■'■'"' ••-•' :" 

(^gl. *iß. f251;)v 'Werden laueh diese unter: sie aufgenommen; 
Eral iw^tf nn . iwirT^ die W«limebmang als .solche hinausfi: 
gehen y - W.enn wir luns ans dem Bekannten eine Meinung 
{tL<m6hipp^ig)'itiberfdak Unbekannte bilden, entsteh t^die Frage, 
ob *-dli5^e7MeihuTig rwahr oder . falsch sei : um wahr zu: ' sein, 
mufi ^irie -Meinung,? wenn »i^ sich aiif kllnftige Ereignisse 
bezieht, j; durch die. Erfahrung bBstätigt^ wenn sie die verr. 
botgönen Gfründe der Erscheinungen betrifft, da;rf sie durch 
die iErfahrung nicht widerlegt Sverden. Epikur neiint bei 
DiOG.'X, 32:mörWfege, auf denen man von den Wahr- 
nehihungeti: äu. Vermutungen (f7rtVo/«t)> komme; :aber: feine 
wisfeOTschaftliche Theorie der Induktion dürfen wir (wie noch 
Philodömos tt: aij^ciW zeigt); bei ahm und seiner JSchule 

nichts :SUchen; '•.f.r::..i. -.i;/ , ^-^ -vv^r --ir/: ;;•■!.■.- :--,A •'■;■ ^:'' 

d>^^ §.75.^Epiku3's Physik; die - G ö 1 1 er^). /< i '• 

^^ Epikürs* Natüransicht Wird an erster Stelle Vöii dem 
Wunsche ' bestinimt; ' auö döin Weltlaiif alles Eingreifen tiber^ 
iiättiriicher üräädhen aüszuschliefeen, weil dieses demMensehWh 
öeinä ganze Oenititsrtihe i^aiiben ,' ihn in ; bieötändigei^ t^urcht 
^6r unberechenbaren Mächten halten müßte. Dies hofft ei* 
htiri äili sichersten durch eine reinmefehanische Naturerklärung 
i'u etrefdbehf' und wehii er sieh naeh einer äolcheh uiitei* 
den älteren Systemen umöah (denn zur Bildüti^ einer' eigenen 
niitürv^isöensehaftliähen ' Theorie War ' er Wendet geeigniif hdeh 
!)efähigt)3' so ' ent^pradlt keines' jenem Zweck ybllstäncligeralsf 
das,"welcheB auch seittetn; ethischen Individualismus die b'estetf 
Ähkntfpfuiigspünkte zu bietei' schien^ welches ihn fei^her'iü^ 
etst für sich ' ge wö'nriiön^ ha;tte und ihm Vielleicht übei^häüpf 
allein ' ^genauer bekannt' war : Demökrits Ätoinistifc. Mit 
Öeraokrit erklärt Epiküt'füf äie'Grundbeätaiidteile von allein* 
die Ätötniö und das lieei^eVt'^iläaus Aggregaten, teils äusVer^ 
flechtüngen Von Atomen, zwischen denen sich' bald größer^, 



. ■ . V ^)Lan«s. Gesch. d. Mäterialiaiöusl Köp^ 4* ßoEDifcKfeMBnEiiEpikurs 
Verhältnis zu Demokrit in der Naturphil. (1897). ,: v ' v^ 



§ 75..;!BpikÄr&rPliy8ik. 24S: 

bäldr Heinere ".Zwi8cKfenrSüme^befin'䀫l, .beste&en.Älle jDiöge* 
DteAtortieT diöokt erwchganz sd wie'^Dfemokrit, .nurodaßriißr 
ihnen nicht eine!unendiiche; sondern bloß eine begrenzte. Zahl 
yon- GestritsnirtetBchrMen? beilegt. ' Vermöge, ihrer Seh wera 
fallen dieiAtoine; im .Ifeereii-Raume ; treil aber in diesem *(#te5 
Aristoteles) eingewiendet hatte) jalle gleich, schnell fallen 
und : somit nicht ' ^aufeinanderstoßen . . würden^' = 5 und : weil auch: 
das Intfereäse der .Willensfreiheit/: dieäzu^yerfangeai» schieH, 
nahin Epikur.an, "daff'flie: von «elbst (iponte) und votiikeiher 
Ursache dazu ; bestitnmt (ivcurcüßg^r - iabi ein tlei nstes .vjon der 
seBkrechten Fallinie Jabweichenl). Infolge- davon' stoßem sie: 
zusammen , veri«rickeln . sich' ineinander y Iprällen v.oiieiuandei^ 
aby werden- teilif^ei^niaöh oben gedrängty:* und: es erz0Ü^ 
sich : jene Wirbelbewegungen , ^ die ! in den vefschiedefairfeÄ 
Teilen des unendlichen Raumes wahllose gelten hervorbringen/ 
die.^ : duifch deere -Z^wlßchenräume . (jWEraxoä^Äcr ^? «w^erwiÄ«^^ 
getrenn t,(. sich in den verschÜBdenartigsten Zuständen befinden;^ 
aber alle inMeriZeitjenfetanden und. und mit! der Zeit aiich 
wieder untergehen: werden. ' ;: f. ':.j'jv ii ; > : ," :.; ^>; 

(.: Wie^nun die ülntsteKüng von Welten Öurch rein nfecha- 
nisfdhö'UrsÄchö bewirkt Worden sein söU-äo legt flpikur den 



-h 



^) [Wenn die S. TS^Anm. 1 erwähnte Hypothese, daß die Urbewegfung 
der Atome nach Öemokrit keine Pallbewegüng, sondern' ein wirres Üurch- 
ein'änd'öi^iegWn ie'^ Aibmei hei; def'WahrÜeit entspnctit,"8o^ wäre' Öpitdr in 
diesem iPudkteV von -der i'tttlonellerciD-URd^toiit id^dti^VorilUdseUUUgen »8^ 
iibQmistiBphen : '^/sffQm^f 'im beflten:- B^inl^aQg ; siteheQ^l^.I^ehiie , de9. Ab<|eHtet]( 
^m ..trügericchen Augenschein, zuliebe abgewichen ..^uad ]l7ätte,.fM>ipit ^ieseL 
Lehre, wie auch, sonst n^ehrfach, im Sinne eines .krausen Senf aa,lisinii8 udit 
ges^ltet. Jedenfalls setzt, er sich mit 'der Anhahime j^ner Fallbewegong in 
dSen^n iGfbgeiisatz zii' 'ileitiei^ eigenen Aüffaisfsäng ; ' daE es Im leereii' "Rktrme 
kein Oben tittd VnUn gebe! Seiü^ Leht^e Von' 'd^r l)eki!i)^tioki der ■ AtdliiS» 
ytüjend^ :f tfiht im lyoljepi' >Wi4erspniphe jnit * dei^ str^i^^ fepeQhAniejöh^n Natura 
fn3icfaV,de8, Atojnismas, ,.0b, £p, wirkliph . :die, menschliche Wiilejipfreifa^it 
4urch. diese Deklination hat begründen wollen^ steht nicht, genau fest, da 
die Zeugnisse hierfür bei X'ükrez, Cicero und PlÜtarch' durch keine direkt!^ 
Äußernbg des Philb'sopiien m im&rei^'ÜbeJf liefermig^' befestigt 'weWen:'' Vgl'. 
BitäoiBB' \I)e atomortnii' Epicüreiunini -mbta {^ifinisiplili ' 1888.] ' '. ^' ' ; J < f i 



250 I>ritte Periode. 

größten Wert darauf, daß auch alles Einzelne in der Welt 
rein mechanisch und mit Ausschlufi teleologischer Gesichts- 
punkte erklärt werde. Wie es aber zu erklären sei^ daran 
ist ihm wenig gelegen. Wenn wir nur sicher sein können, 
daß etwas seine natürlichen Ursachen hat, so kommt nicht 
yiel darauf an, welches diese sind ; Epikur läßt uns vielmehr 
fUr die Erklärung der einzelnen Naturerscheinungen zwischen 
allen möglichen Hypothesen die Wahl, wenn auch die eine 
vielleicht wahrscheinlicher sein möge als die andre, und er 
weist auch so augenscheinliche Ungereimtheiten wie die An- 
nahme, daß der Mond wirklich zu- und abnehme, nicht un- 
bedingt ab. Daß die Sonne nicht größer oder nur um ein 
weniges größer sei, als sie uns erscheint, haben er und seine 
Schule, wohl um der Glaubwürdigkeit der Sinne nichts zu 
vergeben, hartnäckig behauptet. 

Die lebenden Wesen sollen ursprünglich aus der Erde 
hervorgekommen sein, und es sollen sich unter ihnen anfangs 
auch mancherlei seltsame Gebilde befunden, aber nur die 
lebensfilhigen sich erhalten haben (vgl. S. 69). Über den 
ersten Zustand und die allmähliche Entwicklung der Menschen 
finden sich bei LüCREZ (V, 925 flF.) ansprechende und ver- 
ständige Vermutungen. Die Seele der Tiere und Menschen 
besteht neben feurigen, luftigen und pneumatischen Bestand- 
teilen aus einem eigentümlichen, noch feineren und beweg- 
licheren StoflT, welcher Ursache der Empfindung ist und von 
den Seelen der Eltern herstammt. Aber zu der vernunftlosen 
Seele (animä) kommt beim Menschen der vernünftige Teil 
(bei LuCREZ mens oder animus) hinzu, dessen Epikur schon 
für seine Ethik bedurfte (vgl. S. 254); er hat, wie das 
stoische ijyBfiovrAov (S. 233), seinen Sitz in der Brust, während 
die anima sich durch den ganzen Leib verbreitet. Über 
seine stoiFliche Beschaffenheit dagegen wird nichts mitgeteilt. 
Beim Tode zerstreuen sich die Seelenatome, da sie vom Leib 
nicht mehr zusammengehalten werden ; und eben dieses findet 
Epikur sehr tröstlich, denn nur die Überzeugung, daß wir 
nach dem Tode überhaupt nicht mehr existieren, könne uns 



§ 75. Epikurs Physik; die Götter. 251 

von der Furcht vor den Schrecken des Hades gründlfch be- 
freien. — Von den Seelentätigkeiten werden nicht allein die 
Wahrnehmungen mit Demokrit (von dem Epikur nur in 
untergeordneten Punkten abweicht) aus einer Berilhrung der 
Seele mit den Bildern (eYdcoXa) erklärt, die sich von der 
Oberfläche der Körper ablösen und durch die Sinne zu ihr 
gelangen, sondern die gleiche Erklärung wird auch auf die 
Phantasievorstellungen (q>avTaatiKal STitßoXai xijg diavoiag) 
angewendet; nur daß bei ihnen die Seele von Bildern be- 
rührt werden soll, deren Objekte nicht mehr existieren, oder 
die sich erst in der Luft aus der Vermischung verschieden- 
artiger Idole oder aus neuen Atomverbindungen gebildet haben. 
Durch die Bewegungen, welche die in sie eindringenden 
Bilder in der Seele erzeugen, werden dann auch frühere 
Bewegungen der letzteren neu hervorgerufen; oder wie dies 
auch dargestellt wird : wir werden veranlaßt, unsre Aufmerk* 
sämkeit auf solche von den zahllosen uns fortwährend um* 
gebenden Idolen zu richten , die jenen Bildern ähnlich sind, 
und dies ist die Erinnerung. Aus der Verknüpfung eines Er- 
innerungsbildes mit einer Wahrnehmung entsteht die Meinung 
und mit ihr die Möglichkeit des Irrtums (vgl. S. 247 f.);. 
durch Schlüsse aus dem Wahrgenommenen (also durch eine 
Selbsttätigkeit des Denkens, deren Möglichkeit aber unerklärt 
bleibt) erkennen wir das Verborgene. In Bewegungen, welche 
durch Vorstellungen in der Seele bewirkt werden und van 
ihr auf den Leib übergehen, besteht der Wille. Die Willens- 
freiheit wird von Epikur im Sinne des reinen Indeterminis- 
mus aufs entschiedenste behauptet und dem stoischen Fatalis- 
mus lebhaft widersprochen. Indessen findet sich von einer 
tiefer gehenden psychologischen Untersuchung dieser Frage 
bei ihm keine Spur. 

Durch diese Physik hofft nun Epikur mit der Furcht 
vor dem Tode auch die vor den Qöttem für immer beseitigt 
zu haben. Den Glauben an Götter will er allerdings nicht 
antasten : teils weil ihm die Allgemeinheit dieses Glaubens zu 
beweisen scheint, daß er sich auf wirkliche Erfahrung gründe, 



2S2 ;-> *^; -'-Dritte- Periiwfe.',:: -? 

dafi dSelBild^, jatiSiäereö ErsöheiAeti ^rjhn. (nach, dein obig«n) 
alteint ieHtIar'eä'Tfc8an>^wen»g»teiBsrteil*ei»p ivm realen W.eäjßö 
hfirrühren^ .al&ö' W,ahTneJnnui\g«n nicht bloße, Phantasi^bilder 
seien v« teil» •weil-es- ihm t selbst Bedürfnis ij9t , .;3ein *Ideal der 
Glücbseligkeit in Iden* Göttern 'Färwirklicht atizu^ohaaftQi i^ber 
den herröehendenVar«teUu»gen 'über die Götter- kanfn erisiöbrntir 
teilweise dn«chIieBen>vdeuen!über!ihr.Verbältni«iZur Welt trit^ 
Entschieden entgegen. .'£ine Vielheit von (^Ottern. aitnönt. 3 w;ä'^ 
aadh .jer>;Af\i ja» es Jstnd 'dören>fiäch; ihn], unzählige ^ und ^dafi 
sie rdi,e'' dejokbar ' schödele :G«PlEalt '/ die lUiendchUche^ rhabenj. 
beti^achtet !/er alsi&elbst^^stäiädUch. Aacb> den Geschlecbtsh 
untörscbi^d, .daa-Bjctdürfnisider UÄhrungiidift SpracHes, ^eJbat 
die; griechifeche Sprache, ^Jegt / er 'ihnen < bei; - * : Aber : d ie Seligkei t 
und- die {Imyergäniglichkeit. dßx Götter, ..di^se zwrei t Grurid-? 
bestiromungen seines Gt>ttesbegriffes, verlangen,» wie ^r glaubt; 
daß . fite ^8tatt .ui?öter..derbßnf/Leiblichk^it feine Lixshtleiber 
haberijundumit dieaen an den Internitindien v)vohnen , !*da:^9ie 
andernfaUÄ Wan deöi llnt^gatig^ dei: Welten v' in/ denen,, sie 
sich ' auf hielteliytniit betroffetf und «'durch rdi^ Aufsicht Äuf 
^esee >Sx5hiekBal in > ihrer .Seligkeit gefttärt vyürden. Ebenso 
Teülaögt.abei;; diese Seligkeit, daß;«ic^; nicht -mit? der SojrgiB 
fiir.Tdie ;Weltv*und;: die ./Mens^chen belastet, werden,'« die' det 
¥orsehung8glaitbe;'ihnen, auf bürdet; lund- noch !unßDtbebrlich"5i)R 
isiiJ' EiesjQi Annsthmefl lüi* diej6eintit$ruhe tdes; Measche^^vvdie 
keineh , gefebrlicherönr Fefnd; hat ak:die; Meiqung4\.daß ' hQher0. 
MäoKfe'c inCÜeu>;W!feltlaüf;;yngreifenw' V JEpikur ;^^i^^ r däher/> deü 
aa«ge8proch^ste.i:GsBgoer die^iesi Glaubeail ia .JQiiUr/ Gestalt; 
Dib.¥<)lfcRnäUgiön rweiftep nur^sauö derf:üiiy?iMenbeit:;wnd'^or 
allein Aar iPiorcht^ hierzulei^^i^J die «etpiapbeLl/eh^e -ypti .der 
y<^rs'ehung iiindi'de'm YierhlKngBiÄ wii4.)., w^^ er -glaubte nii^ht 
allein von der tatsächlichen Beschaffen hei t^ der, Wölt.i^id^rci 
legt, . sbnd^rn; iaie iat: Auch : fljoch itnostlö^er äls-rdie üog^'eim t- 
heiten >der 'Mythologie,:. 'Daß er die 'Men&ehheit ypn diesejur 
Wahn Vr;Veh; :4er autjl ihr^ lastendem Furcht^ vpr fdepr Götter^ 
(religio) , befreit hi4b^.> jWrd : wii' -^ein^n .y^^efbrern ;(«ii;ie iiUC^^ ;Ij^ 
62 C)ralg «seiii unsterbliches rVerdii^nst g^prie^ö, .ty^hreöd ,äj§ 



§ 7^. ^iktiw Äthik. '253 

zugleich 'seiri^ BVöftJiftigkeiit ^nd: VeinfeTeiltiahine air^ de^f^hw- 
rhömmlichen GötterveretouDg rökntenv i ■ -J V;- : :U ^ 

^ ' Wie EpJkurm »einer iPhysit 

alles Seiins erklärt hatte ,. so erklärt er in seiner fithik . die 
Individuen für den iZweck alles Tuns. Der Maßptal) (xäKciv) 
lür die Beurteilung der. Güter und Übel. ist unser Gefühl 
(TTo^Qg,. vgL Sr 247) ;, das einzige .unbedjingte ^Gat ist das, 

/wonach. alle lebenden . Wesen .streben, die Luat, das eiiijsige 
unbedingte Übel das, wjas alfc: fliehen, der Schmer^. Epikur 
hält daher; im allgemeinen luitArjstippos^) die Liist fü^das 
letzte Ziel unsres Tiins. Dabei handelt es jjich jedoch für 
ihn nicht um dJQ ^inzelne^ Lustempfindungeu als solche, 

^sondern um die Glückseligkeit des ganzen Lötens: nach 
ihrem Verhältnis zu dieser hat sich unser .Urteil über die 
einzelnen, Genüsse und Schmerzen zu richten. . Er glaubt 

■fei:ner, die eigentliche Bedeutung der Lust bestehe, nur in 
der Befriedigung eines Bedtii^fnisses und ^somit in der j^nt- 
ifernung einer Unlust; unser letzter Zweck sei nicht die 
positive. Lust^ sonderJi die Freiheit, von pchmerzen,: nicht .die 
Gemütsbewegjang, sondern die Gemütsruhe. Und da nun 

''" *) ÖuYAü La moraie d'Äpicure (1878; 2. Ausg. ISgl)! ' ' .' '^ ^^/'= 
*) [Daß Ep. in' tfeiüef tiustlebre' aft Äristippös (und' i^bm aucK an 
Eadoxos) anknüpfte, ist aHgeniein anerkannt; ' Daneben' abei^ ist er in^der 
'AnsgestlUtUng dieser r liehre.) ein^Ts^itfr, ; wie es scheint, '>v4^n' iPlaton-.und 
^rist9tdl^& (sr ,£fRoc?AKl> inivJovtmal dea-Savan^ 1904)f)b!e^inflaßt worden; 
andrerseits aber hat er auch auf diesem .Qebiejie von ,Demokrit^ ?ine fttJjir^e 
'Einwirkung erfahren, die ^ich nicht nur in ;5ahlreichen einzelnen Vorschpften 
uiid teilweise wörtlichen Anlehnungen,' sondern' auch b^r^gruhdlegelndek 
'Bestimmungen aeig^t ;' ft BifizEt Üntersi ' ». Cie. I 134 flf.^ üiid'; besi NAtoHP 
Ethi d.- Dem. 8; 127 ffi f'Däß auch In disr Kanönik.(s; .Hirzfel ebd.) Ep«!ih 
wichtigen Punklten, .und z^wt^j dorjch Vermittluiig des N^usiphanes, auf Dem. 
zurückgeht^ hat^Sup^^us: Rh, Mus.; • 1893 . S.. 321 .ff. aus Pbilodecns ßKetorik IX 
nachgewiesen. Hiexnac'h labt sjcK die ablehiiende iitellung, die Zeiler 
(Phil.* d. Ör.' in 1 S. 473 f/ Anriri. 1)' In dieser Frage einnimmt, nicht ,m^hr 
-ftufr^bht'e^tialt^ii.]' ■• ■'< •■•^•' '.•.■'''^'' '' -^^ '■ ■ '-- -" '- . .i •..!'". ; iV.'^<:' 



254 I>ritte Periode. 

deren wesentlichste Bedingung in ünserm Gemütszustand 
selbst liegt, hält Epikur die geistige Lust und Unlust für 
ungleich wichtiger als die körperliche. Denn so offen und 
schroff er es (trotz einzelner anders lautender Äußerungen) 
ausspricht, daß alle Lust und Unlust schließlich von körper- 
lichen Zuständen herrühre, so bemerkt er doch, auf den 
Körper wirkten nur die gegenwärtigen Genüsse und Schmerzen, 
auf die Seele dagegen auch die vergangenen und zukünftigen; 
und diese auf der Erinnerung, der Hoffnung oder der Furcht 
beruhenden Gefühle sind seiner Ansicht nach so viel stärker, 
daß er sich berechtigt glaubt, die Macht de& Geistes über 
körperliche Leiden ebenso unbedingt und mit derselben Über- 
treibung wie die Kyniker und die Stoiker zu rühmen ; denn 
die heftigsten Schmerzen seien von kurzer Dauer und 
machten unserem Leben schnell ein Ende, die minder hef- 
tigen ließen sich ertragen und durch überwiegende geistige 
Genüsise überwinden. 

Nur eine Bedingung der Gemütsruhe ist die Tugend; 
aber eine so unerläßliche Bedingung, daß auch nach Epikur 
di6 Glückseligkeit unzertrennlich an sie geknüpft ist, so 
wenig ihm auch sein System erlaubt, ihr einen selbständigen 
Wert beizulegen.. Die Einsicht befreit uns Von den Vor- 
urteilen, die uns beunruhigen, von leeren Einbildungen und 
Wünschen, sie lehrt uns die wahre Lebenskunst; die Selbst- 
beherrschung bewahrt uns durch das richtige Verhalten zu 
Lust und Unlust, die Tapferkeit durch Verachtung des Todes 
und der Schmerzen vor Leiden; der Gerechtigkeit haben wir 
es zu verdanken, daß keine Furcht vor Strafe unsre Gemüts- 
ruhe stört. Epikur selbst führte ein niusterhaftes Leben, 
und seine Aussprüche zeigen nicht selten eine Reinheit der 
Gesinnung und eine Richtigkeit des sittlichen Urteils» die 
über ihre ungenügende wissenschaftliche Begründung weit 
hinausgeht. Sein Ideal des Weisen kommt dem stoischen 
nahe genug: verlangt er von ihm auch weder die stoische 
Apathie noch den Verzicht auf Sinnengenuß, so läßt er ihn 
doch seine Begierden so vollständig beherrschen, daß sie ihn 



§ 76. Epikurs Ethik. 255 

nie zu etwas Verkehrtem verleiten; und er schildert ihn als 
so unabhängig von allem Äufieren, seine Grlückseligkeit als 
so vollkommen und seine Weisheit, als so unverlierbar , da6 
er von ihm so gut wie die Stoiker von dem ihrigen sagt, er 
wandle wie ein Gott unter den Mensehen, und er brauche 
selbst bei Wasser und Brot Zeus nicht zu beneiden. 

Diesem Ideal entsprechend gehen denn Epikurs Lebens- 
vorschriften an erster Stelle da,rauf aus, dem Einzelnen 
als solchen durch Befreiung von Vorurteilen und Beschrfln- 
kung der Begierden ein in sich befriedigtes und von der 
Außenwelt unabhängiges Dasein zu verschaflfen. Wie er 
selbst ungemein mäßig und genügsam lebte, so ermahnt er 
auch zur Genügsamkeit; denn selbst von den natürlichen 
Begierden gehe nur ein Teil auf Notwendiges, weitaus die 
meisten Begierden aber seien unnatürlich und eitel. Zu den 
letzteren rechnet Epikur namentlich das Streben nach Ruhm 
und Ehre. Eine Unterdrückung der sinnlichen Triebe ver- 
langt er allerdings nicht, und auch einen reicheren Lebens- 
genuß will er nicht verbieten; um so mehr dringt er aber 
darauf, daß man sich von diesen Dingen nicht abhän^gig 
mache: denn nicht darauf konime es an, daß man wenig 
gebrauche, sondern daß man wenig bedürfe. Selbst an das 
Leben soll sich der Mensch nicht unbedingt binden : Epikur 
gestattet ihm , sich durch freiwilligen Tod unerträglichen 
Leiden zu entziehen; er glaubte aber, dieser Fall werde nicht 
leicht eintreten. 

Schwerer wird es Epikur, unter seinen Voraussetzungen 
die! Notwendigkeit und Bedeutung des menschlichen Gl>e - 
jneinlebenß zu begründen. Sein System eröffnete) jbta 
hierfür nur einen Weg: die Erwägung der Vprteili^v Wel,(JJhe 
den Menschen aus ihrer Verbindung mit andern erwachsen; 
und diese selbst sucht der Philosoph, dem die Freiheit von 
Störungen das höchste Gut ist, ungleich mehr in dem Schutz 
vor Verletzungen als in der positiven Förderung der Ein- 
zelnen durch die sittliche Gemeinschaft. Dies gilt bei ihm 
vor allem vom Staate. Der Zweck aller Gesetze ist die 



256 Dritte l>eriodö. . 

Sichöjuiig- der Gesellschaft' gegefi das Ünfecht, -d^ssefl Uta: 
die fEinsichtigea- skh freiwillig y- in der Erkenntriik seiner 
'Schädlichkeit; önthaltörtjiiwährend^ die Masse der M^nischein 
durbbSti^afe' davon abgehalten werden -nru'ß. Diese Sicher- 
heit ^ti genießen, i ohne diaiiß ^man' dabei durch die ^ Mühe und 
Gefahr,^ welcher der> Staatsmann »sich »nicht entziehen kanä, 
in« seiner Rübe gestört wird, erscheint unserm Philosophen 
als das^ .Wünöchengwerteste. Er ömpfiehlt daher zwar Ge- 
horsam gegen die Gesetze/ da; man bei Gesetzesverletzung 
von 'der 'Furcht vor Strafe nie frei werde; aber er hält es 
für bessery sich dem' Staatslebent fernzuhalten^ -wenn ni<5ht be- 
^^oridere Umstäntle ' ein^ andres- verlangen:- «ein 'Wahlspfrüch 
ist d^s' Äa^e/Jt^aög/^Aucb^ gegen- das Pamilietale^^^^ und 
die Ehei äußert er Bedenken. Um so' lebhafter war beiihtii 
und seiner Schule der Sinn für Freunds<ihaft; und so 'dürftig 
-es'Äuch lautet, nv*enn er dieses Verhäliüis nur atif den Wei*t 
der gegenseitigeü ^ünterstütauiig • uftd ^ des ' daraus tervöif- 
^eheöd^n ' Sicherheitsgeftthls ^tt gründen -Weiiß, sö ging er 
doeh" tatsächlich- weit über diese ; Schranke - hiiiaüsj« "Die 
epjfcui^eischeri Freundschaften «indberühraft wie die pythagb- 
ireisöhern; und die angebliche Gütergemeinschaft der Pythagöreer 
verwarf fipikur nur deshaib, weil eine solche Eihrichtäüg 
unter Freunden entbehrlich sein müsse.' Indesseh hätte es 
seihen. Grundsätze*! nicht entsprochen, sich mit seinem Woht- 
^wollen auf *deh Kreis seiner persönlichett Freunde zu be- 
schränken; es wird vielmehr an ihm und an mahcheh 
^Männern ^Äus»^^ seiner Sehule überhaupt ein^ milder^ und 
menschenfreundlicher Sinn gerühmt; bei ihni selbst äußert 
sich dieser unter anderin in dem Sätze ^ daß es angenehmer 
seiy Wohltaten zu erweisen als zu empfangen. ' ^ 



§ 77. Pyrrhon und die Pyrrhoneer. 257 

III. Die Skepsis^). 

§ 77. Pyrrhon und die Pyrrhoneer. 

Noch etwas früher als die Begründung der stoischen 
und epikureichen Schule fällt die der pyrrhonischen , die 
jenen in ihrer praktischen Abzweckung nahesteht,- aber 
diesen Zweck nicht durch eine bestimmte wissnschaftliche 
Überzeugung, sondern umgekehrt durch den Verzicht aut 
jede solche Überzeugung zu erreichen sucht. Pyrrhon aus 
Elis hat wahrscheinlich die Lehren der elisch-megarischen 
Schule bereits kennen gelernt, als er mit Anaxarchos (S. 77) 
Alexanders Feldzug in die östlichen Länder mitmachte; 
durch ihn mag er auch mit Metrodors Zweifeln (S. 77) be- 
kannt geworden sein. Später begründete er in seiuör Vater- 
stadt, wo er in ärmlichen Verhältnissen, aber allgemein ver- 
ehrt, lebte, eine eigene Schule, die jedoch nur geringe Ver- 
breitung gewann. Er wurde gegen 90 Jahre alt und scheint 
am 275 v. Chr. gestorben zu sein. Schriften hatte er nicht 
hinterlassen; seine Lehre kannten schon die Alten nur aus 
denen seines Schülers Timon aus Phlius, der später in 
Athen lebte uud hier, gleichfalls fast 90 jährig, nach 241 
V. Chr. starb ^). 

Um glückselig zu leben , muß man sich nach Timon 
(Aristokles bei Eus. pr. ev. XIV, 18) dreierlei klarmachen: 
wie die Dinge beschaffen sind, wie wir uns zu ihnen ver- 
halten sollen, und welchen Gewinn dieses Verhalten uns 
bringt. 



*) HiRZEL Untersuch, zu Ciceros philos. Sehr. 111. 1883. Brocharü 
Les sceptiques grecs (1887). Raoul Richter Der Skeptizismus in d. Philos. 
Bd. I (1904). GoEDEOKEMEYER Die Gesch. d. griech. Skeptizismus (1905). 

") Nach einem Zeugnisse Philodems überlebte er Eleanthes (f 232; 
s. S. 220). Waohsmuth Sillogr. gr. reliquiae (1885) S. 13 setzt seinen Tod 
um 226. Seine Fragmente bei Wachsmuth und in Diels' Poet, philos. fr. 
S. 173 flf. 

Zeller, Grundriß. 17 



258 Dritte Periode. 

Auf die zwei ersten von diesen Fragen läfit sich nun 
nur antworten , dafi uns die Beschaffenheit der Dinge gänz- 
lich unbekannt ist, da die Wahrnehmung sie uns nicht so 
zeigt, wie sie sind, sondern nur, wie sie uns erscheinen, 
unsre Meinungen aber durchaus subjektiv sind; daß wir da- 
her nie etwas behaupten (ovdiv oqII^biv)^ nie sagen dürfen: 
^dies^ist so", sondern immer nur: „dies scheint mir so**, 
daß die Zurückhaltung des Urteils (iTtox^j, atpaaia^ maxa- 
Xtjipia) das allein richtige Verhalten zu den Dingen ist. 
Beobachten wir aber dieses Verhalten, so ergibt sich, wie 
Timon glaubt, von selbst die Ataraxie oder Apathie. Denn 
wer darauf verzichtet hat, von der Beschaffenheit der Dinge 
etwas zu wissen, der kann auch keinem einen höheren Wert 
beilegen als dem andern. Er wird nicht glauben, daß etwas 
an sich selbst gut oder schlecht sei, diese Begriffe vielmehr 
nur auf Gesetz und Herkommen zurückführen ; er wird, 
gegen alles andre gleichgültig, nur nach der richtigen Ge- 
mütsstimmung oder der Tugend trachten und so mit der 
Gemütsruhe auch die Glückseligkeit finden. Sofern er aber 
genötigt ist zu handeln, wird er der Wahrscheinlichkeit, der 
Natur und dem Herkommen folgen. In der wissenschaftlichen 
Begründung dieser Lehren scheint aber Pyrrhon nicht tiefer 
ins einzelne eingegangen zu sein: die zehn skeptischen 
Tropen, die Spätere ihm zuschreiben, gehören sicher erst 
Änesidemos (§ 89). Von Timon werden noch einige Schüler 
und von einem unter diesen ebenfalls ein Schüler genannt; 
dies waren aber auch die letzten Ausläufer der pyrrhonischen 
Skepsis; an ihre Stelle trat seit der Mitte des 3. Jahr- 
hunderts die akademische. 

§78. Die neuere Akademie. 
Der, welcher die Akademie auf diesen neuen Weg führte, 
war Arkesilaos aus Pitane inÄolien (315/4—241/0 v.Chr.), 
der Nachfolger des Krates (S. 162). Wir kennen seine 
Lehre nur unvollständig, und da er nichts geschrieben hatte, 
kannten sie auch schon die Alten nur aus dritter Hand. Er 



§ 78. Die neuere Akademie. 259 

bestritt, wie Cic. De orat. III, 67 sagt, die Möglichkeit, durch 
die Sinne oder den Verstand (sensibus aut animo) etwas zu 
erkennen; den Hauptgegenstand seiner Angriffe bildete aber 
Zenons Lehre von der begrifflichen Vorstellung. Ihr hielt 
er, neben einigen mehr formellen Bedenken, als Haupteinwurf 
entgegen, dafi es keine Vorstellungen gebe, die ein sicheres 
Merkmal ihrer Wahrheit an sich hätten, wie er dies in ver- 
schiedenerlei Wendungen näher nachzuweisen suchte. Auch 
die stoische Physik und Theologie scheint er bestritten zu 
haben. Er behauptete demnach mit Pyrrhon, daB uns nichts 
übrig bleibe als die Zurückhaltung des Urteils (^Ttoxri). Er 
selbst hielt diesen Standpunkt so streng ein, daB er auch 
jenen Grundsatz selbst nicht für ein Wissen ausgeben wollte. 
Um so unglaublicher ist die Behauptung einiger von unsern 
Zeugen, seine Skepsis habe ihm nur als Vorbereitung für 
den platonischen Dogmatismus dienen sollen. DaB nun aber 
mit dem Wissen auch die Möglichkeit des Handelns auf- . 
gegeben werden müsse, räumte er nicht ein; denn die Vor- 
stellung setze den Willen auch dann in Bewegung, wenn man 
sie nicht für ein Wissen halte, und um vernünftig zu 
handeln, genüge es, der Wahrscheinlichkeit (t6 &ü'koyov) zu 
folgen, die das höchste Kriterium für das praktische Leben 
bilde. 

Arkesilaos folgte auf dem Lehrstuhl Lakydes aus 
Kyrene. Dieser übergab (224/2 v. Chr.) die Schulführung 
noch vor seinem Tode den Phokäern Telekles und Euan- 
dros, denen Hegesinos (von Clemens Alex. Hegesilaos 
genannt) folgte. Indessen ist uns weder von diesen noch 
von den übrigen Akademikern, die aus dieser Zeit genannt 
werden, mehr bekannt als das Allgemeine, daB sie der von 
Arkesilaos eingeschlagenen Richtung treu blieben. Desto 
größer ist die Bedeutung des Kam ea des, welcher deshalb 
auch wohl der Stifter der dritten oder neuen Akademie ge- 
nannt wird, während Arkesilaos der der zweiten oder mittleren 
heißt, Philon und Antiochos (§ 81) die der vierten und 
fünften. Dieser scharfsinnige und gelehrte, auch durch die 

17* 



260 Dritte Periode. 

hinreifiende Gewalt seines Vortrags hervorragende Mann war 
224/2 V. Chr. in Eyrene geboren^ hatte das Amt des Schul- 
vorstehers wahrscheinlich vor 155, wo er mit der Philosophen- 
gesandtschaft (S. 200) nach Rom kam, angetreten, und be- 
kleidete es mit grofiem Ruhm und Erfolg bis zum Jahre 137, 
wo er es seinem gleichnamigen Verwandten übertrug; er starb 
129/8 V. Chr. Schriften hat er nicht hinterlassen; die Dar- 
stellung seiner Lehre war das Werk seiner Schüler, nament- 
lich des Kleitomachos. — Die Lehrtätigkeit des Karneades 
bezeichnet den Höhepunkt der akademischen Skepsis. Wenn 
Arkesilaos seine Angriffe vorzugsweise gegen die stoische 
Lehre vom Kriterium gerichtet hatte, behandelte zwar auch 
Karneades die Stoiker, die angesehensten Dogmatiker der 
Zeit, als seine Hauptgegner; aber er untersuchte die Frage 
über die Möglichkeit des Wissens allgemeiner und unterwarf 
die Ansichten der verschiedenen Philosophen einer um- 
fassenderen und tiefer ins einzelne eingehenden Kritik als 
seine Vorgänger, während er zugleich die Grade und Be- 
dingungen der Wahrscheinlichkeit genauer bestimmte. Er 
fragte zunächst im aDgemeinen, ob überhaupt ein Wissen 
möglich sei, und er glaubte dies schon deshalb verneinen zu 
dürfen, weil es (wie er des näheren nachwies) keine Art der 
Überzeugung gebe, die uns nie täuschte, keine wahre Vor- 
stellung, der nicht falsche ununterscheidbar ähnlich wären, 
also kein Kriterium der Wahrheit im Sinne der stoischen 
„begrifflichen Vorstellung". Er leugnete ebenso die Möglich- 
keit einer Beweisführung, teils weil diese selbst nur durch 
Beweise, also durch eine petitio principii dargetan werden 
könnte, teils weil die Prämissen der Beweise wieder bewiesen 
werden müßten und so ins unendliche. Er ging ferner auf 
den Inhalt der philosophischen Systeme näher ein, und er 
bekämpfte namentlich die stoische Theologie nach allen Seiten. 
Wenn die Stoiker das Dasein Gottes aus der zweckmäßigen 
Einrichtung der Welt erschlossen, so bestritt Elarneades 
ebenso die Zulässigkeit dieses Schlusses wie die Richtigkeit 
seiner Voraussetzung, der er die vielen Übel in der Welt 



§ 78. Die neuere Akademie. 261 

entgegenhielt. Er griff aber auch den Gottesbegriff selbst an, 
indem er (unsers Wissens zuerst) scharfsinnig zu zeigen suchte, 
daß man sich die Gottheit nicht als ein lebendes, vernünftiges 
Wesen (^^ov Xoyiycov) denken könne, ohne ihr Eigenschaften 
und Zustände beizulegen, die ihrer Ewigkeit und Vollkommen- 
heit widerstreiten; um seine Kritik des Polytheismus und 
seine Angriffe auf den stoischen Weissagungsglauben, mit 
denen auch seine Bestreitung des stoischen Determinismus 
zusammenhängt, hier nur zu berühren. Noch größeren Ein- 
druck scheint jene Kritik der sittlichen Begriffe gemacht zu 
haben, von der seine beiden Vorträge in Rom, für und gegen 
die Gerechtigkeit, eine Probe gaben, und für die er, nach 
dem Vorgang der Sophisten, besonders den Gegensatz des 
natürlichen und des positiven Rechts benützte. Wir sind 
freilich über diese Kritik nur unvollständig unterrichtet, wie 
uns denn überhaupt die Berichte über Karneades durchaus 
kein erschöpfendes Bild seiner wissenschaftlichen Tätigkeit 
liefern. Das Endergebnis seiner skeptischen Ausführungen 
war natürlich das längst ausgesprochene: die absolute Un- 
möglichkeit des Wissens, die Forderung einer unbedingten 
Zurückhaltung des Urteils. Hatten aber schon die früheren 
Skeptiker wenigstens die Wahrscheinlichkeit als Norm 
für unser praktisches Verhalten anerkannt, so verfolgte 
Karneades diesen Gedanken noch weiter. Er unterschied 
nämlich drei Grade der Wahrscheinlichkeit, von denen wir 
einen möglichst hohen zu gewinnen bei jeder Frage uns um 
so mehr bemühen müssen, je wichtiger sie für unsre Glück- 
seligkeit ist. Von den wahrscheinlichen Vorstellungen, sagte 
er, seien die einen für sich genommen wahrscheinlich, bei 
andern werde ihre Wahrscheinlichkeit durch die aller mit 
ihnen verbundenen verstärkt, bei einer dritten Klasse bestätigt 
die Untersuchung diesen Eindruck auch in betreff der letzteren 
selbst (die q)avxaaLa ni^avi] [wahrscheinlich], die gp. Ttid^avt^ 
xal aneqiaTtaazog [unwidersprochen], und die y. Ttc&avri ytal 
ccTcegianaaTog xat TceQKodeivfievrj [geprüft]). Die Merkmale, 
nach denen die Wahrscheinlichkeit zu beurteilen ist, scheint 



262 Dritte Periode. 

Karneades auch im einzelnen näher untersucht zu haben. 
Wie er von diesem Standpunkt aus die Fragen der Ethik 
behandelte, läßt sich nicht genau feststellen; das Wahr- 
scheinlichste ist aber, daß er (natürlich unter Vorbehalt der 
skeptischen inox^) ^^ ^^^ altakademischen Grundsatz des 
naturgemäßen Lebens festhielt und gerade in dem Streben 
nach den natürlichen Gütern die Tugend fand. 

Nach dem jüngeren Karneades (S. 260) leitete die Akademie 
kurze Zeit Krates aus Tarsos. Auf ihn folgte 129/8 der 
ausgezeichnetste Schüler des großen Karneades, der Kar- 
thager Kleitomachos, der 187/6 geboren wurde und 
110/9 starb. Über dessen Nachfolger vgl. § 81. 



Zweiter Abschnitt. 

Eklektizismus, erneuerte Skepsis, Vorläufer 
des Neiftplatonismus. 



I. Eklektizismus. 

§ 79. Seine Entstellungsgründe und sein 
Charakter. 

So lebhaft auch die Philosophenschulen der nacharisto- 
telischen Zeit sich bestritten, so natürlich war es doch, daß 
sich im Laufe der Jahre ihre Gegensätze abstumpften und 
die Verwandtschaft, die trotz dieser Gegensätze zwischen der 
akademischen, peripatetischen und stoischen Schule schon von 
Hause aus bestand, bestimmter zum Bewußtsein kam. Von 
entscheidender Bedeutung waren aber liierfür zwei gleich- 
zeitig einwirkende Momente: der Erfolg, welchen die aka- 
demische Skepsis durch Karneades gewann, und die Ver- 
bindung, in die Griechenland mit Rom trat. Je nachhaltiger 
der Glaube der dogmatischen Schulen an die Unwiderlegbar- 
keit ihrer Lehren durch die eindringende Kritik des Karneades 



§ 79. Eklektizismus: Entstehungsgründc und Cfaarakter. 263 

erschüttert worden war, um so geneigter mußten sie werden, 
von den Unterscheidungslehren, die so vielen Einwürfen aus- 
gesetzt waren, sich auf die Überzeugungen zurückzuziehen, 
über die man sich im wesentlichen verständigen konnte, und 
die auch der Kritiker selbst als Normen des praktischen Ver- 
haltens anerkannte und somit in der Hauptsache für aus- 
reichend gelten ließ. Je stärker andrerseits bei Karneades 
selbst in der Ausbildung seiner Wahrscheinlichkeitslehre das 
Bedürfnis zum Ausdruck gekommen war, sich solche prak- 
tische Normen zu sichern, um so leichter konnte auch seine 
Schule, indem sie die gleiche Richtung weiter verfolgte, dazu 
kommen, dafi sie auf diesen Teil seiner Lehre das Haupt- 
gewicht legte und dadurch von der Skepsis mehr und mehr 
abkam, indem das, was ihm nur ein Wahrscheinliches ge- 
wesen war, mit der Zeit die Bedeutung eines sicher Gewußten 
erhielt. In dem gleichen Sinne wirkte aber auch der römische 
Geist, der jetzt auf die griechische Wissenschaft Einfluß zu 
gewinnen begann. Seit der Eroberung Makedoniens durch 
die Römer (168) war Griechenland tatsächlich, was es auch 
formell immer mehr wurde, ein Teil des römischen Reiches ; 
und bald entwickelte sich zwischen Griechenland und Rom, 
von einem Flaminius, Ämilius Paulus, Scipio Ämilianus und 
seinen Freunden gefördert, ein wissenschaftlicher Verkehr, 
der griechische Lehrer nach Rom und junge Römer in immer 
größerer Zahl in die Philosophenschulen von Athen und von 
andern griechischen Städten führte. Noch nachhaltiger als 
das Erscheinen der Philosophengesandtschafl: (S. 216. 260) 
wirkte Panätios' (§ 80) Aufenthalt in Rom nebst der gleich- 
zeitigen Verbreitung des Epikureismus unter den Römern 
(s. S. 245), und seit dem Anfang des letzten vorchristlichen 
Jahrhunderts galt die griechische Philosophie dort für einen 
unentbehrlichen Bestandteil der höheren Bildung. Waren nun 
hierbei auch die Griechen zunächst die Lehrer, die Römer 
die Schüler, so war es doch natürlich, daß jene sich mehr 
oder weniger dem Bedürfnis ihrer vornehmen und einfluß- 
reichen Zuhörer anbequemten, und daß sie im Verkehr mit 



264 Dritte Periode. 

der römischen Welt selbst auch von dem Geiste, der diese 
Welt geschaffen hatte, berührt wurden. Diesem Geist aber 
entsprach es, jede Ansicht mehr nach ihrem Wert fürs prak- 
tische Leben als nach ihrer wissenschaftlichen Haltbarkeit zu 
beurteilen; und so mußten auch diese Verhältnisse dazu bei- 
tragen, die Neigung zu einer Verschmelzung der philosophi- 
schen Schulen, einer Zurückstellung ihrer Unterscheidungs- 
lehren, einer Hervorhebung des Gemeinsamen, namentlich in 
den praktisch wichtigen Punkten, zu nähren. Um aber aus 
den verschiedenen und nicht unmittelbar vereinbarten An- 
sichten das Wahre oder Wahrscheinliche auswählen zu können, 
mußte man einen Maßstab dafür schon mitbringen; und so 
wurde man schließlich auf gewisse Oberzeugungen geführt, 
die dem Menschen, wie man annahm, vor jeder Beweisführung 
feststehen und diese ihre Wahrheit durch die allgemeine An- 
erkennung, den consensus gentiumj bewähren. 

Dieser Eklektizismus kommt nun zuerst in der stoischen 
Schule zum Vorschein ; in noch höherem Grade bemächtigt er 
sich in der Folge der akademischen; und auch in der peri- 
patetischen findet er Eingang. Dagegen läßt sich bei den 
Epikureern dieser Zeit keine einigermaßen eingreifende Ab- 
weichung von der Lehre ihres Stifters nachweisen, wenn 
auch immerhin Zenon der Sidonier bei Earneades, den er 
neben ApoUodor gehört hatte, sich ein dialektischeres Ver- 
fahren angeeignet haben mag, als es sonst in der Schule üb- 
lich war. Daß aber der Arzt Asklepiades aus Bithynien 
(um 100 — 50 V. Chr.) an die Stelle der Atome mit Herakleides 
(S. 161 f.) Urkörperchen , avagfioi oyxoi, setzte, die durch 
ihren Zusammenstoß zersplittert sein sollten, ist um so un- 
erheblicher, da er der epikureischen Schule zwar nahe steht, 
aber nicht zu ihr gehörte. 



§ 80. Boethos, Panätios, Poseidonios. 265 

§ 80. Die Stoiker: Boethos, Panätios, Posei- 
donios^). 

War auch das stoische Lehrsystem durch Chrysippos zu 
seiner relativen Vollendung gekommen, so schlössen sich doch 
die Stoiker in der Lehre ihrer Schule nicht so streng ab, 
dafi sich nicht Einzelne Abweichungen von ihr erlaubt 
hätten, zu denen teils der Einfluß der älteren Systeme, teils 
der Wunsch Anlaß geben konnte, den Einwendungen ihrer 
Gegner und vor allem der einschneidenden Kritik des Ear- 
neades zu begegnen. Schon Chrysippos' Nachfolger, Zenon 
von Tarsos, soll sich über die Lehre von der Weltverbrennung 
zweifelnd geäußert haben; ebenso Diogenes von Seleukeia 
in seinen letzten Jahren, vielleicht weil er Boethos' und 
Panätios' Einwürfe nicht zu lösen wußte. Viel weiter ent- 
fernten sich aber diese zwei Schüler des Diogenes von der 
altstoischen Lehre. Der Sidonier Boethos (f 119 v. Chr.) 
wich nicht bloß in der Erkenntnistheorie von ihr ab, indem 
er neben der Wahrnehmung auch Vernunft (vovg), Wissen- 
schaft und Begierde als Kriterien bezeichnete, sondern er 
dachte sich auch die Gottheit, wiewohl er sie mit seiner 
Schule dem Äther gleichsetzte, substantiell von der Welt 
getrennt, und er wollte demgemäß die Welt nicht für ein 
beseeltes Wesen gelten lassen; nur ein Zusammenwirken der 
Gottheit mit den Dingen nahm er an; und im Zusammen- 
hang mit dieser Mittelstellung zwischen Zenon und Aristoteles 
bestritt er die von dem ersteren gelehrte Weltverbrennung ein- 
gehend, um die Ewigkeit der Welt an ihre Stelle zu setzen. — 
Größeren Einfluß hatte aber auf die stoische Schule Panä- 
tios aus Rhodos (annähernd zwischen 180 und 110 v.Chr. 
zu setzen), der Nachfolger des Antipatros in Athen und zu- 
gleich der Hauptbegründer des römischen Stoizismus, der 
Freund des jüngeren Scipio Africanus und des Lälius, der 



') HiRZEL Untersuch, zu Ciceros philos. Sehr. II. 1882. Schmkkkl 
Die mittlere Stoa. 1892. 



266 T>nite Periode. 

Lehrer des Q. Mueius Scävola, L. Älius Stilo und andrer 
römischer Stoiker. Dieser Mann, der die Unabhängigkeit 
seines Urteils auch in der literarischen und historischen Kritik 
bewährte y war ein ausgesprochener Bewunderer des Piaton 
und Aristoteles; dafi er auch ihrer Lehre einen Einflufi aut 
die seinige .verstattete, lag um so näher, da er die stoische 
Philosophie vorzugsweise nach der praktischen Seite und 
nicht bloß in der strengeren Form der Schule behandelt zu 
haben scheint, wie dies unter anderm sein Werk über das 
Geziemende (tt. TLa&ijxovzog) ^ das Vorbild des ciceronischen 
De officiis, zeigt. Er bestritt mit Boethos den Untergang 
und wahrscheinlich auch die Entstehung der Welt, leugnete 
die Fortdauer der Seele nach dem Tode, unterschied in ihr 
mit Aristoteles den vegetabilischen Teil {(pvaig) von dem ani- 
malischen (ifwxt^) und von beiden die Vernunft etwas schärfer, 
als dies die Älteren getan hatten. Daß er in der Ethik den 
altstoischen Grundsätzen widersprach, ist nicht anzunehmen, 
wenn er auch immerhin die Punkte, in denen die Stoa vom 
Kynismus abwich und sich mit Piaton und Aristoteles be- 
rührte, stärker betont zu haben scheint, von Aristoteles die 
Unterscheidung der theoretischen und der praktischen Tugend 
übernahm und in der Behandlung der letzteren sich teilweise 
an ihn anschloß. Dagegen wiederholte er die Zweifel des 
Karneades gegen die Mantik, und machte von der Unter- 
scheidung einer dreifachen Theologie (S. 244), wenn er sie 
auch vielleicht nicht zuerst aufgebracht hat, jedenfalls eine 
freiere Anwendung, als dies bis dahin bei den Stoikern üb- 
lich war, 

Panätios' berühmtester Schüler ist der gelehrte Po sei - 
donios aus Apamea, der um 51 v. Chr. 84jährig als Vor- 
steher einer vielbesuchten Schule in Rhodos*) starb; nächst 
ihm der Rhodier Hekaton; seine Nachfolger in Athen 
waren (gleichzeitig) Mnesarchos und Dardanos, der 



') Hier hörte ihn u. a. auch Cicero, der seine Schriften vielfach und 
besonders in De uat. deor. II sein Buch n. &€tSv benutzt hat. 



§ 80. Boethos, Panätios, Poseidonios. 267 

ihrige, wie es scheint, Apollodoros aus Athen (von dem 
gleichnamigen Chronographen zu unterscheiden). Genauer 
bekannt ist uns aber nur Poseidonios, der nicht nur als 
Philosoph, sondern auch als gelehrter Forscher — er um- 
spannte das gesamte Wissen seiner Zeit — und durch seinen 
glänzenden, oft schwungvollen Stil einen nachhaltigen Ein- 
fluß ausübte. Er hielt einerseits die Überlieferung seiner 
Schule bei manchen Punkten strenger fest als Panätios; er 
verteidigte die Weltverbrennung, die Fortdauer der Seele 
nach dem Tode, die Existenz von Dämonen, und nahm den 
stoischen Weissagungsaberglauben seinem vollen Umfang nach 
in Schutz. Andrerseits teilte er aber Panätios' Bewunderung 
für Piaton, und um den von den Stoikern so stark betonten 
Gegensatz der Vernunft und der Affekte psychologisch zu 
begründen, wies er die letzteren mit Piaton (s. S. 147) dem 
Mut und der Begierde zu, die zwar keine besonderen Teile, 
aber doch besondere, von der Beschaffenheit des Leibes ab- 
hängige Kräfte der Seele sein sollten, während er der Ver- 
nunft mit Piaton außer der Unsterblichkeit auch Präexistenz 
beigelegt zu haben scheint; Abweichungen von dem älteren 
Stoizismus, die für die Folgezeit nicht ohne Bedeutung sind. 
Auch in der Ethik trat er, wie Panätios, den Akademikern 
und Peripatetikern näher. 

Noch viele weitere Stoiker aus dem ersten Jahrhundert 
v.Chr. sind uns bekannt; so Dionysios, der 50 v. Chr., 
vielleicht als Scholarch, in Athen lebte, Jason, der Enkel 
und Nachfolger des Poseidonios, die beiden Athenodoros 
aus Tarsos, von denen der eine (der Sohn Sandons)* Lehrer 
Augusts war, der Astronom Geminus, ein Schüler des 
Poseidonios, Cato Uticensis, der Geograph Strabon (unter 
Augustus und Tiberius) u. a. Indessen haben sich von keinem 
dieser Männer philosophische Schriften oder größere Bruch- 
stücke solcher Schriften erhalten als von Areios Didymos 
(S. 270). Gerade dieser letztere liefert aber ein weiteres 
Beispiel für den Anklang, welchen die eklektische Neigung 
der Zeit auch in der stoischen Schule gefunden hatte. 



268 Dritte Periode. 



§ 81. Die Akademiker des letzten Jahr- 
hnnderts v. Chr. 

Der Hauptsitz dieses Eklektizismus war jedoch die aka- 
demische Schule. Schon unter den persönlichen Schülern des 
Karneades gaben einzelne, wie Metrodoros von Stratonike, 
Äschines und wohl auch Charmidas, die absolute Un- 
erkennbarkeit der Dinge auf. Bestimmter tat dies (wenigstens 
in seinen späteren Jahren) Kleitomachos' (s. S. 262) Schüler 
und Nachfolger P h i 1 o n aus Larissa (der 160/59 v. Chr. ge- 
boren wurde, sich 88 nach Rom flüchtete, wo er Ciceros 
Lehrer war und vor 79 starb). Wer so, wie er, der Philo- 
sophie nicht bloß überhaupt die Aufgabe stellte, dem Menschen 
den Weg zur Glückseligkeit zu zeigen, sondern dies auch 
durch eine ausführliche ethische Theorie, durch Bekämpfung 
falscher und Mitteilung richtiger sittlicher Ansichten erreichen 
wollte (Stob. Ekl. II, 7, 2 S. 39, 20 ff. W.), wer die iftoxvy 
welche Karneades auch in der Ethik nicht aufgegeben hatte, 
hier so weit außer acht ließ, der konnte konsequenterweise 
nicht auf einem Standpunkt stehen bleiben, welcher die Wahr- 
heit aller Überzeugungen in Frage stellt. Wiewohl er daher 
die stoische Lehre vom Kriterium mit Karneades bestritt und 
ein absolut sicheres Wissen, ein Begreifen der Dinge im 
Sinne der stoischen „begrifflichen Vorstellung" für unmöglich 
hielt, wollte er doch nicht jede Erkennbarkeit der Dinge 
leugnen, und er behauptete, auch Arkesilaos und Karneades 
hätten .nicht die Absicht gehabt, sie zu leugnen; denn es 
gebe eine Augenscheinlichkeit (ivagyeLo), die eine vollkommen 
feste und den Forscher befriedigende Überzeugung bewirke, 
wenn sie auch die unbedingte Gewißheit des Begriffs nicht 
erreiche ^). Er suchte also ein Mittleres zwischen der bloßen 
Wahrscheinlichkeit und dem Wissen. 



^) Karneades bestreitet noch die Mgyeia, die bei ihm der xatK- 
XriipiS gleich ist (Cic. Acad. II, 99). 



§ 81. Die Akademiker des letzten Jahrh. v. Chr. 269 

Die Unhaltbarkeit dieser Mittelstellung erkannte Philons 
Nachfolger An tiochos von Askalon (gest. 68 v.Chr.), der 
neben Philon auch den Stoiker Mnesarchos gehört hatte und 
wegen seines Widerspruchs gegen die neuakademische Lehre 
schließlich mit Philon in Streit kam. Durch diesen Aka- 
demiker, den Freund des Lucullus, dessen Unterricht auch 
Cicero in Athen genoß, ist die Akademie definitiv von der 
Skepsis zum Eklektizismus übergeführt worden. Hatte Philon 
noch daran festgehalten, daß es nichts absolut Gewisses gebe, 
so kehrte Antiochos zu der Behauptung eines solchen und 
ebendamit zum ausgesprochenen Dogmatismus zurück. Unter 
seinen Einwürfen gegen die Skepsis hatte für ihn unverkenn- 
bar, wie für die Stoiker, die Erwägung, daß ohne eine feste 
Überzeugung keine vernünftige Lebensführung möglich sei, 
ein besonderes Gewicht. Indessen bekämpfte er sie auch mit 
wissenschaftlichen Gründen, wenn er ausführte : ohne Wahr- 
heit gebe es auch keine Wahrscheinlichkeit und vollends 
keine Augenscheinlichkeit; es sei ein Widerspruch, zu be- 
haupten, daß sich nichts behaupten, zu beweisen, daß sich 
nichts beweisen lasse; man könnte nicht von falschen Vor- 
stellungen reden, wenn man den Unterschied von wahr und 
falsch leugne usw. Fragt man aber, wo denn nun die Wahr- 
heit zu suchen sei, so antwortet Antiochos: in dem, worüber 
alle achtungswerten Philosophen einverstanden sind ; und um 
zu beweisen, daß diese Übereinstimmung bei allen wichtigeren 
Fragen tatsächlich vorhanden sei, gab er eine Darstellung 
des akademischen, peripatetischen und stoischen Systems, die 
zeigen sollte, daß diese drei Schulen mehr nur in Neben- 
punkten und im Ausdruck als im wesentlichen voneinander 
abweichen, bei der es aber freilich ohne starke Ungenauig- 
keiten nicht abgehen konnte. Ihm selbst lag dabei am meisten 
an der Ethik ; und in dieser suchte er einen Mittelweg zwischen 
Zenon, Aristoteles und Piaton, wenn er z. B. sagte, die Tugend 
genüge zwar zur Glückseligkeit, aber zu ihrer höchsten Stufe 
seien auch die leiblichen und äußeren Güter erforderlich. 
Ihm selbst wird vorgeworfen, er nenne sich zwar einen Aka- 



270 Dritte Periode. 

demiker, sei aber mehr Stoiker; in Wahrheit ist er keines 
von beiden^ sondern eben nur Eklektiker. 

Diese Denkweise erhielt sieb, wie Cicero (Acad. II, 11) 
und Änesidemos (bei Phot. Cod. 212, S. 170, 14) bezeugen, 
auch nach Antiochos' Tod als die herrschende in der Aka- 
demie, der in Athen bis nach 51 v. Chr. Antiochos' Bruder 
Aristos, dann, wie es scheint, Theomnestos vorstand; 
nur daß sich mit ihr bald die (§ 92 zu besprechende) Vor- 
liebe für pythagoreische Spekulationen verband, der wir schon 
gegen das Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts bei 
dem eklektischen , in der Ethik stoisierenden E u d o r o s , 
etwas später bei Thrasyllos (gest. 36 n. Chr.) begegnen. 
Areios Didymos, der Lehrer des Augustus^), rechnete 
sich zwar zur stoischen Schule ; aber die uns erhaltenen Teile 
eines Werkes, das eine Übersicht über die wichtigeren philo- 
sophischen Systeme gab, sind so ganz im Sinne des gleich- 
zeitigen Eklektizismus gehalten, daß sich der Stoiker und 
der Akademiker nur dem Namen nach unterscheiden. 

Als einen Zeitgenossen des Augustus bezeichnet Suidas 
(Ilotdfi.) auch den Alexandriner Potambn^). Dieser Philo- 
soph nannte seine Schule selbst die eklektische. Was 
über seine Lehre mitgeteilt wird, eine oberflächliche Ver- 
knüpfung fremder Gedanken, erinnert am meisten an An- 
tiochos. 

§ 82. Die peripatetische Schule. 

Weniger verbreitet war dieser Eklektizismus bei den 
gleichzeitigen Peripatetikern. Andronikos aus Rhodos, 
der um 70 — 50 v. Chr. an der Spitze der peripatetischen 
Schule in Athen stand, gab durch seine, nach Plutarch mit 



^) Über die drei letztgenannten vgl. auch S. 8. 

*) Suidas hat diese Notiz wahrscheinlich aus Diog. prosem. 21 ent- 
nommen, wo die Worte nQo oXiyov sich nicht auf die Zeit des Diogenes 
selbst beziehen, sondern auf die seines Gewährsmannes; s. Gebcke D. qui- 
busd. Laertii Diog. auct. S. 8 ff. 57. 



§ 82. Die peripatetische Schule. 271 

des Grammatikers Tyrannion Hilfe veranstaltete Ausgabe 
der aristotelischen Lehrschriften (S. 165. 172), seine Unter- 
suchungen über ihre Echtheit und seine Kommentare über 
mehrere von ihnen den Anstoß zu jenem eifrigen Studium 
des Aristoteles, dem sich die peripatetische Schule von da 
an widmete. Diese Beschäftigung mit den Schriften ihres 
Stifters mußte aber bewirken, daß man diesem nicht so leicht 
Ansichten, die ihm fremd waren, unterschob. Indessen ver- 
zichtete weder Andronikos noch sein Schüler Boethos aus 
Sidon (der in seiner Bestreitung der Unsterblichkeit wie in 
anderen Punkten eine naturalistische Auffassung der peri- 
patetischen Lehre vertritt) Aristoteles gegenüber auf sein 
eigenes Urteil; ebenso bekämpfte Xenarchos (unter 
Augustus) die aristotelische Lehre vom Äther. Staseas 
aus Neapel (erstes Drittel des 1. Jahrh. v. Chr.), Ariston 
aus Alexandrien und Kratippos, die aus Antiochos' Schule 
zur peripatetischen übertraten, Nikolaos aus Damaskos 
(um 64 V. Chr. geb.) u. a. sind uns als Philosophen nicht 
näher bekannt; wer der Peripatetiker war, der (um 50 v. Chr.) 
in einer uns nur durch Philon in jüdischer Bearbeitung er- 
haltenen Schrift ^) die Ewigkeit der Welt verteidigte, wissen 
wir nicht. 

Daß es indessen unter den Peripatetikern einzelne gab, 
die Fremdartiges in die aristotelische Lehre aufzunehmen 
bereit waren, zeigen zwei Stücke unsrer aristotelischen 
Schriftsammlung: das Buch von der Welt und die kleine 
Abhandlung von den Tugenden und Fehlern. Die letztere 
(vgl. S. 169) steht der platonischen Tugendlehre noch näher 
als der aristotelischen, scheint aber doch von einem Peri- 
patetiker herzustammen. Das Buch von der Welt (vgl. 
S. 167)^) ist sicher das Werk eines Peripatetikers , welcher 



^) Die früher bezweifelte Echtheit der philonischen Schrift n. aif&aQ" 
alg xoOfAOv ist jetzt durch Cunant in seiner Aasgabe (1891) nachgewiesen. 

«) Worüber Phil. d. Gr. HI 1 , 631 ff. Sitzungsber. d. Berl. Akad. 
1885, 8. 399 ff. [Nach Capelle N. Jahrb. f d. kl. Alt. 1905 S. 529 ff. hat 



272 Dritte Periode. 

jedenfalls nach Poseidonios schrieb, dessen Meteorologie er 
ausgiebig benützt hat. Ihr Hauptzweck liegt in der Absicht, 
den aristotelischen Theismus mit dem stoischen Pantheismus 
durch die Annahme zu verknüpfen, daß Gott zwar seinem 
Wesen nach außer der Welt und viel zu erhaben sei, um 
sich mit dem einzelnen in ihr zu beschäftigen, dafi er da- 
gegen das Ganze mit seiner Kraft und Wirkung erfülle und 
insofern jene Prädikate, welche die Stoiker ihm beizulegen 
pflegten, ihm im wesentlichen zukommen. Ebendamit seien 
aber auch ein Piaton, Heraklit und Orpheus einverstanden. 

§ 83. Cicero, Varro, die Sextier. 

In eigentümlicher Weise kommt der Eklektizismus des 
letzten Jahrhunderts v. Chr. in den römischen Philosophen 
dieser Zeit zum Ausdruck. Der unter ihnen, dessen ge- 
schichtliche Wirkung alle andern weit überragt, ist 
M. Tullius Cicero 106—43 v. Chr.)*). Aber er ver- 
dankt diesen Erfolg nicht der Schärfe und Selbständigkeit 
seines eigenen Denkens, sondern lediglich der Gewandtheit, 
mit der er die Lehren der Griechen, so oberflächlich auch 
seine Bekanntschaft mit ihnen ist, der lateinisch redenden 
Mit- und Nachwelt doch in klarer und verständiger Dar- 
stellung zu überliefern verstand. Cicero rechnet sich selbst 
zu der neuakademischen Schule und folgt ihr gern in dem 
Verfahren, das Für und Wider ohne eine abschliefiende 
Entscheidung zu erörtern. Indessen liegt das Hauptmotiv 
seiner Skepsis weniger in den wissenschaftlichen Gründen, 
die er von den Akademikern borgt, als in dem Widerstreit 
der philosophischen Autoritäten, und so ist ihr von Hause 

der Verfasser dieses Buches, ein Eklektiker aus der 1. Hälfte des zweiten 
Jahrhunderts n. Chr. noch andere Schriften des Poseidonios {n. O-edSv und 
vielleicht auch n. xoafjLOv) henutzt und dessen Gedanken über Gott und 
Welt wiederf^egeben.] 

1) S. HiBZEL Unters, z. Cics philos. Sehr. 3 Tle. 1877/83. Sohmekel 
Die Philos. d. mittleren Stoa S. 18 ff. 



§ 83. Cicero, Varro, die Sextier. 273 

aus die Neigung eingepflanzt, von dem Zweifel in demselben 
Maße zurückzutreten, wie dieser Anstoß sich beseitigen läßt. 
Glaubt er daher auch auf ein Wissen in vollem Sinn ver- 
zichten zu müssen, so gewinnt doch die Wahrscheinlichkeit 
für ihn eine höhere Bedeutung als für Earneades ; und über 
die Dinge, an denen ihm am meisten gelegen ist, über die 
sittlichen Grundsätze und die mit ihnen zusammenhängenden 
theologischen und anthropologischen Fragen spricht er mit 
großer Entschiedenheit, überzeugt, daß uns richtige Begriffe 
hierüber von der Natur eingepflanzt seien, unmittelbar aus 
unserm eigenen Bewußtsein geschöpft und durch die all- 
gemeine Übereinstimmung bewährt werden können. Die 
Ansichten selbst, die er auf dieser Grundlage gewinnt, sind 
weder originell noch frei von Schwankungen. So entschieden 
er in der Ethik dem Epikureismus entgegentritt, so wenig 
findet er doch zwischen der stoischen und der akademisch - 
peripatetischen Lehre einen festen Standpunkt, und während 
er in der Erhabenheit der stoischen Grundsätze sich gefällt, 
kann er doch die von ihr unzertrennlichen Einseitigkeiten 
nicht gutheißen. In der Theologie liegt ihm der Glaube an 
das Dasein und die Vorsehung Gottes, in der Psychologie 
der an die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des 
Willens ernstlich am Herzen; aber über das Wesen Gottes 
und unsers Geistes getraut er sich nicht bestimmt zu ent- 
scheiden, und wenn er sich im allgemeinen auf die Seite des 
platonischen Spiritualismus stellt, kann er sich doch auch 
dem Einfluß des stoischen Materialismus nicht immer ent- 
ziehen. Zur Volksreligion als solcher hat er kein inneres 
Verhältnis, aber im Interesse des Gemeinwesens will er sie, 
unter möglichster Beseitigung des Aberglaubens, aufrecht- 
erhalten wissen. 

Cicero steht sein Freund M. Terentius Varro (116 
bis 27 V. Chr.) nahe, der übrigens weit mehr Gelehrter als 
Philosoph war. Ein Schüler des Antiochos, den er bei Cicero 
(Acad. post.) zu vertreten hat, folgt er (b. Augustin Civ. D. 
XIX, 1 — 3) in der Ethik, die ihm weitaus der wichtigste 

Zeller, QrundriA. 18 



274 Dritte Periode. 

Teil der Philosophie ist, ganz seinem Vorgang , nähert sich 
aber mit ihm auch vielfach den Stoikern und so auch dem 
stoischen Materialismus. Noch enger schliefit er sich in der 
Theologie an die Stoiker und im besonderen an Panätios an : 
er beschreibt mit ihnen die Gottheit als die Seele der Welt 
und läBt in den Göttern des Polytheismus die Kräfte dieser 
Seele verehrt werden, wie sie in den verschiedenen Teilen 
der Welt walten; anderseits aber eignet er sich ihre Unter- 
scheidung einer dreifachen Theologie (s. S. 243 f. 265) und 
. ihren scharfen Tadel gegen die Mythologie der Dichter an 
und nimmt keinen Anstand, wesentliche Bestandteile der 
öffentlichen Religion offen zu mißbilligen. 

Ein Ableger der Stoa tritt uns in der Schule entgegen, 
die um 40 v. Chr. von Q. Sextius, einem Römer aus guter 
Familie, begründet und nach ihm von seinem Sohn geleitet 
wurde, dann aber bald erlosch ; zu ihr gehörten S o t i o n aus 
Alexandria, der um 18—20 n. Chr. der Lehrer Senecas war, 
der kenntnisreiche Enzyklopädist Cornelius Celsus, 
Fabianus Papirius, L. Crassitius. Was wir von 
diesen Männern wissen, zeigt uns in ihnen Moralphilosophen, 
welche die stoischen Grundsätze nachdrücklich vertraten, 
aber den Eindruck, den sie hervorbrachten, mehr dem Ge- 
wicht ihrer Persönlichkeit als einer hervorragenden wissen- 
schaftlichen Eigentümlichkeit zu verdanken hatten. Mit dem 
Stoischen verband sich bei Sotion Py tagoreisches , wenn er 
die Enthaltung von tierischer Nahrung, die sein Lehrer aus 
allgemein moralischen Gründen empfohlen hatte, auf die Lehre 
von der Seelenwanderung gründete. Wenn aber die Sextier 
die Seele für unkörperlich erklärten, müssen auch sie schon 
platonische Einflüsse erfahren haben. 

§ 84. Die ersten Jahrhunderte d. Chr. : 
Stoische Schule. 

Die Denkweise, die im letzten Jahrhundert v. Chr. bei 
der Mehrzahl der Philosophen, mit Ausnahme der Epikureer, 



§ 84. Die Stoiker der Kaiseraeit. 275 

zur Herrschaft gekommen war^ erhielt sich auch während 
der nächstfolgenden Jahrhunderte, nur daß sich mit ihr immer 
mehr eine Vorliebe für jene theologischen Spekulationen 
verband, die schliefilich im Neuplatonismus mündeten. Die 
Trennung der Schulen blieb zwar nicht bloB bestehen, 
sondern sie wurde auch durch das eifrige Studium der 
aristotelischen und platonischen Schriften befestigt und er- 
hielt eine offizielle Anerkennung, als Mark Aurel (176 n. Chr.) 
in Athen für die vier Hauptschulen besoldete Lehrstühle (es 
scheint, zwei für jede) errichtete. Aber daß ihrem Gegen- 
satz nicht mehr die gleiche Bedeutung beigelegt würde wie 
früher, zeigt sich teils direkt in der Verknüpfung verschieden- 
artiger Lehren, der wir nicht selten begegnen, teils und be- 
sonders in der weit verbreiteten Neigung, sich auf die prak- 
tischen Ergebnisse der Philosophie zurückzuziehen, über die 
man sich am leichtesten mit abweichenden wissenschaftlichen 
Richtungen verständigen konnte. 

Von den zahlreichen Stoikern der Kaiserzeit, deren 
Namen wir kennen, m(^en die folgenden hier genannt 
werden : Herakleitos,der Verfasser der noch vorband enen 
„Homerischen AUegorieen", wie es scheint, ein Zeitgenosse des 
Augustus; Attalos, der Lehrer Senecas; Chäremon, ein 
ägyptischer Priester, der Lehrer Neros; Seneca (s. S. 276) 
und seine Zeitgenossen L. Annans Cornutus aus Leptis 
(von dem sich eine Schrift rc. tijg twv d'ecSv q>vae(og erhalten 
hat), A. Persius Flaccus und M. Annans Lucanus, 
Senecas NeflFe (39 — 65 n. Chr.); Musonius Rufus und 
sein Schüler Epik tet (s. S. 279); Euphrates (von seinem 
Schüler, dem jüngeren Plinius gerühmt), der 118 n. Chr. 
hochbejahrt Gift nahm; Rleomedes, Verfasser eines astro- 
nomischen Lehrbuchs, unter Hadrian oder Antoninus Pius; 
der Kaiser M. Aurelius Antoninus^). Auch von ihnen 



^) [Hierher gehört auch der von Pbächteb (Hierokles der Stoiker 
1901) entdeckte Hierokles, der etwa in der ersten Hälfte des 2. Jahrh. n. Chr. 
lebte. Ihm, nicht, wie man bisher angenommen hatte, dem viel späteren 

18* 



276 Dritte Periode. 

zeigen aber, soweit sie uns bekannt sind, nur Seneca, 
Musoniusy Epiktet und Mark Aurel eine bemerkenswerte 
Eigentümlichkeit, während ein Heraklit, Cornutus und Eleo- 
medes nur die Überlieferung ihrer Schule weiter geben. 

L. Annans Seneca^), bald nach dem Anfang unsrer 
Zeitrechnung in Corduba geboren, der Erzieher und längere 
Zeit mit Burrus der Berater Neros, auf dessen Befehl er 
65 n. Chr. starb, tritt zwar der Lehre seiner Schule an 
keinem wichtigeren Punkt entgegen, aber doch geht durch 
seine Philosophie im Vergleich mit der altstoischen ein etwas 
veränderter Geist; wie er denn auch andre als die stoischen 
Autoritäten und namentlich Epikurs Schriften gerne benützt. 
Fürs erste nämlich beschränkt er sich im wesentlichen auf 
die Moral. Er kennt die stoische Logik, aber er hat keine 
Neigung, sich eingehender mit ihr zu beschäftigen; er rühmt 
die Erhabenheit der Physik und eignet sich in seinen natth 
rales quaestiones die Meteorologie des Poseidonios an, aber 
ein tiefer gehendes Interesse haben für ihn aus diesem Teil 
der Philosophie nur die praktisch verwertbaren theologischen 
und anthropologischen Bestimmungen. Ohne dem stoischen 
Materialismus und Pantheismus zu widersprechen, hebt er 
doch mit Vorliebe die ethischen Züge der stoischen Gottes- 
idee hervor, auf denen der Vorsehungsglaube beruht, und 
ebenso in der Anthropologie die Lehre von der Gottverwandt- 
schaft des menschlichen Geistes und der Fortdauer nach dem 
Tode. Aber auch seine Moral fällt mit der altstoischen, deren 



Neuplatoniker H. (s. 8. — 2), sind die bei Stob, erhaltenen Fragmeute aus 
einem Lehrbuch der Moral, von dessen erstem Teil, einer Erörterung der 
grundlegenden Fragen der Ethik {^&ixt] atovx^(toaig\ neuerdings ein längerer 
Abschnitt auf einem Papyrus au%efunden und von H. v. Arnim (Berliner 
Klassikertexte, H. IV, 1906) veröflfentlicht worden ist. Er ist vermutlich 
identisch mit dem von Qellius N. A. IX 5, 8 erwähnten H. Die Überreste 
des Werkes bringen keinen neuen Beitrag zur stoischen Lehre und erinnern 
vielfach an Musonios und Epiktet] 

^) Neueste krit. Ausg. von Hermes, Hosius, Gercke, Hense, 3 Bde. 
1899/1907. 



§ 84. Die Stoiker der Kaiserzeit. 277 

Grundsätze und Lebensvorschriften sie wiederholt, nicht durch- 
aus zusammen. Seneca ist zu tief durchdrungen von der 
Schwäche und Sündhaftigkeit der Menschen, deren lebhaft» 
Schilderungen bei ihm auffallend an die seines Zeitgenossen, 
des Apostels Paulus, erinnern, als daß er den sittlichen Auf- 
gaben mit dem Selbstvertrauen des ursprünglichen Stoizismus 
entgegentreten könnte. Da er darauf verzichtet, in dieser 
Welt einen Weisen zu finden oder selbst einer zu werden, 
so ist er geneigt, seine Anforderungen an die Menschen 
herabzustimmen; und so ernstlich er verlangt, daß wir uns 
durch sittliche Arbeit an uns selbst von allem Äußeren un- 
abhängig machen, so schwungvoll er den Wert dieser Un- 
abhängigkeit preist, so legt er doch nicht selten den äußeren 
Gütern und Übeln auch wieder ein größeres Gewicht bei, 
als dem Stoiker eigentlich erlaubt war. Wenn er ferner den 
natürlichen Zusammenhang der Menschen im Sinn seiner 
Schule nachdrücklich betont, erscheint ihm doch jeder Einzel- 
staat, dem großen Menschheits- und Weltstaat gegenüber, 
der Aufmerksamkeit des Weisen noch weniger würdig, als 
dies bei den älteren Stoikern der Fall war; und in seinem 
Kosmopolitismus selbst treten die weicheren Züge, die 
Menschenliebe und das Mitleid, stärker hervor als bei jenen. 
Sehr beachtenswert ist endlich die Rückwirkung seiner Moral 
auf seine Anthropologie und seine Theologie. Je schmerz- 
licher er die Macht der Sinnlichkeit und der Affekte emp- 
findet, um so stärker sehen wir ihn trotz seinem Materialis- 
mus den Gegensatz des Leibes und der Seele anspannen; in 
vielen Fällen spricht er eine Sehnsucht nach der Erlösung 
von den Banden des Leibes aus und preist den Tod als den 
Beginn des wahren Lebens in einer Weise, die mehr plato- 
nisch lautet als stoisch; und aus demselben Grund unter- 
scheidet er mit Poseidonios (und Piaton) in der Seele (dem 
principcile^ ^^ysfioviTiSv) selbst einen vernünftigen und zwei 
unvernünftige Teile. Und je höheren Wert nun in dem 
Kampfe der Vernunft mit der Sinnlichkeit der Gedanke für 
ihn hat, daß diese Vernunft das Göttliche im Menschen, ihr 



278 Dritte Periode. 

Gesetz der Wille der Gottheit sei, um so bestimmter mußte 
er auch die Gottheit als die wirkende Kraft von der an sich 
trägen Materie unterscheiden. Daß die Gottheit nur durch 
Reinheit des Lebens und Gotteserkenntnis, nicht durch Opfer, 
nur im Heiligtum der eigenen Brust, nicht in Tempeln, die 
richtige Verehrung erhalte, hat Seneca nachdrücklich aus- 
gesprochen, die Ungereimtheit der Mythologie und den Aber- 
glauben der bestehenden Götterverehrung als würdiger Ver- 
treter des römischen Stoizismus aufs unumwundenste an- 
gegrijBFen (vgl. S. 242). 

Noch ausschließlicher beschäftigte sich MusoniusRufus 
ausVolsinii mit der Moral, ein Stoiker, der unter Nero und 
den Flaviern in Rom als Lehrer der Philosophie in hohem 
Ansehen stand; aus seinen von Pollio überlieferten Vor- 
trägen sind zahlreiche Bruchstücke^) erhalten. Die Tugend 
ist nach Musonius der einzige Zweck der Philosophie : . die 
Menschen sind sittlich Kranke, der Philosoph ist der Arzt, 
der sie heilen soll. Die Tugend ist aber weit mehr Sache 
der Übung und Erziehung als der Belehrung ; die Anlage zu 
ihr ist uns angeboren und leicht zur Überzeugung zu ent- 
wickeln, die Hauptsache ist die Anwendung dieser Über- 
zeugung. Der Philosoph braucht daher nur wenige wissen- 
schaftliche Sätze. Er soll uns zeigen, was in unsrer Gewalt 
ist, und was nicht. In unsrer Gewalt ist aber die Ver- 
wendung unsrer Vorstellungen und sonst nichts. Darauf 
allein beruht daher unsre Tugend und Glückseligkeit; alles 
andre dagegen ist etwas Gleichgültiges, in das wir uns un- 
bedingt zu ergeben haben. In der Anwendung dieser Grund- 
sätze auf das menschliche Leben begegnen wir einer reinen, 
an einzelnen Punkten zur kynischen Einfachheit hinneigen- 
den, menschenfreundlichen, auch gegen Beleidiger milden 
Sittenlehre ; so nachhaltig aber Musonius' Vorträge auf seine 
Zuhörer wirkten, so wenig scheinen sie doch in wissenschaft- 
licher Beziehung Neues enthalten zu haben. 



^) Heraasgef^ben von Hense 1905. 



§ 84. Die Stoiker der Kaiserzeit. 279 

Musonius^ Schüler war Epiktetos aus Hierapolis ^), der 
erst (noch unter Nero) als Sklave, dann als Freigelassener 
in Rom lebte und 94 n. Chr., als Domitian alle Philosophen 
aus Kom auswies, nach Nikopolis in Epirus ging; hier hörte 
ihn Flavius Arrianus, der den Inhalt seiner Vorträge 
aufzeichnete ^). Mit seinem Lehrer sieht auch er die Aufgabe 
der Philosophie lediglich in der Erziehung zur Tugend, der 
Heilung der sittlichen Gebrechen ; und wenn er auch als die 
Grundlage hierfür im allgemeinen das stoische System voraus- 
setzt, so legt er doch nicht bloß den dialektischen Unter- 
suchungen geringen Wert bei, sondern auch aus der Physik 
sind es nur wenige Punkte, deren er für die Begründung 
seiner sittlichen Vorschriften bedarf: der Glaube an die 
Gottheit und ihre Fürsorge für die Menschen; an die Ver- 
nünftigkeit der Welteinrichtung und des Weltlaufs; an die 
Gottverwandtschaft des menschlichen Geistes, den er trotz 
seines Materialismus, ähnlich wie Seneca, dem Leibe fast 
dualistisch entgegenstellt, dessen persönliche Fortdauer nach 
dem Tode er jedoch aufgibt. Auch seine Sittenlehre kann 
aber einen großen systematischen Apparat um so leichter 
entbehren, da er mit Musonius glaubt, die allgemeinen sitt- 
lichen Grundsätze seien uns von der Natur eingepflanzt. In 
unsrer Gewalt, sagt er mit jenem, ist nur eines: unser Wille, 
der Gebrauch unsrer Vorstellungen ; nur auf ihm beruht nach 
Epiktet unsre Glückseligkeit, alles andre dagegen behandelt 
er als etwas so Gleichgültiges, daß die Unterscheidung des 
Wünschenswerten und Verwerflichen kaum noch eine Be- 
deutung für ihn hat; und wie er sich hierin dem Eynismus 
annähert, so trifft er auch in seiner Beurteilung der Ehe und 
des Staatslebens mit ihm zusammen und stellt den wahren 
Philosophen gern als Kyniker dar. Andrerseits aber lehrt er 
nicht bloß eine unbedingte Ergebung in den Weltlauf, sondern 



1) BoNHöPPEB Epiktet u. die Stoa. 1890. Die Ethik d. Ep. 1894. 
*) In den /liarQißaC und dem 'jEy;|ff*^^(fiov, hrsg. von Schenkt. 1894; 
ed. minor 



280 Dritte Periode. 

auch die umfassendste und unbeschränkteste Menschenliebe; 
und er begründet diese Forderung vor allem durch den Hin- 
weis auf die Gottheit und das gleichartige Verhältnis aller 
Menschen zur Gottheit. Überhaupt hat seine Philosophie 
einen religiösen Charakter: der Philosoph ist ihm ein Diener 
und Bote der Gottheit; und wenn er auch der Volksreligion 
frei genug gegenübersteht, ist er doch mehr ein ernster und 
von frommer Begeisterung erfüllter Sittenprediger als ein 
systematischer Philosoph. 

Mit Epiktet stimmt nun sein Bewunderer, der treffliche 
Marcus Aurelius Antoninus (geb. 121 n. Chr., Mit- 
regent 138, Kaiser 161, gest. 180) in seiner ganzen Auffassung 
des Stoizismus überein ^): in seiner Abneigung gegen alle 
bloß theoretischen Untersuchungen, in seiner religiösen Be- 
trachtung der Dinge, in seiner Zurückziehung auf das eigene 
Selbstbewußtsein. Der Glaube an die göttliche Vorsehung, 
deren Fürsorge für die Menschen sich neben der ganzen 
Welteinrichtung auch in aufserordentlichen Offenbarungen 
bewährt, führt ihn zur Zufriedenheit mit allem, was die 
Naturordnung mit sich bringt, die Götter verhängen. Die 
Einsicht in den Wechsel aller Dinge, in die Vergänglichkeit 
alles Einzelnen, lehrt ihn, nichts Äußeres als ein Gut zu be- 
gehren oder als ein Übel zu fürchten. In der Überzeugung 
von dem göttlichen Ursprung und Wesen des menschlichen 
Geistes liegt für ihn die Aufforderung, nur dem Dämon in 
der eigenen Brust zu dienen, nur von ihm sein Glück zu 
erwarten; in der Anerkennung der gleichen Natur bei allen 
andern der Antrieb zu der schrankenlosesten, uneigen- 
nützigsten Menschenliebe. Was Mark Aurel von Epiktet 
unterscheidet, ist neben der verschiedenen Beurteilung der 
politischen Tätigkeit, welche sich aus ihrer Lebensstellung 
ergab, namentlich dieses, daß jene Rückwirkung des ethi- 
schen Dualismus auf die Anthropologie und Metaphysik, die 
sich schon bei einem Poseid onios und Seneca bemerkbar 



^) Seine Schrift r« €ig iavTov hrsg. von Stich. 1882. 



§ 85. Die jüngeren Kyniker. 281 

macht (S. 267. 277), bei ihm stärker hervortritt als bei 
jenem. Läßt er auch die Seele einige Zeit nach dem Tod 
in die Gottheit zurückkehren, so lautet es dagegen mehr 
platonisch als altstoisch, wenn er den Geist (vovg) oder das 
'^ysf^ovvKov als das tätige und göttliche Prinzip nicht allein 
vom Leibe, sondern auch von der Seele oder dem Pneuma 
unterscheidet und von Gott sagt, daß er die Geister rein 
von den körperlichen Hüllen anschaue, indem seine Vernunft 
sich mit ihren Ausflüssen unmittelbar berühre. Der stoische 
Materialismus zeigt sich hier im Begriff, in platonischen 
Dualismus überzugehen. 

§ 85. Die jüngeren Kyniker. 

Als eine einseitigere Form dieser stoischen Moralphilo- 
sophie ist der Kynismus zu betrachten, der um den Anfang 
unsrer Zeitrechnung wieder auftritt. Je mehr die wissen- 
schaftlichen Bestandteile der stoischen Philosophie gegen ihre 
praktischen Anforderungen zurückgestellt wurden, um so 
näher kam sie dem Kynismus, von dem sie ausgegangen 
war; und je trauriger die sittlichen und politischen Zustände 
seit dem letzten Jahrhundert der römischen Republik sich ge- 
stalteten, um so nötiger mochte es scheinen, dem Verderben 
und der Not der Zeit in der aufif&Uigen, aber wirkungsvollen 
Weise der alten Kyniker entgegenzutreten. Den Schatten 
dieser hatte schon Varro in seinen „menippischen Satiren" 
heraufbeschworen, um seinen Zeitgenossen die Wahrheit mög- 
lichst derb zu sagen; die Briefe des Diogenes^) scheinen 
bereits eine wirkliche Erneuerung der kynischen Schule 
unterstützen zu sollen. Nachweisen können wir eine solche 
aber erst bei Seneca, der unter den Kynikern seiner Zeit 
Demetrios mit großen Lobsprüchen hervorhebt. Unter 
denen der Folgezeit sind die namhaftesten: Önomaos von 



^) Deren Entstehongszeit Marcks Symb. crit ad epistologr. greec. 
12 f. mit WahrRcheinlichkeit unter Augustas setzt. 



282 l^ritte Periode. 

Gadara unter Hadrian; Demonax, der fast 100 jährig um 
160 n. Chr. in Athen starb; Peregrinus, später Proteus 
genannt, der sich 165 in Olympia öflfentlich verbrannte, und 
sein Schüler Theagene. s. Indessen hat diese kultur- 
geschichtlich beachtenswerte Schule für die Geschichte der 
Wissenschaft nur unmittelbar, als Ausdruck verbreiteter 
Stimmungen, Bedeutung. Selbst bei den besten unter seinen 
Vertretern von mancherlei Auswüchsen nicht frei, diente 
der Kynismus nicht wenigen als Vorwand für ein müßig- 
gängerisches, schmarotzerhaftes Leben, ein ungesittetes Be- 
nehmen, eine Befriedigung der Eitelkeit durch prahlerisches, 
Aufsehen erregendes Auftreten. Neue Gedanken sind uns 
von keinem dieser späteren Kyniker überliefert. Ein De- 
metrios, und trotz seiner Exzentrizitäten auch ein Peregrinus 
(von Gelliüs Noct. Att. XII 11, 1 als vir gravis et constans 
gerühmt), sprechen jene sittlichen Grundsätze aus, die durch 
die Stoa längst zum Gemeingut geworden waren; ein De- 
monax, als Philosoph eklektischer Sokratiker, genoB wegen 
seines milden, liebenswürdigen, menschenfreundlichen Cha- 
rakters allgemeine Verehrung ; Önomaos macht in den Bruch- 
stücken seiner „entlarvten Gaukler" (yo'^Twv (piaqa) einen 
scharfen Angriff auf die Orakel und verteidigt im Zusammen- 
hang damit die Willensfreiheit gegen die Stoiker. Als Moral- 
prediger haben diese Männer und ihre Gesinnungsgenossen 
auf die Denk- und Empfindungsweise ihrer Zeit bedeutend 
und' im ganzen ohne Zweifel vorteilhaft eingewirkt. Aber 
keiner von ihnen hat sich durch eine wissenschaftliche Leistung 
bekannt gemacht. Gerade deshalb aber, weil es sich hier 
mehr um eine Lebensweise als um wissenschaftliche Ansichten 
handelte, wurde dieser spätere Kynismus von dem Wechsel 
der philosophischen Systeme so wenig berührt, daß er alle 
Schulen außer der neuplatonischen tiberdauerte, bis ins 5. Jahr- 
hundert sich erhielt und selbst im Anfang des sechsten noch 
einzelne Anhänger zählte. 



§ 86. Die peripatetische Schule in der Zeit n. Chr. 283 

§ 86. Die peripatetische Schule in der Zeit ii. Clir. 

Die peripatetische Schule bewegte sich bis zu ihrer Ver- 
schmelzung mit der neuplatonischen im ganzen in der Richtung, 
die sie seit Andronikos (S. 270 f.) eingeschlagen hatte. Von 
ihrer Geschichte in dieser Zeit sind uns aber nur Bruch- 
stücke überliefert. Die erwähnenswertesten unter ihren Mit* 
gliedern, deren Namen uns bekannt sind, wären etwa: um 
50 n. Chr. Alexander von Ägä, ein Lehrer Neros ; gleich- 
zeitig, wie es scheint, Sotion, vielleicht auch Achaikos; 
unter Hadrian Aspasios und Adrastos, einer der aus- 
gezeichnetsten Peripatetiker; um 150 — 180 Herminos; um 
180 Aristokles von Messene und Sosigenes, ein tüch- 
tiger Mathematiker; um 200 Alexander von Aphrodisias. 
Die Tätigkeit dieser Männer scheint nun ganz überwiegend 
in der Erklärung der aristotelischen Schriften und der Ver- 
teidigung der aristotelischen Lehre bestanden zu haben, und 
was uns von ihnen bei Gelegenheit mitgeteilt wird, zeigt nur 
selten eine bemerkenswerte Abweichung von den Ansichten 
des Aristoteles. Daß aber die Peripatetiker auch in dieser 
späteren Zeit sich Anschauungen nicht ganz verschlossen, die 
ihrer Schullehre ursprünglich fremd sind, zeigt das Beispiel 
des Aristokles. Wenn dieser angesehene Peripatetiker 
annahm, daß der göttliche Geist (vovg) der ganzen Eörper- 
welt innewohne und in ihr wirke, und daß er zum individu- 
ellen, menschlichen Geist werde, wo er einen zu seiner Auf- 
nahme geeigneten Organismus finde, so behandelte er die 
Gottheit in stoischer Weise als die Seele der Welt, wofür sie 
auch nach seinem Zeitgenossen, dem aristotelischen Apologeten 
Athenagoras (SuppHc. c. 5), von den Peripatetikem gehalten 
worden wäre. Mit dieser Annäherung an den stoischen Pan- 
theismus ist Aristokles' Schüler Alexander von Aphrodisias^ 
der berühmte „Ausleger", nicht einverstanden. Aber so gut 
er die aristotelische liehre kennt und so erfolgreich er sie 
verteidigt, so weicht doch auch er in erheblichen Punkten 
durch eine allzu naturalistische Auffassung ihrer Bestim- 



284 Dritte Periode. 

mungen von ihr ab. Er hält nicht bloß mit Aristoteles die 
Einzelwesen allein für etwas Substantielles, sondern er fügt 
auch in Abweichung von ihm bei, das Einzelne sei an sich 
(q>vaei) früher als das Allgemeine, die allgemeinen Begriffe 
existierten als solche nur in unserm Verstände, ihr realer 
Gegenstand seien nur die Einzeldinge. Er rückt ferner im 
Menschen den höheren Seelenteil den niedrigeren dadurch 
näher, daß er den „tätigen Novg^ von der menschlichen Seele 
abtrennt und von dem auf sie einwirkenden göttlichen Geist 
deutet, so daß der Mensch selbst nur die Anlage zum Denken 
(den „potentiellen Novg'^) ins Leben mitbringt, die sich erst 
später unter jener Einwirkung zum „erworbenen Novg^ ent- 
wickelt; und im Zusammenhang damit leugnet er unbedingter 
als Aristoteles die Unsterblichkeit der Seele. Er führt end- 
lich die Vorsehung ganz und gar auf die IJatur (cptaig) oder 
die von den oberen Sphären in die unteren sich verbreitende 
Kraft zurück, aus deren Wirkungsweise er jede auf das 
menschliche Wohl berechnete Zweckbeziehung ausschließt. — 
Nach Alexander ist uns kein namhafter Lehrer der peri- 
patetischen Philosophie als solcher bekannt; der Hauptsitz 
der aristotelischen Studien wurde noch vor dem Ende des 
3. Jahrhunderts die neuplatonische Schule, und wenn auch 
einzelne wie Themistios (§ 101) lieber Peripatetiker als 
Platoniker heißen wollten, sind sie doch teils nur Aristoteles- 
erklärer, teils Eklektiker. 

§87. Die Platoniker der ersten Jahrhunderte n.Chr. 

Der Hauptsitz des Eklektizismus war aber fortwährend 
die platonische Schule. Ihre namhaftesten Mitglieder aus 
den zwei ersten Jahrzehnten u. Z. sind: Ammonios, ein 
Ägypter, der um 60 — 70 n. Chr. in Athen lehrte; sein 
Schüler Pinta rch OS von Chäronea, der bekannte Philosoph 
und Biograph, dessen Leben annähernd zwischen 48 und 
125 n. Chr. zu fallen scheint; Gaius, Calvisius Taurus 
(ein Schüler Plutarchs), Theon, der Smyrnäer, die unter 



§ 87. Die Platoniker der ersten Jahrhunderte n. Chr. 285 

Hadrian und Antoninus Pius lehrten ; Ä 1 b i n u s , der Schüler 
des Gaius, den Galen um 152 in Smyrna hörte, und seine 
Zeitgenossen Nigrinus, Maximus aus Tyrus und Apu- 
leius aus Madaura; Attikos, welcher ebenso wie Nume- 
nios, Kronios, der bekannte Christenfeind Celsus und 
wohl auch Severus der Regierungszeit Mark Aureis an- 
gehört; in der Nähe dieses Kaisers lebte Attikos' Schüler 
Harpokration. Ein Teil dieser Platoniker wollte nun 
allerdings von der Versetzung des echten Piatonismus mit 
fremdartigen Bestandteilen nichts hören; und dieser Abwehr 
der letzteren mußte der Umstand zugute kommen, daß auch 
die Akademiker seit Plutarch und wohl auch schon früher 
nach peripatetischem Vorgang den Schriften ihres Stifters er- 
höhte Aufmerksamkeit zuwandten (vgl. S. 12). So schrieb 
Tauros nicht bloß gegen die Stoiker, sondern auch über 
den Unterschied der platonischen und der aristotelischen 
Lehre, und Attikos war ein leidenschaftlicher Gegner des 
Aristoteles. Aber doch leugnete jener die zeitliche Entstehung 
der Welt ; und wenn dieser hier, wie sonst, Aristoteles wider- 
sprach, näherte er sich dafür in seinen Behauptungen über 
die Autarkie der Tugend und seiner einseitig praktischen 
Auffassung der Philosophie den Stoikern. Die Mehrzahl der 
Akademiker folgte aber fortwährend der eklektischen Richtung 
des Antiochos ; nur daß sich ihr immer mehr jene neupytha- 
goreischen Spekulationen zugesellten , die uns bei einem 
Plutarch, Maximus, Apuleius, Numenios, Celsus u. a. (§ 92) 
begegnen werden. Einen Beleg für den Eklektizismus der 
Schule gibt nebenden eben Genannten namentlich Albin us, 
dessen Abriß der platonischen Lehre ^) eine merkwürdige 
Mischung platonischer, peripatetischer und stoischer Bestim- 
mungen darstellt. Albinus folgte aber hierbei nur seinem 
Lehrer Gaius. Auf dem gleichen Wege treflfen wir, soweit 



^) Uns in einem überarbeiteten Auszug unter dem Namen des 
„Alkinoos" erhalten. Daß er Albinus gehört, hat Fkeudenthal HeUenist. 
Stad. 8. H. nachgewiesen. 



28(5 I^ritte Periode. 

wir ihn kennen, auchSeverus, und so läfit sich überhaupt 
das Übergewicht dieser Denkweise in der Schule nicht be- 
zweifeln. 

§ 88. Dion, Lukian und Galen. 

Zu keiner bestimmten Philosophenschule zählten sich 
Dion, Lukianos und Galen, aber Philosophen wollten sie doch 
alle drei sein. Wir werden diese Bezeichnung am ehesten 
Galen zugestehen. Der bithynische Rhetor Dion von Prusa, 
mit dem Beinamen Ghrysostomos^), von Domitian aus 
Rom verbannt, von Trajan geschätzt, trat seit seiner Ver- 
bannung in der kynischen Philosophen tracht auf; seine 
„Philosophie" geht aber nicht über eine populäre Moral 
hinaus, die ihrem Inhalte nach ganz achtungswert, aber ohne 
wissenschaftlichen Charakter, an altkynische Schriften und 
stoische Lehren anknüpft. — Dions Fachgenosse Lukianos 
aus Samosata, dessen fruchtbare schriftstellerische Laufbahn 
mit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts annähernd zu- 
sammenfallt, ist der Gegner aller Schulphilosophie und ver- 
folgt namentlich die Eyniker mit seiner Satire ; was er selbst 
Philosophie nennt, ist eine Sammlung von moralischen Vor- 
schriften , auf die er sich um so mehr beschränken will , da 
er die theologischen Fragen für unlösbar hält. — Weit gründ- 
licher hat sich der berühmte Arzt Claudius Galenus aus 
Pergamon (131 — 201 n. Chr.) mit der Philosophie beschäftigt, 
der er auch zahlreiche, für uns zum größten Teil verlorene 
Schriften widmete. Ein Gegner Epikurs und der Skepsis, 
am meisten mit Aristoteles befreundet, aber auch von ihm 
nicht durchaus befriedigt, verbindet er mit der peripatetischen 
Lehre manche stoische, in geringerem Maße platonische Be- 
stimmungen. Neben den Sinnen, deren Zuverlässigkeit Galen 
in Schutz nimmt, wird in den Wahrheiten, die dem Verstand 

1) Seine Schriften hrsg. von J. v. Arnim 2. Bde. 1893/96. S. desselben 
„Leben und Werke des D. von Prusa" mit einer Einleitung: „Sophistik, 
Rhetorik und Philosophie in ihrem Kampfe um die Jugendbildung*' (1898). 



§§ 88. 89. Dion, Lukian und Galen. Änesidemos und seine Schule. 287 

unmittelbar gewiß sind, eine zweite Quelle der Erkenntnis 
anerkannt. Die Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung wird 
entschieden behauptet ; aber den tiefer gehenden spekulativen 
Fragen legt Galen, der sich selbst ziemlich schwankend über 
sie äußert, geringen Wert bei, da fürs Leben und Handeln 
nicht viel darauf ankomme. Auch seine Ethik enthält jedoch, 
soweit wir sie kennen, nur ältere, von verschiedenen Schulen 
entlehnte Bestimmungen. 

II. Die jüngeren Skeptiker. 

§ 89. Änesidemos und seine Schule^). 

Wenn es auch dem Eklektizismus eines Antiochos ge- 
lungen war, die Skepsis aus ihrem Hauptsitz, der Akademie, 
zu verdrängen, so war sie damit doch nicht dauernd über- 
wunden; wie vielmehr der Eklektizismus daraus hervor- 
gegangen war, daß die Einwürfe der Skeptiker das Vertrauen 
zu den philosophischen Systemen erschüttert hatten, so hatte 
er dieses Mißtrauen gegen jede dogmatische Überzeugung 
fortwährend zu seiner Voraussetzung, und es konnte nicht 
ausbleiben, daß es auch wieder die Form einer skeptischen 
Theorie annahm. Doch gelangte diese jüngere Skepsis lange 
nicht zu dem Einfluß und der Verbreitung, wie sie früher 
die akademische gehabt hatte. 

Diese letzte Schule griechischer Skeptiker, die aber ihre 
Philosophie nicht eine Lehre und Schule (aigeacg), sondern 
nur eine Richtung (aycoyi]) nannte, wollte sich selbst nicht 
als einen Abkömmling der akademischen, sondern der pyrrho- 
nischen betrachtet wissen. Nachdem die letztere im 3. Jahr- 
hundert erloschen war, erneuerte sie, wie erzählt wird, zuerst 
Ptolemäos von' Kyrene, seine Schüler waren Sarpedon 
und Herakleides; der Schüler des Herakleides Änesi- 



^) HiRZEL Untersuch, zu Cicero III, 64 ff. Natorp Forsch, z. Gesch. 
d. Erkenntnispr. S. 63 — 163. Haas De philos. Scepticonim successionibus 
1875. Vgl. auch die S. 257 Anm. 1 angef. Schriften. Sonstige Literatur 
Phil. d. Gr. III 2* S. 1 ff. 



288 Dritte Periode. 

de mos, der, aus Kdossos gebürtig, in Alexandreia lehrte. 
Aber wie sich diese neuen Pyrrhoneer vergeblich bemühten, 
einen irgend erheblichen Unterschied zwischen ihrer Lehre 
und der neuakademischen nachzuweisen, so ist auch der 
Einfluß der letzteren auf Änesidemos (der selbst früher der 
akademischen Schule angehört hatte) und seine Nachfolger 
unverkennbar; von Ptolemäos und Sarpedon aber wissen 
wir nicht, wie sie sich zu der Akademie verhielten, und ob 
sie ihre Theorie schon in der gleichen Allgemeinheit vor- 
trugen wie Änesidemos ; Aristokles (b. EüS. praep. ev. XIV, 
18, 22) bezeichnet nur diesen als den Erneuerer der pyrrho- 
nischen Skepsis. Neben der akademischen und pyrrhonischen 
Lehre war dabei auch die Schule der „empirischen" Ärzte be- 
teiligt, der mehrere von den Wortführern der neuen Pyrrho- 
neer angehörten; wenn sich diese Schule auf die erfahrungs- 
mäßige Kenntnis der Wirkung der Heilmittel beschränken 
wollte, dagegen die Untersuchung über die Ursachen der 
Krankheiten für aussichtslos hielt, so brauchte man diesen 
Grundsatz nur zu verallgemeinern, um eine unbedingte 
Skepsis zu erhalten. 

Änesidems Übergang von der Akademie zum Neu- 
pyrrhonismus kann auch dann, wenn der Tubero, dem er sein 
Hauptwerk („IIvQQOJveioi XoyoL'') widmete, der uns bekannte 
Jugendfreund Ciceros ist, nicht wohl vor Ciceros Tod gesetzt 
werden, da dieser nicht nur Änesidems Schrift nirgends er- 
wähnt, sondern auch die pyrrhonische Schule wiederholt für 
erloschen erklärt. Auch unter dieser Voraussetzung ist aber 
ein so frühes Auftreten des Änesidemos schwer damit zu 
vereinigen, daß zwischen ihm und Sextus (vgl. S. 290) nur 
sechs skeptische Scholarchen gezählt werden, und es fragt 
sich, ob die Liste der letzteren unvollständig ist oder die 
durchschnittliche Dauer ihrer Schulführung eine ungewöhn- 
lich lange oder der römische Gönner Änesidems von dem 
Tubero Ciceros verschieden war ^). 



^) [Während früher die Ansetzung der Lebenszeit des An. zwischen 



§ 89. ÄnesidemoB und seine Schule. 289 

Der Standpunkt des Änesidemos stimmt in allem wesent- 
lichen mit dem Pyrrhons überein. Da wir von der wirk- 
lichen Beschaffenheit der Dinge nichts wissen können und 
jeder Annahme sich gleich starke Gründe entgegenhalten 
lassen, dürfen wir überhaupt nichts und auch unser Nicht- 
wissen selbst dicht behaupten; und eben dadurch erlangen 
wir die wahre Lust, die Gemütsruhe (araga^ia)] sofern wir 
aber zu handeln genötigt sind, werden wir teils dem Her- 
kommen, teils unsrer Empfindung und unserm Bedürfnis 
folgen. Änesidemos hatte diese Grundsätze in seinen IIv^ 
^oiveioi loyoi durch eine ausführliche Kritik der herrschenden 
Begriffe und Annahmen zu begründen versucht, in der unter 
anderm der Schluß auf die Ursachen der Dinge eingehend 
bekämpft wurde. Seine Hauptbeweisgründe faßte er in den 
zehn (oder bei ihm vielleicht erst neun) „pyrrhonischen 
Tropen" zusamnien, die sich alle in der Absicht begegnen, 
die Relativität aller unserer Vorstellungen über die Dinge 
darzutun, diesen Gedanken aber fast ausschließlich an den 
sinnlichen Wahrnehmungen durchführen. Wenn Sextus 
Empirikus (Hyp. I 210) behauptet, Änesidemos selbst habe 
seine Skepsis nur zur Vorbereitung (odog) für die heraklitische 
Philosophie dienen sollen, wenn ferner derselbe ihm (meist 
mit der Bezeichnung ^irija/di^juog uLa^'^Hq&^XeiTOv) an Heraklit 
sich anlehnende physikalische und anthropologiische Lehren 



der ersten Hälfte dea 1. Jahrh. v. Chr. und der ersten Hälfte des 2. n. Chr. 
schwankte, ist nunmehr durch den Nachweis H. v. Arnims (Quellenstudien 
zu Philo V. AI. 1888 S. 55ff.)> ^»^ Philon Än.s Tropen gekannt hat, die 
Zeit um Christi Geburt als untere Grenze gesichert. Aber auch nach oben 
hin bildet aus den im Texte angegebenen Gründen Ciceros Tod eine feste 
Grenze für das Erscheinen der Hauptschrift. Zeller (Phil. d. Gr. lU 2^ 
S. 10 ff.) neigt zu der Annahme , daß dieses Erscheinen in die Zeit kurz 
vor Christi Geburt zu setzen sei. Demgegenüber weist Goedeckemetfb 
Gesch. d. gr. Skepsis S. 211 f., 1 darauf hin, daß Z. das Zeitalter des Sextus 
Emp. (s. S. 291), das er seiner Berechnung der Zeit zwischen An. und jenem 
zugrunde legt, vermutlich etwas zu spät angesetzt habe. G. selbst bringt 
gute Grunde dafür bei, daß An. seine Schrift nicht lange nach Ciceros Tod 
veröffentlicht hat] 

Zeller, Grundriß. 19 



290 Dritte Periode. 

beilegt und solche Lehren auch bei TertuUian (de anima)^ 
dessen Gewährsmann Soranos ist, als änesidemisch angeführt 
werden, so folgt daraus nicht, daß Änesidemos vom Skepti- 
zismus später zum Heraklitismus übergegangen sei ; man mufi 
vielmehr annehmen, daß Änesidemos jene Lehren Heraklits 
nur berichtete, ohne sie sich anzueignen, Sextus aber und 
Soranos durch die Schrift eines jüngeren Neupyrrhoneers ge- 
täuscht worden sind, der Änesidemos' Namen mißbraucht 
hatte, um unter seiner Autorität den Pyhrrontsmus zum 
stoisch-heraklitischen Dogmatismus zurückzubilden '). 

Von den acht Nachfolgern des Änesidemos im Scho- 
larchat, deren Namen uns (b. DiOG. IX. 116) überliefert 
sind: Zeuxippos, Zeuxis, Antiochos, Menodotos, 
Theodas (Theudas) , Herodotos, Sextus, Sartur- 
n i n u s , ist uns keiner außer Sextus als Philosoph näher be- 
kannt. Dagegen hören wir, daß A g r i p p a (wir wissen nicht, 
wann) ^) den zehn Tropen Änesidems fünf zur Seite stellte, 
welche sich auf drei Hauptpunkte zurückführen lassen : den 
Widerstand der Meinungen, die Relativität der Wahrnehmungen 
und die Unmöglichkeit einer Beweisführung, die sich weder 
im Zirkel bewegt noch von unbewiesenen Voraussetzungen 
ausgeht. Andre gingen in der Vereinfachung noch weiter, 
indem sie sich mit den zwei Tropen begnügten, man könne 
nichts aus sich selbst erkennen, wie dies der Widerstreit der 



1) [Näheres hierüber Phil. d. Gr. m 2* S. 36 flF. Vgl. auch Diels 
Dozogr. 209 ff. u. Pappemheim Der angebl. Heraklitism. d. Skeptikers An. 
Diese Beantwortung der Frage, wie sich An. zu Heraklit gestellt hat, er- 
scheint unter den yerschiedenartigen Lösungen des verwickelten Problems 
als die annehmbarste. Eine andre Erklärung des angeblichen Heraklitis- 
mus Än.s hat kürzlich Goedeckemeteb Gesch. d. gr. Skeptizism. S. 228 ff., 
teilweise im Anschluß an Natorp und Hirzel, ausfuhrlich zu begründen 
versucht.] 

^) [Jedenfalls ist er älter als Apellas, der wiederum jünger zu sein 
scheint als Zeuxis und Antiochos (Diog. IX, 106). 8. Goedeokemeteb 
a. a. O. 238, 1. G. sucht auch darzutun, daß Agr., vielleicht nur unbewußt, 
von dem absoluten Skeptizismus Än.s zum dogmatischen Skeptizismus 
zurückkehrte.] 



§ 89. Änesidemos und seine Schule. 291 

Meinungen beweise, ebensowenig aber aus einem andern, da 
dieses erst aus sich selbst erkannt sein müfite. Wie sehr 
sich aber die Skeptiker zugleich fortwährend um eine all- 
seitig erschöpfende Widerlegung des Dogmatismus bemühten, 
zeigen die Schriften des Sextus, der als einer der empiri- 
schen Ärzte (S. 288) den Beinamen Empirikus führt und 
ein jüngerer Zeitgenosse Galens gewesen zu sein scheint, so 
daß demnach seine Wirksamkeit um 180—210 v. Chr. (s. 
jedoch S. 289 Anm.) fallen würde. 

Wir besitzen von ihm noch drei Schriften, von denen 
die zweite und dritte hergebrachterweise unter dem un- 
passenden Titel „gegen die Mathematiker^ zusammengefaßt 
werden: die pyrrhonischen Hypotyposen, die Schrift gegen 
die dogmatischen Philosophen (adv. Matth. VII — XI) und die 
gegen die f^a^ijfiaTa, Grrammatik, Rhetorik, Mathematik (adv. 
Math. I — VI). Weitaus das meiste darin hat aber Sextus ohne 
Zweifel teils von älteren Mitgliedern seiner Schule, teils mit 
ihnen von den Akademikern, namentlich Karneades (Kleito- 
machos), entlehnt : der späteste Name, der in der Hauptschrift 
Matth. VII — XI genannt wird, ist der des Änesidemos. Seine 
Ausführungen können daher als eine Zusammenfassung alles 
dessen gelten, was in seiner Schule zur Verteidigung ihres 
Standpunktes vorgebracht zu werden pflegte. Er bestreitet, 
nicht selten mit ermüdender Weitschweifigkeit und mit 
Gründen von sehr verschiedenem Wert, schon die formale 
Möglichkeit des Wissens in seinen Erörterungen über das 
Kriterium, die Wahrheit, die Beweisführung und das be- 
weisende Zeichen usw. Er greift den Begriff der Ursache 
mit allen möglichen Wendungen an; nur gerade die Frage 
nach der Entstehung dieses Begriffes läßt er mit seinen Vor- 
gängern beiseite. Er wiederholt, indem er sich gegen die Vor- 
stellungen über die wirkende Ursache wendet, Karneades' 
Kritik der stoischen Theologie. Er findet ebenso auch die 
materielle Ursache oder den Körper in jeder Beziehung un- 
denkbar. Er kritisiert die ethischen Annahmen, namentlich 
die über das Gute und die Glückseligkeit, um zu zeigen, 

^ 19* 



292 Dritte Periode. 

daß auch auf diesem Gebiete kein WisÄen erreichbar sei. Er 
zieht endlich aus dresen und vielen andern Betrachtungen 
die längst bekannten Ergebnisse: daß wir bei dem Gleich- 
gewicht des Für und Wider (der laoad'iveia twv Xoywv) uns 
jeder Entscheidung enthalten, auf alles Wissen verzichten 
müssen und dadurch allein zu der Gemütsruhe und der 
Glückseligkeit kommen , deren ßrlangung der Zweck aller 
Philosophie ist; daß uns dies aber nicht hindere, uns in 
unserm Handeln nicht allein von der Wahrnehmung, den 
natürlichen Trieben, dem Gesetz und Herkommen, sondern 
auch von der Erfahrung leiten zu lassen, die uns über den ge- 
wöhnlichen Gang der Dinge unterrichtet und uns dadurch in 
den Stand setzt, uns gewisse Kunstregeln fürs Leben zu bilden ^). 
In ihrer äußeren Ausbreitung blieb die Skepsis des 
Änesidemos fast ganz auf den engen Kreis seiner Schule 
beschränkt, deren letzter uns bekannter Diadoche (Saturni- 
n u s) dem ersten Viertel des 3. Jahrhunderts angehört haben 
muß. Ihr einziger weiterer Gesinnungsgenosse, den wir nach- 
weisen können, ist der Rhetor und Polyhistor Favorinus 
aus Arelate, dessen Leben annähernd 80—150 n. Chr. an- 
zusetzen ist. Aber als ein Zeichen der wissenschaftlichen 
Stimmung hat diese Denkweise eine allgemeinere Bedeutung, 
und wieviel sie von Anfang an dazu beitrug, daß der Eklektizis- 
mus der Zeit sich zur neupythagoreischen und neuplatonischen 
Spekulation entwickelte, läßt sich nicht verkennen. 

III. Die Vorläufer des Neuplatonismus. 

§ 90. Einleitung. 

In einer Zeit, der an den praktischen Wirkungen der 
Philosophie ungleich mehr gelegen war als an dem wissen- 
schaftlichen Erkennen als solchem, in der sich weiter Kreise 
ein tiefes Mißtrauen gegen die menschliche Erkenntnisfähig- 



^) Vgl* die ausführliche Darstellung der Lehre des S. bei Gobdboke- 
METBB a. a. O. 8. 266 ff. 



§§ 90. 91. DieVorläafer des Neuplatonismus. Die rein ^iech. Schalen. 293 

keit bemächtigt hatte und die Neigung allgemein verbreitet 
war, die Wahrheit, wo man sie fand, auf Grund des prak- 
tischen Bedürfnisses und des unmittelbaren Wahrheitsgefühls, 
selbst auf Kosten der wissenschaftlichen Eonsequenz, auf- 
zunehmen — in einer solchen Zeit bedurfte es nur eines 
mäßigen Anstoßes, um den wahrheitsbedürftigen Geist über 
die Grenzen des natürlichen Erkennens zu einer vermeintlich 
höheren Quelle der Wahrheit hinauszuführen. Diesen Anstoß 
scheint nun das griechische Denken seit dem Ende des 
4. Jahrhunderts teils durch die Ausbreitung des Mysterien- 
wesens, teils durch jene Berührung mit orientalische^ An- 
schauungen erhalten zu haben, deren Mittelpunkt Alexandreia 
war; und die Hauptrolle scheint hierbei auf orientalischer 
Seite dem Judentum zugefallen zu sein , dessen ethischer 
Monotheismus der hellenischen Philosophie ungleich mehr An- 
knüpfungspunkte bot als die Mythologie der Volksreligionen. 
Alexandreia war es auch allen Anzeichen nach, wo zuerst 
jene Spekulation hervortrat, die nach jahrhundertelanger 
Entwicklung schließlich im Neuplatonismus ausmündete. Das 
letzte Motiv dieser Spekulation bildet die Sehnsucht nach 
einer höheren Offenbarung der Wahrheit ; ihre metaphysische 
Voraussetzung ein Gegensatz Gottes und der Welt, des 
Geistes und der Materie, für dessen Vermittlung man zu 
Dämonen und göttlichen Kräften seine Zuflucht nimmt; ihre 
praktische Folgerung eine Verbindung der Ethik mit der 
Religion , welche einerseits zur Askese , andrerseits zu der 
Forderung einer unmittelbaren Anschauung der Gottheit führt. 
Daß sich ihre Entwicklung teils auf griechischem , teils auf 
jüdisch-hellenistischem Boden vollzog, wurde schon S. 30 
bemerkt. 

1. Die rein griechischen Schulen. 

§ 91. Die neuen Pythagoreer. 

Wenn auch die pythagoreische Philosophie als solche 
im Lauf des 4. Jahrhunderts erloschen oder mit der plato- 



294 I^ritte Periode. 

nischen verschmolzen war, erhielt sich doch der Pythagoreis- 
mus als eine Form des religiösen Lebens fortwährend^ und die 
pythagoreischen Mysterien fanden sogar, wie unter anderm 
die Bruchstücke von Dichtern der mittleren Komödie beweisen, 
im Zusammenhang mit dem Aufschwung, den die orphisch- 
dionysischen Geheimdienste und Spekulationen während der 
alexandrinischen Periode im Osten und im Westen nahmen, 
weitere Verbreitung. Um das Ende des zweiten oder den 
Anfang des ersten vorchristlichen Jahrhunderts scheint zu- 
erst, wahrscheinlich in Alexandreia, der Versuch gemacht 
worden zu sein, auch die pythagoreische Wissenschaft, durch 
spätere Lehren erweitert und befruchtet, neu zu beleben. Die 
ersten nachweisbaren Belege dieser Bestrebungen finden sich 
in untergeschobenen pythagoreischen Schriften: der halb 
stoischen Darstellung der pythagoreischen Lehre, über die 
Alexander Polyhistor (um 70 v. Chr., vgl. S. 10) b. Diog. 
VIII, 24 f. berichtet, der auf den Namen des Lukaners 
Okellos (richtiger Okkelos) gefälschten Schrift negl t^ lov 
Ttawog q}ia€iog, welche schon Varro bekannt war, den von 
Cicero (Legg. II, 14 f.) angeführten Proömien zu den Gesetzen 
des Zaleukos und Charondas. In der Folge wird uns 
eine Masse solcher angeblich altpythagoreischen, in Wahr- 
heit neupythagoreischen Schriften genannt (gegen 90 von 
mehr als 50 Verfassern), und es sind uns von vielen dieser 
Schriften Bruchstücke überliefert; unter ihnen treten die des 
Archy tas (s. S. 41) an Zahl und Bedeutung hervor^). Der 
erste Anhänger der neupythagoreischen Schule, dessen Namen 
wir kennen, ist Ciceros Freund, der gelehrte P. Nigidius 
Figulus (gest. 45 v. Chr.), an den sich P. Vatinius an- 
schloß. Auch die Schule der Sextier stand mit den neuen 
Pythagoreern in Verbindung (s. S. 274); bestimmte Spuren 
ihres Daseins und ihrer Lehren finden wir zur Zeit des 



^) Die überlieferten Bruchstücke des A. sind mit Ausnahme der aus 
dem «QfjLovixog stammenden (Diels Vors. I 257 flF.) ohne Zweifel fast sämt- 
lich unecht; s. Phil. d. Gr. III 2* S. 121, 1. 



§ 91. Die neuen Pythagoreer. 295 

Augustus bei Areios Didymos und Eudoros und in König 
Jubas II. Vorliebe für pythagoreische Bücher. Der zweiten 
Hälfte des ersten christlichen Jahrhunderts gehört die Tätig- 
keit des Moderatus aus Gades und des ApoUonios von 
Tyana an; beide wirkten durch Schriften für ihre Sache, 
ApoUonios durchzog, vielleicht in der Rolle, jedenfalls mit 
dem Ruf eines Magiers, das römische Reich. Unter Hadrian 
scheint Nikomachos aus G-erasa das Werk, von dem wir 
noch Teile besitzen, verfaßt, unter den Antoninen Nume- 
n i o s (§ 92) gelebt zu haben ; dem ersten Drittel des 3. Jahr- 
hunderts gehört Philostratos (S. 297) an. 

In den Lehren, durch welche diese neuen Pythagoreer 
die sittlich-religiösen Grundsätze ihrer Partei zu begründen 
suchten, verbindet sich mit dem Altpythagoreischen und mit 
den für sie noch maßgebenderen, von Piaton und der alten 
Akademie, besonders Xenokrates, herstammenden Annahmen 
auch solches, was von der peripatetischen und der stoischen 
Schule entlehnt ist (denn einen eklektischen Charakter trägt 
diese Philosophie wie die der gleichzeitigen Akademiker); 
und innerhalb der gemeinsamen Richtung finden sich manche 
Abweichungen der einzelnen voneinander. Als die letzten 
Gründe werden die Einheit und die Zweiheit {dväg aoQi- 
azog) bezeichnet, von welchen jene 4er Form, diese dem Stoff 
gleichgesetzt wird; während aber ein Teil der Pythagoreer 
die Einheit zugleich für die wirkende Ursache oder die Gott- 
heit erklärt, werden von andern beide unterschieden, und die 
Gottheit wird teils, wie im platonischen Timäos (vgl. S. 144), 
als die bewegende Ursache dargestellt, die Form und Stoff 
zusammenführe, teils als das eine, das die abgeleitete Ein- 
heit und die Zweiheit erst hervorbringe; das letztere eine 
Lehrform, welche den stoischen Monismus mit dem platonisch- 
aristotelischen Dualismus verknüpft und dadurch dem Neu- 
platonismus vorarbeitet. Derselbe Gegensatz wiederholt sich 
auch in den Aussagen über das Verhältnis Gottes und der 
Welt: die einen nennen die Gottheit höher als die Vernunft 
und stellen sie so weit über alles Endliche, daß sie mit nichts 



296 I^ritte Periode. 

Körperlichem in unmittelbare Berührung soll treten können; 
andere schildern Gott als die Seele, die sich durch den 
ganzen Leib der Welt verbreite, und beschreiben diese Seele 
auch wohl gar mit den Stoikern als Wärme oder als Pneuma. 
Das formale Prinzip soll die sämtlichen Zahlen, denen die 
Ideen hier durchaus gleichgesetzt werden, umfassen; über 
die Bedeutung der einzelnen Zahlen wurde in der Schule, 
die aber auch die gewöhnliche Mathematik eifrig betrieb, 
viel spekuliert und phantasiert. An der platonischen Lehre 
nahmen die neuen Pythagoreer eine eingreifende Veränderung 
vor, indem sie die Zahlen oder Ideen zu Gedanken der 
Gottheit machten und deshalb auch nicht als die Substanz 
der Dinge, sondern nur als ihre Urbilder betrachtet wissen 
wollten; denn nur dadurch wurde es möglich, die Vielheit 
der Ideen mit der Einheit der Weltursache zu vereinigen. 
Die platonische Schilderung der Materie wird buchstäblich 
verstanden, zwischen die Materie und die Ideen mit Piaton 
(S. 143) die Weltseele gestellt, deren platonische Konstruktion 
der angebliche Lokrer Timäos sich aneignet. — Neben dieser 
Metaphysik wurden aber auch alle anderen Teile der Philo- 
sophie in neupythagoreischen Schriften behandelt. Ein Bewes 
für die logische Tätigkeit der Schule war neben anderm 
die pseudoarchyteische Schrift „über das All", welche die 
Kategorienlehre meist im Anschluß an Aristoteles, aber in 
manchem auch von ihm abweichend, behandelte. In ihrer 
Physik folgen die Neupythagoreer zunächst Piaton und den 
Stoikern , wenn sie die Schönheit und Vollkommenheit der 
Welt preisen, der auch das Übel in ihr keinen Eintrag tue, 
und wenn sie namentlich die Gestirne als die sichtbaren 
Götter bezeichnen. Von Aristoteles entlehnen sie die Lehre 
von der Ewigkeit der Welt und des Menschengeschlechts, 
die in der Schule seit Okellos allgemein behauptet wird, 
und an ihn schließen ^sie sich auch in ihren Aussagen über 
den Gegensatz der himmlischen und der irdischen Welt, die 
ünwandelbarkeit der einen und die Veränderlichkeit der 
andern, vorzugsweise an. Mit Piaton und den alten Pytha- 



§ 91. Die neuen Pythagoreer. 297 

goreem .werden die Kaumgrößen aus den Zahlen, die Ele- 
mente aus den regelmäßigen Körpern abgeleitet^, daneben 
begegnen wir aber auch (bei Okellos) der aristotelischen 
Lehre von den Elementen. Die Anthropologie der Schule ist 
die platonische, nur der Pythagoreer Alexanders (s. S. 294) 
stellt sich auch hier auf die Seite des stoischen Materialis- 
mus. Die Seele wird mit Xenokrates als eine sich selbst 
bewegende Zahl und auch mit andern mathematischen Sym- 
bolen bezeichnet, die platonische Lehre von den Teilen der 
Seele, ihrer Präexistenz und Unsterblichkeit, wiederholt 5 die 
Seelenwanderung jedoch tritt bei den Neupythagoreern , so- 
weit wir sie kennen, auffallend zurück, während sie dem 
Dämonenglauben einen bedeutenden Wert beilegen; Niko- 
machos bringt die Dämonen bereits mit den jüdischen 
Engeln in Verbindung. — Die erhaltenen Bruchstücke aus 
den zahlreichen ethischen und politischen Schriften 
der „Pythagoreer" bringen nur farblose Wiederholungen 
platonischer, noch mehr aber peripatetischer Bestimmungen 
mit verhältnismäßig geringen stoischen Zutaten. Bestimmter 
tritt die Eigentümlichkeit der neupythagoreischen Schule in 
ihren religiösen Lehren hervor. Wir begegnen in diesen 
einerseits einer geläuterten Gottesidee und mit Beziehung 
auf den höchsten Gott der Forderung eines rein geistigen 
Gottesdienstes; anderseits aber wird die volkstümliche Götter- 
verehrung vorausgesetzt, der Mantik ein hoher Wert bei- 
gelegt und eine Reinheit des Lebens verlangt , zu welcher 
die in den pythagoreischen Mysterien üblichen Enthaltungen 
gehören. Noch stärker kommt aber dieses Element in jenen 
Schilderungen zur Entwicklung, welche in Pythagoras und 
ApoUonios von Tyana das Ideal der neupythagoreischen 
Philosophie darstellten und uns in den Mitteilungen über 
ApoUonios', Moderatus' und Nikomachos' Biographien des 
Pythagoras (S. 10) und in Philostratos' (um 220 verfaßtem) 
Leben des ApoUonios vorliegen. Die Philosophie erscheint 
hier als die wahre Religion, der Philosoph als ein Prophet 
und Diener der Gottheit. Die höchste Aufgabe des Menschen, 



298 Dritte Periode. 

das einzige Mittel, um seine an den Leib und die Sinnlich- 
keit gekettete Seele zu befreien, ist die Reinheit des Lebens 
und die wahre Gottesverehrung; und wenn dazu freilich 
würdige Vorstellungen über die Gottheit und ein tugend- 
haftes, dem Wohl unsrer Mitmenschen gewidmetes Leben 
gehören, so ist doch nicht minder wesentlich eine Askese, 
die wenigstens da, wo sie zu ihrer vollkommenen Ausbildung 
gelangt ist, die Enthaltung von Fleisch- und Weingenuß, 
die Ehelosigkeit, die leinene Priesterkleidung, das Verbot 
des Eides und der Tieropfer, und in den Asketen- und 
Philosophenvereinen die Gütergemeinschaft und die übrigen 
von der Sage den alten Pythagoreern zugeschriebenen Ein- 
richtungen umfaßt» Die augenfälligste Belohnung dieser 
Frömmigkeit besteht in jener Wunderkraft und in jenem an 
Allwissenheit grenzenden prophetischen Vorherwissen, von 
deren Beweisen die Lebensbeschreibungen des Pythagoras 
und ApoUonios voll sind. 

§ 92. Die pythagorisierenden Platoniker. 

Die Geistesrichtung, welche sich in dem Auftreten der 
neuen Pythagoreer zuerst ankündigt, fand in der Folge auch 
bei den Piatonikern Eingang, von denen jene von Hause 
aus den bedeutendsten Teil ihrer Lehren entlehnt hatten. 
Schon Eudoros (S. 270) zeigt sich von ihr berührt; be- 
stimmter tritt sie bei Plutarch (S. 284) hervor, der wohl 
ihr einflußreichster Vertreter im 1. Jahrhundert n. Chr. war^). 
Plutarch ist ausgesprochener Platoniker, aber er verschließt 
sich auch dem Einfluß der peripatetischen und in einzelnem 
trotz aller grundsätzlichen Polemik gegen sie sogar dem der 
stoischen Philosophie nicht, und nur den Epikureismus lehnt 
er unbedingt ab. Piatons Lehre selbst aber faßt er ganz über- 
wiegend in dem Sinn auf, worin ihm die Neupythagoreer 
vorangegangen waren. Den theoretischen Fragen als solchen 



^) S. Volkmann Leben, Schriften u. Philosophie des PL 2 Tle. 
neue Ausg. 1872. 



§ 92. Die pythagorisierenden Platoniker. 299 

legt er wenig Wert bei und zweifelt auch an der Möglich- 
keit, sie zu lösen ; um so lebhafter wendet sich dagegen sein 
Interesse alle dem zu, was für das sittliche und religiöse 
Leben von Bedeutung ist. Mit einer reinen, der platonischen 
entsprechenden Ansicht von der Gottheit tritt er dem stoi- 
schen Materialismus und der epikureischen „Gottlosigkeit" 
{a&eoxriq) wie dem Volksaberglauben entgegen. Nur um so 
weniger kann er aber, um die Beschaffenheit der Erscheinungs- 
welt zu erklären, ein zweites Prinzip entbehren; er sucht 
jedoch dieses nicht in der an sich eigenschaftslosen Materie, 
sondern in der schlechten Weltseele, welche mit dieser von 
Anfang an verbunden war und bei der Weltbildung zwar 
mit Vernunft erfüllt und geordnet und so in die göttliche. 
Seele der Welt umgestaltet wurde, aber als die letzte Quelle 
alles Übels fortwährend nachwirkt. Die Weltbildung denkt 
er sich, von der Mehrzahl der Neupythagoreer abweichend, 
als einen zeitlichen Akt; die göttliche Wirksamkeit in der 
Welt stellt er weniger unter der Form der platonischen Ideen- 
lehre und der pythagoreischen Zahlenspekulation als unter der 
des gewöhnlichen Vorsehungsglaubens dar. Diesem Glauben 
legte er, unter Bestreitung Epikurs und des stoischen Fatalis- 
mus, den höchsten Wert bei; je weiter er aber die Gottheit 
über alles Endliche hinausgerückt hat, um so wichtiger werden 
ihm als die Vermittler ihrer Einwirkung auf die Welt die 
Dämonen, von denen er viel Abergläubisches zu erzählen 
weiß; ihnen überträgt er alles das, was er der Gottheit un- 
mittelbar zuzuschreiben sich nicht getraut. Daß er nicht 
bloß fünf Elemente annimmt, sondern auch eine Fünfzahl 
von Welten wahrscheinlich findet, ist ein ihm eigentümlicher 
Zug; was Piaton mythisch über einen Wechsel der Welt- 
zustände gesagt hatte, wird von ihm so dogmatisch genommen, 
daß er sich dadurch der sonst von ihm bestrittenen stoischen 
Lehre annähert. In die platonische Anthropologie mischen 
sich einzelne aristotelische Bestimmungen ein; die Willens- 
freiheit und die Unsterblichkeit (mit Einschluß der Seelen- 
wanderung) werden entschieden festgehalten. Die platonisch- 



300 I>"tte Periode. 

peripatetische Ethik wird von Piutarch gegen die abweichen- 
den Bestimmungen der Stoiker und Epikureer verteidigt und 
in einem reinen, edeln und maßvollen Sinn auf die ver- 
schiedenen Lebensverhältnisse angewendet, wobei ein Einflufi 
des stoischen Kosmopolitismus und eine Beschränkung des 
politischen Interesses für jene Zeit sich von selbst ergab. 
Der bezeichnendste Zug der plutarchischen Ethik ist aber 
ihre enge Verbindung mit der Religion. So rein auch Plu- 
tarchs Gottesidee ist , so lebhaft er die Verkehrtheit und 
Verderblichkeit des Aberglaubens schildert, so weiß er doch 
bei der Wärme seines religiösen Gefühls und dem geringen 
Vertrauen, das er der menschlichen Erkenntnis&higkeit 
schenkt, auf den Glauben nicht zu verzichten, daß uns die 
Gottheit durch unmittelbare Offenbarungen zu Hilfe komme, 
die wir um so ungetrübter empfangen, je vollständiger wir 
uns im Enthusiasmus aller eigenen Tätigkeit entäußern ; und 
indem er nun zugleich die natürlichen Bedingungen und 
Hilfsmittel dieser Offenbarungen berücksichtigt, macht es 
ihm seine Theorie möglich, den Weissagungsglauben seines 
Volkes in ähnlicher Weise zu rechtfertigen, wie dies bei den 
Stoikern und Neupythagoreern schon längst üblich war. Und 
nicht anders stellt er sich überhaupt zur Volksreligion. Die 
Götter der verschiedenen Völker sind, wie er sagt, nur ver- 
schiedene Namen zur Bezeichnung eines und desselben gött- 
lichen Wesens und der ihm dienenden Kräfte; den Inhalt 
der Mythen bilden philosophische Wahrheiten, die Piutarch 
mit der hergebrachten Willkür allegorischer Auslegung aus 
ihnen herauszuschälen weiß; und so abschreckend und ab- 
geschmackt auch viele Kultusgebräuche sein mögen, so 
bietet ihm doch, wenn nichts andres ausreicht, schon seine 
Dämonenlehre die Mittel, eine scheinbare Rechtfertigung ftlr 
sie zu finden. Die pythagoreische Askese wird jedoch von 
ihm nicht verlangt. 

Mit Piutarch treffen unter den späteren Piatonikern 
(S. 285) die zwei geistesverwandten Rhetoren Maximus und 
A pul eins zusammen, in deren eklektischem Piatonismus 



§ 92. Die pythagorisierenden Platoniker. 301 

neben^ dem Gegensatze Gottes und der Materie die Dämonen 
als die Vermittler dieses Gegensatzes eine große Rolle spielen. 
Mit der neupythagoreischen Lehre von den Urgründen und 
den Zahlen bertlhrt sich Theon der Smyrnäer; die Ewig- 
keit der Welt, die Annahme, daß die Ideen Gedanken der 
Gottheit seien, die Dämonen, deren Obhut die Welt unter 
dem Monde anvertraut ist, begegnen uns bei Albinus, die 
schlechte Weltseele Plutarchs beiAttikos. Celsus sieht 
mit seinen Vorgängern in den Dämonen die Vermittler der 
göttlichen Wirksamkeit auf die Welt, welche bei der Er- 
habenheit Gottes und seinem Gegensatz zur Materie keine 
unmittelbare sein kann ; und er bedient sich dieser Annahme 
zur Verteidigung des Polytheismus und der nationalen Kulte. 
Noch näher steht den Pythagoreern Numenios aus Apamea 
(um 160), der allgemein als solcher bezeichnet wird; die 
Grundlage seiner Ansichten bildet jedoch der Piatonismus, 
neben dem er sich aber mit weit ausgreifendem Synkretis- 
mus auch auf Magier, Ägypter und Brahmanen und auf den 
von ihm hochverehrten Moses (Piaton ein Mcoa^g aTztm^wv) 
beruft; auch Philon von Alexandreia und christliche Gnostiker 
scheint er benützt zu haben. Mit der Unterscheidung Gottes 
und der Materie, der Einheit und der unbestimmten Zwei- 
heit (s. S. 295) beginnend, setzt er den Abstand zwischen 
beiden so groß, daß er eine unmittelbare Einwirkung des 
höchsten Gottes auf die Materie für unmöglich hält und des- 
halb (wie der Gnostiker Valentin) zwischen beide den Welt- 
bildner oder Demiurg als zweiten Gott einschiebt ; die Welt 
selbst nannte er den dritten Gott. Mit der Materie dachte 
er sich, wie Plutarch, eine schlechte Seele verbunden; aus 
ihr sollte der sterbliche Teil der menschlichen Seele stammen, 
den er geradezu als zweite, vernunftlose Seele bezeichnete. 
Aus dem körperfreien Leben durch ihre Schuld in den Leib 
herabgesunken, soll die Seele nach dem Austritt aus ihm, 
wenn sie keiner Wanderung durch andre Leiber bedarf (wie 
bei den Stoikern nach der Weltverbrennung), mit der Gott- 
heit unterschiedslos eins werden. Eine Gabe der Gottheit 



302 Dritte Periode. 

ist die Einsicht; die für den Menschen das höchste Gut ist; 
und diese Gabe wird nur dem zuteil, der sich dem Urguten 
mit Ausschluß aller andern Gedanken zuwendet. Gleicher 
Richtung, wie Numenios, waren, soweit wir sie kennen, auch 
Kronios und Harpokration. 

Aus einem ägyptischen Zweige der neupythagoreisch- 
platonischen Schule ist, wie es scheint, gegen das Ende des 
3. Jahrhunderts die Mehrzahl der Schriften hervorgegangen, 
die uns unter dem Namen des Hermes Trismegistos 
überliefert sind. Ein Gmndzug dieser Schule, das Bestreben, 
die Kluft zwischen der Welt und der Gottheit durch Mittel- 
wesen auszufüllen, kommt auch hier zum Ausdruck. Der 
höchste Gott ist als der Urheber des Seins und der Vernunft 
über beide erhaben; er ist das Gute, das aber doch als 
wollendes und denkendes Wesen, als Persönlichkeit gedacht 
ist. Zu ihm soll sich der Novg verhalten wie das Licht zur 
Sonne, zugleich verschieden und untrennbar von ihm sein. 
Vom Novg hängt die Seele (bei den vernunftlosen Wesen die 
q)taig) ab, zwischen ihr und der Materie steht die Luft. In- 
dem die Materie von Gott geordnet und belebt wurde, ent- 
stand die Welt. Von der göttlichen Kraft getragen, mit 
sichtbaren und unsichtbaren Göttern und Dämonen erfüllt, 
wird sie als der zweite, der Mensch als der dritte Gott be- 
zeichnet. Die unverbrüchliche Ordnung des Weltlaufs, die 
Vorsehung und das Verhängnis, werden in stoischer Fassung 
gelehrt, die platonische Anthropologie mit manchen, unter 
sich nicht durchaus übereinstimmenden Zusätzen wiederholt. 
Das einzige Mittel, um der Seele die dereinstige Rückkehr 
in ihre höhere Heimat zu sichern, ist die Frömmigkeit, die 
hier mit der Philosophie zusammenfallt, da sie wesentlich in 
Gotteserkenntnis und Rechtschaffenheit besteht. Daß diese 
durch Abkehr von der Sinnenwelt bedingt ist, versteht sich 
von selbst; doch treten die asketischen Konsequenzen dieses 
Standpunkts in den hermetischen Schriften nur vereinzelt 
hervor. Um so stärker macht sich hierin als eines ihrer 
Grundmotive die Tendenz geltend, die nationale und zunächst 



§ 93. Die jüdisch-griechische Philosophie vor Philon. 303 

die ägyptische Götterverehrung gegen das Christentum zu 
verteidigen, dessen Sieg sie bereits als fast unabwendbar be- 
trachten. 



2. Die jüdisch-griechische Philosophie. 

§ 93, Die jüdisch-griechische Philosophie 
vor Philon. 

Noch kräftiger als in dem rein griechischen Bildungs- 
gebiet entwickelte sich die dualistische Spekulation der neuen 
Pythagoreer und Platoniker in den Ländern, die unter 
griechischem Einflüsse standen, bei den Juden, deren Religion 
ihr von Hause aus die eingreifendsten Anknüpfungspunkte 
darbot: den Monotheismus, den Gegensatz Gottes und der 
Welt, den Offenbarungs- und Weissagungsglauben, die Vor- 
stellungen über die Engel, den Geist Gottes und die göttliche 
Weisheit. Selbst in Palästina hatte die griechische Lebens- 
und Denkweise, seit dieses Land bald dem ägyptischen, bald 
dem syrischen Reich angehörte, eine solche Verbreitung ge- 
wonnen, daß sich Antiochos Epiphanes bei seinem Versuch, 
die Juden gewaltsam zu hellenisieren (167 v. Chr.), auf eine 
zahlreiche und namentlich unter den höheren Klassen ver- 
breitete Partei stützen konnte. Ein merkwürdiges Zeugnis 
für die Beachtung, welche die griechische Literatur und 
insbesondere die stoische Philosophie auch in Palästina fand, 
läßt sich dem Koheleth (dem „Prediger Salomo", um 200 
V. Chr. entnehmen. Aus derselben Schrift (9, 2. 3, 21) geht 
auch hervor, daß schon vor dem Ende des 3. Jahrhunderts, 
wahrscheinlich bereits von religiösen Gesellschaften getragen, 
in Palästina jene Anschauungen Wurzel gefaßt hatten, die 
uns weiter entwickelt bei den Essenern^) (-äern) begegnen ; 



^) Die Essener selbst scheinen sich die Frommen (Chasidim, da<Ji^ato& 
1. Macc. 7, 18) genannt zu haben und aus zwei aramäischen Formen dieses 
Namens die griechischen Bezeichnungen Saaatot und ^Eatrtjvoi entstanden 



304 Dritte Periode. 

einem Asketen verein , der mit den Neupjthagoreern eine so 
durchgreifende Verwandtschaft zeigt, dafi wir nur annehmen 
können, er sei unter dem Einfluß des orphisch-pythagoreischen 
Mysterienwesens entstanden und habe in der Folge, nach 
der Bildung einer neupythagoreischen Philosophie, auch aus 
ihr manches in seine Lehre aufgenommen. Im ersten Jahr- 
hundert unsrer Zeitrechnung, bei Philon, Josephus und Plinius, 
erscheinen die Essener als ein Verein von etwa 4000 Mit- 
gliedern, die teils in abgesonderten Niederlassungen, teils in 
städtischen Ordenshäusern, in strenger Ordenszucht und 
hierarchischer Gliederung, unter eigenen Priestern und Be- 
amten, in vollständiger Gütergemeinschaft zusammenlebten-, 
ihren Lebensunterhalt verschafften sie sich durch Landbau 
und Gewerbe. Sie befleißigten sich der äußersten Einfach- 
heit, machten sich Sittenstrenge, Wahrhaftigkeit, unbeschränkte 
Mildtätigkeit zum Grundsatz und duldeten in ihrer Mitte 
keine Sklaverei. Sie verbanden aber damit auch eine in 
eigentümlichen Gebräuchen sich äußernde Reinheit des 
Lebens: sie verwarfen den Wein- und Fleischgenuß, den 
Gebrauch des Salböls, die Tötung der Tiere und die blutigen 
Opfer; sie enthielten sich aller nicht nach den Ordensregeln 
bereiteten Speisen ; sie verlangten von ihren Mitgliedern Ehe- 
losigkeit und auch von denen einer tieferen Ordnung Be- 
schränkung des ehelichen Verkehrs auf den Zweck der Er- 
zeugung von Kindern; sie hatten eine ängstliche Scheu vor 
jeder levitischen Verunreinigung; sie trugen nur weiße Kleider ; 
sie verboten den Eid; sie setzten ihre täglichen Bäder und 
gemeinsamen Mahle an die Stelle des nationalen Kultus, von 
dem sie ausgeschlossen waren. Sie hatten auch ihre eigenen 
Lehren und Lehrschriften, die streng geheim gehalten wurden, 
während sie die heiligen Schriften ihres Volks durch eine 
angeblich von Moses her in der Partei fortgeerbte, allegorische 
Erklärung ihrem Standpunkt anbequemten; sie glaubten an 
eine Präexistenz der Seele und ein körperfreies Leben nach 
dem Tode ; sie scheinen angenommen zu haben, daß sich der 
Gegensatz des Besseren und Schlechteren, des Männlichen 



§ 93. Die jüdisch-griechische Philosophie vor Philon. 305 

und Weiblichen usf. durch die ganze Welt hindurch- 
ziehe; sie legten dem Glauben an Engel (wie andre dem 
an Dämonen) eine besondere Bedeutung bei; sie verehrten 
in dem Sonnenlicht und den Elementen Offenbarungen der 
Grottheit; sie verhießen als höchsten Lohn der Frömmigkeit 
und Askese die Gabe der Weissagung, die auch viele von 
ihnen besessen haben sollen. 

Einen noch günstigeren Boden fand aber die griechische 
Philosophie in Alexandreia, diesem großen Ereuzungspunkt 
hellenischer und orientalischer Kultur. Wie frühe und all- 
gemein sich die ungemein zahlreiche, zu großem Wohlstand 
gelangte jüdische Einwohnerschaft dieser Stadt die griechische 
Sprache und eben damit notwendig auch manche griechische 
Anschauungen angeeignet hatte, erhellt schon daraus, daß 
für die ägyptischen Juden nach wenigen Generationen eine 
griechische Übersetzung ihrer heiligen Schriften Bedürfnis 
geworden war, weil sie sie in der Ursprache nicht mehr 
verstanden. Den ersten sicheren Beweis von der Beschäftigung 
der alexandrinischen Juden mit griechischer Philosophie liefern 
die (von Eüsebios praep. ev. VII, 14, VIII, 10. XIII, 12 
niitgeteilten, von Hody, Lobeck, Joel, Elter u. a. mit Un- 
recht verdächtigten, von Valckenäer verteidigten)*) Bruch- 
stücke aus einer Schrift des Aristo bulos (um 150 v.Chr.). 
Dieser jüdische Peripatetiker versichert hier dem König 
Ptolemäos Philometor, schon die alten griechischen Dichter 
und Philosophen, namentlich Pythagoras und Piaton, hätten 
unsre alttestamentlichen Schriften benützt, und um dieser 
Versicherung Glauben zu verschaffen, beruft er sich auf eine 
Reihe angeblicher Verse eines Orpheus und Lines, Homer 
und Hesiod, die zwar aufs unverschämteste gefälscht sind, 
die aber weder Clemens noch Eusebios als untergeschoben er- 
kannt haben. Andrerseits sucht er aus den alttestamentlichen 
Aussprüchen und Erzählungen die Anthropomorphismen, die 
seinem vorgeschrittenen Denken zum Anstoß gereichen, durch 



^) Näheres s. Phil. d. Gr. III 2* S. 277 ff., 2. 
Zeller, Grundrifi. 20 



30(5 Dritte Periode. 

Umdeutung zu entfernen. Was er aber dabei von eigenen 
Ansichten äußert, enthält, soweit es philosopischen Ursprungs 
ist, noch keine Hinweisung auf die Form der Spekulation, 
die wir später bei Philon finden. Bestimmte Spuren dieser 
begegnen uns erst im ersten vorchristlichen Jahrhundert 
(wohl um 30 V. Chr.) in dem pseudosalomonischen Buch 
der Weisheit, welches neben einigen sonstigen Anklängen 
an den Essäismus namentlich in seinen Äußerungen über die 
Präexistenz der Seele, über ihre Beschwerung durch den 
Leib und ihre Unvergänglichkeit (8, 19 f. 9, 14 ff. u. a.), und 
in einer Annahme einer vorweltlichen Materie (11, 17) an 
die Platoniker und Pythagoreer erinnert und durch seine 
Hypostasierung der göttlichen Weisheit (7, 22 ff.) Philons 
Lehre vom Logos vorarbeitet. Der gleichen Zeit gehören 
aber auch jene Vorgänger Philons an, deren er selbst öfters 
erwähnt, indem er sich auf die von ihnen festgestellten 
Regeln der allegorischen Schrifterklärung beruft. In den 
Erklärungen^ die er von ihnen anführt, kommt mit einigen 
andern stoischen Bestimmungen auch der „göttliche Logos^ 
vor; ob und wie bestimmt jedoch dieser bereits vor Philon 
von der Gottheit selbst unterschieden wurde, wissen wir 
nicht. — Die Therapeuten, ein jüdisch-ägyptischer, den 
Essenern verwandter, aber ausschließlich auf Erbauung, 
allegorische Schrifterklärung und theologische Spekulation 
gerichteter Asketenverein, welchen die philonische Schrift 
„vom beschaulichen Leben" schildert, stehen auch dann, 
wenn diese Schilderung (wie wir annehmen müssen) einer 
tatsächlichen Grundlage nicht entbehrt, an geschichtlicher 
Bedeutung hinter den Essenern jedenfalls weit zurück. 

§ 94. Philon von Alexandreia^). 

Philons Geburt fällt etwa zwischen 20 und 30 v. Chr., 
sein Tod nicht lange nach 40 n. Chr. Er war ein treuer 



^) S. DlHNE Geschichtl. Darstell, d. jüdisch-alexandrin. Beligionsphil. 
1834. Heinze Lehre vom Logos 8. 204 ff. Dbümmond Philo Jadaeus 1888. 



§ 94. Pbilon von Alexandreia. 307 

Sohn seines Volkes, von der höchsten Verehrung gegen 
dessen heilige Schriften und vor allem gegen Moses erfüllt; 
jene Schriften hält er nicht bloß im Urtext, sondern auch in 
der griechischen Übersetzung für wörtlich inspiriert. Zugleich 
ist er abei* der Schüler und Bewunderer der griechischen 
Philosophen, eines Piaton und Pythagoras, eines Parmenides, 
Empedokles, Zenon und Eleanthes. So ist er denn auch 
überseugt, daß sich bei beiden eine und dieselbe Wahrheit 
finde, rein und vollkommen freilich nur in den jüdischen 
Offenbarungsurkunden ; und er rechtfertigt diese Überzeugung 
mit den hergebrachten Mitteln: einerseits mit der Voraus- 
setzung, daß die hellenischen Weisen selbst die alttestament- 
liehen Schriften benützt haben, andrerseits durch die 
schrankenloseste Anwendung der allegorischen Schrift- 
erklärung, die ihm in jeder beliebigen Stelle jeden beliebigen 
Sinn zu finden erlaubt. Wiewohl er daher nur der Ausleger 
der Heiligen Schrift sein will und seine Ansichten fast durch- 
aus in dieser Form vorträgt, ist sein System doch in Wahr- 
heit eine Verknüpfung griechischer Philosophie mit jüdischer 
Theologie, deren wissenschaftliche Bestandteile zum über- 
wiegenden Teil aus der ersteren stammen. Die Philosophie, 
der er folgt, gehört aber ganz der Form des Piatonismus an, 
die sich seit einem Jahrhundert, zunächst in Alexandreia, 
entwickelt hatte und sich bald nach Platon, bald nach Pytha- 
goras nannte, zu der indessen auch der Stoizismus gerade bei 
Platon einen bedeutenden Beitrag geliefert hat. 

Den Ausgangspunkt des philonischen Systems bildet die 
Idee der Gottheit. Gleich hier kreuzen sich aber die ver- 
schiedenen Strömungen, aus denen Philons Spekulation her- 
vorgegangen ist Einerseits hat er eine so hohe Vorstellung 
von der Erhabenheit Gottes über alles Endliche, daß seiner 
Ansicht nach kein Begriff und kein Name seiner Größe 



Wendland Ph.s Schrift über d. Vorsehung 1892. Falter Ph. u. Plotin 1906. 
Philons Werke hrsg. v. Cohn u. Wendland ed. maior u. minor 1896 ff. (bis 
jetzt 5 Bde. erschienen). 



308 Dritte Periode. 

entspricht; Gott erscheint ihm vollkommener als jede Voll- 
kommenheit, besser als das Gute, namen- und eigenschaftslos, 
unbegreiflich : wir können, wie Philon sagt, nur wissen, d a 8 
er ist, nicht was er ist, nur der Name des Seienden (der 
Jehovahnäme) kommt ihm zu. Andrerseits muß aber Gott 
alles Sein und alle Vollkommenheit ursprtlnglich in sich 
schließen, denn nur von ihm können sie dem Endlichen zu- 
fließen , und nur um seiner Vollkommenheit nicht zu nahe 
zu treten, sind ihm alle endlichen Prädikate abgesprochen 
worden ; namentlich aber muß er als die letzte Ursache von 
allem gedacht, es muß ihm ein unaufhörliches Wirken zu- 
geschrieben und alle Vollkommenheit in den Geschöpfen von 
ihm hergeleitet werden; wobei es sich für den Platoniker 
und den jüdischen Monotheisten von selbst versteht, daß 
diese Wirksamkeit nur den besten Zwecken dienen kann, 
daß von den zwei Grundeigenschaften Gottes, Macht und 
und Güte, die zweite sein Wesen noch unmittelbarer aus- 
drückt als die erste. 

Um nun diese absolute Wirksamkeit Gottes in der Welt 
mit seiner absoluten Überweltlichkeit zu vereinigen, flüchtet 
sich Philon zu einer Annahme, die zwar auch andern in jener 
Zeit nicht fremd war (vgl. S. 272. 299—302), die aber vor 
Plotin keiner so systematisch ausgebildet hat wie er: der 
Annahme von Mittelwesen, für deren nähere Bestimmung ihm 
neben dem Engel- und Däraonenglauben und neben Piatons 
Aussagen über die Weltseele und die Ideen, vor allem die 
stoische Lehre von den durch die Welt sich verbreitenden 
Ausflüssen der Gottheit zum Vorbild gedient hat. Er nennt 
diese Mittel wesen Kräfte (dvvdfieig) und beschreibt sie 
einesteils als Eigenschaften der Gottheit, als Ideen oder Ge- 
danken Gottes, als Teile der allgemeinen in der Welt walten- 
den Kraft und Vernunft, andernteils aber zugleich als Diener, 
Gesandte und Trabanten der Gottheit, als Vollstrecker ihres 
Willens, als Seelen, Engel und Dämonen. Diese beiden Dar- 
stellungen miteinander auszugleichen, auf die Frage nach der 
Persönlichkeit der Kräfte eine klare Antwort zu geben, war 



§ 94. Philon von Alexandreia. 309 

ihm nicht möglich. Alle diese Kräfte fassen sich aber in 
einer y in dem Logos, zusammen. Er ist der allgemeinste 
Vermitder zwischen Gott und der Welt, die Weisheit und 
Vernunft Gottes, die Idee, die alle Ideen, die Kraft, die alle 
Kräfte umfaßt; der Stellvertreter und Gesandte Gottes, das 
Organ der Weltschöpfung und Weltregierung, der oberste 
der Engel, der erstgeborene Sohn Gottes, der zweite Gott 
(devregog d'edg, x^eög im Unterschied von 6 d-eog). Er ist das 
Urbild der Welt und die Kraft, die alles in ihr schafft, die 
Seele , die sich mit dem Leibe der Welt bekleidet wie mit 
einem Gewand. Er hat mit einem Wort alle die Eigen- 
schaften, welche dem stoischen Logos (s. S. 230) zukommen, 
sobald man sich diesen von der Gottheit als solcher unter 
schieden und von den Zügen, die sich aus dem stoischen 
Materialismus ergaben, befreit denkt. Seine Persönlichkeit ist 
aber ebenso unsicher, wie es die der „Kräfte" überhaupt ist; 
und sie muß es sein, denn nur solange sein Begriff zwischen 
dem eines persönlichen, von Gott verschiedenen Wesens und 
dem einer unpersönlichen göttlichen Kraft oder Eigenschaft 
in der Schwebe bleibt, eignet er sich, die unlösbare Aufgabe, 
der er dienen soll, wenigstens scheinbar zu lösen, es begreif- 
lich zu machen, wie Gott der Welt und allen ihren Teilen 
mit seiner Kraft und Wirksamkeit gegenwärtig sein kann, 
wenn er doch mit seinem Wesen schlechterdings außer ihr 
ist und durch jede Bewegung mit der Materie beflekt würde. 
Aus der in ihr wirkenden göttlichen Kraft läßt sich aber 
die Beschaffenheit der Welt nur teilweise begreifen. Um die 
Übel und Mängel des endlichen Daseins, namentlich aber um 
das Böse zu erklären, das der Seele durch ihre Verbindung 
mit dem Leib anhaftet, müssen wir noch ein zweites Prinzip 
voraussetzen, und dieses weiß Philon mit Piaton nur in der 
Materie zu finden. Auch in seiner näheren Beschreibung 
der Materie folgt er Piaton, nur daß er sie, wie die meisten, 
als raumerfüllende Masse auffaßt, und so bald mit Piaton 
als das ju^ ov, bald iixlf; ^en Stoikern als ovala bezeichnet. 
Aus der chaotischen i^ijv i*upg der Stoffe bildete Gott durch 



310 Dritte Periode. 

Vermittlung des Logos die Welt, welche daher einen Anfang, 
aber kein Ende hat. Die Welt denkt sich Philon mit den 
Stoikern ganz von der in ihr wirkenden Kraft Qottes ge- 
tragen, die sich am herrlichsten in den Gestirnen, diesen sicht- 
baren Göttern, zur Anschauung bringt; ihre Vollkommenheit 
verteidigt er im Sinne der stoischen Theodizee, unterläßt aber 
auch nicht, den Gedanken, dafi alles nach Zahlen geordnet 
sei, durch häufige Anwendung pythagoreischer Zahlensymbolik 
zur Geltung zu bringen. In seiner Anthropologie, dem 
Teil der Physik, an dem ihm weitaus am meisten gelegen ist, 
hält er sich an die platonische und pythagoreische Über- 
lieferung über den Fall der Seelen, das körperlose Fortleben 
der geläuterten Seelen nach dem Tode, die Wanderung der 
reinigungsbedürftigen, die Gottverwandtschaft des mensch- 
lichen Geistes, die Teile der Seele, die Freiheit des Willens. 
Das Wichtigste ist ihm aber der von ihm sehr schroff ge- 
faßte Gegensatz der Vernunft und der Sinnlichkeit. Der Leib 
ist, wie er sagt, das Grab der Seele, die Quelle aller der 
Übel, unter denen sie seufzt; durch ihre Verbindung mit dem 
Leibe ist jedem Menschen die Neigung zur Sünde angeboren, 
von der sich niemand von seiner Geburt bis zu seinem Tode 
frei erhalten kann. Möglichste Lossagung von der Sinnlich- 
keit ist daher eine Grundforderung der philonischen Ethik; 
er verlangt mit den Stoikern Apathie, gänzliche Ausrottung der 
Affekte, er läßt mit ihnen nur die Tugend für ein Gut gelten, 
verwirft alle sinnliche Lust, redet kynischer Einfachheit das 
Wort, eignet sich die Lehre derKyniker von den Tugenden und 
den Affekten, ihre Schilderung des Weisen, ihre Unterscheidung 
der Weisen und der Fortschreitenden an, bekennt sich mit 
ihnen zum Weltbürgertum. Aber an die Stelle des stoischen 
Selbstvertrauens tritt hier das Vertrauen auf die Gottheit. 
Gott allein wirkt in uns alles Gute, er allein kann die Tugend 
in uns pflanzen, nur wer das Gute um seineswillen tut, ist 
wahrhaft gut, nur aus dem Glauben stammt die Weisheit, 
auf der alle Tugend beruht. Bei dieser Tugend selbst aber 
legt Philon weit weniger Wert auf das Handeln als auf das 



§ 95. Neuplatonismus. 311 

Erkennen oder richtiger auf das innere Leben des frommen 
Gemüts. Denn nicht bloß das tätige („politische^) Leben 
widerstrebt ihm, weil es uns in äußere Dinge verwickelt und 
von uns selbst abzieht, sondern 'auch die Wissenschaft hat 
für ihn nur als Hilfsmittel der Frömmigkeit einen Wert. 
Auch die religiöse Vollkommenheit hat aber verschiedene 
Stufen. Ihrer Entstehung nach .steht die „asketische^, d. h. 
auf Übung beruhende Tugend (die Jakobs) tiefer als die, 
welche sich auf Unterricht gründet (die Abrahams), und beide 
stehen tiefer als die, welche unmittelbar aus einer gott- 
begnadeten Natur hervorgeht (die Isaaks). Ihr letztes und 
höchstes Ziel hat die Tugend nur an der Gottheit, und dieser 
kommen wir um so näher, je unmittelbarer wir uns mit ihr 
berühren. So unentbehrlich daher auch die Wissenschaft sein 
mag: das Höchste erreichen wir nur dann, wenn wir, über 
alle Vermittlungen, selbst den Logos, hinausgehend, im Zu- 
stand der Bewußtlosigkeit, in der Ekstase, die höhere Er- 
leuchtung in uns aufnehmen und so die Gottheit in ihrer 
reinen Einheit anschauen und in uns wirken lassen. Dieses 
Hinausstreben über das bewußte Denken war der griechischen 
Philosophie bis dahin fremd ; aber auch nach Philon dauerte 
es noch zwei Jahrhunderte, bis sie sich dazu entschloß. 



Dritter Abschnitt. 



Der Neuplatonismus. 

§ 95. Entstehung, Charakter und Entwicklung 
des Neuplatonismus. 

Die Anschauungen, welche in der platonisch-pythagorei- 
schen Schule seit Jahrhunderten immer ausschließlicher zur 
Geltung gekommen waren, wurden im 3. Jahrhundert unsrer 
Zeitrechnung zu einem großartigen System entwickelt, für 
dessen Aufbau neben (J^j. platonischen nicht bloß die ari- 



312 Dritte Periode. 

stotelische, sondern auch die stoische Philosophie in be- 
deutendem Umfang benützt wurde; innere und äußere Gründe 
lassen vermuten, daß auch Philons Lehre auf seine Ent- 
stehung mittelbar oder unmittelbar eingewirkt habe. Hatten 
schon die Vorgänger des Neuplatonismus die Bedeutung der 
Philosophie darin gefunden, daß sie uns mit der Gottheit in 
Verbindung bringe, uns zu dem unendlichen, über alles Sein 
und Begreifen erhabenen Wesen hinführe, so wird jetzt der 
Versuch gemacht, die Gesamtheit der endlichen Dinge, mit 
Einschluß der Materie, aus einem durchaus unerkennbaren 
und bestimmungslosen Urwesen abzuleiten und dadurch die 
stufenweise , bis zur substantiellen Einigung mit jenem Ur- 
wesen fortgehende Erhebung zu ihm vorzubereiten. Das 
praktische Ziel und das letzte Motiv dieser Spekulation ist 
dasselbe, welches die Platoniker und Pythagoreer bisher schon 
im Auge gehabt hatten ; ebenso geht sie mit diesen von dem 
Gegensatz des Unendlichen und des Endlichen, des Geistes 
und der Materie aus. Aber es wird nicht bloß dieser Gegen- 
satz aufs äußerste angespannt und andrerseits die Einheit mit 
Gott, zu welcher der Mensch gelangen soll, auf die Spitze 
getrieben, sondern es wird zugleich gefordert, daß der Gegen- 
satz selbst aus der Einheit methodisch abgeleitet, die Ge- 
samtheit der Dinge als ein aus der Gottheit in geordneter 
Abfolge hervorgehendes und zu ihr zurückkehrendes Ganzes 
begriffen werde. Der dualistische Spiritualismus der plato- 
nischen Schule verbindet sich hier mit dem stoischen Monis- 
mus zur Erzeugung eines Neuen; so wenig auch die Urheber 
dieser Spekulation selbst etwas andres sein wollten als treue 
Schüler und Ausleger Piatons. 

Als Stifter der neuplatonischen Schule wird A m m o n i o s 
Sakkas bezeichnet, der erst Tagelöhner war (daher der Bei- 
name 2aY,Y.ag = aa%xoq)6Qog), später die platonische Philo- 
sophie in Alexandreia mit Auszeichnung lehrte und um 
242 n. Chr. gestorben zu sein scheint, der aber keine 
Schriften hinterlassen hatte. Indessen legen ihm nur un- 
zuverlässige Berichte aus dem 5. Jahrhundert (Hierokles 



§ 95. Neuplatonismus. 31 3 

und wahrscheinlich aus ihm NemesiOS) die ünterscheidungs- 
lehren des plotinischen Systems bei. An urkundlichen Nach- 
richten über seine Lehre fehlt es uns gänzlich; von seinen 
Schalern hatte Or igen es (mit dem gleichnamigen christ- 
lichen Theologen, der Ammonios gleichfalls gehört haben 
soll, nicht zu verwechseln) die Gottheit, welche Plotin über 
den Novg hinausrückt, von diesem noch nicht unterschieden 
und auch ihre Unterscheidung von dem Weltschöpfer (s. S. 2—) 
bestritten; ein zweiter von ihnen, Cassius Longinus, der 
bekannte Kritiker, Philolog und Philosoph ^) (den Aurelian 
273 hinrichten ließ), war mit Plotins Auffassung der plato- 
nischen Lehre gleichfalls nicht einverstanden und verteidigte 
gegen ihn den Satz, daß die Ideen außer dem (göttlichen) 
Novg für sich existieren. Dies beweist, daß die Lehre des 
Ammonios sich von der Plotins noch wesentlich unterschied, 
wenn sie ihr auch immerhin näher gekommen sein mag als 
die der früheren Platoniker ^). Der wirkliche Begründer der 
neuplatonischen Schule war Plotin os. Dieser hervorragende 
Denker war 204/5 n. Chr. zu Lykopolis in Ägypten geboren, 
hatte 11 Jahre lang den Unterricht des Ammonios genossen, 
ging 244/5 nach Rom und begründete hier, wegen seines 
Charakters allgemein verehrt und auch von dem Kaiser 
Gallienus und seiner Gemahlin Salonina hochgeschätzt, eine 
Schule, der er bis zu seinem Tod vorstand. Er starb 270 in 
Campanien. Seine hinterlassenen Schriften gab Porphyrios, 
der auch eine uns noch erhaltene Beschreibung seines Lebens 
verfaßt hat, in sechs Enneaden heraus®). Nach Plotin be- 



^) Die uns unter dem Titel JiovoaCov ^ Aoyylvov negl vxpovs über- 
lieferte Schrift rührt nicht von dem Neuplatoniker L. her; sie ist wahr- 
scheinlich im Anfange des 1. Jahrhunderts n. Chr. verfaßt. 

2) Vgl. Archiv f. Gesch. d. Phil. VII, 295 flf. 

^) Ausgaben von Marsilius Ficinüs (1492 , später wiederholt 
abgedruckt, zuletzt Basel 1580. 1615), Creüzer (Oxf. u. Par. 1855), 
A. KiKCHHOFF (1856), H. F. MiT^LB« (2 Bde. 1878/80), Volkmann (2 Bde. 
1883 f.). Über Pl.s System : J^^ ^^^ Philosophie d. Plot. 1854. A. Richter 
Neupiaton. Studien. 5 Hefib^ cJüfß' ^* ^- ^^'^'^^'^ Plotin. Studien 1883, 



314 Dritte Periode. 

zeichnen Jamblichos und die Schule von Athen die be- 
deutendsten Wendepunkte in der Geschicihte des Neupiatonis- 
mus. Durch jenen wurde die Lehre gatiz in den Dienst der 
positiven Religion gezogen , durch diese . mit Hilfe der ari- 
stotelischen Philosophie zu einer mit logischer Meisterschaft 
ausgeführten formalistischen Scholastik umgebildet. 

§96. Das System Plotins. Die tibersinnliche Welt. 

Plotins System geht ähnlich, wie das Philons, von der 
Gottesidee aus und kommt in der Forderung der Einigung 
mit der Gottheit zum Abschluß. Zwischen diesen Polen liegt 
alles, was einerseits über den Hervorgang des abgeleiteten 
Seins aus der Gottheit, andrerseits über seine Rückkehr zur 
Gottheit gelehrt wird. 

In seiner Fassung der Gottesidee treibt nun Plotin den 
Gedanken der Unendlichkeit und Überweltlichkeit Gottes 
auf die äußerste Spitze. Indem er voraussetzt, daß das Ur- 
sprüngliche außer dem Abgeleiteten, das Gedachte außer 
dem Denkenden, das Eine außer dem Vielen sein müsse, 
sieht er sich genötigt, den letzten Grund alles Wirklichen 
und Erkennbaren schlechthin über alles Sein und Erkennen 
hinauszurücken. Das Urwesen (to TtQwzov) ist ohne Grenze, 
Gestalt und Bestimmung, das Unbegrenzte oder Unendliche 
{arteiQOv); nicht bloß keine körperliche, sondern auch keine 
geistige Eigenschaft, weder Denken noch Wollen noch Tätig- 
keit kann ihm beigelegt werden. Denn alles Denken hat 
den Unterschied des Denkenden vom Denken und vom Ge- 
dachten, alles Wollen den Unterschied des Wesens und der 
Tätigkeit, also eine Vielheit in sich, alle Tätigkeit richtet 
sich auf ein andres; das Erste aber muß eine in sich ge- 
schlossene Einheit sein. Um ferner zu denken oder zu wollen 
oder tätig zu sein, muß man dessen bedürfen, worauf die 
Tätigkeit geht; die Gottheit aber bedarf keines andern. Sie 



und in mehreren andern Abhldgen. Drews PI. u. d. Untergang d. antiken 
Weltanschauung 1907. 



§ 96. Plotin: die übersinnliche Welt. 315 

bedarf aber auch ihrer selbst nicht und kann sich nicht von 
sich selbst unterscheiden, wir können ihr daher kein Selbst- 
bewußtsein zuschreiben. So tritt die von Karneades (S. 2 — ) 
vorbereitete Leugnung der Persönlichkeit Gottes hier zuerst 
mit grundsätzlicher Entschiedenheit auf. Es läfit sich dem- 
nach der Gottheit überhaupt keine bestimmte Eigenschaft 
beilegen: sie ist das, was über alles Sein und alles Denken 
hinausliegt. Zu ihrer positiven Bezeichnung würden sich die 
Begriffe des Einen und des Guten noch am ehesten eignen; 
aber doch sind auch sie unzureichend; denn jener drückt 
nur die Verneinung der Vielheit aus, dieser nur eine Wirkung 
auf andres. Die Gottheit ist daher zwar der Grund, auf den 
wir alles Sein, die Kraft, auf die wir alle Wirkungen zurück- 
fuhren müssen; aber von ihrem Wesen können wir nichts 
wissen, als dafi es von allem Endlichen und uns Bekannten 
durchaus verschieden ist 

Sofern nun die Gottheit die Urkraft ist, muß sie alles 
hervorbringen; da sie aber ihrem Wesen nach über alles 
erhaben ist und keines andern bedarf, kann sie sich weder 
substantiell an ein andres mitteilen noch die Erzeugung des 
andern sich zum Zweck setzen; jene Hervorbringung darf 
weder (mit den Stoikern) als eine Verteilung des göttlichen 
Wesens, sein teilweises Übergehen in das Abgeleitete, noch 
darf sie als ein Willensakt gedacht werden. Allein diese Be- 
stimmungen in einem klaren und widerspruchslosen Begriff 
zu vereinigen, will Plotin nicht gelingen; er hilft sich daher 
mit Bildern: das Erste, sagt er, fließe wegen seiner Voll- 
kommenheit gleichsam über, strahle andres von sich aus usw. 
Der Hervorgang des Abgeleiteten aus dem Urwesen soll natur- 
notwendig, aber für dieses selbst in keiner Weise Bedürfnis, 
mit keiner Veränderung in ihm selbst verbunden sein. Das 
Abgeleitete hängt daher zwar durchaus an dem, aus dem es 
entsprungen ist, und strebt ihm zu, es hat kein Sein, das 
nicht von jenem in ihm gewirkt wäre, es ist von ihm er- 
füllt und getragen, hat seinen Bestand nur daran, daß es 
von ihm hervorgebracljt Wi^d*, aber das Hervorbringende 



316 I>ritte Periode. 

bleibt seinerseits ungeteilt in sich und außer dem Hervor- 
gebrachten, und Plotins Systems kann insofern weniger ein 
Emanationssjstem als ein System des dynamischen Pan- 
theismus genannt werden. Weil nun das Frühere seinem 
Wesen nach aufier dem Späteren bleibt, ist dieses notwendig 
unvollkommener als jenes, seine blofie Abschattung und Ab- 
spiegelung; und indem sich dieses Verhältnis bei jeder neuen 
Erzeugung wiederholt, jedem seine Teilnahme au dem Höheren 
durch seine nächste Ursache vermittelt ist, bildet die Gesamt- 
heit der von dem Urwesen abstammenden Wesen eine Stufen- 
reihe abnehmender Vollkommenheit, und diese Abnahme setzt 
sich so lange fort, bis am Ende das Sein sich zum Nichtsein, 
das Licht zur Finsternis abschwächt. 

Das erste Erzeugnis des Urwesens ist der Novgj das 
Denken, welches zugleich das höchste Sein ist; wie ja schon 
Plotins Vorgänger das wahrhaft Seiende, die Ideen, in das 
göttliche Denken verlegt hatten, während Piaton dem Seien- 
den Vernunft und Denken zuschrieb. Plotin war zu dem 
„Ersten** gekommen, indem er über alles Sein und Denken 
hinausging; im Herabsteigen von jenem müssen diese die 
nächste Stelle nach ihm einnehmen. Das Denken des Novg 
ist nicht diskursives, sondern zeitloses, in jedem Augenblick 
volbndetes, anschauendes Denken; seinen Gegenstand bildet 
teilo das Erste (von dem aber freilich auch dieses voU- 
konimenste Denken kein vollkommenes, durchaus einheit- 
liches Bild gewinnen soll), teils, wie beim aristotelischen 
Novg, es selbst als das Gedachte, das Seiende ; dem dagegen, 
was unter ihm ist, wendet es sich nicht zu. Sofern der Novg 
das höchste Sein ist, kommen ihm die fünf Kategorien des 
Intelligibeln zu, die Plotin Piatons „Sophist" entnommen hat: 
Sein, Bewegung, Beharren (atdaig), Identität und Unterschied. 
Die späteren Neuplatoniker jedoch, seit Porphyrios, ließen 
diese Kategorien des Intelligibeln fallen und begnügten sich 
mit den zehn aristotelischen Kategorien, gegen die Plotin 
ebenso wie gegen die vier stoischen manche Einwürfe er- 
hoben hatte, und die er nur für die Erscheinungswelt gelten 



§ 96. Plotin: die übersinnliche Welt. 317 

ließ. Das Gemeinsame, dais durch die Kategorien näher be- 
stimmt wird, nennt Plotin das Unbegrenzte oder die intelli- 
gible Materie. In ihm liegt der Grund der Vielheit, welche 
der Novg im Unterschied vom Ersten in sich hat, und ver- 
möge deren er sich in die übersinnlichen Zahlen, die Ideen, 
auseinanderlegt, von denen nicht allein jeder Gattung, sondern 
auch jedem Einzelwesen eine als das Urbild seiner indivi- 
duellen Eigentümlichkeit entsprechen soll. Diese Ideen werden 
aber zugleich in einer bei Plotin noch beliebteren Darstellungs- 
form mit Philon als wirkende Kräfte oder Geister (vol, voegal 
dvvafxeig) gefafit. Und da sie nun nicht außer einander sind, 
sondern ineinander, ohne sich jedoch deshalb zu vermischen, 
schließen sie sich auch wieder zur Einheit der intelligiblen 
Welt (xoofiog vorjfc6g\ des platonischen avxotf^v, zusammen, 
die als das fieich der Ideen auch das der Schönheit, das 
Urschöne ist, in dessen Nachbildung jede andre Schönheit 
besteht 

Aus der Vollkommenheit des Novg folgt nun von selbst, 
daß er gleichfalls ein andres aus sich erzeugen muß, und 
dieses sein Erzeugnis ist die Seele. Auch sie gehört noch 
zu der göttlichen, übersinnlichen Welt: sie hat die Ideen in 
sich und ist selbst Zahl und Idee; sie ist als Erscheinung 
des Novg Leben und Tätigkeit, und sie führt wie jener ein 
ewiges, zeitloses Leben. Aber sie steht bereits an der Grenze 
jener Welt: an sich selbst unteilbar und unkörperlich, neigt 
sie sich doch zugleich zum Teilbaren und Körperlichen, für 
das sie ihrer Natur nach sorgt und ihm die vom Novg aus- 
gehenden Wirkungen vermittelt. Sie ist deshalb auch nicht 
so eigenartig wie der Novg, Die erste Seele oder die Welt- 
seele ist nicht bloß ihrem Wesen nach außer der Körperwelt, 
sondern sie wirkt auf diese auch nicht unmittelbar ein ; und 
wenn ihr Plotin auch Selbstbewußtsein zuschreibt, findet er 
doch die Wahrnehmung, Erinnerung und Reflexion ihrer 
nicht würdig. Diese erste Seele strahlt aber eine zweite von 
sich aus, welche Plotin die Natur nennt, und erst sie ist mit 
dem Leibe der Welt ebenso verbunden wie unsre Seele mit 



318 Dritte Periode. 

unserm Leibe. Jede von diesen Seelen erzeugt und umfaßt 
aber eine Vielheit besonderer Seelen, die in ihr als ihrem 
Ursprung verknüpft sind und sich von ihr in die einzelnen 
Teile der Welt erstrecken. Mit diesen Teilseelen ist die untere 
Grenze der übersinnlichen Welt erreicht; stmgt die göttliche 
Kraft noch weiter herab, so entsteht als ihre unvollkommenste 
Erscheinung die Materie. 

§ 97. Plotins Lehre von der Erscheinungswelt. 

In seiner Ansicht von der Erscheinungswelt und ihren 
Gründen schließt sich Plotin zunächst an Piaton an. Die 
Sinnenwelt ist, im Gegensatz zu der übersinnlichen, das Ge- 
biet des geteilten und veränderlichen, der Naturnotwendig- 
keit, dem Raum- und Zeitverhältnis unterworfenen, der 
wahren Wirklichkeit entbehrenden Seins. Der Grund davon 
kann nur in der Materie liegen, die wir als das allgemeine 
Substrat alles Werdens und aller Veränderung voraussetzen 
müssen. Sie ist, wie sie schon Piaton und Aristoteles be- 
schrieben, das Form- und Bestimmungslose, das Schattenbild 
und die bloße Möglichkeit des Seins, das Nichtseiende, die 
Beraubung, die Penia. Sie ist aber auch — und darin geht 
Plotin über Piaton hinaus — das Böse, ja das Urböse, und 
sie ist dies eben, weil sie das Nichtseiende ist, denn alles 
Böse wird von Plotin auf einen Mangel, ein Nichtsein zurück- 
geführt; aus ihr stammt alles Böse in der Körper weit und 
aus dem Leibe das in der Seele. Trotzdem ist sie aber 
notwendig: das Licht mußte schließlich in der weitesten 
Entfernung von seinem Ursprung zur Finsternis, der Geist 
zur Materie werden, die Seele das Körperliche als ihren Ort 
hervorbringen. Indem die Seele das, was unter ihr ist, er- 
leuchtet und gestaltet, tritt sie zu diesem in Beziehung; in- 
dem sie das Übersinnliche in die Materie überträgt, die es 
nur sukzessiv zu fassen vermag, erzeugt sie die Zeit als die 
allgemeine Form ihres eigenen und des Weltlebens. Diese 
Tätigkeit der Seele (oder der Natur, vgl. S. 317) ist in- 
dessen nicht ein Wollen, sondern ein bewußtloses Schaffen, 



§ 97. Plotin: Erscheinungswelt. 3igf 

eine notwendige Folge ihres Wesens, und eben deshalb ist 
die Welt ohne Anfang und Ende, wie Plotin mit Aristoteles 
lehrt, während er zugleich nach stoischem Vorgang eine 
periodische Wiederkehr derselben Weltzustände annimmt. 
So notwendig aber jene Tätigkeit ist, so ist sie doch immer 
ein Herabsinken der Seele in die Materie, und sie wird des- 
halb auch als ihr Fall bezeichnet. 

Sofern nun diese Welt eine materielle ist, wird sie von 
Plotin als ein schattenhaftes Abbild der wahrhaft wirklichen, 
übersinnlichen betrachtet. Da es aber doch die Seele ist, die 
sie schafft und ihr die Züge ihres Urbilds aufdrückt, ist alles 
in ihr nach Zahlen und Ideen geordnet, durch die schöpfe- 
rischen Begriffe (die koyoc aTcegfioTiKoi ^ vgl. S. 229 f.), die 
das Wesen der Dinge sind, gebildet. Sie ist daher so schön 
und vollkommen, wie dies eine materielle Welt überhaupt 
sein kann. Die Naturverachtung der christlichen Gnostiker 
wird von Plotin noch mit dem vollen Natursinn des Griechen 
zurückgewiesen; und wenn er eine auf Absicht und Willen 
beruhende und auf das Einzelne gerichtete Fürsorge der 
Götter für die Welt allerdings nicht kennt, der Begriff der 
Vorsehung vielmehr bei ihm nur die natürliche Einwirkung 
des Höheren auf das Niedrigere bezeichnet, so wird doch der 
Vorsehungsglaube als solcher von ihm, im Anschluß an die 
platonische und stoische Theodizee, um so erfolgreicher ver- 
teidigt, da seine Ansichten über die Willensfreiheit und die 
jenseitige Vergeltung ihn in den Stand setzen, gerade die 
Übel, welche der stoischen Theodizee am meisten zu schaffen 
gemacht hatten, anderweitig zurechtzulegen. An die Stoiker 
(vgl. S. 231) knüpft Plotin auch mit seiner Lehre von der 
„Sympathie aller Dinge" an; aber während jene mit der 
selben nur den natürlichen Kausalzusammenhang bezeichnet 
hatten, bedeutet sie bei Plotin eine Wirkung in die Ferne, 
welche darauf beruht, daß bei der durchgängigen Lebendig- 
keit und Beseeltheit der ^e\t alles, was einem ihrer Teile 
widerfährt, von dem Qtun^eu und infolgedessen auch von 
allen andern Teilen Qitiy^f ^äen wird. 



320 Dritte Periode. 

Im Weltganzen ist es der Himmel, in welchen die Seele 
sich zuerst ergiefit, dem daher auch die reinste und edelste 
Seele innewohnt , nächst ihm die Gestirne, die auch von 
Plotin als die sichtbaren Götter gepriesen werden. Über 
Wandelbarkeit und Zeitleben erhaben und deshalb weder der 
Erinnerung noch des willkürlichen Handelns noch einer Vor- 
stellung dessen, was unter ihnen ist, fUhig, bestimmen sie 
dieses mit jener Naturnotwendigkeit, die im Zusammenhang 
und in der Sympathie des Universums begründet ist; die 
Astrologie dagegen und die ihr zugrunde liegende Vor- 
stellung von einem willkürlichen Eingreifen der Gestirne in 
den Weltlauf wird von Plotin entschieden bestritten und die 
astrologische Vorbedeutung auf das Erkennen zukünftiger 
Ereignisse aus ihren natürlichen Vorzeichen beschränkt. Der 
Raum zwischen den Gestirnen und der Erde ist der Wohn- 
platz aller Dämonen; Plotin teilt die Vorstellungen der 
platonischen Schule über diese Wesen, wiewohl er sie auch 
wieder, wie in seiner Lehre vom Eros, psychologisch umdeutet. 

Von den irdischen Wesen hat nur der Mensch für unsern 
Philosophen ein selbständiges Interesse; und wenn auch seine 
Anthropologie in ihren Grundzügen nur eine Wiederholung 
der platonischen ist, bringt sie doch im weiteren neben 
Aristotelischem auch manches Eigenartige und manche Be- 
weise einer feinen, besonders auch das Gefühlsleben betreffenden 
Beobachtung. Er schildert eingehender und in dogmatischerem 
Ton als Piaton das Leben, welches die Seele in der über- 
sinnlichen Welt führte, in der sie wie die Seelen der Götter 
keinem Wechsel und keiner Zeit unterworfen, ohne Er- 
innerung, Selbstbewußtsein und Reflexion, den Novg und das 
Seiende und das Urwesen in sich selbst unmittelbar anschaute. 
Er betrachtet ihr Herabsteigen in einen Körper (bei dem sie 
sich zuerst im Himmel mit einem ätherischen Leib umkleiden 
soll) zugleich als eine Naturnotwendigkeit und als eine 
Schuld, sofern sie durch einen unwiderstehlichen inneren 
Drang in den ihrer Beschaffenheit entsprechenden Körper 
herabgezogen wurde. Er findet das eigentliche Wesen des 



§§ 97. 98. Plotin: Erscheinungswelt ; Erhebuug z. ÜbersinnlicLen. 321 

Menschen in seiner höheren Natur , zu der aber durch ihre 
Verbindung mit dem Leibe ein zweites Ich, eine niedrigere 
Seele hinzukam, die zwar an jener hängt, aber von ihr in 
den Leib hinabreicht. Er führt das Verhältnis der Seele 
zu ihrem Leibe mit Aristoteles auf das der wirkenden Kraft 
zu ihrem Werkzeug zurück und erklärt es hieraus , daß sie 
ihn unräumlich umfasse^ dafi sie allen seinen Teilen inne- 
wohne , ohne sich selbst zu teilen oder mit ihm zu ver- 
mischen, daß sie alles, was in ihm vorgeht, wahrnehme und 
miterlebe, ohne doch selbst dadurch eine Veränderung zu 
erleiden. Er sucht die leidentlichen Seelenzustände und die 
auf das Sinnliche bezüglichen Seelentätigkeiten als Vorgänge 
zu begreifen, die sich teils in dem Leibe, teils in ihm und 
der niederen Seele gemeinsam vollziehen und von der höheren 
bloß wahrgenommen werden. Er läßt andrerseits den Novg 
und die höhere Seele zunächst unbewußt wirken und dieses 
ihr Wirken erst durch Reflexion und Abspiegelung zu einem 
bewußten werden. Er verteidigt die Willensfreiheit gegen 
den stoischen und jeden andern Fatalismus aufs entschiedenste, 
geht aber dabei nicht sehr tief und wiederholt auch seiner- 
seits die Behauptung, das Böse sei unfreiwillig. Mit der 
Vorsehung wird die Freiheit durch die Bemerkung ver- 
einigt: die Tugend sei frei, aber ihre Werke in den Welt- 
zusammenhang verflochten. Plotin wiederholt ferner die 
platonischen Beweise für die Unsterblichkeit der Seele, die 
aber doch dadurch wieder in Frage gestellt wird, daß die 
Seelen in der übersinnlichen Welt sich des Erdenlebens nicht 
erinnern sollen. Die Seelenwanderung dehnt er bis zur Ein- 
kehr in Pflanzenleiber aus, und die Vergeltung, zu der sie 
führt, macht er zu einer bis ins einzelste sich erstreckenden 
Wiedervergeltung nach dem jtis talionis. 

§ 98. Plotins Lehre von der Erhebung in die 
übersinnliche Welt. 
Da die Seele ihrem Wesen nach einer höheren Welt 
angehört, kann auch ihre höchste Aufgabe nur die sein, daß 

Zell er, Grundrifs. 21 



322 Dritte Periode. 

sie ausschließlich in dieser Welt lebe und sich von jeder 
Neigung zum Sinnlichen befreie. Die Glückseligkeit besteht 
nach Plotin in dem yoUkommenen Leben, und dieses besteht 
im Denken; von den äußeren Zuständen dagegen ist sie 
seiner Ansicht nach so unabhängig , daß sich kein Stoiker 
hierüber entschiedener aussprechen kannte. Ihre erste Be- 
dingung ist die Lossagung vom Leibe und von allem, was 
mit ihm zusammenhängt, die Reinigung (xd^aoaig)'^ aus 
dieser folgt von selbst, daß die Seele durch nichts Fremd- 
artiges gehemmt, sich der ihr eigentümlichen Tätigkeit 
überläßt: die Katharsis schließt alle Tugenden in sich. 
Daß sich diese Lossagung von der Sinnlichkeit durch ein 
asketisches Leben betätige, wird von Plotin trotz der Ent- 
haltungen, die er sich selbst auferlegte und auch an andern 
belobte, noch nicht allgemein verlangt; und in seinen Aus- 
führungen über den Eros erkennt er mit Piaton an, daß auch 
die sinnliche Schönheit uns zur unsinnlichen führen könne. 
Aber seine ganze Ethik ist von der Ansicht beherrscht, daß 
für die Seele ihre Verbindung mit dem Leibe der Grund alles 
Übels sei, und daß jede Tätigkeit um so höheren Wert 
habe, je weniger sie uns mit der Sinnenwelt in Berührung 
bringt. Die praktische und politische Tätigkeit ist zwar 
unentbehrlich, und der Tugendhafte wird sich ihr nicht ent- 
ziehen, aber sie verwickelt uns zu tief in die Außenwelt, 
sie macht uns von anderm abhängig; die ethischen und 
politischen Tugenden sind nur ein unvollkommener Ersatz 
der theoretischen. Auch diese sind aber von sehr ungleichem 
Wert. Die sinnliche Wahrnehmung zeigt uns nur dunkle 
Spuren der Wahrheit. Weit höher steht das vermittelte 
Denken (didvoiay Xoyujfiog) und seine kunstmäßige Übung, 
die Dialektik. Sie hat es mit dem wahrhaft Wirklichen, 
den Ideen und dem Wesen der Dinge, zu tun. Aber dieses 
mittelbare Erkennen selbst setzt ein unmittelbares, die 
Selbstanschauung des denkenden Geistes voraus, die zugleich 
Anschauung des göttlichen Novg ist. Doch auch sie genügt 
unserem Philosophen noch nicht. Sie führt uns zwar zum 



§ 98. Plotin: Erhebung zum Übersinnlichen. ^23 

Novg, aber nicht über ihn hinaus, und sie läßt den Unter- 
schied des Anschauenden vom Angeschauten noch bestehen. 
Zu dem Höchsten gelangen wir erst dann, wenn wir bei 
vollkommener Vertiefung in uns selbst, auch über das 
Denken uns erhebend, im Zustand der Bewußtlosigkeit, der 
Entzückung (^Taaig), der Vereinfachung (a7tX(aaig)y von 
dem göttlichen Lichte plötzlich erfüllt und mit dem Urwesen 
selbst so unmittelbar eins werden, daß jeder Unterschied 
zwischen ihm und uns verschwindet. Plotin ist mit diesem 
Zustande, der freilich immer nur ein vorübergehender sein 
kann, aus eigener^ Erfahrung wohl bekannt; von seinen 
griechischen Vorgängern hat keiner ein solches Hinausgehen 
über das Denken verlangt, wie ja auch keiner die Gottheit 
über dieses hinausrückt ; nur Philon ist ihm hierin voran- 
gegangen. 

Im Vergleich mit dieser geistigen Erhebung zur Gottheit 
hat die positive Religion für Plotin im ganzen doch 
nur eine untergeordnete Bedeutung. Er ist allerdings weit 
entfernt, sich ihr kritisch gegenüberzustellen. Sein System 
kennt ja außer der Gottheit im absoluten Sinn noch eine 
Menge höherer Wesen, die sich teils als sichtbare, teils als 
unsichtbare Götter betrachten ließen; er tadelt es ausdrück- 
lich, wenn man ihnen (wie die Christen) die ihnen ge- 
bührende Ehre verweigere, und er deutet auf sie die Götter 
der Mythologie und ihre Geschichte mit der herkömmlichen 
Willkür, ohne sich doch mit dieser Mythendeutung so eifrig 
zu befassen, wie dies manche von den Stoikern getan hatten. 
Er benützt ferner seine Lehre von der Sympathie aller Dinge 
zu einer vermeintlich rationalen Begründung der Bilder- 
verehrung, der Weissagung, des Gebets und der Magie, unter 
deren Begriff er schließlich jede Neigung und Abneigung, 
jede Wirkung des Äußeren auf das Innere stellt; so wenig 
er auch eine Wahrnehmung dessen, was auf der Erde ge- 
schieht, oder eine persönliche Einwirkung auf den Weltlauf 
mit der Natur der Götter vereinbar findet. Aber so gewiß 
er damit den Grund g^ip^rt hat, auf dem seine Nachfolger 



324 Dritte Periode. 

bei ihrer Verteidigung und Systematisierung der Volksreligion 
fortbauten, so ist doch seine eigene Stellung zu dieser immer 
noch eine yerhäitnismäfiig freie. Seinem idealen Sinn genügt 
für sein eigenes Bedürfnis der innere Gottesdienst des Philo- 
sophen: „Die Götter," sagt er bei Pokph. vita Plot. 10, als 
ihn Amelios in einen Tempel mitnehmen will, „müssen zu 
mir kommen, nicht ich zu ihnen. ^ 

§99. Plotins Schule; Porphyrios. 

Unter Plotins Schülern zeigt sich der eben genannte 
Gentilianus Amelius in dem wenigen, was über ihn 
mitgeteilt wird, als einen unklaren Denker, einen Geistes- 
verwandten und Bewunderer des Numenios. Ein weit hellerer 
Kopf ist der gelehrte Porphyrios (eigentlich: Malchos) 
aus Tyros, der, 232/3 geboren, erst Longin, dann Plotin 
zum Lehrer hatte, und nach 301, vielleicht in Rom, starb. 
Neben einigen platonischen Schriften hatte er auch mehrere 
aristotelische erklärt und namentlich der aristotelischen Logik 
seine Aufmerksamkeit zugewendet (seine Einleitung zu den 
Kategorien und die kleinere von seinen Erklärungen dieser 
Schrift ist noch vorhanden) *) ; und dieses Studium des Aristo- 
teles mußte ebenso wie Longins Einfluß das Streben nach 
Deutlichkeit der Begriffe und des Ausdruckes bei ihm be- 
fördern. Er betrachtet als seine Aufgabe die Darstellung 
und Erläuterung, nicht die Prüfung oder systematische Fort- 
bildung der Lehre Plotins; und er hat auch wirklich alles 
getan, sie verständlich zu machen, und seine Schriften haben 
durch die Klarheit ihrer Darstellung vielen Beifall gefunden. 
In seinem Abriß der Metaphysik (dq)OQfial tvqoq tä voijud) 
legt er das größte Gewicht auf die scharfe Unterscheidung 
des Geistigen und des Körperlichen, ohne im übrigen von 



^) Von den übrigen uns erhaltenen Schriften sind vier: Vit. Pyth. 
(vgl. o. S. 11), de antro nympharum, de abstinentia, ad Marcellam von 
Nauck hrsg. (2. Aufl. 1886). Über P. als Biograph seines Lehrers und 
Herausgeber seiner Schriften s. S. 118. 



§ 99. Plotins Schule; Porphyrios. 325 

Plotins Bestimmungen abzuweichen; im Novg unterschied er 
das Sein, das Denken und das Leben, aber deshalb von drei 
Hypostasen des Novg zu reden, wie dies A m e 1 i o s von einer 
ähnlichen Unterscheidung aus getan hatte, würde er ohne 
Zweifel Bedenken getragen haben. In seiner Anthropologie, 
der er mehrere Schriften gewidmet hatte, tritt, soweit sie 
uns bekannt ist, namentlich das Bestreben hervor, die Ein- 
heit der Seele mit der Mehrheit ihrer Tätigkeiten und Kräfte 
zu vereinigen. Die Seele, sagt er, habe die Formen (Xoyoi) 
aller Dinge in sich ; je nachdem sich ihr Denken auf diesen 
oder jenen Gegenstand richte, nehme es die ihm entsprechende 
Gestalt an. Er will deshalb die Annahme verschiedener Teile 
der Seele nur im uneigentlichen Sinne gestatten. Ebenso soll 
die allgemeine Seele das Wesen der Einzelseelen ausmachen, 
ohne sich an sie zu verteilen. Die Verbindung der Seele mit 
dem Leibe soll eine vollkommene Vereinigung, doch ohne 
Vermischung oder Veränderung, sein. Den Tieren legt Por- 
phyrios Vernunft bei, will aber die Seelen Wanderung nicht aut 
Tierleiber ausdehnen und die Menschenseelen sich andrerseits 
auch nicht zu übermenschlicher Natur erheben lassen; doch 
stellt er auch den geläuterten Seelen eine gänzliche Ablösung 
von den vernunftlosen Kräften in Aussicht, bei der aber frei- 
lich mit der Begierde auch die Erinnerung an das Erdenleben 
erlöschen soll. Die Hauptaufgabe der Philosophie liegt aber 
für unsern Philosophen in ihrer praktischen Wirkung, in der 
ijRettung der Seele", und hier ist ihm das Wichtigste jene 
Reinigung, jene Ablösung der Seele vom Leibe, die in seiner 
Ethik noch stärker betont wird als bei Plotin, wiewohl die 
reinigende Tugend an sich zwar über der praktischen, aber 
unter der theoretischen und der paragdimatischen (dem Novg 
als solchem zukommenden) stehen soll. Für diese Reinigung 
verlangt er entschiedener als Plotin gewisse asketische 
Übungen: die Enthaltung von Fleischspeisen, für die er in 
einer eigenen Schrift (tt. auox^g i^tpvxfov) streitet, die Ehe- 
losigkeit, die Zurückziehung von Schauspielen und ähnlichen 
Belustigungen; und für den Kampf mit der Sinnlichkeit ist 



32Ö Dritte Periode. 

ihm die Unterstützung der positiven Religion in höherem 
Grade Bedürfnis als einem Plotin. Auch er weiß sich aller- 
dings mit vielem in dem Glauben und dem Kultus seiner 
Zeit nicht zu befreunden: er erkennt an, dafi frommes Leben 
und heilige Gedanken der beste, der übersinnlichen Götter 
allein würdige Gottesdienst seien ; und in dem merkwürdigen 
Briefe an den ägyptischen Priester Anebon erhebt er gegen 
die herrschenden Vorstellungen 4iber die Götter, die Dämonen, 
die Weissagung, die Opfer, die Theurgie, die Astrologie so 
eingreifende Zweifel, dafi man glauben sollte, er hätte allen 
diesen Dingen den Rücken kehren müssen. Dies ist jedoch 
ni&ht seine Meinung. Wir müssen uns, wie er sagt, durch 
die natürlichen Zwischenstufen — die Dämonen, die sicht- 
baren Götter, die Seele und den Notg — zum Ersten erheben ; 
und von diesem Standpunkte aus bietet ihm namentlich seine 
Dämonologie, die von allem Aberglauben seiner Zeit und 
seiner Schule erfüllt ist, die Mittel, die Religion seines Volkes, 
als deren Vorkämpfer er in seinen 15 Büchern gegen die 
Christen auftrat, auch gegen seine eigenen Zweifel in Schutz 
zu nehmen. Einesteils nämlich glaubt er, diese Religion sei 
von bösen Dämonen verfälscht worden, so dafi ihrer Reinigung 
von dem, was ihm darin zum Anstoß gereicht, nur eine 
Wiederherstellung ihres ursprünglichen Wesens sein soll. 
Andrerseits aber weiß er alle wesentlichen Bestandteile der 
Volksreligion vor der Vernunft zu rechtfertigen. Die Mythen 
sind allegorische Darstellungen philosophischer Wahrheiten, 
die Götterbilder und die heiligen Tiere Symbole des Über- 
sinnlichen, die Weissagung eine Deutung natürlicher Vorzeiichen, 
die auch wohl durch Dämonen auf Tierseelen vermittelt wird, 
cUe Magie und die Theurgie eine Einwirkung auf die 
niedrigeren Seelen- und Naturkräfte und die Dämonen; und 
auch solches, was der Philosoph an sich mißbilligt, wie die 
blutigen Opfer, gestattet er der öffentlichen Gottesverehrung 
als ein Mittel zur Beschwichtigung unreiner Geister. Nur 
die Privatreligion des Philosophen soll davon frei bleiben. 



§ 100. Jamblichos und seine Schule. 327 

§ 100. Jamblichos und seine Schuie. 

Was bei Porphyrios meist nur ein Zugeständnis an die 
ttberiieferte Glaubensform war, tritt bei seinem Schüler 
Jamblichos (aus Chalkis, gest. um 330) in den Mittelpunkt 
seiner wissenschaftlichen Tätigkeit; gerade deshalb aber wurde 
er von seinen Schülern und von den späteren Neuplatonikern 
vergöttert (^elog ist sein stehendes Beiwort). Jamblichos ge- 
hörte nicht bloß seiner Abstammung nach Syrien an, sondern 
er scheint auch sein Leben hier zugebracht zu haben , und 
ebenso machen sich in seiner Philosophie die orientalischen 
Einflüsse sehr fühlbar. Er war zwar immerhin ein kenntnis- 
reicher Gelehrter, ein Erklärer platonischer und aristotelischer 
Werke und ein fruchtbarer Schriftsteller (erhalten sind aufier 
vielen weiteren Bruchstücken fünf Bücher seiner awayioyi^ 
TÜv nv&ayoQBiwv doyfidv(üv) ^). Aber er ist weit mehr spe- 
kulativer Theolog als Philosoph; und die theologische Über- 
lieferung schöpft er, kritiklos wie er ist, mit Vorliebe aus 
den trübsten und spätesten Quellen. G^gen die Mängel des 
irdischen Daseins, den Druck der Naturnotwendigkeit, weifi 
er nur bei den Göttern Hilfe zu finden; seinem phantasti- 
schen Denken verdichtet sich jedes Begriffsmoment zu einer 
eigenen Hypostase; sein Glaubensbedürfnis weiß sich mit 
Vervielfältigung des Göttlichen nicht genug zu tun. Nach 
dem Grundsatz, dafi zwischen jede Einheit und das, dem sie 
sich mitteilt, ein Vermittelndes treten müsse, unterschied er 
von dem einen unaussprechlichen Ur wesen eine zweite Ein- 
heit, die zwischen ihr und der Vielheit in der Mitte stehe. 
Plotins Novs zerlegte er in eine intelligible (vorjzog) und eine 
intellektuelle (voeQog) Welt; die erstere trotz ihrer Einheit, 
welche jede Vielheit von sich ausschliefien sollte, in eine 
Dreiheit, die sich abermals zu drei Triaden erweiterte; das 
Intellektuelle ebenfalls in drei Triaden, von denen ihm die 



') Das erste von diesen ist die Lebensbeschreibang des Pythagoras 
(s. S. 11), hrog. Ton Nauck (1884). 



328 Dritte Periode. 

letzte, wie es scheint, auch wieder zur Hebdomas wurde. 
Zum Intelligibeln sollten die Urbilder gehören, zum Intellek- 
tuellen die Ideen. Aus der ersten Seele ließ Jamblichos noch 
zwei weitere hervorgehen, von denen er aber den zu ihnen 
gehörigen NoSg, und zwar gleichfalls in doppelter Gestalt, 
abtrennte. Diesen überweltlichen Göttern zunächst stehen 
die innerweltlichen in drei Klassen: 12 himmlische Götter, 
die sich weiter zu 36 und dann zu 360 vervielfältigen; 72 
Ordnungen von unterhimmlischen und 42 von Naturgöttern 
(die Zahlen scheinen teilweise aus astrologischen Systemen 
zu stammen). Auf sie folgen dann noch Engel, Dämonen 
und Heroen. Auf diese metaphysischen Wesen wurden die 
Götter des Volkes mit der herkömmlichen synkretistischen 
Willkür gedeutet, und in ähnlicher Weise wurde die Bilder- 
verehrung, die Theurgie und die Mantik mit Gründen ver- 
teidigt, in denen sich der irrationalste Wunderglaube mit dem 
Wunsche, das Wunder doch auch wieder als etwas Rationales 
erscheinen zu lassen, widerspruchsvoll verbindet. An diese 
theologische Spekulation schließt sich bei Jamblichos die 
Zahlenspekulation an, der er nach neupythagoreischem Vor- 
gang weit höheren Wert beilegt als der wissenschaftlichen 
Mathematik, so hoch er diese auch preist. In seiner Kosmo- 
logie sind neben der Lehre von der Ewigkeit der Welt, die 
er mit seiner ganzen Schule teilt, das Bemerkenswerteste 
seine Bestimmungen über die Natur oder das Schickaal (el- 
[ÄaQf>i€vr]), sofern er dieses als eine den Menschen bedrückende 
Macht schildert, aus deren Banden er nur durch das Ein- 
greifen der Götter gelöst werden könne. In seiner Psycho- 
logie tritt noch mehr als bei Porphyrios das Bestreben her- 
vor, der Seele ihre Mittelstellung zwischen den über- und 
untermenschlichen Wesen zu wahren ; wie er denn auch mit 
jenem einen Übergang von Menschenseelen in Tierleiber be- 
stritt, und dies um so mehr, da er den Tieren nicht, wie er, 
Vernunft beilegte. Porphyrios' vier Klassen von Tugenden 
(s. S. 325) fügte er als fünfte und höchste „die einheitlichen" 
(snalat) oder „priesterlichen" bei, durch die man sich zum 



§ 100. Jamblichos und seine Schale. 329 

Urwesen als solchem erhebe; aber als das Notwendigste er- 
scheint doch auch bei ihm die Reinigung der Seele, durch die 
sie allein sich der Anhänglichkeit an die Sinnenwelt und der 
Abhängigkeit von der Natur und dem Verhängnis entzieht. 
Die Denkweise, deren entschiedensten Vertreter wir in 
Jamblichos kennen gelernt haben, beherrscht von da an die 
neuplatonische Schule. Oanz in seinem Geiste wird in der 
ihm selbst beigelegten Schrift von den Mysterien, wahr- 
scheinlich von einem seiner unmittelbaren Schüler, das Opfer- 
wesen, die Mantik, die Theurgie usw. gegen Porphyrios 
(s. S. 326) mit Geschick und Gewandtheit auf Grund des 
Satzes verteidigt, dafi man zu dem Höheren nur durch das 
Niedrigere gelange, und daß wenigstens der Mensch wegen 
seiner sinnlichen Natur diese materiellen Vermittlungen nicht 
entbehren könne. Zugleich wird aber nachdrücklich ein- 
geschärft, daß uns nur die göttliche Offenbarung über die 
Mittel belehren könne, durch die wir mit der Gottheit in 
Verbindung treten, und daß deshalb die Priester, als die Träger 
dieser Offenbarung, weit höher stehen als die Philosophen. — 
Unter den Schülern des Jamblichos, deren Namen uns be- 
kannt sind, scheint Theodoros von Asine, der auch noch 
Porphyrios gehört hatte, der bedeutendste gewesen zu sein. 
In den Mitteilungen über ihn, die wir fast ausschließlich 
Proklos verdanken, erscheint er als ein Vorgänger dieses in 
dem Versuche, eine dreigliedrige Ordnung durch alle Teile 
der übersinnlichen Welt durchzuführen. Auf das ürwesen, 
von dem er aber nicht, wie Jamblichos, eine zweite Einheit 
unterschied, ließ er drei Triaden folgen, in die er den Novg 
zerlegte: eine intelligible, eine intellektuelle (Sein, Denken, 
Leben ; vgl. S. 325) und eine demiurgische, die aber wieder 
drei Triaden umfassen sollte; dann drei Seelen, von denen 
die unterste die Weltseele oder das Verhängnis , ihr Leib 
die Natur ist. Was uns von seinen näheren Bestimmungen 
über diese Wesen bekannt ist, lautet sehr formalistisch 
und geht teilweise zu kindischer Spielerei fort. Von 
zwei weiteren Schülern Jamblichos', Ädesios und Sopa- 



330 Dritte Periode. 

troB, wiBsen wir nur, dafi jener ihm in der Leitung der 
Schule folgte und dieser unter Konstantin I. Einflufi bei 
Hofe gewann y aber schliefilicb hingerichtet wurde. De- 
xippoB ist uns durch seine Erklärung der Kategorien be- 
kannt, die jedoch ganz von Porphyrios und Jamblichos ab- 
hängig ist. Unter den Schülern des Ädesios verfolgte zwar 
Eusebios eine wissenschaftlichere Richtung; den größeren 
Einflufi hatte aber Maximus, dem seine Selbstüberhebung 
und seine theurgischen Künste am Ende (um 370) den Tod 
brachten. Er und sein Gesinnungsgenosse Chrjsanthios, 
persönlich anspruchsloser und achtungswerter, gewann den 
E^iser Julianus für die Philosophie und die alten Götter; 
weitere Männer aus diesem Kreise sind Priscus, Sallustius, 
EunapioB (s. S. 11) und der berühmte Redner Libanios. 
Als Julian nach seiner Thronbesteigung (361) eine Wieder- 
herstellung der hellenischen Religion unternahm, war es die 
neuplatonische Philosophie, welche ihn dabei leitete. Aber 
der Versuch hätte mißlingen müssen, wenn ihm auch nicht 
der frühe Tod seines Urhebers (363) ein jähes Ende bereitet 
hätte. Julians Schriften, soweit sie philosophischen Inhalts 
sind, zeigen so wenig als seines Freundes Sallustius Buch 
über die Götter eine selbständige Fortsetzung der von Jam- 
blichos entlehnten Sätze. Auch die geistvolle Hypatia, welche 
der platonischen Schule zu Alexandreia vorstand und diese 
zu hoher Blüte brachte, schliefilich aber (415) dem Fanatis- 
mus des christlichen Pöbels zum Opfer fiel, scheint die neu- 
platonische Lehre, nach den Schriften ihres Schülers, des 
Bischofs Synesios von Ptolemais (um 366 — 415), zu 
schließen, in der Gestalt vorgetragen zu haben, die ihr Jam- 
blichos gegeben hatte. 

§ 101. Die Schule von Athen; 

der Ausgang der neuplatonischen Schule. 

Zu einer letzten Wendung der neuplatonischen Wissen- 
schaft führte das Studium des Aristoteles, das in der Schule 
während des 4. Jahrhunderts zwar nicht erloschen war, aber 



§ 101. Die Schule von Athen. 33I 

doch unverkennbar seit Jamblichos unter den theosophischen 
Spekulationen und dem theurgischen Treiben an Einfluß find 
Bedeutung verloren hatte, das aber jetzt mit um so größerem 
und nachhaltigerem Eifer wieder aufgenommen wurde, je 
mehr sieh die Schule seit dem Scheitern des Julianischen 
Kestaurationsversuchs in die Stellung einer unterdrückten 
und verfolgten Sekte zurückgedrängt und je ausschließlicher 
sie sich mit ihren Hoffnungen auf ihre wissenschaftliche 
Tätigkeit beschränkt sah. In Konstantinopel widmete sich 
Themis tios während der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts 
der Erklärung der aristotelischen und auch der platonischen 
Schriften; und wenn er auch mit seinem ziemlieh oberfläch- 
lichen Eklektizismus nicht zu den Neuplatonikern gezählt 
werden kann, traf er doch mit ihnen in der Überzeugung 
von der durchgängigen Übereinstimmung des Aristoteles und 
Piaton zusammen. Der Hauptsitz der aristotelischen Studien 
wurde aber die platonische Schule in Athen; und sie war es 
auch, in der sich jene Verbindung des Aristotelismus mit 
Jamblichos' Theosophie vollzog, welche dem Neuplatonismus 
des 5. und 6. Jahrhunderts und dem von ihm abstammenden 
christlichen und mohammedanischen sein eigentümliches Ge- 
präge gab. Hier treffen wir um den Anfang des 5. Jahr- 
hunderts den Athener Plutarchos, des Nestorios Sohn, 
der 431/2 in hohem Alter starb, als Schulvorsteher und ge- 
feierter Lehrer; einen Mann, der platonische und aristote- 
lische Werke mit gleichem Eifer in Schriften und Lehr- 
vorträgen erklärte. Das Wenige, was uns über seine 
philosophischen Ansichten mitgeteilt wird, geht über die 
Überlieferung seiner Schule nicht hinaus; es betrifft vor- 
zugsweise die Psychologie, die er auf aristotelisch - plato- 
nischer Grundlage sorg&ltig behandelt. Zugleich hören wir 
aber, daß er allerlei magische und theurgische Künste von 
seinem Vater erlernt hatte und fortpflanzte. Von seinen 
Schülern ist uns Hierokles^), der in seiner Vaterstadt 

^) Zn unterBcheiden von dem älteren Stoiker gleichen Namens; 
s. S. 275 Anm. 1. 



332 Dritte Periode. 

Alexandreia gleichzeitig mit dem Aristoteliker Olympio- 
doros Philosophie lehrte ^ durch einige Schriften und Aus- 
züge aus Schriften bekannt; und diese zeigen uns in ihm 
einen Philosophen, der zwar im allgemeinen auf dem Boden 
des Neuplatonismus steht, der aber auf die praktisch-frucht- 
baren Lehren, auf den Vorsehungsglauben und reine sittliche 
Grundsätze viel höheren Wert legt als auf metaphysische 
Spekulation ; in der gleichen Richtung folgte ihm sein Schüler 
Th^osebios. Um so eifriger wurde jene Spekulation von 
Hierokles' Landsmann und Mitschüler Syrianos, dem Mit- 
arbeiter und Nachfolger Plutarchs, betrieben. Dieser von 
Proklos und den Späteren hoch gepriesene Platoniker war 
zwar gleichfalls ein genauer Kenner und eifriger Ausleger 
des Aristoteles; aber die maßgebenden Autoritäten sind für 
ihn neben Piaton, gegen den er Aristoteles tief herabsetzt, 
die neupythagoreischen und orphischen Schriften und die an- 
geblich chaldäischen Göttersprüche, und der Lieblingsgegen- 
stand seiner Spekulation ist die Theologie. Seine Behandlung 
dieser*) bleibt aber doch an systematischer Ausarbeitung 
hinter der des Proklos noch erheblich zurück. Aus dem 
gegensatzlosen Einen ließ er zunächst mit den Neupytha- 
goreern das Eins und die unbestimmte Zweiheit als die all- 
gemeinsten Gründe der Dinge hervorgehen. Im Novg unter- 
schied er mit Jamblichos das Intelligible und das Intellek- 
tuelle, an dessen Spitze der Demiurg steht; die Ideen sollten 
ursprünglich als die Urbilder oder die einheitlichen Zahlen 
im Intelligibeln , erst abgeleiteter weise im Verstand des De- 
miurg sein. Über die Seele bemerkt er (nach Prokl. in Tim. 
207 B ff.), daß sie teils in sich bleibe , teils aus sich heraus- 
trete, teils zu sich zurückkehre, ohne doch diese Unter- 
scheidung (wenn sie wirklich schon ihm angehört) auf die 
Gesamtheit des Wirklichen anzuwenden. Von seinen sonstigen 



^) So weit wir sie aus dem Einzigen, was von ihm übrig ist, einem 
Teil seines Kommentars zur Metaphysik (hrsg. von Useneb in Bd. V der 
Berl. akad. Ausg. des Aristot. S. 837 ff. u. von Kroll in Bd. V, Tl. I der 
Aristoteles-Kommentare 1902) und aus Proklos und Timaos kennen. 



§ 101. Die Schule von Aiheu. 333 

Ansichten ist zu erwähnen, dafi er von den „immateriellen" 
Körpern behauptet, sie könnten mit andern denselben Raum 
einnehmen, und daß er annahm, die Seelen blieben nach dem 
Tode mit ihren ätherischen Leibern und den höheren von den 
vernunftlosen Lebenskräften für immer, mit den niedrigeren 
von diesen nur eine Zeitlang verbunden. Im übrigen scheint 
er sich von der Überlieferung seiner Schule nicht entfernt 
zu haben. 

Plutarchs und Syrians Schüler war nun der Nachfolger 
des letzteren, der Lykier Proklos, der, 410 in Konstanti- 
nopel geboren, in seinem 20. Jahr nach Athen kam und 485 
ebendaselbst starb; neben ihm kommt sein Mitschüler Her- 
meias, der in Alexandreia lehrte, nicht in Betracht. Durch 
seinen eisernen Fleifi, seine Gelehrsamkeit, seine logische 
Meisterschaft, seinen systematischen Geist, seine fruchtbare 
Tätigkeit als Lehrer und als Schriftsteller^) ragt Proklos 
unter den Platonikem ebenso hervor wie Chrysippos unter 
den Stoikern. Zugleich war er aber ein Asket und Theurg, 
der Offenbarungen zu erhalten glaubte und sich in Religions- 
übungen nicht genugtun konnte; er teilte die religiöse Be- 
geisterung seiner Schule, ihren Glauben und ihren Aber- 
glauben, ihre Verehrung gegen orphische Gedichte, chal- 
däische Orakel und ähnliche Erzeugnisse; und er unternahm 
es nun, die ganze ihm von seinen Vorgängern überlieferte 
Masse theologischer und philosophischer Überzeugungen zu 
einem einheitlichen, methodisch ausgeführten System zu ver- 
arbeiten, das in der Folge der mohammedanischen wie der 
christlichen Scholastik zum Vorbild gedient hat. Mit ihnen 
teilt es bei großer formeller Vollendung die innere Unfreiheit 
des Denkens, aus dem es hervorging, den Mangel an einer 
wirklich wissenschaftlichen Begründung und Behandlung. Das 
allgemeinste Gesetz, nach dem dieses System sich aufbaut, 

^) Über Proklos' Schriften (vgl. S. 12), von denen nur ein Teil erhalten 
ist: Phil. d. Gr. III 2*, 838 ff. Feeudenthal im Hermes XVI, 214 ff. Seine 
sämtl. Werke hrsg. von Cousin, 2. Aufl. in 6 ßden. (1864); Coram. in Plat. 
remp. von Kroll (2. Bde. 1899/1901)-, Comm. in Tim. von Dikhl (1908/4). 



334 Dritte Periode. 

ist das der triadiacben Entwicklang. Das Hervorgebrachte 
iBt dem Herrorbringenden einesteils ähnlich , denn dieses 
kann jenes nur hervorbringen, indem es sich ihm mitteilt; 
andrerseits ist es von ihm verschieden wie das Geteilte von 
dem Einheitlichen^ das Abgeleitete von dem Ursprünglichen. 
Nach jener Beziehung bleibt es in seiner Ursache, und diese 
ist, wenn auch nur unvollständig, in ihm, nach dieser tritt 
es aus ihr heraus. Weil es aber doch an ihr hängt und ihr 
verwandt ist, wendet es sich trotz der Trennung zu ihr hin, 
sucht sie auf niedrigerer Stufe nachzubilden und sich mit ihr 
zu einigen. Das Sein des Hervorgebrachten im Hervorbringen- 
den, sein Heraustreten aus ihm und seine Rückkehr zu ihm 
(ftoptjj TtQoodog^ i7tiGtQ(xptj) sind die drei Momente, durch 
deren fortgesetzte Wiederholung die Gesamtheit der Dinge 
aus ihrem Urgrund sich entwickelt. Die letzte Quelle dieser 
Entwicklung kann natürlich nur das Urwesen bilden, das 
Proklos nach Plotins Vorgang schildert, als absolut erhaben 
über alles Sein und Erkennen, höher als das Eins, Ursache, 
ohne Ursache zu sein, weder seiend noch nichtseiend usf. 
Aber zwischen dieses Erste und das Intelligible schiebt er 
mit Jamblichos (S. 327) ein Zwischenglied ein : die absoluten 
Einheiten (aircaceXBig evddsg), welche die einheitliche, über- 
wesentliche Zahl bilden, welche aber zugleich als die höchsten 
Güter bezeichnet werden und als solche Prädikate erhalten, 
die für ihr abstraktes Wesen viel zu persönlich lauten. Auf 
sie folgt erst das Gebiet, welches Plotin dem Novg zugewiesen 
hatte: Proklos zerlegt es in teil weisem Anschlufi an Jam- 
blichos und Theodoros (vgl. S. 327. 329) in drei Sphären: 
das Intelligible, das Intellektuell-Intelligible (vovjtdv a^a %ai 
voBQOv) und das Intellektuelle : als Grundeigenschaft des 
ersten bezeichnet er das Sein, des zweiten das Leben, des 
dritten das Denken. Die zwei ersten von diesen Sphären 
werden dann wieder, zum Teil nach den gleichen Teilungs- 
gründen, in je drei Triaden, die dritte in sieben Hebdo- 
maden gegliedert und die einzelnen Glieder jeder Reihe zu- 
gleich als Götter gefaßt und mit einer von den Gottheit^i 



§ 101. Die Schule von Athen. 335 

der Volksreligion identifiziert. Die Seele, deren Begriff ebenso 
bestimmt wird wie bei Plotin, umfaßt drei Klassen von Teil- 
seelen: göttliche, dämonische und menschliche. Die gött- 
lichen werden in drei Ordnungen verteilt: die vier Triaden 
hegemonischer Grötter, ebenso viele „weltfreie" (aTtölvtoi) 
G^ötter, und die zwei Klassen der innerweltlichen Grötter, die 
Sterngötter und die Elementargötter. Bei der Deutung der 
Volksgötter auf diese metaphysischen Wesen findet es Proklos 
nötig, einen dreifachen Zeus, eine doppelte Köre, eine drei- 
fache Athene zu unterscheiden. An die Götter schliefien 
sich die Dämonen an, die näher in Engel, Dämonen und 
Heroen zerfallen und unter Einmischung vielfachen Aber- 
glaubens in der herkömmlichen Weise beschrieben werden; 
an sie diejenigen Seelen, die zeitweise in materielle Leiber 
eintreten. — Von der Seele hatte nun Plotin die Materie 
erzeugt werden lassen; Proklos leitet sie unmittelbar von 
dem Unbegrenzten her, das bei ihm mit dem Begrenzten 
und dem Gemischten die erste von den intelligiblen Triaden 
bildet ; was ihr Wesen betrifft, so ist sie nach ihm nicht das 
Böse, sondern weder gut noch böse. Seine kosmologischen 
Vorstellungen stimmen in allem wesentlichen mit denen 
Plotins überein, nur dafi er den Raum für einen aus dem 
feinsten Licht bestehenden Körper hält, welcher den der Welt 
durchdringt (vgl. Syrian S. 333). Mit Plotin verteidigt er 
die Vorsehung wegen des Übels in der Welt; an ihn und 
Syrian schließt er sich in seinen Annahmen über die Herab- 
kunft und das künftige Schicksal der Seelen an; in seiner 
Psychologie verbindet er platonische und aristotelische Be- 
stimmungen, vermehrt aber die Zahl der Seelenvermögen 
dadurch, daß er von dem Denken oder der Vernunft noch 
das Einheitliche oder Göttliche im Menschen unterscheidet, 
das höher sei als jene, und mit dem allein das Göttliche er- 
kannt werden könne. Seine Ethik verlangt eine durch die 
fünferlei Tugenden (die wir S. 328 bei Jamblichos trafen) 
stufenweise aufsteigende Erhebung zum Übersinnlichen, deren 
letztes Ziel auch bei ihm die mystische Einigung mit der 



336 l>itte Periode. 

Gottheit ist. Aber je fester er überzeugt ist, dafi alles 
höhere Wissen auf göttlicher Erleuchtung beruhe, und daß 
nur der Glaube uns mit der Gottheit verknüpfe, um so 
weniger will er auf alle jene religiösen Hilfsmittel verzichten, 
denen die neuplatonische Schule seit Jamblichos einen so 
hohen Wert beilegte, und deren Wirksamkeit auch Proklos 
mit den herkömmlichen Gründen verteidigt. In dem 
gleichen Geiste sind selbstverständlich seine Mythendeutungen 
gehalten. 

Durch Proklos bat die neuplatonische Lehre die ab- 
schließende Gestalt erhalten, in der sie der Folgezeit über- 
liefert wurde. Nach ihm hatte die Schule zwar immer noch 
einzelne achtungswerte Vertreter, aber keinen, der ihm an 
wissenschaftlicher Kraft und an Einfluß zu vergleichen wäre. 
Sein Schüler A mm oni OS, des Hermeias (S. 333) Sohn, der 
in Alexandreia, wie es scheint, geraume Zeit, lehrte und sich 
großen Ansehens erfreute, war ein tüchtiger Ausleger der 
platonischen, namentlich aber der aristotelischen Schriften 
und in den mathematischen Wissenschaften wohl bewandert; 
eigentümliche Ansichten von einiger Erheblichkeit treten bei 
ihm nicht hervor. Asklepiodotos, den SiKPLiKiOS (in 
Phys. 795, 13) Proklos' besten Schüler nennt, ein aus- 
gezeichneter Mathematiker und Physiker, scheint sich durch 
eine nüchterne , den theologischen Überschwenglichkeiten 
und theurgischen Künsten abgeneigte Denkweise von der 
Mehrzahl seiner Parteigenossen unterschieden zu haben. 
Marin OS, der Biograph des Proklos und sein Nachfolger 
im Scholarchat, war unbedeutend; sein Nachfolger, der von 
Damaskios (vita Isid. b. Phot. Cod. 181. 242) bewunderte 
Isidoros, ein unklarer Theosoph in Jamblichos' Art; über 
Hegias, der ihm folgte, auch noch einen Schüler des 
Proklos, ist uns so wenig als über andre Schüler jenes 
Philosophen, deren Namen überliefert sind. Näheres bekannt, 
Damaskios, der Schüler des Marines, Ammonios und 
Isidoros, der um 520—530 der Schule in Athen vorstand, 
ein Bewunderer und Geistesverwandter des Jamblichos, be- 



§ 101. Die Schule von Athen. 337 

müht sich in seinem Werk über die letzten Gründe (tt. oq- 
Xtiv) *) vergeblich, von dem Urwesen, über dessen Unbegreif- 
lichkeit er sich nicht stark genug auszudrücken weiß, durch 
Einschiebung einer zweiten und dritten Einheit den Über- 
gang zum Intelligibeln zu finden; und schließlich sieht er 
sich zu dem Bekenntnis gedrängt, daß man eigentlich gar 
nicht von einem Hervorgang des Niedrigeren aus dem 
Höheren, sondern nur von einem einheitlichen unterschieds- 
losen Sein reden dürfe. Der letzten Generation heidnischer 
Neuplatoniker gehört Simplikios (S. 12) an, ein Schüler 
des Ammonios and Damaskios, dessen Kommentare zu 
mehreren aristotelischen Werken für uns von unschätzbarem 
Wert sind und nicht bloß von der Gelehrsamkeit, sondern 
auch von dem selbständigen und klaren Denken ihres Ver- 
fassers Zeugnis ablegen, aber doch nirgends über den Rahmen 
der neuplatonischen Überlieferung hinausgehen ; ferner 
Asklepios und der jüngere Olympiodoros; zwei Schüler 
des Ammonios, von denen wir gleichfalls noch Kommentare 
besitzen, und mehrere andre. Aber in dem christlich ge- 
wordenen Römerreiche konnte die Philosophie sich nicht 
länger in einer von der siegreichen Kirche unabhängigen 
Stellung behaupten. Im Jahre 529 erließ Justinian das Ver- 
bot, fernerhin in Athen Philosophie zu lehren. Das Ver- 
mögen der platonischen Schule, das ziemlich beträchtlich war, 
wurde eingezogen. Damaskios wanderte mit sechs Genossen, 
unter denen sich auch Simplikios befand, nach Persien aus, 
von wo sie aber bald enttäuscht zurückkehrten. Kurz nach 
der Mitte des sechsten Jahrhunderts scheinen die letzten von 
den Piatonikern, die nicht in die christliche Kirche ein- 
getreten waren, ausgestorben zu sein; Olympiodor verfaßte 
seinen Kommentar zur Meteorologie um 564. 



^) Von KuELLE in 2 Bänden 1889/91 herausgegeben. Über seine 
sonstigen Schriften: Phil. d. Gr. III 2*, 902 f., 3. Heitz in den Straß- 
burger Abhandlungen zur Philosophie (1884) S. 1 ff. 

Zeller, Grundrifs. 22 



338 Dritte Periode. 

In der Westhälfte des Römerreicbs scheint sich der Neu- 
platonismus nur in der einfacheren und reineren Gestalt, die 
er bei Plotin und Porphjrios hatte, fortgepflanzt zu haben. 
Spuren seines Daseins finden sich vielleicht in den logischen 
Arbeiten und den Übersetzungen des Mari us Victorin us 
(um 350), des Vegetius (Vectius, Vettius) Prätextatus 
(wahrscheinlich 387 gest.) und Albinus, so weit wir von 
ihnen wissen, und in dem enzyklopädischen Werk des Mar- 
cianus Capella (um 350 — 400); bestimmtere bei Augu- 
stinus (353 — 430) und den beiden Piatonikern Macrobius 
(um 400) und Chalcidius (wohl im 5. Jahrh.). Der letzte 
Vertreter der alten Philosophie ist hier der edle Anicius 
Manlius Severinus Boethius, der um 480 geboren 
war und 525 auf Theodorichs Befehl hingerichtet wurde. 
Denn wiewohl er äußerlich der christlichen Kirche angehörte, 
ist doch seine eigentliche Religion die Philosophie. In dieser 
bekennt er sich zu Piaton und Aristoteles, die seiner Ansicht 
nach miteinander durchaus übereinstimmen; sein Platonis- 
mus hat die neuplatonische Färbung; auch der Einflufi der 
stoischen Moral läflt sich aber in seiner „philosophischen 
Trostschrift" nicht verkennen. 



Namenverzeichnis. 

Die Hanptstellen bei den Philosophen^ sind fettgedruckt. 



AaU 16. 

Achaikos 268. 

Adam 129, 1. 

^drastos 283, 1. 

Adesios 329 f. 

Alianos 6. 

Alius Stilo 265. 

Amilius Paulus 263. 

Anesidemos 30. 258. 287—290. 291 f. 

Äschines d. Sokrat. 107. 

— d. Akadem. 268. 
Aetios 7. 
Agrippa 290 f. 

Akademie, alte 158—162. 262. 295; 

neuere 29 f. 228—262; nach 

Kleitomachos 26g— 270. 272 f. 
Akusilaos 24. 
Albinus d. alt. 285. 301 ; d. jung. 

338 
Alexander d. Gr. 29. 77. 164. 171. 

218. 257. 

— V. Agae 283. 

— V. Aphrodisias 12. 288 f. 

— Polyhistor 10. 294. 297. 
Alexinos 108. 
Alkidamas 86. 
Alkinoos 285, 1. 
Alkmäon 52. 81. 
Amafinius 245. 

Amelios 324 f. 

Anmionios, Lehrer Plutarchs 284. 

— Sakkas 312 f. 

— Hermeias' Sohn 336 f. 
Amyntas 163. 
Anacharsis 26. 

Anaxagoras 22. 27. 33. 40. 52. 70 f. 

77—82. 83. 95. 101. 135. 
Anaxarchos 77, 257. 
Anaximander 24. 32. 36—38. 42. 44. 

53. 56. 64. 



Anaximenes v. Milet 32. 38 f. 40 f. 

— V. Lampsakos 169. 
Anchipylos 110. 

Andromkos 12. 165 f. 168. 171 f. 

270 f. 283. 
Anebon 326. 
Annikeris d. alt. 120; d.jüng. 113. 

119. 
Anonymus bei Jamblichos 86, 1. 
Antigonos Karystios 9. 
Antiochos Epiphanes 303. 

— V. Askalon 8. 259. 2e0f. 271. 273. 
285. 287. 

— d. Skeptiker 290. 
Antipatros d. Kyrenaiker 115. 

— d. Stoiker 221. 240. 265. 
Antiphon 86, 1. 88. 90. 
Antisthenes d. Kyniker 110 — 115. 

116. 127. 222 f. 224. 238. 

— d. Peripatetiker 9. 216. 
Antoninus, M. Aurel. 244. 275 f. 

280 f. 
Anytos 105. 
ApeUas 290, 1. 
Apellikon 172. 
Apelt 123, 2. 124, 3. 161, 1. 
ApoUodoros d. Chronist 9. 

— d. Stoiker 267. 

— d. Epikureer 10. 245. 264. 
ApoUomos d. Stoiker 10. 

— V. Tyana 10. 295. 297 f. 
Apuleius 285. 300 f. 
Aratos 220. 
Archedemos 221. 230. 
Archelaos 82. 95. 

Archytas 45. 121. Ps.-Arch. 294. 

296. 
Areios Didymos 8. 267. 270. 295. 
Arete 115. 
Aristarchos 244. 

22* 



340 



Namenverzeichnis. 



Aristippos d. alt. 116—118. 258, 2. 

— d. Jung. 115 f. 

— d. Akademiker 9. 
Aristobulos 305. 
Aristokles 10. 288. 
Ariston, Piatons Vater 119. 

— aus Chios 220. 222. 226, 2. 286f. 
288 f. 

— aus Keos 216 f. 

— jüngerer Peripat. 271. 
Aristophanes d. Komiker 41. 96. 

— V. Byzanz 11. 125. 
Aristos 270. 

Aristoteles 7. 9. 12. 20. 24. 27. 28 f. 

43. 47, 2. 54. 60, 1. 66. 76. 80. 

88 f. 94. 97 f. 101. 121 f. 136. 140. 

155 f. 160. 168—212. 213f. 215. 217. 

219. 222 f. 224. 227 f. 232 f. 253, 2. 

265 f. 279. 283 f. 285 f. 296. 299. 

311 f. 816. 818 f. 320 f. 324. 330 f. 

332. 335. 338. 
Aristoxenos 9. 51. 95. 215. 
Arkesilaos 162. 268 f. 260. 268. 
Arnim, H. v. 68, 1. 126, 1. 221, 2. 

275. 1. 286, 1. 288, 1. 
Arrianos 279. 
Artemon 171. 
Asklepiades 64. 
Asklepiodotos 336. 
Asklepios 337. 
Aspasios 283. 
Ast 123, 1. 125. 
Athenäos 6. 
Athenaeoras 283. 
Athenodoros, zwei 267. 
Atomiker 33. 70—77. 81. 187. 215, 2. 
Attalos 275. 
Attikos 285 f. 301. 
Augustinus 7. 8. 338. 
Augustus 267. 270. 
Aurelianus 313. 

Barth 221, 3. 225, 2. 226, 1. 234, 1. 

Basileides 245. 

Baumann 15. 

Bäumker 15. 59, 1. 

Bekker 165, 1. 

Beiger 167, 1. 

Bender 15. 

Bergk 127, 2. 

Bemays 57, 1. 61, 2. 170, 1. 211. 

Bias 26. 

Bion 111. 115. 

Blass 86, 1. 124, 1. 5. 



Böckh 13. 42, 2. 

Böhm 51, 1. 

Boethius 338. 

Boethos d. Stoiker 221. 266. 266. 

— d. Peripat. 271. 

Bonhöffer 221, 3. 225, 2. 226, 1. 

234, 1. 238, 1. 279, 1. 
Bonitz 121, 2. 136, 1. 165, 1. 167, 2. 

168, 1. 
Brandis 14. 15. 46, 1. 47, 1. 128, 1. 

159, 1. 165, 1. 167, 1. 168, 1. 
Brieger 61, 2. 73, 1. 249, 1. 
ten Brink 74, 1. 
Brochard 253, 2. 257, 1. 
Brucker 12 f. 
Buhle 13. 

Bumet 15. 46, 1. 47, 1. 121, 1. 
Burrus 276. 
Bussemaker 165, 1. 
Bywater 61, 2. 64, 1. 

Campbell 108, 1. 126, 1. 128, 1. 

129, 1. 
CapeUe 231, 1. 271, 2. 
Carus 163, 1. 
Cato 267. 
Celsus, Cornelius 274. 

— d. Platoniker 285. 301. 
Chäremon 275. 
Chaignet 42, 3. 119, 1. 
Chalcidius 338. 
Chamäleon 215. 
Charmidas 268. 
Charondas 294. 

Chilon 26. 

Christ 124, 5. 167, 2. 

Chrysanthios 330. 

Chrysippos 24. 220. 221, 2. 228 f. 

225 £227 f. 281. 283f. 236 f. 287. 

242, 1. 248. 265. 333. 
Cicero 7. 170. 226. 266. 268f. 272f. 

288 294 
Clemens Alex. 7. 8. 17. 20. 305. 
Cohen 136, 1. 
Cohn 306, 1. 
Comutus 275 f. 
Cousin 14 f. 333, 1. 
Crassitius 274. 
Creuzer 313, 1. 
Crönert 14, 1. 111, 3. 220, 1. 
Cumont 271, 1. 

, Dähne 306, 1. 
Damaskios 336 f. 



Namenverzeichnis. 



341 



Dardauos 266. 
Decharme 16. 
Demetrios d. Phaler. 215. 

— d. Kyniker 281 f. 

— d. Epikureer 245. 

— d. Magnesier 10. 
Demokritos 17. 20. 52. 61—77. 140. 

173. 187. 193. 248 f. 251. 253, 2. 
Demonax 282. 
Demosthenes 165. 
Derkylides 12. 
Descartes 225, 2. 
Dexippos 330. 

Di alexeis (Siaaol Xo^^oi) 86, 1. 
Dikäarchos 9. 215. 
Diehl 331, 1. 
Diels 7. 8. 16. 20, 1. 38, 1. 42, 4. 

58, 1. 2. 54, 1. 56, 1. 57, 1. 58, 1. 

60, 1. 61, 1. 2. 64, 1. 65, 1. 67, 1. 

69, 2. 70, 1. 3. 71, 1. 74, 1. 78, 1. 

82, 1. 85, 1. 86, 1. 90, 1. 122, 1. 

169, 2. 170, 1. 215, 2, 257, 2. 290, 

1. 294, 1. 
Dilthey 15. 
Diodoros Kronos 108. 109 f. 219. 

— d. Peripatetiker 216 f. 
Diogenes v. Apollonia 32. 40 f. 

— d. Demokriteer 77. 

— d. Kyniker 110. 111. 114 f. 2*^. 
238. 240. 281. 

— V. Oinoanda 244, 2. 

— V. Seleukeia 216. 221. 265. 

— Laertios 8. 10 f. 270, 2. 
Diokles 10. 

Dion aus Syrakus 120. 

— Chrysostomos 286. 
Dionysios, d. beiden Tyrannen 115. 

120 f. 

— d. Stoiker 267. 

— d. Epikureer 245. 
Dionysodoros 86. 89. 
Dissen 98. 
Dittenberger 126, 1. 

Döring 14. 85. 48, 1. 59, 1. 95, 1. 

123. 129. 159, 1. 204, 1. 
Domitianus 279. 286. 
Drews 313, 3. 
Drummond 306, 1. 
Dübner 165, 1. 
Dümmler 82, 1. 110, 1. 
Duris 215. 
Dyroff 2aS, 1. 288, 1. 



Eklektiker 29 f. 262—287. 

Ekphantos 52. 162. 

Eleaten 32 f. 5a— 61. 

Elische Schule 110. 

Elter 16. 305. 

Empedokles 33. 40. 52. 60. 66—70. 

78. 86. 307, 
Empirische Arzte 288. 291. 
Epicharmos 53. 
Epiktetos 275 f. 279 f. 
Epikureer 9. 29. 244-246. 264. 278 f. 

298 f 300 
Epikuros 9.* 10. 30 f. 71, 1. 77. 117. 

244-256. 276. 286. 299. 
Epimenides 24. 
Epiphanios 8. 
Eratosthenes 9. 220. 240. 
Erdmann, E. u. B. 15. 
Eretrische Schule 110. 
Erymneus 216. 
Essener 90^—905. 306. 
Euandros 259. 
Eubulides 108. 
Eucken 15. 
Eudemos 7. 24. 49. 140. 169. 170, 1. 

213. 214 f. 
Eudokia 11. 

Eudoros 8. 12. 270. 295. 298. 
Eudoxos 159, 1. 161. 191. 192, 2. 

253, 2. 
Euemeros 115 f. 
Euenos 86. 

Eukleides 108 f. 120. 127. 
Eunapios 11. 380. 
Euphrates 275. 
Euripides 82. 
Eurytos 45. 

Eusebios d. Neuplat. 380. 
— V. C&sarea 6. 8. 17. 805. 
Euthydemos 86. 88. 89. 

Fabianus Papirius 274. 
Fabricius 13. 
Falter 306, 1. 
Favorinus 10. 292. 
Feddersen 90, 1. 
Figulus s. Nigidius. 
Flaminius 268. 
Fredrich 61, 2. 82, 1. 
Freudenthal 54, 2. 285, 1. 838, 1. 
Füllebom 13. 

Gaius 284. 285. 
Galenos 7. 8. 286 f. 291. 



342 



Namenverzeichnis. 



Gallienns 313. 

Gave 147, 1. 

Gelliufl 6. 

Greminus 267. 

Gercke 164, 1. 166, 3. 270, 2. 276, 1. 

Gilbert 58, 1. 

Giussani 244, 2. 

Gladisch 17. 

Gnostiker 301. 319. 

Goedeckemeyer 168, 1. 248, 1. 

257, 1. 288, 1. 290, 1. 2. 292, 1. 
Gomperz, Th. 14. 50, 1. 54, 2. 62, 1. 

82, 1. 85, 1. 2. 95, 1. 106, 1. 107, 1. 

108, 1. 119, 1. 123, 1. 126, 1. 2. 

127, 1. 129, 1. 141, 1. 144, 1. 156, 1. 

158, 1. 161, 1. 162, 1. 163, 1. 177, 1. 

181, 1. 183, 1. 2. 186, 1. 188, 1. 

189, 1. 192, 1. 193, 1. 197, 1. 199, 3. 

200, 1. 220, 1. 
— , H. 136, 1. 
Gorgias 86-(K). 110. 112. 
Grant 163, 1. 
Grote 15. 85. 119, 1. 123, 1. 124. 

163, 1. 
Guyau 253, 1. 

Haas 287, 1. 
Hamelin 166, 5. 
Harpokration 285. 302. 
Hecht 119, 1. 
Hegel 4. 13 f. 64. 85. 
Hegesias 115. 119. 
Hegesinos (— sllaos) 259. 
Hegias 336. 
Heidel 36, 2. 

Heinze, M. 15. 16. 306, 1. 
— , R. 111, 1. 159, 2. 
Heitz 165, 1. 171, 1. 337. 
Hekaton 266. 

Hense 6, 1. 112, 2. 276, 1. 278, 1. 
Herakleides d. Pont. 8. 158. 161 f. 
264. 

— Lembos 9. 

— d. Skeptiker 287. 
Herakleitos v. Ephesos 11. 17. 33. 

42, 4. 52 f. 57, 1. 61—66. 68. 83. 
87. 135. 137. 223. 232. 289f. 290, 1. 

— d. Stoiker 275 f. 
Herillos 220. 222. 208. 
Hermann, K. F. 47, 1. 85. 119, 1. 

123, 1. 125. 126. 
Hermarchos 244. 
Hermeias v. Atarneus 163. 

— d. Neuplat. 333. 



Hermeias d. Christ 8. 
Hermes Trismegistos 302 f. 

— Herause. Senecas 276, 1. 
Herminos 283. 
Hermippos 9. 166. 216. 
Hermodoros d. Platoniker 8. 120. 

140. 

— V. Ephesos 65. 
Hermotimos 78. 

Herodotos d. Histor. 17. 20. 42, 4. 
43 f. 

— d. Skeptiker 290. 
Hesiodos 24. 25. 305. 
Hestiäos 158. 162. 
Hesychios 11. 166, 1. 
Hicks 167, 1. 197, 1. 

Hierokles d. Stoiker 275, 1. 331, 1. 

— d. Neuplat. 275, 1. 312 f. 381 f. 
Hieronymos d. Bhodier 216 f. 
Hiketas 52. 

Hildebrand 16. 205, 1. 

Hipparchia 111. 

Hippasos 52. 

Hippias 86. 88. 90—92. 

Hippon 40. 

Hippobotos 10. 

Hippokrates 52. 

Hippolytos 7. 

flirmer 129. 

Hirzcl 75, 1. 110, 1. 221, 3. 246, 1. 

253, 2. 257, 1. 265, 1. 287, 1. 

290, 1. 
Hody 303. 

Homeros 25. 63. 305. 
Hom 123, 2. 
Hosius 276, 1. 
Huit 15 f. 
Hultsch 192, 1. 
Hypatia 330. 

Jacoby 9. 42. 220, 1. 2. 
Jamblichos 7. 11. 314. 827—829. 

330 f. 332. 335 f. 
Janeil 126, 1. 
Jason 267. 
Ichthyas 108. 
Idäos 40. 

Idomeneus 10. 245. 
Immisch 129. 
Joannes Philoponos 12. 

— Stob. s. Stobäos. 

Joel 95, 1. 98, 3. 4. 104, 1. 129, 1. 

305. 
Ionische Philosophen 32. 84-41. 80. 



Namen verzei chn i s . 



343 



Josephas 804. 

Irenaos 7. 8. 

Isidoros 336. 

Isokrates 43. 88. 163. 

Juba 294. 

Jüd.-griech. Philosophie 30. 293. 

8oa-dii. 

Jolianus 330 f. 
Justinianus 337. 
Jnstinus 7. 

Kaibel 53, 1. 
Kallikles 86 f. 91. 
Kallimachos 9. 
KaUippos 191. 192. 
KaUisthenes 164. 215. 
Kant 136, 1. 

Karneades d. alt. 7. 216. 25»— 262. 
264 f. 266. 268. 273. 291. 315. 

— d. jung. 260. 262 f. 
Karsten 54, 1. 56, 1. 67, 1. 
Kebes 107. 

Kenyon 169. 

Kinkel 14. 

Kirchhoff 293, 1. 

Kirchner 313, 3. 

Kleanthes 9. 11. 220. 221, 2. 224. 

225, 1. 226, 2. 230. 283. 234r-2a6. 

240. 243 f. 257, 2. 307. 
Klearchos 9. 215. 
Kleinias 45. 
Kleist, H. V. 313, 3. 
Kleitomachos 7. 9. 260. 262. 268. 

291. 
Kleobulos 26. 
Kleomedes 275 f. 
Kleomenes 220. 
Klytos 215. 
Knoke 211, 1. 
KöstUn 16. 

Koheleth 303; s. Salomo. 
Kolotes 111, 3. 245. 
Konstantinos I 330. 
Kralik 95, 1. 
Krantor 11. 162. 
Krates d. Kyniker 111. 115. 219. 

222. 
~ d. Akad. 162. 258. 

— d. Neuakad. 262. 
Kratippos 271. 
Kratylos 66. 119. 
Krische 159, 1. 
Kritias 86 f. 91. 
Kritolaos 216 f. 



Krohn 104, 1. 129. 

Kroisos 34. 

KroU 332, 1. 333, 1. 

Kronios 285. 302. 

Kühnemann 14. 

Kyniker 110—115. 152. 222. 254. 

278 f. 281 f. 286. 
Kyrenaiker 115—119. 

liachmann 244, 2. 

Lälius 265. 
I Lakydes 259. 
! Lange 15. 248, 1. 
I Lassalle 61, 2. 64. 
! Lasson 168, 1. 

Leibniz 165. 225, 2. 
I Leon 215. 

Leukippos 33. 40. 60. 67. 69, 2. 
70—75. 77 f. 78. 83. 87. 140. 

Lewes 15. 163, 1. 

Libanios 330. 

Liepmann 73, 1. 

Linos 305. 

Lobeck 305. 

Longinos 313. 324. 

Lortzing 73, 1. 75, 1. 

Lotze 136, 1. 

Lncanus 275. 

Lucretius 245. 250. 252. 

Lucollns 268. 

Latze 36, 2. 

Lukianos 286. 

Lutoslawski 123, 1. 126, 1. 127, 
1, 2. 129, 1. 136, 1. 

Lykon, Ankläger d. Sokrat. 105. 

— d. Pythag. 8. 

— d. Peripat. 216 f. 
Lykophron 86. 
Lysis 45. 

Macrobius 838. 

Maier 174, 1. 

Macrianus Capeila 888. 

Marcks 281, 1. 

Marinos 836. 

Mark Anrel s. Antoninas. 

Marsilius Ficiuus 313, 3. 

Maximas a. Tyros 285. 300 f. 

— d. Neaplat. 380. 
Megariker 108— 110. 128. 
Memeke 6, 1. 
Meiners 13. 

Meiser 116. 
Meletos 105. 



344 



Namenverzeichnis. 



MelissoB 60 f. 88. 
Mekler 158, 1. 
MenedemoB d. Eretr. 110. 

— d. Kyniker 111. 

— d. Akad. 158. 
Menipnos 111. 
Menoootos 290. 
Menon 215. 
Meton 66. 

Metrodoros a. Chios 77. 267. 

— d. Anaxagoreer 82. 

— d. Epikureer 245. 

— V. Stratonike 268. 
Meyer, Ed. 124, 5. 
— , J. B. 194, 1. 
Mnesarchos, Vater d. Pythag. 42. 

— d. Stoiker 266. 
Moderatus 10. 296. 297. 
Moschos 110. 

Moses 801. 804. 307. 

Müller, H. F. 313, 1. 

Mullach 16. 

Munk 123, 1. 126. 

Munro 244, 2. 

Musonius ßufus 242, 1. 275. 278. 

279. 
Myson 26. 
Mysterien, Schrift v. d. 329. 

Natorp 15. 71, 3. 75, 1. 108, 1. 124. 

136 f. 141, 1. 144, 1. 147, 1. 

150, 1. 156, 1. 246, 1. 253, 2. 

287, 1. 290, 1. 
Nauck 324, 1. 827, 1. 
Nausiphanes 77. 244. 253, 2. 
Neanthes 9. 
Neleus 172. 
Nemesios 313. 
Neokles 244. 
Nero 275 f. 283. 
Nessos 77. 
Nestorios 331. 
Neuhäuser 36> 2. 
Neuplatoniker 30. 284. 293. 311 

his338. 
Neupythagoreer 30. 208—298. 304. 

312. 328. 332. 
Newman 168, 1. 
Nigidius Figulus 294. 
Nigrinus 285. 
Nilias y. Nikäa 10. 
Nikolaos V. Damaskos 271. 
Nikomachos, Vater d. Aristoteles 

163. 



Nikomachos y. Gerasa 10. 295. 297. 
Numenios 7. 285. 295. 801 f. 

(Dinomaos 281 f. 

Okellos (Okkelos) 294. 297. 

Olympiodoros d. &lt. 332. 

— d. jung. 337. 
Oncken 123 f. 205, 1. 
Onomakritos 24. 
Ori^enes d. Platoniker 313. 

— d. Kirchenlehrer 7. 318. 
Orpheus 305. 

Orphische Lehre 50, 1. 70. 294. 304. 
382 f. 

— Theogonie 24. 

Pabst 60, 1. 

Pamphilos 244. 

Panätios 9. 107. 221. 231, 1. 244. 

263. 265 f. 267. 274. 
Pappenheim 290, 1. 
Parmenides 32f.49. 52. 66-^. 60, 1. 

61. 62. 67. 69, 2. 70. 72. 77. 83. 

109. 134. 137. 307. 
Pasikles 108. 
Pater 119, 1. 
Patin 57, 1. 61, 2. 65, 1. 
Patron 245. 
Paulus d. Apostel 277. 
Pearson 291, 2. 
Peregrinus Proteus 282. 
Periander 26. 
Perikles 78. 85. 
Periktione 119. 
Peripatetiker 30, 164, 172. 212—217. 

223. 270—272. 288 f. 295. 297 f. 

300. 305. 
Persäos 220. 
Persius 275. 
Pfleiderer 61, 2. 66. 95, 1. 119, 1. 

129. 
Pflug 166, 4. 
Phädon 110. 
Phädros 245. 
Phänarete 95. 
Phanias 9. 215. 
Pherekydes 24. 43. 
Philippos, König v. Maked. 164. 

— y. Opus 147. 160 f. 124, 1. 
Philodemos 7. 10. 169. 244, 2. 245. 

248. 
Philolaos 42, 2. 46. 46. 47. 48f. 60. 

61. 107. 137. 
Philon d. Megariker 108. 110. 



Namenverzeichnis. 



345 



Philon V. Larissa 259. 268 f. 

— d. Jude 271, 1. 288, 1. 301. 304. 
806-311. 312. 314. 323. 

Philonides 245. 

Philostratos 295. 297. 

Phokylides 25. 

Phormion 216. 

Photios 6. 

Pittakos 26. 

Piaton 6. 8. 11. 17. 20. 24 f. 27 f. 

29. 43. 47, 1. 49. 55 f. 66. 80. 84 f. 
86. 88. 94. 95 f. 97 f. 102f. 108, 1. 
109. 112. 116. 119—157. 158 f. 
160 f. 163. 166, 3. 171 f. 180 f. 
187. 189. 191. 193. 198f. 201. 203. 
205 f. 207 f. 210. 212. 214. 219. 
223 f. 228. 253, 2. 266 f. 269. 277. 
286. 295 f. 297. 301. 305. 307 f. 
809 f. 311 f. 313. 316 f. 318 f. 320 f. 
322. 331 f. 335. 338. 

Platoniker d. ersten Jahrb. n. Chr. 

30. 284—286. 312. 

— , pythagorisierende 298—308. 
Plimus d. alt. 304; d. jung. 275. 
Plotina 245. 
Plotinos 30. 308. 813-324. 325. 326. 

334. 338. 
Plutarchos v. Chäroneia 7. 12. 172. 

284 f. 298—300. 301. 

— V. Athen 881. 333. 
Pöhlmann 16. 98, 4. 
PolemoB 151, 1. 162. 219. 234. 
PoUio 278. 

PoUis 120. 

Polos 86. 91. 

Polyänos 245. 

Polystratos 245. 

Poiphyrios 7. 10. 11. 313. 316. 324 

bis 326. 
Poseidonios 226, 2. 231, 1. 242, 1. 

266 f. 271, 2. 276 f. 280 f. 
Potamon 270. 
Prächter 105, 2. 275, 1. 
Prantl 15. 166, 3. 5. 174, 1. 
Praxipbanes 215. 
PreUer 15. 56, 1. 67, 1. 
Priscus 330. 

Prodikos 86. 90, 1. 91—92. 
Proklos 7. 12. 329. 332. 333—386. 
Protagoras 22. 71. 75. 85—92. 112. 

115 f. 
Protarchos d. Rhetor 86. 

— d. Epikureer 245. 
Proxenos 163. 



Prytanis 216. 

Ptolemäos Philometor 305. 

— d. Peripatet. 166. - 

— d. Skeptiker 287 f. 
Pyrrhon 77. 257 f. 259. 287 f. 289. 
Pythagoras 8. 10. 11. 17. 32. 41—45. 

48 f. 50. 297 f. 305. 307. 
Pythagoreer 8. 10. 11. 17. 32. 41 

bis 62. 59, 1. 70. 120. 137. 156. 

159 f. 215. 256. 274. 295. 298. 310. 

Vgl. Neupyth. 
— , der des Alexander Polyhistor 

294. 297. 
Pythias 163. 

Baeder 123, 1. 124, 5. 127, 1. 2. 

129, 1. 
Ramsauer 168, 1. 
Rehmke 15. 
Reinhold 47, 1. 
Ribbing 123, 1. 
Richter, A. 313, 3. 
— , R. 257, 1. 
Ritter, H. 14. 15. 36, 3. 47, 1. 123, 1. 

136. 
— , C. 125, 1. 157, 1. 161, 1. 
Robert 75, 2. 
Rödler 167, 1. 
Roth 17. 42, 3. 
Rohde 16. 51, 1. 65, 1. 71, 1. 127, 2. 

129. 220, 1. 
Rose 165, 1. 166, 3. 171, 1. 
Ruelle 337, 1. 

Sallustius 336. 

Salomo, Weisheit 306; Prediger s. 

Koheleth. 
Salonina 313. 
Sarpedon 287 f. 
Satuminus 290. 292. 
Satyros 9. 216. 
Scävola 266. 

Schaarschmidt 42, 2. 123, 1. 
Schanz 98, 4. 
Schaubach 78, 1. 
Schenkl 104, 1. 
Schiaparelli 112, 1. 
Schleiermacher 13. 38. 61, 2. 64. 98. 

101. 108, 1. 123, 1. 125. 127. 
Schmekel 265, 1. 272, 1. 
Schmidt, L. 16. 
Schneider 213, 1. 
Scholastik 333. 
Schorn 78, 1. 



346 



Namenverzeidmig. 



Schalte» 15. 127, 1. 
Schuster 61, 1. 
Schwegler 15. 167, 2. 
Scipio Ämilianng 263. 265. 
Seneca 7. 233. 242. 275. 276—278. 

280 f. 
Severas 285. 
Seztins, die 274. 294. 
Seztufl £mpir. 7. 288. 289 f. 2»1 f. 
Siebeck 16. 103, 1. 161, 1. 183, 1. 

189, 1. 
Sieben Weise 25. 
Simmias 107. 
Simplikios 12. 887. 
Siron (Skiron) 245. 
Skeptiker, filtere 29. 267—262. 269. 
— , lungere 31. 55. 287—292. 
Socher 123. 125. 
Sokrateg 8. 22. 27 f. 71. 76. 94. »5 

big 107. 108. llOf. 113. 118. 119f. 

130- 132. 133 f. 135. 150 f. 172. 

177. 189, 1. 219. 222. 239. 
Sokratiker 10. 107 f. 222. 235. 
Solon 23. 25. 26. 34. 
Sopatros 329 f. 
Sophigten 27. 33 f. 82— »2. 96. 98 f. 

101. 261. 
Sophronigkog 95. 
Soranog 290. 
Sogiseneg ^3. 
Sogikrateg 9. 
Sotion d. Peripatet. 9. 216. 

— jüngerer Peripatet. 288. 

— Schüler d. Sextier 274. 
Soulier 61, 2. 

Spengel 166, 3. 

Speugippog 8. 109. 116. 139. 16S f. 

160. 201. 
Sphärog 9. 20. 243. 
Stahr 163. 164, 1. 
Stallbaum 123, 1. 
Stageas 271. 
Stein, H. 56, 1. 67; 1. 

— H. V. 119, 1. 123, 1. 
— , L. 221, 3. 
Steinhart 119, 1. 123, 1. 
Stich 280, 1. 

Stilpon 108. 110. 219. 

Stobäog, Joa. 6. 7. 

Stoiker 29 f. 112. 219--244. 247, 1. 

252. 254 f. 259. 260 f. 270. 273. 

282. 286. 295 f. 297. 298 f. 300 f. 

306. 307 f. 309 f. 311. 316. 319. 

321. 323. 338. 



< Stoiker, jüngere 26&-2II7. 274—281. 

Strabon 172. 267. 

Straton 216 f. 217. 
, Strümpell 14. 

Sturz 61, 1. 167, 1. 
, Suckow 123, 1. 

Sudhaag 253, 2. 

Suidag 11. 
I Sulla 172. 

I Sugemihl 123, 1. 156, 1. 168, 1. 
I Synegiog 330. 
I Syrianog 882 f. 335. 

Tanneiy 15. 95, 1. 

Taurug 284 f. 

Teichmüller 61, 2. 147. 

Telekleg 259. 

Teleg 111. 220 f. 

Tennemann 13. 

TertuUianug 7. 290. 

Thaleg 26. 32. 34 f. 36. 40. 

Theageneg 262. 

Themigtiog 284. 831. 

Theodag (Theudag) 290. 

Theodoretog 7. 

Theoderich 338. 

Theodorog d. Atheigt 115. 118. 

— V. Agine 329. 
Theognig 23. 25. 
Theomnegtog 270. 

Theon, d. Smymäer 284. 301. 
Theophragtog 7. 9. 12. 54. 169. 172. 

212—214. 215. 217. 
Theogebiog 332. 
Therapeuten 306. 
Thragybulos 106. 
Thragyllog 12. 125. 270. 
Thragymachos d. Megariker 108. 

110. 

— d. Rhetor 86. 91. 92. 
Tiedemann 13. 
Tim&og, d. Lokrer 296. 
Timon 257 f. 
Traianug 286. 
Trendelenburg 167, 1. 
Tubero 288. 
Tyrannion 172. 271. 

berweg 15. 123, 1. 
^berweg-Heinze 161, 1. 211, 1. 
Ugener 127. 129. 165, 1. 332, 1. 

Yalckenaer 305. 
Valentinug, Gnogtiker 301. 



Namenverzeichnis. 



347 



Varro 7. 278 f. 281. 294. 

Vatinius 294. 

Vatke 56, 1. 

Vegetius (Vectius, Vettius) 338. 

Victorinus 338. 

Volkmann, R. 298, 1. 313, 3. 

Vorländer 15. 136, 1. 

Voft, O. 161, 3. 

Wachsmuth 6, 1. 16. 221, 2. 257, 2. 

Wachtier 52, 1. 

Waitz 166, 2. 

Wallace 246, 1. 

Walter 16. 

Weber 86, 1. 

Welcker 90, 1. 

Wellmann, Ed. 15. 167, 2. 221, 2. 

Welt, Buch V. d. 271 f. 

Wendland 122, 1. 169, 3. 306, 2. 

Wilamowitz-MöUendorf, U.v. 90, 1. 

111, 2. 
WiUiam 244, 2. 
Wimmer 213, 1. 
Winckelmann 110, 1. 
Windelband 15. 46, 1. 79, 1. 119, 1. 

123. 129. 149, 1. 
Wotke 244, 2. 

Xanthippe 96. 
XenarchoB 271. 



Xeniades 86. 88. 

Xenokrates 8. 130. 158. 159 f. 162. 
, 163. 219. 295. 297. 
! Xenophanes 32. 44. 51. 53--55. 56. 
; 60, 1. 62. 70. 114. 

Xenophon 8. 90, 1. 95. 97 f. 99. 
102 f. 107. 189, 1. 

, Zaleukos 294. 

Zeller 14. 36, 2. 54, 2. 57, 1. 59, 1. 
I 61, 2. 63, 1. 73, 1. 74, 1. 75, 1. 
; 85, 1. 87, 1. 90, 1. 95, 1. 98, 4. 

108, 1. 112, 1. 122, 1. 123. 124, 5. 

126, 1. 127, 2. 128, 1. 129, 1. 141, 1. 

156, 1. 159, 1. 2. 160, 1. 161, 1. 

178, 1. 179, 1. 189, 1. 198, 2. 200, 1. 

220, 1. 225, 2. 234, 1. 253, 2. 271, 2. 
; 287, 1. 288, 1. 290, 1. 294, 1. 305, 1. 

313, 2. 333, 1. 337, 1. 
I Zenon v. Elea 68-<0. 88. 109. 124. 
! — V. Kition 110. 213. 219 f. 221, 2. 

222f. 224f. 226, 2. 227. 233-287. 

238. 240. 243. 246. 259. 265. 269. 

307. 

— V. Tarsos 221. 265. 

— d. Epikureer 245. 264. 
ZeuxippoB 290. 

Zeuzis 290. 
Ziegler 16. 



Nachträge. 



Zu S. 216 Z. 17. Über Ariston s. Gercke Arch. f. 
Gesch. d. Philös. V 198 ff. , wo nachgewiesen wird , daß er 
sich in seiner Sprache den Borystheniten Bion (s. S. 111) 
zum Vorbilde nahm. 

Zu S. 244 Z. 10 V. u. Später ist Epikur in einem wich- 
tigen Punkte seiner Lehre zu Nausiphanes in einen aus- 
f gesprochenen Gegensatz getreten, wenn er sich auch schwer- 
ich in so plumpen Schmähworten gegen ihn ergangen hat, 
wie sie bei Diogenes X 8 überliefert werden (s. Crönert 
Eolotes und Menedemos S. 16 ff., wo alle solche angeblichen 
Verunglimpfungen andrer Philosophen durch Epikur auf einen 
ihm untergeschobenen Brief surückgeführt werden). Während 
Nausiphanes den Philosophen zur politischen Betätigung 
auffordert und als die beste Vorbereitung für einen Staats- 
mann und Redner die demokritische Naturlehre betrachtet, 
verweist Epikur den Weisen auf sich selbst und auf ruhigen 
G^nuß (s. S. 256). Ganz im Sinne des Meisters hat dann 
Metrodor eine scharfe Polemik gegen Nausiphanes' Stand- 

?unkt gerichtet, aus der uns noch längere Bruchstücke in 
*hilodems Rhetorik II erhalten sind; s. Sudhaus in der 
S. 253 Anm. 2 erhaltenen Abhandlung und H. v. Arnim 
Über Dion von Prusa (1898) S. 43 ff. 

Zu S. 245 Z. 5 V. u. Die Notiz bei Diogenes rührt 
sicherlich nicht von diesem selbst her, sondern wahrschein- 
lich von seiner Hauptquelle, mag dies nun, wie Usener an- 
nimmt, Nikias von Nikäa (s. S, 10 f.) oder, wie Gercke 
De quibusdam Laertii auctoribus (1899) S. 67 ff. vermutet, 
ein rlatoniker aus der ersten Hälfte des 2. Jahrh. n. Chr. 
sein. Vgl. S. 270 Anm. 1. Dagegen bezeugen das Fort- 
bestehen der epikureischen Schule für das Ende des 2. Jahr- 
hunderts n. Chr. Aristokles bei Eusebios praep. ev. XIV 21 
und die Inschrift des Diogenes von Oinoanda (s. S. 244 
Anm. 2), für das 3. Jahrhundert auch der Bischof Dionysios 
von Alexandreia. 



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