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Full text of "Grunlinien der Psychologie"

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Philosophische Bibliothek 

Band 115. 

Grundlinien 

der 

Psychologie. ?-; 

Von 

Dr. Stephan Wltasek, 

Tit. a. UniT*riititiprof*iior in Grai. 
Mit 15 Eiffuren im Text 




Leipzig. 

Verlag der Dürr^soheo BuQhhandluDg 
190& 



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Druck Ton 0. GrumbAch in L«ipxig. % 



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Vorwort. 

Der äußere Anlaß zur Abfassung des yorliegenden 
Baches war eine Aufforderung des Herrn Verlegers. 
Seinem Plane, der „Philosophischen Bibliothek" kurze und 
in jedem Sinne möglichst leicht zugängliche, dabei aber 
doch streng wissenschaftliche Gesamtdarstellungen des 
heutigen Standes der einzelnen philosophischen Disziplinen 
anzugliedern, durfte ich mich für mein Teil gerne dienstbar 
machen. Indes hätte mich der äußere Anlaß allein noch 
nicht dazu bestimmen können, onus und odium eines Psy- 
chologiebuches auf mich zu nehmen. Es war vielmehr 
ein längst gehegtes inneres Bedürfnis, dem Eechnung zu 
tragen sich mir auf diese Weise willkommene Gelegenheit 
bot. Die Stätten modemer psychologischer Forschung, 
zwar inMner noch verhältnismäßig dünn gesät, haben in 
jüngster Zeit gleichwohl eine so bemerkenswerte Zunahme 
an Zahl erfahren, daß sich der innere Zusammenhang 
unter ihnen, durch den allein eine ersprießliche Förderung 
dCT Sache möglich wird, noch nicht herzustellen vermochte 
und einzelne nun völlig fremd, vielleicht sogar mit Miß- 
trauen und Mißverständnis, einander gegenüberstehen. So 
wollte ich denn den Fachgenossen ein bequemes Mittel 
an die Hand geben, sich darüber zu unterrichten, wie 
an einer von diesen Stätten, die, an Ernst und Ehrlichkeit 
wenigstens, den anderen nichts nachgibt, sich unsere 
Wissenschaft derzeit im Zusammenhange darstellt ; und ich 
hoffe, sie werden trotz des primitiven Rahmens, innerhalb 
dessen ich mich zu halten aus äußeren Gründen gezwun- 
gen "war, die Einsicht gewinnen, daß einerseits die Psycho- 
logie nach Grundinhalt und Wesen auch hier genau die- 
selbe ist, wie überall an ihren modernen Pflegestätten, 
und andererseits, daß alles, was ihr an Eigentümlichem 
imd Neuem hier eingefügt erscheint, wenn es nur recht 

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tV Vomjrort. 

besehen wird, durchaus gesunde und förderliche Art be- 
währt. (Natürlich habe ich, unbeschadet der an den ent- 
sprechenden Stellen angeführten Quellennachweise, für den 
gesamten Inhalt des Buches selbst einzustehen.) 

In der Ausführung meines Vorhabens mußte ich aller- 
dings zugleich auch die ^"Wünsche des Herrn Verlegers 
respektieren, denen zufolge neben strenger ."Wissensc^ft- 
lichkeit Beschränkung auf die Grundlinien und knappe, 
möglichst allgemeinverständliche Darstellungsweise verlangt 
war. Ich glaube, daß ich diesen wohlbegründeten "Wünschen 
— bis auf eine sachlich ebensowohl begründete, dafür aber 
mit dankenswertem Entgegenkommen hingenommene er- 
hebliche Überschreitung des vereinbarten Umfanges — 
gerecht geworden bin, für den Anfang auch ohne besondere 
Beeinträchtigung meiner eigenen Zwecke. 

Der vielleicht auffallende Unterschied in der Durch- 
führung der Darstellungsweise des allgemeinen gegenüber 
dem speziellen Teil hat sich mit Notwendigkeit aus der 
Natur des Gegenstandes ergeben: Die Ausführungen des 
allgemeinen Teiles stützen sich auf eine verhältnismäßig 
ganz geringe Zahl allgemeiner und zumeist jedermann 
offen zutage liegender Tatsachen ; ihr Schwergewicht liegt 
in der gedanklichen, theoretischen Verarbeitung dieser 
wenigen allgemeinen Tatsachen im Dienste einiger weniger 
allgemeiner Fragen ; solche Verarbeitung ist, wenn anders 
sie überhaupt einen "Wßrt haben soll, auf Begründung und 
Vermittelung von Einsichten angewiesen und kann ein 
Mindestmaß weitläufigerer Auseinandersetzung nicht ver- 
meiden. Die Hauptaufgabe des speziellen Teües dagegen 
besteht vor allem in der Mitteilung von speziellen und 
speziellsten Einzeltatsachen, an denen es zunächst nichts 
einzusehen gibt, sondern die einfach zur Kenntnis zu 
nehmen sind ; da ist kein Pro und Kontra zu erwägen, die 
knappe Angabe genügt, zumal auch viele ."Worte den di- 
rekten Augenschein, das unmittelbare Herantreten an die 
Tatsachen selbst, in Experiment und Demonstration, das 
in der Psychologie heute ebenso unerläßlich ist wie in 
jeder Naturwissenschaft, nicht zu ersetzen vermöchten. 
Überdies kann allfällig notwendige Beschränkung hier ohne 
wesentliche Störung des Ganzen durch glatten Ausschluß 
von weniger wichtigen Sgezialtatsachen erzielt werden. 



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Vorwort. V 

Von dem Mittel der Auswahl ,und des Ausschlusses 
habe ich, wie der Kundige merken wird, auch sonst noch 
weiten Gebrauch gemacht. Einiges zur Kechtfertigung 
dieses Vorgehens findet sich gegebenen Ortes im Texte 
selbst. Übrigens ist es ganz nach meinem Sinne, wenn als 
charakteristisch für das Buch nicht nur das genonmien 
wird, was es enthält, sondern auch das, was es beiseite 
läßt. — 

Meinem Kollegen Herrn Dr. V. Benussi bin ich für 
werktätige Beteiligung an der Korrektur und für manchen 
guten Wink sehr zu Dank verpflichtet. 

Graz, Ende Oktober 1907. 

Stephan Witasek. 



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Inhaltsübersicht. 



s«it« 
L Teil. Allgremeine Psyeliologle - 1 

I.Kapitel. Das Gegenstandsgebiet der Psychologie 1 

1. Hinweis auf das Gebiet der psychischen Tatsachen . 1 

2. Charakteristik der psychischen Tatsachen im Vergleich 

zu den physischen 2 

3. Die Doppelheit des „Gegebenen" trotz Einerleiartigkeit 
des unmittelbar Erlebten 4 

4. Gegenstand der Psychologie sind die psychischen Tat- 
sachen 6 

5. Ablehnung der Bestimmung: Gegenstand der Psycho- 
loge sind die Erlebnisse nach ihren subjektiven 
Eigenschaften 7 

6. Ablehnung der Bestimmung: Gegenstand der Psycho- 
logie ist die Seele 13 

2. Kapitel. Über das Verhältnis zwischen physi- 
schen und psychischen Tatsachen 15 

1. Der Zusammenhang des Physischen mit dem Psychi- 
schen und die Erfahrungen darüber 15 

2. Die Yorg^gig möglichen Ansichten über die Natur 
dieses Zusammenhanges 17 

3. Kritik der Kausalitätstheorien 21 

4. Kritik der Koezistenztheorien . 35 

5. Ergebnis und metaphysische Ergänzungen ..... 45 

3. Kapitel. Seele, Ich und Unbewußtes 47 

1. Methodische Vorbemerkungen 47 

2» Die Seele als Träger der psychischen Tatsachen . . 48 

3. Die Tatsachen des Ich-BewuJBtseins 51 

4. Die Erfahrungen, die zur Annahme unbewußter psy- 
chischer TatMchen führen, und die Natur dieses 
Unbewußten; die psychischen Dispositionen .... 58 

5. Das Wesen des Ich 68 

6. Zusammenfassendes über Seele, Ich und Unbewußtes . 60 

4. Kapitel. Erste Sichtung des psychologischen 
Tatsachenmateriales 71 

1. Die psychischen Grundgebilde und die psychischen 
Prozesse . . • 71 



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Inhaltitibernoht. YH 

8«it* 

2. Akt und Inhalt der psychischen Grandgebilde ... 73 

8. Die allgemeinsten Arten der psychischen Grandgebilde 76 
4. Die Arten der psychischen Prozesse. Psychische 

Aktivität und Passivität Psychische Straft .... 81 
$. Die psychischen Dispositionen. Yor&bergehende und 

bleibende Dispositionsreränderongen 85 

&, Kapitel. Bemerkungen ttber Aufgabe und Me* 

thode der Psychologie 88 

1. Über die Aufgabe der Psychologie 88 

2. Über die Methode der Psychologie 91 

II. Teil« Speiielle Psyeliologle 97 

1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens .... 97 

1. KapiteL Die Vorstellungen 97 

A. Allgemeines und Einteilung 97 

B. Die einzelnen Arten der Vorstellungen .... 102 
a) Die Empfindungen 102 

1. Allgemeines 102 

a) Stellung innerhalb der Grundgebilde . 102 

ß) Qualität der Empfindung; Spezifische 

Sinnesenergien 108 

y) Intensität der Empfindung; Webersches 
Gesetz; Empfindungsmessung; Fechner- 

sche Mafiformel 106 

d) Die psychophysischen Mafimethoden . 117 

2. Gehörsempfindungen 122 

o) Psychologische Beschreibung .... 122 

f) Abhängigkeit vom äufiem Eeiz . . . 129 

y) Theorie der Gehörsempfindungen . . . 187 

3. licht- und Farbenempfindungen .... 143 

a) Psychologische Beschreibung .... 148 
ß) Abhängigkeit vom äufieren Beiz . . . 148 
y) Theorie der licht- und Farbenempfin- 
dungen 164 

4. „Gesichtsraumempfindungen*^ 171 

5. Druckempfindungen 191 

6. Temperatnrempmidungen 195 

7. Schmerzempfindungen 197 

8. Einaesthetische Empfindungen 199 

9. Tastraumempfindungen 201 

10. Vestibularempfindungen 205 

11. Geruchsempfindungen 206 

12. Geschmacl^empfindungen 209 

13. Organempfindungen ......... 213 

14. „Zeitempfindungen" 215 



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VULL Inhaltsäbenicht. 

Seit* 

b) Die produzierten VorBtellungen 222 

1. Die Tatsache der Vorstellunig^produktion . 222 

2. Die verschiedenen Arten der produzierten 
Vorstellungen und ihre Bedeutung im psychi- 
schen Leben 283 

8.- Adäquate und inadäquate Yorstellungspro- 

dnktion 239 

6) Die reproduzierten Vorstellungen 246 

1. Zur Einteilung 246 

2. Nähere Beschreibung - . 250 

3. Teilursachen innerhalb des Bewußtseins . . 255 

4. Teilursachen außerhalb des Bewußtseins . 266 
6. Zur Theorie der Yorstellungsreproduktion . 276 

2. Kapitel. Die Gedanken 279 

1. Zur näheren Beschreibung des Urteils . . 279 

2. Einige Spezialfälle des Urteils 287 

a) Wahrnehmung 288 

ß) Erinnerung 290 

y) Wiedererkennen und Benennungsurteil . 292 

d) Möglichkeit (Bestände) 295 

8. Aufmerksamkeit und Abstraktion .... 297 

4. Die Annahme 806 

5. Zur Erklärung und Theorie 312 

2. Hälfte: Psychologie des G-emütslebens .... 815 

1. Kapitel. Die Gefühle 816 

1. Beschreibung und Einteilung 316 

a) Abgrenzimg 816 

ß) Das Elementargefuhl 318 

y) Die Gefuhlsvoraussetzung und die Ein- 
teilung der. Gelühle 822 

d) Körperliche Begleittatsachen .... 333 

2. Verursachung der Gefühle 836 

a) Teilursachen innerhalb des Bewußtseins 836 

ß) Teilursachen außerhalb des Bewußtseins 339 

3. Theorie des Gefühles 343 

2. Kapitel. Die Begehrungen 349 

a) Zur Analyse und Beschreibung . . . 850 

ß) Hauptfrage 353 

y) Ursachen 855 

d) Wirkungen 857 

e) Verlauf . 359 

f) Zur Theorie 863 

Schlußwort 867 

Literaturverzeichnis 371 

Sachregister ^^ 



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I. Teil. 

Allgemeine Psychologie. 



1. Kapitel. 

Das Cregenstandsgeblet der Psychologie. 

1. Hinweis auf das Gebiet der psychischen 
Tatsachen. 

Der Anfang alles Philosophierens ist das Staunen; 
so sagen die großen Denker der Alten. Aber fast mit 
gleichem Rechte könnte man auch von der Psychologie 
behaupten, daß sie mit dem Staunen beginne. Es ist 
wie die Entdeckung eines neuen Landes, wenn man zum 
ersten Male mit Bedacht erschaut, was man bis dahin, ob- 
gleich es einem stets das Nächste war, doch immer über- 
sehen hat: die ganze, reiche Welt des Innenlebens. Die 
eben erwachende Seele des Kindes ist alsbald ausgefüllt 
von den tausend Wundem, die ihr die Sinne aus der 
umgebenden Welt berichten. Ein Knabe von etwa acht 
Jahren, ernsthaft gefragt, was es denn alles gebe, zäMt 
Berge, Flüsse, Seen, Bäume, Häuser, Tiere, Menschen, 
G^rät und Spielzeug, und Sonne, Mond und Sterne auf, 
niemals Gedanken, Schmerz. Und leicht könnte man sagen, 
daß die meisten von uns darin stets Kinder bleiben. Auch 
der Erwachsene ist in der Kegel mit den Dingen seiner 
Umgebung, mit der Außenwelt, beschäftigt, und wird kaum 
je der Vorgänge in seiner Innenwelt gewahr, die ihm von 
jenen Kunde bringen. Denn diese sind wie selbstlose 

Witasek, Grxmdlinien der Psycholoe^ie. 1 

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2 I. Teil. Allgemeine Psychologie. 

Freunde, die uns von allem möglichen erzäMen, nur nicht 
von sich — wenn wir's nicht ausdrücklich verlangen. 
Solches Verlangen ergeht aber nur selten ; unsere Auf- 
merksamkeit ist von selbst aus guten Gründen auf die 
Außenwelt gerichtet, und nur bei ganz besonderem Anlaß 
wendet sie sich einmal der Linenwelt zu. 

Wenn sie es aber tut und nicht zu rasch sogleich 
wieder abspringt, dann zeigt sie uns ein Neues und eine 
ungeahnte Fülle, ja eine ganze zweite Hälfte allen Seins. 
Sie zeigt uns da zunächst, daß wir ja eigentlich gar nicht 
die Dinge selbst, sondern gleichsam nur Abbilder von 
ihnen haben, die, bald deutlicher, bald unklar und ver- 
schwommen, ja oft genug die Dinge ganz entstellend, mehr 
oder weniger flüchtig vorüberhuschen, während die Dinge 
doch wohl beharren, oder auch einmal wiederkehren, nach- 
dem die Dinge längst vergangen sind. Sie zeigt uns, 
wie diese Bilder, scheinbar regellos, doch in Wahrheit 
nach eigenen Gresetzen einander folgen, sich verketten, zu 
Gedanken und Gedankenreihen sich zusammenschließen; 
wie die Gedanken, eine Welt für sich, fast unabhängig 
von den Dingen, bald in mühevoller, die Kräfte anspaji- 
nender Arbeit, bald in leichtem Fluß, ein endloses Ge- 
triebe, sich regen, ineinandergreifen und uns zu einem 
Phantasiegebilde, zu Wahrheit oder Irrtum führen; wie 
überall in dem Getriebe sich ein Etwas regt, fördernd oder 
störend, das in der Außenwelt kein Widerspiel mehr hat, 
das aber hier erst Farbe, Glanz und Wärme ausmacht, 
ein Hoffen, Bangen, ein Lieben, Hassen, Streben, Ver- 
langen oder Fliehen; und wie das Ganze als Eigenes, 
Neues der Welt der Außendinge gegenübersteht, durch 
sie beeinflußt und wieder mächtig in sie eingreifend, ihr 
Schicksal oft beherrschend und gestaltend, ein gleicher 
Faktor im Geschehen und im Sein des Alls, unser 
Inneres — das Seelenleben. 

2. Charakteristik der psychischen Tatsachen im 
Vergleich zu den physischen. 

AU dieses Zahllose und Mannigfaltige, die Vorgänge 
und Gebilde in unserem Bewußtsein oder, wie wir es von 
nun an stets bezeichnen wollen, die Gesamtheit der psy- 



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1. Kapitel. Das Gegenstandsgebiet der Psychologie. 3 

chischon Tatsachen, ist geradeso real und wirklich, ja 
viel unmittelbarer gegeben und bekannt, als die materiellen 
Dinge und Vorgänge in der Außenwelt, im übrigen 
jedoch seiner Beschaffenheit nach von diesen total ver- 
schieden. Die Verschiedenheit ist die größte, die wir 
zwischen irgend zwei Dingen der "Welt vorfinden, ja 
— wenn wir nicht geradezu an die zwischen el^fas 
und nichts denken wollen — vielleicht die größte, die 
wir überhaupt ersinnen können. Freilich ist es schwer, 
sie jemandem, der die Verschiedenheit nicht schon von 
selber merkt, in Worten aufzuweisen ; nicht aber deshalb, 
weil sie etwa zu fein und zu .versteckt wäre, sondern 
weil man, sieht einer den Wald vor Bäumen nicht, damit 
er ihn doch endlich sieht, nichts anderes tun kann, als 
seinen Blick nur wieder hin auf den Wald zu lenken. An 
dies und jenes kann man ja wohl erinnern. Ein steinerner 
Würfel ist hart und kalt, grau und schwer und eckig; 
die Vorstellung von ihm, der Gedanke, die Erinnerung 
an ihn, hat nichts von diesen Eigenschaften, und kann 
nichts davon haben — sie enthält nur selber wiederum 
die Vorstellung von hart und kalt und anderem. Mein 
Freund, den ich bemitleide, geht vielleicht rechts neben 
mir; der Gedanke an meinen Freund, oder das Mitleid 
ist weder rechts noch links, es hätte gar keinen Sinn, 
ihm einen Ort anzuweisen. Der Baum, der vor uns steht, 
den können wir beide sehen; jedoch mein inneres Bild 
vom Baume, wie ich ihn sehe (meine Wahmehmungs- 
vorstellung), das kenne ich allein, das kann kein anderer 
sehen, so wenig wie die Gedanken und Gefühle, die ich 
daran knüpfe. Und schließlich — vielleicht das be- 
deutendste von dem, was sich da überhaupt in Worte 
kleiden läßt: Mein Vorstellen, mein Denken, mein Fühlen 
und mein Wollen ist stets in eigenartiger Weise auf 
irgendwas „gerichtet"; ich stelle etwas vor, ein Etwas, 
das nicht das Vorstellen ist, vielleicht ein Buch; mein 
Denken erfaßt Dinge, die selbst kein Denken, ja über- 
haupt nichts Geistiges sind; es erfaßt sie, ohne sie etwa 
in sich hineinzuziehen; von räumlichem Verhältnis ist 
keine Bede, kann keine Bede sein, und doch „trifft'' 
unser Denken jene Dinge. Das gleiche gilt vom Fühlen 
und vom Wollen. Es ist eine Beziehung, die rätselhaft, 

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4 I. Teil. Allgemeine Psychologie. 

ja unausdenkbar sein müßte, wenn wir sie nicht so gut 
aus unserer inneren Erfahrung kennten. Doch ist sie ganz 
aufs Psychische beschränkt; sucht man das Physische, 
die "Welt der materiellen Dinge, auch noch so eifrig durch, 
da ist nicht eine Spur von ihr zu finden; da ist ein 
räumliches Neben- oder Ineinander, Bewegung gegen- 
einsfeider, da gibt's der Beziehungen mancherlei, doch 
solches inneres Bezogensein, Oerichtetsein, Hinweisen auf 
ein anderes, das hat da keine Stelle. Die physischen 
Dinge stehen abgeschlossen gegeneinander da, keines weist 
in jenem eigenartigen Sinne über sich hinaus, wie wir 
es vom Vorstellen und allem psychischen Geschehen her 
kennen. Darin liegt wohl der greifbarste, charakteristischeste 
Unterschied zwischen den beiden Gebieten — wenn man 
auch nicht gerade sagen kann, daß er es ist, der etwa 
auch die Wesensverschiedenheit der beiden ausmacht; 
auch er ist nur ein Merkmal dieser Wesensverschieden- 
heit, und diese selbst läßt sich nicht anders fassen als 
daß man sagt: Materielles hier. und dort Geistiges. 

3. Die Doppelheit des „Gegebenen" 
trotz Einerleiartigkeit des unmittelbar Erlebten. 

Wenn wir nun aber, wie es eben hieß, die materiellen 
Dinge selbst gar nicht gegeben haben, sondern gleichsam nur 
Abbilder von ihnen, woher nehmen wir die Berechtigung 
zu all diesen Behauptungen? Wie kommen wir dazu. 
Physisches und Psychisches zu unterscheiden und ein- 
ander gegenüberzustellen, wenn alles, was wir haben und 
kennen, doch nur ein Einerleiartiges, das Psychische, ist ? 

Die Schwierigkeit, die damit angedeutet sein soll, 
ist bloß eine scheinbare. Sie ist nur möglich durch die 
Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit der Ausdrücke „ge- 
geben", „haben", „kennen". Eben wegen jener besonderen 
Eigentümlichkeit der psychischen Tatsachen, vor allem 
der Vorstellungen, „auf etwas gerichtet zu sein", ist uns 
mit dem Erleben einer psychischen Tatsache in zwei- 
fachem Sinne etwas „gegeben": direkt und unmittelbar 
die psychische Tatsache selbst, mittelbar und in über- 
tragenem Sinne eben das, worauf sie gerichtet ist. Ein 
Beispiel mag dies klarer machen. Ich gehe nachts heim- 



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1. E^pitel. Das Gegenstandsgebiet der Psychologie. 5 

wärts, erhebe zufällig mein Auge und erblicke den Mond 
am Himmel. Nun weiß ich etwas über den Mond, etwa, 
daß er am Himmel steht, im letzten Viertel sich befindet, 
und wie er eben aussieht Damit ist mir von einem phy- 
sischen Dinge etwas gegeben; d. h. ich habe Kunde von 
seiner Existenz, seinem Zustande und seiner Beschaffen- 
heit. Dies „Kunde haben von etwas" ist der eine Sinn 
jenes „Gegeben**. Es ist mir dabei aber auch noch in einem 
eigentlicheren Sinne etwas gegeben: die Wahmehmungs- 
Yorstellung vom Monde, und der Gedanke an ihn. Die 
sind natürlich etwas Psychisches. Und dieses „habe" ich 
unmittelbar und wirklich, und erkenne seine Beschaffen- 
heit. Aber indem ich es habe, gewinne ich vermöge der 
Eigenart des Psychischen, auf etwas gerichtet zu sein, 
auch Kunde von noch etwas anderem, vom Gegenstande 
dieses Psychischen (dieser Vorstellung), in unserem Bei- 
spiele vom Monde. So ist mir in dem geschilderten 
Erlebnis zweierlei gegeben: die Kunde von einem Phy- 
sischen (vom Monde) und ein Psychisches (meine Wahr- 
nehmungsvorstellung oder mein Gedanke) ; und ich erkenne 
leicht, daß dies auch wirklich zweierlei ist: mein Ge- 
danke an den Mond ist etwas anderes als der Mond 
selber. 

Dabei ist es zunächst ganz gleichgültig, ob der phy- 
sische Gegenstand der Vorstellung, etwa der Mond, in 
Wahrheit auch wirklich so beschaffen ist, wie er uns 
in unserer Vorstellung erscheint, ja, ob er in Wahrheit 
überhaupt existiert. Das zu untersuchen ist Sache einer 
eigenen Wissenschaft, der Erkenntnistheorie. Mag diese 
Wissenschaft bei ihrer Arbeit zu dieser oder jener Ant- 
wort konunen, für unsere Tatsachenbeschreibung kann 
das nichts verschlagen. Immer bleibt es aufrecht, — 
leicht zu erkennende und niemals wegzuklügelnde Tatsache 
der unmittelbarsten Erfahrung — £iß unser Denken auf 
etwas gerichtet ist, jede Vorstellung z. B. auf etwas, das 
nicht wieder eben diese Vorstellung ist, und daß es uns 
dadurch von diesem Etwas Kunde bringt. Die beiden 
Daten bleiben, auch wenn die Erkenntnistheorie zeigen 
sollte, daß eines oder das andere von ihnen irreführt. 
Sie haben, so wie sie uns an sich, in unserer unmittel- 
baren Tatsachenerfahrung gegeben sind, ihre eigentüm- 



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g I. Teil. Allgemeine Psychologie. 

liehe, voneinander sichtlich verschiedene Beschaffenheit, 
die zu erforschen nötig ist. Denn nicht das kleinste Natur- 
gesetz, nicht die geringste Lehre der Physik wird wankend, 
wenn die Erkenntnistheorie auch noch so deutlich zeigt, 
daß es materielle Dinge etwa gar nicht gibt. Die Tat- 
sache bleibt immer unumstößlich fest: Unser Vorstellen 
ist so beschaffen, daß es uns Dinge zur Vorstellung 
bringt; und von der Beschaffenheit eines großen Teiles 
dieser Dinge handelt die Physik. Und ebenso ist es nach 
unmittelbarer, unreflektierter Erfahrung sicher und deut- 
lich, daß eine Vorstellung niemals identisch ist mit dem 
Dinge, das sie zum Vorgestelltwerden bringt, der Mond 
was anderes ist (auch wenn er gar nicht ezisti^), als 
unsere Vorstellung, mittels welcher wir ihn vorstellen. 
So stellt sich unser Denken — das „unmittelbar Ge- 
gebene" — vor aller theoretischen Bearbeitung dar, das 
ist die Tatsache, von der selbst die Erkenntnistheorie, 
auch wenn sie !mit den destruktivsten Absichten ans Werk 
geht, den Ausgang nehmen muß. 

4. Gegenstand der Psychologie sind die 
psychischen Tatsachen. 

Wenn wir demnach die Vorstellung und den 
vorgestellten Gegenstand in solcher Weise zu unter- 
scheiden haben und den vorgestellten Gegenstand (in 
der Hauptsache) der Physik, genauer den Wissenschaften 
von der materiellen Welt oder äußeren Natur, zur Be- 
arbeitung zuweisen, dann bleibt es offenbar einer andereu 
Wissenschaft vorbehalten, die Vorstellung selber zu be- 
handeln. Diese andere Wissenschaft ist nun die Psycho- 
logie. Der Psychologie fällt es zu, an jener Tatsache, 
jenem Erlebnis, das wir eine Vorstellung nennen, all das 
zu untersuchen, was jenes Erlebnis selber ist, wälurend 
das, wovon es uns Kunde gibt, oder worauf es „gerichtet" 
ist (der Gegenstand der Vorstellung), normalerweise aufler 
ihren Bereich fällt. Aber nicht nur die Vorstellung«! 
etwa liegen im Forschungsgebiete der Psychologie, viel- 
mehr alle die psychischen Tatsachen, auf die wir ein- 
gangs die Aufmerksamkeit gelenkt haben : Empfindungen, 
G^anken jeder Art, Gefühle, Verlangen und Verabscheue ; 



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oogle 



1. Kapitel. Das Gegenfitancbgebiet der Psychologie. 7 

all das für sich sowie in sein^i vielfachen Verbindungen, 
Verschränkungen, seinem Entstehen und Vergehen und 
seiner wechsekeitigen Abhängigkeit, all die zahllosen Gre- 
bilde, die sich dabei ergeben, das Aufmerken, das Phanta- 
sieren, das Erkennen und das Irren, das Lieben, Hassen, 
Fürchten, Sehnen, Bewundem und Genießen, das Ab- 
strahieren und Vergleichen, und wie sie alle heißen, 
die hundert B^ungen des Menschenherzens und des 
Menschengeistes. Dies macht das Gegenstandsgebiet der 
Wissenscb^t Psychologie aus: die Gesamtheit der 
psychischeja Tatsachen. 

5. Ablehnung der Bestimmung: 

Gegenstand der Psychologie sind die Erlebnisse 

nach ihren subjektiven Eigenschaften. 

Die eb^i vorgetragene Bestimmung des Gegenstandes 
der Psychologie wird heute durchaus nicht allgemein an- 
erkannt; sie wird vielmehr von autoritativer Seite ver- 
worfen, ja geradezu für sinnlos erklärt Es ist daher 
unerläßlich, den Einwänden, die gegen sie vorgebracht 
wardai, sowie der Auffassung, durch die sie ersetzt wird, 
ausdrückliche Beachtung zu schenken. 

Der Antrieb zur Entwicklung dieser zweiten Lehre 
geht von d^ Unterscheidung physischer und psychischer 
Tatsachen aus, und zwar vom Widerspruch gegen die 
Zulässigkeit dieser Unterscheidung. Es wird mit großem 
Nachdiiick darauf hingewiesen, daß es für unsere ur- 
sprüngliche Erfahrung einen solchen Gegensatz nicht gibt. 
Vielmehr ^eige sie uns einen Ablauf von Erlebnissen, 
die, alle von gleicher Art, keine Handhabe zu einer so 
fundamentalen Trennung bieten. "Wir haben nichts anderes 
als sogenannte Empfindungen, Anschauungen (= Vorstel- 
lungen), Erinnerungen, Stimmungen, Gefühle; eine Folge 
von solchen und ihren Verknüpfungen mache unser ganzes 
Leben aus. Farben-, Ton-, Wärme-, Druck-, Baum-, Zeit- 
usw. Empfindungen „sind in mannigfaltiger Weise mit- 
einander v^knüpft, und an dieselben sind Stimmungen, 
Gefühle und Willen gebunden. Aus diesem Gewebe tritt 
das relativ Festere und Beständigere hervor, es prägt 

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3 I. Teil. Allgemeine Psychologie. 

sich dem Gedächtnisse ein, und drückt sich in der Sprache 
aus. Als relativ beständiger zeigen sich zunächst räumlich 
und zeitlich verknüpfte Komplexe von Farben, Tönen, 
Drücken usw., die deshalb besondere Namen erhalten, 
und als Körper bezeichnet werden. . . . Als relativ be- 
ständig zeigt sich ferner der an einen besonderen Körper 
(den Leib) gebundene Komplex von Erinnerungen, Stim- 
mungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird. . . . 
Der Gegensatz zwischen Ich und "Welt [= Psychischem 
und Physischem], Empfindung oder Erscheinung und 
Ding fällt dann weg, und es handelt sich lediglich 
um den Zusammenhang der Elemente . . ., für 
Vielehen eben dies^ Gegensatz nur ein teilweise zutref- 
fender, unvollständiger Ausdruck war. ... So besteht 
^so die große Kluft zwischen physikalischer und psy- 
•chologischer Forschung nur für die gewohnte stereotype 
Betrachtungsweise. Eine Farbe ist ein physikalisches 
Objekt, sobald wir z. B. auf ihre Abhängigkeit von der 
beleuchtenden Lichtquelle (andern Farben, "Wärmen, 
Räumen usw.) achten. Achten wir aber auf ihre Ab- 
hängigkeit von der Netzhaut . . . so ist sie ein psycho- 
logisches Objekt, eine Empfindung. Nicht der Stoff 
sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten 
verschieden." 1) 

Auf Grund solcher Gedankengänge meint man nun 
:*8agen zu müssen, die Psychologie sei „eine "Wissenschaft 
nicht von einem bestimmten Ausschnitt der "Welt, son- 
dern von der ganzen Welt, aber von dieser nur nach 
einer bestimmten Hinsicht"«), und für die Aufgabe der 
Psychologie ergibt sich daraus etwa die Formulierung, 
sie habe eine „Beschreibung der von erlebenden Indivl- 



^) Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen. 1. Aufl.- 
1886, S. 2, 8, 10, 18. 4. AuflL 1903, S. 1, 2, 11, 14. Die kleine 
Änderung des Wortlautes im Anfang des er sten Zitates ist zur Yer 
deutHchung der vorgetragenen Anschauung Yorgenommen und gewifi 
ganz in ihrem Süme; vgl übri^ns zum Beweise S. 16 unten: »Man, 
nennt diese Elemente '^gewohnhch Empfindungen.^ 

t') Ebbi.n^ghaus, GrundzügeX,der] Psychologie, 1, 1. Aufl. 
1902), S. 7. * in der 2. Aufl. (1905) fehlt zwar die obige prägnante 
Tassung, doch scheint der Standpunkt dadurch keineswegs Ter- 
schoben. 



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1. Kapitel. Das Gegenstandsgebiet der Ptychologie. 9 

duen abhängigen Eigenschaften der Erlebnisse zu liefern"^), 
oder, die Psychologie sei die Wissenschaft der „von körper- 
lichen Subjekten abhängigen Bestandteile der reinen, ur- 
sprünglichen Erfahrung".») — 

Alle diese Bestimmungen sind dem gewiß sehr wert- 
vollen Streben nach erkenntnistheoretischer Exaktheit ent- 
sprungen, scheinen jedoch dieses Ziel — wie auch sofort 
-ZU berichten sein wird, bis zu gewissem Grade selbst in 
den Augen ihrer Vertreter — nicht durchaus erreichen 
2u können. 

Vor allem ist folgendes zu bedenken. Der Begriff 
des Subj^tes und seines Gegensatzes zum Objekt nimmt 
seinen ganzen Sinn nur von der oben besprochenen Er- 
fahrungstatsache her, daB unser Vorstellen und Denken 
auf etwas gerichtet ist ; in der von der unmittelbaren 
Erfahrung geforderten Unterscheidung von Vorstellen und 
Vorgestelltem steckt seine Wurzel. Wer diese Unterschei- 
dung leugnet, verliert schließlich den Inhalt des Begriffs- 
paares Subjekt — Objekt. „Denn theoretisch liegt keine 
Veranlassung vor, den eigenen Körper als räumliches Ein- 
^wesen gegen andere Körper im Räume abzugrenzen 
und als Ich diesen gegenüberzustellen, da ja auch der 
eigene Körper als ein Erlebnis gelten und damit jener 
doppelten Betrachtung der Subjektivierung und Objek- 
tivierung untOTworfen werden kann."») Wird also dem 
B^riffe Subjekt nicht irgend eine neue Bedeutung ge- 
geben, so haben die obigen Formulierungen auf Grund 
dieser Anschauungsweise — nach der es also bloß einen 
ganz einerleiartigen ursprünglichen Erfahrungsinhalt ohne 
jene eigentümliche Richtungsbeziehung geben soll — gar 
keinen denkbaren Sinn. 

Eine solche neue Bedeutung dem Subjektsbegriff zu 
geben, wird denn auch versucht Der Grundgedanke da- 
bei ist folgender. Die Erlebnisse sind sämtlich von einerlei 
Art und in sich geschlossen, tragen also jedes für sich 
allein gar nichts an sich, was eine Scheidung von Subjekt 
und Objekt im herkömmlichen alten Sinne begründete. 

^) Külpe, Gnindriß der Psychologie, S. 5. 

>) Külpe, Einleitung in die Philosophie, 1. Aufl. (1895), S. 06. 

•) Kulpe, Einleitung in die Philosophie, 1. Aufl., S. 224. 



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10 I. Teil. Allgemeine Psychologie. 

Sie folgen einander in vorerst regellos seheinendem Ablauf. 
Die wissenschaftliche Behandlung dieses ursprünglichen 
Tatsachenmaterials hat die Aufgabe, es zu ordnen, d. h. 
das Gesetz aufzudecken, nach dem die Beihe verläuft, 
anders ausgedrückt, mittels welches sie geordnet dargestellt 
werden kann. Dabei ergebe sich nun, daß es nicht mög- 
lich ist, die Erlebnisreihe unter Zugrundelegung eines 
einzigen (allgemeinen) Geschehens -Gesetzes verständlich 
zu machen. Es seien dazu wenigstens zwei (allgemeinste) 
Gesetze anzunehmen, die dadurch als zwei erscheinen, 
daß sie von verschiedener Art sind: das eine das 
Gesetz mechanischen Zusammenhanges, das andere das 
des assoziativen. Nur als Interferenz zweier solcher 
Gesetze lasse sich die Erlebnisreihe verstehen, und zwar 
unterliege wenigstens der größere Teil der Einzelerleb- 
nisse (die Empfindungen) sowohl der einen wie zugleich 
der andern der beiden Gesetzmäßigkeiten ; in ihrer gegen- 
seitigen Abhängigkeit nach dem mechanischen Gesetze 
nennt man sie objektiv bedingt, in der nach dem assozia- 
tiven Gesetze subjektiv. In dieser einen Beziehung sind 
sie dann Sache der Psychologie, in jener andern der 
Physik. 

So scharfsinnig und geistvoll der Versuch auch ist, 
den zuerst seiner natürlichen Grundlage beraubten Be- 
griff sgegensatz Subjekt — Objekt dann doch wieder zu 
halten, so hält er doch nicht Stich. Denn wodurch .werden 
wohl Gesetze des Geschehens zu verschiedenen Ge- 
setzen? Doch nur durch die Verschiedenheit der Dinge 
oder Geschehnisse, von denen sie handeln. Alle Gesetze 
sind, wenn man von dem, was sie in gesetzmäßige Ver- 
bindung bringen, absieht, einander der Art nach völlig 
gleich; sie sagen dann alle das Gleiche aus, nichts weiter 
als: notwendige Verbindung. Besteht nun die Erlebnis- 
reihe aus lauter gleichartigen Elementen, so ist nicht 
abzusehen, wie sie zur Aufstellung von zweierlei ver- 
schiedenen allgemeinen Grundgesetzen soll Anlaß geben 
können, wie insbesondere die Gesamtheit der Empfin- 
dungen für zwei Ablaufsgesetze verschiedener Art lUtum 
bieten sollte; denn auch die allfällige Verknüpfung mit 
Gefühlen kann allgemein gar nichts verschlagen, weil 
auch der kleinste Geschehensablauf, der von Gefühlen 



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1. Kapitel. Bas Gegenstandsgebiet der Psychologie. H 

nichts enthält, dem einen oder anderen Gebiet sich zu- 
teilen lassen muß und zuteilen läßt. Die Ausdrüdke 
mechanisches, assoziatives Gesetz sind wohl geeignet, 
darüber hinwegzutäuschen; aber abgesehen davon, daß 
es noch mehr als fraglich ist, ob jedes dieser Gesetze, 
bestimmten Sinn vorausgesetzt, auf seinem Gebiete un- 
eingeschränkte Geltung hat, so zeigt sich auch an ihnen 
klar, daß sie verschiedene Gesetze nur dadurch sind, daß 
sie Verschiedenes betreffen: <ks eine besagt notwendige 
Abfolge etwa materieller Bewegungen, das andere das 
gleiche etwa von Vorstellungen. 

So scheitert diese Lehre in ihrer schärfsten Fassung 
an einer inneren Unmöglichkeit, die freilich nur abstrakter 
Analyse erkennbar wird. Viel handgreiflicher ist, was 
an jenen, gleichsam nur für den Hausgebrauch oder die 
Praxis bestimmten einfacheren Formulierungen (siehe S. 8) 
eine ruhige Befriedigung nicht aufkommen läßt. Es scheint 
zum Beispiel gar nicht möglich, an den Erlebnissen (psy- 
chischen Tatsachen) Bestandteile oder Eigenschaften zu 
unterscheiden, die vom erlebenden Individuum, dem Sub- 
jekte, abhängen, im Gegensatz zu solchen, von denen das 
nicht gilt ; denn sie sind in allen ihren Teilen und Eigen- 
schaften durchaus vom Subjekte bestimmt, und wo sie 
vom Objekte mit abhängig sind, verschmelzen die beiden 
Einflüsse ganz und gar zu einem einheitlichen Gebilde, 
an dem, für sich genommen, ein realer Anteil des einen 
und des andern so wenig melir zu sondern ist, wie etwa 
an dem Ton der Geige der Anteil des Bogens von dem der 
Saite. Freilich läßt sich am Tone untersuchen, wie er vom 
Bogen, und wie er von der Saite abhängt ; aber — tmi 
im Gleichnisse zu bleiben — die Psychologie bekümmert 
sich ja nicht nur um die Abhängigkeit, um die Entstehung 
des Tones, sondern um den Ton und seine Beschaffenheit 
selber. In diesem sind nun zwei nach Ursprung ver- 
schiedene Bestandteile nicht auseinander zu sondern. Das- 
selbe gilt auch vom Punkte in der Ebene, an den man 
zur Verdeutlichung der These gleichfalls manchmal er- 
innert. Auch er hat keine unterscheidbaren Teile; aber 
daß er in jeder Lage durch zwei Faktoren, Abszisse und 
Ordinate, bestimmt ist, kann hier nichts erklären, weil 
diese beiden doch nur als Bilder für Subjekt— Ob jdrt 

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12 I. Teil. Allgememe Psychologie. 

Sinn bekommen und eine solche Unterscheidung, wie wir 
gesehen, hier keinen Boden hat 

Ein anderes, was an der in Bede stehenden An- 
schauungsweise befremdet, ist, daß sie es erst von lang- 
wierigen Überlegungen abhängig macht, zu entscheiden, 
ob ein Gegebeines, an das man etwa eben denkt, ein 
Subjektives oder Objektives, psychisch oder physisch ist. 
Sonst macht man diese Unterscheidung auf den ersten 
Blick, und braucht nicht viel dabei zu spekulieren. Wo 
es wirklich einmal besonderes Studium verlangt, zu ent- 
scheiden, ob ein — zumeist abnormes — Geschehen „ein 
subjektives oder objektives" ist, wie etwa seinerzeit bei 
der Untersuchung des Farbenkontrastes, da ist die Frage 
nicht, ob das Erlebnis (die "Wahrnehmung des Kon- 
traste«) ein Subjektives oder Objektives, psychisch oder 
physisch ist; denn darüber besteht kein Zweifel, es ist 
natürlich psychisch. Die Frage dreht sich nur darum, 
ob die Bedingung des abnormen Verlaufs auf Seite 
des Subjektiven oder des Objektiven liegt, und ob des- 
halb, von dem abnormen Geschehen besonders Notiz 
zu nehmen, der Psychologie oder der Physik zu- 
kommt.^) — 

So mag es wohl berechtigt sein, wenn wir dieser Auf- 
fassung vom Gegenstande der Psychologie nicht Folge 
leisten. Dies um so mehr, als wir gesehen haben, daß, 
was sie an der von uns vertretenen Ansicht rügt, nicht 
stichhaltig ist. In jedem Erlebnis, besonders deutlich und 
unmittelbar in jeder Empfindung oder Wahrnehmung, 
ist uns die Erfahrungsgrundlage zu zweierlei gegeben: 
zunächst zur Kunde von dem, was wir empfinden oder 
wahrnehmen, und femer noch zum Wissen davon, daß 
wir eben empfinden oder wahrnehmen. Dies beides führt 
nicht auf dasselbe : das Wahrgenommene ist etwas anderes 
als die Wahrnehmung. Jenes ist meist ein Physisches, 
diese stets psychisch. Das eine ist dann Sache der Wissen- 
schaften von der äußeren Natur (Physik, Chemie usw.), 
das andere gehört der Psychologie. 



«) Vgl. EbbingbauB, ». a. 0., S. 7. 

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1. Kapitel. Das Gegenstandsgebiet der Psychologie. 13 

6. Ablehnung der Bestimmung: 
Gegenstand der Psychologie ist die Seele. 

Ist die soeben abgelehnte Auffassung vom Gegen- 
stande der Psychologie ein Ergebnis jüngster Wissen- 
schaftsentwicklung, so ist die dritte, der wir nun noch 
gedenken müssen, geradezu die alte, ursprüngliche. Sie 
ist Init dieser Wissenschaft gleichsam zur Welt gekommen, 
sie blieb in Geltung durch das ganze Mittelalter, sie hat 
den Plan beherrscht zur Zeit des großen Aufschwungs 
der deutschen Philosophie vor hundert Jahren, sie ging 
noch mit zu Anfang der Verbindung, die später unsere 
Wissenschaft mit physiologischem likennen schloß, sie 
steht auch heute noch an manchem Ort in Ehren und 
ist gewiß dem unbefangenen Laien die selbstverständliche, 
natürliche: Psychologie gleich Wissenschaft von der 
Seele, das sagt ja schon ihr Name. 

Doch trotz der scheinbar übermächtigen Autoritäten 
ist es uns unmöglich, diese Fassung anzunehmen — so- 
fern wir mit unseren Worten das besagen wollen, was 
wir meinen. Denn wer von Seele spricht, wird heute 
wohl zunächst noch so verstanden werden, als ob er jenes 
substanzielle Seelenwesen meinte, das, immateriell, un- 
teilbar, einfach, ein relativ selbständiges Dasein haben und 
nach der Lehre herrschender Konfessionen in seiner Ver- 
bindung mit dem Leibe dessen Leben, durch seine Tren- 
nung von ihm den Tod ausmachen soll. 

Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, ob eine 
solche Seele existiert und ob sie Gegenstand der Forschung 
sein kann. Für jetzt, bei den ersten Schritten in unserer 
Disziplin, ist maßgebend, daß wir, um nur erst Boden 
zu gewinnen, den G^enstand der Untersuchung aus der 
Erfahrung holen. Und das ist sicher: die Seele als 
metaphysische Substanz, als eigenes, immaterielles Wesen, 
ist kein Erfahrungsding. Sie mit den äußeren Sinnen wahr- 
zunehmen, daran denkt ja ohnedies niemand. Aber auch 
das Innenleben gibt nie und nirgends eine Anschauung 
von einem solchen Wesen. Die bunte Mannigfaltigkeit^ 
die es enthält, zerfällt bei näherem Betrachten in Vor- 
stellungen, Gedanken, Gefühle und ähnliches, lauter zu- 
sammengesetzte, wandelbare, meist rasch vorübergehende 



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14 I- Teil. Allgemeine Psychologie. 

Gebilde, die gar nichts von den Forderungen erfüllen, die 
zu erfüllen das Wesen jener Seele ausmacht; und je ge- 
nauer man den Inhalt des Bewußtseins untersucht, um so 
deutlicher wird man gewahr, daß es nichts neben und 
nichts in diesen Gebilden wahrnehmen läßt, was man 
die Seele in diesem Sinne nennen dürfte. Ja mancher 
wird sogar geneigt sein geradew^ zu sagen, was über- 
haupt einmal wahrnehmbar ist, das kann schon deshalb 
nicht die Seele sein. 

Man sieht, die Seele ist nicht Erfahrungstatsache. 
Sie ist der Gegenstand eines Begriffes, den sich der Mensch 
schon in der dunkeln Vorzeit seines Naturdaseins ganz 
unwillkürlich zu bilden brennen, den er sich dann, 
durch mannigfache Wandlimgen hindurch, allmählich 
weiter entwickelt hat, teils zur Befriedigung der Sehn- 
sucht seines Herzens, teils um die eigene Natur und das 
Geschehen der Welt sich zu erklären, der dann durch 
manche religiöse Lehre die höhere Sanktion erhielt, und 
dessen sich zum Schlüsse auch die Theorie des Innen- 
lebens bemächtigte, um ihn zur Klärung ihres Tat- 
sachengebietes auszunützen. Wenn also die Psychologie 
eine Seele statuiert, so kann sie dies nicht im Sinne eines 
Erfahrungswissens tun, sondern im Sinne einer Hypothese, 
ganz so, wie etwa die Chemie von den Atomen und die 
Physik vom Lichtäther sprechen. Auch sie kann nur den 
Zweck damit verfolgen, die (psychischen) Tatsachen durch 
eine solche Annahme besser zu erklären und zu be- 
schreiben, als es ihr ohne deren Hilfe möglich wäre ; und 
wie sonst überall so gilt auch hier, daß dieser Annahme 
um so größerer Wahrheitswert zuzuerkennen ist, je größer 
jene Hilfe ist, die sie der Theorie zu leistoA vermag. 

Daraus ergibt sich, daß die Psychologie nicht mit 
der Lehre von der Seele beginnen kann. Sie muß viel- 
mehr vom Tatsächlichen den Ausgang nehmen, und 
dabei wird es sich zeigen, ob sich die Forschung einmal 
zur Hypothese einer Seele gedrängt sieht oder nicht. Auf 
jeden Fall kann davon erst die Eede sein, bis die Er- 
fahrungstatsachen in weitem Ausmaße erkundet sind ; dann 
hat sich dem Stande dieses Erfahrungswissens die Hypo- 
these anzupassen und stets angepaßt zu halten, wenn es 
mit fortschreitender Forschung sich erweitert. 



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2. Kapitel Über das Yeriiältiiis zwischen physischen usw. 15 

Darin liegt es begründet, daß nicht die Seele, sondern 
die psychischen Tatsachen als Gegenstand der Psychologie 
zu nennen sind. 



2. Kapitel. 

Über das YerhSltnis zwischen physischen und 
psychischen Tatsachen. 

1. Der Zusammenhang des Physischen mit dem 
Psychischen und die Erfahrungen darüber. 

Wir haben uns vergegenwäxtigt, daß die natürliche, 
ungezwungene und vortheoretische AujEfassung der Wirk- 
lichkeit s^ei Hauptarten des Wirklichen unterscheiden 
laßt: das Physische und das Psychische. Diese beiden 
Arten machen zusammen das Ganze der uns empirisch 
g^ebenen Welt aus. 

Nun lehrt es schon die Erfahrung des Lebens, daß 
diese beiden Tatsachengebiete nicht beziehungslos neben- 
einanderstehen, sondern daß sie augenscheinlich auf das 
innigste miteinander verbunden sind. Und zwar ist es 
nach allem, was wir darüber wissen, bekanntlich das Ge- 
hirn, von wo aus die Verbindung am unmittelbarsten vom 
Physischen zum Psychischen hinüberführt. 

Die Erfahrungen, die uns das bezeugen, sind im 
allgemeinen heute ebenso wohlgesichert als jedermann be- 
kannt. Zum Gehirn leiten sämtliche Sinnesorgane auf 
ununterbrochenen Bahnen ihre Erregung, wenn wir von 
den uns umgebenden physischen Dingen eine Wahr- 
nehmung erhalten; vom Gehirn wiederum geht die 
Erregung aus, um sich auf andern Bahnen zu den 
Muskeln fortzupflanzen, wenn wir willkürlich unsere 
Glieder in Bew^img setzen. Zwischen dem Gewichte 
(dasselbe absolut und relativ zum Gesamtkörpergewicht 
genommen) des Gehirnes und der Oberflächenentwicklung 
seiner grauen Rinde einerseits, der Intelligenz und In- 
tensität des geistigen Lebens anderseits, zeigt sich nicht 
nur im Vergleich verschiedener Tierarten untereinander 



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15 I. Teil. Allgemeine Psychologie. 

und mit dem Menschen, sondern auch innerhalb der 
Menschheit unverkennbare Proportionalität. Verletzungen 
und krankhafte Vorgänge im Gehirn gehen in der B^el 
Hand in Hand mit deutlichen Störungen des psychischen 
Lebens, und dieses Zusammengehen ist teilweise so prä- 
gnant, daß es im Verein mit dem physiologischen Experi- 
ment, sowie der anatomischen und entwicklungsgeschicht- 
lichen Untersuchung zur Kenntnis der näheren Zuordnung 
einzelner psychischer Punktionen zu gut abgegrenzten 
Teilen der Großhirnrinde geführt hat. So ist es gelungen, 
die Lokalisation des Sehzentrums im Hinterhauptslappen, 
die des Hörzentrums im Schläfenlappen, die des iEkiech- 
Zentrums in den Riechwindungen, der Hakenwindung und 
dem Ammonshorn, die des Tast- und Bewegungszentrums 
im Scheitellappen festzustellen, und die funktionelle Be- 
ziehung, in der gewisse Teile der Stimwindungen zum 
Sprechen und Verstehen der Worte stehen, aufzudecken. 
Auch sogenannte Assoziationszentren, also Bindenpartien, 
die mit der Verarbeitung des von den Sinnen gebotenen 
Materials betraut wären, hat man mit mehr oder weniger 
Sicherheit angenommen und abgegrenzt, sowie schließlich 
überhaupt eine kaum mehr zu übersehende Fülle von Ein- 
zeldaten über die einschlägigen Prägen aufgesammelt. So 
brauchen wir uns also heute nicht einmal mehr mit dem 
allgemeinen Satze zu begnügen, daß Gehirn und Bewußt- 
sein in inniger Beziehung zueinanderstehen, sondern wir 
vermögen bereits bestimmte psychische Punktionen, wie 
etwa Sehen, Hören, mit dem physischen Punktionieren 
bestimmter Himfceile in Verbindung zu bringen. Daß 
wir über die nähere Natur dieses physischen Punktio- 
nierens des Gehirns und der Nervensubstanz überhaupt 
vorläufig nur die allgemeine Behauptung aufstellen können, 
daß es in einem chemischen Vorgange bestehe, im übrigen 
nur einiges von den Bedingungen der Erregimg, der Port- 
pflanzung und ihrer Geschwindigkeit, den elektrischen 
Begleitvorgängen kennen, das hindert keineswegs daran, 
die Behauptung vom nächsten Zusammenhang zwischen 
Himfunktion und Bewußtseinsleben für eine der best- 
gesicherten unseres Wissens zu erklären. 



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2. KapiteL Über das YerhältiUB zwischen physischen usw. 17 

2. Die Yorgängig möglichen Ansichten über die 
Natur dieses Zusammenhanges. 

Welcher Art ist nun aber dieser Zusammenhang? 
Eine Frage, die nicht nur für die Endergebnisse der 
beiden d^^un zunächst beteiligten Einzelwissenschaften, 
der Physiologie und der Psychologie, sondern für die 
Erkenntnis des Menschenwesens, ja die Gestaltung unseres 
Weltbildes von größter Bedeutung ist. 

Die Frage ist übrigens kaum aufgeworfen und ver- 
standen, so gibt uns jeder Laie auch schon die Antwort 
darauf : kein anderer Zusammenhang ist's, als der von Ur- 
sache und Wirkung. Das gilt ihm geradezu als selbstver- 
ständlich. Wenn das Licht auf das Auge, der Schall auf 
das Ohr eindringt und sich die Beizung des Sinnesorganes 
durch den Nerven auf das Gehirn fortpflanzt, so ruft 
sie dann die Licht-, die Schallempfindung hervor: der 
physische Vorgang im Gehirn ist Ursache der 
(psychischen) Empfindung ; und umgekehrt, wenn 
ich meinen Arm bewege, um etwa jemandem in der Ent- 
fernung ein Zeichen zu geben, so bewegt sich der Arm, 
weil ich es will, genauer, weil ihm vom Gehirn aus 
durch den Nerven dde Erregung zufließt, und diese ent- 
steht, weil ich den Arm bewiagen will: der (psychische) 
Willensakt ist Ursache des physischen Vorganges 
im Gehirn. Also Physisches und Psychisches in „Wech- 
selwirkung". Das ist seit den ältesten Zeiten die Meinung 
fast der ganzen Menschheit, die Lehre philosophischer 
Systeme und weltbeherrschender Religionen, die An- 
schauung des gemeinen Mannes, die sich ihm ganz un- 
willkürlich und von selbst ergibt. Und in der Tat, auch 
die Wissenschaft hätte alle Ursache, sich ihr ohne weiteres 
anzuschließen, wie es ja bereits vielfach, nur nicht 
allgemein und endgültig, geschehen ist. Denn überall, 
wo sie sonst Zusammenhänge der geschilderten Art zu 
beobachten in die Lage kommt, wird sie Verursachung 
anzunehmen sich nicht erst viel besinnen. Hier aber hat 
die Annahme des Kausalverhältnisses mit fortschreitender 
Entwicklung unseres Denkens und der Naturerkenntnis 
so gewichtigen Widerspruch erfahren, daß es nicht mög- 
lich ist, sie ungeprüft zu lassen und von den anderen 

Witasek, Gmndlimen der Psychologrie. 2^ . 

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18 I. Teil. A%eineme Psychologie. 

denkbaren Annahmen über die Natur dieses Zusammen- 
banges abzusehen. 

So wollen wir uns denn die eingangs aufgeworfene 
Frage neuerdings vorlegen und uns zunächst ganz all- 
gemein darüber orientieren, was für Möglichkeiten über- 
haupt offen stehen, unter denen die der Wirklichkeit ent- 
sprechende als Antwort auszuwäMen wäre. 

Von all den vielen Relationen, die es überhaupt ^bt, 
kommen nur solche in Betracht, die eine notwendige 
Verbindung statuieren. Denn daß der Zusammenhang 
zwischen Physischem und Psychischem in der Natur 
der Sache begründet ist, die Gehirnfunktion mit dem 
Bewußtseinsakt nicht zufällig, sondern notwendig 
zusammentrifft, darüber gibt es keinen Streit. 

Da es sich femer um notwendige Verbindung im 
wirklichen Geschehen handelt, so lassen sich leicht alle 
die spezielleren Gestaltungen dieser Relation überblicken, 
die überhaupt in Betracht kommen können. Es sind not- 
wendige Aufeinanderfolge (Sukzession) und notwendige 
Gleichzeitigkeit (Koexistenz) der beiden Glieder, die in 
Verbindung miteinander stehen, also des psychischen und 
des ihm zugeordneten physischen Vorganges. 

Die notwendige Sukzession ist das Kausalverhältnis; 
denn damit können wir uns hier begnügen, zu sagen: 
Wirkung sein heißt, notwendig eintreten, sobald ein 
anderes, die Ursache, vollständig gegeben ist. 

Die notwendige Koexistenz besagt in allgemeiner Form 
nichts anderes, ak daß die beiden Glieder, die sie ver- 
bindet, stets gleichzeitig verwirklicht sein müssen. 

Vergleicht man diese beiden Relationen miteinander, 
so zeigt sich leicht, daß die zu zweit genannte nicht so 
sehr erklärt als selbst noch des Erklärtwerdens bedürftig 
ist. Sie drängt unaufhaltsam zur weiteren Frage: woher 
kommt es, daß Physisches und Psychisches notwendig 
zusammen gegeben sind, wenn sie einander nicht ver- 
ursachen ? Wie ist es zu verstehen ? Wir verlangen nach 
einer Erklärung dieser merkwürdigen Koexistenz, und die 
Frage nach Erklärung ist immer die Frage nach Ursache 
oder Grund. 

Die verschiedenen Theorien nun, die im allgemeinen 
notwendige Koexistenz zwischen Physischem und Psy- 



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2. Kapitel. Über das YerhältDis zwischen physischen usw. 19 

chischem behaupten, haben auch tatsächlich auf dieses 
unabweisbare Erklärungsbedürfnis Bücksicht genommen 
und unterscheiden sich voneinander im Grunde nur da- 
durch, wie sie die Erklärungsfrage beantworten. — Was 
zu diesem Ende an möglichen Gedanken vorgängig zur 
Verfügung steht, ist auch da leicht a priori aufge- 
funden. Die notwendige Koexistenz des Physischen und 
Psychischen ist Folge von etwas, das entweder vor dem 
realen Eintritte des physischen und des ihm zugeordneten 
psychischen Geschehens wirksam war, oder von etwas, 
das erst nachher zur Geltung kommt. 

Betrachten wir zuerst die zweite der beiden Mög- 
lichkeiten. Sie ist näher nur so auszugestalten, daß der 
psychische und der ihm zugeordnete physische Vorgang 
in Wirklichkeit ein und dasselbe ist, und daß er nur, 
indem er von einem Subjekte wahrgenommen wird, je 
nach den Umständen, unter denen sich die Wahrnehmung 
vollzieht, dem Subjekte — gleichsam nachträglich — ent- 
weder als ein Physisches oder als ein Psychisches er- 
scheint. Es ist die These des psychophysischen 
Parallelismus, wie sie z. B. durch G. Th. Fechner 
in der Lehre von den „zwei Seiten" klassischen Aus- 
druck gefunden hat.^) Geradeso wie ein Kreis von innen 
besehen konkav, von außen konvex erscheint, oder unser 
Sonnensystem sich von der Sonne aus als die Kopemi- 
kanische, von der Erde als die Ptolemäische Welt dar- 
stellt, und dabei doch nur ein und dasselbe ist, geradeso 
ist auch das, was uns bald als Physisches, bald als Psy- 
chisches erscheint, in Wirklichkeit nur Eines. 

Die erste der beiden Möglichkeiten hat es nicht nötig, 
auf letzte Identität von Physischem und Psychischem zu- 
rückzukommen ; sie bleiben ihr zwei verschiedene reale 
G^chehensabläufe. Jede der beiden Eeihen verläuft gänz- 
Uch unabhängig von der andern, nur nach einer in ihr 
selbst liegenden Folge von Ursachen und Wirkungen. 
Diese Folge, d. h. die Gesetze, nach denen sie sich voll- 



^) Fechner, Elemente der Psychophysik (1860, 2. Aufl. 1889), 
1. Band, Einleitendes, L — Vgl. hierzu und zum Folgenden auch 
Paulsen, Einleitung in die Philosophie (1892, und mehrere spätere 
Aufl.), 1. Buch, 1. Kapitel. 

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20 I* '^^^l* Allgemeine Psychologie. 

zieht, sind aber von vornherein — etwa im göttlichen 
Schöpfungsakte — so ger^elt, daß immer, wenn ein Vor- 
gang in der einen Eeihe eintritt, in der andern Reihe 
stets auch der bestimmte ihm zugeordnete andere Vorgang 
daran kommt, und zwar nur als Wirkung der dieser 
zweiten Beihe innewohnenden Gesetzmäßigkeit. Das ist 
die These der „prästabilierten Harmonie", die 
G. W. Leibniz ausgebildet^) und durch das bekannte 
ührengleichnis erläutert hat: die beiden Reihen des phy- 
sischen und des psychischen Geschehens laufen ab wie 
zwei Uhren, die von Anfang an so genau reguliert sind, 
daß sie von selbst immer miteinander gehen. 

Die These des Okkasionalismus, nach der das Gleich- 
nis lauten müßte: die beiden Uhren sind nicht von An- 
fang an gleich reguliert, sondern während ihres Ganges 
stellt jemand (Gott) die eine immer nach der andern, 
müssen wir beiseite lassen, weil sie, entgegen dem Sinne 
wissenschaftlicher Forschung, zur Erklärung des Welt- 
geschehens allzu augenscheinlich außerweltliche Kräfte 
verwendet. 

Aber noch eine, und zwar die radikalste Erklärung 
der notwendigen Koexistenz von Physischem und Psy- 
chischem ist — man kann kaum mehr sagen vor- 
gängig möglich, aber doch auch oft und intensiv vertreten 
worden. Sie müßte streng genommen dem Parallelismus 
angereiht werden. Denn auch ihr ist Physisches und 
Psychisches im Grunde Eines; und daß sie für Ver- 
schiedenes gehalten werden, das ist auch ihr die Folge 
von etwas, das nachher einsetzt ; aber nicht die Folge ver- 
schiedener Erscheinungsbedingungen, durch die dann auch 
tatsächlich vom Einen verschiedene Erscheinungen, die 
physische und die psychische, sich ergeben, sondern ein- 
fach: die Folge menschlichen Irrens, menschlicher Ober- 
flächlichkeit. Sie sagt: besieht man sich das Psychische 
nur genauer und unbefangener, so erkennt man wohl, daß 
es nichts anderes ist als Physisches. — 

Damit ist der Überblick über alle die vorgängig 
möglichen Anschauungen vom Verhältnis zwischen Be- 



^) Siehe z. B. Leibniz, Ein neues System über die Natur 
(1695), Philosophische BibHothek, Bd. 81. 

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2. Kapitel. Über das Verhältnis zwischen physischen usw. 21 

wußtsein und G^hlmyorgang erschöpft. Er sei noch ein- 
mal übeorsichtlich rekapituliert: 

Notwendige 

Sukzession Koexistenz 

(Eansalvexhaltnis a) Vorausgehende Zuordnung 

zwischen Physischem (pi^ästabilierte Harmonie) 

und Psychischem) fc) Nachfolgende Zerteüung 

(psyohophysischer Parallelismus) 
c) Identität schlechtweg. 

Von diesen Möglichkeiten muß eine wohl die Wahr- 
heit treffen. Welche, — das wird Kritik und gegenseitiges 
Abwägen zeigen. 

3. Kritik der Kausalitätstheorien. 

Wir beginnen mit der Betrachtung der Kausalitäts- 
theorie, und zwar zunächst der sogenannten Wechsel- 
wirkung zwischen Physischem und Psychischem. 

Der Grundgedanke dieser Theorie läßt sich schema- 
tisch folgendermaßen darstellen. Es sei 7 Symbol eines 
Physischen, tp eines Psychischen, und gleicher Index be- 
zeichne die zugeordneten Glieder von beiden Seiten ; ferner 
bedeute ^> ein Kausalverhältnis mit seiner Eichtung 
von Ursache zu Wirkung. Dann ergibt sich etwa: 



Vt 



Zum Beispiel: die Wolken zerteilen sich (<pi), die 
Sonnenstrahlen fallen auf das weiße Blatt Papier vor 
mir (92) üben, von da in mein Auge reflektiert, auf der 
Netzhaut einen intensiven Eeiz aus (93), dieser pflanzt sich 
ins Gehirn fort und ruft dort einen physiologischen Vor- 
gang (74) hervor, der eine intensive Lichtempfindung y;^ 
(das erste Psychische in der Kausalkette) bewirkt; die Licht- 
empfindung erweckt das unangenehme Gefühl {y;s) der 
Blendung und dieses den Wunsch (tp^) mich davon zu 
befreien, ich erhebe mich (wieder ein physischer Vor- 
gaiig 9e) üiid lasse den Fenstervorhang herunter (97). 

Was wird gegen diese Auffassung, die doch so nahe- 
liegend und natürlich scheint, eingewendet ? Aus welchen 
Gründen wird sie als unzulsüssig bezeichnet? 



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22 I- ^cil* Allgemeine Psychologie. 

Es sollen hier nur die zwei gewichtigsten Gesichts- 
punkte erörtert werden, die man da anzuführen pflegt. 
Das sind die folgenden. 

Erstens, sagt man, sind Psychisches und Physisches 
(Vorstellung oder Wunsch und Nervenerregung) so ganz 
und gar Verschiedenes, daß unmöglich das eine auf das 
andere wirken kann; die Annahme der Schritte 94— Vi 
und tpe — 96 als kausale Übergänge ist widersinnig. 

Wir wollen uns sofort darüber Eechenschaft geben, 
ob dieser Einwand stichhaltig ist. 

Er ist es nicht. Zwar ist es durchaus richtig, dafi 
Physisches und Psychisches total verschieden sind; daß 
aber Verschiedenheit der Glieder mit kausalem Zusammen- 
hange unvereinbar wäre, ist eine willkürliche Behauptung. 

Zunächst ist es gewiß kein logischer Widerspruch, 
Kausalität zwischen Verschiedenem zu denken; denn der 
Kausalitätsgedanke enthält nichts weiter als den Gedanken 
der Notwendigkeit und des Aufeinanderfolgens. Von einer 
Gleichheit oder Ähnlichkeit der Glieder besagt er nichts. 
Beweis dafür, daß er ohne allen Anstoß in Fällen von 
Verschiedenheit ganz allgemein Anwendung findet und 
immer fand. Was denkt man denn an Ähnlicli&eit zwischen 
Magnet ^nd Anziehung (Bewegung), und wer hat auch in 
den Zeiten vor der mechanischen Wärmetheorie Anstand 
genommen, in Wärmeauf uhr die Ursache der Volumzunahme 
zu erblicken? Könnte man nicht eher noch behaupten, 
der Kausalitätsgedanke enthalte geradezu den der Ver- 
schiedenheit in sich? Denn er betrifft stets zwei Vor- 
gänge oder Dinge, und zwei sein heißt Verschiedeneß 
sein, weil, was an allen Punkten einander gleicht, ein und 
dasselbe ist; wer wollte aber sich vermessen, die zulässige 
Größe dieser Verschiedenheit aus dem Begriffe zu be- 
stimmen ? 

Mit dem Begriff der Kausalität also steht es nicht 
im Widerstreit, wenn Ursache und Wirkung verschieden 
sind; vielleicht mit der Sache? Das müßte heißen, wo 
immer wir in der Natur Kausalität verwirklicht findoi, 
da zeigt sich schließlich unserer Eorschung, wenn sie 
den äußeren Schein zerstört hat : Gleichartigkeit von Ur- 
sache und Wirkung. Die Wärme hat sich als eine Form 



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2. KapiteL Über das YeiiiältDis zwischen physischen nsw. 2S 

dar Bewegung entpuppt, Volumzunahme eines Körpers 
ist Folge des Wachsens seiner molekularen Bewegung 
— es wirkt also Bewegung auf Bewegung, wenn sich 
ein Körper bei Wärmezufuhr ausdehnt. Und so geht es 
mit allen kausalen Verbindungen, die die Naturwissen- 
schaft festzustellen in die Lage kommt, sofern sie nur 
genügend weit in deren theoretischer Erfassung vorge- 
drungen ist. Wenn sie es auch heute noch nicht dahon 
gebracht hat, sämtliche Naturerscheinungen auf Be- 
wegungSYorgänge zurückzuführen, so hat sie doch auf 
Orund des bish^ Geleisteten allen Anspruch darauf, dies 
als ihr Zid zu proklamieren, und überall dort, wo sie 
Verursachung vorfindet, schon gleich von vornherein eine 
Beziehung zwischen Bewegungen dahinter anzunehmen, 
die nur des näheren aufzudecken späterer Forschung vor- 
behalten ist. 

Man wird dieser Forderung der Naturwissenschaft 
ihre volle Berechtigung zuerkennen können, und gleich- 
wohl V^bindlichkeit fö^ unseren Fall nicht zuzusprechen 
brauchen. Denn selbst wenn sie damit recht behält, daß 
alles Kausieren in letzter Linie nur Bewegungsabfolgen 
trifft, so kann sie dies von ihrem Standpunkte doch nur für 
das physische (materielle) Geschehen behaupten. Wo aber 
die Naturereignisse über dieses Gebiet hinausgieifen, wie 
im Zusammenhang von Physischem mit Psychisohem, da 
bringt sie höchstens Wahrscheinlichkeitsgeltung dafür auf, 
und die muß selbstverständlich von anderswoher kommen- 
den GewiJSheitsgegengründen weichen. Sollten sich also 
bestimmte — wenn auch nur indirekte — Beweise für 
die Wechselwirkungsiheorie ergeben, so kann es nichts ver- 
schlagen, daß sich das Psychische auch eindringendster 
Analyse niemals — wie etwa Wärme — als ein Bewegungs- 
vorgang enthüllen wird. Wir stünden dann nur eben vor der 
Tatsache, daß sich ein Fall von Kausalität ergeben hat, 
der nicht Bewegungsabfolgen betrifft. Vor gängig stünde 
solcher Konstatierung nichts im Wege, nicht im Begriff 
und nicht in der Erfahrung vom Kausalverhältnis. Ja 
nicht einmal das ließe sich behaupten, daß durch Zurück* 
führung auf Bewegungsvorgänge das Aufeinanderwirken 
b^eüUcher würde; nur größere Einheitlichkeit der 
Naturauffassung würde dadurch ermöglicht, nicht die 



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24 !• Teil. Allgemeine Psychologie. 

Erkenntnis des notwendigen Geschehens in Einsicht Ton 
der Notwendigkeit verwandelt. Vollständige Einheitlidi- 
keit der Auffassung kann aber dort nicht mehr verlangt 
werden, wo totale Verschiedenheit der Tatsachen schon 
zugestanden ist. 

Die Verschiedenartigkeit von Physischem und Psy- 
chischem ist also kein stichhaltiger Grund, die Annahme 
der Wechselwirkung zu verwerfen. — 

Die zweite Schwierigkeit, die man der Wechsel- 
wirkungstheorie entgegenzuhalten pflegt, ist noch viel aus- 
schließlicher naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise 
entnommen. Sie beruft sich auf das Gesetz von der Er- 
haltung der Energie und sagt, dafi die Annahme einer 
Wechselwirkung zwischen Physischem und Psychischem 
mit diesem G^etze nicht vereinbar sei. 

Der Inhalt dieses Gesetzes ist bekanntlich folgender. 
Innerhalb eines in sich und nach außen abgeschlossenen 
physischen Systemes ist trotz aller in ihm sich abspielender 
Veränderungen die Summe der vorhandenen Energie eine 
konstaute Größe; für jede Energiemenge, die innerhalb 
dieses Systemes zur Hervorrufung irgend einer Wirkung 
aufgebraucht wird, tritt anderwärts in dem System eine 
gleich große (genauer äquivalente) Menge derselben oder 
•einer andern Energieform als Ersatz auf. Die Summe der 
kinetischen und potentiellen Energie eines in die Höhe 
geschleuderten und wieder herabfallenden Steines ist die- 
selbe in jedem Augenblicke während der ganzen Bewegung ; 
nur die Verteilung der Gesamtsumme auf die beiden Ener- 
gieformen verändert sich stetig: während des Aufsteigens 
nimmt die kinetische Energie von Punkt zu Punkt ab, 
während die potentielle im gleichen Maße wächst, und um- 
gekehrt während des Herabfallens. Wenn der Stein auf den 
Erdboden aufschlägt und der ganze Bewegungsvorgang 
•damit izur Ruhe kommt, scheint Energie zu verschwinden ; 
•es scheint aber nur so, in Wahrheit hat sich die Energie 
•der Bewegung in Energie der Wärme verwandelt. Durch 
chemische Prozesse kann Wärme erzeugt werden; aber 
•das gleiche Wärmequantum verschwindet, wenn sich der 
entgegengesetzte chemische Prozeß abspielt. So sehr also 
auch innerhalb eines Systemes die Energieformen wechseln 
mögen, die Gesamtsumme der in ihm vorhandenen Energie, 



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2. Eitpitel. Über das YerhSItnis zwischen «phyBischen usw. 25 

ausgedrückt etwa in der Summe der Äquivalente mecha- 
nischer oder thermischer usw. Energie, bleibt konstant. 

Die physiologischen (physischen) Vorgänge im G^e- 
him und im übrigen Nervensystem unterliegen nun jeden- 
falls auch diesem Gesetze. Sie bestehen im allgemeinen 
höchstwahrscheinlich in chemischen Veränderungen, bei 
denen sich die aus der Nahrung stammende potentielle 
Energie des Systems, natürlich nach bestimmten, kon- 
stanten Äquivalenzen, in der verschiedensten Weise 
umsetzt. 

Wird das Sinnesorgan von außen gereizt und pflanzt 
sich dieser Beizungsvorgang durch die peripherischen 
Nerven ins Gtehim bis dahin fort, wo es zur Aus- 
lösung der Empfindung kommt, so ist der ganze Pro- 
zeß soweit nichts anderes als Transformation, Weiter- 
leitung und Übergang der Energie von einem Stadium 
<les Prozesses auf das nächste; folgt nun aber auf das 
Stadium dieses physiologischen (physischen) Vorganges 
endlich die Empfindung, das erste Psychische — so findet 
^e bis dahin gebrachte Energiemenge gleichsam keine 
Aufnahme, kein ünterkonunen mehr, denn ein psychisches 
Oebilde, wie es die Empfindung ist, kann unmöglich 
Träger einer der uns bekannten Energieformen, etwa 
mechanischer, thermischer, chemischer, elektrischer Energie 
sein. Die Energiemenge müßte also verloren gehen. — 
Und umgekehrt: wenn infolge eines Willensaktes der Arm 
eine Bewegung ausführt und etwa dabei noch einen Körper 
hebt, so wächst die Energie der Lage dieses Körpers. Der 
Zuwachs stammt aus der Energie, der Kraft, des Muskels, 
die eben dadurch für kurze Zeit sinkt (ermüdet). Die 
Anregung zur Bewegung erhielt der Muskel durch den 
motorischen Nerven, der vom Gehirn aus einen Beiz- 
vorgang auf ihn hin überträgt. Und dieser Beizvorgang, 
der im Gehirn entsteht und sich im Nerven fortpflanzt, 
ist wiederum nichts anderes, als Transformation, Leitung 
und Übergang von Enei^e. Den Anfang aber soll die 
ganze Kausalkette im Willensakte nehmen, der Willens- 
akt soll den Gehimvorgang hervorrufen, von ihm sollte 
also die physische Energie herstammen, die sich im 
Nerven traiisf ormiert und weiterleitet. Der Willensakt kann 
aber ebensowenig Träger einer der uns bekannten phy- 



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26 I* Teil. Allgemeine Psychologie. 

sischen Energieformen sein, wie die Empfindung. Es kann 
demnach die Energie im Hirn, mit der der ganze physische 
Prozeß den Ausgang nimmt, nicht yom Willensakte stam- 
men, und da sie doch vorher noch nicht vorhanden war 
so müßte sie mit dem WiUensakt entstanden sein, ohne 
daß anderwärts im Physischen ein Äquivalent dafür ver- 
schwunden wäre: ein strikter Widerspruch zum Energie- 



So lautet also dieser zweite Einwand. Auch er ist 
aber unseres Erachtens nicht stringent genug, um die 
Annahme der Wechselwirkung unmöglich zu machen. Ja 
im Gegenteil, es ist beinahe schwierig, ihn deutlich klar- 
zul^en, ohne schon dabei seine Schwächen merken zu 
lassen, und die Verlegenheit bei seiner Widerlegung be- 
steht höchstens darin, daß man nicht sagen kann, welche 
von den ganz verschiedenen vorgängigen Möglichkeiten 
auch tatsächlich verwirklicht ist. 

An solchen Möglichkeiten sind nämlich folgende in 
Betracht zu ziehen. 

Die erste ist die radikalste. Sie beruft sich darauf, 
daß das Energiegesetz, soweit es — auch nach der An- 
sicht naturwissenschaftlicher Autoritäten — als empirisch 
nachgewiesen gelten kann, nur darüber etwas aussagt^ 
wie sich Veränderungen, die in einem nach außen ab- 
geschlossenen physischen System zustande kommen,, 
in betreff des ihm eigenen Energievorrates verhalten ; wo- 
bei unter einem solchen System zu verstehen ist, daß e& 
Wirkungen weder von außen erleidet noch nach auß^Q 
abgibt. Nur von solchen Systemen handelt es und nur 
für sie ist es tatsächlich erwiesen. Ob es nun auch für 
das physische Geschehen im Zentralnervensystem Geltmig 
beanspruchen darf, das richtet sich zunächst also danach,, 
ob dieses auch nach außen abgeschlossen ist, mit andern 
Worten, ob es von außen, vom Psychischen, Einwirkungen 
erleidet oder nicht. Die durchgängige Anwendbarkeit (}es 
Energiegesetzes auf die Hirnfunktionen hängt demnach 
selber von der Präge nach der Wechselwirkung ab, niobt 
umgekehrt. Die Naturwissenschaft hat freilich die Neigung^ 
dem Energieprinzip durch spekulative Verall gemeine- 
rung den Sinn zu geben, daß die Gesamtsumme der im 
physischen Naturganzen vorhandenen Energiemenge einte 



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2. Kapitel. Über das Yerhältnis swiichen physischen usw. 27 

konstante Größe sei. Wenn sie dieser Neigung folgt, dann 
verschließt sie sich allerdings schon von vornherein der 
Möglichkeit einer Wechselwirkung zwischen Physischem 
und Psychischem ; denn dann muß sie das physische Natur- 
ganze als ein in sich geschlossenes System betrachten. 
Ob es das in Wirklichkeit aber auch ist, dafür hat sie 
keinen Beweis, sondern nur die willkürliche Behauptung, 
daß es so ist — eine Behauptung, die ja selbst gar nichts 
anderes besagt als die Ablehnung der Wechselwirkung, 
welche Ablehnung aber erst als berechtigt erwiesen werden 
müßte, dagegen keineswegs aus dem Energiegesetze abzu- 
leiten wäre. 

Wir brauchen aber der Naturwissenschaft jene spe- 
kulative Verallgemeinerung nicht zu verwehren. Wir 
würd^i uns gegenwärtig um so schwerer dazu entschließen, 
als es sich dabei heute schon nicht mehr in dem Maße nur 
um 8pdb:ulative Verallgemeinerung handelt, wie dies noch 
vor nicht allzu langer Zeit der Fall war. Man hat es 
nämlich untemomm^i, das Energiegesetz auf seine Gültig- 
keit für das physische Geschehen im lebenden beseelten 
Organismus (Tier, Mensch) direkt experimentell nachzu- 
prüf^i, und die Messungen haben ergeben, daß innerhalb 
^atsprechend langer, sonst aber beliebiger Zeiten die 
vom Organismus abgegebenen Energiemengen den in der 
Nahrung usw. aufgenommenen — die unvermeidlichen 
Messungsungenauigkeiten sehr gering angesetzt — gleich 
kommen.^) Der Zusammenhang mit dem Psychischen hat, 
wie es danach ausgemacht zu sein scheint, tatsächlich 
weder vermehrenden noch vermindernden Einfluß auf die 
verhandele Menge physischer Energie. Polgen wir also 
der Naturwissenschaft als kompetenter Führerin ohne Vor- 
behalt in unserer Auffassung von der physischen Natur. 
Auch dann noch scheint die Theorie der Wechselwirkung 
nicht unmöglich, sondern mit dem En^giegesetze ganz 
wohl vereinbar zu sein. Mehrere Gedanken sind's, die 
sich da zur Verfügung stellen. 

■ " t p ■ 

^) Die einschlägigen Arbeiten sind besprochen und in den Zu- 
sammenhang des Torhegenden Problems eingefügt von Erich Becher, 
Das Gesetz yon der iE^haltung der Energie und die Annahme einer 
Wechselwirkung zwischen Leib und Seele. (Zeitschrift für Psychologie, 
Bd. 46, 1907). 



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28 I- "^eil* Allgemeine Psychologie. 

Zunächst die Annahme: das Psychische ist eben 
auch eine Energiefonn neben den bereits bekannten phy- 
sischen, etwa der thermischen oder mechanischen. Auch 
sie setzt sich nach ganz konstanten Aquiralenzverhältnissen 
in diese um, und umgekehrt Und wenn Konstanz der 
Energiesumme des Weltalls yerlangt wird, so wäre eben 
nicht nur auf die physischen Energiemengen für sich, 
sondern auf diese zusammen mit der jeweils yorhandenen 
psychischen Bücksicht zu nehmen. — Mit dem Gesetze 
yertrüge sich eine solche Auffassung ohne Härten. Denn 
dort ist nur yon Eneigieäquiyalenzen, also nur yon quan- 
titatiyen Verhältnissen die Bede, nicht yon qualitatiyen, 
der Art der Energieformen und ihrer Umwandlungen. 
Was oben yon der experimentell betätigten Eonstanz der 
Energie im physischen Leben des Organismus berichtet 
worden ist, ließe sich gleichfalls, wenn auch schon 
nicht mehr ganz so einfach, mit ihr in Einklang bringen. 
Und auch was sonst etwa an Einwänden gegen sie erh(H>en 
wurde, trifft sie nicht unbedingt, ja ist zum Teil selbst 
wieder nichts als yorgängige yersteckte Abneigung gegen 
die Annahme der Wechselwirkung.^) Zu unserer psycdio- 
logischen Empirie paßt sie gleichfalls recht gut; nichts 
hindert, die „Seele" als eine Anhäufung yon Energien 
zu betrachten, die einen bestimmten, im Prinzip zahlen- 
mäßig feststellbaren Arbeitswert repräsentieren, wenn man 
nur auch in Anschlag bringt, daß das Ausmaß der Energie- 
transformationen yon den auslösenden Momenten mit be- 
dingt ist>) ; ja yielfach hat man sich bereits dazu gedrängt 
gesehen, das psychische Geschehen selbst unter dem Ge- 
sichtspunkt yon Energie und Arbeit zu betrachten.») So 
könnte sich diese Annahme recht gut dem Energieprinzipe 
anfügen lassen. Freilich müßte dann doch auch noch 
für ihre empirische Unterlage im speziellen gesorgt werden ; 
solange ihr diese mangelt, zeigt sie zu sehr den unsicheren 
Charakter bloß ausgedachter Hilfshypothesen. 



Vgl. z. B. Ebbinghaus, Psychologie, I^, S. 88; P, S. 38. 

<) Zur Erinneraiig gegen BnsseV Emwand (Geist und Körper, 
Seele nnd Leib, Leipzig, 1908, S. 424). 

*) Vgl. Höfler, PsychiBche Arbeit (Zeitschrift für Psychologie 
Vm, 1894). 



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2. Kapitel« Über das Verhältnis zwischen physischen usw. 29 

Schließlich ist es noch eine wohlbegründete Erfahrung 
der Naturwissenschaft, die uns in die Lage versetzt, das 
Energiegesetz mit der Annahme der Wechselwirkung in 
Einklang zu bringen. Sie betrifft gewisse Vorgänge im 
physischen Geschehen, die zweifellos Kausalvorgänge sind, 
dabei aber doch nicht Energietransport. Die Begel aller- 
dings ist ja das nicht. Wenn eine in Bewegung befind- 
liche elastische Kugel auf eine ruhende stößt, so teilt 
sie dieser ihre Bewegung mit, die kinetische Energie geht 
durch Vermittlung der Elastizität von der ersten auf die 
zweite über; und wenn auch nicht so einfach, so läßt 
sich doch zumeist das physische Bewirken in irgend einem 
Sinne als Übergang der Energie von Ursache auf Wirkung 
darstellen. Doch gibt's auch Eälle, für die das nicht 
zutrifft. Man denke sich ein Gewicht an einem Eaden 
aufgehängt; es hat so potentielle Energie der Lage. Der 
Faden würde nun mittels einer Schere durchschnitten. 
Dadurch beginnt dann das Grewicht zu fallen ; das Durch- 
schneiden des Fadens ist die Ursache, die Bewegung des 
Gewichts die Wirkung. Ein Energietransport von der 
Ursache auf die Wirkung ist jedoch nicht damit verbunden ; 
die ganze kinetische Energie, die das Gewicht im Fallen 
hat, ist auch schon früher, solange es noch in Buhe war, 
in Form von potentieller Energie in ihm gesteckt; nur 
eine Umwandlung, nicht ein Übergang von Energie hat 
sich ereignet. Und ebenso geht es auch in andern 
Fällen von sogenannter „Auslösung" latenter Energien. 
Sie zeigen sämtlich, daß Physisches zu bewirken mög- 
lich is^ ohne daß der Vorgang, in dem die Wirkung 
besteht (die Bewegung), mehr Energie enthält, als der 
frühere (der Buhezustand), an dessen Stelle er getreten 
ist. — Freilich muß unbedenklich zugegeben werden, daß 
ja die Auslösung selbst schon einen Energieaufwand be- 
deutet. Die Kraft des Schnittes mit der Schere ist not- 
wendig, die Kohäsion der Teilchen des Fadens zu über- 
winden ; und Ähnliches wird wohl von jedem Auslösungs- 
vorgang gelten. So müßte also doch der psychische Wil- 
lensakt Energie ins physische System einführen, um eine 
Bewegung auszulösen, und die alte Schwierigkeit wäre 
wieder da; denn daß zur Auslösung vielleicht nur ein 
verschwindend kleines Quantum erforderlich ist, verschlägt 

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30 !• Teil. Allgemeine Psychologie. 

ja iüi Prinzip nicht das geringste.^) — Aber die Berufung 
auf den Vorgang der Auslösung zugunsten der Wechsel- 
wirkungslehre ist hier gar nicht in dem Sinne gemeint, 
daß das Psychische etwa eine solche physische Auslösung 
bewirken sollte; sie sollte vielmehr nur daran erinnern, 
daß es im Bereich des Physischen eine Veränderung, ein 
Geschehen gibt, das nicht in Zufuhr oder in Verlust, 
sondern nur in Umwandlang der schon vorhandenen 
Energie besteht. Daß solche Umwandlung innerhalb 
des Bereiches physischen Geschehens nur durch, wenn 
auch geringfügigen, Aufwand von Energie zur Auslösung 
gelangen kann, verschlägt für unsere Interessen nichts. 
Denn es besteht kein Hindernis, anzunehmen, daß dies 
für den Zusammenhang von Physischem mit Psychischem 
nicht gilt, und daß gerade darin das Besondere des Falles 
liegt, das man ihm ja doch wohl wird zuerkennen müssen. 
Die Sache verhielte sich dann etwa so, daß das rein 
physische Geschehen im Gehirn schließlich zu Energien 
führte, die so beschaffen sind, daß sie zu ihrer Umwand- 
lung nichts anderes, speziell keines weiteren physischen 
Eingriffes mehr bedürften, als des Zustandekommens 
eines gewissen psychischen Aktes, z. B. einer WoUung;^ 
und für den Gegenfall, in dem das Psychische, etwa 
Empfindung, durch den Gehirnvorgang kausiert sein soll: 
daß sich das physische Geschehen genau nach dem Ge- 
setz der Energiekonstanz vollzieht und schließlich in einen 
Zustand des Systems einmündet, mit dessen Eintritt die 
Ursache der Empfindung vollständig wird. Nichts ist 
daran, was denkunmöglich wäre, und nichts, was dem 
Energiegesetze oder sonst einem Lehrsatz der Naturer- 
kenntnis widerspräche. Das einzige, woran man höchstens 
bei dieser Auffassung Anstoß nehmen könnte, wäre, daß 
sie Umwandlung von physischen Energien ohne physische 
Ursache annimmt, und diese durch eine rein psychische 
ersetzt; dann gründet man jedoch den Einwand nicht 
auf die Autorität des Energieprinzips, sondern man lehnt 
die Annahme der Wechselwirkung direkt — und ohne 

*) Aus diesem Grunde lehnt z. B. Busse a. a. 0., S. 438 ff. den 
Hinweis auf die Tatsachen der Auslösung ab; vgl. dagegen das 
folgende. 



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2. Kapitel. Über das Verhältnis zwischen physisohen usw. 31 

Angabe von Gründen — ab. Denn jene psychische Ver- 
ursachung physischer Energieumwandlung ist ja fast ganz 
gleichbedeutend mit dem Grundgedanken der Wechsel- 
wirkungslehre überhaupt. 

Vielleicht ist es übrigens sogar möglich, an Tatsachen* 
der Naturwissenschaft zu erinnern, die zeigen, daß selbst 
innerhalb des Gebietes rein physischen Geschehens Ver- 
änderungen verursacht werden können ohne Energieauf- 
wand. Wenigstens haben die sogenannten katalytischen 
Wirkungen der Chemie bis heute noch keine eindeutige 
Theorie in solchem Sinne erhalten, daß sie an dieser 
Stelle nicht herangezogen werden könnten. Wenn sich 
z. B. Wasserstoffsuperoxyd bei Berührung mit Platin in 
Wasser und Sauerstoff zersetzt, ohne daß das Platin dabei 
die geringste Veränderung aufweist, so ist das Platin 
wohl Mitursache der Zersetzung, es hat aber Energie 
weder abgegeben noch aufgenommen. Und die heutige 
Chemie hkt keine befriedigende Hypothese, mit der sie 
diesem Augenscheinbefund den Energietransport einfügte. 
Sollte sie aoer doch einmal dazu gelangen, nun dann hätte 
das in Anbetracht all des zuvor Gebrachten gegen die 
Wechselwirkungslehre auch keine ausschlaggebende Be- 
deutung. — 

So können wir schließlich mit aller wünschenswerten 
Klarheit und Bestimmtheit sagen: auch das Gesetz von 
der Erhaltung der Energie steht einer Wechselwirkung 
zwischen Physischem und Psychischem nicht entgegen; 
es läßt sich auf verschiedenen Wegen mit ihr in Ein- 
klang bringen, und nur in der Entscheidung für diesen 
oder jenen mag eine Schwierigkeit zu finden sein. — 

Trotzdem begegnet diese Lehre heute besonders bei 
den Vertretern der Naturwissenschaft fast allgemeiner und 
gleichsam instinktiver Abneigung. Und sucht man nach 
der Wurzel dieser Abneigung, so muß man sagen, daß sie 
in gesundem Boden steckt; nur ist es fraglich, ob, was 
sie treibt, kräftig genug ist für das, was man von ihr 
verlangt 

Die glänzende Entwicklung, die die Naturforschung 
vor unsem Augen nimmt, datiert von jenem Momente 
her, da sie £^t gemacht hat mit der Forderung, 
alles Geschehen in der materiellen Natur aus in ihr selbst 

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32 I. Teil. Allgemeine Psychologie. 

gelegenen Ursachen zu erklären; und ihre höchsten 
Triumphe vielleicht hat sie bis heute dort gefeiert, wo 
€6 ihr gelungen ist, das physikalische Geschehen auf ein- 
fache Mechanik zurückzuführen, die Tatsachen des Schalls, 
'des Lichts, der Wärme, der Elektrizität als Bewegungs- 
Yorgänge darzustellen und durch sie zu erklären. Es ist 
ein durchaus gutzuheißendes Verlangen, daß sie auf diesem 
Wege, der sich bis heute als Weg des sicheren Erfolgs 
erwiesen hat, auch fortzuschreiten strebt. Nun liegt aber 
das Leben der Organismen und schließlich die Physiologie 
des Zentralnerrensystems gleichfalls in ihrer Forschungs- 
sphäre. So dehnt sie auch auf diese, und zwar vorerst mit 
vollem Becht, die Forderung mechanischer Erklärbarkeit, 
restloser Zurückführung airf physikalisch-chemische Ge- 
setze und damit auf Bew^ungsvorgänge aus. Und wenn 
auch heute der mechanistischen Weltauffassung in der 
Energetik eine Gegnerschaft erstanden ist, so ändert dies 
nichts Wesentliches an der Sache. Soll aber nun die 
Wechselwirkungslehre gelten, so kommt damit ein völlig 
fremder Faktor als Ursache und Wirkimg hinein in das 
rein physische Geschehen im Gehirn, der niemals mecha- 
nisch zu erfassen und niemals auf Bewegung zurückzu- 
führen ist; das Leben des Gehirns ist dann nur teilweise 
nach den Gresetzen der übrigen materiellen Natur ver- 
ständlich, mit der Anerkennung der Wechselwirkung be- 
gibt sich die Physiologie des Anspruchs, auch die Funk- 
tionen des Zentralnervensystems nach der ihr eigenen, 
sonst so bewährten Methode zu bearbeiten und zu er- 
klären. So sind es völlig triftige Gründe, aus denen sich 
die Wechselwirkungslehre der heutigen Naturforschung 
nicht sonderlich empfiehlt, und man hat alle Ur- 
sache, sich nach etwelchen anderen Auffassungen um- 
zusehen, die den Tatsachen gleich gut entsprechen und 
den Naturwissenschaften ein Opfer in ihren methodischen 
Prinzipien nicht auferlegen. — 

Da bietet sich noch innerhalb der Kausalitätstheorien 
eine Auffassung dar, die einen Augenblick Beachtung 
finden möge. Ersetzen wir die Wechselwirkung durch 
einseitige Verursachung, das Schema von Seite 21 etwa 
durch folgendes: 



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2. iCapiteL Über das Veiliältius zwischeti physischen ubw. 33 



K X X H H 

<Pl >- 9?« >* <Pt ^- fPl >- <P5 >" 9?6. 

Dann haben wir im physischen Vorgange eine durch- 
aus in sich geschlossene kausale Beihe, ein durchaus 
materiell bedingtes Geschehen, wie es der Physiologe heute 
wünscht; ein jeder der im Nervensystem aufeinander 
folgenden Zustände und Vorgänge hat seine volle Ursache 
ganz im Physischen, das Psychische übt darauf keine Wir- 
kung aus. Das Psychische selbst vielmehr ist stets, und zwar 
in allen seinen Formen, nichts anderes, als wieder Wirkung 
der Gehirnfunktion. Für die Empfindung besagt dies nicht 
viel anderes, als was auch schon die Wechselwirkungs- 
lehre annimmt. Dagegen für den Willen kehrt es die 
Sache um. Nicht der Willensakt ist Ursache der moto- 
rischen Innervation, sondern er selbst ist Wirkung, gleich- 
sam die psychische Erscheinung eines physischen Vor- 
ganges im Gehirn, der anderseits auch wieder selber Ur- 
sache der Bewegung ist, während der psychische Willens- 
akt als solcher ganz wirkungslos verläuft. 95 ist Wirkung 
von 94 und hat zur Wirkung einerseits die physische Be- 
wegung <p6> anderseits den psychischen Willensakt ^5. Das 
materielle Geschehen im Gehirn verläuft ausschließlich 
nach materiellen Ursachen, und jene dem Physiologen so 
fatale Lücke, die nach der Wechselwirkungslehre sich 
zwischen Sinnestätigkeit und physischem Bewegungsreiz 
einschiebt, ist ganz vom materiellen Vorgang ausgefüllt. 
Freilich^ von einer psychischen Kausalität ist hier in 
keiner Weise mehr die Eede; das Psychische wird zu 
einer Wirklichkeit minderer Güte herabgedrückt, weil 
es nicht wirken kann, zu einer völlig überflüssigen Neben- 
oder Begleiterscheinung, einem Luxusdinge, das ebenso- 
gut auch wegbleiben könnte, ohne daß sich der Weltenlauf 
auch nur im allergeringsten änderte. Aber so paradox 
sich das ausnimmt, in anderer Beziehung scheint diese 
Annahme so Befriedigendes zu versprechen, daß, wenn 
sie hält, was sie verspricht, sie immerhin in Betracht 
gezogen werden muß. 

Witasek. Onrndlinien der Psychologie. ^.^.^.^^^ b^GoOglc 



34 !• ^eiL Allgemeine Psychologie. 

Nun hält sie's aber nicht ganz ohne weiteres; denn 
sie bedarf zu ihrer Haltbarkeit doch einiges an Hilfe- 
hypothesen. Und sonderbar — gerade jene Hilfshypo- 
these, die ihr, der hoffnungsvollsten Lieblingsidee des 
Materialismus, mit den einfachsten Mitteln zur Haltbar- 
keit verhülfe, verkehrt sie in ihr gefürchtetes Widerspiel, 
in Spiritualismus, Dualismus; denn dieses Mittel wäre 
die Annahme einer substantiellen Seele. 

Das feigen folgende Erwägungen. Soll ein 95 zweierlei 
Wirkung haben, 9« undv's, so ist das doch nur so denkbar, 
daß das 95 (kurz, wenn auch etwas ungenau gesagt) auf 
zweierlei Verschiedenes wirkt. Davon könnte eines, näm- 
lich das, worauf es wirkt, um ein (pe zu erzeugen, lein 
anderes Physisches sein, z. B. benachbarte Partien im 
Gehirn. Doch das, worauf es wirkt, um ein \ps, ein Psy- 
chisches, hervorzurufen, das dürfte selbst nicht wiederum 
ein Physisches sein; denn dann müßte 95 auch dazu 
Energie aufwenden, und die Grundabsicht dieser Theorie 
geht ja gerade darauf aus, daß zur Erzeugung des Psy- 
chischen nicht Energie verbraucht werden soll. Es 
müßte also auf ein Psychisches wirken; denn daß ein 
Wirken von Physischem auf Psychisches ohne Enei^e- 
verbrauch immerhin denkbar ist, das haben wir schon 
oben klar gemacht. Weil nun als solches Psychisches, 
auf das 9« noch wirken sollte, die empirischen psychischen 
Tatsachen, etwa Gedanken und Gefühle, natürlich nicht 
wieder in Betracht kommen können — man denke übrigens 
auch an die Ursachen der Empfindung — , so gibt es dafür 
nur die Annahme eines erfahrungsfremden beharrenden 
Psychischen, eines Seelenwesens. — Will man aber, um 
dieser Konsequenz auszuweichen, das 95 zur Hervor- 
rufung auch (lor, T^5 auf ein anderes Physisches wirken 
lassen, dann muß man, um die dazu unbedingt erforder- 
liche Energiemenge nicht endgültig zu verlieren, sondern 
dem übrigen Gehimleben wieder zuzuleiten, so kompli- 
zierte Hilfsannahmen konstruieren, daß diese ganze These, 
die sich sonst gern besonderer Einfachheit, Exaktheit und 
Erfahrungstreue rühmt, geradezu den Charakter der 
vagsten Spekulation erhält. 



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2. Kapitel« Übe^ das VerhaltiÜB zwitcheu physischen usw. 35- 

4. Kritik der Koexistenztheorien. 

Wir wollen nun auch die verschiedenen Koexi- 
stenztheorien des näheren betrachten, um zu sehen, 
ob nicht vielleicht unter ihnen eine ist, die eine befriedi- 
gendere Formel für das Verhältnis von Physischem zu 
Psychischem ergibt. 

Mit jener einfachsten und gröbsten Auffassung, die, 
weil sie geradezu strenge Identität behauptet, gar nicht 
mehr recht den Koexistenztheorien zuzuzählen ist, werden 
wir rasch fertig sein ; es braucht ja doch nur einiges Be- 
sinnen, um ihre Unmöglichkeit einzusehen. Denn sie ver- 
langt: das Psychische, z. B. eine Vorstellung oder ein 
Gefühl, sei nichts anderes als der ihm entsprechende phy- 
sische Vorgang im Gehirn, die Vorstellung, das Gefühl 
seien dasselbe wie der Gehirnvorgang, seien mit ihm iden- 
tisch, im wörtlichsten Sinne des Wortes. Es ist schwer, 
dagegen noch irgend etwas Indirektes vorzubringen, das 
deutlicher als der direkte Augenschein die UnhaUbarkeit 
dieser Ansicht bezeugt und leichter die gänzliche Ver- 
schiedenheit von Vorstellung und Gehimvorgang er- 
kennen ließe. Doch sefs für solche, denen etwelche Vor- 
urteile den Augenschein verwischen, trotzdem versucht. 
Da möge man z. B. folgendes bedenken. Nicht das Ge- 
hirn selber, sondern der Gehimvorgang soll wohl nach 
dieser Auffassung identisch sein mit dem Gedanken, dem 
Gefühl. Daß wir unserer Gedanken und Gefühle inne 
werden, daß wir sie wahrnehmen, unterliegt wohl keinem 
Zweifel. Also nehmen wir nach dieser Auffassung die 
Gehimvorgänge wahr. Solche Funktion eines Organes zu 
sehen — an Funktion im mathematischen Sinne ist ja, 
wenn möglich, noch weniger zu denken — schließt offen- 
bar ein, daß das Organ selbst gesehen werde; man kann 
die Muskelkontraktion, nicht sehen ohne den Aluskel. Also 
müßte man, wenn man eines Gefühles inne wird, oder 
an ein Gefühl denkt, unweigerlich wenigstens ein Par- 
tikelchen Gehirn wahrnehmen oder vorstellen. Davon ist 
aber nicht im entferntesten die Spur. Wir wissen ja doch 
im großen Ganzen, wie unsere Gefühle, Vorstellungen 
usw. aussehen, wir vermögen sie sehr gut miteinander 
zu vergleichen und voneinander zu unterscheiden. Wir 

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S6 L TeiL AUgemeine Psychologie. 

finden aber nichts daran, was auch nur entfernt so aus- 
sieht wie eine bestimmte Bäumlichkeit in der Schädel- 
kapsel, oder wie Bewegung der Atome in den Him- 
molekeln. Hunderte von Menschengenerationen sind dahin- 
gegangen, die ihre Gedanken und Gefühle gleichfalls 
kannten, doch niemals daran dachten, daß diese im Ge- 
hirne säßen. Und darauf kann man sich hier nicht be- 
rufen, daß wir*s ja auch der Wärme so lange nicht an- 
gesehen hätten, daß sie Bewegung sei : die Wärme er- 
scheint uns mittelbar durch unsere Vorstellung, da kann's 
wohl sein, daß die Erscheinung (die Vorstellung) anders 
ist als das Erscheinende (die Wärme) und also täuscht. 
Die Vorstellungen, Gedanken und Gefühle aber sind nun 
schon Erscheinung, und um das Wesen, die Beschaffenheit 
dieser Erscheinung selber handelt es sich dann, nicht 
wieder um ein Erscheinendes. Es ist kaum eine ärgere 
Verblendung denkbar als diese These des plumpsten 
Materialismus. — 

Auch die Lehre von einer prästabilierten Har- 
monie, so unvergleichbar sie an Geist und Feinheit die 
eben besprochene überragt, wird kaum besondere kri- 
tische Zweifel übrig lassen. Doch werden wir dabei wohl 
eingedenk zu bleiben haben, daß die tiefsinnige Schöpfung 
eines Leibniz mit dem, was hier unter dem Gesichtspunkte 
rein erfahrungswissenschaftlicher Psychologie von ihr zu 
sagen ist, nach ihrem philosophischen Gehalt entfernt 
nicht ausgeschöpft erscheint. — Es sind methodologische 
Erwägungen, die sie uns nicht empfehlen. Aufgabe ist 
die Erklärung des erfahrungsmäßigen Zusammengehens 
von Physischem und Psychischem. Sie wird gelöst durch 
einen Hinweis darauf, daß dies Zusammengehen von 
Anfang an so eingerichtet worden sei. Damit ist wissen- 
schaftlich kaum mehr getan als wiederholt, was schon 
in der Erfahrung lag, nämlich: daß es so ist. Denn 
was an Hypothese noch hinzukommt, der ursprüngliche 
Akt des Ordnens, ermangelt jeder Stütze und Verifizier- 
barkeit. Es hat nicht mehr Erklärungswert als einst der 
horror vacui. Dagegen ist an diese Hypothese eine schwer- 
wiegende Folge gebunden, die mit ihr in den Kauf ge- 
nommen werden muß: die Annahme der Allbeseelung. 
Sie verlangt, daß nicht nur der Mensch, das Tier, die 



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2. Kapitel, über das Verhaltmfl zwischen pliysisclien usw. 37 

Pflanze, sondern alle Dinge ein psychisches Innenleben 
haben. Nun ist ja diese Lehre freilich Vermächtnis 
größter Denker und in so manchem der Systeme meta- 
physischer Weltanschauung die Tragsäule des ganzen 
Baues. In der erfahrungswissenschaftlichen Erforschung 
des Psychischen jedoch kann sie nur dann eine Stelle 
beanspruchen, wenn die Theorie der Tatsachen auf sie 
hindrängt. Das ist aber keineswegs der Fall; die hypo- 
thetische Annahme eines ursprünglichen Schöpfungsaktes 
prästabilierter Harmonie ist selbst zu schwach begründet, als 
daß sie eine so schwere Folge tragen könnte. Denkmöglich 
ist die Hypothese immerhin, eine innere Unmöglichkeit 
ist ihr nicht nachzuweisen. Doch von der Widerspruchs- 
losigkeit zur Wahrheitsgeltung könnte sie, da sie direkte 
Gründe für sich beizubringen nicht vermag, nur dadurch 
gelangen, daß keine andere besser fundierte Hypothese 
über das Verhältnis von Psychischem zu Physischem 
zu finden wäre. — 

Die dritte der Koexistenztheorien ist es, die heute 
nicht nur überhaupt eine EoUe spielt, sondern geradezu 
als die herrschende erscheint: die Theorie des psycho- 
physischen Parallelismus, nach Fechners Auffassung 
auch die Lehre von den „zwei Seiten" genannt. Erinnern 
wir uns der Darstellung, die wir oben von ihr gegeben 
haben, so können wir als ihren Grundgedanken aufstellen : 
Physisches und Psychisches sind nur verschiedene Er- 
scheinungen eines und desselben erscheinenden Bealen. 
Mein Gedanke und der ihm zugeordnete Prozeß in meiner 
Hirnrinde sind in .Wirklichkeit ein und dasselbe reale 
Ding, das nur je nach dem Standpunkt der Betrachtung 
so oder so erscheint. 

Es ist nun auch auf diese Lehre des näheren ein- 
zugehen, hauptsächlich um sie vorerst im einzelnen ge- 
nauer durchzudenken. 

Nenn^ wir das eine erscheinende Beale E, seine 
physische Erscheinung 9, die psychische %p. So können 
wir uns zur Orientierung zunächst die Frage vorlegen: 
was ist dies R ? Und wie verhält es sich seiner Beschaf- 
fenheit nach zu 9 und ^ ? Da ist vor allem klar, daß 
E entweder sowohl von 9 als auch von tp, oder doch 
wenigstens von einem von den beiden verschieden sein 

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38 ^* Teil. Allgemeine Psychologie. 

muß. Nun ist die Bealität und Wirklichkeit unserer 
psychischen Tatsachen, der Vorstellungen, Gedanken und 
Gefühle, unmöglich wegzustreiten ; daß wir das, was wir 
Vorstellungen usw. nennen, wirklich haben, daß es das 
also wirklich gibt, das ist die sicherste Erkenntnis, 
die wir je erleben. Aber auch, daß wir es nicht erst 
wieder durch Vermittlung eines Abbildes, einer Erschei- 
nung kennen, sondern direkt und unmittelbar, daß es also 
im allgemeinen auch wirklich so ist, wie es uns er- 
scheint, ist nahezu eine Selbstverständlichkeit ; wir meinen 
ja unter psychischen Tatsachen nur eben diese unsere Vor- 
stellungen, Gedanken und Gefühle. Wenn es also nur 
ein erscheinendes Reales gibt, so sind unsere psychischen 
Tatsachen dieses Beale, B ist mit v^ identisch.^) 

Dieses B stellt sich nun, so lehrt der Parallelismus, 
in verschiedenen Gestalten dar; bald als das, was es 
wirklich ist, als y>, bald aber erscheint es anders, als 9. 
Wir müssen uns notwendig fragen, unter welchen Um- 
ständen tritt das eine, und unter welchen tritt das 
andere ein. 

Der Parallelismus gibt darauf eine bündige Antwort. 
Die psychischen Tatsachen gehören ja Individuen zu, 
ein Gefühl z. B. ist entweder mein Gefühl oder das einer 
anderen Person. Dem Individuum nun, dem die psychische 
Tatsache zugehört, erscheint sie so wie sie ist, den anderen 
Individuen jedoch als Physisches, als Gehimfunktion. 
JSin anderer kann meine seelischen Begungen selber, so 
wie sie wirklich sind, nicht wahrnehmen; ihm ist mit 
seinen Sinnen (günstigen Falles) nur mein Gehirn zu- 
gänglich. 

Die Antwort scheint vorerst so klar und einfach, 
<laß sie gefangen nimmt. Und doch, fragt man nun weiter, 
so merkt man bald, daß immer noch Schwierigkeiten 
dahinter stecken, die sich nicht ohne weiteres lösen. 

Wir wollen es für jetzt dahingestellt sein lassen, ob, 
wenn ein y> in einem Individuum vorhanden ist^ dieses 
Vorhandensein schon an sich dazu genügt, daß dieses v^ 
dem Individuum — natürlich so wie es ist — erscheint, 

^) Jene Fassungen des ParaUelismus, die diese Identität nicht 
zugeben, sind schon deshalb ^^nzlich unhaltbar und darum hier 
tdcht Weiter berücksichtigt. 



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2. Kapitel Über das Verhältms zwischen physischen usw. 39 

mit andern Worten, daß es von ihm innerlich wahrgenom- 
men wird ; oder ob dazu nicht noch ein eigener psychischer 
Akt des Individuums notwendig ist. Sollte, wie es wohl 
zutreffen wird, das letztere dem wahren Sachverhalt ent- 
sprechen, so sind es mißliche Verwicklungen, die sich 
für die Theorie des Parallelismus daraus ergeben. Doch 
verweilen wir dabei nicht ausdrücklich, um die Beur- 
teilung der Lehre von jener Alternative unabhängig zu 
gestalten, zumal das Folgende sich nahe damit berührt. 
Das aber ist ganz sicher, daß, wenn das E, das mit 
dem V identisch ist, einem anderen Individuum erscheint 

— und dann im Sinne der Theorie natürlich als ein 9 

— dazu ein eigener Akt des andern Individuums not- 
wendig ist; wir sagen, es nimmt wahr. Und dieses 
Wahrnehmen ist selbstverständlich nichts anderes als ein 
Fall von Kausation : die <p-Erscheinung ist die Wirkung, 
das R (=v') die Ursache. Jedoch nur Teil Ursache. Das 
E muß auf das andere Individuum wirken; mit andern 
Worten: zum Zustandekommen der Wahrnehmung muß 
das äußere Objekt mit dem wahrnehmenden Subjekt zu- 
sammen wirken; die eine Teilursache ist das E (=v')» 
die andere liegt im anderen, wahrnehmenden Individuum 

— daran ist nicht zu rütteln. 

Was )aber ist es nun am andern Individuum, das sich 
als solche zweite Teilursache einstellt? 

Als Ursache kann es nur etwas Wirkliches, Eeales 
sein. Nun gibt es für unsere Theorie nur ein Wirkliches, 
das Psychische; und zwar sind es die psychischen Tat- 
sachen, die Gedanken, Gefühle, Wünsche usw., was da- 
mit gemeint ist. Die zweite Teilursache also, die wir 
suchen, kann nach der Theorie in gar nichts anderem 
bestehen, als in irgend welchen psychischen Tatsachen 
(Vorstellungen, Gedanken, Gefühlen oder Wünschen) des 
andern Individuums. Damit stimmt aber die Empirie nicht 
im entferntesten; es ist nichts besser schon durch ge- 
wöhnlichste Erfahrung beglaubigt, nichts allgemeiner an- 
erkannt, als daß die Empfindungen von den jeweiligen 
übrigen psychischen Vorgängen des empfindenden Indi^ 
viduums im allgemeinen unabhängig sind, daß unsere Ge- 
danken, Gefühle usw. in der Hauptsache nicht mit zu 
den Ursachen unserer Empfindungen gehören. Es muß 

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4Q I. Teil. Allgemeine Psychologie. 

aber doch eine im empfindenden Individuum liegende Teil- 
ursache der Empfindungen geben, etwas Psychisches muß 
sie nach der in Rede stehenden Theorie gleichfalls sein, 
und da etwaige sogenannte unbewußte Vorstellungen, Ge- 
danken oder Gefühle 1) das, was wir dazu brauchen, 
geradeso wenig leisten können, wie die bewußten, so 
bleibt nichts anderes übrig, als etwas Psychisches noch 
neben oder hinter den psychischen Erfahrungstatsachen 
anzunehmen, eine substantielle Seele. 

Der psychophysische Parallelismus ist also mit einer 
schwerwiegenden Hilfshypothese belastet, und zwar noch 
dazu mit einer solchen, die zu vermeiden er vielfach be- 
stimmt gewesen. Nun bleibt aber noch die Frage, wie 
sich diese Hilfshypothese in den übrigen Sinn der Grund- 
hypothese einfügt ; und dabei ergeben sich neue Schwierig- 
keiten. 

Wir wissen aus Erfahrung, daß die Mitwirkung des 
.Gehirns für das Zustandekommen der Empfindungen un- 
erläßliche Bedingung dst. Im Sinne des Parallelismus 
müßte dies anders ausgedrückt werden, nämlich so: un- 
erläßliche Bedingung zum Zustandekommen der Empfin- 
dung ist jenes psychische reale Wirkliche, das unter 
entsprechenden Umständen physisch als das Gehirn er- 
scheint. Dieses psychische reale Wirkliche ist aber — 
das war ja die Ausgangsbehauptung der Theorie — nichts 
anderes als unser Vorstellen, Denken, Fühlen; und von 
diesem wissen wir sicher, daß es nicht Teilursache der 
Empfindungen ist. 

Zweierlei ist nun möglich. Entweder man modi- 
fiziert jene Behauptung des Parallelismus dahin, daß das 
Gehirn die physische Erscheinung nicht der psyclüschen 
Erfahrungstatsachen (der Vorstellungen usw.), sondern 
der substantiellen Seele ist. Oder man läßt sich die Seele 
mit den psychischen Tatsachen in irgend einer Weise 
in das Gfehim als ihre physische Erscheinimg teilen, 
und, da eine Teilung im eigentlichen, räumlichen Sinne 
doch eine zu abenteuerliche Annahme wäre, etwa so, daß 
man das Gehirn als solches der Seele, die Gehirnvorgänge 
den psychischen Tatsachen zuweist. 



») Siehe dazu S. 53. 

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2. Kapitel über das YerhaltniB zwischen phynsclien usw. 41 

Aber weder der eine noch der andere der beiden 
Versuche gibt eine befriedigende Lösung der Schwierig- 
keiten. Der erste ist nämlich liicht eine nur leichte Mo£- 
fikation der Theorie, sondern geradezu ihr Ende. Denn 
wenn das Gehirn die physische Erscheinung der substan- 
tiellen . Seele und nicht der psychischen Erfahrungstat- 
sachen (Vorstellungen usw.) ist, so kann die Theorie gar 
nicht mehr den Bedürfnissen dienen, die zu befriedigen sie 
bestimmt war ; sie gibt dann auf die Frage nach der Natur 
des erfahrungsmäßigen Zusammenhanges zwischen Gehirn 
und psychischen Tatsachen gar keine Antwort, sie sagt nur, 
das Gehirn ist die physische Erscheinung der substantiel- 
len Seele; doch diese ist nicht psychische Erfahrungstat- 
sache, es bleibt daher die Ausgangsfrage offen. Zu diesem 
Versagen der Antwort nun aber auch noch die sonder- 
baren Hilfsannahmen: daß das Gehirn die physische Er- 
scheinung einer direkt nicht erfahrbaren, jedoch hypo- 
thetisch geforderten Seele sei, und daß dem direkt er- 
fahrbaren Psychischen die physische Erscheinung mangle 
— das ist ein zu arges Mißverhältnis zwischen Mitteln 
und Leistungen der Hypothese. — Der zweite Lösungs- 
versuch dagegen scheitert an der Unmöglichkeit, die For- 
derungen des Parallelismus mit den Erfahrungsdaten in 
Einklang zu bringen. Das Gehirn soll die physische Er- 
scheinung der Seele, die Gehirnvorgänge die der Vor- 
stellungen, Gefühle, kurz der psychischen Tatsachen sein. 
Da wird der Parallelismus doch wohl verlangen müssen, 
daß das Verhältnis zwischen Seele und psychischer Tat- 
sache im wesentlichen das gleiche ist wie das zwischen 
Gehirn und Gehirnfunktion. Nun ist Gehimvorgang — 
realit^ — nichts anderes als das Gehirn in Tätigkeit, 
geradeso wie Muskelkontraktion nichts anderes als der 
sich zusammenziehende Muskel; es gibt nicht etwa erst 
den Muskel und irgendwie daneben noch die Kontraktion ; 
und die Gehimtätigkeit besteht selbst in gar nichts anderem 
als in Veränderung der Himsubstanz. Das gleiche Ver- 
hältnis auf der psychischen Seite würde dann besagen: 
die psychische Tatsache, z. B. eine Vorstellung, ist ein 
Sichverändern der Seele. Das stinmit nun in mehrfacher 
Hinsicht zu der Erfahrung nicht. Zunächst sind eine 
Vorstellung oder ein Gefühl nicht ein Sichverändern; ihr 

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4:2 I* ^eil* AÜgemeine Psychologie. 

eigentümliches, uns aus der inneren Anschauung bekanntes 
Wesen besteht nicht in irgend einer Art von Veränderung. 
Auch davon, daß sie — wie jede Veränderung, um sein zu 
können, auf ein sich veränderndes Etwas — auf ein Substrat 
angewiesen wären, ist durchaus nichts zu merken. Doch zu- 
gegeben, es wäre so, dann müßte doch, wenn man ein Ge- 
fühl oder eine Vorstellung in sich vorfindet, notwendig 
damit zugleich die Seele wahrzunehmen sein; denn es ist 
nicht möglich, daß man Veränderungen sieht ohne das 
sich Verändernde. Das stimmt nun wieder nicht zu der 
Erfahrung; denn es ist sicher, daß wir in unserem Be- 
wußtsein nur Vorstellungen, Gefühle usw. vorfinden, und 
nicht dazu noch etwas anderes, das dem zugrunde läge. 
Und schließlich noch einmal auch dieses zugegeben, dann 
müßte ja jene Teilursache der Empfindung, die im empfin- 
denden Individuum selber liegt, die Seele, innerlich wahr- 
nehmbar sein; dagegen wissen wir aus sicherster Er- 
fahrung, daß sich in unserem Bewußtsein nichts von den 
Ursachen der Empfindung findet. 

So kommt der psychophysische Parallelismus, selbst 
wenn er sich, durch die Konsequenz seines Grund- 
gedankens und die Tatsachen gedrängt, dazu herbeiläßt, 
die seinem "Wesen allerdings sehr wenig zusagende Hilfs- 
annahme einer den psychischen Tatsachen zugrunde liegen- 
den substantiellen Seele zu machen, schließlich doch 
wieder in so schwierige Verwicklungen, daß ihre Lösung 
vorläufig nicht abzusehen ist. — 

Aber, so könnte man vielleicht doch noch fragen, 
sind es denn wirklich zwingende Überlegungen, die den 
Parallelismus dazu führen, zur Annahme einer von den 
psychischen Erfahrungstatsachen verschiedenen, ihnen 
gleichsam zugrunde liegenden oder hinter ihnen stehenden 
substantiellen Seele seine Zuflucht zu nehmen ? Was uns 
dazu gebracht hat, war, wie erinnerlich, der Hinweis 
darauf, daß zum Zustandekommen einer Empfindung die 
Mitwirkung einer im empfindenden Individuum gelegenen 
Teilursache unbedingt erforderlich ist, daß aber die — 
gemäß der Grundanschauung des Parallelismus — das 
Individuum ausmachenden jeweils aktuellen psychischen 
Tatsachen (Vorstellungen usw.) erfahrungsgemäß nicht 
Teilursache zum Zustandekommen neuer Empfindungen 



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2. Kapitel Über das Yerlü^tids zwischen physischen usw. 48 

sind. Ist dies nun wirklich eine so ausgemachte, Tatsache ? 
Ist es wirklich so ganz erfahrungswidrig, daß die gesuchte 
Teilursache mit den jeweils vorhandenen psychischen Tat- 
sachen des empfindenden Individuums identisch sei? 

Es ist vorgängig allerdings noch eine Auffassung 
möglich, durch die es gelingt, diesen Widerstreit als einen 
nur scheinbaren hinzustellen. Man müßte sich dazu die 
Sache folgendermaßen zurechtlegen. Wohl ist die gesuchte 
Teilursache in den im empfindenden Individuum jeweils 
vorhandenen psychischen Tatsachen zu finden ; aber nicht 
in den psychischen Tatsachen nach ihrer jeweiligen spe- 
ziellen Beschaffenheit, sondern nur in ihrem allgemeinen 
Charakter eben als psychischer Tatsachen. Eine Analogie 
wird den Sinn deutlicher machen. Manches Gemüt ist 
für Töne besonders empfänglich, jede Tonempfindung ruft 
in ihm unmittelbar eine gewisse Angeregtheit hervor. Diese 
erregende Wirkung ist aber von der jeweiligen speziellen 
Qualität des Tones, seiner Höhe, gänzlich unabhängig; 
natürlich hat jeder so zur Wirkung kommende Ton seine 
bestimmte Höhe, ein Ton ohne bestimmte Tonhöhe ist 
durchaus unmöglich; aber daß er diese oder jene Höhe 
hat, ist für seine Wirkung in einem solchen Falle durch- 
aus gleichgültig. Nicht daß der Ton c, der Ton e oder 
der Ton a da ist, bestimmt die Wirkung, sondern daß 
es überhaupt ein Ton ist; man könnte also mit Eücksicht 
darauf, wenn auch im ganzen natürlich ungenau, sagen : 
nicht der einzelne spezielle Ton, sondern der Ton im 
allgemeinen, der Ton überhaupt kommt als Ursache zur 
Geltung. — So mag es sich auch in unserem Fall ver- 
halten. Wir suchen nach der zum Zustandekommen einer 
Empfindung erforderlichen, im empfindenden Individuum 
selbst liegenden Teilursache. Das Individuum mag gleich- 
wohl nichts anderes sein als ein Verband von psychischen 
Tatsachen. Die jeweils in ihm aktuellen psychischen Tat- 
sachen sind eben die gesuchte Teilursache ; doch kommen 
sie als solche nur ihrem allgemeinen Charakter, nicht 
ihrer speziellen Beschaffenheit nach in Betracht, es ist 
zum Zustandekommen der Wirkung nur erforderlich, daß 
ein Bewußtsein (« psychische Tatsachen) überhaupt vor- 
handen, und ganz gleichgültig, womit es eben beschäftigt, 
ausgefüllt, von welcher Art es eben ist. Dann muß für 

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44 I. TeiL AUgemeine Psychologie. 

uns der Schein zustande kommen, als wäre das Zustande- 
kommen der Empfindung unabhängig von den psychischen 
Tatsachen, die wir eben haben ; denn von ihrer speziellen 
Gestaltung ist es ja wirklich unabhängig. Nicht aber ist 
es unabhängig davon, daß Psychisches überhaupt vorhan- 
den ist; jedoch solange wir empfinden, ja vielleicht gar 
solange wir sind, ist diese Forderung stets erfüllt. 

Nochmals sei betont: auf diesem Wege ist es mög- 
lich, den Grundgedanken des Parallelismus bis hierher 
in aller Klarheit und ohne Anstoß festzuhalten. Doch 
gebe jnan sich keiner Täuschung hin. Die Schwierig- 
keiten sind noch nicht zu Ende, und ohne — vorläufig 
noch ganz im Dunkeln schwebende — Hilfshypothesen 
geht es auch jetzt noch nicht. Um das Zustandekommen 
der Empfindung handelt es sich, und Teilursache dabei 
sollen die bereits vorhandenen psychischen Tatsachen des 
empfindenden Individuums sein. Diese psychischen Tat- 
sachen aber stehen, wie alle die psychischen Tat- 
sachen überhaupt, soweit wir sie aus unserer Erfahrimg 
kennen, ihrer Natur nach selbst wieder in eigentümlichem 
Abhängigkeitsverhältnis zur Empfindung; denn jede ist 
entweder selbst Empfindung oder doch in irgend einer 
Weise auf Empfindung notwendig gegründet Alle unsere 
Vorstellungen beruhen, wenn auch in verschiedenem Sinne, 
in letzter Linie auf Empfindungen, imd jedes Gefühl wie 
jedes Streben muß sich normalerweise auf einen wieder 
vorgestellten Gegenstand beziehen. So müssen wir auf 
Grund unserer Erfahrung sagen, daß die Empfindung 
selber Vorbedingung des übrigen psychischen Lebens ist, 
daher nicht leicht ihre eigenen Ursachen wieder in diesem 
haben kann; und dabei müßte es bleiben, wenn wir uns 
auf unser psychologisches Erfahrungswissen beschränken 
wollen. Sonst aber müssen wir wieder zu Hilfshypothesen 
greifen, die, da es sich nun um die Möglichkeit des Zustande- 
kommens s. z. s. der ersten Empfindung handelt, die Be- 
schaffenheit und Gesetze gleichsam der Anfänge psychi- 
schen Lebens zum Gegenstand haben müßten, und diese 
so darzustellen hätten, daß sie mit jener Forderung in 
Einklang stehen, also selbst in den fundamentalsten 
Grundeigenfciimlichkeiten von denen des empirisch be- 
kannten psychischen Lebens abwichen. Daß die Hypo- 



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2. Kapitel. Über das Verhältnis zwischen physischen usw. 46 

thesenbildung dabei Gefahr läuft, sich in Tage Speku^ 
lationen zu verlieren, und daß es für die Ausgangshypo- 
these, den Farallelismus, nicht empfehlend ist, auf solche 
Hilfen angewiesen zu sein, wird man sich jedenfalls vor 
Augen halten müssen. — 

Schließlich aber ist er zu alledem auch noch mit 
jener erfahrungsfremden HiKshypothese eng verbunden, 
die uns bereits die Annahme der prästabilierten Harmonie 
erschwert hat: der Allbeseelung. Denn er verlangt, daß 
es in Wirklichkeit nur psychisch Reales gibt, und nur in 
diesem ein Wirken liegt, das Physische nur Schein ist. 
Wenn ich die Geige spiele und mein Freund es hört, so wirke 
ich auf jenes Psychische, das in der physischen Erschei- 
nung Geige ist, diese wirkt wieder auf ein anderes Psy- 
chisches, von dem wir gleichfalls nur die physische Er- 
scheinung kennen, nämlich das Ohr des Hörers, und dieses 
endlich auf den Hörer selbst. Wo immer in der äußeren 
Natur Kausalverkettung vorliegt, ja wo nur überhaupt 
ein Ding vorhanden ist, da ist es stets in Wirklichkeit 
ein Psychisches; doch über die Beschaffenheit desselben 
läßt sich nichts näheres aufstellen als höchstens die Ver- 
mutung, daß es von allem Psychischen, das wir kennen, 
das des Menschen und etwa noch der höheren Tiere, ver- 
schieden ist. Das ist unausweichliche Folge der Lehre 
des psychophysischen Parallelismus. 

5. Ergebnis 
und metaphysische Ergänzungen. 

Wir haben nun alle Hypothesen, die über das 
Verhältnis von Physischem zu Psychischem, von Gehim- 
vorgang und Bewußtsein, aufgestellt werden können, der 
Reihe nach in ihren Grundgedanken auf ihre Leistungs- 
fähigkeit geprüft. Sinn und Tendenz der Untersuchung 
war es dabei, die durch Erfahrungstatsachen angeregte 
Frage, da sie nur Vorgänge der Erfahrungswelt betrifft 
(Bewußtsein und Gehirnvorgang), nach den Grundsätzen 
zu behandeln, die der Erfahrungswissenschaft zur Hypo- 
thesenbildung vorgezeichnet sind. Nach diesen Grund- 
sätzen ist es für eine Hypothese nicht empfehlend, wenn 
sie mit andern wohlbegründeten und leistungsfähigen 

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46 I* "^eil* Allgemeine Psychologie. 

Hypothesen in Widerspruch gerät; so wie die Wechsel- 
wirkungslehre mit der Hypothese des allseits geschlossenen. 
Mechanismus des materiellen Geschehens. Wobei freilich 
immer noch die Frage offen bleiben kann, welche von 
beiden Hypothesen eher zu modifizieren ist. Nach diesen 
Grundsätzen ist es aber für eine Hypothese ebensowenig 
empfehlend, wenn sie Hilfshypothesen braucht, die viel- 
leicht nur ad hoc erfunden, in der übrigen Erfahrung 
keine rechte Stütze haben und empirischer Verifizierung 
etwa schon ihrer Natur nach unzugänglich sind. Wie 
weit dies von den Hilfskonstruktionen des Parallelismus 
gilt, wird sich zum Teil noch aus späteren Ausführun- 
gen dieses Buches ergeben, zum Teil vielleicht auch in 
der kommenden Entwicklung unserer Wissenschaft noch 
weitere Klärung erfahren. Für jetzt scheint nur dies Eine 
sicher : der rein erfahrungswissenschaftlichen Behandlung 
unserer Frage kann nach dem heutigen Stand der Dinge 
weder die Wechselwirkungslehre noch auch der ParaUe- 
lismus voll genügen ; mit einfacheren Mitteln arbeitet jene, 
doch innerlich unmöglich ist auch dieser nicht. — 

Man hat sich übrigens vielfach daran gewöhnt, das 
vorliegende Problem als ein im Grunde metaphysisches zu 
betrachten ; und es ist richtig, daß es mit metaphysischen 
Interessen in nahen Zusammenhang za bringen ist. Ja, wenn 
die Erfahrungswissenschaft es glatt zu lösen sich dauernd 
unfähig erweisen sollte, so mag es immerhin Gewinn ver- 
sprechen, wenn eine wissenschaftliche Metaphysik sich 
seiner annimmt. Bis heute hat in diesem Streit die Meta- 
physik nicht so sehr durch Beweise, als vielmehr am 
lautesten mit Postulaten eingegriffen. Und zwar ist es 
vor allem das des Monismus, das in der Gegenwart den 
Streit beherrscht. Der Sinn dieses Monismus, soweit er 
mit unserer Frage direkt zusammenhängt, verlangt, daß 
es in unserer Welt nur einerlei reales Wirkliches gebe, 
und ist vor allem gegen die Unterscheidung von rein 
körperlichen und rein geistigen Wesen, wie sie von einer 
Art des Dualismus angenommen und auch zum Teil aus 
nichtwissenschaftlichen Motiven vertreten wird, gerichtet. 
Es mag begreiflich sein, daß diese Lehre sich am ehesten 
mit dem Parallelismus verbindet und ihm die Geltung 
zu verschaffen strebt. Doch ist gewiß das Eine klar, daß 



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3. Kapitel. Seele, Icli nnd ünbewT)£teB. 47 

dieser von dem hinter der Erscheinung liegenden, von der 
realen Wirklichkeit gemeinte (also „ontologische") Monis- 
mus, auch wenn er noch so sehr betont wird, niemals 
die empirisch gegebene Zweierleiartigkeit der Erscheinun- 
gen wegschaffen kann, sich also stets ein Kompromiß 
mit dem Dualismus der Erscheinungen (dem „phänomeno- 
logischen" Dualismus) gefallen lassen muß. Dann aber 
hat für den ontologischen Monismus der Parallelismus 
vor einer Wechselwirkungslehre nichts mehr voraus. Denn 
diese kann sich auch so gut wie er der Ansicht von der 
Einheit des letztlich (eigentlich) Existierenden anbe- 
quemen; nur das Verhältnis zwischen diesem und den 
Erscheinungen bestimmt sie anders. Daraus ergibt sich 
also, daß wir für unsere Frage, ob Wechselwirkung oder 
nicht, von einer Metaphysik, auch wenn sie dem Monis- 
mus noch so günstig ist, keine Entscheidung zu erwarten 
haben. 



3. Kapitel. 

Seele, Ich und Unbewußtes. 

1. Methodische Vorbemerkungen. 

Bei der Beurteilung der verschiedenen Ansichten 
über das Verhältnis vom Physischen zum Psychischen, 
wie sie im vorigen Kapitel durchgeführt worden ist, 
haben wir es als nicht günstig für eine Hypothese be- 
zeichnet, wenn sich herausstellte, daß sie zu ihrer Durch- 
führbarkeit der Annahme einer substantiellen Seele be- 
darf. Dies geschah unter dem Gesichtspunkte, daß die 
Einsicht in die Gesetze, oder die theoretische Behandlung 
eines Erfahrungsgebietes im allgemeinen um so vollkom- 
mener ist, je weniger Hilfshypothesen sie nötig hat. 
Aber diese methodische Kegel erleidet natürlich eine 
wesentliche Einschränkung dann, wenn die fragliche 
Hilfshypothese auch noch zum Verständnis anderer be- 
nachbarter Erfahrungstatsachen gefordert erscheint; denn 
wenn sie schon für das eine Gebiet gelten muß, so liegt 
kein Grund mehr vor, sie für ein anderes zu beanständen. 



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48 !• Teil. AHgemeine Psychologe. 

Und so könnte es sich auch mit der Annahme einer sub- 
stantiellen Seele verhalten ; wenn sich etwa zeigt, daß diese 
Annahme auch zum Verständnis der psychischen Tat- 
sachen selbst schon notwendig ist, so ist es nicht nur 
kein Nachteil, sondern eher eine Art willkommener Gegen- 
probe, wenn sie uns auch beim Enträtseln des Verhält- 
nisses zwischen Physischem und Psychischem gute Dienste 
zu leisten vermag. Das scheint nun aber tatsächlich der 
Fall zu sein. Man stellt es doch als etwas ziemlich Natür- 
liches und Selbstverständliches hin, daß unsere Vorstel- 
lungen, Gefühle usw.. nicht selbständig existieren können, 
sondern eines Substrates, eines Trägers bedürfen. Man 
ist sich ferner seines Ich. als einer Tatsache bewußt, deren 
besondere Eigentümlichkeiten sich wiederum am einfach- 
sten aus dem Hinweis auf eine Seele verständlich machen 
lassen. Und schließlich gibt es noch ganz landläufige 
Erfahrungen des Innenlebens, die unausweichlich zur An- 
nahme eines nicht erfahrbaren, also unbewußten Psy- 
chischen hindrängen, das seinerseits wiederum am natür- 
lichsten als substantielle Seele zu betrachten wäre. 

So sind es also drei verschiedene Gesichtspunkte, die 
unabhängig voneinander und aus eigener Kraft gerade 
wieder auf jene Hilfshypothese uns hinzuweisen scheinen, 
der wir im vorigen Kapitel ausweichen zu sollen glaubten ; 
und unsere Aufgabe wird es daher nun sein, sie eingehend 
auf ihren Sinn zu prüfen. 

2. Die Seele als Träger der psychischen 
Tatsachen. 

Es entspricht geradezu einer alten Tradition, zu 
behaupten, daß die psychischen Tatsachen, etwa Vorstel- 
lungen, Gefühle, nicht selbständig existieren können, son- 
dern auf die Existenz eines anderen. Selbständigen ange- 
wiesen sind, von dem sie gleichsam getragen werden, dem 
sie anhaften, zugehören, inhärieren. Es ist hier nicht 
unsere Aufgabe, dem historischen Ursprung dieser alt- 
hergebrachten Behauptung nachzugehen ; wir wollen sehen, 
ob sie, auf sich allein gestellt, sich zu behaupten vermag. 

Da gilt nun folgendes. Eine psychische Tatsache 
kann sicherlich nicht existieren, ohne irgendwie in Zu- 



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3. Kapitel Seele, IcH und Unbewußtes. 49 

sammenhang mit irgend etwas anderem Wirklichen zu 
stehen; äußersten Falles ist das schon dadurch verbürgt, 
daß sie notwendig eine Ursache haben muß. Dies hat 
aber für die Annahme einer substantiellen Seele höchstens 
dann etwas zu bedeuten, wenn sich jener Zusammenhang 
als der erweist, der zwischen Eigenschaft und Ding be- 
steht. Leicht könnte dann das Ding die substantielle Seele 
sein; sie hätte Empfindungen, Gedanken usw. als ihre 
Eigenschaften geradeso zu tragen, wie etwa das Ding Gold 
die gelbe Farbe, den Glanz, die körperliche Ausdehnung, 
die Schwere usw. an sich trägt. 

Der Vergleich ist zwar historisch höchst bedeutsam; 
er steckt, verschiedentlich gestaltet, im Grundgedanken 
der Lehren Spinozas und Descartes'. Gleichwohl wird 
es nicht Überhebung sein, wenn wir ihn unzutreffend 
finden. So natürlich die gelbe Farbe, die Ausdehnung 
als Eigenschaften gelten, so gezwungen ist es, Empfin- 
dungen, Gedanken als solche zu betrachten; die psy- 
chischen Tatsachen haben Eigenschaften, sie sind es 
nicht. Viel näher liegt es uns, Gedanken und Ent- 
schlüsse als Dinge, wenn auch besonderer Art, denn 
als Beschaffenheiten aufzufassen. Angesichts der Außen- 
welt sprechen wir ganz unwillkürlich von den Be- 
schaffenheiten der Dinge, und meinen dabei ihre 
Farbe, Größe usw. ; angesichts der Innenwelt kommt uns 
diese Unterscheidung nicht so leicht, und wenn wir sie 
machen, so liegt es uns viel näher, die Stärke und die 
Dauer einer Tonempfindung, die Festigkeit eines Ent- 
schlusses als Beschaffenheiten der Tonempfindung, des 
Entschlusses aufzufassen, die Tonempfindung, den Ent- 
schluß für ein Dingliches zu nehmen, als in der Ton- 
empfindung, im Entschluß Beschaffenheiten unseres 
Wesens zu erblicken. Wenn wir nach Eigenschaften 
unseres Wesens fragen, so denken wir an Verstand, Ent- 
schlossenheit, Gemüt und ähnliches, nicht an den ein- 
zelnen Gedanken, die einzelne Empfindung. 

Doch selbst wenn man es gelten läßt, daß die psy- 
chischen Tatsachen als Eigenschaften au&ufassen sind, 
so ist man damit noch keineswegs gezwungen, eine sub- 
stantielle Seele als ihren Träger anzunehmen. Zwar ist 
es alte Philosophenlehrey daß alle Attribute (Eigenschaften), 

Witssek, Gmndlmlen der Psychologie. [ 4 

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60 I* ^^* Allgemeine Psychologie. 

um sein zu können, einer Substanz bedürfen, die selbst 
nicht mehr wahrnehmbar noch sonst erfahrbar ist, die 
selbständige Existenz besitzt und der die Attribute in- 
härieren. Doch was wir zum Verständnis unserer Er- 
fahrung brauchen, das ist auf diese Lehren noch nicht 
angewiesen. Die Erfahrung zeigt uns Dinge; und jedes 
Ding ist ein Komplex von einzelnen einfacheren Bestim- 
mungen, die, wenn wir sie in ihrer Zugehörigkeit zu 
dem Komplex betrachten, als Eigenschaft erscheinen, und 
die in ihrem Zusammensein das Ding ausmachen. Die 
Dinge sind in unserer Erfahrung gar nichts anderes, als 
der Komplex von allem dem, was wir, im Hinblick auf 
sie selbst, als ihre Eigenschaften bezeichnen. Die ein- 
zelne Eigenschaft ganz für sich allein kann Existenz viel- 
leicht gar niemals haben; zusammengefügt jedoch' zu 
größeren Komplexen bestimmter Art (den Dingen) ge- 
winnen sie die Fähigkeit selbständiger Existenz, geradeso, 
wie man auch Farbe ohne Ausdehnung, und Ausdehnung 
ohne Farbe nicht anschaulich vorstellen kann, wohl aber 
beide in Verbindung ; geradeso, wie auch die Wurzel eines 
Baumes nicht ohne Stamm, der Stamm nicht ohne Wurzel 
leben kann. Das heiBt also: um das Dasein der Eigen- 
schaften zu verstehen, ist es nicht nötig, außer, neben, hinter 
ihnen noch ein anderes, unerfahrbares Existierendes, dem 
sie selbst erst ihre Existenz verdankten, anzunehmen. — 

Man sagt jedoch auch, und zwar gewiß mit Recht, 
die psychischen Tatsachen seien Vorgänge. Vorgänge aber 
müssen doch sicherlich Vorgänge an etwas sein; und 
dieses Etwas läßt sich in unserem Fall kaum anders deuten 
denn als substantielle Seele. 

Auch dieser Schluß ist übereilt. Ein Vorgang ist 
zunächst Veränderung. Die psychischen Tatsachen sind 
aber nicht Veränderungen. Ein Gefühl, eine Vorstellung, 
ein Gedanke sind etwas Reales, was von Veränderung 
nicht gilt. Ein Gefühl, indem es etwa langsam anschwillt 
und dann wieder abnimmt, oder eine Vorstellung, die 
zuerst undeutlich ist imd immer deutlicher wird, ver- 
schwindet und in etwas anderer Beschaffenheit wieder 
auftaucht, sind etwas sich Veränderndes, wie vielleicht 
alle psychischen Tatsachen etwas stetig sich Veränderndes 
sind — nicht aber selbst Veränderung. Wenn man sie 



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8. Kapitel. Seele, Ich und UnbewufiteB. 51 

also „Vorgänge" nennt, so darf man dieses Wort dabei 
nicht im Sinne von Veränderung, sondern nur im Sinne 
des sich Verändernden verstehen. Dann aber geht es nicht 
mehr an, daraus zu folgern, daß sie einem andern Sub- 
stantiellen, einem Substrate anhaften müßten; denn nur 
die Veränderung kann nicht sein, ohne einem solchen 
Substrate anzuhaften, an dem sie vor sich geht; das sich 
Verändernde dagegen kann sehr wohl schon an und für 
sich selbständige Existenz haben. — 

Die psychischen Tatsachen stellen sich in unserer 
Erfahrung so dar, daß sie, um sein zu können, in keiner 
Weise auf etwas außerhalb ihrer selbst Liegendes als auf 
einen „Träger", ein Substrat angewiesen erscheinen. Aller- 
dings kommen sie immer nur in großen, innerlich zu- 
sammenhängenden Verbänden vor, niemals isoliert. Daraus 
kann jedoch nicht ohne weiteres der Schluß gezogen werden, 
daß sie ihrer Natur nach nicht isoliert für sich bestehen 
könnten. Aber selbst wenn man diesen Schluß glaubt 
ziehen zu müssen, so folgt daraus noch nichts für die 
Notwendigkeit einer substantiellen Seele ; jede einzelne psy- 
chische Tatsache mag für. sich allein existenzunmöglich 
sein — im innerlich zusammenhängenden Verband je- 
doch ergibt sich ihnen die Existenzfähigkeit von selbst. 
Wir werden später besondere Fälle kennen lernen, an 
denen man das deutlich sehen kann.^) 

3. Die Tatsachen des Ich-Bewußtseins. 

Es gibt jedoch eine überaus leicht zugängliche und 
allgemeine Erfahrung, der wir an dieser Stelle nicht ver- 
gessen dürfen, da sie so recht für eine substantielle Seele 
zu sprechen scheint und aufs natürlichste durch eine solche 
Annahme begreiflich wird. Das ist die Tatsache unseres 
Ich-Bewußtseins. Was sollten wir in diesem Ich- 
Bewußtsein denken, wenn nicht die substantielle Seele, die 
wir zwar nur in ihren Äußerungen kennen, die aber doch 
das Eigentliche unseres Wesens ausmacht? Was bleibt 
als Gegenstand unseres Ich-Bewußtseins, wenn wir von 



^) Siehe die Abschnitte über Urteilen, Über FuhleD und Be- 
gehren. Übrigens auch schon S. 44. 



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t^oogk 



62 !• Teil. Allgemeine Psychologie. 

einer solchen Seele absehen wollen ? Die psychischen Tat- 
sachen selbst, wenn auch in ihrem organischen Verbände, 
sind, scheint es, nicht geeignet, den Gegenstand des Ich- 
Bewußtseins abzugeben. 

Indem wir* sagen: ich empfinde, ich denke, ich 
fühle, stellen wir unser Ich geradezu der Empfindung, 
dem Gedanken, dem Gefühle gegenüber und bringen das 
Bewußtsein zum Ausdruck, daß die Empfindung usw. 
unserem Ich zugehört, zu unserem Ich als etwas Neues 
hinzukommt. 

Wir haben ferner das Bewußtsein, daß alle diese 
zahlreichen und mannigfaltigen Einzelerlebnisse, als 
welche sich die psychischen Tatsachen unserer Erfahrung 
darbieten, gerade in diesem Ich zu einer inneren Einheit 
des Bewußtseins verbunden sind. 

Richtig verstanden hat es auch einen guten Sinn, 
wenn geradezu gesagt wird, daß wir dieses Ich in jeder 
unserer psychischen Tatsachen gleichsam miterleben, daß 
es uns in jedem unserer Bewußtseinsakte mit zum Be- 
wußtsein komme. 

Auch die scharfe^ durchaus unüberbrückbare Ab- 
grenzung und Scheidung der einzelnen Individuen gegen- 
einander, vermöge welcher es ausgeschlossen ist, daß eine 
und dieselbe psychische Tatsache mehr als einem einzigen 
Individuum zugehört, ja auch nur von einem zweiten als 
solche wahrgenonmien wird, deutet darauf hin, daß die 
Tatsache des Ich in der Existenz substantieller Seelen- 
wesen begründet ist. 

Damit mag es dann auch zusammenhängen, daß dieses 
Ich unzweifelhaft beharrt (bestehen bleibt), wenn die psy- 
chischen Tatsachen vergehen, und daß es auch mit sich 
identisch, d. h. dasselbe bleibt, obgleich die psychischen 
Tatsachen stetig wechseln. 

Die sogenannte Einfachheit des Ich, die uns am deut- 
lichsten in einer gewissen offenkundigen Unteilbarkeit 
unseres Wesens zum Bewußtsein kommt, ist ebenfalls nicht 
leicht begreiflich, wenn unser Ich identisch sein sollte mit 
dem bloßen Verband der psychischen Tatsachen, während 
sie sich auf das natürlichste von selbst ergibt, wenn dieses 
Ich im Grunde genommen etwas anderes, noch dahinter 
Stehendes, eine substantielle Seele ist» 



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3. Kapitel. Seele, Ich und Unbewußtes. g3 

Endlich findet sich ein jedes Ich mit vielen Eigen- 
schaften ausgestattet, mit Eigentümlichkeiten seines Cha- 
rakters, mit Kenntnissen und Fähigkeiten, die jhm ver- 
hältnismäßig dauernd zukommen, die daher auch nicht 
mit den stets wechselnden, immer rasch vorübergehenden 
psychischen Tatsachen identisch noch in ihnen begründet 
sein können, sondern selbst wiederum das Vorhandensein 
eines beharrenden Substrates fordern, dem sie anhaften. 

Alle diese Erfahrungen sind, soweit sie sich an 
das rein Tatsächliche halten, so deutlich, so bekannt 
und so unwidersprochen, daß sie keiner weiteren Er- 
läuterung bedürfen ; nur der zuletzt genannte Punkt muß 
noch etwas näher beleuchtet werden. 



4. Die Erfahrungen, 
die zur Annahme unbewußter psychischer Tat- 
sachen führen, und die Natur dieses Unbewußtem; 
die psychischen Dispositionen. 

Wir wollen auch da wieder von einer jedermann 
höchst geläufigen Erfahrung ausgehen. 

Dinge, die 'wir einmal gesehen haben, können wir uns 
späterhin, auch wenn sie eben nicht zu sehen sind, mehr 
oder weniger genau doch wieder vorstellen ;Melodien,'W'örter, 
die sich einmal unserem Ohre dargeböten haben, bleiben 
gleichfalls „in unserem Gedächtnis haften" ;]edeVorstellung, 
die wir einmal infolge der Tätigkeit unserer Sinnesorgane 
und besonderer äußerer Anlässe als Wahrnehmungsvor- 
stellung gehabt haben, kann später, auch ohne Mitwirkung 
der Sinnesorgane und ohne daß die äußeren Anlässe vor^ 
liegen — als „Erinnerungsvorstellung" — wieder auf- 
tauchen. Und ganz Analoges begibt sich auf dem Gebiete 
— nicht nur der bloßen Vorstellungen, sondern auch auf 
dem — der Gedanken, des Wissens, des Uberzeugtseins. 
Wer sich den Satz von der Winkelsumme im Dreieck 
einmal abgeleitet hat, der weiß ihn dann (= vermag ihn 
zu denken, zu reproduzieren), auch ohne daß er die Ab- 
leitung jedesmal wiederholt. Und wer etwa gelegentlich 
einer Bergpartie die Bemerkung macht, daß es unter nor- 
malen Verhältnissen durchaus nicht gefährlich ist, einen 



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54 I- Teil. Allgemeine Psychologie. 

Gletscher zu überschreiton, dem wird dieses Wissen ab 
und zu wieder gegenwärtig auch während er zu Hause 
sitzt und auch ohne daß er gerade jener Bergpartie ge- 
denkt. Im allgemeinen also kann man sagen: (Wahr- 
nehmungs-)Vorstellungen und Urteile, deren erstmaliges 
Eintreten von Bedingungen abhängig ist, die gänzlich 
außerhalb unseres Ich liegen, kehren, wenn sie nur 
erst einmal wirklich eingetreten sind, sehr häufig auch 
dann wieder ins Bewußtsein zurück, wenn jene äußeren 
Bedingungen durchaus fehlen. 

Diese Tatsache fordert offenbar eine Erklärung, und 
es sind im wesentlichen zwei Hypothesen, die sich als 
solche zur Verfügung stellen. 

Die eine — sie geht in ihrer prägnantesten Form 
auf Herbart zurück — erklärt das Wiederauftauchen von 
Vorstellungen trotz Abwesenheit der äußeren Bedingungen 
dadurch, daß sie annimmt, jede Vorstellung, die nur über- 
haupt einmal entstanden (in das Bewußtsein gekommen) 
ist, bleibe dann dauernd bestehen, nur eben nicht über, 
sondern gleichsam unter der Schwelle des Bewußtseins; 
durch andere nachrückende Vorstellungen etwa aus 
dem Bewußtsein verdrängt, verliere sie nicht überhaupt 
ihre Existenz, sondern bleibe fortbestehen, im wesent- 
lichen sogar in unveränderter Gestalt, nur eben als „un- 
bewußte Vorstellung". Unter entsprechend günstigen 
Bedingungen vermag dann eine solche Vorstellung wieder 
die Schwelle des Bewußtseins zu überschreiten, bewußt 
zu werden: die Vorstellung wird reproduziert. 

Nach der andern Hypothese dagegen hören die Vor- 
stellungen im allgemeinen wirklich auf zu sein, wenn sie 
aus dem Bewußtsein entschwinden. Doch lassen sie in 
dem (physischen oder psychischen) Organismus des Indi- 
viduums, dem sie angehört haben, eine Veränderung zu- 
rück, derzufolge sie dann auch durch andere als durch 
die ursprünglichen äußeren Anlässe, etwa durch innere, 
in dem Individuum hervorgerufen werden können. Diese 
Veränderung müßte in einer Modifikation der psychischen 
Elementarorgane (Umlagerung der Gehirnmoleküle oder 
etwas ähnlichem) bestehen, also zur Entstehung von etwas 
Neuem innerhalb des Individuums führen, das als Teil^ 
Ursache beim Reproduzieren der Vorstellung mitwirkt. 



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3. Kapitel. Seele, Ich und üiibewiifiteB. 55 

.Wenn sich so durch das erstmalige Eintreten der Vorstel- 
lung (als .WahrnehmungsTorstellung) dieses als Teilursache 
wirksame Neue im Individuum gebildet, wenn, wie man 
häufig sagt, die Vorstellung ihre Spur im Individuum 
zurückgelassen hat, dann eignet diesem die Fähigkeit, die 
Vorstellung wieder hervorzurufen, es hat die Disposition 
zum Beproduzieren der Vorstellung, es hat die Vorstellung 
im Gedächtnis, weil es nun jene „Spur'', die reale „Dis- 
positionsgnmdlage'' besitzt. Also nicht die Vorstellung 
selbst bleibt nach dieser Auffassung im Individuum auf- 
bewahrt, sondern es erwirbt durch das erstmalige Vor- 
handensein der Vorstellung lediglich eine Disposition 
(Fähigkeit), die Vorstellung wieder hervorzurufen, indem 
sich durch dieses erstmalige Vorhandensein der Vorstellung 
eine eigene Dispositionsgrundlage erzeugt hat. 

[Welcher von den beiden Auffassungen sollen wir 
nun folgen ? An nnd für sich ist die eine so gut denkbar 
wie die andere, und zur Erfahrung stimmen sie im all- 
gemeinen gleichfalls beide. Eine Entscheidung ist also 
in der Hauptsache nur vom methodologischen Gesichts- 
punkte aus zu treffen. Und da erscheint die zweite der 
beiden Hypothesen als die günstigere. 

Dies aus folgenden Gründen. [Wenn wir das Auf- 
tauchen von Erinnerungsvorstellungen auf Dispositionen 
zurückführen, die durch das Eintreten der Wahmehmungs- 
vorstellungen erworben, ihrer Natur nach aber etwas wesent- 
lich anderes als wiederum nur die, wenn auch unbewußt 
gewordenen, Vorstellungen selbst sind, so rücken wir da- 
durch diese psychische Leistung in nächste Analogie zu 
zahlreichen anderen psychischen Leistungen, zu deren 
theoretischer Behandlung die Annahme eigener, von der 
Leistung selbst verschiedener, realer Dispositionsgrund- 
lagen unerläßlich ist. Man denke beispielshalber an die 
bekannte Aufgabe, die Berührung zweier auf die Haut 
aufgesetzter Zirkelspitzen als Berührung zweier Punkte 
zu erkennen ; ist die Distanz der Zirkelspitzen zu gering, 
so erscheint die Berührung nicht als eine doppelte, son- 
dern als eine einfache. Oder an die Aufgabe, von zwei nach- 
einander vorgezeigten Farben, die entweder gleich oder 
nur sehr wenig verschieden sind, zu erkennen, ob sie gleich 
oder verschieden sind. Die Leistung, die durch solche 

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56 !• TeiL Allgemeine Psychologie, 

Aufgaben gefordert ,wird, ist immer ein richtiges Ver- 
gleichungsurteil. Diese Leistung gelingt einmal, ein 
anderes Mal gelingt sie nicht, oder weniger sicher. Das 
-Individuum, dem sie gelingen soll, muß etwas dazu mit- 
bringen; es muß die Fähigkeit, die Disposition dazu be- 
sitzen, d. h. es muß etwas an oder in sich haben, was 
als ausreichende Teilursache zum Zustandekommen der 
Leistung vom Lidividuum beigestellt wird: die reale 
Dispositionsgrundlage. Diese ist keineswegs mit dem 
wenn auch unbewußten Vergleichungsurteil identisch, 
sondern etwas ganz anderes, aber gleichfalls etwas Wirk- 
liches, das im Verhältnis der Ursache zur Wirkung 
steht. Der Laie begnügt sieh damit, einfach das Gehirn 
als diese Dispositionsgrundlage zu betrachten, und im 
Eohen trifft er dabei gewiß mit der wissenschaftlichen 
Auffassung des Falles zusammen. Dann bedient sich diese 
genau der gleichen Gedankengänge, die auch schon die 
zweite der beiden oben auseinander gehaltenen Gedächtnis- 
hypothesen ausmachen. — Aber es sind weitaus nicht 
nur solch nebensächliche Einzelfälle, bei deren theore- 
tischer Behandlung diese Gedankengänge zur Geltung 
kommen. Im Gegenteil, sie gelten geradezu für alles, was 
wir sonst noch an geistigen Leistungen, ja an psychischem 
Geschehen überhaupt vorfinden. Wenn wir von irgend 
welchen Leistungen des Intellektes sprechen, von Schärfe, 
Witz und Klugheit, von rascher Entschlossenheit und 
Festigkeit des WoUens, von Sanftmut, Weichheit oder 
Härte des Gemüts, kurz von beliebig welchen Fähigkeiten 
und Eigenschaften unseres psychischen Wesens, stets liegt 
darin, daß wir bestimmte Äußerungen dieses Wesens als 
Leistungen betrachten, die durch irgend welche ihm zu- 
gehörige reale Teile — die jeweiligen Dispositionsgrund- 
lagen — verursacht sind. AU diese mannigfaltigen Äuße- 
rungen des psychischen Lebens — und es bliebe neben 
ihnen nur noch die Vorstellungsreproduktion übrig — 
ordnen sich notwendig nach dem Grundgedanken der 
zweiten jener beiden Hypothesen; der der ersten ist auf 
sie schlechtweg unanwendbar: was sollte es denn heißen, 
daß der Entschluß, oder gar die Festigkeit desselben, oder 
der kluge Ausspruch schon früher stets, bevor sie zu be- 
wußte Wirklichkeit gelangt sind, im Individuum aktuell, 

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3. Kapitel« Seele, Ich und Ünt)ewiißte8. 57 

aber unbewußt vorhanden gewesen wären ? Nicht der Ent* 
Schluß selbst war vorhanden, sondern nur die Fähigkeit, 
ihn gegebenen Falles zu fassen ; und diese Fähigkeit liegt 
in nichts anderem, als in einer bestimmten Beschaffenheit 
unseres (psychischen, physischen) Wesens. 

Verstehen wir also das Wiederauftauchen der Vor- 
stellungen in der Erinnerung nach der zweiten (der Dis- 
positions-)Hypothese, so fassen wir es einfach als spe- 
ziellen Fall einer auch für das ganze übrige psychische, 
ja selbst für das organisch-physische Leben unentbehr- 
lichen allgemeinen Hilfshypothese auf; und wir werden 
um so mehr berechtigt sein, dies zu tun, als die Gesetze 
der Dispösitionsveränderung (der Übung, Ermüdung usw.) 
im allgemeinen hier und dort die gleichen sind. 

Verstehen wir es dagegen nach der ersten (der Un- 
bewußtheits-)Hypothese, so statuieren wir damit, je nach- 
dem wir die Hypothese meinen, entweder etwas ganz 
Neues, Eigenartiges, dem im übrigen psychischen Leben 
jedes Analogon fehlt, zudem noch durchaus Unbestimmtes ; 
oder etwas, das sich in bescheidenem Ausmaß zwar auch 
sonst im psychischen Leben antreffen läßt, dies aber in 
einer Art und Beschaffenheit, zu der es doch wieder nicht 
genügend paßt. 

Um mit der zweiten der beiden Möglichkeiten zu 
beginnen, so sei dazu an Vorkommnisse von etwa folgender 
Art erinnert. 

An dauernde Sinneseindrücke gewöhnen wir uns bald 
so sehr, daß sie uns, wenn wir ihnen nicht ausdrücklich 
unsere Aufmerksamkeit zuwenden, völlig entgehen. Die 
beständigen Berührungs- und Druckempfindungen, die 
von unseren Kleidern herrühren, sind für uns so gut 
wie nicht vorhanden. Das anfangs manchmal störende 
Stampfen der Maschine eines Dampfschiffes „hört" man 
schon ' nach einer Stunde der Seefahrt nicht mehr ; der 
Städter ist an den Straßeulärm durchaus gewöhnt, geradeso 
wie bekanntlich auch der Müller das Geklapper seiner 
Mühle „nicht mehr hört", jedoch sofort darauf aufmerk- 
sam wird, wenn die Mühle plötzlich stille steht. — Was 
in diesen Fällen die Dauer, das bewirkt in anderen die zu 
geringe Starke des Eindruckes, Es kommt gewiß höchst 
selten vor, daß man das Ticken der Taschenuhr wahr- 

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68 I- T®^* Allgemeine FsychDlogie. 

nimmt, die eine Person, mit der man eben spricht, bei 
sich hat, obwohl es in der E^el mit genügender Stärke 
ans Qhr dringt; freilich kann es auch einmal so schwach 
sein, daß selbst die gespannteste Aufmerksamkeit seiner 
nicht mehr gewahr wird. — Schließlich können auch 
recht starke Eindrücke für das Bewußtsein völlig unter- 
gehn, wenn es nur genügend intensiv mit andern Gegen- 
ständen beschäftigt ist. In seine Arbeit ganz versunken 
überhört der Denker den Stundenschlag der Uhr und die 
Anrede des eintretenden Hausgenossen. 

Das sind lauter Fälle, in denen man mit Eecht von 
unbewußten (Wahrnehmungs-)Vorstellungen spre- 
chen kann. Allerdings lassen sie vorerst immer noch 
zweierlei Auffassung zu. Wir können uns nämlich 
denken, daß der äußere Sinnesreiz auf das Sinnes- 
organ einwirkt, etwa auch die normalen physiologischen 
Vorgänge im Sinnesnerven bis hin an einen gewissen 
Punkt des Zentralorgans auslöst, eine Empfindung her- 
vorzurufen dagegen nicht vermag, weil die Aufmerk- 
samkeit abgewendet ist. Wir können uns aber auch 
denken, daß in solchen Fällen, was die Funktion der 
Sinnesorgane anlangt, alles genau so verläuft, wie unter 
normalen Verhältnissen, im besonderen, daß auch die 
Sinnesempfindung ganz wie gewöhnlich eintritt, daß aber 
jener eigene psychische Akt ausbleibt, der zu jeder Empfin- 
dung, ja Vorstellung überhaupt noch hinzutreten muß, 
damit wir uns der Vorstellung oder dessen, was sie uns 
zur Vorstellung bringt, bewußt werden. 

Die erste der beiden Auffassungen hat zwar bereits 
sehr namhafte Vertretung gefunden^); indessen ist der 
Vorzug größerer Einfachheit und Natürlichkeit, auf den 
sie sich hauptsächlich stützt, nur Schein. Denn die zweite 
bedient sich des Hypothetischen keineswegs in weiterem 
Ausmaß, sie ist vielmehr imstande, das Ganze der Er- 
fahrung einheitlicher zu umfassen. Man möge dazu fol- 
gendes bedenken. 

Wie die Erfahrung lehrt, lassen sich unbewußte Wahr- 
nehmungsvorstellungen der geschilderten Art innerhalb kur- 



*) Vffl. dazu besonders: G. E. Müller, Zur Theorie der sinn- 
lichen Aufmerksamkeit. Diss., Leipzig (1878). 



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8. Kapitel. Seele, Ich und ünbewafites. 69 

zer Zeit nach ihrem Eintreten in der Erinnerung zurück- 
rufen. D^rDenker wird vielleicht erst beim letzten Schlag der 
Uhr darauf aufmerksam, daß sie schlägt ; er vermag trotz- 
dem bisweilen noch nachträglich die bereits verklungenen 
Schläge, die er eigentlich nicht „gehört" hat, richtig zu 
zählen. Will man dabei bleiben, daß die ührschläge wirk- 
lich keine Gehörempfindung hervorgerufen haben, so muß 
man, um das nachträgliche Zählen zu erklären, wieder 
zu weiteren hypothetischen Annahmen seine Zuflucht 
nehmen. Denkt man aber die Sache so, daß die Gehör- 
empfindungen wie jedesmal, wenn Schallwellen auf das 
normale Sinnesorgan eindringen, zustande gekommen, und 
daß sie nur in der Fülle der gleichzeitig vorhandenen 
anderen Vorstellungen (und psychischen Tatsachen über- 
haupt) nicht beachtet worden sind, so ist es ganz natür- 
lich, daß der eben erlebte psychische Gesamtzustand in 
der Erinnerung nochmals vergegenwärtigt und dabei die 
früher gleichsam überseheneo Gehörsempfindungen in ihm 
herausgefunden, bemerkt werden können. Es geht im 
wesentlichen nicht viel anders dabei zu, als wenn beim 
Hören eines zusammengesetzten Klanges einer der Ober- 
töne zunächst wie nicht vorhanden scheint, und erst bei 
besonderer Richtung der Aufmerksamkeit hervortritt 1): 
die bloße Empfindung des Obertones war wohl von An- 
fang da, nur bemerkt oder beachtet ist sie nicht worden. 
Auch folgender Versuch spricht für diese Auffassung 
der Sachlage. Schlägt man eine Stimmgabel leise an 
und läßt sie vor dem Ohr verklingen, so kommt es nach 
und nach zu einem Augenblick, in dem man meint, 
den Ton gerade nicht mehr zu vernehmen. Entfernt man 
in diesem Augenblicke rasch die Gabel, so wird man oft 
gewahr, daß jetzt erst „Stille" eingetreten ist und vorher 
die Tonempfindung, wenn auch ganz schwach und eben 
deshalb verkannt, dennoch vorhanden war. Der auffallende 
Kontrast zwischen dem psychischen Gesamtzustande von 
vorher und von jetzt ist es, der uns auf indirektem Wege 
zu dieser Erkenntnis führt. Und daß er uns dabei nicht 
etwa tauscht, das zeigt sich darin, daß, wenn die Gabel 

*) Vgl. dazu die späteren Außfuhrungen über Klänge und Ober- 
tone, femer über Klanganalyse und psychische Analyse überhaupt. 
(SicQie Sachregister!) 

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60 I* ^e^ Allgemeine Psychologie. 

nun noch einmal genügend rasch ans Ohr gebracht wird, 
es sich recht oft ergibt, daß man den Ton von neuem hört. 

Also sehen wir, daß eine wenn auch noch so voll 
entwickelte und normale Empfindung oder Vorstellung 
(ja psychische Tatsache überhaupt) durchaus nicht eins 
ist mit dem Wissen von ihrem jeweils gegenwärtigen 
Vorhandensein. Man kann eine — im übrigen ganz nor- 
male — Empfindung haben, ohne davon zu wissen. Das 
ist dann eben eine „unbewußte'' Empfindung. Soll sie 
bewußt werden, so muß noch ein weiterer psychischer 
Akt hinzukommen, einer, der sich in den meisten Fällen 
allerdings ganz unmittelbar und gleichsam von selbst an 
die Empfindung anschließt, der aber eben doch nicht mit 
ihr identisch, sondern etwas Eigenes, Neues ist: das Be- 
merken, Erkennen, Wissen. Das Wissen ist ja seiner 
Natur nach etwas anderes als das bloße Vorstellen i), es 
ist ein psychischer Akt eigener Art, und das gilt natürlich 
auch von jenem Wissen, in welchem wir jeweils ganz 
unmittelbar um das Vorhandensein der jedesmal gegen- 
wärtigen Empfindungen, Vorstellungen usw. wissen.^) 

So gewinnt der Gegensatz „bewußte — unbewußte 
psychische Tatsachen" seine natürlichste und in der Er- 
fahrung bestbegründete Bedeutung. Unbewußte psychische 
Tatsachen sind an und für sich psychische Tatsachen 
von im allgemeinen ganz derselben Art wie die bewußten ; 
auch ist ihr Dasein im Individuum ganz genau dasselbe 
wie das dieser. Nur kommt ihr Dasein aus irgend welchen 
Gründen dem Individuum nicht zur Erkenntnis, es schließt 
sich also nicht jener zweite psychische Akt des Wissens 
an sie an, der jene andern, indem er sich ihnen zuwendet, 
zu bewußten, vielleicht besser gewußten oder bemerkten 
psychischen Tatsachen macht. (Brentano, 1874; Höfler, 
1897.) 

Der Ausdruck „Bewußtsein" erfährt dadurch eine 
auch in seinem gewöhnlichen Gebrauch schon vorgegebene 
Bedeutungsunterscheidung. Das Bewußtsein eines Indivi- 
duums ist zunächst einmal die Gesamtheit der ihm zu- 
gehörigen psychischen Tatsachen; in diesem Sinne wird 

^) Siehe dazu das Nähere im folgenden Kapitel. 
') Siehe dazn auch die Ausführongen über die Natur der 
inneren Wahrnehmung (Sachregister!). 



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8. Kapitel« Seele, Ich und Unbewußtes, 61 

das Wort am Miifigsteii Yerwendet. In engerer Bedeutung 
ist es aber auch das Wissen um das Vorhandensein aller 
oder eines Teiles dieser psychischen Tatsachen, ja über- 
haupt das Wissen um alle die psychischen und auch phy- 
sischen Gegenstände, an die das Individuum eben denkt, 
deren es sich sonach gerade bewußt ist. Die eigenen psy- 
chischen Tatsachen, deren es sich so bewußt ist, sind 
seine — in diesem Sinne — bewußten psychischen Tat- 
sachen; die, deren es sich etwa nicht bewußt ist, sind 
dann die unbewußten. Beide zusammen gehören zum Be- 
wußtsein des Individuums, das Wort in jener ersten, 
weiteren Bedeutung genommen ; die bewußten psychischen 
Tatsachen aber haben noch ein Bewußtsein im engeren 
Sinne, ein Bewußtsein, das hier besser als „Bewußtheit" 
zu bezeichnen wäre. Und diese Bewußtheit geht den un- 
bewußten psychischen Tatsachen ab, obwohl sie sonst im 
allgemeinen genau dasselbe sind, wie die bewußten, und 
dem Bewußtsein des Individuums (das Wort im weiteren 
Sinne genommen) genau wie jene angehören. — 

Unbewußte psychische Tatsachen von irgend welcher 
anderen Art anzunehmen, liegt gar keine Veranlassung 
vor. Es gibt keine psychologische Erfahrung, die es 
forderte. Es ließe sich aber auch über Natur und Be- 
schaffenheit solcher anderer unbewußter psychischer Tat- 
sachen nicht das geringste Positive aussagen, der Begriff 
hätte lediglich einen negativen Inhalt. 

Man wird daher kaum dazu geneigt sein, die Auf- 
bewahrung der Vorstellungen im Gedächtnis auf solches 
besonderes, noch dazu seiner Natur nach gänzlich unbe- 
stimmtes Unbewußtes zurückzuführen; es wäre das eine 
durchaus unbegründete, nur ad hoc aufgestellte Hypo- 
these ohne alle Berechtigung. 

Aber auch in jenen wirklich anzuerkennenden un- 
bewußten psychischen Tatsachen, wie wir sie eben be- 
schrieben und definiert haben, wird man nun nicht mehr 
gern das Wesen des Gedächtnisses erblicken wollen. Das 
Auftauchen einer Vorstellung in der Erinnerung hat durch- 
aus nicht die Merkmale, die sich am Vorgange des Be- 
merkens (Bewußtwerdens) einer bereits aktuell vorhan- 
denen, jedoch vorerst noch unbewußten Vorstellung zeigen. 
Es müßte femer die Zahl der gleichzeitig aktuell vor- 

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62 ^< ^0^^ Allgemeine Psychologie. 

handenen, wenn auch unbewuJBten Vorstellungen im Laufe 
eines Lebens auch bei nur tnittleren Gedächtnisfähigkeiten 
nach und nach eine so große werden, daß wir sie mit 
unseren Erfahrungen über die Grenzen der Kräfte unseres 
psychischen Wesens kaum vereinbaren könnten ; denn alle 
die Vorstellungen, die wir im Gedächtnis haben, müßten 
nach dieser Auffassung immerwährend und gleichzeitig 
aktuell vorhanden sein. Und schließlich könnte die offen- 
kundige Gleichartigkeit des Gedächtnisses für Gedanken 
(Wissen, Erkenntnisse, Urteile), wie es zuvor durch Bei- 
spiele belegt worden ist (S. 53 f.), mit dem für bloße Vor- 
stellungen bei dieser Auffassung nicht zum Ausdruck 
kommen; denn daß nicht nur die Vorstellungen, sondern 
auch all unser Wissen, über das wir dank unserem Ge- 
dächtnisse verfügen, jederzeit aktuell^ wenn auch unbe- 
merkt in uns gegenwärtig sein sollte, das wäre doch schon 
eine abenteuerliche Annahme. Gedächtniswissen ist offen- 
bar ein Wissen, das wir dispositionell besitzen; das 
heißt, solange wir die Gedanken nicht aktuell in uns 
auslösen, in denen wir das Gewußte denken, solange wir 
uns also das Gewußte nicht ausdrücklich in Erinnerung 
rufen, sind diese Gedanken überhaupt gar nicht vorhan- 
den. Das wissende Individuum besitzt dann nur gewisse 
relativ dauernde „Spuren" oder „Eindrücke" in seinem 
Wesen — wir wollen lieber sagen, reale „Dispositions- 
grundlagen" — , die eine Teil Ursache, die, wenn die 
andere Teilursache, der „Erreger" der Disposition, noch 
hinzukommt, zur Auslösung des aktuellen Gedankens des 
Erinnerungswissens führt. 

So läßt sich schließlich alles, was Gedächtnistatsache 
ist, weitaus am leichtesten unter dispositionstheoretischem 
Gesichtspunkte verstehen. Gedächtnis ist der Inbegriff 
der Dispositionen (Fähigkeiten) eines Individuums, die es 
in den Stand setzen, Vorstellungen und Gedanken zu re- 
produzieren. Das ist die allgemeine Wesensbestimmung 
des Gedächtnisses, wie sie sich uns aus den vorstehenden 
Erwägungen ergibt; und so wenig sie an sich besagen 
mag, 60 ist sie doch von Bedeutung einmal gegenüber dem 
Versuch, das Gedächtnis auf unbewußte Vorstellungen zu 
gründen, und dann, weil sie das Gedächtnis zu nichts 
anderem macht als zu einer besonderen Art der psychi- 

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3. Zapitel. Seele, Ich und Unbewußtes. 63 

sehen Dispositionen überhaupt, die ja auch sonst noch 
im psychischen Leben und im Wesen des Individuums 
eine so große Eolle spielen, und die ihrerseits dadurch 
eine wiUtommene Charakteristik erfahren. Haben wir 
das Wesen der psychischen Dispositionen (Fähigkeiten) 
an dieser einen, besonders hervorragenden Art erkannt, 
so wird es uns ein Leichtes sein, indem wir wieder zu 
unsOTor Ausgangsfrage — über die Natur des Ich — zu- 
rückkehren, zu ermessen, was aus der Tatsache des Ge- 
gebenseins von psychischen Dispositionen für diese 
Erage folgt. 

5. Das Wesen des Ich. 

Das Ich ist der Träger der Dispositionen; man 
sagt ganz klar und richtig: ich habe die Fähigkeit, zu 
unterscheiden, mich zu erinnern, ich habe Mut, Entschlos- 
senheit, und ähnliches. Das, was das Ich dabei von den 
Dispositionen Eeales, Wirkliches an sich hat, das sind 
offenbar die Dispositionsgrundlagen (die im Ich liegenden 
Teilursachen der Leistung). Diese Dispositionsgrundlagen 
müssen, da die Fähigkeiten dem Individuum relativ dauernd 
zukommen, gleichfalls etwas relativ Dauerndes, Bestehen- 
bleibendes sein. Sie können daher ganz und gar nicht 
in den jeweils aktuell vorhandenen psychischen Tatsachen 
liegen; denn diese wechseln beständig. Höchstens für die 
Fähigkeit, Empfindungen zu haben, könnten sie in dem 
bereits früher bezeichneten (S. 43) allerdings recht künst- 
lichen Sinne dafür gelten. Für alle die zahlreichen übrigen 
Dispositionen können sie als Dispositionsgrundlagen nicht 
in Betracht kommen ; es muß für sie etwas anderes Keales 
und Wirkliches angenommen werden, etwas, das verhält- 
nismäßig dauernde und unveränderte Existenz besitzt. 
Diese durch die Tatsachen hypothetisch geforderten, re- 
alen Dispositionsgrundlagen gehören sonach dem Ich an, 
sie sind im Ich enthalten, oder, wie wir vorbehaltlich 
späterer Ergänzung sagen können, der Verband dieser Dis- 
positionsgrundlagen macht das Ich aus. 

Nun wollen wir uns aber doch auch fragen, ob wir 
über das Wesen und die Beschaffenheit dieser Disposi- 
tionsgrundlagen etwas wissen können. Und da kommen 
wir auf folgendes. Die Dispositionsgrundlagen sind Teil- 

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64 I* ^eil* Allgemeine Psycliologie, 

Ursachen der dem Ich zugehörigen psychischen Tatsachen. 
Lassen wir für das Verhältnis zwischen Physischem und 
Psychischem die Kausalitätstheorien, besonders die Wech- 
selwirkungslehre gelten, so wissen wir sofort, was wir 
als diesen Verband der Dispositionsgrundlagen anzusehen 
haben: selbstverständlich unser Nervensystem, in erster 
Linie das Gehirn. Vom Standpunkte des psychophysischen 
Parallelismus dagegen ist das unzulässig ; denn diese Lehre 
verwirft bekanntlich das Wirken von Physischem auf 
Psychisches. Von ihrem Standpunkte aus können die Dis- 
positionsgrundlagen nur auch wiederum etwas Psychisches 
sein, und da, wie schon bemerkt, die aktuellen, psychischen 
Tatsachen der Erfahrung von dieser Rolle ausgeschlossen 
sind, so muß sie etwas Psychisches noch außerhalb der 
Erfahrung hypothetisch annehmen, etwas Psychisches, das 
relativ dauernd und beständig ist, das dann den Kern 
des Ich ausmacht und seinen psychischen Erlebnissen als 
Teilursache zugrunde liegt: eine substantielle Seele. So 
sieht sich der psychophysische Parallelismus hier neuer- 
dings von anderer Seite auf jene Hilfshypothese hinge- 
wiesen, ohne die er auch schon bei der konsequenten 
Durchführung seines Grundgedankens nicht ausgekommen 
ist^), während die ."Wechselwirkungslehre ihrer hier wie 
dort entraten kann. 

Soviel haben wir also sicher: der Verband der 
Dispositionsgrundlagen (Gehirn oder substantielle Seele) 
ist, wenn nicht alles, so doch gewiß ein wesentliches 
Stück von dem, was wir uns unter unserem Ich zu denken 
pflegen. Er kann aber nicht schon das ganze Ich aus- 
machen. Wenn man sagt: „ich denke", „ich fühle", so 
ist mit dem „ich" nicht nur die in der denkenden oder 
fühlenden Person liegende Teilursache des Gedankens 
oder des Gefühls gemeint, sondern auch noch die Tatsache 
ausgedrückt, daß der betreffende Gedanke, das Gefühl eben 
diesem Ich zugehört, von diesem Ich erlebt wird, zum 
Unterschied von andern Gedanken oder Gefühlen, von 
denen das nicht gilt. Und außerdem muß für das Ich 
schließlich noch alles das zutreffen, was wir oben (S. 52ff.) 
als Tatsachen des Ich-Bewußtseins angeführt haben. Der 



^) Siehe S. 39ff. 

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S» Käpifel« Seele, tch und ünbewufites. 65 

Verband der Dispositionsureachen aber Ist für sich allein 
nicht so ohne weiteres dazu imstande, für dies alles auf- 
zukommen. 

Zunächst das Erstgenannte: das Ich ist es, was die 
Gtedanken, Gefühle erlebt. Was ist dieses Erleben? Ein 
Grefühl, das ich erlebe, unterscheidet sich für mich von 
Gefühlen, die nicht ich, sondern ein anderer erlebt, da- 
durch, daß ich es als Gefühl innerlich wahrzunehmen 
vermag. Aber das "Wahrnehmen selbst erlebe ich ja auch 
wiederum ; und die bloße Möglichkeit des innerlich "Wahr- 
genommenwerdens kann ein reales Unterscheidungsmerk- 
mal nicht abgeben. Also ist es am natürlichsten, das 
Erleben des Gefühles, einer psychischen Tatsache über- 
haupt mit ihrem Dasein, genauer mit ihr selbst identisch 
zu nehmen. Wenn also in dem Ausdrucke „ich fühle" 
oder „ich erlebe ein Gefühl" das Ich einerseits und das 
Gefühl anderseits auseinandergehalten werden, so ist das 
insofern lediglich Sache des sprachlichen Ausdruckes, als 
das Ich wenigstens zum Teil mit dem Gefühl zusam- 
menfällt. Es kommt ihm aber doch dadurch auch eine 
sachliche Bedeutung zu, als dieses Zusammenfallen für 
jede psychische Tatsache des Ich gilt, und deshalb das 
Ich von dieser Seite her mit der Gesamtheit der ihm 
zugehörigen, besser der in innerem, realen Verbände 
stehenden psychischen Tatsachen für identisch zu nehmen 
ist; denn dadurch wird nun in dem Ausdruck „ich — fühl^" 
die Zugehörigkeit des eben vorhandenen Gefühles zu dem 
Gesamtverbande psychischer Tatsachen, der, von dieser 
Seite her betrachtet, mein Ich ausmacht, zur Darstellunjg 
gebracht. 

Wir finden i^o, daß zum Inhalt des Ich-Gedankens 
nicht nur der Verband der Dispositionsgrundlagen des 
Individuums, sondern auch noch der seiner aktuellen psy- 
chischen Tatsachen hinzugehört. 

Vom Standpunkte der Wechselwirkungslehre haben 
wir auch bis hierher noch nicht die Notwendigkeit 
empfunden, die Eilfshypothese der substantiellen Seele 
anzunehmen; und auch der psychophysische Parallelis- 
mus, der diese Hilfshypothese schon vpn früher her zur 
Verfügung hätte, wird gut daran tun, die Zugehörigkeit 
der psychischen Tatsachen zum Ich doch auch im eben 

Wita8«k, amndlinien der Psychologie. 5 

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68 I. Teil. Allgemeine Psychologie. , 

entwickelten Sinne zu verstehen, also auch seinerseits den 
Verband der aktuellen, psychischen Tatsachen des Indi- 
viduums mit in die Bestimmung des Gegenstandes Ich 
hineinzunehmen. 

"Wie steht es nun aber mit jenen „Tatsachen des 
Ich-Bewußtseins", die wir schon eingangs dieser Unter- 
suchung (S. 52) zu verzeichnen hatten? Mit jenen dl- 
gemeinen Eigenschaften unseres Ich, die wir aus 
unserem Wesen ganz anmittelbar erkennen zu können 
glauben ? 

Da ist nun gewiß richtig, daß sie, zum größeren 
Teile wenigstens, am einfachsten auf eine substantielle 
Seele zu beziehen sind; wenn es dabei auch durchaus 
nicht so glatt abgeht, als es auf den ersten Blick zu 
gehen scheint, und außerdem noch aufzuklären wäre, auf 
welchem "Wege wir zur unmittelbaren Erkenntnis von 
Eigenschaften der substantiellen Seele kommen, da sie doch 
ganz außerhalb unserer Erfahrung liegt. Es ist aber nicht 
unbedingt nötig, zum Verständnis dieser Tatsachen des 
Ich-Bewußtseins auf eine substantielle Seele zurückzu- 
gehen ; wie sie zustande kommen, bleibt begreiflich, auch 
wenn das Ich nichts anderes ist als der Verband der 
Dispositionsgrundlagen zusammen mit dem der aktuellen 
psychischen Tatsachen des Individuums. 

Der erste der dort genannten Punkte, die Zugehörig- 
keit einer jeden psychischen Tatsache zu einem Ich, ist 
auf diese Voraussetzungen hin bereits im Vorstehenden 
geklärt. Die Zugehörigkeit ist darnach eine zweifache. Sie 
ist einmal dadurch gegeben, daß die psychischen Tat- 
sachen in den Dispositionsgrundlagen ihre Teilursachen 
haben, und die Gesamtheit der Dispositionsgrundlagen 
einen wesentlichen Bestandteil des Ich ausmacht; und 
dann noch dadurch, daß die psychischen Tatsachen in 
ihrer Gesamtheit selbst auch wieder identisch sind mit 
einer allerdings andern Seite unseres Ich. — Als nahe- 
liegende Folge dieser Auffassung ergibt sich femer die 
unüberbrückbare Abgrenzung und Scheidung der einzelnen 
Individuen g^eneinander, von welcher dort an vierter 
Stelle die Bede war. 

Da weiter, wie gesagt, der Verband der psychischen 
Tatsachen mit einem Stück des Ich identisch ist, somit 



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3. Kapitel. Seele« Ich und Unbewufitei, 67 

das Gleiche auch für jede einzelne von ihnen gilt, so 
kann man in diesem Sinn mit Yollem Becht behaupten, 
daß wir unser Ich in jeder unserer psychischen Tatsachen 
gleichsam miterleben. 

Die Einheit des Bewußtseins, die dort an zweiter 
Stelle angeführt erscheint, darf natürlich niemals für Ein- 
fachheit genommen werden. Das Bewußtsein ist fast 
immer von einer sehr großen Zahl verschiedener psy- 
chischer Tatsachen ausgemacht. Daß diese Vielheit immer- 
hin £u einer Einheit zusammengefaßt erscheint, wird aus 
der Annahme einer substantiellen Seele durchaus nicht 
am besten klar. Viel befriedigender ist es, diese Einheit 
auf Grund ihrer erfahrungsmäßigen Beschaffenheit zu er- 
klären. Und da findet sich folgendes. Erstens stehen die 
das Bewußtsein eines Individuums jeweils ausmachenden 
psychischen Tatsachen in einer so zu nennenden funktio- 
nellen Einheit; d. h. das Entstehen, Beharren und Ver- 
gehen einzelner psychischer Tatsachen und Tätigkeiten 
des Bewußtseins ist teilweise abhängig vom Entstehen, 
Beharren und Vergehen anderer psychischer Tatsachen 
und Tätigkeiten desselben Bewußtseins. "Während ich 
z. B. eine Rechenoperation ausführe, ist es mir nicht 
möglich, gleichzeitig auch die einzelnen Stimmen einer 
polyphonen Musik zu verfolgen; oder das Gefühl der 
Entriästung über eine verwerfliche Handlung kann nur 
so lange aktuell gegenwärtig sein wie der Gedanke an diese 
Handlung. — Zweitens bilden die in dem Bewußtsein 
eines Individuums enthaltenen psychischen Tatsachen in- 
sofern eine Einheit, als sie alle dem etwaigen Bemerkt- 
werden durch dieses eine Individuum unterworfen sind; 
sie können, natürlich nur sukzessive, alle nur einem 
Individuum bewußt werden (das Wort „bewußt" im 
zweiten, engeren Sinne genonmien). — Ein Drittes, das 
gleichfalls als Einheit des Bewußtseins hingestellt zu 
werden pflegt, liegt darin, daß in der großen Menge 
dessen, was jeweils unser Bewußtsein ausfüllt, es immer 
nur „ein" Gegenstand ist, auf den sich eben unsere Auf- 
merksamkeit richtet, dessen wir uns (im engeren Sinn 
des Wortes) gerade bewußt sind ; die Tatsache, die häufig; 
auch unter dem Namen der Enge des Bewußtseins geht. 
— Und schließlich ist noch daran zu erinnern, daß, wenn 

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g8 !• '^^^ AJlgemeiiie Fiychologie. 

nicht alle, so doch viele psychische Tatsachen des Be- 
wußtseins in innerer, realer Verbindung miteinander 
stehen, so daß sie eine reale, in Wirklichkeit unteilbare 
Einheit bilden. Man denke beispielshalber an die innige 
Verbindung, die zwischen der Vorstellung eines Gegen- 
standes und dem sich daran knüpfenden Gefühle besteht, 
etwa der Empfindung eines "Wohlgeruches und dem Ge- 
fühl der Annehmlichkeit, das sie hervorruft. — Diese 
vier Punkte sind alles, was die Erfahrung zeigt, wenn 
man sie nach Tatsachen befragt, die für eine Einheit des 
Bewußtseins in Anspruch genommen werden könnten. Sie 
alle aber lassen sich, das sieht man auf den ersten Blick, 
verstehen, auch ohne daß man eine substantionelle Seele 
zu Hilfe nehmen müßte. 

So bleibt nun noch die sogenannte Einfachheit des 
Ich. Daß aber diese Einfachheit, solange wir uns an 
die Erfahrung halten, unmöglich als Unzusammengesetzt- 
heit genommen werden darf, ist nach allem bisher Be- 
sprochenen gewiß. Sie kann von diesem Standpunkt aus 
nur als Unteilbarkeit verstanden werden, und zwar auch 
dies nur in dem Sinne, daß eine Teilung, deren Ergebnis 
die fortdauernde gesonderte Existenz der Teile wäre, prak- 
tisch undurchführbar ist. Und das findet in der Analyse 
des Ich, wie sie sich uns oben ergeben hat, seine ge- 
nügende Begründung. Die Behauptung einer Einfachheit 
des Ich in strengem Wortsinne ist nur auf Grund von 
außerempirischen Erwägungen, vielleicht überhaupt nur 
mehr historisch zu verstehen. Jedenfalls kommt sie für 
die erfahrungswissenschaftliche Psychologie direkt nicht 
in Betracht. 

Schließlich noch das Beharren und die Unveränder- 
lichkeit des Ich trotz stetem Wechsel der aktuellen psy- 
chischen Tatsachen. Hier ist es deutlich der Verband der 
Dispositionsgrundlagen, worauf sich diese Eigenschaft des 
Ich -Bewußtseins gründet; und wenn sich die Dispo- 
sitionen eines Individuums im Lauf der Zeiten ändern, 
so ist es zum Verständnis der Tatsache, daß die Identität 
des Individuums trotzdem gewahrt bleibt, ebensowenig not- 
wendig, eine beharrende Substanz zu postulieren, wie dies 
bei einem Ding der Außenwelt, das seine Eigenschaften 
wechselt, erfordert ist, . 



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3. Kai>it^ Seele, loh vüd UnbewiiOies. 69 

So fügen Bich alle die Tatsachen des Ich-BewoBtseins» 
soweit sie durch die Erfahrung beglaubigt sind, ganz un- 
gezwungen ein in unsere Ai:&assung des Ich, wie wir 
sie in den Gredankengängen des vorliegenden Kapitels zu 
«itwickeln versucht haben. .Wir können sie daher vor- 
läufig als gesichert ansehen und wollen schlieMch. die 
Ergebnisse zum Zweck der Übersicht noch einmal kurz 
zusammenfassen. 



6. Zusammenfassendes über Seele, Ich und 
Unbewußtes, 

Unter dem Bewußtsein eines Individuums versteht 
man zunächst die Gesamtheit der aktuellen psychischen 
Tatsachen (Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Ge- 
fühle usw.) dieses Individuums. 

Aber das Individuum muß sich nicht jeweils aller 
der aktuellen psychischen Tatsachen, die gerade sein Be- 
wußtsein ausmachen, selbst wiederum bewußt sein. Denn 
sich einer (physischen oder psychischen) Sache bewußt 
sein, heißt, um die Existenz dieser Sache wissen, an ihr 
Dasein denken. Nun gibt es aktuelle psychische Tatsachen, 
um deren Dasein (Gegebensein) das Individuum, dem sie 
angehören, obwohl sie im allgemeinen durchaus von 
gleicher Art und Beschaffenheit sind, wie alle andern 
aktuellen psychischen Tatsachen, doch nicht weiß, in 
manchen Fällen, wenn nämlich ihre Intensität die Null 
zu wenig übersteigt, überhaupt nicht wissen kann. Das 
sind dann unbemerkte oder, wie wir zu sagen pflegen, 
unbewußte psychische Tatsachen. 

Unbewußte psychische Tatsachen (Vorstellungen, 
Strebungen usw.) anderer Art anzunehmen, liegt in der 
Erfahrung gar kein Anlaß vor. 

Insbesondere ist es durchaus mißverständlich, die 
psychischen Dispositionen als unbewußte psychische Tat- 
sachen zu bezeichnen. Sie sind vielmehr nichts anderes 
als Vermögen, Fähigkeiten; und was an Wirklichem, 
Eealem zu ihnen gehört, das sind Bestandteile im (phy- 
sischen oder psychischen) Organismus des Individuums, 
die als verhältnismäßig beharrende Teilursachen beim Zu- 



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gle 



70 1. Teil. Ä%emein$ l^sychologie. 

Standekommen seiner psychischen Leistungen mitwirken, 
die Dispositionsgrundlagen. 

Die Gesamtheit der Dispositionsgrundlagen muß nach 
der Auffassung der Wechselwirkungslehre am natür- 
lichsten als mit dem Gehirn identisch angesehen werden, 
während sich der psychophysische Parallelismus um ihret- 
willen neuerdings zur Annahme einer substantiellen Seele 
gedrängt sieht, auf die ihn schon die Konsequenzen seines 
Grundgedankens an sich führen. 

Die Gesamtheit der Dispositionsgrundlagen des Indi- 
viduums macht zusammen mit der seiner aktuellen psy- 
chischen Tatsachen das aus, was wir das Ich des Indi- 
viduums nennen. 

Die Tatsache des Ich mit allen ihren Eigentümlich- 
keiten weist für sich allein nicht auf eine substantielle 
Seele zurück. Auch sonst ist die allgemeine Theorie der 
psychologischen Erfahrung von dieser Hypothese unab- 
hängig. Faßt man zudem das Verhältnis von Physischem 
zu Psychischem im Sinne der "Wechselwirkungslehre auf, 
so kann man überhaupt ganz ohne sie auskommen. Nur 
wenn man in diesem Punkte einer anderen Auffassung, also 
zunächst dem psychophysischen Parallelismus, folgt, so ist 
man in weiterer Konsequenz auf die Annahme einer noch 
neben oder hinter den der Erfahrung zugänglichen psy- 
chischen Tätsachen existierenden sutetantiellen Seele an- 
gewiesen. Allerdings ist dann auch diese Seele noch nicht 
als ein einfaches Wesen, sondern gleichfalls als etwas 
Zusammengesetztes zu denken. 

Ob die Annahme einer substantiellen Seele, zumal 
die eines solchen einfachen Wesens, sonst noch aus 
Gründen, die außerhalb der psychologischen Erfahrung 
liegen, gemacht werden muß, ist eine Frage für sich, der 
an dieser Stelle nicht vorgegriffen werden soll, da sie 
als eine metaphysische Angelegenheit mit der wissenschaft- 
lichen Psychologie nichts zu tun hat. 



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4. Kapitel. Erste Sichiung des psyoliologf« Tatflachenmateriales, 71 

4, EapiteL 

Erste Slehtang des psychologischen 
Tatsachenmateriales. 

Zur wissenschaftlichen Durchforschung des psychi- 
schen Lebens stellt es sich vor allem als notwendig 
heraus, eine wenigstens nach den Hauptzügen geordnete 
Übersicht des vorliegenden Tatsachenmaterials zu ge- 
winnen. Denn dieses Tatsachenmaterial erweist sich auf 
den ersten Anblick als ein so Mannigfaltiges und in so 
mannigfacher .Weise miteinander Verwobenes, daß es ohne 
eine solche Übersicht ganz unmöglich wäre, den ."Weg 
der Untersuchung zweckmäßig zu bestimmen. Abgesehen 
jedoch von diesem methodisch-praktischen Vorteile ergibt 
sich uns dabei auch noch die erste Orientierung über 
den Inhalt des zu bearbeitenden Gebietes. 

1. Die psychischen Grundgebilde und die 
psychischen Prozesse. 

Wenn wir den Strom des psychischen Lebens an 
uns vorüberziehen lassen und dann fragen, was wir an 
Einzelnem in ihm gesehen haben, so können wir eine 
Reihe aufzählen, in der ganz ohne Wahl etwa enthalten 
sind: Gedanken, Vorstellungen und Empfindungen, Ver- 
gleichungen, Aufmerksamkeit, Abstraktionen und Verall- 
gemeinerungen, Erinnerungen, Vorstellungsassoziationen, 
Gefühle, Interesse, Hoffnungen, Streben, Enttäuschungen, 
Freude, Wünsche, Schlüsse, Zusammenfassungen, Nach- 
sinnen, Phantasien, Wissen und vieles anderes mehr. 

Die Beihe enthält zunächst im großen Ganzen lauter 
Einzelnes, voneinander Verschiedenes. Um Ordnung in 
sie zu bringen,«inü8sen wir Verwandtes zusammenfassen, 
Verschiedenartiges sondern. Und da zeigt sich, daß vor 
allem zwei Haupttypen auseinander zu halten sind. 
Nehmen wir als Bepräsentanten auf der einen Seite etwa 
Empfindungen und Gefühle, auf der anderen Vergleichen 
und Nachsinnen, so wird die Verschiedenartigkeit deutlich. 
Die Empfindung, das Gefühl ist etwas, zu dessen allge- 
meiner Charakteristik es nicht nötig ist, verschiedene Mo- 

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79 • * I. Teil, Allgfemeine Psychologie. 

mente während der Dauer seines Daseins zu berücksich- 
tigen ; die Empfindung ist in jMem Augenblidce ihres 
Daseins mit allen ihr zukommenden .Wesensmerkmalen in 
abgeschlossener Vollständigkeit gegeben, das Gefühl ist 
gleichfalls in jedem Augenblicke seines Daseins ein ab- 
geschlossenes, vollständiges, in sich fertiges Phänomen. 
Das Vergleichen, das JN achsinnen jedoch läßt sich nur 
charakterisieren, wenn man einen gewissen zeitlichen Ver- 
lauf, eine zeitliche Entwicklung im Bewußtsein betrachtet ; 
es sind Tätigkeiten, die sich als solche in der Gestalt 
eines Geschehensablaufes darbieten und stets von einem 
Anfangsstadium aus durch eine kürzere oder längere Folge 
von Mittelfitadien zu einem Endstadium führen, das dann 
das Ziel dieser Entwicklung, der Tätigkeit, des Vorganges 
ist Nur der Komplex dieser verschiedenen Stadien in 
ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge macht das aus, was wir 
in unserem Bewußtsein vorfinden, wenn sich eine der- 
artige Tätigkeit in ihm vollzieht. Fassen wir aber die 
einzelnen, darin enthaltenen Stadien für sich ins Auge, 
so erkennen wir, daß sie ihrerseits nichts anderes sind, 
als Psychisches von jener ersten Art, also Tatsachen, 
deren Wesenheit nicht auf Veränderung beruht, sondern 
im Beharren gegeben sein kann: Vorstellungen, Urteile, 
Gefühle, Willensakte usw. Beim Vergleichen z. B. sind 
zuerst vielleicht zwei Empfindungen, etwa von zwei Tönen, 
vorhanden, dann der Wunsch, sich über ihre Gleichheit 
oder Verschiedenheit zu imterrichten, die beiden Ton- 
vorstellungen treten dann unter großer Aufmerksamkeit 
abwechselnd ein, und schließlich löst sich ein Urteil aus, 
in dem die Vorstellung eines bestimmten Verhältnisses 
zwischen den beiden Tönen enthalten und als gültig er- 
kannt ist, womit die Tätigkeit des Vergleichens ihr Ende 
erreicht Ahnlich stehen die Dinge beim Nachsinnen, beim 
Zählen, Abstrahieren, bei der Assoziatitn von Vorstel- 
lungen, beim Schließen und Folgern und bei vielem 
anderem nocL 

Das Material, aus dem sich unser Bewußtsein letzt- 
lich aufbaut, ist also streng genommen nur Psychi- 
sches von einer, nämlich der ersten Art. Es gehören 
dazu Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, 
Wünsche und ähnliches. Was immer sich in unserem 

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4. Kapitel« Ente Sichtang des psjcholog. Tatsacheninaterialei, 78 

BewoBtseiii findet, und wenn es noch so kompliziert und 
eigenartig scheint, läßt sich zuletzt auf solche Elemente 
zurückttUiren. Insbesondere ist, was sich von sogenannten 
psychischen Tätigkeiten und Vorgängen in unserem Be- 
wußtsein zeigt — soweit es sich darin zeigt — , nichts 
anderes als eine in den verschiedenen fällen allerdings 
höchst mannigfache zeitlich ausgedehnte Zusammenord- 
nung aus jenem Material. 

.Wir bezeichnen dieses Material, also das Psychische 
der ersten Art (das psychisch Seiende), als psychische 
Grundgebilde, das der zweiten Art, die zeitlich aus- 
gedehnten Zusammenordnungen (das psychische AVerden), 
als psychische Prozesse. 

Mit Bücksicht auf die geschilderte Sachlage wird 
es im speziellen Teile der Psychologie zweckmäßig sein, 
den Stoff nach den einzelnen Arten der psychischen 
Grundgebilde anzuordnen. 

2. Akt und Inhalt der psychischen Grundgebilde. 

Eine Unterscheidung, die — zum mindesten in 
gewissem Sinne — an jedem psychischen Grundgebilde 
zu vollziehen ist, ist die von Akt und Inhalt. Wir wollen 
uns diese Unterscheidung zunächst an den Vorstellungen 
klar machen. 

Wenn von verschiedenen Vorstellungen gesprochen 
wird, so sind damit gewöhnlich Vorstellungen gemeint, 
die deshalb verschieden sind, weil sie Verschiedenes zum 
Gegenstande haben. Die Vorstellung eines Wassertropfens 
ist eine andere als die einer Blume. Der Wassertropfen, 
die Blume sind nun allerdings in keiner Weise Teile der 
Vorstellung, sie sind nicht etwa irgendwie in ihr enthalten ; 
der Gegenstand einer Vorstellung liegt außerhalb ihrer 
selbst, ja er ist zumeist etwas, das, als etwas Physisches, 
überhaupt nur gänzlich außerhalb des Bewußtseins des 
Vorstellenden existiert. Insofern wäre also eigentlich gar 
nicht zu begreifen, wie es möglich ist, daß Vorstellungen 
infolge Verschiedenheit ihrer Gegenstände auch selbst ver- 
schieden sind. Aber wenn auch Vorstellung und Gegen- 
stand durchaus gesondert und zweierlei sind, jene immer 
etwas Psychisches, dieser sehr oft etwas Physisches, dei: 

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74 !• Teil. Allgememe Psychologie. 

Außenwelt Angehöriges, so kann man doch nicht sagen, 
daß feie nichts miteinander zu tun hätten. Die Vorstellung 
weist auf den Gegenstand hin, sie bringt ihn uns zu 
Bewußtsein, sie trifft oder betrifft ihn — oder wie man 
sonst jene eigentümliche Beziehung, die zwischen Vor- 
stellung und Gegenstand besteht, ausdrücken mag, jene 
Beziehung, deren erkenntnistheoretische Bedeutung eines 
der wichtigsten philosophischen Probleme, ja deren Mög- 
lichkeit an sich schon vielleicht das tiefste Rätsel birgt, 
deren Tatsächlichkeit jedoch uns allen durchaus geläufig 
und vertraut ist. Daß nun die eine Vorstellung diesen, 
die andere einen andern Gegenstand betrifft, das kommt 
daher, daß sie selbst in einer bestimmten Beziehung. ver- 
schieden beschaffen sind. iWir nennen jenen Teil der 
Beschaffenheiten einer Vorstellung, vermöge dessen sie 
einen bestimmten Gegenstand zum Bewußtsein bringt, den 
Inhalt der Vorstellung. 

Der Inhalt der Vorstellung ist also stets ein — 
freilich nicht abtrennbarer — Teil der Vorstellung 
selbst, also wie diese immer etwas Psychisches. Er ist 
wohl zu unterscheiden von dem Gegenstande der Vorstel- 
lung i), und es ist eine Frage für sich, ob und inwieweit 
das vorphilosophische Denken recht hat, wenn es, wie 
gewöhnlich, ohne weiteres annimmt, daß sie einander 
„gleichen". Die Psychologie kann sich damit b^nügen, 
festzuhalten, daß der Inhalt eben ein Teil der Vorstel- 
lung ist. 

Er ist aber nicht die ganze Vorstellung. Alle Vor- 
stellungen, auch wenn sie noch so verschiedene Inhalte 
habeji, kommen doch darin überein, daß sie eben Vor- 
stellungen sind. Sie müssen also in irgend einer Beziehung 
einander gleichen, in einer Beziehung, in der sie sich 
anderseits von allem, was nicht Vorstellung ist, unter- 
scheiden, und zwar dies nicht nur von allem Physischen, 
sondern auch von allen psychischen Gebilden, die nicht 
Vorstellungen sind, wie etwa von Urteilen, von Gefühlen. 
Am deutlichsten wird das, wenn man eine Vorstellung 

^) Siehe oben S. 5f. — Dazu Meinon^, Über Gegenstände 
höherer Ordnung . . . (Zeitschrift für Psychologie, £d. 21, 1899), und 
Twardowski, Zur Lehre von Inhalt und Gegenstand der Vor- 
steUungen, Wien, 1894. 



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4. Elapitel. Erste Siohtmig des psycholog. Tatsaohenmateriales. 78 

bestimmten Gegenstandes einem Urteil oder einem Ge- 
fühle g^enüberstellt, das sich auf den gleichen Gegen- 
stand bezieht: es sind verschiedene psychische Akte, 
die da dem gleichen Gegenstände zugewendet sind. Und 
so bezeichnen wir diese Beziehung, diese zweite Seite, 
diesen zweiten „Teil" der Vorstellung als den Vorstel- 
lungsakt — im G^ensatz zum Inhalt. 

Durch den psychischen Akt unterscheiden sich aber 
nicht nur die verschiedenen Arten psychischer Grund- 
gebilde gegeneinander, etwa Vorstellungen gegen Gefühle, 
es kommen auch innerhalb des Gebietes der Vorstellungen 
selbst schon Variationen vor, die nicht in den Inhalten, 
sondern im V'orstellungsakt begründet sind. Wenn ich 
einen Geigenton höre und ihn mir dann, nachdem er 
eben verklungen ist, innerlich nochmals vergegenwärtige, 
ihn, wie man zu sagen pflegt, in der Phantasie reprodu- 
ziere, so habe ich zuerst eine Wahmehmungsvorstellung, 
dann eine Phantasievorstellung desselben Tones ; die beiden 
Vorstellungen können in allem, was die Beschaffenheiten 
des Tones betrifft, einander noch so sehr und bis ins 
Kleinste gleichen — und doch sind sie auf den ersten 
Anblick höchst deutlich voneinander zu unterscheiden. 
Die Verschiedenheit liegt nicht etwa darin, daß die Phan- 
tasievorstellung schwach, die Wahrnehmungsvorstellung 
stark wäre; denn es ist sehr leicht möglich, auch in 
der Phantasie die verschiedensten Intensitätsgrade des 
Tones nachzubilden, und man wird durch Intensitäts- 
ßteigerung, auch wenn man sie noch so weit treibt, kaum 
jemals eine Phantasievorstellung dem Charakter einer 
Wahrnehmungsvorstellung auch nur annähern können. 
Diö Verschiedenheit zwischen beiden ist keine Ver- 
schiedenheit des Inhalts, auch nicht der Intensität, son- 
dern sie betrifft die Qualität des Vorstellungsaktes. 

Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei noch folgen- 
des ausdrücklich betont. Die Unterscheidung von Akt 
und Inhalt ist keinesw^s im Sinne von gegeneinander 
abtrennbaren selbständigen Teilen zu denken. Es kann 
keinen Akt ohne Inhalt, keinen Inhalt ohne Akt geben. 
Ja, eine wirkliche Trennung ist nicht einmal auch nur 
in Gedanken zu vollziehen. Es ist nur eine Unterscheidung 
von verschiedenen Seiten an einem unteilbaren Ganzen, 

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76 L Teil. Allgemeine Psychologie. * * 

etwa so gemeint, wie es sich bei Farbe und Ausdehnunjg 
an einer Fläche, oder bei Geschwindigkeit und Richtung 
an einer Bewegung yerhält. In diesem Sinne — in dem 
übrigens auch eine Übertragung auf den zugeordneten Ge- 
himvorgang ganz gut denkbar ist — behält die Unter- 
scheidung ihren theoretischen Wert, ohne daß sie den 
herkömmlichen Bedenken ausgesetzt ist, auf Grund welcher 
sie bisher von mancher Seite Ablehnung erfahren hat 

Die Unterscheidung von Akt und Inhalt gilt nicht 
nur für die Vorstellungen aller Axt, sondern auch für 
alle andern psychischen Grundgebilde, z. B. Gefühle, 
.Wünsche; doch ist es bei diesen immerhin zweifelhaft, 
ob ihnen das inhaltliche Moment nicht vielleicht nur in- 
direkt zukommt, nämlich von der Vorstellung her, mit 
der sie stets verbunden sein müssen. 

3. Die allgemeinsten Arten der psychischen 
Grundgebilde. 

Schon gelegentlich der Sonderung der Grundgebilde 
gegen die psychischen Prozesse sind wir einer Menge 
von verschiedenerlei Psychischem der ersten Art begegnet. 
Es handelt sich nun darum, Ordnung in dieses Vielerlei 
zu bringen; das heißt also, die psychischen Grundgebilde 
nach Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten in Klassen zu 
verteilen. 

Halten wir uns zu diesem Zwecke wieder eine zu- 
nächst ganz willkürlich zusammengestellte Eeihe vor 
Augen — z. B. : Hoffnung, Erinnerung, Gedanke, Kum- 
mer, Freude, Urteil, Farbenempfindung, Zweifel, Sehn- 
sucht, Zahlvorstellung, Wunsch — , und vergleichen "wir 
die genannten Grundgebilde auf ihre Zusammengehörig- 
keiten, so drängt sich uns vor allem eine auch dem außer- 
wissenschafüichen Denken geläufige Zweiteilung auf, der 
sich die einzelnen Glieder der Eeihe ungemein leicht ein- 
ordnen lassen: Intellektuelle und emotionale Grund- 
gebilde, oder zu deutsch, solche die dem Geistes-, und 
solche, die dem Gemütsleben angehören. Jene sind in 
unserer Eeihe durch Erinnerung, Gr^ianke, Urteil, Empfin- 
dung, Zweifel, Vorstellung, diese durch Hoffnung, Kum- 
mer, Freude, Sehnsucht, Wunsch vertreten. Eine noch 



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i. Kapitel. Ente ffiohtimg des psycholog. Tatsaobenmateriales, 77 

allgemeinere Zusammenfassung ist nicht mehr möglich. 
Wir stellen daher die Grundgebilde des Geistes- und des 
G^mütslebens als die zwei Hauptklassen einander gegen- 
über. 

Ist es nun nicht möglich, auch noch innerhalb dieser 
Hauptklassen Artunterschiede zu machen? Wir wollen 
uns zunächst die erste von den beiden daraufhin näher 
besehen. 

Es findet sich bei unbefangener Betrachtung der 
angeführten Grundgebilde, daß sich auch da eine Zwei- 
teilung aufstellen läßt: Gedanke, Urteil, Zweifel ge- 
hören auf die eine, Empfindung, Vorstellung auf die 
andere Seite. Zwischen den beiden Gruppen ist ein 
wesentlicher, ein Artunterschied zu bemerken. 

Allerdings hieben wir, wenn wir Gedanken, Urteile, 
Zweifel erleben, immer auch Vorstellungen mit dabei; 
aber die Vorstellungen sind nicht alles, der psychische 
Tatbestand eines Urteils läßt sich nicht nur nicht restlos, 
sondern in seinem Wesentlichen überhaupt nicht in Vor- 
stellungen auflösen. 

Zum Beweis dafür wäre eigentlich nur auf die beiden 
psychischen Tatbestände des Vorstellens und des Urteilens 
selbst zu verweisen; die unmittelbare Anschauung und 
der Vergleich zeigen alles, worauf es hier ankommt Zur 
Verdeutlichung kann aber doch auch manches Einzelne 
vorgebracht werden. 

Man fasse z. B. die Vorstellung „Gerechtigkeit", die 
bloße Vorstellung ohne allen weiteren Gedanken; und 
dann denke man die Überzeugung „Es gibt eine Gerech- 
tigkeit". Die beiden psychischen Tatbestände sind zweifel- 
los voneinander verschieden, sie sind keineswegs iden- 
tisch. Das aber, wodurch sie sich unterscheiden, das liegt 
nicht am Inhalt des Vorgestellten oder Gedachten. Es 
wird im zweiten Falle nicht etwas anderes oder mehr 
vorgestellt als im ersten. Es ist vielmehr darauf abge- 
sehen, gerade von eben demselben, das zuerst -^ 
ohne daß unsere Überzeugung irgendwie daran beteiligt 
wäre — bloß vorgestellt worden war, sodann den Glauben, 
die Überzeugung zu fassen, daß es das gibt. Diese Über- 
zeugung kommt auch nicht etwa dadurch zustande, daß 
die Vorstellung der Gerechtigkeit mit noch einer anderen 

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79 . L Teil. Allgemeine Psychologie. 

Vorstellung, vielleicht der des Seins, verbunden würde. 
Dadurch erhielte man eben die „Vorstellung" einer „seien- 
den Gerechtigkeit", eine „Vorstellung", die sich auch der 
ganz gut bilden kann, der nicht daran glaubt, daß es eine 
Gerechtigkeit gibt, der also die Überzeugung nicht aus- 
zulösen vermag. Überdies sieht man daran erst recht, 
daß das „Seiend" nicht Vorstellungs-Inhaltsteil ist: es 
ist nicht zu verkennen, daß man in der Vorstellung 
„seiende Gerechtigkeit" um gar nichts mehr vorstellt als 
in der Vorstellung „Gerechtigkeit". Der Seins-Gedanke 
ist eben kein Vorstellen, kein sich Präsentieren eines 
neuen Inhalts. Er ist vielmehr eine eigene Art, einen 
Inhalt zu denken. — Die Überzeugung „Es gibt eine 
Gerechtigkeit" besteht auch nicht darin, daß man die Vor- 
stellung der Gerechtigkeit z. B. in die des Weltgeschehens 
einfügt; man würde auch dadurch nichts weiter erhalten 
als wieder nur die bloße Vorstellung eines gerechten Welt- 
laufes, noch nicht die Überzeugung, daß es einen solchen 
Weltlauf gibt. Auch wenn man sie mit der der Bealität 
oder Wirklichkeit verbindet, ist das Ergebnis kein be- 
friedigenderes — abgesehen davon, daß die „Vorstellung" 
der Wirklichkeit selbst schon keine andere ist als die 
des Wirklichseins und ihren Ursprung nur eben in der 
eigenartigen Funktion des Überzeugtseins, des Urteilens 
haben kann, nicht etwa in der Sinnesempfindung. Daß 
dies so ist, sieht man an der Verneinung noch deutlicher 
als an der Bejahung. Das nicht-Sein gilt nur dort, wo 
etwas nicht vorhanden ist; und das nicht Vorhandene 
kann gewiß keine Empfindung, also auch nicht etwa die 
seines Nichtseins hervorrufen. Es könnte höchstens ' — 
denn überall dort, wo etwas nicht ist, ist etwas anderes — 
in einem solchen Falle die „Empfindung" vom Sein dieses 
anderen hervorgerufen werden; und man hat ja auch tat- 
sächlich den Versuch gemacht, die Verneinung aus der Be- 
jahung so herzuleiten, daß man sagt, der Gedanke „a ist 
nicht" ist nur ein sprachlich anderer Ausdruck für den 
identischen Opanken: „etwas anderes als a ist'\ Wenn das 
wahr wäre, dann könnte man unter der Voraussetzung, 
daß der Seins-Gedanke eine Empfindung ist, tatsächlich 
auch den des nicht-Seins aus der gleichen Quelle herleiten, 
weil er dann nichts anderes wäre als wiederum ein be- 



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oogle 



4. KapiteL Erste Sichtang des psycHolog. Tatsachenmateriales. 79 

jahender Seins-G^edauke, nur daß dieser mit einem anderen 
Gegenstande verbunden wäre als der ist, von dem das 
nicht-Sein gilt. Aber unser Bewußtsein spricht zu deut- 
lich dag^en, daß der Satz: „Mein Bruder ist nicht im 
Zimmer'* Ausdruck des Gedankens sein sollte: „Ein 
Tisch, mehrere Sessel, ein Schrank, ein Teppich, Luft . » . 
ist im Zimmer**, oder „Etwas anderes als mein Bruder ist 
im Zimmer** ; man denkt in dem Gtedanken, der in diesem 
Satze zum Ausdruck kommt, zweifellos an den Bruder, 
und nicht an Tisch und Sessel oder an etwas anderes; 
und zweifellos zeigt dieser Gedanke anderen Charakt^ 
als den der Affirmation, der Bejahung, nämlich den der 
Negation, Verneinung. 

So sehen wir also, daß Gedanken wie etwa „Es gibt 
eine Gerechtigkeit" oder „Es gibt kein perpetuum mobile" 
außer ihrem Vorstellungsmaterial noch zwei andere, in 
eigentümlicher Weise zusammengehörige Momente ent- 
halten, die sich selbst wieder in keiner Weise auf Vor- 
stellungen zurückführen lassen, also etwas Neues, Eigenes 
sind: das Moment der Überzeugung und das Moment 
der Affirmation und Negation. Von ihnen ist wenigstens 
das der Überzeugung einer gradweisen Abstufung fähig, 
woraus sich die Eigenart des Meinens, Glaubens, des 
sichOT und unsicher ürteilens, mehr oder weniger fest 
Überzeugtseins, in Verbindung mit dem zweiten Moment 
auch die des Zweifels ergeben. 

Wir sind daher genötigt, neben der Grundklasse der 
Vorstellungen innerhalb des Geisteslebens noch eine zweite 
Grundklasse anzunehmen, die am charakteristischesten 
durch das Urteil, die Überzeugung repräsentiert erscheint 
(jenen psychischen Akt, der vielfach auch mit dem aller- 
dings nicht eindeutig gebrauchten Ausdruck „Apper- 
zeption" bezeichnet wird), deren Wesen aber in jedem 
psychischen Tatbestande, der nur ein ja oder nein 
enthält, vorhanden ist. Es wird sich nämlich später 
zeigen, daß nicht alle hierher gehörigen Tatbestände 
deshalb bereits Urteile sein müssen. Als allgemeine 
Bezeichnung dürfte sich für sie am besten der Ausdruck 
„Gedanken" eignen, so daß wir nun sagen können, wir 
teilen die Grundgebilde des Geisteslebens in Vor- 
stellungen und Gedanken ein. — 



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80 I* ^^^ Allgemeine Psychologie. 

Wie steht es mit den Grundgebilden des Gemüts- 
lebens? Auch für diese könnte sich leicht eine Zwei- 
teilung als natürliche Ordnung ei^eben. Halten wir Fälle 
nebeneinander wie Hoffnung, Freude, Trauer, Kummer, 
Verlangen, Wunsch, Entschluß und Wollen, so merkt 
man, daß die ersten vier und die letzten vier näher zu- 
sammengehören, und daß zwischen den beiden Gruppen 
ein Artunterschied besteht. Die erste Gruppe bezeichnen 
wir als die des Fühlens, die zweite als die des Begehrens. 
Wohl zeigt sich innerhalb jeder der beiden Gruppen eine 
gewisse gegensätzliche Sonderung, bei den Gefühlen in 
Lust und Unlust, bei den Begehrungen in Verlangen und 
Verabscheuen; auch sind die Begehrungen stets von Ge- 
fühlen begleitet und in ihrem Entstehen sichtlich durch 
die Gefühle bedingt. Trotzdem müßte es den Tat- 
sachen noch keineswegs entsprechen, wenn man das Be- 
gehren nur als eine bestimmte Form des Fühlens auffaßt. 
Die Psychologen sind heute in dieser Frage nicht einig, 
geradeso wenig wie über die von der Sonderung zwischen 
Vorstellen und Urteilen ; und der Versuche, das Begehren 
durch irgend welche Ajialysen auf reine Gefühls- oder 
gar nur Vorstellungselemente zurückzuführen, gibt es eine 
ziemliche Anzahl.*) Aber schon diese große Anzahl, die 
in umgekehrtem Verhältnis zur Zahl der Anhänger steht, 
deren sich jede von ihnen erfreut, mag Mißtrauen gegen 
sie erwecken. In der Tat vermag keine von ihnen das 
eigenartige Moment des Verlangens oder Widerstrebens, 
das in den Begehrungen als wesentlicher Kern enthalten 
ist, für alle Fälle überzeugend genug in andere Elemente 
zu zerl^en. Und wenn wir auch anerkennen, daß eine 
Zurückführung des Psychischen auf möglichst wenige 
Elemente anzustreben ist, so werden wir doch eine solche 
Zurückführung im vorliegenden Falle noch nicht als end- 
gültig gelungen ansehen können, daher am besten unserer 



^) Es sei besonders hingewiesen auf: Brentano, Psychologe 
0874), S. 806 ff.; Ehrenfels, System der Welttheorie, I (18Ö7,) S. 6ff.; 
Wundt, Grandzüpre der physiologischen Psychologie, 5. AnflL, 1902/03, 
I S. 14, in, S. 244 (Zurückführung auf Gefühle); Külpe, Grundiifi 
der Psychologie (1893), S. 974 (Zurückführung auf Empfindungen); 
Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie, 1, 1. Aufl., S. 660ff.(Zurück- 
f nhmng auf Gefühle und Empfindungen). 



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4. Sjipitel. Erste Sichtung des psycholog. Tateachenmateriales. 81 

Darstellung!) wenigstens vorläufig noch die alte Sondertug 
von Grefühl und Willen zugrunde legen. — 

Damit ist nun auch die Sonderung der allgemeinsten 
Arten der psychischen Grundgebilde zu Ende geführt. 
Sie stellt sich übersichtlich folgendermaßen dar: 

Psychische Grundgebilde 
-i des Geisteslebens des Gemütslebens 



Vorstellungen Gedanken Gefühle Begehrungen. 

Diese Einteilung fcann, wie leicht ersichtlich, ohne 
weiteres auch so verstanden werden, daß sie die nicht 
mehr weiter aufeinander zurückführbaren letzten 
Elemente nebeneinander stellt, aus denen sich das ent- 
wickelte Bewußtsein des Menschen aufbaut. Doch sei 
dabei ausdrücklich vor dem Mißverständnisse gewarnt, als 
wenn diesen Elementen voneinander unabhängige selb- 
ständige Existenz zukäme ; sie finden sich in Wirklichkeit 
schon ihrer Natur nach stets nur zu realen Komplexen 
vereinigt vor, aus denen sie bloß in abstracto heraus zu 
analysieren sind. An Sinn lind Wichtigkeit der Einteilung 
wird dadurch natürlich nichts geändert. 

4. Die Arten der psychischen 

Prozesse. Psychische Aktivität und Passivität. 

Psychische Kraft. 

Eine systematische Übersicht oder Einteilung der 
psychischen Prozesse aufzustellen, hat die Psychologie bis 
heute noch kaum unternommen, geschweige denn, daß sie 
irgend eine bereits zu allgemeiner Anerkennung gebracht 
hätte. Für die Erkenntnis des psychischen Lebens ist 
aber die Erforschung der Prozesse zum mindesten ebenso 
wichtig wie die der Grundgebilde. Es soll daher im 
folgenden ein wenigstens vorläufiger Überblick geboten 
werden. 

Die psychischen Prozesse stellen sich im Bewußtsein 
als irgendwie geordnete, stetig oder unstetig verlaufende 

*) Siehe weitere Ansfuhrnngen zur Sonderstellung des Urteilen s 
sowie des Wollens im speziellen Teile. 

Witasek, Gnndlinieii der P»yoholoffie. ' oigitized b^OOglc 



gg L TeiL Allgemeine Psychologie. 

Aufeinanderfolgen von Grundgebilden dar. Das Grund- 
gebilde, in welchem eine solche Entwicklung ihr Ende 
findet, ist als Ziel der ganzen Entwicklung für seine 
Charakteristik von besonderem Werte. Es liegt daher nahe, 
die Prozesse zunächst einmal nach diesen Ziel- oder End- 
gebilden zu ordnen. Da gibt es denn solche, die in Vor- 
stellungen, in Gedankt, in Gefühle und in Begehrungs- 
akte auslaufen. Mit dieser Einteilung kreuzt sich natür- 
'lich eine zweite, die nicht auf die End-, sondern auf die 
Anfangsgebilde gerundet ist, die also die psychischen 
Prozesse auseinanderhält, je nachdem sie im wesentlichen 
von Vorstellungen, von Gedanken, von Gefühlen oder von 
.Willensakten ihren Ausgang nehmen. Natürlich muß 
dabei darauf Kücksicht genommen werden, daß sich im 
Wesentlichen sowohl des Anfangs- wie des Endpunktes 
auch Kombinationen verschiedener Grundgebilde zeigen 
können. 

In diesem Schema müssen, von einem einzigen noch 
später zu erwähnenden Falle abgesehen, alle psychischen 
Prozesse, die es gibt, Platz finden. Es soll nun aber 
nicht der Versuch gemacht werden, dieses Schema mit 
der Gesamtheit der empirisch gegebenen psychischen Pro- 
zesse auszufüllen, sondern bloß, einzelne von den Ab- 
teilungen, die es enthält, durch Beispiele zu belegen. 

.Von Vorstellung zu Vorstellung geht ein Prozeß, der 
unter dem Namen der Vorstellungsassoziation allgemein 
bekannt ist. Kombiniert sich der Ausgangspunkt Vorstel- 
lung noch mit einem Willensakte, so erhalten wir das, 
yp^as man als willkürliche, beabsichtigte Hervorrufung 
einer Phantasie- oder Erinnerungsvorstellung zu bezeichnen 
hätte, und was, wenn es nur unter Aufwand von besonderer 
Anstrengung und . vielleicht auch dann nicht zum Ziele 
führt, das sich Besinnen genannt wird. Finden sich im 
Ausgangspunkte mehrere Vorstellungen zusanmien, so 
können, mit oder ohne Mitwirkung des Willens, Prozesse 
verschiedener Art, wie etwa Vergleichen, Zusammenfassen, 
zu Vorstellungen als Endgebilden führen, die, als Gleich- 
heits-, Verschiedenheits-, Zahl-, Gestaltvorstel- 
lungeuy in ihrer Entstehung später noch genauerer Betrach- 
tung imterworfen werden müssen. Prozesse, die in Urteile 
auslaufen, sind das Aufmerken und das Bemerken» ferner 

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4. Kapitel. Erste Sicbtong des psycholog. TatsachenmaterialeB, 83 

das Schließen, im weiteren Verlauf auch das sich Be- 
sinnen sowie das Vergleichen. Daß es auch irgend welche 
gibt, die unmittelbar in Gefühlen endigen, wird gleich- 
falls nicht zu bestreiten sein, wenn sich auch nicht leicht 
und kurz prägnante Fälle anführen lassen. Jedenfalls aber 
gibt es sehr charakteristische Formen, die zu Willens- 
akten führen : das Schwanken — Zögern — Abwägen — 
sich Entschließen und der bekannte Übergang des Be- 
gehrens vom gewollten Zweck auf das Mittel. 

Diese Beispiele mögen vorläufig genügen. Sie zeigen 
nämlich bereits, worauf es zunächst ankommt: die Eigen- 
art des psychischen Prozesses ist durch die nur allge- 
meine Angabe des Anfangs- und des Endgebildes nicht 
eindeutig charakterisiert. Sind anfangs die drei Vorstel- 
lungen von drei Punkten gegeben, so kann von da aus 
ein Prozeß zur Vorstellung der Ortsverschiedenheit, ein 
anderer zu der der Dreizahl, ein anderer zu der eines 
Dreiecks führen : also drei verschiedene Prozesse, die doch 
alle nur Vorstellungen sowohl zu Anfangs- wie zu End- 
gebilden haben; und es lassen sich auch Beispiele dafür 
finden, daß auch am Ende der Entwicklung die gleiche 
Vorstellung steht. Daraus ergibt sich, daß das, wodurch 
sich verschiedene Prozesse voneinander unterscheiden, 
also das Wesentliche des Prozesses, zum Teile wenigstens 
außerhalb des Bewußtseins liegen muß; denn was von 
ihnen im Bewußtsein erscheint, das Anfangs- und das 
Endgebilde, und wohl auch allfällige Zwischenstadien, 
kann trotz ihrer Verschiedenheit gleich sein. Zur Kenntnis 
ihrer Verschiedenheit kommen wir dann nur auf indi- 
rektem Wege, und auch die Kenntnis ihrer Beschaffenheit 
wird zunächst wieder eine nur indirekte sein können. 
Im allgemeinen läßt sich von den außerhalb des Bewußt- 
seins vor sich gehenden Momenten der Prozesse nur sagen, 
daß sie vom Standpunkte der Wechselwirkungslehre am 
natürlichsten als Gehimprozesse, von dem des Parallelis- 
mus als unbewußte psychische Ereignisse in der substan- 
tiellen Seele zu denken sind. 

So haben wir uns die psychischen Prozesse als Vor- 
gänge vorzustellen, die sich zu einem wesentlichen Teile 
ganz außerhalb des Bewußtseins (im Gehirn oder der 
Sieele) abspielen und von da aus an einzelnen Stadien, 

6* 

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g4 L ^e^* Allgemeine Psychologie. 

besonders am Ende, psychische Grundgebilde ins Bewußt* 
sein entsenden. 

Nun wissen wir aber, daß die psychischen Grund- 
gebilde immer, auch wenn sie im Bewußtsein nicht 
innerhalb psychischer Prozesse auftreten, wenigstens teil- 
weise aus Vorgängen außerhalb des Bewußtseins (des Ge- 
hirns oder der Seele) hervorgehen, und es besteht nun 
kein Grund, diese Vorgänge von jenen andern, gleichfalls 
außerbewußten Vorgängen, die wesentlich zu den bisher 
betrachteten psychischen Prozessen gehören, prinzipiell 
zu unterscheiden. Es ergibt sich daraus, daß wir jedes 
der psychischen Grundgebilde zusammen mit dem ihm 
zugehörigen außerbewußten Vorgange gleichfalls als psy- 
chischen Prozeß zu nehmen haben und daher neben den 
Grundgebilden Vorstellung, Gedanke, Gefühl, Begehrung 
auch die psychischen Prozesse (Tätigkeiten, Vorgänge) 
des Vorstellens, Denkens, Fühlens und Begehrens be- 
achten müssen. Für die theoretische Behandlung der zuerst 
allein betrachteten psychischen Prozesse engeren Sinnes 
wird sich daraus manch klärende Beziehung ergeben. — 

Ist es also gewiß, daß das Wesentliche der psy- 
chischen Prozesse zum Teil außerhalb des Bewußtseins 
liegt, so genügt es zu ihrer Erforschung nicht, wenn 
man sich unmittelbar auf das beschränkt, was von 
ihnen an psychischen Grundgebilden ins Bewußtsein 
kommt; man muß vielmehr von da aus etwas über das 
außerbewußte Wesentliche zu erkunden trachten. Was 
nun die auf solche Erwägungen gegründete Einteilung 
der psychischen Prozesse anlangt, so kann hier nur auf 
folgendes aufmerksam gemacht werden. 

Wir sind uns in manchen psychischen Prozessen 
einer gewissen Aktivität bewußt, in anderen eher einer 
Art von Passivität. Vom Vergleichen, Schließen u. a. 
gilt in der K^el das erste, von der Vorstellungsassoziation 
z. B. das zweite. So fließend die Grenzen sein mögen, 
ein wesentlicher Gegensatz ist damit doch getroffen. Im 
Bewußtsein dürfte er sich aber nur dadurch äußern, daß 
im einen Fall der Prozeß entweder selbst ein Wollen 
darstellt oder doch der Beeinflussung durch das Wollen 
zuganglich ist, während er im anderen Falle einer solchen 
Beeinflussung mehr oder weniger entzogen bleibt. Wir 

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4. Kapitel. Ente Siohtimgj^eB psycholog. TaiaacheiimatenaleB. 86 

wollen jene Prozesse als psychische Tätigkeiten, diese 
als psychische Vorgänge bezeichnen. Dann gehören 
Denken, Begehren, aber auch sich Besinnen, Abstrahieren, 
Zusammenfassen, Zählen u. a. zu den Tätigkeiten, da- 
gegen Empfinden, Fühlen, Assoziieren von Vorstellungen 
zu den Vorgängen. 

Die Beobachtung der psychischen Prozesse zeigt, daß 
den Tätigkeiten die Tendenz innewohnt, sich infolge 
häufiger Wiederholung nach und nach in Vorgänge um- 
zuwandeln; was ursprünglich nur unter größter Aiispan- 
nung und Willensanstrengung vonstatten ging, z. B. sich 
eines bestimmten Namens zu entsinnen, das geht allmäh- 
lich immer mehr „von selbst" und ist schließlich — als 
Vorstellungsassoziation — kaum mehr durch den Willen 
aufzuhalten. Die Übung bewirkt, daß der gleiche psy- 
chische Erfolg, die gleiche Leistung nach und nach mit 
immer geringerem Aufwand von psychischer Eiaft zu- 
stande kommt. Und da die psychische Arbeit — wenn 
einmal dieser Begriff aus dem außerwissenschaftlichen 
Denken in die theoretische Psychologie endgültig über- 
nommen werden sollte i) — am nächsten wohl als Leistung 
psychischer Kraft, die Größe der psychischen Arbeit aber 
nach der Größe des Verbrauchs an psychischer Ejraft zu 
bestimmen sein wird, so zeigt sich, daß der gleiche psy- 
chische Erfolg psychische Arbeit von verschiedener Größe 
repräsentieren kann. 

5. Die psychischen Dispositionen. 
Vorübergehende und bleibende Dispositions- 
veränderungen. 

Die Psychologie handelt nicht nur von den psychi- 
schen Grundgebilden und den psychischen Prozessen, sie 
kommt auch mehrfach in die Lage, von psychischen 
Dispositionen sprechen zu müssen. 

Der Ausdruck Disposition ist gleichbedeutend mit 
Fähigkeit, Vermögen (Kraft). Diese Erinnerung allein 

I) Eine Anregong hierzu bei Höfler, Psyclusclie Arbeit (Zeit- 
Bcbiift f. PsyohoL, 8, 1804). Eine hiervon unabhängige Durchfuhrung 
in Lipps, Leitfaden der Psychologie, Leipzig 1003, 2. Aufl. 1006. 

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86 3[. Teil« AUgemeine Psychologie. 

mag schon davor bewahren, die Dispositionen als etwas 
Drittes den Grundgebilden und Prozessen beizuordnen. 
Sie sind nicht etwa ein Psychisches (oder auch Phy- 
sisches), das in oder außer dem Bewußtsein neben den 
Grundgebilden und Prozessen noch existierte. Sie sind 
vielmehr überhaupt nichts Reales, sondern Kausalrela- 
tionsfälle, genauer die Tatsache, daß das Individuum eine 
Teilursache zu den ihm zagehörigen psychischen Grund- 
gebilden und Prozessen in sich enthält. Die Grundgebilde 
und Prozesse stellen sich unter diesem Gesichtspunkte 
als Leistungen (aktuelle Korrelate) der Dispositionen dar. 
Keale Existenz kommt an der ganzen Dispositionstatsache 
nur dieser Leistung und deren im Individuum steckenden 
Teilursache, der Dispositionsgrundlage i) zu. 

Sonach könnte man ohne weiteres für jede einzelne 
reale psychische Tatsache, welche sich ereignet, eine eigene 
Disposition annehmen. Es wäre das theoretisch durchaus 
zulässig, aber auch völlig wertlos. Wenn man das psy- 
chische Leben unter dem dispositionstheoretischen Ge- 
sichtspunkte betrachtet, so verbindet man damit einen 
bestimmten Zweck. Und dieser Zweck ist im allgemeinen 
derselbe wie der einer jeden theoretischen Verarbeitung 
des Tatsachenmateriales, nämlich das zahlreiche, unge- 
ordnete Vielerlei der Einzeltatsachen auf allgemeine Ge- 
setzmäßigkeiten zurückzuführen. Nun gibt es im psy- 
chischen Leben eine große Menge von Einzelerfahrungen, 
die sich nur unter dem dispositionstheoretischen Gesichts- 
punkte in allgemeine Gesetze fassen lassen, das heißt also, 
nur dann, wenn man sie in ihrer Beziehung zu den Dis- 
positionsgrundlagen, als deren Leistungen sie anzusehen 
sind, betrachtet. 

So gedacht hat es einen guten Sinn, wenn nun von 
Vorstellungsvermögen, Denkvermögen, Urteilsdisposition 
usw. gesprochen wird, und welch große Bedeutung dieser 
Betrachtungsweise für die Psychologie und besonders auch 
für die Pädagogik zukommt, des wird man' inne, wenn 
man sich der Dispositionsbegriffe Gedächtnis, [Wissen, 
Verstand, Charakter, Tugend erinnert. 



*) Q-nindbeffriffe und Terminologie nach Meinong, Phantasie- 
TorBteUung und äumtasie (Zeitschzifb &i Philosophie, JBd. 95, S. 1621). 

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4. Kapitel* flrate £<^timg des |»yctiolog. ^tsacliemiiatemtes. g? 

Die Probleme, die sich dabei ergeben, sind in der 
Hauptsache folgende. Zunächst bedarf es der Aufstel- 
lung und gegenseitigen Abgrenzung der einzelnen Dis- 
positionen. Dies hat natürlich vor allem mit Bücksicht 
auf die Verschiedenartigkeit oder Verwandtschaft der 
Tatsachen des Bewußtseins als der Leistungen der Dispo- 
sitionen zu geschehen. Wie viele Grunddispositionen sind 
anzunehmen, und welche ? Das ist hier die Präge. Natür- 
lich ist, wenn irgend eine psychische Tatsache vorliegt, 
und nun etwa die Disposition (das Vermögen) statuiert 
wird, deren Leistung diese Tatsache ist, damit noch nichts 
getan, was man Erklärung der Tatsache nennen dürfte. Als 
Erklärung kann in gewissem Sinne höchstens gelten, wenn 
von irgend einer psychischen Tatsache nachgewiesen wird, 
daß sie als Leistung einer Dispositionsgrundlage zugehört, 
die identisch ist mit der, die bereits für eine zweite psy- 
chische Tatsache anderer Art anzuerkennen war. Man 
sagt sodann, es ist die eine Disposition auf die andere 
zurückgeführt, mit ihr identisch erkannt worden. Solche 
Zurücäührungen sind eine der wichtigsten Aufgaben der 
Dispositionspsychologie; zum Beispiel zu untersuchen, ob 
und wie sich die Phantasie auf das Gedächtnis zurück- 
führen läßt u. dergl. m. 

Andere Erfahrungstatsachen drängen dann wiederum 
zu anderen Begriffen. Es kommen vor allem noch die 
Dispositionsveränderungen in Betracht, die dauern- 
den, wie Übung und Abstumpfung (Gewöhnung), die 
vorübergehenden, wie Ermüdung und Erholung; femer 
die Neuerwerbung von Dispositionen, die Vererbung und 
Angeborenheit. Näher auf die allgemeine Erörterung dieser 
Tatsachen einzugehen, verbietet sich an dieser Stelle. Es 
sei nur darauf hingewiesen, wie sich die eben erwähnten 
Vorgänge als Elemente erweisen, aus denen sich die 
komplexeren Vorgänge der psychischen Entwicklung des 
Kindes, des Individuums überhaupt, sowie der Easse zu- 
sammensetzen. 



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88 * I' Teil, AUgemoiiie Psyoliölbjiie. 

5. Kapitel 

Bemerkangen ttber Aufgabe und Methode der 

Psychologie« 

1, Über die Aufgabe der Psychologie. > 

iWenn einmal der Gegenstand einer [W^issenschaft 
bestimmt ist, so ist damit im wesentlichen auch schon 
ihre Aufgabe mitbezeichnet. Denn im allgemeinen haben 
ja doch alle ^Wissenschaften die gleiche Aufgabe: die 
Erkenntnis ihres Gregenstandes. £s kann sich also im 
folgenden nicht darum handeln, etwas Neues aufzustellen, 
sondern nur darum, das bereits Vorgegebene in einigen 
Punkten, die sich zum Teil auf die Erkenntnis, zum Teil 
auf den G^enstand beziehen, etwas näher auszuführen. 

Die erste und grundlegende Aufgabe jeder Wissen- 
schaft ist: möglichst yollständige Beschreibung alles 
dessen, was in ihr Gegenstandsgebiet gehört. Genau so, 
wie der Physiologie, der Lehre von den Lebensvorgängen 
im körperlichen Organismus, notwendig die Anatomie und 
Histologie, die Lehre von den Formen und vom Aufbau 
der Organe, vorausgehen muß, geradeso muB auch die 
Psychologie mit der Beschreibung der psychischen Tat- 
sachen anfangen. Diese Beschreibung wird vor allem 
Analyse der komplexen Tatsachen, möglichst allseitige und 
anschauliche Charakteristik der Elemente sein; sie wird 
also Zahl und Art der Elementartatsachen, sowie Art 
und Beschaffenheit der Komplexe zu verzeichnen haben. 

Die zweite Aufgabe ist dann die Erklärung. Diese 
ist nun aber eine doppelte. Zunächst handelt es sich 
darum, die einzelne psychische Tatsache, wie sie sich 
im Leben bietet, zu erklaren; etwa eine Täuschung des 
Gesichtssinnes, oder das Überhören eines an sich, starken 
Gteräusches. Solche Tatsachen sind erklärt, wenn ihre 
Ursachen aufgezeigt sind. Es ist also die Frage nach 
der Ursache des psychischen Einzelgeschehens, die zu. 
beantworten ist, und die, da die Aufzeigung einer 
Ursache immer etwas Allgemeingültiges bleibt, notwendig 
zur Aufstellung der allgemeinen Formen oder Gesetze 
des psychischen G^chehens führt, nach denen sich der 
Ablauf des psychischen Lebens vollzieht Dann aber 



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5. K*piteL Bemerknngen liber An^be uad Methode usw. 89 

handelt 68 sich noch darum, auch diese Formen des Ab- 
laufes zu erklären; und das kann in keiner anderen 
.Weise geschehen als dadurch, daß sie als besondere Fälle 
allgemeinerer Oesetze erwiesen, daß sie zusammen mit 
andern, beigeordneten besonderen Fällen zu einem um- 
fassenderen höheren Gesetze verallgemeinert werden. 

Die Ursachen aufzusuchen ist also eine der ge- 
wichtigsten Aufgaben. In vielen Fällen, besonders in der 
Psychologie der Sinne, wird diese Aufgabe lediglich zur 
Untersuchung der Funktion des Gehirns und der Sinnes- 
organe führen. Die Wechselwirkungslehre wird keinen 
Anstand nehmen, gegebenen Falles die Ursachen auf diesem 
physischen Gebiet zu suchen ; aber auch vom Standpunkte 
des Parallelismus aus kostet es nur einen Vorbehalt, der, 
ein für alle Male aufgestellt, den gleichen Weg ermög- 
licht. Dadurch geht die Aufgabe eine teilweise Ver- 
bindung mit physiologischen Methoden und Erkenntnissen 
ein, der die sogenannte Psychophysiologie oder „physio- 
logische Psychologie*' Bechnung trägt. — Im anderen 
Sinne li^en die Ursachen einer psychischen Tatsache 
auch in der Entwicklung des Individuums, und mit diesem 
auch der Basse; also ist es notwendig, das allmähliche 
Entstehen der verschiedenen psychischen Dispositionen 
im Werden des Einzelwesens sowie im Laufe der Gene- 
rationen zu verfolgen, eine Psychologie der Entwicklung, 
genetische Psychologie, in den Gesamtplan unserer Wis- 
senschaft aufzunehmen. 

Die zuletzt genannte Aufgabe weist bereits über das 
Zentralgebiet der Psychologie, das wir bisher ausschließ- 
lich beachtet haben, hinaus. Dieses Zentralgebiet, von 
dem aus jede weitere psychologische Arbeit erst möglich, 
ja geradezu erst denkbar wird, ist die Erforschung des 
psychischen Lebens im gesunden, normalen, erwachsenen 
Einzelmenschen. Die genetische Psychologie zieht das 
psychische Leben des Kindes, femer das des Menschen 
niederer Entwicklungsstufe sowie das der Tiere in den 
Ereis ihrer Betrachtung. Mit dem gleichen Becht stellt 
aber auch das psychische Leben des genial veranlagten 
Individuums, sofern es von dem des normalen abweicht, 
eine besondere Aufgabe dar. Und schließlich ist noch 
der Wechselwirkung zu gedenken, die sich zwischen dem 

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90 !• ^eil* AUgemeine Psychologie« 

psychischen Leben vieler zusammenlebender Individaen 
entfaltet und die einerseits als etwas Besonderes in den 
psychischen Massenerscheinungen (Zeitgeist, psychische 
Epidemien, Gesellschaftsordnung) zutage tritt, anderseits 
zu gleichsam objektiven Erzeugnissen führt, die, wie 
Sprache, Sitte und Sage, in ihren Wurzeln Gegenstand 
einer eigenen Disziplin, der Völkerpsychologie, bilden. 

Von fremden, und zwar zunächst theoretischen 
Wissenschaften, die an die Psychologie Anforderungen 
stellen, sind vor allen Ästhetik und Ethik, weniger Er- 
kenntnistheorie und Logik zu nennen; sie sind zu 
ihrer Grundlegung mehr oder minder auf Psychologie 
angewiesen. Daß die Metaphysik ihrer nicht entbehren 
kann, ist fast selbstverständlich. Praktische Aufgaben hat 
sie zu lösen in ihrer Bolle als Grundwissenschaft der 
Pädagogik. Der Psychiatrie steht sie zur Seite, wie 
die Physiologie des gesunden Organismus der Patho- 
logie und Therapie. Ein weites Feld praktischer Anwen- 
dung erschließt sich ihr ferner in der Rechtspflege, wo 
die Tätigkeit des Untersuchungs- und des Strafrichters 
in der Tatbestandsdiagnostik, der Behandlung der Zeugen- 
aussagen usw. in weitem Maße auf die Verwertung psy- 
chologischer Kenntnisse angewiesen ist und bereits eine 
eigene vielversprechende praktische Disziplin, die Krimi- 
nalpsychologie, ins Leben gerufen hat. (Groß, 1898.) 

Eine letzte Aufgabe der Psychologie wäre — in 
Übereinstimmung mit den herkömmlichen Ansichten des 
Laien — die vollkommene praktische Menschenkenntnis 
und Charakterologie. Von diesem Ziele ist aber die 
heutige Psychologie noch so weit entfernt, daß es 
kaum recht ins Auge gefaßt werden kann. Sie ist 
durchaus der Einzeluntersuchung isolierter, möglichst 
einfacher Ausschnitte des Psychischen zugewendet, führt 
gleichsam auf Analyse und Atomistik, während die 
praktische Menschenkenntnis erst dort Brauchbares und 
Wertvolles findet, wo von den konkreten Komplexen des 
lebenden Organismus die Bede ist. Gleichwohl muß sie 
unbeirrt auf diesem Wege bleiben, weil vorläufig nur auf 
diesem Wege wissenschaftliche Erkenntnis zu erzielen 
überhaupt möglich ist. Das letzte Ziel ist jeder Wissen- 
schaft sehr weit gesteckt. 



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5. Kapitel. Bemerkungen &ber Aufgabe und MetHode usw. 91 

2. Über die Methode der Psychologie. 

Auch über die Methode einer Wissenschaft ist nichts 
Prinzipielles mehr zu sagen, sobald ihr Gegenstand charak- 
terisiert ist. Denn die Art und Weise, wie über einen 
Gegenstand Erkenntnisse zu gewinnen sind, ist im allge- 
meinen schon durch die Natur des Gegenstandes bestimmt. 
Daß freilich mit dem Prinzipiellen nicht auch schon alles 
gesagt ist, was zur Charakteristik der Methode im 
einzelnen beizubringen wäre, daß vielmehr die Besonder- 
heiten des Gegenstandes einer jeden Wissenschaft auch 
innerhalb des prinzipiellen Rahmens noch zahlreiche Be- 
sonderheiten der Methode bedingen, daher auch die psy- 
chologische Forschung bereits über eine sehr umfang- 
reiche, bis ins Feinste differenzierte, mannigfaltige Metho- 
dik verfügt, dessen darf dabei nicht vergessen, werden. 
Es kann jedoch an dieser Stelle davon nicht eingehender 
Notiz genommen werden. Wir wollen uns vielmehr darauf 
beschränken, nur die allgemeinen Grundzüge der psycho- 
logischen Forschungsmethode soweit als nötig zu er- 
läutern. 

Die Psychologie ist der Natur ihres Gegenstandes 
nach durchaus Erfahrungswissenschaft. Das heißt, die 
Quelle alles Wissens ist für sie die Erfahrung, und die 
Weiterverarbeitung dessen, was unmittelbar aus dieser 
Quelle zu schöpfen ist, geschieht nach der Methode, die 
im allgemeinen sämtlichen empirischen Wissenschaften, 
besonders den Naturwissenschaften, eigen ist. 

Das kommt daher, weil man darüber, was es in der 
Welt gibt und wie es beschaffen ist, aus bloßem Nach- 
denken nichts wissen kann, und man darauf angewiesen 
ist, es sich anzusehen; oder, wie die Erkenntnistheorie 
sagt: weil es kein apriorisches (erfahrungsfreies) Wissen 
über reale Existenz gibt. Das psychische Leben ist 
nun auch ein Bestandteil der Welt, hat auch reale 
Existenz, fällt also gleichfalls unter dieses Erkenntnis- 
gesetz. 

Man hat dies nicht immer und überall eingesehen. 
Ja die alte spekulative oder auch rationale Psychologie 
steht dazu in prinzipiellem Gegensatze, indem sie. ihre 



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92 !• Teil ABgenieme Psychologie, 

Lehren aus einigen allgemeinen metaphysischen Sätzen 
über die Seele, etwa ihre Einfachheit, Immaterialität usw., 
abzuleiten unternimmt. Es kann aber dabei, sofern mit 
diesem Prinzipe Ernst gemacht wird, nach dem heutigen 
Zustande der Metaphysik, unmöglich eine Erkenntnis 
unseres psychischen Lebens herauskonmien. 

Aber auch wenn man von der Erfahrung ausgeht, 
muß damit noch nicht notwendig der für die Psychologie 
zweckdienliche Weg eingeschlagen sein. Es gehört noch 
dazu, daß sich die Erfahrung auch das Gebiet zum Gegen- 
stande nimmt, von dem die Psychologie zu handeki hat. 
So selbstverständlich dies klingen mag, so ist es doch 
nicht überflüssig, ausdrücklich daran zu erinnern. Die 
enge Verbindung einerseits, in der das Psychische mit 
dem Gehimleben steht, anderseits der Schein des „Nicht- 
wirklichen", „nur Phänomenalen", der für oberflächliche 
Betrachtung dem Psychischen anhaftet, hat oft dazu ver- 
führt, daß man die Erfahnmgen, aus denen Psychologie 
werden sollte, über physiologische Gegenstände einholte, 
Psychologie also aus oder auf Gehimphysiologie aufzu- 
bauen gedachte. Wenn es nun auch für gewisse, höchst 
bedeut^me Fragestellungen der Psychologie durchaus un- 
erläßlich ist, auf die den psychischen Tatsachen zuge- 
ordneten physiologischen in möglichst weitem Umfang 
Bücksicht zu nehmen und eine Art Verbindung mit der 
physiologischen Schwesterwissenschaft einzugehen, so ist es 
doch ganz ausgeschlossen, von der Erfahrung über die 
physische Seite aus zu einer wissenschaftlichen Psychologie 
vorzudringen. Die Grundlage kann nur in der direkten 
erfahrungsmäßigen Kenntnis vom psychischen Leben selbst 
gefunden werden, und erst wo und soweit diese ausgebaut 
und gesichert ist, kann die Verbindung mit der Physiologie 
von Erfolg begleitet sein. Ja, im heutigen Stande unserer 
Kenntnis findet es sich viel eher, daß der seiner Beschaffen- 
heit nach unbekannte Gehimvorgang nach der der unmittel- 
baren Erfahrung zugänglichen psychischen Begleittatsache 
interpretiert wird, als umgekehrt. — 

Die Grundlage der psychologischen Forschung ist 
also die Erfahrung von den psychischen Tatsachen. Diese 
Erfahrung besteht nun darin, daß, wer eine psychische Tat- 
sache erlebt, unmittelbar um, diese Tatsache weiB, oder doch, 



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oogle 



5. Kapitel. Bemerkangen &ber Aufgabe und Methode usw. 93 

Yon ungünstigen Aasnahmen abgesehen, wenigstens wissen 
kann. Man ist gewohnt, dieses unmittelbare Wissen als 
innere Wahrnehmung zu bezeichnen. 

Es liegt schon im Namen ausgedrückt, daß die innere 
Wahrnehmung als ein Seitenstüc^k zur äußeren oder Sinnes- 
Wahrnehmung aufgefaßt wird. Gleichwohl bezieht sich 
die Analogie nur darauf, daß sie, geradeso wie die äußere 
Wahrnehmung ein Wissen um die „äußere", ein Wissen 
um die „innere" Wirklichkeit vermittelt. Die Sinnes- 
organe spielen bei ihr keine Eolle, und auch von der 
Annahme einer eigenen Wahmehmungsvorstellung kann 
bei ihr abgesehen werden. 

Die innere Wahrnehmung liefert natürlich nicht nur 
ein Wissen vom Gegebensein eines psychischen Tatbe- 
standes, sondern auch von seiner Beschaffenheit. Handelt 
es sich, was die Begel ist, um einen zusammengesetzten 
psychischen Tatbestand, so werden mit der Wahrnehmung 
des Ganzen in gewissem Sinne (implicite) auch die Teile 
wahrgenommen, diese Wahrnehmung der Teile läßt sich 
jedoch durch entsprechende Einstellung der Aufmerksam- 
keit wesentlich fördern (zu einer expliziten machen) ; darin 
besteht die Analyse des zusammengesetzten psychischen 
Tatbestandes. Die Analyse unterrichtet uns über Zahl, 
Beschaffenheit und Art der psychischen Elementartat- 
sachen sowie über den Aufbau der Komplexe. Sie ist 
eines der hauptsächlichsten Arbeitsinstrumente des psy- 
chologischen Forschers. 

Die bloß . gelegentliche, einmalige, vorübergehende 
Wahrnehmung kann (als innere) dem Psychologen ebenso- 
wenig genügen wie (als äußere) dem Naturforscher. Auch 
er muß darauf bedacht sein, sie zur Beobachtung zu 
steigern. Beobachtung ist nun nichts anderes, als dauernde 
oder wiederholte Wahrnehmung bei maximaler Aufmerk- 
samkeit und unter der Wahrnehmung besonders günstigen 
Verhältnissen des zu beobachtenden Objekte». Für den 
Psychologen sind das nun allerdings recht schwierige 
Forderungen. Seine Objekte halten nicht ruhig stand, 
und mit je größerer Aufmerksamkeit man sie zu betrachten 
sich bemüht, desto mehr verblassen sie selbst. Es gibt 
nur einen Ausweg: die zu untersuchenden psychischen 
Tatsachen mit aller Entschiedenheit sich ausleben lassen 

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94 I. Teil. Allgememe Psychologie. 

und ihnen unmittelbar nachher im Gedächtnis wiederholte 
Akte der Betrachtung zuwenden, i) 

Ist nun dieser Methode ein ansehnliches Maß von 
Leistungsfähigkeit nicht abzusprechen, ein Maß, das durch 
natürliches Geschick, Schulung und Geübtheit noch 
wesentlich gesteigert werden kann, so ist doch nicht zu 
leugnen, daß sie mit so schwierigen Verhältnissen zu 
kämpfen hat, daß der Vorzug der Gewißheitsevidenz, der 
der inneren Wahrnehmung günstigen Falles erreichbar 
ist, der äußeren jedoch niemals, nahezu illusorisch wird. 

Da greift die psychologische Forschung zu einem 
Hilfsmittel, das seinen unschätzbaren Wert, ja seine Un- 
entbehrlichkeit schon in den Naturwissenschaften bewährt 
hat: zum Experiment. 

Das Experiment besteht im wesentlichen darin, daß 
der zu untersuchende Tatbestand absichtlich hervorgerufen 
wird, und zwar unter Umständen, die seiner Beobachtung 
und theoretischen Verarbeitung besonders günstig sind. 

Daß dies in der Psychologie möglich ist, lehrt einer- 
seits schon ein geringes Nachdenken, anderseits die Er- 
fahrung. Die Brauchbarkeit des Experimentes in der Psy- 
chologie hat sich während der letzten Dezennien auf das 
vielfältigste erprobt, und. sein Wert wird kaum zu hoch 
veranschlagt, wenn man sagt, daß es auch diese Wissen- 
schaft nun endgültig in die richtige Bahn gelenkt hat. 

Im einzelnen hat es natürlich die verschiedensten 
Formen angenommen und nebst einem ansehnlichen In- 
ventar an Apparaten eine große Zahl feinst differenzierter 
Spezialmethoden zutage gefördert. Doch kann hier darauf 
nicht näher eingegangen werden. Es sei nur auf die all- 
gemeinen Vorzüge des Experimentes hingewiesen. Sie 
liegen darin, daß der Beobachter vom Zufall unabhängig 
wird und sich den Untersuchungsgegenstand zu gelegener 
Zeit und in ganz gleicher Form zu wiederholten Malen 
zu verschaffen vermag; daß er den Untersuchungsgegen- 
stand selbst sowie die Bedingungen seines Eintrittes in 
hohem, Maße zu vereinfachen und auf die Fragestellung 
zuzurichten in die Lage kommt; daß es ihm vielfach 



^) Siehe Näheres dazu im Paragraphen über das Wahmehmungs- 
urteil. 



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5. Kapitel. Bemerkongen übex' Aufgabe und Methode usw. 95 

möglich wird, das untersuchte psychische Geschehen 
gleichsam zu objektivieren, d. h. an einfachen, mit ihm 
gesetzmäßig und unwillkürlich zusammenhängenden be- 
harrenden Äußerungen zu studieren, und daß er schließlich 
des großen Vorteils teilhaft wird, der darin liegt, daß 
seine Ergebnisse von andern Forschern nachgeprüft und 
allenfalls verbessert werden können, indem sie die ganz 
gleichen Versuche anzustellen in der Lage sind. 

So hat sich durch die leistungsfähigere Methode die 
Ergiebigkeit der psychologischen Forschung ungemein ge- 
steigert. Eine früher kaum geahnte Fülle der Tatsachen- 
kenntnis hat sich nach und nach angesammelt, neue Frage- 
stellungen haben sich ergeben, und das Psychische ist in 
weitestem Umfange der Messung zugänglich geworden. 

Freilich steht die Psychologie auch auf diesem neuen 
Wege noch ziemlich am Anfange. Die Ergebnisse sind 
bisher in der überwi^enden Menge Einzeltatsachen, 
Tatsachen speziellster Geltung. Jede empirische Wissen- 
schaft muß 'mit inöglichst vollständiger Kodifizierung 
der Einzeltatsachen beginnen. Aber sie hat die weitere 
Aufgäbe, auf dem Wege der Induktion und Hypo- 
thesenbildung vom Einzelnen zum Allgemeinen aufzu- 
steigen, umfassende Gesetze zu formulieren und von diesen 
aus wieder absteigend das Einzelgeschehen deduktiv ab- 
zuleiten, die Theorie aufzubauen und am Einzelnen zu 
erproben. So führt z. B. die Experimentalphysik aus der 
empirischen Einzelforschung durch Induktion empor zu 
einigen allgemeinsten Gesetzen, von denän aus die mathe- 
matische Physik die Einzeltatsachen auf deduktivem Wege 
wieder abzuleiten hat, zur Verifikation det Hypothesen. 
Das ist der Weg, der auch der Psychologie in späterer 
Entwicklung vorgezeichnet ist. Bis heute freilich hat sie 
ihn kaum auf beschränkten Teilgebieten versucht. Doch 
kann das ferne Ziel getrost dem wohlbegründeten Ver- 
trauen auf die Zukunft überlassen bleiben. — 

Bisher war nur von sogenannten direkten oder sub- 
jektiven Methoden der Psychologie die Eede. Das sind 
solche, in denen der zu untersuchende Gegenstand selbst 
und unmittelbar zum Gegenstand der Beobachtung gemacht 
wird. So geschieht es in der eben nur auf innere Wahr- 
nehmung gegründeten Methode der psychologischen Ana- 

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96 ^' '^^^ Allgemeine Psychologie. 

lyse; so geschieht es aber auch im psychologischen Experi- 
mente, das ja — wie man in Kürze sagen darf — erst 
dadurch möglich wird, daß die Versuchsperson auf ihre 
psychischen Erlebnisse achtet, sie absichtlich oder unab- 
sichtlich mitteilt, und das durch systematische Verwertung 
der Selbstbeobachtung an Leistungsfähigkeit sehr wesent- 
lich gewinnt. 

Es gibt aber auch indirekte und objektive Methoden 
der Psychologie. Das sind solche, in denen die zu stu- 
dierende psychische Tatsache nicht selbst den unmittel- 
baren Gegenstand der Beobachtung abgibt, sondern an 
ihre Stelle entweder eine andere psychische Tatsache oder 
nur die Äußerung einer solchen tritt. Jenes ist der Fall, 
wenn man aus dem Studium des kindlichen oder des 
tierischen Seelenlebens klärende Schlüsse auf die Beschaf- 
fenheit der psychischen Tatsachen des Erwachsenen zu 
ziehen strebt (genetische Psychologie), oder wenn man 
die Erscheinungen des pathologisch gestörten Seelenlebens 
dazu verwertet; dieses, wenn Sprachgeschichte, Sagen- 
entwicklung, Gesellschaftsformen, Welt- und Kulturge- 
schichte, Biographien usw. auf ihren psychologischen 
Gehalt hin ausgenützt werden. 

Alle diese indirekten Methoden sind nur unter' Vor- 
aussetzung und steter Mitwirkung der direkten möglich. 
Aber nicht nur deshalb, sondern auch schon an sich sind 
die direkten Methoden den indirekten an Leistungsföhig- 
keit und Bedeutung heute noch sehr überlegen und werden 
es noch lange Zeit bleiben. In ihrem Geleise bewegt sich 
die Hauptmasse der psychologischen Arbeit, und sie sind 
es, die das Schwergewicht der Ergebnisse zutage fördern. 



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n. Teil. 

Spezielle Psychologie. 

1. Hälfte: Psycliolögie des Geisteslelseiis. 



1. Kapitel. 
Die Toristelluigeii. 

A. Allgemeines und EinMIung^ 

Die VorsteUuilgeii sind gleichsam die Basis des 
ganzen psychischen Lebens, T^enigstens soweit es uns 
aus unserer eigenen, unmittelbaren inneren Erfahruilg be- 
kannt ist. Alle die übrigen Grundgebilde, die Gedanken 
jeder Art, die Gefühle und die Begehrungen müssen sich, 
um existieren zu können, auf Vorstellungön gründen, sie 
alle müssen, um lebensfähig zu sein, jene gewisise reale 
Vcörbindung mit Vorstellungen eingehen, die so, wie sie 
sich in der Erfahrung zeigt, mit beiträgt zu dem einheit- 
lichen inneren Zusammenhange des Bewußtseins. 

Eine sehulgerechte Definition der Vorstellung zu 
geben, ist der Natur der Sache nach ausgeschlossen. Sie 
ist aber auch entbehrlich. Die außerwissenschaftliche Be- 
deutung des Ausdrucks ist von dem der Psychologie nicht 
wesentfich verschieden, und die nötigen Verschärfungen 
öder Vergienaiierungen finden sich gelegentlich des Ein- 
zelnen; Beispiele tun das übrige. Wenn der bildende 
Künstler böi dei* Konzeption eines neuen Werkes in seiner' 
Phantasie das Bild der zu schaffenden Gestalt erschaut, so 
ist es eine Voi*stelluüg, was in ihm entstanden ist. .Wer sich 

Witasek, Gnmdliniea der Psychologie. 7 ^ ^^ .. ...^ 

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98 n. TeiL Spezielle Psychologie, 

in seine Erinnerungen versenkt und ein Erlebnis früherer 
Zeiten ins Oedächtnis ruft, der sieht in seinem Geiste die 
Gestalten, die ihn damals umgaben, er hat Vorstellungen. 
iWer einer musikalischen Aufführung lauscht, der erhält 
dabei Vorstellungen von Tönen und Tongebilden, diesmal 
IWahmehmungsvorstellungen. Und wer ein Haus zu bauen 
plant und zu dem Ende sich einen Kostenvoranschlag 
macht, dem ergibt sich schließlich die Vorstellung einer 
bestimmten ZaW. Vorstellungen finden sich ja im psy- 
chischen Leben immer und überall. Sie sind gleichsam 
die psychischen Bilder der Gegenstände, mit denen unser 
Bewußtsein beschäftigt ist. Man braucht nicht lange zu 
suchen, um ihrer mit Sicherheit inne zu ^werden. 

Einer Eechtfertigung mag nur bedürfen, daß wir 
unter Vorstellung im allgemeinen nicht bloß solche 
Bilder verstehen, die dem Gedächtnis oder der Phantasie 
entstammen, sondern auch die Empfindungen und Empfin- 
dungskompleze. Diese Erweiterung der sonst gebräuch- 
lichen Bedeutung des Ausdrucks empfiehlt sich aus 
inneren und aus äußeren Gründen. Der innere Grund 
liegt darin, daß die Empfindungen und Empfindungs- 
komplexe (Wahmehmungsvorstellungen) zu den Gedächt- 
nis- und Phantasievorstellungen offenbar viel nähere Art- 
verwandtschaft haben, als zu irgend welchen anderen 
psychischen Grundgebilden, ja daß sie solchen, etwa den 
Akten des Glaubens, des Überzeugtseins gegenübergehalten, 
sich geradezu als zusammengehörig erweisen; sie leisten, 
trotz ihrer Unterschiede an Anschaulichkeit und Leb- 
haftigkeit, doch alle dasselbe: bloße Vergegenwärtigung 
eines Gegenstandes, ohne Beteiligung irgend eines Uber- 
zeugungs- oder Gefühlsmomentes. Der äußere Grund ist 
der, daß nun dadurch das Bedürfnis nach einer gemein- 
samen Artbezeichnung entsteht und sich dazu kein 
anderer Ausdruck besser eignet als der der „Vorstellung", 
wobei er sich nur eben die kleine Bedeutungserweiterung 
gefallen lassen muß. 

Der bedeutenden Verschiedenheiten, die sich dann 
innerhalb dieser Klasse von Grundgebilden bei aller 
inneren Zusammengehörigkeit trotzdem noch finden, soll 
natürlich keineswegs vergessen werden. "Wir wollen uns 
vielmehr sofort der weiteren Einteilung zuwenden. Je 



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1. Hälfte,: Psychobgie des Geisteslebeiu. 99 

nach yerschiedenen Gesichtspunkten lassen sich verschie- 
dene, einander mehrfach kreuzende Einteilungen machen. 
Der. natürlichste unter ihnen ist wohl der, von dem 
bereits oben die Bede war, #ämlich der nach dem „Ur* 
Sprung'' der einzelnen Vorstellung. Danach sind zunächst 
Wahmehmungsvorstellungen und Phantasievorstellungen 
zu unterscheiden, von denen die letzteren wieder in Ge- 
dächtnisvorstellungen und Phantasievorstellungen engeren, 
eigentlichen Sinnes einzuteilen sind. Aber £unit ist die 
Einteilung nach diesem Gesichtspunkte noch nicht voll- 
ständig. Es gibt noch eine dritte Art des Ursprungs 
unserer Vorstellungen, eine Art, die allerdings viel weniger 
populär ist als die beiden anderen, aber theoretisch von 
nicht geringerer Wichtigkeit. .Wir wollen vorläufig nur 
versuchen, sie uns an einem Beispiele näher zu bringen. 
Es lägen drei Blätter farbigen Papiers vor uns, zwei davon 
rot in ziemlich ähnlicher Nuance, das dritte grün. Beim 
Anblick dieser Blätter kann man sagen: die erste und 
die zweite Farbe sind einander ähnlich, die erste und die 
dritte sind verschieden. Man bringt damit zwei Urteile 
(Überzeugungen) zum Ausdruck, und diese Urteile ent- 
halten, wie natürlich jedes andere auch, wenn auch nur 
irgendwie rudimentär, Vorstellungen in sich. So vor allem 
das eine die Vorstellungen der beiden roten Farben, das 
andere die der einen roten und der grünen. Das ist aber 
nicht alles, was sie an Vorstellungen enthalten. Vielmehr 
steckt in dem einen noch die Vorstellung der Ähnlichkeit, 
im andern die der Verschiedenheit; und wenn es auch 
nicht möglich ist, diese Vorstellungen ganz abzusondern 
von denen der Farben, oder wenigstens von denen irgend 
welcher ähnlicher, verschiedener Gegenstände (man kann 
Ähnlichkeit nur vorstellen, indem man Ähnliches vorstellt), 
so sind sie doch keineswegs identisch mit denen der Farben, 
sondern etwas anderes. Neues, Eigenartiges daneben und in 
Verbindung mit ihnen. Woher haben wir nun aber diese 
Vorstellungen der Ähnlichkeit, Verschiedenheit ? Aus der 
Sinneswahrnehmung gewiß nicht. Denn diese gibt in 
unserem »Falle nur die Vorstellungen (Empfindungen) von 
rot und grün, und kann nichts anderes geben, weil ob- 
jektiv nichts anderes vorhanden ist. Der Eeproduktion 
(dem Gedächtnis) aber wird man sie schon deshalb nicht 

Digitiz^d by VjOOQIC 



XOO ^I* ^^^* Spezielle Psychologie. 

zuschreiben, weil damit ohnedies keine Antwort aof die 
Frage gegeben wäre; denn die Eeproduktion wiederholt 
nur, was früher einmal bereits vorgestellt war. Es ist 
vielmehr ein Drittes, dessen%wir ülmgens, wenn wir nur 
darauf achten, deutlich inne werden. Um die Vorstellung 
der Ähnlichkeit usw. zu erlangen, vollziehen wir eine 
Tätigkeit in unserem Inneren: wir vergleichen. Das Er- 
gebnis dieser Tätigkeit ist, zugleich mit einem Urteil 
darüber, ob Ähnlichkeit vorliegt oder nicht, die Vor- 
stellung der Ähnlichkeit. 

Das ist ein Fall von vielen sehr verschiedenartigen, 
in denen eine neue Vorstellung aus einem Prozesse her- 
vorgeht, der sich in uns auf Grund von irgend welchen 
andern Vorstellungen abspielt. Wir bezeichnen diesen 
Prozeß als Vorstellungs- Produktion und werden auf 
ihn später noch ausführlicher zurückzukommen haben. 
Für jetzt haben wir ihn nur — neben Sinneswahmehmung 
(Sensation) und Eeproduktion — als dritte der Entstehungs- 
weisen von Vorstellungen zu verzeichnen. 

Ein weiterer Einteilungsgrund ergibt sich aus fol- 
gender naheliegenden Erwägung. Die überwiegend große 
Mehrzahl der Vorstellungen, die uns im Leben unterkom- 
men, stellt sich leicht als mehr oder weniger zusammen- 
gesetzt heraus. Wenn es nun auch kaum jemals möglich 
sein wird, solche Vorstellungen tatsächlich in ihre Ele- 
mente zu zerlegen und diese gesondert zu behalten, so 
ist die Sonderung doch wenigstens in Gedanken vorzu- 
nehmen, überdies durch die verhältnismäßig freie g^en- 
seitige Kombinierbarkeit der Elemente auch durch die 
Erfaüfirung nahegelegt. Man hat deshalb in der Psychologie 
einfache und zusammengesetzte Vorstellungen zu 
unterscheiden. 

Andere Einteilungen halten sich schon nicht mehr 
rein innerhalb des Gebietes des Vorstellens und können 
hier nur gestreift werden. So die in anschauliche und 
unanschauliche Vorstellungen. Wenn ich ein gleich- 
seitiges Dreieck aufzeichne und anschaue, so erhalte ich 
(in meiner Wahrnehmung) eine anschauliche Vorstellung 
dieser Figur, und wenn ich die Augen schließe, so kann 
ich mir das gleichseitige Dreieck auch in der Phantasie 
anschaulich vergegenwärtigen. Höre ich dagegen folgende 

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1. Hälfte: EqrcHolpgie des Geisieslebenfl. J,01 

^Worte ,J)i6 Schnittfigur, welche eine auf der Diago- 
nalen eines Würfels innerhalb des ersten Viertels ihrer 
Länge senkrecht stehende Ebene mit den Seitenflächen 
des Würfels bildet", so kann ich diese Worte sehr wohl 
verstehen und das, was sie bedeuten, denken, geradezu 
ohne zu wissen, daß ich damit ein gleichseitiges Dreieck 
„vorstelle" — was ja tatsächlich zutrifft, weil jene Schnitt- 
figur nichts anderes ist als ein solches Dreieck. Ich stelle 
also, indem ich diesen Worten folge und sie verstdie, 
ebenfalls ein gleichseitiges Dreieck vor, aber nicht an- 
schaulich, sondern unanschaulich. Man erkennt, eine 
wie außerordentlich große ßoUe die unanschauliehen Vor- 
stellungen in unserem psychischen Leben spielen. Es 
kommt verhältnismäßig selten vor, daß wir uns die Gegen- 
stände, an die wir denken und von denen wir sprechen, 
anschaulich, gleichsam in ausgeführtem Bilde vergegen- 
wärtigen; die Eegel ist irgend eine indirekte, unanschau- 
liche Aushilfe, die sich sehr häufig des Anschlusses an 
die sprachliche Bezeichnung des Gegenstandes bedient. 
Ja von sehr vielen Gegenständen können wir der Natur 
der Sache nach gar keine anschauliche, sondern immer 
nur eine unanschauliche Vorstellung haben. — Es ist 
eine ebenso wichtige wie schwierige Angelegenheit, die 
psychologische Natur der unanschauliehen Vorstellung 
durch Ajialyse zu bestimmen ; es zeigt sich dabei schließ- 
lich, daß sie streng genommen keine reine Vorstellung 
mehr ist, sondern nur durch die Mitwirkung von Ur- 
teilen (oder häufiger Annahmen) zustande kommt Auf 
das Nähere kann jedoch im Eahmen dieses Buches nicht 
eingegangen werden.^) 

Ein anderer Unterschied innerhalb des Gebietes der 
Vorstellungen, dw jedoch auch bereits nur durch Mit- 
wirkung anderer psychischer Funktionen zustande kommt, 
ist der der konkreten gegenüber den abstrakten. Jede 
Fläche z. R muß unbedingt irgend eine bestimmte Farbe 
und irgend eine bestimmte Gestalt haben; sie kann ohne 
das Eine oder das Andere unmöglich sein, kann auch 
nicht anders als in einer bestimmten Farbe und Ge- 



^) Siehe dazu: Meinong, Über Annahmen« (ErgänztmgBbd. 11 
der Zeitoobxift für Psychobgie.) Leipzig, 1902. 



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lOfi rt. Teil. Spezielle Psychologie. 

stalt vorgestellt werden. Immerhiii mag an einer solchen 
Vorstellung die an sich allerdings unerläßliche Teilvor- 
stellung der Farbe und der Gestalt unbeachtet bleiben: 
dann erhält man die abstrakte Vorstellung der Fläche. 
Dag^en ist die in allen ihren notwendigen Merkmalen 
gleichmäßig beachtete Vorstellung eine konkrete. Auch 
diese Unterscheidung bedürfte übrigens viel tieferer 
theoretischer Behandlung. Das Vorstehende mag indes 
genügen, um wenigstens ihren Zusammenhang mit der 
Unterscheidung von Allgemein- und Individualvorstel- 
lungen sowie mit der Lehre vom Begriff erkennen zu 
lassen und damit ihre außerordentliche Wichtigkeit zu 
zeigen. 



B. Die einzelnen Arten der Vorsteiiungen. 

' a) Bie Empflndunsren. 

1. Allgemeines. 

a) [Stellung innerhalb der Grundgebilde.] Die 
Wahmehmungsvorstellungen des normalen psychischen 
Lebens sind in der Eegel von zusammengesetztem Inhalte. 
Man kann sie sich also in Wahrnehmungsvorstellungen 
einfacheren Inhalts zerlegt denken. Die relativ einfachsten, 
jedoch noch (konkreten) gegeneinander selbständigen Be- 
standteile, auf die wir dabei kommen, sind die Empfin- 
dungen. Sonach verstehen wir unter Empfindungen Wahr- 
nehmungsvorstellungen von soweit als möglich einfachem 
Inhalte. 

Im allgemeinen sind am Inhalte der Empfindung zu- 
nächst Qualität und Intensität zu unterscheiden. Die 
Empfindung eines schwachen Geruches z. B. hat einen 
Inhalt von geringer Intensität und bestimmter, eigentüm- 
licher Qualität. Ferner tragen die Empfindungsinhalte 
mancher Sinne Bestimmungen an sich, die die zugeordneten 
Empfindungsgegenstände räumlich lokalisiert (und ausge- 
dehnt) erscheinen lassen. Schließlich ist der Empfindungs- 
inhalt, als reales psychisches Gebilde, stets zu einer be- 
stimmten Zeit und während einer bestinunten Dauer 
gegenwärtig. 

Ursächliche Veranlassung zum Zustandekommen der 



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1. HUlfte: Psychologie des Geisteslebens. 108 

Empfindungen sind im entfernteren Sinne Vorgänge der 
Außenwelt, die auf die Sinnesorgane eindringen, die 
äußeren oder Sinnesreize ; unmittelbar die von den 
äußeren Eeizen im Sinnes- und Zentralorgan (Gehirn) her- 
vorgerufenen physiologischen Vorgänge. (Es soll jedoch 
durch diese nur der praktischen, empirischen Forschung 
dienende Formulierung in der Kontroverse zwischen iWech- 
selwirkung und Parallelismus nicht irgendwie Stellung 
genommen sein.) 

Wir haben die Empfindungen durch ihre Begehung 
auf die Wahrnehmungsvorstellungen definiert und diese 
seinerzeit mit dem Hinweis auf ihren Ursprung aus 
der Sinnestätigkeit gegen die Vorstellungen anderer Art 
abgrenzt. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß 
dies nur eine indirekte, nicht auf die Beschaffenheit 
der Vorstellungen verschiedener Art selbst begründete 
Abgrenzung ist. In der Tat ist damit nicht etwa 
alles genannt, wodurch sich die verschiedenen Vorstel- 
lungen voneinander unterscheiden. Sie unterscheiden sich 
vieknehr nicht nur in der Art ihrer Entstehungsweise, 
um im übrigen gleich beschaffen zu sein, sondern sie 
sind auch selbst von verschiedener Beschaffenheit. Wenig- 
stens für die Gegenüberstellung von [Wahmehmungs- und 
reproduzierten Vorstellungen gilt dies in sehr deutlichem 
Sinne; ein und derselbe Gegenstand kann noch so voll- 
ständig durch die eine wie durch die andere repräsentiert 
sein, die beiden VorsteUungstatbestände sind doch hand- 
greiflich voneinander verschieden. Diese Verschiedenheit 
der Vorstellungen liegt also nicht an den Inhalten, sondern 
an der Qualität der Vorstellungsakte selber. Von der Art 
der Entstehungsweise der Vorstellungen ist sie bis zu 
gewissen Grade unabhängig, da ausnahmsweise die Quali- 
tät der Wahmehmungsvorstellung auftreten kann," auch 
ohne daß sich das Sinnesorgan, durch einen äußeren Eeiz 
angeregt, in Tätigkeit befindet; es ist dies der Fall bei 
den sogenannten Halluzinationen. 

ß) [Qualität der Empfindung ; Spezifische Sin- 
nesenergien.] Die Empfindungen sind bezüglich Quali- 
tät und Litensität von den Sinnesreizen abhängig. Bevor 
wir darangehen, die Einzelheiten dieser Abhängigkeits- 

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JL04 H» Teil. Spe^lle Pnyohojogie. 

beziehungen zu besprechen, sei einiges dargelegt, was you 
ihnen — und zwar zunächst von den Qualitäts-, dann den 
Iiitensitätsbeziehungen — im allgemeinen gilt. 

Das für den Ausfall der Qualität einer Sinnesempfin- 
dung normalerweise maßgebendste Moment ist die Beschaf- 
fenheit des die Empfindung hervorrufenden äußeren Eeizes. 
liichtreize (also Ätherschwingungen) rufen Farbenempfin- 
dungen, Schallreize Geräusch- oder Tonempfindungen, 
Temperaturreize Wärme- oder Kälteempfindungen usw. 
hervor. 

Dies gilt jedoch, wie gesagt, nur für noi;male 
Verhältnisse, unter denen die Einwirkung der äußeren 
Eeize von den an der Körperoberfläche Hegenden End- 
organen der Sinnesnerven, den Sinnesorganen, aufgenom- 
men wird. Es darf keineswegs etwa so verstanden werden, 
daß sich dem Sinnesorgan gleichsam ein Abbild des 
äußeren Beizvorganges aufdrängt, das es nur eben an 
das Grehiru und das Bewußtsein weiterzugeben hätte, ein 
Abbild, das als solches in seiner Beschaffenheit notwendig 
durch sein Vorbild, den Sinnesreiz, bestimmt wäre.. Die 
Sache steht vielmehr so, daß das Organ durch den Eeiz 
im wesentlichen nur die Anregung zur Tätigkeit erhält, 
daß sich diese Tätigkeit aber im allgemeinen ganz und 
gar in Formen abspielt, die hauptsächlich durch die Be- 
schaffenheit des Organes selbst bedingt sind. Diese Tätig- 
keiten sind je nach den verschiedenen Sinnesorganen ver- 
schieden, und es ist daher, ob gegebenen Falles z. B. 
eine Geschmacks-, Gesichts- oder eine Druckempfinduug 
zustande kommt, in erster Linie davon abhängig, ob der 
Reiz auf Nerven des Geschmacks-, des Gesichts- oder des 
T^tginnes eingewirkt hat, während die Beschaffenheit des 
Reizvorganges selbst dabei erst in zweiter Linie in Be- 
tracht kommt. 

Wenn trotzdem die Folge unserer Empfindungen kein 
chaotisches Durcheinander wird, sondern doch eine im 
allgemeinen eindeutige qualitative Zuordnuug zu den 
Reizvorgängen einhält, so daß also unser Bewußtsein nor- 
mal^weise auf Lichtreize mit Farben-, Druckreize mit 
Druckempfindungen usw. aptwortet, so kommt das daher, 
daß die verschiedenen Sinnesendorgane je nach ihrem be- 
sondereu anatomisch-histologischen Aufbau zur Aufnahme 



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1. Hälfte: Psychologie des (^eisteälebeiis. 106 

der £u]Lwiri:ung yerschiedener äußerer Beizvorgänge be- 
goudersf geeignet sind, während sich deren nervöse Ver- 
bindungen mit dem Zentrcilorgane der Einwirkung der 
äußren EeizYorgänge normalerweise überhaupt fast ganz 
entziehen. Das Auge ist besonders dem physikalischen 
Lichtreize, das Ohr dem Schallreiz usw. zugänglich. Wir 
nennen diese Tatsache (W. Nagel, 1894) die „spezi- 
f iscke Disposition'' des Sinnesorganes, und den äußeren 
Vorgang, dessen Einwirkung das Organ vermöge seiner 
spezifischen Disposition besonders zugänglich ist, den 
„adäquaten'' Beiz. 

Man hat nämlich, wie schon aus dem Vorstehenden 
ersichtlich, aUe Ursache, neben den adäquaten auch noch 
von inadäquaten Beizen eines Sinnesgebietes zu sprechen. 
Der Einwirkung solcher inadäquater Beize sind vorwiegend 
die nervösen Leitungsbahnen des Sinnesorganes zugäng- 
lich, doch dürft© ihr auch das Endorgan nicht ganz ent- 
zogen sein. Druck, auf das Auge ausgeübt, elektrische 
Durchströmung des Augapfels, operative Durchschneidung 
des Sehnerven sind von Lichtempfindungen begleitet; 
pathologische Vorgänge im Gehörorgan rufen subjektive 
Grehörsempf indungen hervor ; chemische, elektrische, mechar 
nische Beizung der chorda tympani, eines durch die 
Paukenhöhle verlaufenden Nervenstranges, der den sieben- 
ten Gehirnnerven (Nervus faciaüs) mit dem sich auch 
in die Zunge verzweigenden dritten Aste des fünften Ge- 
hirnnerven (N. trigeminus) verbindet und der unter andern 
auch der Leitung von Geschmacksempfindungen dienende 
Fasern enthält, ruft stets Geschmacksempfindungen her- 
vor ; elektrische Beizung der Haut erzeugt die Empfindung 
von Prickeln und Stechen. Man sieht: verschiedene in- 
adäquate Beizung eines Sinnesorganes ruft die gleiche 
Empfindung wie die adäquate, gleiche inadäquate Beizung 
an verschiedenen Organen verschiedene Empfindungen 
hervor.. Das ist der Inhalt des Gesetzes von den „spezi- 
fischen Sinnesenergien", wie es von Johannes Müller 
(1826, 1833—40) entdeckt und formuliert worden ist. Sein 
empirischer Nachweis ist in strenger Exaktheit allerdings 
erst für wenige Sinnesgebiete und für wenige inadäquate 
Beizarten gelungen ; dennoch kann es im allgemeinen auch 
jetzt schon als gesichert angesehen werden. Auch über 



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l06 Ü. Teil. Spezielle Psychologie. • 

die speziellere theoretische Auffassung des Gesetzes, vor 
allem ob es in der Art der fErregungsleitung oder der 
des zentralen Vorganges begründet ist, sind die Akten noch 
nicht geschlossen. Seine große Bedeutung für die Psycho- 
logie sowie auch für die Erkenntnistheorie wird dadurch 
indessen nicht berührt. 

Y) [Intensität der Empfindung; Webersches 
Gesetz ; Empfindungsmessung ; Fechnersche Maß- 
formel.] Ähnlich wie zwischen der Qualität der Empfin- 
dung und der des Keizes eine zwar im allgemeinen gültige, 
aber doch nur lose Abhängigkeit besteht, verhält es sich 
auch mit den Intensitäten: je größer die Intensität des 
Reizvorganges, desto größer im allgemeinen auch die der 
Empfindung. 

Eine erste und theoretisch bedeutsame Störung dieses 
Zusammengehens findet sich jedoch schon am Anfang der 
Größenskala. Der Nullpunkt der Empfindungsintensität 
fällt nicht mit dem der Eeizintensität zusammen, sondern 
diese muß erst eine gewisse von Null verschiedene Größe 
erreichen, bevor sie eine Empfindung überhaupt hervor- 
zurufen vermag. Man nennt diese Größe die Reiz- 
schwelle, die zugehörige Empfindung bisweilen das 
Empfindungsminimum. 

Eine anologe Störung des Zusammengehens findet 
sich in der Skala bei der Annäherung an das Empfin- 
dungsmaximum. Wenn nämlich die Reizintensität und 
mit ihr die Empfindungsi^itensität eine gewisse Größe er- 
reicht hat, so scheint eine weitere Steigerung des Reiz- 
vorganges keine Zunahme der Empfindung mehr zur Folge 
zu haben. Der Sachverhalt ist übrigens nicht endgültig 
festgestellt. Fortgesetzte Steigerung der Reizintensität hat 
schließlich zumeist Zerstörung des Sinnesorganes zur 
Folge. 

Eine dritte Inkongruenz zwischen Reiz- und Empfin- 
dungsveränderung findet sich endlich wohl auch auf dem 
Wege vom Empfindungsminimum zum Maximum. Es ist 
bestimmt zu vermuten, daß bei Steigerung der Reizintensi- 
tät die Zunahtne des Reizes erst eine gewisse Größe er- 
reichen muß, bevor die Empfindungsintensität ihrerseits mit 
einer Zunahme folgt; innerhalb dieser Grenze sind dann 



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1. Hälfte: tsychologie des Öeisteslebens. 107 

yerschiedene Beizintensitäten gleichen Empfindungen zu- 
geordnet. Jene Orö£e, die die Verschiedenheit zweier Beize 
wenigstens erreichen muB, damit die beiden Beize auch 
verschiedene Empfindungen hervorrufen, heißt Unter- 
schiedsschwelle. Je kleiner die Unterschiedsschwelle, 
desto größer ist die Unterschiedsempfindlichkeit des 
Individuums für das vorgegebene Beizgebiet. 

Es mag befremden, daß sich die heutige Psychologie 
in so allgemein wichtigen und grundlegenden Fragen mit 
Vermutungen sollte begnügen müssen. Dies verhält sich 
jedoch wirklich so, ist aber auf Grund sofort zu erör- 
ternder tatsächlicher Verhältnisse durchaus begreiflich. 

Bei der Bestimmung der Unterschiedsschwelle ist man 
nämlich darauf angewiesen, daß die Versuchsperson die 
beiden Empfindungen, die ihr durch die beiden verschie- 
denen Beize beigebracht werden, miteinander daraufhin 
vergleicht, ob sie gleich oder verschieden sind. Denn das 
bloße Vorhandensein der beiden Empfindungen im Bewußt- 
sein des Individuums ist noch keine Erkenntnis des Indi- 
viduums darüber, wie sie sich zueinander verhalten. Diese 
Erkenntnis ist ein neuer psychischer Akt, der durch eine 
eigene Tätigkeit, das Vergleichen, erst ermöglicht wird 
und als etwas Besonderes zu den beiden Empfindungen 
hinzukommt. Das gilt für alle Fälle. Freilich wird diese 
Tätigkeit, wenn die beiden Empfindungen genügend ver- 
schieden sind, nicht hervortreten, sondern so sicher, prompt 
und sozusagen von selbst ablaufen, daß sie ganz unbe- 
merkt bleibt; sind aber die beiden Empfindungen nur 
sehr wenig voneinander verschieden, so ist immer größere 
Sorgfalt und Aufmerksamkeit zum gedeihlichen Ver- 
gleichen nötig, bei weiter abnehmender tatsächlicher Ver- 
schiedenheit der beiden Empfindungen gelingt es dann 
bisweilen noch, zwar die Verschiedenheit überhaupt noch 
zu erkennen, nicht mehr aber ihre Bichtung (d. h. welche 
von beiden Empfindungen die stärkere ist), und schließ- 
lich gelingt auch dies nicht mehr: bei wiederholter Dar- 
bietung eines und desselben Empfindungspaares führt dann 
das Vergleichen in der überwiegenden Anzahl der Fälle zu 
unentschiedenen oder zu Gleichheitsurteilen; und dies, 
obwohl die beiden Empfindungen, nicht nur die Beiz- 
vorgänge, gewiß verschieden sind. Das Urteil über Gleich- 

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108 IL TmL Spezielle Paychol^gie. 

heit odeo: V^schiedenheit von Empfindungen kann alsQ, 
wenn auch Empfindungen und Urteil demselben Bewußt- 
sein angehören, sehr wohl falsch ausfallen, und wird, 
wenn die Verschiedenheit der beiden Empfindungen unter 
ein gewisses Maß herabgeht, (durchschnittlich) falsch aus- 
fallen oder unentschieden bleiben müssen. 

Das ist auf Grund der Erfahrung einwandfrei nach- 
gewiesen. Am kürzesten wohl durch folgende Überlegung.^) 
Man kann sich ohne viel Schwierigkeit eine Eeihe von 
Tönen ti, t^, tg, t^, tß so herstellen, daß die Töne 
immer höher werden, jedoch von einem zum nächsten 
nur um so wenig, daß auch auf Grund wiederholten sorg- 
fältigsten Vergleichens je zwei aufeinanderfolgende Töne 
durchschnittlich gleich erscheinen, während ti und U 
leicht und sicher als verschieden erkannt werden. Daraus 
folgt — wenn wir die zugehörigen Tonempfindungen 
mit 61 bis 05 bezeichnen — zunächst, daß Oi von Oj ver- 
schieden ist. Ist aber Ci von e« verschieden, so kann 
unmöglich ei = e2 = e8 = e4==e5 sein, weil dies 61 = 64 
erforderte. Es müssen also wenigstens an einer Stelle der 
Reihe die aufeinanderfolgenden Empfindungen verschie- 
den sein. Nun hat aber die Versuchsperson je zwei auf- 
einanderfolgende Töne für gleich erklärt und damit be- 
kundet, daß ihr auch je zwei aufeinanderfolgende Empfin- 
dungen gleich erschienen sind; denn wären ihr zwei 
Empfindungen verschieden vorgekommen, so hätte sie auch 
die Töne nicht gleich genannt. Es müssen also wenigstens 
an einer Stelle der Aufeinanderfolge zwei Empfindungen 
vorhanden gewesen sein, die verschieden waren, von der 
Versuchsperson aber für gleich angesehen wurden. Re- 
lativistische Bedenken können gegen diese Beweisführung, 
die natürlich geradeso gut wie für Qualitäten auch für 
Intensitäten gilt, nichts verschlagen. 

Also nicht nur zwischen den äußeren Reizen, sondern 
auch zwischen den Empfindungen des Bewußtseins können 
Verschiedenheiten vorliegen, <Me sich dem Erkanntwerden 
entziehen. Und das ist die Schwierigkeit, die sich dem 
Aufsuchen einer Unterschiedsschwelle entgegenstellt. Denn 
Unterschiedsschwelle soll das Minimum der Verschieden- 



^) Stumpf, Tonpsychologie, Leipzig, 1888—1890. I, S. 88. 

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1. Hälfte: Psychologie des GeiBteslebens. 109 

heit zweier Beiae sein, die zwei eben noch verschiedene 
Empfindungen hervorrufen. Ergibt sich mir nun beim 
Aufsuchen eines solchen Beizpaares zunächst einmal, daß 
mir die b^den Empfindungen Torerst noch gleich er- 
seheinen, so können sie gleichwohl voneinander bereits 
verschieden sein. Freilicn, sobald einmid die beiden 
Empfindungen als verschieden beurteilt werden, dann ist 
es sicher, daß sie auch verschieden sind, und dann ist 
die Verschiedenheit zwischen den zugehörigen Beizen 
größer als die Unterschiedsschwelle; verringert man nun 
aber diesen Unterschied allmählich, so wird man aller- 
dings wieder zu einem Funkte kommen, an dem die beiden 
Empfindungen nicht mehr verschieden erscheinen ; ob sie 
ab^ auch wirklich nicht mehr verschieden sind — wie 
es an der Unterschiedsschwelle der Fall sein sollte — , 
dafür besteht gar keine Gewähr, und es ist auch ganz 
unmöglich zu sagen, wie weit man von da an in der Ver- 
ringerung des Beizunterschiedes noch fortfahren mußte, 
am sicher dahin zu gelangen. Denn die beiden Empfin- 
dungen erscheinen (bei Ausschaltung gewisser konstanter 
Fehler, siehe unten) von da an immer ganz unverändert 
durchschnittlich gleich. 

Man sieht, es gibt kein direktes Verfahren zum Auf- 
suchen der Unterschiedsschwelle. Denn nur der Punkt 
läßt sich direkt feststellen, an dem die von den beiden 
verschiedenen Beizen hervorgerufenen Empfindungen 
gleich erscheinen, nicht der, an dem sie wirklich gleich 
sind; der Punkt nämlich, an dem die Verschiedenheit 
der beiden Beize gerade so groß ist, daß sie (oder 
auch die der zagehörigen Emjrfindungen) eben erkannt 
werden kann, oder wie man auch zu sagen pflegt, eben 
merklich wird. Das ist eine andere Tatsache als 
die der Unterschiedsschwelle; wir bezeichnen sie daher 
auch mit einem anderen Ausdruck, nämlich als Ver- 
schiedenheits-Merklichkeitss<3hwelle oder Unter- 
scheidungsschwelle. 

Diese beiden Schwellentatsachen sind von Anfang 
an bis heute vielfach nicht recht auseinandergehalten 
worden, und. fast alles, was unter dem Titel und Begriff 
der Unterschiedsschwelle ermittelt worden ist, gilt daher 
streng genommen für die Unterscheidungsschwelle. An 

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110 II. Teil. Speadelle Psychologie. 

der theoretischen Verwertung, die man auf diese Er- 
mittelungen aufgebaut hat, wird dadurch allerdings nicht 
allzu viel Wesentliches geändert. 

Nicht nur die Unterschiedsschwelle, auch die Eeiz- 
schwelle ist direkter Untersuchung strenge genommen 
entzogen; denn auch vor ihr steht erst noch eine 
MerkUchkeitsschwelle. Es ist nämlich Tatsache, daß es 
Empfindungen geb^i kann und gibt, die — zumeist wohl 
wegen zu geringer Intensität — unbemerkt bleiben.^) Das 
muß beim Aufsuchen der Reizschwelle in Anschlag ge- 
bracht werden. Geht man von der Eeizintensität Null 
aus, steigert man sie und gelangt man dabei endlich an 
einen Punkt, an dem sich Empfindung feststellen läßt, 
so hat dieser Funkt zunächst nicht die Bedeutung der 
Eeizschwelle, sondern die einer Schwelle, an der die 
Empfindung (und damit natürlich auch der Beiz) eben 
merklich wird; eine Empfindung kann tatsächlich auch 
schon unterhalb dieser Schwelle vorhanden gewesen, je- 
doch unbemerkt geblieben sein. Wann und unter welchen 
Bedingungen die Empfindungsmerklichkeitsschwelle der 
Eeizschwelle etwa gleich zu setzen sein mag, das zu 
untersuchen ist dann eine Aufgabe für sich. — 

Die experimentelle Bestimmung der Unterschieds-, 
genauer der Unterscheidungsschwellen hat in weiterer 
Entwicklung auf eine der wichtigsten Aufgaben der Psy- 
chologie geführt: die Messung der Empfindungsintensi- 
täten. 

Den ersten nachhaltigen Anstoß hierzu hat der 
Physiologe Ernst Heinrich Weber (1846) durch die 
empirische Ermittelung eines gesetzmäßigen Verhaltens 
der Empfindungen gegeben, die, nachdem sie später (1860) 
von Gustav Theodor Fechner in weitem Umfange unter- 
sucht, bestätigt und fester begründet worden war, seither 
unter dem Namen des Weberschen Gesetzes überaus 
große Bedeutung für die Psychologie erlangt hat. Es hat 
dieses Gesetz im Laufe der Zeit sehr verschiedene Formu- 
lierung erfahren. Beschränkt man sich jedoch, wie billig, 
auf möglichst korrekten, adäquaten Ausdruck des empirisch 



*) Vgl. die AuBführuBgen über unbevnißte psychiflche Tatsachen 
auf S. 57^ 



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1. Hälfte: FsychologiB des Geisteslebens. m 

Oefund^ien, so lautet es: Die einem Paare ebenmerklich 
voneinander verschiedener Empfindungen zugehörigen phy- 
sikalischen Beize stehen überall, wo immer man inner- 
halb der Empfindungsskala ein solches Paar aufsucht, im 
gleichen Verhältnis zueinander. Sind also e und e^ ein 
solches Paar, ei und e\ ein zweites, sind femer r, r', ri 
und r'i die zugehörigen ßeize, so gilt stets die Proportion 
r :r' = ri:r'i. 

Die Erfahrung hat übrigens ergeben, daß die Gesetz- 
mäßigkeit in ziemlich gleichem Umfange nicht nur für eben- 
merUäche, sondern auch für übermerkliche, d. h. also für 
größere Empfindungsverschiedenheiten gilt: zu Empfindun- 
gen, die, paarweise geordnet, gleich große Verschiedenheiten 
aufweisen, gehören physikalische Eeize, die, in gleichem 
Sinne paarweise geordnet, stets im gleichen Verhältnis 
zueinander stehen. Sind ei, 62, Os, e^ Empfindungen von 
der Beschaffenheit, daß die Verschiedenheit zwischen ei 
und e« ebenso groß ist als die zwischen e^ und e^, so gilt 
für die zugehörigen Beize ri, r^, rg, r^ wieder die Pro- 
portion ri:ra=^r8:r4. Verschiedenheiten stufen sich ja 
nach Größe ab und sind nach ihrer Größe untereinander 
vergleichbar. Hat man z. B. zwei Nuancen von Grau 
gegeben, ein helles gh und ein dunkles gd, so läßt sich 
sehr wohl eine mittlere Nuance gm bestimmen, die von gh 
ebensoviel verschieden ist wie von gd. Das wäre einer der 
vielen Fälle, in denen auch schon das praktische Leben 
bisweilen vor die Aufgabe gestellt ist, Verschiedenheiten 
nach ihrer Größe abzuschätzen, gleiche, größere, kleinere 
Verschiedenheiten als solche zu erkennen. 

So viel zur Formulierung des Weberschen Gesetzes. 
Was meinen Geltungsbereich anlangt, ist zu bemerken, daß 
er im allgemeinen nicht nur auf Empfindungsintensitäten 
(Schall-, Druck-, Wärmestärken), sondern auch auf Empfin- 
dungsqualitäten, sofern sie von quantitativ abstufbaren 
Beizvorgängen abhängig sind (z. B. Tonhöhen), sowie auf 
sogenannte „extensive Empfindungen" (z. B. Auffassung 
von Baum- und Zeitstrecken) berechnet ist. Im einzelnen 
haben sich mit fortschreitender genauerer Untersuchung 
zahlreiche Einschränkungen ergeben; diese betreffen zu- 
meist die Begionen an der Beizschwelle und der Beiz- 
höhe, schließen aber auch manche Empfindungsgebiete 

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112 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

in ihrem ganzen Umfange aus dem Geltungsbereiche dbs 
Gesetzes aus. Das Nähere darüber später. — ; 

Das Webeorsche Gesetz ist schon ron Fechner zu einem 
VersuchederEmpfindungs-Messungausgenütztwordöi. 

Geradeso wie etwa die Größe des Dampfdru(±s in 
einem Kessel einen G^enstand der Messung abgibt und 
durch den G^endruck von Gewichten oder einer Feder 
tatsächlich gemessen wird, geradeso hat auch z. B. einer 
Druckempfindung g^enüber die Forderung nach Mes- 
sung einen guten Sinn ; denn auch die Druckempfindung, 
genauer ihre Intensität, kann größer oder kleiner, schließ- 
lich auch gleich Null werden, auch sie hat also Größe 
oder ist eine Größe, und alles was Größe ist, ist, soweit 
es auf seine Natur ankommt, der Messung zugänglich. 

Fechner hat nun auf Grund des Weberschen Gesetzes 
eine mathematische Formel abgeleitet, welche die Maßzahl 
der Größe (Intensität) der zu messenden Empfindung 
liefern soll, wenn man die MaBzahl der Größe des za- 
gehörigen Eeizes in ihr einsetzt. Diese Formel ist unter 
dem Namen der Fechnerschen Maßformel bekannt und 
lautet: en=»Clogrn. Darin bedeuten en und rn die MaB- 
zahlen von Empfindung und Eeiz, eine empirisch be- 
stimmbare Konstante, und gilt als Einheit d^ Beizgröße 
die Reizschwelle, also jener Reiz, für den das zugehörige 
e eben gleich Null wird. 

Die Maßformel hat heute nur mehr historische Be- 
deutung; in langer, schwerer Arbeit hat die Psychologie 
endlich erkannt, daß sie im wesentlichen unzutreffend ist. 
Aber gerade aus dieser Arbeit ist der Psychologie so reicher 
Gewinn an grundlegenden Einsichten erwachsen, daß der 
Verlust reichlich aufgewogen ward. Es sei das Wesent- 
lichste davon im Folgenden kurz wiedergegeben. 

Die Maßformel muß preisgegeben werden, weil sich 
ihre Ableitung aus den Tatsachen des Weberschen Ge- 
setzes unrichtiger Ansätze bedient. Diese Ableitung ge- 
staltet sich nämlich — auf eine leicht zugängliche, ele- 
mentare Form reduziert^) — folgendermaßen. Sie geht 

*) Nach Höfler, Psychologie (1897) S. 186. — Femer ftii* die 
bepfnfPlichen Gnindlatfipen, die ^leitnng., ihre Kritik und weitere 
FcJgemngen daraus: Meinong, Über die Bedeutung des Weberschen- 
Gesetzes (1896) (auch Zeitschzift für Psychologie, Bd. XI). 



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gle 



1. Hälfte: Psychologie des Gei^eBlebens. Hg 

von einer Formulierung des Weberschen Gesetzes aus, 
die vielfach gang und gäbe ist und die besagt, daß 
gleichen Reizquotienten (= Reizverhältnissen) gleiche 
Empfindungsunterschiede entsprechen. Wählt man dem- 
nach aus den Reizen eine Reihe Ti, r2, • . . rn so aus, 
daß je zwei benachbarte Maßzahlen immer den gleichen 
Quotienten q ergeben, so entspricht diesen Reizen eine 
Reihe von zugehörigen Empfindungen Oi, e2, . . . Cn, von 
denen je zwei aufeinanderfolgende die gleiche Differenz 
€ gegeneinander haben. Dann gilt also 

~ — e und dazugehörig e, — ^ ei = « 

r. 



U 



I ! ^ 



Multipliziert man die Gleichungen der ersten, addiert 
man die der zweiten Kolumne, so ^hält man auf der 
einen Seite 

Ji » ^B— 1 und entsprechend auf der zweiten e^ — ei«=(n-l)tf. 

Aus jeder dieser beiden Gleichimgen n — 1 eliminiert, ergibt 
die neue Gleichung 

8 log Q 

e^-^ei=(logr^-logr^)j^. 

Der Bruch ^-^ hat, wie immer man die Reihe rj . . . r» 
löge 

nach obiger Angabe bilden mag, das läßt sieh leicht er- 
kennen, stets denselben Wert, ist adso eine Eonstaate C ; ri 
sei femer der Wert der Reizschwelle und werde zugleich 
als Reiz-Einheit gewählt. Dann ist log ri = log 1= und 
Bi 9h eben unmerkliche Empfindung = 0, da^er 

e^^^Ologr^. 
Witasek, Gnmdlinien der Psyoholotfie. ^^^ ^^ ^y (f OOglc 



1X4 n. Teil. Spezielle. Psychologie. 

Diese übrigens so einleuchtende und übersichtliche 
Ableitung ist deswegen hinfällig, weil sie, wie man sieht, 
auf Subtraktion und Addition von Empfindungsintensi- 
täten angewiesen ist. Empfindungsgrößen sind wohl zwar 
Größen, jedoch nicht teilbare, sondern unteilbare. Auf 
solche ist Addition und Subtraktion nicht anwendbar. Es 
ist nicht möglich, eine sehr intensive Tonempfindung 
in eine Anzahl gleichzeitiger schwächerer Tonempfin- 
dungen (von gleicher Tonhöhe) zu zerlegen, weil in der 
starken Tonempfindung die schwachen nicht enthalten 
sind: sie ist ein einheitliches unteilbares Ganzes; nicht 
wie der physikalische Eeizvorgang, der sich allerdings 
zusammensetzen läßt, indem man den Ton statt etwa 
auf einer Geige stark, zugleich auf dreien schwächer 
anstreicht. Die Empfindung eines starken Knalles ist 
nicht eine Summiö aus vielen schwacheÄ KnäUempfin- 
dungen, und man kann nicht etwa ein Stückchen Intensität 
davon wegnehmen oder auch nur weggenommen denken, 
das dann selbständig wieder eine schwache Knallempfin- 
dung wäre ; die Lufterschütterung freilich kann in gleicher 
Intensität ebenso gut durch eine einzige starke Explosion 
wie durch zwei zugleich erfolgende schwächere hervor- 
gerufen werden. Dasselbe gilt trotz sonstiger Verschieden- 
heit von Lichtempfindungen. Die, Empfindung von sehr 
hellem Licht, also eine sehr intensive Lichtempfindung, 
läßt sich nicht in mehrere Lichtempfindungen geringerer 
Intensität, in mehrere Empfindungen von dunklerem 
Lichte zerlegen; die Reizvorgänge mögen sich auch hier 
addieren lassen und aus ^eichartigen Teilvorgangen zu- 
sammengesetzt erweisen, die resultierende Empfindung ist 
bezüglich Intensität immer etwas Einfaches, Einheitliches, 
ünzusammengesetztes und unzerlegbares. 

Darum hat es an sich schon keinen Sinn, Additions- 
und Subtraktionsoperationen mit Empfindungsintensitäten 
vorzunehmen. 

Nun kommt aber ein zweiter Einwand von noch all- 
gemeinerer Bedeutung hinzu. Die Ausdrücke 

e t — ei =» e, — e, =-...=- e^ — e^ _j = « 

sollen auf Grund der im Weberschen Gesetz formulierten 
Erfahrungstatsache in Ansatz gebracht worden s^in. Da 



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L Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 115 

ist 68 schon wegen der Undurchführbarkeit einer wirk* 
liehen Subtraktion von Empfindungsintensitäten höchst un- 
wahrscheinlich, daß damit die an sich doch so leicht zu- 
gängliche, einfache Erfahrung richtig zum Ausdruck ge- 
bracht worden wäre. Die Gleichungen könnten also nur 
in irgend einem übertragenen Sinne gemeint sein, weil 
es, wie gesagt, Empfindungsdifferenzen eigentlich nicht 
gibt; von Rechtfertigung einer solchen Übertragung ver- 
lautet aber nichts Triftiges. "Wohl aber gibt es gewichtige 
Gründe gegen die Zulässigkeit einer auch nur in über- 
tragenem Sinne gemeinten Anwendung des Differenzaus- 
druckes. 

Die im Weberschen Gesetz niedergelegte Erfahrung 
lehrt, daß zwischen den Empfindungen gleich große Ver- 
schiedenheiten vorliegen, wenn die zugehörigen Eeizgrößen 
in gleichen relativen Verhältnissen zueinander stehen. 

Daß wir diese Tatsache erkennen können, kommt 
daher, daß es erstens verschieden große Verschieden- 
heiten gibt, und zweitens, daß wir die Größe einer Ver- 
schiedenheit aufzufassen und mit der anderer Verschieden- 
heiten zu vergleichen vermögen, ohne daß wir sie gerade 
zahlenmäßig ausdrücken. Die Verschiedenheit von Bot 
und Orange ist kleiner als die von Bot und Blau; und 
es läßt sich ein Gelb bestimmen, das zu Orange eine 
gleich große Verschiedenheit einhält, wie dieses zu einem 
bestimmten Bot. 

Die Größe von Verschiedenheiten läßt sich aber unter 
umständen auch zahlenmäßig ausdrücken. Besonderes 
Interesse verdient dabei der Fall, in dem die beiden ver- 
schiedenen Gegenstände Größe haben und deren Größe 
zahlenmäßig bestimmt ist. Denn dann ist es möglich, aus 
den Maßzahlen der beiden verschiedenen Gegensl^nde 
einen Zahlenausdruck zu bilden, dessen "Wert sich inner- 
halb genügender Grenzen parallel mit der Größe der Ver- 
schiedenheit der beiden Gegensätze verändert und der daher 
als Maßzahl der Größe ihrer Verschiedenheit verwendet 
werden kann. 

Dieser Ausdruck ist aber nicht die absolute Dif- 
ferenz der Maßzahlen der beiden verschiedenen Gegen- 
stände; denn es kann in zwei Fällen gleiche absolute 
Differenz vorliegen, ohne daß die beiden Verschieden- 

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Jlg n. Teil. Spezielle Psychologie. 

heiten gleich groß sind. Eine Strecke von 10 cm ist 
von einer Strecke von 20 cm viel mehr verschieden als 
eine Strecke von 100 cm gegen eine von 110 cm, und 
doch ist die Differenz beide Male die gleiche. Damit die 
zweite V^schiedenheit gleich der ersten wird, daau ist 
erforderlich, daß entweder an Stelle von 110 cm eine 
größere Strecke, nämlich 200 cm, oder an Stelle von 
100 cm eine kleinere, nämlich 55 cm gesetzt werde ; tat- 
sächlich ist die Verschiedenheit von 10 zu 20 cm gleich 
der von 55 zu 110 oder der von 100 zu 200 cto. — Daraus 
folgt, daß, wie gesagt, nicht die absolute, sondern die 
relative Differenz der Maßzahlen zweier verschiedener 
Größen die braudibare Maßzahl für die Größe ihrer Ver- 
schiedenheit abgibt 1); daß also, wenn die zwei verschie- 
denen Größen gleich a und b sind, nicht a — b, sondern 

die Größe ihrer Verschiedenheit ausdrückt. 

."Wenn wir nun darauf ausgehen, das Webersche Ge- 
setz zur Empfindungsmessung auszunützen, so heißt das, 
daß wir den einzelnen Empfindungs-(Intensitäts-)Größen 
entsprechende Maßzahlen zuordnen wollen. Liegen uns 
weitOT, wie es bei der Verifikation des! TVebersqhen Gesetzes 
vorkommt, zwei Empfindungspaare vor, etwa Oi, 02 und 
es, e^, die gleich große Verschiedenheiten aufweisen, so 
daß wir schreiben können e^Ve, = e^Ve^ , so haben wir 
die den Empfindungsgrößen entsprechenden Maßzahlen 
Ci bis Ci so zu wählen, daß die relativen Differenzen gleich 
sind, also ^^_^ e,--e. 

ei ^ e, • 

Soweit nun das "Webersche Gesetz gilt, liegen gleich große 
Empfindungsverschiedenheiten dann vor, wenn die Maß- 
zahlen d^ zugehörigen Reizgrößen (ri bis r^ gleiche Quo- 
tienten bilden, wenn also — = — ist. Dann ist aber auch 

r, r4 



^) Daß auch die relative Differenz noch nicht aUen Anforde- 
run^en entapricht und welcher Ausdruck das einwandfr^este Yer- 
schiedenheitsmaß abgibt, siehe bei Meinon^, a. a. 0. Daselbst auch 
genauere Ableitung des Folgenden sowie Klarung einiger Schwierig- 
keiten und Bedenken. — Eine vollstSndige rein mathematische Ab- 
leitung des Yerschiedenheitsmaßes von MaUy, 1907. 



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1, Hälfte: Ftoychologie des Q^isteslebens. 117 

^"^' somit ,.V,. = ,.V,:. 

,"Wir können demnach den Inhalt des .Weberschen Ge- 
setzes auch so ausdrücken: Wenn die Maßzahlen der 
Beizgrößen gleiche relative Differenzen einhalten, haben 
auch die den zug^örigen Empfindungen angemessenen 
Maßzahlen gleiche relative Differenzen ; oder noch anders 
und kürzer: Gleiche Verschiedenheiten der Eeizgrößen 
entsprechen gleich großen Verschiedenheiten der Empfin- 
dungen. 

Daraus folgt anmittelbar, daß die Empfindungen 
proportional mit den zugehörigen Beizgrößen 
wachsen, und nicht, wie es nach der Fechnerschen Maß- 
formel der Fall wäxe, proportional dem Logarithmus des 
'Beizes. Es kann daher innerhalb der Grenzen der Gültig- 
keit des Weberschen Gesetzes die Maßzahl der Beizgröße 
ohne weiteres auch als Maßzahl der zugehörigen Empfin- 
dung verwendet werden. Die Aufgabe der Messung von 
Empfindungsgrößen ist daher für diesen Fall aufs ein- 
fachste gelöst. 

Es sei noch hinzugefügt, daß diese Ableitung nicht 
nur für Empfindungsintensitäten gilt, sondern auch auf 
Qualitäten anwendbar ist, sofern sie zahlenmäßig be- 
stimmten Beizvorgängen zugeordnet sind, und ebenso auch 
auf sogenannte extensive Empfindungen (Auffassung von 
Baum-, Zeitstrecken). — 



b) [Die psychophysischen Maßmethoden.] Die 
konkrete Aufgabe, die bei der praktischen Durchführung 
von Empfindungsmessungen zu lösen ist, kann gemäß 
dem Vorstehenden zweierlei Gestalt annehmen; ent- 
weder es ist ein Beiz ri gegeben und ein zweiter r^ zu 
suchen, der so beschaffen ist, daß die ihm zugeordnete 
Empfindung e^ von der dem andern zugeordneten Empfin» 
düng ei eben merklich verschieden ist (Aufsuchung der 
Unterscheidungsschwelle); oder es ist ein Beizpaar Ti, r, 
gegeben, deren zugeordnete Empfindungen e^ und e^ über- 
merklich voneinjHider verschieden sind, und es ist zu einem 



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118 II. Teil. Spezielle Psychologie. 

außerdem noch gegebenen Keiz is ein vierter Eeiz r^ zu 
suchen, der so beschaffen ist, daß die Verschiedenheit der 
ihm zugeordneten Empfindung e^ von der dem r» zuge- 
ordneten Empfindung e« gleich groß ist der Verschieden- 
heit zwischen ei und Oj. Die zweite Aufgabe kann Modi- 
fikationen in dem Sinne erfahren, daß r« mit i^ identisch 
ist ; oder daß ri und ra gegeben sind und das zu suchende 
rs zwischen ihnen so zu Uegen hat, daß die Verschieden- 
heit ^ 03 gleich wird der von es 63. Daran reiht sich femer 
noch die Aufsuchung der Reizschwelle an. 

Die Lösimg dieser Aufgaben ist Sache der sogenannten 
psychophysischen Maßmethoden. Dieselben dienen damit 
zunächst und unmittelbar der Psychophysik, das ist 
einem Zweige der Psychologie (zugleich auch der Physio- 
logie), der die speziellen Zusammenhänge zwischen Phy- 
sischem und Psychischem, vor allem die Maßverhältnisse 
zwischen Eeiz und Empfindung zum Gegenstande hat, 
und der besonderes Interesse dadurch gewinnt, daß er 
gleichsam die Leistungsfähigkeit unserer Sinne er- 
mittelt. 

Bei der praktischen Durchführung einer solchen psy- 
chophysischen Aufgabe ist es stets notwendig, sich nicht 
etwa mit einer einzigen Bestimmung des aufzusuchenden r 
zu begnügen, sondern für jeden einzelnen Fall möglichst 
zahlreiche Einzelmessungen dieser Größe vorzunehmen, 
und zwar so, daß man dabei die äußeren und inneren 
Versuchsumstände, soweit man ihrer habhaft werden kann, 
konstant erhält. Es ergibt sich nämlich, daß die Einzel- 
messungen nicht zusammenfallen, sondern im allgemeinen 
stets voneinander abweichende Resultate haben. Das kommt 
daher, daß man nicht imstande ist, alle psychischen und 
außerpsychischen Momente, die auf den Ausfall der Mes- 
sung von Einfluß sind, in Evidenz zu behalten; einen 
Teil davon kennen wir höchstwahrscheinlich noch gar 
nicht, und was wir davon kennen, wie z. B. die Schwan- 
kungen der Aufmerksamkeit, vermögen wir nicht mit ge- 
nügender Sicherheit zu beherrschen. Solche Momente ver- 
fälschen also die Messung jeweils in verschiedenem Be- 
trage, sie .werden für sie zu Quellen variabler (zufälliger) 
Fehler. Diese können daher nicht anders unschädlich ge- 
macht werden als auf Grund der allerdings wohlf undierten 



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1. Häufte: Psychologie des Geisteslebens. 119 

Annahme, daß in einer unendlichen (in der Praxis sehr 
großen) Anzahl von Einzelmessungen die Fehlerbeträge 
in einer gesetzmäßigen Verteilung um den so zu nennenden 
„wahren Wert'' herum auftreten, und jeder absolute Fehler- 
betrag ebenso oftmals mit positivem wie mit negativem 
Vorzeichen vorkommt; dann ist man in der Lage, den 
wahren W&rt durch Rechnung zu bestimmen, und zwar 
einfachsten Falles durch Berechnung des arithmetischen 
Mittels aus den Ergebnisseh der Einzelmessungen. Diesen 
iWert nennt man (nach G. E. Müller) den Hauptwert 
der Größe, die zu bestimmen war. Außerdem ist es noch 
nötig, das sogenannte Streuungsmaß zu ermitteln, das 
Maß der durch die zufälligen Fehler bedingten Variabili- 
tät der Einzelmessungen, dessen Berechnung auf ver- 
schiedene Weise erfolgen kann. 

In der Eegel läßt sich eine und dieselbe Fragestellung, 
wenn sie nicht bis ins Einzelne bestimmt ist, in Versuchen 
von verschiedener Konstellation (Anordnung) behan- 
deln. Ist z. B. die Aufgabe gestellt, die Unterscheidungs- 
schwelle für Druckreize zu bestimmen, so können die 
zur Lösung der Aufgabe erforderlichen Versuche ent- 
weder 60 angestellt werden, daß die beiden zu ver- 
gleichenden Druckreize gleichzeitig an verschiedenen 
Hautstellen, oder nacheinander an der gleichen Hautstelle, 
oder nacheinander an verschiedenen Hautstellen appliziert 
werden. Das wären drei verschiedene Versuchskonstel- 
lationen für die gegebene Aufgabe. Jede von ihnen würde 
nun aber, durch eine genügend lange Versuchsreihe festge- 
halten, im allgemeinen auf einen andern Hauptwert für die 
zu suchende Unteischeidungsschwelle führen. Einer dieser 
Werte inüßte natürlich der kleinste sein, also für die Unter- 
schiedsempfindlichkeit die größte, gleichsam günstigste Zahl 
ergeben. Gibt man diesem — oder übrigens auch irgend 
einem der andern — Hauptwerte den Vorzug, so erscheinen 
die übrigen gewissermaßen mit einem Fehler behaftet. 
Dieser Fehler ist nun aber kein zufälliger mehr, sondern 
er ist von der jeweiligen Versuchskonstellation abhängig 
und beeinflußt deren E^ebnis mit einem relativ konstanten 
Betrage jedesmal. Er wird daher zu den sogenannten 
konstanten Fehlern gerechnet. 
. Quellen konstanter Fehler gibt es im ganzen sehr 

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1J)0 n. T4»iL Spezielle Psychologie. 

verschiodeaer Art. Zwei von allgemeinster Wirksamkeit 
sind die Baumlage und die Zeitlage, Diese machen 
sich z. B. sehr deutlich geltend bei Versuchen über das 
Vergleichen von gehobenen Gewichten. Dabei beobachtet 
man, daß bei einer und derselben objektiven Differenz 
der Gewichte ihre Verschiedenheit regelmäßig leichter oder 
schwerer erkannt wird, je nachdem das eine oder das 
andere Gewicht zuerst oder zu zweit, auf der rechten 
oder der linken Seite, mit der rechten oder der Unken 
Hand gehoben wird. Es ist, als ob das einzelne Gewicht 
keinen absolut konstanten Betrag hätte, sondern je nach 
der Konstellation bald größer, bald kleiner würde. Für 
das. Erkennen der Verschiedenheit der beiden Gewichte 
kommt also zunächst nicht ihre wirkliche, objektive Dif- 
ferenz, sondern eine durch die konstanten Fehler abge- 
änderte, die (nach G. E. Müller) sogenannte „wirksame 
Differenz" zur Geltung. 

Für das rein psychophysische Interesse haben solche 
und ähnliche Einflüsse tatsächlich die Bedeutung von 
Fehlerquellen, Störungen und Schwierigkeiten, und sie 
müssen deshalb so gut es geht ausgeschaltet oder umgangen 
werden. Für die Psychologie dagegen sind gerade sie es, 
die den psychophysischen Messungen, besonderen Wert 
und besonderes Interesse verleihen. Denn sie alle sin.d 
ja doch nichts anderes als willkommene Äußerungen psy- 
chischer Gesetzmäßigkeiten, die beim Vergleichen, daher 
in weitestem Umfange auch im Denken überhaupt zur 
Geltung kommen, und die nun, hauptsächlich durch Varia- 
tion der Versuchskonstellationen, natürlich nur bei 
entsprechender Fraktionierung und Diskussion der 
Einzelergebnisse, der Analyse zugeführt werden 
können. 

Das psychologische Interesse geht also bei der Empfin- 
dungsmessung und allen verwandten Aufgaben über das 
bloß psychophysische weit hinaus. Dennoch dienen fürs 
Erste und Grundlegende beiden die gleichen Maßme- 
thoden. Dieselben sind wohl je nach dem Anwendungs- 
gebiete und der Fragestellung im einzelnen von überaus 
mannigfaltiger Gestalt. Einer allgemeinen Charakteri* 
sierung sind sie dag^en uuschwer zugänglich. Zu diesem 
Zwecke lassen sie sich im wesentlichen auf zwei Haupt- 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 121 

formea zurückführen, die (nach Ebbinghaus) als Verfahren 
mit Beizf indung und Verfahren mit Urteilsf indung 
bezeichnet seien. Beim ersten hat die Versuchsperson durch 
selbständiges Variieren des Beizes jene Größe oder Be- 
schaffenheit desselben aufzusuchen (herzustellen), bei der 
ihr der gewünschte Erfolg einzutreten, also entweder die 
Empfindung ebenmerklich oder die Empfindungsverschie* 
denheit ebenmerklich, oder die Empfindungverschieden- 
heit ^ner anderen gegebenen gleich zu werden scheint 
(Methode der Herstellung nach G. E. Müller). Oder 
man bestinunt dabei den aufzusuchenden Wert des ver- 
änderlichen Beizes dadurch, daß man gleich oftmals von 
deutlicher Über- wie von ausgesprochener Untermerklich- 
keit ausg^end den Beiz in methodischer Weise konti- 
nuierlich herabsetzt oder steigert und zwar bis zur Er- 
reichung oder minimalen Überschreitung des gesuchten 
Punktes in der Beizskala, und aus den Einzelbestimmungen 
das Mittel nimmt (Methode der Minimaländerungen 
oder Grenzmethode). — Beim Verfahren mit Urteils- 
findung tritt an die Stelle des variablen Beizes „eine 
mehr oder weniger große Anzahl von Beizen'' [in der 
vermuteten Umgebung des gesuchten Beizes], „die während 
des ganzen Verlaufes der Versuchsreihe konstant bleiben 
und in dieser oder jener Beihenfolge aufeinander folgen. 
Die Versuchsperson ist instruiert, bei Gegebensein eines 
jeden dieser Beize sich für eines der Urteile zu entscheiden, 
die ihr von vornherein zur Verfügung gestellt worden 
sindy und aus den relativen Zahlen der Fälle, in denen 
diese verschiedenen Urteile abgegeben worden sind, sucht 
man dann'' diei Antwort auf die gestellte Frage (Eonstanz- 
methode). 

Das sind die allgemeinen Grundtypen der heute in 
Verwendung stehenden psychophysischen Methoden. Auf 
sie läßt sich alles zurückführen, was an solchen Methoden 
unter irgend welchen andern Namen bekannt ist; so etwa 
die Methode der richtigen und falschen Fälle, die im 
wesmtlichen ein Verfahren mit Urteilsfindung, und die 
Methode der mittleren Fehler, die ein Verfahren mit Beiz- 
findung darstellt. 

In der praktischen Anwendung müssen sich diese 
allgemeinen Grundtypen der jeweiligen Fragestellung ver- 

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122 il. Teil. Spezielle'Psychologie. 

schiedentlich anpassen und erfahren dabei im einzelnen 
die mannigfachsten Ausgestaltungen.^) 

2. Gehörsempfindungen. 

a) [Psychologische Beschreibung.] Dem vor- 
wissexLSchaftiichen Bewußtsein drängt sich als auffal- 
lendster qualitativer Gegensatz innerhalb des Gebiets der 
Gehörsempfindungen der auf, der durch den Hinweis auf 
Klänge oder Töne einerseits, Geräusche anderseits gekenn- 
zeichnet ist. Wir werden uns später davon Bechenschaft 
zu geben haben, ob dieser Gegensatz tatsächlich die 
Empfindungen betrifft oder nicht. 

Die überaus große Mannigfaltigkeit der verschiedenen 
Klänge läßt sich nach Tonhöhe, Tonstärke und Elang- 
färbe ordnen. Auch da sei es noch späterer Stelle 
vorbehalten, auszumachen, inwieweit diese Unterschiede 
wirklich bereits in der bloßen Empfindung begründet sind. 
Vorläufig genügt es, darauf hinzuweisen, daß die drei 
Bestimmungen gegeneinander zwar innerhalb sehr weiter 
Grenzen, aber doch nicht gänzlich voneinander unabhängig 
variabel sind. Schlage ich auf dem Klavier zwei ver- 
schiedene Tasten an, so erhalte ich zwei Empfindungen 
von verschiedener Tonhöhe. Schlage ich zweünal dieselbe 
Taste an, aber das eine Mal schwach, das andere ^al 
kräftig, ISO erhalte ich zwei Tonempfindungen von gleicher 
Tonhöhe und Klangfarbe, jedoch verschiedener Tonstärke. 
G^be ich endlich den Ton der einen Taste der Beihe 
nach auf dem Klavier, der Geige, Flöte, Trompete, einer 
StinmoLgabel, einer Glocke an, und zwar, so gut es eben 
geht, in gleicher Tonstärke, so unterscheiden sich. die Ton- 
empfindungen nur durch ihre E[langfarbe. Vergleicht man 
aber die tiefsten Töne eines Klaviers mit seinen höchsten, 
80 wird einem sehr deutlich, daß es sich da nicht nur um 
Tonhöhen- Verschiedenheiten handelt, sondern gewiß auch 
um solche Verschiedenheiten, die denen der Klangfarbe 
mindestens verwandt sind: cUe tiefen Töne sind dunkel, 



Das Nähere daräber: Q. E. Maller, Die Geidchtspmücte 
und die Tatsachen der psychophysischen Methodik (in Ergebnisse der 
Physiologie IE, 2), Wiesbaden, 1904; Lehmann, Lehrbuch der psycho- 
logischen Methodik, Leipzig, 1906. 



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1. HSlfte: Fsyeliologie des Geisteslebens. 123 

dumpf, schwer, massig, weich, die hohen dagegen hell, 
dünn, spitzig, leicht, scharf; und diese Merkmale sind 
an die Tonhöhen gebunden, nicht unabhängig von 
ihr, sondern mit ihr variabel. Wir wollen sie vor- 
behaltlich späterer genauerer Bestimmung (mit Stumpf) 
die Tonfarbe nennen. 

Auf dem Klavier sind die Töne nach der Tonhöhe 
geordnet ; je weiter links eine Taste, desto tiefer, je weiter 
rechts, desto höher ist der zugehörige Ton. Es enthält 
jedoch weitaus nicht alle Töne, die es gibt. Nicht nur 
daß man die Anordnung noch weiter nach der Tiefe (nach 
links) und nach der Höhe (nach rechts) fortsetzen könnte, 
auch je zwei benachbarte Tasten geben bereits so sehr 
voneinander verschiedene Töne, daß man noch sehr viele, 
zwar weniger, aber immer noch merklich voneinander 
verschiedene Töne — in der gleichen Anordnung — da- 
zwischen einschieben könnte. Man kann sogar eine Eeihe 
herstellen, die einen stetigen Übergang über die Gesamt- 
heit aller Tonhöhen vom tiefsten zum höchsten Ton ver- 
mittelt. Je weiter zwei Töne in dieser Eeihe voneinander 
entfernt sind, desto verschiedener sind sie in betreff ihrer 
Tonhöhe; die Mannigfaltigkeit der Tonhöhe ist eindimen- 
sional und ließe sich danach durch eine vertikale Gerade 
versinnbildlichen, deren Punkte von unten nach oben 
inmier höheren Tönen zugeordnet sind, und zwar so, daß 
die Distanz zweier Punkte der Verschiedenheit der , zu- 
geordneten Töne proportional ist. 

Die Kichtigkeit einer solchen räumlichen Darstel- 
lung der Tonhöhenmannigfaltigkeit wird jedoch durch Tat- 
sachen ganz eigentümlicher Art wieder in Frage gestellt. 
Stellt man nämlich zwei zugleich erklingende Töne von 
möglichst genau gleicher Tonhöhe heir (etwa mittelst zweier 
Lippenpfeifen), so erhält man davon, sofern sie nicht etwa 
räumlich auf die beiden Ohren verteilt sind, nur eine 
einzige, einheitliche Empfindung. Erhöht man dann aber 
ganz allmählich den einen der beiden Töne, etwa durch 
Verkürzung der einen Pfeife mittelst Hineinschiebens 
ihres Stempels, so hört man im allgemeinen deutlich zwei 
verschiedene Töne; aber es treten, wenn man die Ton- 
erhöhung genügend weit fortführt, mehrfach Punkte auf, 
an denen der Eindruck der Zweiheit in größerem oder ge- 

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124 H* '^^^ Spezielle Biyohologie, 

ringerem Grade wieder dem der Einheit oder Einheitlich- 
keit Platz macht, die beiden Töne wieder mehr oder weniger 
zu einem einheitlichen Ganzen verschmelzen, aus dem 
man bei entsprechender Übung die zwei verschiedenen 
Töne wohl herauszuhören, herauszuanalysieren und als 
verschieden zu erkennen vermag, das aber von Ungeübten 
leicht auch für nur ein einziger Ton genommen wird. 
Solche bei gleichzeitigem Erklingen miteinander ver- 
schmelzende Töne werden auch sonst vom Ohre leicht mit- 
einander verwechselt, und zwar im ganzen um so eher, einen 
je höheren Verschmelzungsgrad sie ergeben. Man wird 
deshalb wohl recht haben, zu sagen, daß ein Ton mit 
einem anderen, in der Tonreihe entfernteren, mit dem er 
aber in besonderem Grade verschmilzt, in gewissem Sinne 
ähnlicher ist als dem ihm benachbarten, mit dem er eben 
nicht verschmilzt. Diesen Ähnlichkeits- und Verschieden- 
heitsverhältnissen zweiter Art ist in der Darstellung der 
Tonhöhen-Mannigfaltigkeit durch eine Gerade nicht Rech- 
nung getragen; denn die wachsenden Distanzen ihrer 
Baumpunkte können nur einer der beiden Verschieden- 
heitsarten zugeordnet werden, und versinnbildlichen bloß 
die erste. Es ist jedoch noch nicht gelungen, eine vollkom- 
men entsprechende räumliche Darstellung zu konstruieren. 

Wir finden also, daß gewisse Intervalle — so 
bezeichnet man das Tonhöhenverhältnis zweier Töne 
zueinander — durch besonders hohe Verschmelzungsgrade 
ausgezeichnet sind. Das Intervall, das bei gleichzeitigem 
Erklingen der beiden Töne den höchsten Verschmelzungs- 
grad ergibt, heißt Oktave. Innerhalb des Tonraums der 
Oktave findet sich wiederum ein Ton, der mit dem Grundr 
(Ausgangs-)ton von allen Tönen innerhalb der Oktave am 
stärksten verschmilzt; er bildet mit dem Grundton das 
Intervall der reinen Quinte. Mit der Oktave des Grund- 
tones dag^en bildet er wieder ein anderes Intervall, das 
wiederum kleiner ist als die Quinte und einen noch etwas 
geringeren Verschmelzungsgrad ergibt als diese, die reine 
Quiarte. 

Damit ist der Anfang Jena: Auswahl gemacht, die 
von der musikalischen Praxis und dem wissenschaftlichen 
Interesse innerhalb der geradezu unendlichen Anzahl der 
im Tonkontinuum enthaltenen Intervalle vorgenommen 



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1. Hälfte: Pisychologie des Geisteslebens. 125 

wird. Inn^halb des Intervalls ron Grundton bis zur Oktate 
werden, diese zwei Töne mitgezählt, im ganzen acht 
Tonstufen eingehalten, unter denen die Quarte die vierte, 
die Quinte die fünfte Stufe, den Grundton als erste gezählt, 
abgibt. Der höchste Verschmelzungsgrad zwischen Grund- 
ton und Quart ergibt die dritte Stufe, die Terz (und zwar 
die große), der zwischen Quinte und Oktave die sechste, 
die (große) Sext, während ein Quintenschritt vom Grund- 
ton aufwärts und eine Quarte wieder zurück zur zweiten 
Stufe, der (großen) Sekunde, eine Quinte und noch eine 
(große) Terz aufwärts zur siebenten Stufe, der (großen) 
Septime führt. 

Mit diesen acht Stufen sind die Hauptintervalle 
unserer heutigen Musik, zugleich auch die Stufen der dia- 
tonischen, und zwar der Durtonleiter, gegeben. Sie 
wiederholen sich natürlich in jeder der übrigen Oktaven 
in gleicher Weise. Die Ableitung der Nebenstufen, der 
Nebenintervalle sowie der übrigen Tonleitern, z. B. der 
Molltonleiter, der enharmonischen Tonleiter, in ent- 
fernterem Sinne auch der pythagoreischen Tonleiter 
(im Gegensatz zu der eben betrachteten sogenannten har- 
monischen) vollzieht sich im allgemeinen auf Grund 
ähnlicher Erfahrungen und Konstruktionen, während die 
unserer heutigen Musikpraxis zugrunde liegende tempe- 
rierte (gleichschwebende) Stimmung auf mathema- 
tischer Weiterführung beruht. Doch kann auf all diese 
schon etwas verwickeiteren Verhältnisse hier nicht näher 
eingegangen werden. 

Es sei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die 
eben gebrachte Bestimmung der Intervalle und Tonleiter- 
stufen lediglich auf Grund der rein psychologischen 
Erfahrung, der (subjektiven) Beschaffenheit der 
Tonempfindungen getroffen ist, also auf Grund jener 
Daten, von denen aus der Aufbau des Tonsystems auch 
historisch seinen Ausgang genommen hat und der Natur 
der Sache nach nehmen mußte. Eine objektiv begründete, 
mathematisch-physikalische Bestimmung da-selben Sache 
folgt nach. 

Die Intervalle werden in konsonierende und in disso- 
nierende unterschieden. Zu jenen, den Konsonanzen, ge- 
hören die Oktave, die (reine) Quinte, die (reine) Quarte, 

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126 II' Teil. Spezielle Psychologie. 

die ^oße und kleine) Terz und die (große und kleine) 
Sext. Die übrigen Intervalle, also zunächst Sekunde und 
Septime, ferner die alterierte (übermäßige und verminderte) 
Quinte und Quarte sind Dissonanzen. Man sieht, daß ein 
wesentliches Moment der Konsonanz darin liegt, daß es 
ein Intervall höheren Verschmelzungsgrades ist, während 
sich die Dissonanz in unserem Bewußtsein durch sozusagen 
mangelnde Verschmelzung charakterisiert. Dazu kommt 
noch, daß die Konsonanz einen wohllautenden Zusammen- 
klang abgibt, also niit dem Gefühl von Annehmlichkeit, Lust 
verbunden ist, während die Dissonanz für sich allein miß- 
fällig, scharf, schneidend klingt und nur, wenn sie nach 
bestimmten Gesetzen in eine Konsonanz übergeht („Auf- 
lösung"), günstige Gefühlswirkung hervorbringt. 

Es hat der Wissenschaft mannigfache mißglückte Ver- 
suche gekostet, bevor es ihr gelungen ist, klare Einsicht 
in das Wesentliche dessen zu gewinnen, wodurch sich 
Konsonanz und Dissonanz in unserem Bewußtsein gegen- 
einander abheben. Einer dieser Versuche, der von Helm- 
holtz', hat hervorragendes historisches Interesse. Nach 
ihm sollte der in Eede stehende Gegensatz auf die Tat- 
sache der Schwebungen zurückzuführen sein. Wenn 
nämlich zwei mehr oder weniger benachbarte Töne — 
es ist das in verschiedenen Eegionen der Tonreihe ver- 
schieden — gleichzeitig erklingen, so kommt es nicht zu 
einem glatten Zusammenklang, sondern es treten rhyth- 
mische Intensitätsschwankungen auf, die sich bei sehr 
geringer Tonhöhenverschiedenheit der beiden Töne als 
langsames An- und Abschwellen, bei größerer als mehr 
oder weniger rasch einander folgende unruhige Tonstöße, 
bei noch größerer schließlich als verworrene Kauhigkeit 
darstellen. Woher diese Schwebungen kommen, davon wird 
später die Eede sein müssen. Helmholtz hat nun aber 
gemeint, die Konsonanzen einfach als schwebungsfreie, die 
Dissonanzen als durch Schwebungen gestörte Zusammen- 
klänge charakterisieren zu müssen.^) Dagegen konnte 
C. Stumpf zeigen, daß Dissonanz und Schwebungen 
keineswegs in dem Maße zusammengehen, wie es zu einer 



*) Herrn, von" Helmholtz, „Die Lehre von den Tonempfin- 
dungen", Braunschweig, (1. Aufl.) 1863, (ö. AuBg. 1896). 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 127 

4erartigen Wesensgleichsetzung erforderlich wäre, daß es 
vielmehr auch schwebungsfreie Dissonanzen und schwe- 
bungsgestörte Konsonanzen gibt; nach ihm ist sodann 
das Wesen der Konsonanz im Verschmelzungsgrade zu 
erkennen.^) — 

Über das Merkmal der Tonstärke ist vom Stand- 
punkte rein psychologischer Beschreibung des Bewußt- 
seinstatbestandes nichts Besonderes zu bemerken. Dagegen 
erfordert das der Klangfarbe eine nähere Auseinander- 
setzung. 

Die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Klangfarben, 
wie sie uns hauptsächlich von den verschiedenen Musik- 
instrumenten, zum Teil aber auch schon von einem und 
demselben, besonders der Geige, dargeboten wird, ist un- 
gemein groß, und es ist nicht möglich, diese Mannigfaltig- 
keit in eine natürliche Eeüie zu ordnen. Das liegt daran, 
daß, was wir an Elängen oder sogenannten Tönen zu 
hören bekommen, wie Helmholtz endgültig erkannt und in 
klassischer E[larheit dargetan hat, normalerweise gar nicht 
ein einziger, einfacher Ton, sondern in der Kegel bereits 
eine Mehrheit gleichzeitig erklingender Töne ist, von denen 
nur einer, der tiefste oder Grundton, den andern an Stärke 
zumeist sehr überlegen ist, so daß er sie gleichsam über- 
tönt. Daher sind diese andern, die sogenannten Ober- 
töne, mit freiem Ohre nur bei einiger Übung und be- 
sonders auf sie gerichteter Aufmerksamkeit aus dem ganzen 
Tonkomplex herauszuhören. Noch mehr erschwert wird 
dieses Heraushören, wenn es sich, wie es bei musikalischen 
Klängen die Begel ist, um harmonische, nicht um un- 
harmonische Obertöne handelt ; denn dieselben verschmelzen 
in hohem Grade mit dem Grundtone und untereinander. 
Es sind dies der Eeihe nach die Oktave des Grundtones, 
die Quinte der Oktave, die zweite Oktave des Grundtones, 
die große Terz und die Quinte dieser zweiten Oktave und 
noch weitere Töne. Mit Hilfe der Helmholtzschen Eeso- 
natoren, gewöhnlich metallener Hohlkugeln mit einer 
Schallauffang- und einer -abgabsöffnung, die auf einzelne 



*) Siehe „Beitrage zur Akustik und Musikwissenschaft",?!. Heft, 
1898, und C. Stumpf, „Tonpsychologie" (zwei Bände, 1883—1890), 
9. Bd. 



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128 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

Tonhöhen abgestimmt sind, lassen sich Töne objektiv ver- 
stärkt dem Ohre zuführen und so auch die Obertöne eines 
Klangganzen dem Heraushören leichter zugänglich machen. 

Je nachdem nun viele oder wenige der Obertöne 
in dem zunächst einfach scheinenden Gesamtklange ent- 
halten sind, je nachdem die einen oder die andern von 
ihnen in diesem oder jenem Stärkeverhältnis darinnen vor- 
kommen, ergeben sich die verschiedenen ^Klangfarben. Mög- 
lichst obertonfreie Klänge, etwa die von Stimmgabeln und 
angeblasenen Flaschen, klingen weich, dumpf, kraftlos. 
Fehlen die geradzahligen Obertöne, wie z. B. bei der 
Klarinette, so gibt es einen hohlen Klang, usw. — Wirk- 
lich völlig einfache Töne herzustellen ist bis jetzt noch 
nicht gelungen. Doch hat man sich daran gewöhnt, den 
Ausdruck Ton für einfache, den Ausdruck Klang für 
mit Obertönen verbundene Töne, also für Tonkomplexe 
der eben besprochenen Art zu reservieren. Auch der ein- 
fache Ton hat natürlich eine Klangfarbe ; er unterscheidet 
sich ja von Klängen verschiedener Art gleichfalls in eben 
dieser eigentümlichen Beziehung. Seine Klangfarbe fällt 
mit dem zusammen, was oben unter dem Namen der 
Tonfarbe besprochen worden ist. Die Klangfarbe eines 
Klanges wird daher (nach Stumpf) zum Teil auch als 
Resultante der Tonfarben der in ihm enthsdtenen Töne 
aufzufassen sein. 

Zu dieser Klangfarbe im engeren Sinne treten aber 
auch noch einige andere für die Tonquelle charakteristische 
Eigentümlichkeiten des Klanges, vor allem die durch das 
Instrument bedingten Erzeugungsgeräusche, das Ejratzen 
des Violinbogens, das blasende Geräusch an der Flöste usw. 
Schließlich erhält der Elang mancher Instrumente durch 
die Gefühlsbetonung gewisser assoziativ mit ihm verbun- 
dener Vorstellungen neben der Klangfarbe im eigentlichen 
Sinne auch noch einen bestimmten (von Stumpf so ge- 
nannten) Klangcharakter ; so z. B. die Hirtenpfeife 
den des Idyllischen, die Posaune den des Prächtigen, 
Majestätischen, das Hom den des Romantischen, usw. — 

Ähnlich wie mit den Verschiedenheiten der Klang- 
farbe scheint es sich auch mit der Geräuschwahmehmung 
zu verhalten. Auch sie dürfte höchstwahrscheinlich nicht 
auf einer von den Tonempfindungen verschiedenen, eigenea 

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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 129 

Empfindung besonderer Art beruhen, sondern eher in einer 
mehr oder weniger unregelmäßigen Anhäufung von zahl- 
reichen einzelnen Tonempfindungen verschiedener Höhe 
und Stärke und sehr kurzer Dauer bestehen. Zwar ist die 
Sache gegenwärtig noch in Frage, die weitaus größere 
Angabe der Befunde und Meinungen spricht aber für diese 
Auffassung. Es kommt den Geräuschen das Merkmal der 
Tonhöhe zu; man vergleiche etwa das tiefe Bollen mit 
Klappern und Zischen. Auch sonst sind noch mehrfach 
Töne aus Geräuschen herauszuhören. Sehr kurze Zeit 
andauernde Töne machen einen geräuschartigen Eindruck 
und lassen ihre Tonhöhe nur ganz undeutlich erkennen. 
Es ist ferner — mittelst eigens dazu erdachter Anord- 
nungen der Lochreihen an der Lochsirene — gelungen, 
durch Anhäufung kurz dauernder Töne ausgesprochene 
Geräusche zu erzeugen. Schließlich hat man beobachtet, 
daß Ohrenkranke, die für Töne taub sind, auch der Ge- 
räuschwahrnehmung ermangeln. Dies alles spricht dafür, 
daß die sogenannte Geräuschempfindung streng genommen 
eigentlich gar nicht Empfindung, geschweige denn Empfin- 
dung eigener Art ist, sondern nur ein gewisser Komplex 
von Tonempfindungen. — 

ß) [Abhängigkeit vom äußeren Eeiz.] Die zweite 
Teilaufgabe der psychologischen Wissenschaft, das Er- 
klären, führt in der Lehre von den Empfindungen natur- 
gemäß darauf, zu erörtern, wie die psychische Tatsache 
(die Empfindung) vom äußeren Reiz abhängt. 

Der physikalische Vorgang, der als äußerer Reiz auf 
das Ohr einwirkt, wenn es zu Gehörsempfindungen kommt, 
besteht in Schwingungen, der dem Gehörorgan benachbarten 
Massen-, meist Luftteilchen. Diese Schwingungen können 
die verschiedensten Formen haben. Haben sie nicht die 
ganz einfache Form der Sinusschwingungen (= pendel- 
f örmigen Schwingungen) und behalten sie diese eine nicht 
zu kurze Zeit bei, so rufen sie in uns den Eindruck eines 
Klanges (oder eines Geräusches) hervor, d. h. also, wie 
wir wissen, es entstehen gleichzeitig mehrere einfache 
Tonempfindungen. 

Dieser Mehrheit von einfachen Tonempfindungen ent- 
spricht nun aber auch tatsächlich eine Mehrheit von ein- 



Witasek, Grundlinien der Psychologie. 9 

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oogle 



130 ' II' Teil. Spezielle Psychologie. 

fachen physikalischen Tönen in jenen Schwingungen. Wir 
wissen nämlich, dank dem Mathematiker Pourier (1822), 
daß sich jede beliebige Eurve als zusammengesetzt aus 
Sinuskurven darstellen, somit auch jeder Schwingungs- 
vorgang von jeder beliebigen Form als Resultierende des 
Zusanunenwirkens gleichzeitiger Sinusschwingungen des- 
selben Massenteilchens auffassen läßt. Die einfachen Sinus- 
schwingungen sind also der äußere Vorgang, der als Eeiz 
zum Zustandekommen einer einfachen Tonempfindung 
wirksam wird. Wenn wir sonach bei Einwirkung eines 
zusanmiengesetzten Schwingungsvorganges eine Mehrheit 
von Tonempfindungen erhalten, so ist das so, wie wenn 
unser Ohr die zusammengesetzte Schwingung in ihre 
pendeiförmigen Schwingungskomponenten zerlegte und 




Fig. 1. 

SlBviieliwlBflrangeii «nd Ihre ZaiAiBHeBietsang 

bei FhasendifFarens =: (in a), und b^ FhMendifferens = 1/4 der 

kttrseren Wellenlänge (in b). 

diese wenn auch gleichzeitig aber jede für sich perzi- 
pierte. Wie das Gehörorgan diese Leistung vollbringt, 
davon wird später die Kode sein. 

Sinusschwingungen sind solche, bei denen der 
schwingende Massenpunkt durch Kräfte bewegt wird, die 
direkt proportional mit dem jeweiligen Abstände des 
Massenpunktes von seiner Euhelage wachsen oder ab- 
nehmen und gegen diese Buhelage hin wirken. Trägt man 
die Zeit, wälu*end welcher solche Schwingungen ablaufen, 
als Abscisse, die jeweiligen Abstände von der Euhelage 
als Ordinaten auf, so lassen sie sich durch Kurven etwa 
von der Form der punktierten in Fig. 1 darstellen. Die 
ausgezogenen Kurven stellen in gleicher Weise die aus 



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L Hälfte t faycholögid des Gheisteslebens. 131 

den einfachen sich zusammensetzenden resultierenden 
Schwingungen dar. — 

Von der Schwingungszahl, d. i. der Anzahl der ganzen 
Schwingungen, die der schwingende Massenpunkt in der 
Sekunde ausführt, ist die Tonhöhe abhängig. Je größer 
die Schwingungszahl, desto höher der Ton. 

Mit Hilfe der Schwingungszahl ist es daher auch 
möglich, absolute und relative (d. h. durch Angabe 
des Intervalles von einem vorgegebenen Ausgangstone aus 
bestimmte) Tonhöhen genau festzulegen. Denn während 
es z. B. ausgeschlossen wäre, bloß im Vertrauen auf das 
Tongedächtnis der Musiker den Kammerton ä (den 
Ton, nach welchem die Musikinstrumente eingestimmt 
werden) in seiner Tonhöhe genau zu bewahren oder gar 
zu definieren, befriedigt sich dieses Erfordernis auf das 
zuverlässigste durch das Übereinkommen, das, nach 
verschiedenen älteren Festlegungen, die weniger all- 
gemeine Geltung erlangt haben, 1885 auf der inter- 
nationalen Stimmtonkonferenz in Wien getroffen worden 
ist, und demzufolge dieser Ton 435 ganze (Doppel-) 
Schwingungen in der Sekunde haben soll. Die Intervalle 
haften wohl schon weit besser im Gedächtnis als die 
absoluten Tonhöhen und lassen sich bei nur einigermaßen 
genügendem musikalischen Gehör schon nach dem sub- 
jektiven Eindruck mit einer für die musikalische Praxis 
völlig ausreichenden Genauigkeit sicher herstellen. Aber 
besonders bei den Intervallen geringeren und geringsten 
Verschmelzungsgrades leistet auch da die Bestimmung 
durch die Schwingungszahlen eine Hilfe, der übrigens 
die theoretische Behandlung des Tongebietes auch sonst 
ganz und gar nicht mehr entraten könnte. Dies voll- 
zieht sich auf Grund des G^etzes, daß beliebige Tonpaare 
gleichen Intervalles stets dasselbe Verhältnis der Schwin- 
gungszahlen haben. Die Schwingungszahlen der zwei Töne 
einer Oktave verhalten sich wie 1 : 2, die der Quinte wie 
2 : 3, der Quarte wie 3 : 4, der grölBen Terz wie 4:5, der 
großen Sext wie 3:5, der großen Sekunde wie 8:9, der 
großen Septime wie 8 : 15, usw. — Man sieht daraus, daß 
den konsonierenden Intervallen einfachere Schwingungs- 
zahlenverhältnisse entsprechen als den dissonierenden, eine 
Tatsache, durch die sich die Theoretiker häufig zu dem 

9* 

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182 !!• TeiL Spezielle Psychologie. 

Irrtum haben verleiten lassen, das ursprüngliche, natür- 
liche subjektive Merkmal der Koasonanz zu übersehen 
und durch die Annahme einer unbewußten Auffassung 
der Schwingungszahlen zu ersetzen. — Man sieht ferner 
daraus, daß sich die Schwinguugszahlen des Grundtones 
und der harmonischen Obertöne eines Klanges, wenn man 
die des Grundtones gleich 1 setzt, wie die ganzen Zahlen 
der natürlichen Zahlenreihe zueinander verhalten, also 
wie 1:2:3:4:5:6:7:8:9 usw. — Ein Ton mit einem 
Intervall findet sich allerdings in dieser Reihe, der, ob- 
wohl er mit dem Grundton in ziemlich hohem Grade 
verschmilzt, dennoch aus unserem musikalischen Ton- 
system ausgeschlossen geblieben ist; nämlich der sechste 
Oberton (siebente Teilton), die natürliche Septime des 
Tones 4, der sogenannte Ton i, der etwas tiefer liegt als 
die große (übrigens auch noch als die kleine) Septime. — 

Von der Schwingungsweite (Amplitude), d. i. dem 
größten Abstand von der Ruhelage, den der schwingende 
Massenpunkt erreicht, hängt die Tonstärke ab. Je größer 
die' Schwingungsweite, desto intensiver unter übrigens 
gleichen Umständen, die Tonempfindung. Die Amplitude 
hängt wieder von der Energie der Schwingungen ab, ge- 
nauer, sie ist proportional dem Quantum Arbeit, das bei 
den fortschreitenden Schallwellen in der Zeiteinheit durch 
die Flächeneinheit geht. 

Daß die Klangfarbe durch die Schwingungsform be- 
stimmt ist, geht bereits aus den obigen Erörterungen über 
die Zusammensetzung (Superposition) von Sinusschwin- 
gungen hervor. Es ist jedoch noch Folgendes hinzuzu- 
fügen. Die Form der resultierenden Schwingung hängt 
wohl zunächst von Schwingungszahl und Amplitude der 
sie zusammensetzenden Sinusschwingungen ab, und das 
kommt im subjektiven Eindruck dadurch zur Geltung, 
daß auf die Klangfarbe Tonhöhe und Tonstärke der Ober- 
töne von Einfluß sind. Die Form der resultierenden 
Schwingung hängt aber außerdem auch noch vom Phasen- 
verhältnis der Elementarschwingungen ab, d. h. davon, ob 
z. B. der Anfang der einen Schwingung zeitlich auch 
mit dem der zweiten zusammenfällt oder mit einer anderen 
Phase derselben, etwa mit ihrer größten Ausweitung nach 
dieser oder jener Seite (siehe Figur 1, S. 130). Da aber 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 133 

das Ohr, wie wir gesehen habeB, die zusaöimengesetzte 
Schwingtmg gleichsam in ihre Komponenten zerlegt und 
diese Komponenten einzeln zur Wirkung kommen läßt, 
so muß die Phasenversohiebung, obgleich sie die Sdiwin- 
gungsform beeinflußt, für die Klangfarbe gleichgültig sein. 
Experimentelle Untersuchtmgen haben das denn auch 



Wir kommen nun zur Erörterung der Maßverhältnisse 
zwischen Eeiz und Empfindung, zunächst zu der der Reiz- 
und Unterschiedssahwelle für Intensitäten von Tönen und 
Geräuschen. 

Die Reizschwelle für Töne ist in verschiedenen Re- 
gionen der Tonreihe verschieden, nnd zwar nimmt sie 
von den tiefsten Tönen bis zur mittleren Lage sehr 
rasch, dann wdter langsam ab, um gegen die höchsten 
Töne hin wieder langsam zuzunehmen. Sie beträgt nach 
öeuesten auf ebenso sinnreichen wie komplizierten phy- 
sikalisch-mathematischen Methoden beruhenden Messun- 
gen (Max Wien, 1903) für den Ton von 400 Schwin- 
gungen in der nächsten Nachbarschaft des Trommelfelles 
0.00OOOOOO016 Erg in der Sekunde per cm», und jede 
einzelne Schwingung leistet dabei auf der Fläche des 
Trommelfelles eine Arbeit, die etwa der Hebung von 
IV2 Milliontel mg auf 1 Milliontel Millimeter Höhe gleich- 
kommt. Die zugehörige Amplitude beträgt 0.00000001 mm. 
— Die Messung der Reizschwelle für Geräusche wurde 
zumeist in der Art versucht, daß man bestimmte, von 
welcher Höhe ein kleiner Körper von bekanntem Gewicht 
auf ^eine Unterlage bestimmter Beschaffenheit auffallen 
muß, damit er aus einer bestimmten Entfernung eben noch 
wahrgenommen werde. Da jedoch, abgesehen von andern 
Schwierigkeiten, die Frage, wieviel von der lebendigen 
Kraft des fallenden Körpers unter gegebenen Umständen 
in Schailenergie, wieviel in Energie anderer Art umge- 
wandelt wird, eine anerkannte LöSTing noch nicht ge- 
funden hat, so ist es nicht möglich, das Ergebnis dieser 
Versuche in absolutem Maß auszudrücken, und man bleibt 
darauf angewiesen, i?u konstatieren, daß z. B. Bleikugeln 
von 6.7 mg aus oa. 1.7 mm auf eine EisenplÄltte fallend 
in 50 cm Ohrentfernung einen schwelligen Schallreiz 
abgeben (Nörr, 1879), — Die gleichen Schwierigkeiten 

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134 II« Teil. Spezielle Psychologie, 

erlauben es auch nicht, den übrigens zahlreichen Versuchen 
zur Messung der Unterschiedsschwelle für Geräuschinten- 
sitäten einen mehr als nur ganz vorläufigen Wert zuzu- 
schreiben. In diesem Sinne wird man die Unterschieds- 
schwelle auf etwa V4 (des stärkeren Reizes) ansetzen 
können (Volkmann bei Fechner, 1860). Für die Frage, 
ob sich das Webersche Gesetz an Geräuschintensitäten 
bewährt, liegen derzeit noch nicht in Einklang mit- 
einander gebrachte Versuchsergebnisse entgegengesetzten 
Inhaltes vor. Für Tonintensitäten scheint es sich an- 
nähernd zu bestätigen (Max Wien, 1888 u. 1889). — 

Die Frage nach der Reizschwelle auf das Gebiet der 
Tonqualitäten übertragen, läuft hinaus auf die Frage nach 
den Schwingungsvorgängen geringster und denen ^ößter 
Schwingungszahl, die noch Tonempfindungen erzeugen. 
Diese Bestimmung der unteren und der oberen Hörgrenze 
hat auch wiederum mit mannigfachen, ungemein schwer 
zu umgehenden Hindernissen zu kämpfen. Vor allem ist 
es schwer, tiefste Töne in gehöriger Intensität obertonfrei 
herzustellen oder sich vor Verwechslung eines Obertones 
mit dem Grundton zu bewahren; anderseits ist auch die 
Erzeugung höchster Töne und die Ermittelung ihrer 
Schwingungszahlen noch nicht mit der nötigen Zuver- 
lässigkeit gelungen. So ist die Frage trotz vieler darauf 
verwandter Arbeit noch nicht endgültig gelöst. Nach den 
bisherigen Befunden sind die Grenzen unten am ehesten 
zwischen 10 und 16, oben zwischen 20000 und 30000 
Schwingungen einzuschließen. Die Töne des Klaviers 
reichen von 27 bis 3480, die in der Musik überhaupt 
verwendeten Töne von 16 bis etwa 12000 Schwingungen. 
— Die Unterschiedsempfindlichkeit für Tonhöhen ist indi- 
viduell sehr verschieden, für ein musikalisch geschultes, 
feines Ohr aber ungemein groß. Ein solches erkennt in 
den mittleren Tonregionen absolute Unterschiede von 0.35 
bis 0.65 Schwingungen fast stets richtig (M. Meyer 1898). 
Dabei ist diese Größe von der absoluten Tonhöhe so gut 
wie unabhängig, das Webersche Gesetz demnach auf die Zu- 
ordnung von Schwingungszahl und Tonhöhe nicht anwend- 
bar. Gegen die untere und besonders auch gegen die obere 
Hörgrenze , sinkt die Unterschiedsempfindlichkeit stark. 
Doch ist diese Zu- und Abnahme keineswegs eine gleich- 

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1. Hälfte: Psychologie des Q^eisteBlebens. 



136 



mäßige, sondeam sie führt mehrfach 
über relative Maxima und Minima. 
Unter anderem scheint es, daß inner- 
halb einer jeden Oktave ein Maximum 
der ünterschiedsempfindüchkeit in der 
nächsten Umgebung des Tones c, ein 
Minimum in der der Töne h und / 
liegt. (Stücker, 1907.) 

Auch die sogen. Dauerschwelle 
für Tonreize ist bestimmt worden, und 
man hat gefunden, daß in der Region 
von zirka 30 bis 3000 Schwingungen 
das Gegebensein von zwei Schwin- 
gungen bereits genügt, daß eine Ton- 
empfindung von erkennbarer Tonhöhe 
auftritt, daß aber bei höheren Tönen 
immer mehr Schwingungen erforder- 
lich werden (Abraham u. Brühl 1898). 
Dabei hat man beobachtet, daß die 
Tonempfindung beim Einsetzen eines 
Tonreizes anfangs bis zu einer gewis- 
sen, übrigens variabeln Grenze mit 
jeder Schwingung stärker und quali- 
tativ bestimmter wird (Anklingen), 
beim Aussetzen des Tonreizes noch kurze 
Zeit (in mittlerer Tonhöhe 0.03 bis 
0.04 Sekunden) andauert (Abklingen). 

Bei der Erörterung der Abhängig- 
keit der Tonempfindung vom äußeren 
Reiz drängt sich auch die Frage nach 
der Ursache der Schwebungen (siehe 
S. 126) auf. Wie wir gesehen haben, 
kommen Schwebungen zur Wahrneh- 
mung, wenn mindestens zwei Töne von 
nicht zu sehr verschiedener Tonhöhe 
gleichzeitig erklingen. Die Gesamt- 
schwingung, die dabei auf das Ohr ein- 
wirkt, und die aus den Elementar- 
sehwingungen der beiden Töne resul- 
tiert, zeigt nun tatsächlich als Folge 
der Superposition der Schwingungen 



V 



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136 II- T®il- Spezielle Psychologie. 

(und der Interferenz der Wellenzüge) eine periodische 
Zu- und Abnahme der Amplitude (Eig. 2, Ansehwellen 
bei abcdefgh, Abschwellen bei M), so daß man geneigt 
sein könnte, die Schwebungen, die ja doch eben in perio- 
dischem An- und Abschwellen der Tonintensität, in stoß- 
weisen Intermittenzen bestehen, auf diesen rein physi- 
kalischen Vorgang des äußeren Reizes zurückzuführen, zu- 
mal die Anzahl der Schwebungen in der Sekunde der durch 
den physikalischen Vorgang bedingten Anzahl, nämlich 
der Differenz der beiden Schwingungszahlen, gleichkommt. 
Diese Auffassung würde jedoch der uns bereits bekannten 
Tatsache widersprechen, daß das Ohr den Zusammenklang 
in seine Teiltöne auflöst und jeden von ihnen gesondert 
zur Wirkung kommen läßt; das An- und Abschwellen 
der physikalischen (äußeren) Schwingungsresultante könnte 
gegen die Gleichmäßigkeit der Tonempfindung nichts ver- 
schlagen. Die Ursache der Schwebungen muß also irgendwo 
in der Funktion des Gehörorganes liegen, was sich auch 
daraus ergibt, daß die Schwebungen unter gewissen Um- 
ständen ausbleiben, wenn man die beiden sonst schweben- 
den Töne zuverlässig auf die zwei Ohren getrennt verteilt. 
Es wird daher bei der Besprechung der Funktionsweise 
desGehörorgans nochmals der Schwebungen zu gedenken sein.: 
Zum Schlüsse dieses Abschnittes, der die Abhängig- 
keit der Tonempfindung vom äußeren Reiz behandelt, ist 
noch eine merkwürdige Tatsache zu erwähnen. Beim Zu- 
sammenklange zweier oder mehrerer Töne findet es sich 
oft, daß man irgend welche Töne hört, die objektiv, etwa 
auf der Geige, gar nicht angegeben worden sind, die also, 
wie es scheint, ohne physikalischen Reiz zustande kom- 
men. Sie heißen im allgemeinen Kombinationstöne, 
im Gegensatz zu den objektiv erklingenden Primärtönen. 
Und zwar hat man gefunden, daß der Kombinationston, 
der in der Regel am deutlichsten zu vernehmen ist, der 
zugehörigen Schwingungszahl nach der Differenz der 
Schwingungszahlen der beiden objektiv erklingenden Töne 
entspricht. Er wird daher als Differenzton bezeichnet, 
und zwar als Differenzton erster Ordnung, weil er selbst 
wieder zusammen mit anderen, zugleich erklingenden Tönen 
zu Differenztönen höherer Ordnung Anlaß gibt. Höchst- 
wahrscheinlich kommt es unter Umständen auch zu Korn- 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 137 

binationstönen, die der Summe der Schwingungszahlen der 
beiden Primärtöne entsprechen, Summationstöne;doch 
ist dies noch nicht völlig sichergestellt. 

Den Kombinationstönen fehlt also der äußere, phy- 
sikalische Reiz. Sie müssen demnach irgendwie subjektiv 
verursacht, in der Funktionsweise des Ohres begründet 
sein. Tatsächlich hat man gefunden, da£ unter Umständen 

— nämlich wenn zwei Töne, z. B. am Harmonium, von 
einem gemeinsamen Windkasten aus angeblasen werden 

— durch die zweifache Anregung der Luftbewegung schon 
objektiv Töne erzeugt werden, die bezüglich Höhe und 
sonstigen Verhaltens den subjektiven Kombinationstöneii 
völlig gleichen, eine Beobachtung, die an sich bereits die 
Vermutung nahelegt, daß diese auf ähnliche physikalische 
"Weise im Ohre zustande kommen wie jene außerhalb des 
Ohres. Zudem ist kürzlich (Schäfer, 1905) der Nachweis 
gelungen, daß Telephonplatten und Membranen von der 
Form des Trommelfelles, wenn sie von zwei Tönen gleich- 
zeitig getroffen werden, in Schwingungen geraten, die 
auch die der Kombinationstöne in sich enthalten. Damit 
erscheint der Nachweis erbracht, daß die subjektiven Kom- 
binationstöne im Ohre, und zwar im Mittelohr, speziell 
durch die Funktionsweise des Trommelfelles entstehen. — 

Y) [Theorie der Gehörsempfindungen.] Man pflegt 
heute unter Theorie eines Gebietes von Empfindungen 
zumeist die Lehre vom kausalen Zusammenhang zwischen 
der Empfindung und der Funktion des Sinnesorganes 
zu verstehen. Sie liefert daher im Grunde eine — 
in der Regel auf hypothetischem Wege gewonnene — 
Ergänzung der Kenntnis von den Ursachen der Empfin- 
dung, und zwar betrifft sie die physiologischen Ursachen, 
nachdem die Untersuchung des äußeren Reizes die phy- 
sikalischen klarzustellen hätte. Es ist ersichtlich, daß die 
Lösung dieser Aufgabe eine genaue Einsicht in den ana- 
tomischen Aufbau des Sinnesorganes voraussetzt. Da eine 
solche Einsicht bei der außerordentlich verwickelten Struk- 
tur gerade des Oehörorganes an dieser Stelle nur in sehr 
bescheidenem Ausmaß vermittelt werden kann, so wird 
sich auch die Darstellung der Hörtheorien auf die haupt- 
sächlichsten Grundzüge beschränken müssen. 

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138 



II. Teil. Spezielle Psychologie. 



Das menschliche Gehörorgan (Fig. 3) besteht im 
wesentlichen aus drei Abschnitten, dem äußeren. Ohr, dem 
Mittelohr oder der Paukenhöhle und dem Labyrinth, dem 
innersten Teile. Das äußere Ohr, das sich aus der Ohr- 
muschel und dem äußeren Gehörgange zusammensetzt, ist 
am inneren Ende desselben durch eine flach trichter- 
förmig ausgespannte Membran, das Trommelfell, gegen 




Fig. 3. 

Sehematlielie DarsteUnny des Gehörorgan es. 

1 Hörnerv; 2 innerer Gehörgang; 3 eines der beiden häutigen Säckchen; 4 einer 
der drei häutigen Bogengänge; 5 das zweite häutige Säckchen; 6 die häutige 
Schnecke; 7, 8 weitere Teile des häutigen Labyrinths; 9 Yorhof ; 10 das knö- 
cherne Labyrinth; 11 Felsenbein; 12 ovales Fenster; 13 rundes Fenster; 14 Ohr- 
muschel; 15, 16 äußerer Gehörgang; 17 Trommelfell; 18 Hammer; 19 Amboß; 
20 Steigbügel; 21 Paukenhöhle; 22, 23 Eustachische Trompete ; 24 knorpeliger und 
knöcherner Teil des äußeren Gehörganges. 

das Mittelohr abgeschlossen. Dieses, eine lufterfüllte Aus- 
höhlung im Schläfenbein, die nach der entgegengesetzten 
Seite durch die sogenannte Eustachische Trompete mit 
dem Nasenrachenraum in Verbindung steht, enthält haupt- 
sächlich eine Kette von drei ineinander gelenkig verhakten 
Elnöchelchen, dem Hammer, Amboß und Steigbügel, von 
denen das erste mit seinem Stiel am Trommelfell befestigt 
ist, das letzte, der Steigbügel, mit seiner Grundplatte fest 



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1. Hälfte: Psychologie dee G-eisteslebens. 139 

auf einer Membran aufsitzt, die ein kleines, ovales Fenster- 
chen in der knöchernen Innenwand der Paukenhöhle 
verschließt. Dieses, sowie noch ein zweites, in dieselbe 
"Wand eingelassenes, gleichfalls membranös verschlossenes, 
aber kreisrundes Fensterchen führt in das Labyrinth, 
jedoch nicht in den gleichen Abschnitt desselben, sondern 
das erstgenannte (das ovale) zum sogenannten Vorhof, das 
zweite (rimde) zur sogenannten Paukentreppe der Schnecke, 
von welchen Gebilden sogleich die Kede sein wird. 

Das Labyrinth besteht im wesentlichen aus einem 
ziemlich verwickelten System von häutigen Säckchen und 
Kanälchen, die alle miteinander in Verbindung stehen, 
nach auJJen völlig geschlossen und mit einer wässerigen 



Linkes kMoeherMei Labyrinth TOn aufien (nach Helmholt z). 

S knöcherne Sohneoke; riF nrndes Fenster; o.F ovales Fenster; B die 

d^ei knöehemen Bogengänge. 

Flüssigkeit, der Endolymphe, gefüllt sind. Dieses hautige 
Labyrinth ist, von einer andern Flüssigkeit, der Peri- 
lymphe, umgeben, lose in eine Knochenkapsel, das 
knöcherne Labyrinth, eingeschlossen (Fig. 4), die seinen 
Formen im ganzen folgt und im Felsenteil des Schläfen- 
beins eingebettet ist. Sein Mittelteil ist der Vorhof. Er 
enthält die zwei Säckchen des häutigen Labyrinths. Von 
dem einen derselben gehen nach rückwärts die drei halb- 
zirkelförmigen, rechtwinklig aufeinander orientierten häu- 
tigen Bogengänge ab, eingeschlossen in die Bogengänge 
der knöchernen Kapsel; von dem andern geht nach vom 
der häutige, schneckenförmig nach außen aufgewundene 
Schneckenkanal, der in halber Ganghöhe dem viel weiteren 
Schneckengange der knöchernen Schnecke eingelagert ist. 



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140 II- Teil. Spezielle Psychologie. 

SO daß durch ihn «der knöcherne Schneckengang in zwei 
Gänge geteilt wird, nämlich die gegen die Spitze der 
Schnecke liegende Vorhoftreppe, welche an ihrem unteren 
Ende in den Vorhof mündet, und die der Basis zugekehrte 
Paukentreppe, die mit dem unteren Ende an das runde 
Fenster ansteht (Fig. 5). 

Der wichtigste Teil des häutigen Schneckenkanals 
ist der an die Paukentreppe angrenzende Abschnitt seiner 
Wandung, die sogenannte Grund- oder Basilarmembran. 
Dieselbe enthält eine große Zähl (ca. 20000) straff radiär 
ausgespannter, gegeneinander frei beweglicher Fasern, die 




PT BM 

Fig. 5. 

Schematiseher <)iieneluiitt dnreh elsea Sehneckengang. 

BM Basilarmembran; CO Gortisohes Organ; HS Wände des hantigen Schnecken- 

kanales; HN Hör- (Sohnecken-) Nerv; Kä äußere, £i innere Knochenwand des 

knöchernen Schneckenganges ; PT Pankentreppe ; VT Vorhoftreppe. 

vom Grunde gegen die Spitze der Schnecke zu an Länge 
zunehmen, und trägt in einem ihr aufgelagerten, hier nicht 
näher zu beschreibenden, komplizierten Gebilde aus ver- 
schiedenartigen Zellen, dem Cortischen Orgaji, die den 
Gehörsempfindungen dienenden Endigungen des Hör- 
nerven. — 

Das Trommelfell vermag dank seiner anatomisch- 
histologischen Beschaffenheit Schwingungen von sehr ver- 
schiedener Schwingungszahl aus der angrenzenden Luft 
gleich gut zu üb^nehm^. Es ist zunächst dazu bestimmt, 
den Schallreiz aufzufangen und an das mittlere und innere 
Ohr weiterzugeben ; doch geschielt dies unter Umständen 



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1. Hälfte: Psychologie des Greisteslebens. 14j^ 

auch direkt durch die Kopfknochen (Knocheiileitung). Die 
Gehörknöchelchenkette hat übrigens zusammen mit dem 
Trommelfell die Aufgabe, Schwingungen von relativ großer 
Amplitude und geringer Kraft, wie es die der Luft sind, 
in solche von geringer Amplitude und großer Kraft um- 
zuwandeln, überdies aber noch die Bedeutung eines Schutz- 
apparates gegen Schädigung des Ohres durch zu heftige 
Erschütterungen. 

Die Lehre von der Funktionsweise des Labyriniths 
ist immer noch von Helmholtz' Resonanzhypothese be- 
herrscht. Nach dieser Hypothese haben wir in den Fasern 
der Basilarmembran Resonatoren zu erblicken, deren jeder, 
ähnlich wie die Saiten eines Klaviers, vermöge seiner 
eigenen Abstimmung oder Eigenschwingung nur auf Töne 
von bestimmter Schwingungszahl anspricht. Werden nun 
durch die Steigbügelplatte Schwingungen äußerer Schall- 
reize auf das Labyrinth wasser übertragen, und pflanzen 
sie sich bis zu diesem Resonatoren apparat fort, so geraten 
hier nur jene Fasern in Mitschwingungen, deren Eigen- 
ton in der zugeleiteten* mehr oder weniger zusammenge- 
setzten Schwingung als einfache Sinusschwingung ent- 
halten ist. Und da das Mitschwingen der Membranfasem 
die unmittelbare Ursache zur Erregung der Gehörnerven- 
fasern abgibt, und von diesen jede einzelne die spezifische 
Energie einer bestimmten Tonhöhe hat, so ist damit die 
physiologische Tatsache, daß das Ohr zusammengesetzte 
Schwingungen in die Elementarschwingungen zerlegt, oder 
auch die psychologische, daß wir aus einem zusammen- 
gesetzten Klang die einfachen Töne heraushören, erklärt. 
Die Schwebungen kommen daher, daß jeder einfache Ton 
•streng genommen doch nicht nur die auf seine Frequenz 
genau abgestimmte Faser der Basilarmembran in Mit- 
schwingung versetzt, sondern, allerdings in weit geringerer 
Intensität, auch die beiderseits benachbarten Gebiete von 
Fasern, so daJJ es unter günstigen Umständen zu einem 
Ubereinandergreifen der von den zwei schwebenden Tönen 
nebenbei in Mitschwingung versetzten Fasergebiete und 
damit notwendig zur Perzeption der durch Interferenz 
bewirkten Intensitätschwankungen kommen muß. Unge- 
mein leicht läßt sich auch die pathologische Erfahrung 
der partiellen Taubheit, bei welcher der Patient nur für 



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142 H. Teil Spezielle Psychologie. 

einen Ausschnitt der Tonskala unempfindlich ist, in diese 
Hypothese einfügen: sie erklärt sich darnach einfach als 
lokale Erkrankung einzelner begrenzter Teile der Basilar- 
membran. 

Trotz der Anerkennung, deren sich die Helmholtzsche 
Hörtheorie allenthalben mit Kecht erfreut, ist doch auf 
einzelne Punkte hinzuweisen, an denen sie bei näherer 
Betrachtung nicht völlig zu befriedigen vermag. Haupt- 
sächlich hat man ihr entgegengehalten, daß man den Fasern 
der Basilarmembran bei ihren ungemein geringen Dimen- 
sionen — die längsten an der Schneckenspitze haben noch 
nicht dreiviertel Millimeter Länge — eine Abstimmung 
auf die tiefsten hörbaren Töne nicht zutrauen könne; 
daß die Annahme einer spezifischen Tonhöhenenergie einer 
jeden Hömervenfaser bei der ungeheuren Anzahl unter- 
scheidbarer Töne durchaus den Charakter einer unzu- 
lässigen Überspannung des Prinzips der spezifischen Sinnes- 
energien zeige; daß sie sich mit der erfahrungsmäßigen 
Beschaffenheit der Schwebungen ^m Einzelnen nicht in 
jedem Falle vertrage, u. a. m. So hat es denn auch an 
Versuchen zur Verbesserung, ja auch zu durchaus eigen- 
artigem Ersatz der Helmholtzschen Hypothese nicht ge- 
fehlt. Am bemerkenswertesten von allen dürften der von 
H. Ebbinghaus (1902) und der von J. R. Ewald (1899, 
1903) sein. Ebbinghaus behält den Grundgedanken der 
Resonanzhypothese bei, verzichtet aber auf die spezifische 
Tonhöhenenergie der einzelnen Hömervenfasem und fügt 
die an sich plausible Annahme hinzu, daß jede die Basilar- 
membran treffende Schwingung nicht nur die gerade 
auf sie abgestimmte Faser in Bewegung versetzt, sondern, 
und zwar in der gleichen Schwingungszahl, dann aber* 
natürlich unter Bildung von Knotenpunkten, auch alle 
längeren, auf die harmonischen Untertöne, d. h. auf V«, 
Vs, Va nsw. der vorliegenden Schwingungszahl abgestimm- 
ten Fasern. Durch diese Ergänzung ist vor allem die Mög- 
lichkeit eines physiologischen Verständnisses der Ver- 
schmelzungstatsachen angebahnt, während ihre Anwendung 
auf die Erklärung der Kombinationstöne durch den in- 
zwischen mit ziemlicher Sicherheit gelungenen Nachweis, 
daß sie im Mittelohr entstehen, gegenstandslos geworden 
sein dürfte. J. R. Ewald gibt auch den Grundgedanken 



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1. Hälfte: Psychologie des Greisteslebens. 143 

der Helmholtzschen Hypothese auf und meint, daß der 
Schallreiz die Basilarmembran in ihrer ganzen Länge, 
und zwar unter Bildung verschieden gestalteter stehender 
Wellen in Mitschwingung versetzt; ein großer Teil der 
Erfahrungstatsachen hat sich dieser Annahme in befrie- 
digender Weise einfügen lassen. Trotz alledem und trotz 
noch manch anderer neuerer Versuche steht auch heute 
noch die Helmholtzsche- Eesonanzhypöthese unter allen 
Hörtheorien an erster Stelle. 

3. Licht- und Farbenempfindungen. 

a) [Psychologische Beschreibung.] Indem wir 
daran gehen, die Licht- und Farbenempfindungen nach 
ihren Qualitäts- und Intensitätseigenschaften, den Merk- 
malen, die, wie wir seinerzeit im allgemeinen sagen 
konnten, einem jeden Empfindungsinhalte zukommen, 
zu beschreiben, drängt sich uns zunächst die merk- 
würdige Tatsache auf, daß sie jeder Bestimmung in bezug 
auf Intensität streng genommen eigentlich entbehren. Man 
spricht wohl von starker Beleuchtung, intensiver Hellig- 
keit u. dergl. ; aber man meint dabei, von Gefühlsmomenten 
(der Unannehmlichkeit blendenden Lichtes) ganz abge- 
sehen, nicht so sehr die Intensität des Empfindungsinhaltes 
als vielmehr die besondere Leuchtkraft der Lichtquelle. 
Wahre Intensität muß ihrer Natur nach Steigerung und 
Verminderung zulassen und bei fortgesetzter Vermin- 
derung schließlich auf einen Nullpunkt führen; eine Ton- 
empfindung z. B. kann bei gleichbleibender Qualität (Ton- 
höhe) allmählich schwächer und endlich zu Null werden, 
d. h. aufhören, der Stille weichen (das ständige Eigen- 
geräusch des Ohres ändert nichts am Sinn dieser Tat- 
sache) — auf dem Gebiete des Gesichtssinnes gibt es 
kein Analogen zur Stille, keinen Nullpunkt. Denn was 
man, wohl vom Wissen über die zugehörigen Reizverhält- 
nisse verleitet, in diesem Sinne anzuführen geneigt ist,, 
den Eindruck der Finsternis, das Schwarz, das ist eben, 
als Bewußtseinsinhalt betrachtet, keine Null, nicht das 
Fehlen eines Inhalts von der Art der Gesichtsempfin- 
dungen, wie die Stille das Fehlen eines Inhalts von der 
Art der Gehörsempfindungen, sondern ein durchaus wirk- 



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144 II. Teil. Spezielle Psychologie. 

lieber, realer, positiver Inhalt ; und wenn bei allmäblicher 
Abnahme der Beleuchtungsstärke, etwa in der Dämmerung, 
ein Blatt Papier, das ursprünglich weiß erschien, nach 
und nach immer dunkler und dunkler wird und endlich 
im allgemeinen Schwarz untergeht, so ist dieser Übergang 
nicht der einer anfangs intensiven Empfindung zu immer 
schwächeren Intensitätsgraden und endlich zur Null, son- 
dern es ist ein allmählicher Übergang von einer Qualität 
zu einer anderen, in gewissem Sinne entgegengesetzten 
Qualität. Daß dieser rein qualitative Übergang auf Inten- 
sitätsveränderungen des Reizvorganges beruht, verschlägt 
gar nichts für seine Art, sondern ist nur für die Theorie 
der Gesichtsempfindungen von Interesse. Dabei kann 
immerhin in Anschlag gebracht werden, daß sehr inten- 
sive Lichtreize Empfindungen hervorrufen, die Empfin- 
dungen höchster Intensität von andern Sinnesgebieten, 
namentlich des Gehörssinnes, insofern verwandt erscheinen, 
als sie von ähnlichen unangenehmen Gefühlen begleitet 
sind. 

Die Übersicht über den Gesamtbestand der Licht- 
und Farbenempfindungen hat es also nur mit einer Quali- 
tätenmannigfaltigkeit zu tun. 

Die Gesamtheit der Tonqualitäten hat sich übersicht- 
lich im räumlichen Bilde einer Geraden darstellen lassen. 
Auch für die systematische Übersicht über die Gesamt- 
heit der Qualitäten unserer Licht- und Farbenempfin- 
dungen erweist sich die Darstellung im räumlichen Bilde 
außerordentlich zweckdienlich. Dabei ist das Prinzip der 
Übertragung ins Räumliche das gleiche wie dort: jeder 
einzelnen für sich bestimmten Qualität wird ein bestimmter 
Raumpunkt zugeordnet, und zwar so, daß die Distanz der 
Punkte im umgekehrten Verhältnis zur Größe der Ähnlich- 
keit der zugeordneten Qualitäten steht. Bei der Darstellung 
der Farbenqualitäten mag noch hinzugefügt werden, daß 
die Punktdistanzen nicht nur der Größe, sondern auch 
der Richtung nach den Farbenqualitäts- Verschiedenheiten 
zu entsprechen haben. Wie das gemeint ist, soll sofort 
gezeigt werden. 

Denken wir uns, wir hätten eine sehr große Anzahl 
verschiedener Farbennuancen etwa auf einzelnen Papp- 
täfelchen oder in Wollmustern nach Ähnlichkeitsgraden 



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1. Hälfte: Psychologie de« Qeifltedebena. 146 

ZU sortieren. Wenn wir dabei vielleicht von einem reinen 
Bot ausgehen, so werden wir diesem etwa ein gelbliches 
Bot anreihen, diesem ein Orange, diesem wieder eiu gelb- 
liches Orange, dann ein reines Gelb, dann ein bereits 
etwas grünliches Gtelb, dann wohl ein etwas gelbliches 
Grün, dann ein reines Grün usw* Wenn wir diese 
Reihe überblicken, so werden wir gewahr, daß die Ver- 
änderung von rot bis gelb in gewissem und einheitlichem 
Sinne vor sich geht, in einer und derselben Bichtung, 
nämlich immer auf das Gelb los; jede Nuance innerhalb 
dieses Stückes weist einerseits Ähnlichkeit mit rot, ander- 
seits mit gelb auf. Von gelb an weiter ändert sich dies. 
Die Ähnlichkeit mit rot hat gänzlich aufgehört, und es 
tritt an ihre Stelle Ähnlichkeit mit grün, die Veränderung 
hat einen anderen Sinn bekommen, sie geht nun auf grün 
los, sie hat bei gelb die Bichtung geändert. 

Setzen wir den Weg von grün über blaugrün und 
grünblau nach blau, von da über violett und purpurn fort, 
so kommen wir schließlich ganz von selbst zum Bot zurück, 
und solcher Bichtungsänderungen wie bei gelb treffen wir 
noch weitere bei grün, bei blau und bei rot an. Die Linie, 
die diesen Weg versinnbildlichen soll, wird also eine in 
sich geschlossene sein müssen, die an vier Punkten ihres 
Verlaufes deutlich die Bichtung ändert. Den vier aus- 
gezeichneten Punkten sind die in ihrer psychologischen 
Besonderheit eben charakterisierten sogenannten Haupt- 
farben Bot, Gel.b, Grün, Blau zugeordnet. 

Bisher haben wir aber nur die sogenannten chroma- 
tischen oder bunten Farben in Betracht gezogen. Wir 
müssen aber auch die achromatischen (neutralen) Farben 
dem Schema einfügen. Diese bilden eine Beihe, die vom 
Weiß durch die verschiedenen Nuancen von Grau zum 
Schwarz führt, in der es gewiß keine Bichtungsänderung 
gibt und die daher zuverlässig durch eine Gerade darzu- 
stellen ist. 

In welche räumliche Beziehung diese Gerade im 
Gesamtschema zur geschlossenen Linie der Hauptfarben 
zu setzen ist, das erkennt man daraus, daß es einen konti- 
nuierlichen Übergang von rot etwa zu grün gibt, der gelb 
oder blau nicht berührt, sondern dadurch zustande kommt, 
daß das Bot immer grauer und grauer wird, endlich in ein 

Witasek. Grundlinien der Psychologie. ^.g.^.^^^ by%UUy IC 



l46 11. Teil. Spezielle Psychologie. 

reines Grau übergeht und von da an immer grünlicher 
wird. Man kann diesen Übergang durch eine Ge- 
rade vom Rot- zürn Grünpunkt darstellen. In dieser Ge- 
raden liegt ein Punkt Grau, und dieser Graupunkt muß 
auch der Weiß-Schwarz-Geraden angehören. Die Weiß- 
Schwarz-Gerade muß also die Ebene der Hauptfarben in 
diesem Punkte schneiden. 

Damit ist das Grundgerüst zur räumlichen Dar- 
stellung der in unseren Gesichtsempfindungen gebotenen 
Farbenmannigfaltigkeit gewonnen. Wir kommen auf ein 
dreidimensionales Gebilde, einen Farbenkörper. Seine 

yveiss . 



Schwarz 

JPig. 6. 
Ornndform des Farbenoktaeden. 

Begrenzung erhalten wir, wenn wir die durch den Weiß- 
punkt einer-, den Schwarzpunkt anderseits zusammen mit 
je zwei aufeinanderfolgenden Eckpunkten der Hauptfarben- 
linie bestimmten acht Ebenen legen. Der Körper wird 
also ein Oktaeder. (Fig. 6i) 

In diesem Oktaeder sind sämtliche, erfahrungsgemäß 
gegebenen Farben richtig unterzubringen. Auf der Kante 
rol-gelb-grün-blau liegen die satten Farben, das sind 
jene, die ihre Qualität am reinsten ausgeprägt haben 
und am wenigsten an grau, weiß oder schwarz erinnern; 
sie enthält also sämtliche Farbentöne im höchsten Sät- 
tigungsgrad. Jede Gerade, die einen Punkt dieser Linie 
mit dem Weiß'punkt oder dem Schwarzpunkt verbindet^ 

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1. Hälfte: Psychologie des GeisteBlebens. I47 

zeigt die Übergänge vom satten Farbenton dieses Punktes, 
der noch von aller Weißlichkeit oder Schwärzlichkeit frei 
ist, durch alle die relativ sattesten, aber immer weißlicher 
bezw. schwärzlicher werdenden Nuancen des gleichen 
Farbentons zu weiß und schwarz, z. B. von rot über rosa 
zu weiß, von gelb über braun zu schwarz. Die Farben 
auf einer solchen Linie sind zu unterst am dunkelsten 
und werden gegen oben immer heller, sie hg-ben alle 
gleichen Farbenton, unterscheiden sich aber in bezug auf 
Helligkeit, während ihre Sättigung dem mit dem je- 
weiligen Helligkeitsgrad verträglichen Maximum ent- 
spricht. Die ungesättigten Nuancen liegen nun sämtlich 
im Innern des Oktaeders, und .zwar: so, daß auf der Ge- 
raden, die man von einem beliebigen Punkte von der Ober- 
fläche des Oktaeders zum Graupunkt gleicher Helligkeit 
in der Schwarz-Weiß-Linie . zieht, alle die Nuancen zu 
liegen kommen, die den Farbenton des Oberflächenpunktes 
und die Helligkeit dieses Grau haben und durch zunehmend^ 
Graulichkeit den kontinuierlichen Übergang von jenem zu 
diesem vermitteln. 

Nun gibt es in unserer Erfahrung keine Nuance mehr, 
die in diesem körperlichen Schema nicht an geeigneter 
Stelle unterzubringen . wäre. Wir sehen daraus zugleich, 
dajß jede Nuance nach drei : relativ voneinander unab- 
hängig variabeln Merkmalen bestimmt ist: nach Farben - 
ton, Helligkeitß- und Sättigungsgrad. Man darf sich 
nun aber nicht dazu verleiten lassen, zu meinen, daß wir 
in diesen drei Variabeln die drei Dimensionen des „Farben- 
raumes", aus dem der Farbenkörper den uns empirisch ge- 
gebenen Ausschnitt bildet, vor uns hätten ; das wäre irrig. 
(Meinong, 1903.) Auch darf Helligkeit der Farben nicht 
mit Weißlichkeit verwechselt werden ; die vollkommen ge- 
sättigten Farben sind. alle gleich frei von jeder Spur an 
Weißlichkeit, und doch ist ein gesättigtes Gelb viel heller 
als ein gesättigtes Blau. Als Dimensionen des Farben- 
raumes haben vielmehr am natürlichsten die Richtungen 
der Schwarz- Weiß-, der Eot-Grün- und der Blau-Gelb- 
Geraden zu gelten, von denen die erste allerdings mit der 
der Helligkeit zusammenfällt. Im übrigen sind vorläufig 
freilich noch zahlreiche Fragen nicht nur der „Farben- 
geometrie" überhaupt, sondern wohl auch noch der räum- 

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148 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

liehen Darstellung des Systems der empirischen Farben, 
also des Farbenkörpers, unentschieden. Gleichwohl hat 
uns der Faxbenkörper auch schon in seiner bisherigen 
Gestalt aufs beste zur übersichtlichen Beschreibung der 
rein psychologischen Eigentümlichkeiten der Inhalte 
unserer Farbenempfindungen verholfen. 

ß) [Abhängigkeit vom äußeren Beiz.] Der adä- 
quate Beiz von Licht- und Farbenempfindungen ist das 
physikalische Licht. Dieses besteht, wie die Physik lehrt, 
in transversalen Schwingungen der kleinsten Teilchen 
einer imponderabeln Materie, des Äthers, die in Wel- 
lenstrahlen auf die Netzhaut des Auges (siehe unter y) 
treffen. Die Wellenlänge der Strahlen, die das Auge 
zu Gesichtsempfind^ungen veranlassen, variiert von drei 
bis acht Zehntausendstel eines Millimeters; es gibt 
aber auch Strahlen, deren Wellenlänge größer — bis 
zu mehreren Metern — ist und die, obwohl sie sich 
von den Lichtstrahlen sonst durch nichts unterscheiden, 
doch keine Gesichtsempfindung hervorzurufen vermögen, 
sondern sich uns durch elektrische und mttgnetische 
Wirkungen bemerkbar machen. 

Im ^gemeinen ist auch hier, wie bei den Gehörs- 
empfindungen, eine sehr einfache Zuordnung zwischen 
den einzelnen Bestimmungsstücken des Beizvorganges und 
denen der Empfindung zu konstatieren. Der Farbenton 
ist Von der Schwingungszahl der Ätherbewegung abhängig 
oder, was, solange die Bewegung im gleichen Medium 
(Luft, Wasser) bleibt und solange sie daher stets gleiche 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit hat, auf dasselbe hinaus 
kommt, von der Wellenlänge; denn diese ist bekanntlich 
gleich dem Quotienten aus Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
und SchwingungszahL Die Helligkeit hängt mit der Ampli- 
tude der Schwingungen zusammen; je größer die Ampli- 
tude, desto größer notwendig die Geschwindigkeit, mit 
der das Teilchen die Buhelage passiert, desto größer also 
auch die lebendige Kraft der Wellenbewegung. Den 
Sättigungsgrad der Empfindung schließlich bestimmt die 
Wellenbewegung je nach ihrer Einfachheit oder Zusam- 
mengesetztheit. Geradeso wie bei den Schall-, so können 
auch bei den Lichtwellen Bewegungsantriebe von ver- 

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1. Hälfte: Psychologie des Geistejslebens. 149 

schiedener Frequenz (Schwingungszahl) gleichzeitig ein 
und dasselbe Teilchen treffen, so daß durch Superposition 
zusammengesetzte Wellenzüge entstehen; oder es können 
Wellenzüge verschiedener Frequenz in naher Nachbar- 
Schaft verlaufen und das Auge treffen. Je einfacher nun 
in diesem Sinne der Lichtreiz beschaffen ist, desto ge- 
sättigter erscheint die Farbe. Darin unterscheidet sich 
die Funktion des Auges sehr auffallend von der des Öhres ; 
es zerlegt nicht wie dieses einen zusammengesetzten Wel- 
lenzug in seine Komponenten, um so alle den einzelnen 
Komponenten entsprechenden Empfindungen zugleich zu 
vermitteln, sondern es liefert auch in diesem Falle eine 
einheitliche, einfache Empfindung, die nui: qualitativ, dem 
Sättigungsgrad nach, eigentümlich bestimmt ist. — Im 
Speziellen ist jedoch die Zuordnung der drei Bestimmungs- 
stücke des Eeizvorganges zu denen der Empfindung hier 
keineswegs eine so enge und eindeutige, wie das beim 
Gehörssinn der Fall ist ; sie Serleidet vielmehr durch "mannig- 
faltige räumliche und zeitliche Verhältnisse die aus- 
giebigsten Verschiebungen. Gleichwohl kann von einer 
so zu nennenden Normalabhängigkeit zwischen Reiz und 
Empfindung gesprochen werden, und diese soll nun zu- 
nächst, ohne Rücksicht auf jene Verschiebungen, für jedes 
der drei Bestimmungsstücke dargelegt werden. 

Zunächst die Normalabhängigkeit zwischen Farben- 
ton und Schwingungszahl. Bekanntlich teilt sich der weiße 
Sonnenstrahl beim Durchgang durch ein Glasprisma wegen 
der verschiedenen Brechbarkeit von Strahlen verschiedener 
Wellenlänge in zahlreiche nebeneinander liegende farbige 
Strahlen, die, auf einem Schirm aufgefangen, das Sonnen- 
spektxum geben. Dasselbe zeigt bei mittlerer Helligkeit 
in kontinuierlichem Übergange die Farben rot, orange, 
gelb, grün, blau, violett, und gestattet mittels physika- 
lischer Methoden die Wellenlänge an einer beliebigen 
Stelle des Farbenbandes zu messen. Dabei ergibt sich, 
daß das rote Ende des Spektrums die größte Wellenlänge 
besitzt, von 0.0007 bis 0.0008 mm, und daß sie von da 
stetig abnimmt, bis sie am andern Ende des sichtbaren 
Spektrums, im Violett, auf zirka 0.0003 bis 0.0004 mm 
gesunken ist. In diesem Zwischenräume können wir 
außerordentlich viele verschiedene Farbentöne voneinander 



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150 II« Teil. Spezielle Bsychologie. 

untersclieiden ; denn die (absolute) ünterschiedsschweUe 
betragt, mittlere Lichtstärke vorausgesetzt, an den Stellen 
der größten ünterschiedsempfindlichkeit, d. i. im Gelb 
und im Blaugrün, weniger als ein Milliontel Millimeter 
.Wellenlänge, an denen der geringsten ünterschieds- 
empfindlichkeit, im Kot und Orange, immer erst noch 
zirka fünf MiUiontel. (Uhthoff, 1888.) 

Das Spektrum zeigt uns die Farben in der größten 
uns zugänglichen objektiven Sättigung. Dabei erkennen 
wir deutlich, daß die gesättigten Farben keineswegs alle 
gleich hell sind ; die weitaus größte Helligkeit finden wir 
gegen die Mitte des Farbenbandes, im Gelb, eine geringere 
im Rot, die geringste im Blau. 

Diese Tatsache ist zur näheren Kennzeichnung der 
Normalabhängigkeit zwischen Helligkeit der Lichtempfin- 
dung und Amplitude der Ätherschwingungen von beson- 
derem Interesse. Die Amplitude — und damit die Energie 
der Schwingungen, d. i. also die physikalische Intensität 
des objektiven Lichtes — nimmt nämlich, wie die Physik 
ermittelt hat, im Sonnenspektrum in der Richtung vom 
langwelligen zum kurzwelligen Ende stetig und stark ab ; 
gleichwohl liegt die Stelle größter subjektiver Helli^eit 
nicht im Rot, sondern im Gelb. Das Gesetz, daß die 
Helligkeit . der Lichtempfindung mit wachsender Enei^e 
des physikalischen Lichtes zunimmt, gilt also zunächst 
nur so lange, als es sich um verschieden starke Lichter 
gleicher Wellenlänge, sonach um Empfindungen gleichen 
Farbentons handelt, während ein und dieselbe physikali- 
sche Intensität, wenn sie verschiedenen Wellenlängen zu- 
gehört, verschiedene subjektive Helligkeit ergeben kann. 

Schon aus diesem Grunde gestaltet sich die Bestim- 
mung der intensiven Reizschwelle für Gesichtsempfin- 
dungen ungemein kompliziert; sie muß, wenn sie 
iWert haben soll, je nach der Wellenlänge besonders vor- 
genommen werden. Aber auch dann haben etwaige Zahlen- 
angaben nur ganz relative, spezielle Bedeutung. Denn 
die Schwelle variiert mit der Größenausdehnuijg des 
leuchtenden Feldes und der Dauer der Einwirkung des 
Reizes, noch ganz abgesehen von später ausführlich zu be- 
sprechenden, sehr gewichtigen Einflüssen (Adaptation und 
Läge auf der Netzhaut). Dazu kommt, daß der Begriff 



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1. HUlfbe: Psychologiß des Geisteslebens. l;^\ 

der. Schwelle für den vorliegenden Fall nicht einmal ein- 
deutig ist; denn man beobachtet, daß farbige Lichter in 
den geringsten Intensitäten, mit denen sie überhaupt eine 
Empfindung ergeben, nur grau erscheinen, und erst bei 
einem höheren Intensitätsgrad (gpeafische Farbenschwelle) 
auch die Farbe erkennen lassen, wobei sich das „farb- 
lose Intervall" für verschiedene Farben und verschiedene 
Netzhautstellen sehr verschieden erweist. Und schließ- 
lich sind alle so ermittelten Schwellen psychologisch 
betrachtet streng genommen Unterschieds-, nicht Reiz- 
schwellen ; denn es handelt sich dabei in jedem Fall darum, 
ob sich der Empfindungserfolg eines gegebenen minimalen 
Lichtreizes von dem bei Fehlen jedes Reizes vorhandenen 
Schwarz abhebt, wobei auch noch die Störungen in An- 
schlag zu bringen sind, die durch das sogenannte Eigen- 
licht der Netzhaut bedingt werden, einen gewissen, aller- 
dings stets matten, von wechselnden, weniger hellen Stellen 
durchkreuzten Lichtnebel, der offenbar in den physio- 
logischen Stoffwechselvorgängen des Organs begründet ist. 

Will man unter solchen Umständen doch wenigstens 
eine allgemeine Vorstellung von der ungefähren Leistungs- 
fähigkeit des Auges geben, so mag es genügen, daß die 
lichtschwächsten, eben noch sichtbaren Sterne an Licht- 
energie an das Auge in Vio Sekunde, also in einer Zeit, 
die an sich zum Zustandekommen der Gesichtsempfindung 
durchaus hinreicht, nur so viel abgeben, als erforderlich 
ist, um' 1 Milligramm auf eine Höhe von 4 Hunderttausend- 
stel Millimeter zu heben, und daß diese Schwelle, je nach 
den Umständen, um mehr als das Zehntausendfache nach 
auf- und abwärts variiert. (Max Wien, 1888; Langley, 
1889.) 

Darnach läßt sich wohl erwarten, daß auch die 
Messung der Unterschiedsschwelle für Helligkeit je nach 
(den Umständen sehr verschiedene Ergebnisse liefert. Nach 
der günstigsten Methode ausgeführt, d. i. mittelst rasch 
rotierender Scheiben, auf denen schwarze und weiße Sek- 
toren in verschiedenen Gradverhältnissen aufgetragen sind, 
ergibt sie für verschiedene Nuancen von Grau etwa 
.Vioo (Volkmann [Fechner], 1860) bis Vise (Aubert 1864); 
unter weniger günstigen Vergleichsverhältnissen steigt der 
Wert bis auf Vso ^^^ mehr. Eine dem Weberschen Gesetz 



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X5S n. Teil« Spezielle Psychologie. 

entsprechende Konstanz der relativen ünterschiedsempfind' 
lichkeit bewährt sich für achromatisches Licht innerhalb 
einer breiten Eegion mittlerer Hdligkeitsgrade ziemüch 
genau; von da nach aufwärts, besonders aber nach ab- 
wärts wächst die relative Uhterschiedsschwelle. Für chro- 
matisches Licht kompliziert sich die Sachlage wieder mehr- 
fach. (König und Brodhun, 1888.) — 

Die Normalabhängigkeit unserer Farbenempfindung 
vom dritten Bestimmungsstück des äußeren Reizes, der 
Einfachheit ©der Zusammengesetztheit des Lichtes, nimmt 
sich fürs erste ungemein verwickelt aus. Was im ge- 
wöhnlichen Leben unsere Netzhaut trifft, ist nur in 
seltenen Ausnahmefällen einfaches, so gut wie immer zu- 
sammengesetztes Licht. Man kann sich davon leicht 
mittelst eines kleinen Handspektroskopes überzeugen ; man 
mag es richten, auf welchen Gegenstand man wolle, stets 
erscheint der Spalt, durch den das Licht vom Gegenstande 
her eindringt, in ein Farbenband auseinandergezogen. Auf 
diese einfache Weise kann man sich leicht Erfahrungs- 
daten über die Abhängigkeit der Farbenempfindüng von 
der Zusammensetzung des Lichtes verschaffen ; denn das 
Farbenband im Spektroskop enthält alle und nur jene 
Komponenten, aus denen sich die mit freiem Auge ge- 
sehene Farbe des Gegenstandes zusammensetzt. Aber trotz, 
ja vielleicht gerade wegen der außerordentlichen Fülle 
und Mannigfaltigkeit dessen, was wir dabei im einzelnen 
über die natürliche Zusammensetzung der Farben unserer 
Umgebung erfahren, wäre es auf diesem Wege kaum 
möglich, eine gesetzmäßige Abhängigkeitsbeziehung all- 
gemeiner Geltung daraus abzunehmen. 

Und doch ist diese Abhängigkeitsbeziehung im Grunde 
ziemlich einfacher Natur. Freilich hat man sie nicht auf 
dem Wege der spektroskopischen Zerlegung der an den 
Naturobjekten uns entgegentretenden Farben gewonnen, 
sondern^ indem man umgekehrt bekannte vorgegebene 
Komponenten absichtlich zusammensetzte, d. h. man be- 
diente sich zur Untersuchung der vorliegenden Frage der 
Farbenmischung. 

Genauer sollte man eigentlich sagen Lichtmischung. 
Schon deshalb, um das Mißverständnis zu vermeiden, daß 
es sich dabei um Mischung von Malerfarben, von Pig- 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. X53 

menten, handle. Denn eine solche wäxe hier gänzlich 
unbrauchbar, da sie eben nur Mischung der Farbstoffe 
und nicht der Lichter ergibt. Es kommen vielmehr haupt* 
sächlich folgende zwei Verfahrungsweisen in Betracht. 
Entweder man schneidet aus zwei Spektren mit Hilfe von 
Diaphragmen die Farben heraus, die man zu mischen 
wünscht, und legt die beiden Spektren so übereinander, 
da& die zwei Ausschnitte zusammenfallen (physikalische 
Lichtmischung) ; wobei eine Mischung im strengen Sinne 
des Wortes allerdings eigentlich nur bezüglich des Farben- 
tons zustande kommt, während die Helligkeiten sich sum- 
mieren. (Meinong, 1903.) Oder — und dann erhält man 
eine Mischung auch in betreff der Helligkeiten — man 
läßt kreisrunde Scheiben, auf denen die zu mischenden 
Farben in Sektoren aufgetragen sind, so rasch um ihren 
Mittelpunkt rotieren, daß die verschiedenen Farben zu 
einem einheitlichen Eindruck verschmelzen. 

So hat man folgende Gesetze der Farbenmischung 
gewonnen. Zusammengesetztes Licht ergibt im subjek- 
tiven Eindruck eine genau ebenso unzusammengesei;zte, 
einfache Empfindung wie unzusammengesetztes. Dem 
Farbentone nach liegt die Mischfarbe zwischen den zwei 
Komponenten (wenn man die Farben, so wie wir es oben 
getan haben [S. 144f.], nach größten Ähnlichkeiten geordnet 
denkt), und zwar je nach dem Mengenverhältnis der beiden 
Farben näher zur einen oder zur andern. Rot und Violett 
geben zusammen Purpur, eine Farbe, der überhaupt kein 
einfaches Licht entspricht. Alle übrigen Mischfarben 
stimmen wenigstens im Farbenton mit irgend einer der 
durch einfaches Licht erzeugbaren Farben überein. Nur 
dem Sättigungsgrade nach unterscheiden sie sich im 
allgemeinen von ihnen. Die Mischung langwelliger 
Lichter, vom Eot bis Gelb, ergibt allerdings so gut wie 
spektrale Sättigungsgrade. Je weiter man aber über das 
Gelb gegen Grün hinausgeht, desto ungesättigter, grau- 
licher wird die Mischfarbe, bis man endlich zu einer 
Nuance kommt, die mit dem Ausgangs-Rot zusammen 
reines Grau, bei genügender Helligkeit Weiß ergibt. Diese 
Nuance heißt um d^willen die Komplementärfarbe zu 
i.enem Rot. Geht man noch weiter, also über diese Nuance 
hinaus, so bekommt die Mischfarbe in allmählich steigen- 



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154 n. Teil ^eslelle Paychologie. 

der Sättigung neuerdings einen bunten .Parbenton, d«r 
nun aber im entgegengesetzten Abschnitt der njSiiCb. größten 
Ähnlichkeiten konstruierten, in sich zurückkehrenden Far- 
benkurve zwischen den beiden Komponenten liegt. 

Eine Komplementärfarbe im eben definierten Sinne 
gibt es zu jeder Farbe ; zu jeder Farbe gehört eine andere» 
die mit ihr im gehörigen Verhältnis gemischt ein GS-rau 
(Weiß) erzeugt. Solche Komplementärfarbenpaare sind 
Kot-Blaugrün, Orange-Grünblau, Gelb-Blau, Grün-Purpur, 

Für die Farbe des Mischungsergebnisses ist nur das 
Aussehen der zu mischenden Lichter maßgebend, nicht 
ob sie einfach oder selbst, bereits durch Mischung ge- 
wonnen, und nicht, aus welchen Komponenten sie etwa 
gemischt sind. Ändert sich eine der Komponenten stetig, 
sei es durch Änderung der Wellenlänge einfachen Lichtes, 
sei es durch allmähliches Hinzutreten einer neuen Kompo- 
nente, so ändert sich ebenso auch die Mischfarbe. Ändert 
sich die Helligkeit der Komponenten in gleichen Verhält- 
nissen und in nicht zu weitem Ausmaß, so ändert sich aizch 
die Mischfarbe nur in ihrer Helligkeit, nicht im Farben- 
ton; stellt man also aus verschiedenen Komponenten 
gleiche Mischfarben her, so bleiben sie gleich, auch wenn 
die Helligkeit der Beleuchtung innerhalb nicht zu weiter 
Grenzen schwankt. (Graßmann, 1853, Helmholtz, 1856 
bis 1866.) Was geschieht, wenn diese Bedingung nicht 
erfüllt ist, davon wird später die Eede sein. 

Das sind die wichtigsten Tatsachen der Farben- 
mischung. Sie ließen sich wohl auch in einer geringeren 
Anzahl allgemeinerer Sätze ausdrücken, kämen aber dabei 
naturgemäß um einen Teil ihrer unmittelbaren Anschau- 
lichkeit. Nur eine bedeutungsvolle Folgerung soll noch 
gezogen werden : Aus drei Farben, von denen je zwei die 
Komplementärfarbe der dritten einschließen, lassen sich 
durch Mischung sämtliche überhaupt vorhandenen Farben 
herstellen, nur nicht in einem Sättigungsgrade, der- den 
der Mischfarben überträfe. Am leistungsfähigsten betreffs 
der zu erzielenden Sättigungsgrade erweist sich dabei die 
Wahl von Rot, Grün und (Blau-) Violett. 

Eine anschauliche graphische Darstellung der 
Mischungsgesetze liefert die sogenannte Farbentafel. 
(Fig. 7.) In ihr sind sämtliche Farben so geordnet, 



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1. H^te: Psychologie des Geisteslebens. 153 

daß benachbarte Punkte ähnlichste Färben darstellen, and 
die Mischfarbe zweier Komponenten stets auf der gerad- 
linigen Verbindung der diesen zugeordneten Punkte so 
liegt, daß sie die Gerade im umgekehrten Verhältnis zu 
den beiden in die Mischung eingegangenen Lichtmengen 
teilt („Schwerpunktskonstruktion"). — 

Soviel über die sogenannte I^ormalabhängigkeit zwi- 
schen Eeiz und Empfindung des Gesichtssinnes. Es 'wurde 
schon bemerkt, daß diese Normalabhängigkeit in concreto 
zumeist Verschiebungen und Störungen erfährt, weil nicht 
sie allein den Ausfall -der Empfindung bestimmt, sondern 
noch eine Reihe ständiger, aber variabler Nebenumstände 
maßgebend ist. 



Grün 




VioleU 



SchematUclie Farbentafel. 

Einer dieser Nebenumstände fällt seiner Art nach 
allerdings mit einem bereits besprochenen Bestimmungs- 
stücke des Eeizvorganges zusammen: die Intensität des 
Lichtes. • Exzessiv hohe und exzessiv niedrige Intensitäts- 
grade bewirken nämlich eine Verschiebung der Normal- 
abhängigkeit, und zwar in folgendem Sinne. 

Bei steigender Intensität verlieren die Lichter, auch 
die einfachen, zuletzt immer mehr und mehr die Fähigkeit, 
gesättigte Empfindungen hervorzurufen ; die Farben werden 
immer heller, weißlicher, ungesättigter. Gleichzeitig tritt 
auch eine Verschiebung im Farbenton ein, indem die 
langwelligen Lichter sich sämtlich dem Gelb, die kurz- 
welligen sämtlich dem Blau nähern. 

Bei sinkender Intensität nimmt mit der Helligkeit 
zunächst gleichfalls die Sättigung der Farben stark ab, 
sie werden immer graulicher, schwärzlicher, die roten 



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156 II' T®^^» Spezielle Psychologie. 

Töne allerdings weniger und langsamer. Die auffallendste 
Erscheinung dabei besteht aber darin, daß die größte 
Helligkeit unter den Farben, die bei mittlerer Beleuchtung 
bekanntlich dem Gelb (0.00058 mm Wellenlänge) zuge- 
sprpchen werden muß, immer mehr und mehr gegen Blau 
rückt, so daß schließlich blaues Licht (0.00048 mm Wel- 
lenlänge), wenn auch freilich schon so gut wie gänzlich 
achromatisch, doch immer noch relativ hell aussieht, 
während gelbes Licht schon beträchtlich dunkler grau, 
rotes nahezu tiefschwarz erscheint. (Purkinjes Phänomen, 
1825.) Bedingung ist dabei, daß -die Herabsetzung der 
Lichtintensität nicht etwa nur für kleine farbige Objekte 
vorgenommen wird, sondern daß sie die gesamte Um- 
gebung des Beobachters betrifft, wie dies in der Abend- 
dämmerung oder beim Herabdrehen der Lampe geschieht 
(Hering, 1895.) 

Eine Folge dieser Tatsache ist es auch, daß Misch- 
farben, die aus verschiedenen Komponenten so zusam- 
mengesetzt sind, daß sie bei Tagesbeleuchtung gleich aus- 
sehen, in genügend weit vorgeschrittener Dämmerung nach 
Farbenton und besonders nach Helligkeit verschieden 
werden können. (Ebbinghaus, 1893.) — 

Eine andere Verschiebung der Normalabhängigkeit 
ist darin begründet, daß die Netzhaut, die halbkugelförmige, 
häutige Ausbreitung des Sehnerven im Augenhintergrunde, 
in der die den Lichtreiz aufnehmenden nervösen Elemente 
enthalten sind, nicht an allen Stellen ihrer Ausdehnung 
gleich funktioniert. 

Von geringerem Belang ist es hier, daß sich in diesem 
Augenhintergrunde neben unzähligen winzig kleinen auch 
eine relativ ausgedehnte Stelle findet, die sich gegen Licht 
völlig unempfindlich erweist und deshalb blinder Fleck 
genannt wird. Sie liegt ziemlich in der Mitte des Augen- 
hintergrundes, nämlich dort, wo der Sehnerv in den Aug- 
apfel eintritt. Man kann sich von ihrem Vorhandensein 
leicht mit Hilfe der beigegebenen Figur (Fig. 8) über- 
zeugen. Fixiert man bei geschlossenem linken Auge mit 
dem rechten Auge aus einer Distanz von zirka 17 cm 
das Kreuz, so sieht man absolut nichts von dem hellen 
Kreise rechts davon, während er sofort im Gesichtsfelde 
auftaucht, wenn man einen vom Kreuz nur wenig weiter 



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1. Hälfie: Psychologie des Geisteslebens. 157 

nach rechts oder nach links liegenden Punkt fixiert, oder 
das Auge um weniges nähert oder entfernt. 

Bedeutsamer für die gegenwärtigen Interessen er- 
scheint es, daß verschiedene Stellen der Netzhaut auf 
Licht von gleicher Wellenlänge verschieden reagieren, so 
daß ein und dasselbe Licht, je nachdem es diese oder jene 
Stelle der Netzhaut trifft, verschieden erscheint. 

Was oben als Normalabhängigkeit für Farbenton und 
Helligkeit vorgebracht worden ist, das gilt streng genom- 
men nur für eine eigentlich ziemlich eng begrenzte Stelle 
der Netzhaut, die Stelle des deutlichsten Sehens und ihre 
nächste Umgebung. Es kann sich jedermann leicht davon 
überzeugen, daß sich in unserem Gesichtsfelde in der 




Fig. 8. 

Regel weit mehr abbildet, als das, worauf jeweils unsere 
Aufmerksamkeit gerichtet ist. Eings um dieses zentrale 
Gebiet zeigt unser Gesichtsfeld noch eine breite Band- 
zone, die gleichfalls mit Gesichtsempfindungen ausgefüllt 
ist. Die Empfindungen der Eandzone sind aber verschwom- 
men und undeutlich. Nur die Bilder des Zentralgebietes 
sind scharf und deutlich. Die Aufmerksamkeit ist daher 
in der Regel mit ihnen verbunden; doch ist es durchaus 
nicht ausgeschlossen, sie auch einmal auf Empfindungen 
der Eandzone zu konzentrieren. Die organischen Grund- 
lagen dieser Verschiedenheiten im Gesichtsfelde sind in 
den anatomischen Verhältnissen der Netzhaut begründet. 

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158 II. Teil. Spezielle Psychologie. • 

Eine kleine umwallte Stelle von zirka 2 mm Durchmesser ' 

(mit der ümwallung), die ungefähr 15 •> nach außen voM 
Mittelpunkt des blinden Flecks entfernt liegt, ist vermöge 
ilujes besonderen bistologischen Baues zum . deutlichen 
Sehen am vorzüglichsten geeignet. Sie liefert die deut- 
lichen Bilder des Zentralgebiets;" die undeutliche Eand^ 
Zone des i Gesichtsfeldes enthält die Empfindungen jenet 
Gegenstände, die sich auf der Netzhaut seitlich von dieser 
Stelle ,des deutlichsten Sehens abbilden, die, wie man zu 
sagen pflegt, nicht direkt, sondern nur indirekt gesehen 
werden. 

' Die ündöütlichkeit des indirekt Gesehenen betrifft 
nun aber nicht nur diis Umrisse, sondern a^ich die Farb^ 
3er Gegenstände. In der äußersten Randzone erscheinen 
alle Lichter nur als verschiedene Nuancen von Grau: 
Die ganze Farbenmannigfaltigkeit ist in eine Dimension, 
und zwar auf die Schwarz- Weiß-Achse des Farbenoktaeders 
zusammengeschrumpft. In dem ziemlich breiten Eing, der 
zwischen dieser äußersten Eandzone und dem Zentralgebiet 
liegt, kommen bereits wiederum bunte Farben zur Geltung, 
aber nur in zweierlei Farbentönen, nämlich einem be- 
stimmten Gelb und einem bestimmten Blau. Alle Lichter, 
die normalerweise, d. h. im Zentralgebiet rot, prange, gelb, 
grüngelb erscheinen, bleiben gelb ; ein normales Grün von 
zirka 0.0005 mm Wellenlänge erscheint grau ; alles weitere 
normale Grün, Blau, Violett und. Purpur wird blau und 
ein gewisses, schon ziemlich rötliches Purpur, das jenem 
Grün komplementär ist, gleichfalls grau. Die Farben- 
mannigfaltigkeit ist hier also eine zweidimensionale; sie 
entspricht jener Ebene, die als Vertikalschnitt durch die 
Schwarz- Weiß- und die Blau-Gelb-Achse des Farbenokta- 
eders bestimmt ist. Die volle dreidimensionale Farben- 
mannigfaltigkeit gilt erst für das Zentralgebiet des Ge- 
sichtsfeldes. Doch ist dabei nicht zu vergessen, daß die 
Grenzen der drei Gebiete je nach Helligkeit, Sättigung und 
vor allem Ausdehnung des auf die Netzhaut fallenden 
Lichtes sehr verschieden ausfällen. 

Man kann sich mit leichten Mitteln von all dem über- 
zeugen, wenn man bei starrer Fixation des Blickes farbige 
Papierstückchen von außerhalb des Gesichtsfeldes lang- 
sam seitlich in dasselbe einschiebt und, ohne den Blick 



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1. Hälfte: Psychologie des G^eisteslebens. 15'9 

hinzuwenden, darauf achtet, in welcher Farbe sie er* 
scheinen. . - 

Eine dritte Störung der Normalabhängigkeit ist darin 
begründet^ daß es für die Qualität des Empfindungs- 
effektes eines Lichtes, das die Netzhaut an einer beliebigen 
Stelle trifft, keineswegs gleichgültig ist, was für Licht 
gleichzeitig.von der Nachbarschaft dieser Stelle, ja von der 
ganzen übrigen Netzhaut aufgenommen wird. Legt man 
kleine Papierstückchen von ein und derselben, etwa hell- 
grauen Farbe auf verschiedenfarbiges, schwarzes, weißes, 
rotes, grünes, gelbes,, blaues Papier, überdeckt das Ganze, 
zur Steigerung des Effektes, mit einem Blatt durchschei- 
nenden weißen Seidenpapiers, so präsentieren sich die — 
objektiv gleichfarbigen — Stückchen in den versohiödenl- 
sten Nuancen, und zwar kann man im allgemeinen sagen : 
die Nuance kommt jeweils durch eine Annäherung an 
die. Komplementärfarbe des Grundes (die mit Rücksicht 
darauf auch Kontrastfarbe genannt wird) zustande. Das 
graue. . Stückchen erscheint . auf hellem Grund dunkler, 
auf dujaklem heller, auf grünem rötlich, auf rotem grün* 
lieh usw. ; ein grünes aui rotem Grund satter, auf blauem 
gelbHcher, auf schwarzem heller. 

Man bezeichnet diese Tatsachen (nach Chevreul, 1832) 
als simultanen Kontrast und hält auch noch: den Helligkeits- 
vom Farbenkojitrast auseinander. Will man sie rein be- 
obachten, so muß man darauf bedacht sein, alle, auch 
die geringsten Augenbewegungen zu vermeiden ; denn sonst 
verquickt sie sich noch mit eüiein zweiten, andersartigen 
Störungseinfluß, von dem erst später die Rede seih wird. 
Ist aber die Bedingung absolut ruhigen Blickes erfüllt, 
so zeigt sich, daß der simultane Kontrast sehr rasch vor* 
übergeht, im günstigsten Fall, bei Rot und Grün, nur 
wenige Sekunden, im ungünstigsten, bei Blau und Gelb, 
taum merklich einen Augenblick andauert. Damit ist dann 
aber die wechselseitige Beeinflussung der Farben nicht 
etwa schon zu Ende; sie schlägt nur in die entgegenge- 
setzte Richtung um: Es strahlt dann langsam und all- 
inählich die Färbung einer Stelle über ihre Grenzen auf 
die Umgebung aus. Ein dunkler Kreis auf einem hellen 
Grunde überzieht sich vom Bande her mit einem leichten 
Lichtschimmer, die grauen Schnitzel mit einem Schimmer 



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160 n. TeiL Spezielle Psychologie. . 

der Farbe des Grundes, auf dem sie liegen^ und umgekehrt. 
Und diese Art der gegenseitigen Beeinflussung dauert 
dann an, so daß sie bei genügend lange for^esetzteorj 
Fixation immer mehr und mehr zum Ausgleich der Farben 
und Helligkeitsunterschiede des Gesichtsfeldes und damit 
zum Verschwimmen der Konturen in ihm führt. Sie wird 
(nach Hering, 1872) als Licht- und Farbeninduktion 
bezeichnet, und zwar als gleichsinnige, während sich in 
Analogie dazu die vorhin mit dem Ausdruck simultane: 
Kontrast bellte Erscheinung als gegensinnige Licht- 
und Farbeninduktion auffassen läJQt. 

Für die Praxis des Sehens kommt eine nachteilige 
Wirkung der gleichsinnigen Induktion, wie man meinen 
könnte, nicht zur Geltung, weil das Auge niemals in dem 
Maße andauernd in Buhe bleibt, als es dazu erforderlich 
wäre; dagegen wirkt die gegensinnige günstig, da sie die 
Farbenunterschiede und damit die Konturen im Gesichts- 
felde verschärft. 

Von Wert für die theoretische Beurteilung des Wesens 
dieser Tatsachen ist es, zu beobachten, -wie dabei das 
täuschende Aussehen der induzierten Farben auch dem 
bestimmtesten indirekten Wissen über die objektive, wirk- 
liche Beschaffenheit der vorliegenden Farben standhält 
und selbst bei sorgfältigster Betrachtung nicht aus dem 
handgreiflichen Augenschein entschwindet. — 

Eine vierte und letzte Verschiebung erfährt die Nor- 
malabhängigkeit durch die Verhältnisse der zeitlichen Auf- 
einanderfolge der Lichtreize. Das Wesentlichste davon 
läßt sich in wenigen einfachen Versuchen ausprobieren. 

Legt man ein rotes Stückchen Papier auf grauen 
Grund, fixiert es einige Minuten und schiebt es dann bei 
festgehaltener Blickrichtung weg, so zeigt sich an der 
Stelle, wo es gelegen hatte, genau in seiner Größe und 
Ausdehnung ein blaugrüner Fleck. Schließt man das Auge, 
so sieht man ihn auf dem dunkeln Grunde des Augen- 
schwarz mit allfälliger Augenbewegung wandern. Läßt 
man den Blick über die Gegenstände der Umgebung 
schweifen, so huscht er gleichfalls über sie hinweg, ver- 
änderlich allerdings in seiner Größe je nach der Ent- 
fernung der Gegenstände, veränderlich auch in seiner 
Farbe, und zwar so, daß es aussieht, als wäre die Farbe 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 161 

des jeweiligen Gegenstandes mit etwas Blaugrün zur 
Mischung gekommen. War das Stückchen Papier nicht 
rot, sondern gelb, so ist die Nachwirkung nicht blau- 
grün, sondern blau, stets also die komplementäre Farbe; 
war es schwarz oder weiß, so kommt es nach der Fixation 
zu einem hellen bzw. einem dunkeln Fleck. Er wird 
daher als negatives Nachbild bezeichnet. 

Die der normalen gegensätzliche Wirkung eines 
Lichtreizes kommt aber keineswegs erst zur Geltung, nach- 
dem er aufgehört hat da zu sein. Bei genauer Beobachtung 
findet man, daß schon während der Fixation z. B. des 
roten Stückchens Papier das Bot sich allmählich in dem 
Sinne ändert, als wiirde es nach und nach mit einem 
immer größeren Zusatz von seiner Komplementärfarbe, 
von Blaugrün, gemischt, es verliert an Sättigung. 

Das Auge erfahrt also an der Stelle, an der es von 
einem bestimmten Lichte durch einige Zeit getroffen war, 
eine Umwandlung der Art und Weise, wie es auf jeden 
weiteren Lichtreiz reagiert, und zwar in dem Sinne, daß 
der Effekt der ist, als ob jedem später einwirkenden Lichte 
ein Zusatz von dem dem ersten entgegengesetzten oder 
komplementären beigemischt wäre. Man sagt, das Auge 
hat sieh an das einwirkende erste Licht gewöhnt, adap- 
tiert, in seiner Beaktionsweise eine ümstimmung er- 
fahren; und zwar im vorliegenden Falle eine lokale Um- 
stimmimg, weil sie nur einen begrenzten .Teil des Ge- 
sichtsfeldes (der Netzhaut) betrifft. 

Die Adaptation und ümstimmung kann nämlich auch 
eine allgemeine, nicht eine nur lokal begrenzte sein. Be- 
tritt man z. B., aus einem hellen Baum kommend, die 
Dunkelkammer eines Laboratoriums, so hat man zuerst 
tatsächlich den Eindruck allertiefster Finsternis, und von 
den Apparaten und Einrichtungsg^enständen ist durch- 
aus nichts zu sehen; hat man sich aber nur erst einige 
Minuten, eine Viertelstunde, in dem Baume aufgehalten, 
so kann tnan beobachten, wie sich die Finsternis all- 
mählich aufzuhellen scheint und schließlich, ganz ohne 
daß objektives Licht hinzugekommen wäre, einer Art 
dunkler Dämmerung Platz macht, in der man schon gar 
mancherlei von der Umgebung wahrzunehmen vermag. Das 
Auge hat die sogenannte Dunkeladaptation erreicht, 

Witasek, Gnudlinieii dar Pgyohologie. 11^ 

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162 II. Teil. Spezielle Psychologie. 

einen Zustand, in dem seine Lichtempfindlichkeit auf ein 
Mehrtausendfaches vom Normalen gestiegen ist, wobei 
diese Steigerung in den seitlichen Partien der Netzhaut 
ihr Maximum erreicht, gegen das Netzhautzentrum hin 
immer geringer wird. Die Dunkeladaptation ist es auch, 
für die das Purkinjesche Phänomen gilt, das ja im Netz- 
hautzentrum wahrscheinlich fehlt. — Tritt man aus dem 
dunkeln Raum wieder ins Helle, so ist man anfangs 
wegen der so sehr gesteigerten Empfindlichkeit des Auges 
wie geblendet; erst nach und nach geht die Dunkel- 
adaption wieder in Helladaption über, wir „gewöhnen" 
uns an das Licht, so daß endlich selbst intensiv beleuch- 
tete Gegenstände in mäßiger Helligkeit erscheinen. 

Die allgemeine Adaptation betrifft jedoch nicht nur 
Hell und Dunkel, sondern, geradeso wie die lokale, auch 
die bunten Farben. Wir „gewöhnen" uns an farbiges 
Licht ; ein weißes Blatt Papier erscheint uns in der gelb- 
lichen Beleuchtung einer Gasflamme geradeso weiß wie 
in der bläulichen einer Bogenlampe, und wenn wir eine 
Landschaft durch rötliches Glas betrachten, aber so, daß 
alles Licht, was ins Auge kommt, das Glas passieren muß, 
so sehen nach kurzer Zeit die Wolken wieder weiß, und 
alle übrigen Gegenstände so wie gewöhnlich aus : die 
Empfindlichkeit für die Farbe des Glases ist herabgesetzt, 
die für die komplementäre gesteigert, das Auge ist für 
Bot adaptiert. — 

Merkwürdigerweise hat die Einwirkung von Licht 
auf das Auge noch eine zweite, der eben besprochenen 
geradezu entgegengesetzte Nachwirkung; es gibt außer 
den negativen auch noch sogenannte positive Nachbilder. 
Sie führen diese Bezeichnung deshalb, weil sie im Gegen- 
satz zu jenen dem Vorbild, d. i. dem objektiven Reiz, in 
bezug auf Helligkeitsverteilung und Färbung durchaus 
gleichen, nur daß sie in der Regel im Ganzen etwas dunkler 
und in den Farben etwas blässer sind. Besonders deutlich 
treten sie auf, wenn man ein sehr lichtstarkes Objekt nur 
ganz wenige Sekunden lang anblickt und dann die Augen 
mit den Händen vollständig abdunkelt; da ist es bis- 
weilen, als sähe man das Objekt noch durch die Hände 
hindurch, und oft ist man imstande, daran Einzelheiten 
zu bemerken, die einem am Vorbild entgangen waren. 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 163 

Der Übergang zum negativen Nachbild, oder auch der 
periodische Wechsel mit diesem erfolgt nach den kompli- 
ziertesten Verhältnissen und fördert höchst mannigfaltige 
Zwischenformen von Nachbildern zutage. 

Wohl zu unterscheiden von der Tatsache der posi- 
tiven Nachbilder ist eine andere, die zwar gleichfalls darin 
besteht, daß der Licht- und Farbeneindruck noch fort- 
dauert, * nachdem der äußere Reiz bereits aufgehört hat 
da zu sein, die jedoch der eigentlichen Empfindung nicht 
als etwas Neues, Eigenes gegenübergestellt werden kann, 
zumal sie nicht, wie das Nachbild durch eine wenn auch 
noch so kurze Zwischenzeit von ihr getrennt ist, sondern, 
unmittelbar mit ihr zusammenhängend und noch zu ihr 
gehörig, einen Teil von ihr, nämlich das Endstadium aus- 
macht, also offenkundig nur in einer gewissen Trägheit 
des Organs begründet ist, derzufolge es, einmal in Funk- 
tion versetzt, nicht momentan mit dem Aufhören des 
äußeren Eeizes auch selbst zur Kühe kommt. Man kann 
auch hier, geradeso wie beim Gehörsinn (s. S. 135), von 
einem Abklingen der Erregung sprechen, und mit diesem 
Abklingen geht zu Beginn des Empfindungsvorganges 
naturgemäß ein Anklingen der Erregung Hand in Hand, 
demzufolge dieEmpfindung vom Einsetzen des Reizes an nur 
allmählich auf die im gegebenen Falle erreichbare Quali- 
tät und Intensität ansteigt. Die Dauer des An- und Ab- 
klingens ist hier sogar noch viel beträchtlicher als beim 
Gehörssinn; im einzelnen zwar sehr variabel, läßt sich 
doch ein Durchschnittswert von etwa 0.1 Sekunde und 
mehr für das Anklingen, für das Abklingen ein noch 
größerer ansetzen. Übrigens ist das Abklingen in seinem 
Verlauf und in seinen Beziehungen zu den verschiedenen 
Nachbildarten und deren Kombinationen noch keineswegs 
endgültig geklärt. So viel ist jedoch außer Frage, daß 
z. B. die Erfahrung, wie ein in rascher Bewegung be- 
findlicher heller Punkt (im Kreise geschwungene glühende 
Kohle) in eine Lichtlinie auseinandergezogen erscheint, 
darauf beruht ; desgleichen, zum einen Teile wenigstens, die 
stroboskopischen Erscheinungen, bei denen in rascher 
Folge Momentan-Eindrücke von einem und demselben 
Gegenstande in verschiedenen Stellungen auf das Auge 
abgegeben werden und zum Schein kontinuierlicher Be- 

_pigitizedt|15uUyiC 



164 II. Teil. Spezielle Psychologie. 

wegung verschmelzen; endlich die Möglichkeit der Licht- 
und Farbenmischung mittels rotierender Scheiben, auf 
denen die zu mischenden Helligkeiten oder Farben in 
Kreis-Sektoren aufgetragen sind (s. S. 153) und sich so 
zu einem Totaleindruck vereinigen, als ob das in jedem 
einzelnen Sektor enthaltene Licht- und Farbenquantum 
über die ganze Scheibe gleichmäßig verteilt und mit dem 
der andern zur Mischung gekommen wäre. (Talbot-Pla- 
teausches Gesetz, 1833.) 

y) [Theorie der Licht- und Farbenempfin- 
dungen.] Durch psychologische Beschreibung und Ana- 
lyse ist die Beschaffenheit der Licht- und Farbenempfin- 
dungen in weitem Ausmaße bekannt; desgleichen kennen 
wir die physikalische Natur ihres äußeren Eeizes sowie 
die Zuordnung seiner verschiedenen Modifikationen zu 
denen der Empfindung. Es handelt sich also nur noch 
um die Erörterung des Mittelgliedes, d. i. der Funktions- 
weise des Organes. 

Die unmittelbare Methode zur Feststellung der Funk- 
tionsweise des Organes, nämlich alle die Veränderungen, 
die sich auch in den feinsten Strukturteilen eines in Tätig- 
keit befindlichen Auges vollziehen, direkt zu beobachten, 
ist heute imd, wenn nicht auf immer, so wenigstens auf 
sehr lange Zeit hinaus noch ungangbar. So hat man sich 
mit dem indirekten Wege geholfen und auf Grund der 
zwei eben bezeichneten, bekannten Tatsachengebiete das 
noch unbekannte Zwischengebiet hypothetisch zu rekon- 
struieren, die Funktionsweise des Organes zu erschließen 
versucht. Die Bilder, die auf diesem "Wege von der Funk- 
tionsweise des Auges entworfen worden sind, und die 
auf alle die verschiedenen, so mannigfaltigen Empfindungs- 
tatsachen passen müssen, sind es, was man heute unter 
den Theorien der Licht- und Farbenempfindungen zu ver- 
stehen pflegt. 

Jede solche Theorie wird natürlich bestrebt sein, die 
einzelnen Teilfunktionen, die sie anzunehmen sich be- 
rechtigt glaubt, so gut es geht, mit den verschiedenen 
anatomisch-histologisch festgestellten Strukturverhältnissen 
des Auges in Zusammenhang zu bringen. Dies ist jedoch 
bis jetzt erst nur in sehr bescheidenem Maßo zur Geltung 

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1. Hälfte: Psychologie des Geisieslebens. 165 

gekommen, und da keineswegs daran gedacht werden kann, 
auf Grund der Daten des vorliegenden Buches darin eine 
Weiterführung zu versuchen, so genügt es, von dem 
übrigens recht komplizierten Aufbau des Organes hier 
nur das Wichtigste einzuflechten. 

Der Anfang des Prozesses allerdings, in dem das ins 
Auge eindringende Licht mit diesem zusammen wirkt, ist 
in seinem Verlaufe so gut wie vollständig geklärt. Er 
betrifft jene Vorgänge, durch die den Lichtstrahlen im 
Auge solche Richtungsverhältnisse gegeben werden, daß 
sie auf den lichtempfindlichen Partien der Netzhaut, das 
ist dort, wo sich der Lichtreiz zuletzt in Nervenerregung 



JIKP 



Sekenatlseker HorlcontaltcliBltt dvreli dM refhte Ange. 

A Aderhftnt; BF blinder Fleok; Ci CillArfortaftize ; Co Corne*; Fo Stelle des 

deatlicheten Sehens; 6K Glaskörper; J Iris; L Linse; N Netzhaut; P Papille; 

BKP reduzierter Knotenpunkt; S Sklera; Sn Sehnerr. 

umsetzt, ein deutliches Bild des zu sehenden Gegenstandes 
entwerfen. Die Lehre vom Gang det Strahlen im -^uge, 
die Dioptrik des Auges, ist tatsächlich vielleicht das 
exakteste Kapitel der gesamten heutigen Physiologie. 

Das menschliche Auge (Fig 9) ist bekanntlich ein 
im großen und ganzen kugelförmiger Körper, dessen 
Durchmesser ungefähr 25 mm beträgt. Seine äußerste 
Haut, die relativ dicke, lederartige, weiße Sklera, wölbt 
sich vorn zu einer durchsichtigen Kuppel vor, der Horn- 
haut oder Cornea. Hinter derselben sieht man einen 
ebenen, blau oder braun gefärbten Vorhang, die Iris. Diese 
ist nichts anderes als das vorderste Stück einer zweiten, 



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166 ■ II- Teil. Spezielle Psychologie. 

hautartigen, aber dünnen Hülle des Augapfels, der Ader- 
haut oder Chorioidea, die sich im übrigen der Sklera 
innen eng anschmiegt, sehr dunkel pigmentiert ist und 
zahlreiche Blutgefäße enthält. In der Iris liegt die kreis- 
förmige Öffnung, durch die das Licht in das innere Auge 
eindringt, die Pupille; sie hat die Eigenschaft, sich im 
Dunkeln reflektorisch zu erweitern, bei Aufhellung des 
umgebenden Lichtes zu verengern. Unmittelbar hinter 
der Pupille, so daß die Iris aufliegt, befindet sich die 
sogenannte Linse, ein bikonvexer, glasheller Körper von 
staxkem Lichtbrechungsvermögen (ca. 1.44 gegen 1.34 
des Wassers) und etwa 45 mm Brennweite. Sie ist 
in ihrer Lage suspendiert durch einen Kranz von hals- 
krausenartig gefalteten Häutchen^ den CiHarfortsätzen, die 
vorn innen von der Chorioidea ausgehen und sie, wenn 
auch nicht ganz unmittelbar, an ihrem Umfange fest- 
halten. Zwischen Chorioidea und Sklera ist den Ciliar- 
fortsätzen ein kleiner Muskel so aufgelagert, daß er bei 
seiner Kontraktion die Ciliarfortsätze nach vorn zieht; 
dadurch mindert sich die Spannung, unter der sich die 
Linse infolge der Art ihrer Suspension befindet, so daß 
sie sich dank ihrer Eigenelastizität stärker wölbt uad 
kürzere Brennweite bekommt. Auf dieser Einrichtung 
beruht es, daß der dioptrische Apparat des Auges imstande 
ist, innerhalb weiter Grenzen auch von verschieden ent- 
fernten Gegenständen scharfe Bilder auf dem Augenhinter- 
grund zu entwerfen ; das Auge kann sich zum Nahesehen 
akkommodieren, indem sich der Ciliarmuskel kontrahiert 
und die Linse vorwölbt, es ist auf die Ferne eingestellt, 
wenn sich der Ciliarmuskel im Ruhezustand befindet und 
die Linse abgeflacht ist. (Akkommodationstheorie nach 
Helmholtz, ca. 1880.) — Die weiteren brechenden Medien 
des Auges sind endlich die wässerige Flüssigkeit in der 
vorderen Augenkammer, dem Eaum zwischen Cornea, Iris 
und Linse, und der Glaskörper, eine gallertige, durch 
die sogenannte Glashaut zusammengehaltene, wasserhelle 
Masse, die den ganzen Raum zwischen Linse und Augen- 
hintergrund, der Netzhaut, ausfüllt. 

So enthält das Auge ein System von brechenden ge- 
krümmten Flächen, das bewirkt, daß sämtliche Strahlen 
des Lichtkegels, der, von einem Punkte des Objektes aus- 



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1. Hälfte: Psychologie des G^eisteslebens. 167 

gehend, durch die Pupille (mit der Pupillenöffnung als 
Basis) ins Auge eindringt, sich bei geeigneter Akkommo- 
dation wieder in einem einzigen Punkte auf der Netzhaut 
vOTeinigen. Will man übrigens genau sein, so darf man 
von einer punktförmigen Abbildung eines Objektpunktes 
nicht sprechen; denn es gibt mancherlei Unvollkommen- 
heiten des dioptrischen Apparates des Auges, die es auch bei 
tadelloser Akkommodation zu einer genau punktförmigen 
Abbildung nicht kommen lassen: chromatische und sphä- 
rische Aberration, Astigmatismus, mangelhafte Ho- 
mogeneität der Augenmedien. Doch kann im Großen 
davon abgesehen werden. Dann trifft man von einem 
gegebenen Objektpunkt auf dessen Bildpunkt in der Netz- 
haut annähernd genau, wenn man vom Objektpunkt aus 
die Gerade durch den sogenannten reduzierten Knoten- 
punkt des Auges nach der Netzhaut zieht. (Genau ge- 
nommen gibt es zwei Knotenpunkte ; der dafür eingesetzte 
reduzierte liegt zirka V2 mm vor der Hinterfläche der 
Linse.) Die bezeichnete Gerade heißt die Bichtungs- 
linie des Sehens. 

Die Netzhaut (Ketina) breitet sich becherförmig an 
der Innenseite der Ghorioidea aus. Trotzdem sie auch 
an ihrer dicksten Stelle noch nicht V» mm Stärke erreicht, 
zeigt sie in ihrem Querschnitt dennoch einen komplizierten 
ScMchtenbau. Dieser ist in der Hauptsache dadurch be- 
dingt, daß die den Lichtreiz direkt aufnehmenden Zellen 
ihre nervöse Erregung durch Vermittelung einer andSm 
Schicht nervöser Gebilde, der sogenannten bipolaren Zellen, 
an die gleichfalls noch in der Netzhaut liegenden Ur- 
sprungszellen des Sehnerven abzugeben haben und die 
von diesen abgehenden Sehnervenfasem sich seitlich über 
die Netzhaut zur Eintrittsstelle des Sehnervenstammes hin- 
ziehen, während außerdem noch quergelagerte sogenannte 
Horizontalzellen eine gewisse quere Verbindung innerhalb 
einzelner Schichten vermitteln und schließlich der gesamte 
nervöse Zellenapparat in Gewebe von Stütz- und Isolier- 
zellen eingebaut ist. 

Jene Schicht, die den liichtreiz unmittelbar aufnimmt, 
ist die hinterste, liegt also der Chorioidea zunächst, so 
daß die Lichtstrahlen die vorderen Schichten durchdringen 
müssen, um wirksam zu werden. Sie besteht aus zweierlei 

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168 n. TeiU Spezielle Psychologie. 

Zellen, die sich hauptsächlich dadurch aoszeichhen,' dafi 
sie in eigentümlichen, gegen die Ohorioidea gerichteten 
Fortsätzen endigen, die bei den einen Stäbchen-, bei den 
andern zapfenf örmig gestaltet sind und, mehr als hundert- 
tausend auf ein mm*, dicht gedrängt palissadenartig neben- 
einander stehen. Gegen die Peripherie der Net^aut zu 
überwiegen immer mehr und mehr die Stäbchen, während 
an der Stelle des deutlichsten Sehens (Netzhautzentrum, 
Netzhautgrube), wo übrigens auch alle andern Netzhaut- 
schichten fehlen, sich nur Zapfen finden. 

Was nun die spezielle Funktionsweise der Netzhaut 
anlangt, so haben sich einige Veränderungen beobachten 
lassen, die infolge der Einwirkung von Lichtstrahlen in 
ihr vor sich gehen. Die Außenglieder der Stäbchen ent- 
hdten ein lichtempfindliches Pigment, den Sehpurpur, das 
bei dauernder Belichtung farblos ausbleicht, im Dunkel 
wieder purpurn wird. Ein dunkelbraunes Pigmentepithel, 
das der Stäbchen- und Zapfenschicht außen herum an- 
gelagert ist, wandert bei Belichtung allmählich in diese 
hinein, um sich im Dunkel wieder zurückzuziehen. Aber 
dies alles und noch manches andere (z. B. Kontraktion 
der Zapfen an den Innen-, Quellungen der Stäbchen an 
den Außengliedem, elektrische Ströme in der Netzhant. 
Veränderungen ihrer chemischen Eeaktion unter dem 
Einflüsse von Licht) ist bisher in gesetzmäßigen Zusam- 
menhang mit dem psychischen Korrelat der Netzhaat- 
funktion, den Licht- und Farbenempfindungen, noch nicht 
zu bringen gewesen. "Wir sind deshalb darauf angewiesen, 
das Bild von den unter der Einwirkung von Licht in 
der Netzhaut vor sich gehenden physischen Veränderungen 
in weitestem Umfange hypothetisch auszugestalten, um 
uns einen solchen Zusammenhang näher vorstellen und 
begreiflich machen zu können. 

Solcher Hypothesen sind besonders zwei zu nennen. 
Die ältere rührt von dem Engländer Thomas Toung (1807) 
her, hat jedoch eine umfassende Durchführung erst durch 
Herm. v. Helmholtz (1860) erfahren. Sie geht hauptsäch- 
lich von den Tatsachen der Farbenmischung aus und 
kommt dabei zu folgenden Grundgedanken. Jedes objek- 
tive Licht, gleichviel von welcher Wellenlänge, ruft in 
der Netzhaut, vielleicht in verschiedenen, aber überall ver- 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 169 

tretenen Fasergattungen stets drei voneinander unabhängige 
und verschiedenartige Elementarerregungen hervor, je- 
doch in je nach der Wellenlänge verschiedenem gegen- 
seitigen Intensitätsverhältnis. Die eine dieser Erregungen 
gäbe für sich allein die Empfindung eines ungemein ge- 
sättigten Eot, die andere die eines ebensolchen Grün, die 
dritte die eines Violett (oder eigentlich, besser für die 
Theorie, eines Blau). "Wir wissen nun bereits, daß sich 
aus diesen drei Farben bei entsprechendem gegenseitigen 
Stärkeverhältnis sämtliche Farbentöne und Sättigungs- 
grade, Weiß und Grau inbegriffen, durch Mischung her- 
stellen lassen (S. 154). In diesen verschiedenen Stärke- 
verhältnissen hat man sich denn auch die drei Elementar- 
erregungen je nach der Wellenlänge des objektiven Lichtes 
zusammenwirken zu denken. — Eine wichtige Ergänzung 
der Helmholtzschen Theorie, die übrigens auch unab- 
hängig von dieser ihren Wert behält, rührt von Joh. 
V. Kries (1894, 1895) her. Darnach sind Dämmerungs- 
und Tages-Sehen als funktionell verschiedene Betätigungen 
des Auges zu betrachten. Das — bekanntlich achromatische 
— Dämmerungssehen des dunkeladaptierten Auges sei 
Sache des Stäbchen-, das chromatische des helladaptierten 
Sache des Zapfenapparates (Duplizitätstheorie). Viele Er- 
fahrungstatsachen fügen sich dieser Auffassungsweise be- 
sonders leicht. Aber auch sie scheint für sich allein noch 
nicht aller einschlägiger Empirie — z. B. der über spe- 
zifische Helligkeit (Benussi, 1904; Hillebrand, 1889) — 
völlig entsprechen zu können und ihrerseits hinwiederum 
durch Ergänzungen, die an die sofort zu besprechende zweite 
Farbentheorie anknüpfen, wesentlichen Steigerungen an 
Wert und Leistungsfähigkeit zugänglich zu sein. 

Diese zweite, jüngere Hypothese ist von Ewald Hering 
(1874) aufgestellt worden. Sie stützt sich in erster Linie 
auf die Tatsache des gegensätzlichen Verhaltens bestimm- 
ter Farbenpaare, die im simultanen Kontrast und in den 
n^ativen Nachbildern zum Ausdruck kommt. Ihre Grund- 
annahme besagt, daß drei „Sehsubstanzen'' allenthalben 
in der Netzhaut eingelagert seien, die durch Lichtstrahlen 
aller Art angegriffen und je nach deren Wellenlänge 
entweder dissimiliert (zersetzt) oder assimiliert (wieder- 
hergestellt) werden. So ergibt die eine von ihnen* bei 



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170 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

Dissimilierung die „Urempfindung" von Rot, bei Assi- 
milierung die von Grün (genauer Blaugrün); die zweite 
ebenso Gelb und Blau, die dritte Weiß und Schwarz. 
Die Weiß-Schwarz-Substanz überwiegt außerordentlich an 
Menge und Verbreitung und erleidet von allen sichtbaren 
Strahlen Dissimilation, während die Assimilation lediglich 
durch die inneren Kräfte des Organs zustande kommt. 

Auf Grund dieser Hypothesen erklären sich die Phä- 
nomene des Kontrasts und der Nachbilder mittels weniger 
und naheliegender Hilfsannahmen um einiges befriedi- 
gender als von der Helmholtzschen Hypothese aus. Diese 
muß nämlich die negativen Nachbilder als Ermüdungs- 
wirkungen auffassen, derart, daß durch dauernde Aas- 
lösung von einer der drei Elementarerregungen die 
Empfänglichkeit für die Elementarerregung dieser Art 
herabgesetzt würde und daher bei weiterer Belichtung 
die beiden andern Elementarerregungen überwiegen 
müßten; den simultanen Kontrast aber kann sie gar nur 
als Urteilstäuschung auffassen, als Folge der Anwen- 
dung eines falschen Maßstabes, etwa im Sinne der Eegel, 
daß uns deutlich erkennbare Verschiedenheiten größer vor- 
zukommen pflegen, als sie sind, wodurch wir in der 
Taxierung und Benennung der an sich durchaus nor- 
malen Empfindungen irregeführt würden. Demgegenüber 
gestattet es die Heringsche Theorie, die genannten Tat- 
sachen bis weit in ihre Einzelheiten hinein aus der Funk- 
tionsweise des Organs zu verstehen, und zwar, was ihrem 
unmittelbaren Aspekt viel besser entspricht, nicht als Er- 
müdungs- oder gar nur Irrtumsfolgen, sondern als durch- 
aus aktive und reale Empfindungsergebnisse. 

Der übrigen Empirie des Licht- und Farbensehens 
werden beide Auffassungen ziemlich gleich gut gerecht. 
Besonders gilt dies, wenn sich die Helmholtzsche Hypo- 
these der oben erwähnten von Kriesschen Ergänzung be- 
dient. Dann entspricht sie im wesentlichen der teilweisen, 
schließlich totalen Farblosigkeit des Sehens auf den seit- 
lichen Netzhautteilen ebenso leicht wie die Theorie Herings, 
damit zugleich aber auch dem pathologischen Zustande 
der sogenannten Farbenblindheit, in dem zumeist die 
Emrfindung für Eot und Grün fehlt, so daß sich alle Farben 
auf JBlau, Gelb und Grau reduzieren, wie dies ja auch für 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. X71 

einen peripheren Eing der nonnalen Netzhaut gilt (S. 158) 
(partielle Farbenblindheit, Rotgrünblindheit), oder gar 
sämtliche farbigen Erregungen fehlen und alle Lichter, 
wie am äußersten Bande der normalen Netzhaut, nur ver- 
schiedene Nuancen von Grau auslösen. 

Übrigens ist es bislang weder der einen noch der 
andern der beiden Theorien gelungen, das mannigfaltige 
Detail der Spezialtatsachen ganz restlos in sich aufzu- 
nehmen, so daß der Streit zwischen ihnen heute keines- 
wegs entschieden ist, wenngleich er sich immer mehr 
und mehr zugunsten der Heringschen Theorie zu wenden 
scheint. 

4. „Gesichtsraumempfindungen." 

Der Inhalt einer jeden Licht- und Farbenempfindung 
enthält neben den bisher besprochenen Merkmalen auch 
noch etwas anderes, Eigenartiges: eine räumliche Be- 
stimmung. Immer, wenn Farbe gesehen wird, wird sie 
an einem bestimmten Ort und in gewisser Ausdehnung 
gesehen. 

Diese räumliche Bestimmung ist etwas anderes als 
Licht und Farbe selbst; sie steht zur Licht- und Farben- 
empfindung gewiß auch in anderem Verhältnis als die 
Merkmale der Helligkeit und Sättigung, sie ist ihr ge- 
genüber in höherem Grade etwas Eigenartiges, Selb- 
ständiges. Trotzdem geht es im Ganzen doch wohl nicht 
an, sie den Gehörs-, Geruchs- usw. Empfindungen ohne 
weiteres als etwas Neues zu koordinieren. Im übrigen 
wäre das Verhältnis erst noch zu klären. Das aber ist 
auf jeden Fall sicher, daß die Gesichtsraumempfindung 
80 viel an Eigenartigem und Selbständigem aufweist, daß 
es sich rechtfertigt, sie unter besonderem Titel zu be- 
handeln. 

Freilich nimmt dieser Titel ein Problem bereits vor- 
weg, nämlich dies, ob es sich in der Eaumvorstellung 
überhaupt und in irgend einem Sinne um Empfindung 
handelt, m. a. W. ob die räumliche Bestimmung der Ge- 
sichtsempfindung in eben dem Sinne als der Empfindung 
entstammend zu betrachten ist wie das Farbendatum. Die 
folgenden Ausführungen werden zeigen, inwieweit dies 



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172 !!• Teil. Spezielle Psychologie. 

gerechtfertigt ist. Nur darf nicht erwartet werden, daß 
auch die erkenntnistheoretischen und metaphysischen 
Seiten des Eaumproblems zur Erledigung gelangen ; es wird 
sich nur um den psychWogischen Gesichtspunkt handeln 
können. 

Um diesem Gesichtspunkte gerecht zu werden, ist 
es hier mehr als anderwärts von Wichtigkeit, aus- 
drücklich zwischen psychologisch Ursprünglichem und 
Abgeleitetem zu unterscheiden. Unsere Vorstellung vom 
Baume überhaupt ist nicht ursprünglich und unmittelbar 
gegeben; sie ist vielmehr das Produkt komplizierter psy- 
chischer Prozesse. Ihr Gegenstand ist der unendliche 
Baum, der sich kontinuierlich und unbegrenzt nach den 
drei Dimensionen (auf den eigenen Ort bezogen von oben 
nach unten, links nach rechts, vorn nach hinten) hin 
ausdehnt; der von andern Gegenständen, die an ihm 
teilhaben, erfüllt ist, möglicherweise aber auch leer sein 
kann, und in dem jede einzelne Stelle von jeder der un- 
endlich vielen anderen Stellen ein für alle Male räum- 
lich verschieden ist und verschieden bleibt. Wie diese 
Baumvorstellung zustande kommt, kann im einzelnen vor- 
läufig nicht erörtert werden; für jetzt genügt es, wenn 
wir uns vor Augen halten, daß sie eine unanschauliche, 
abstrakte Vorstellung, also gewiß nicht Empfindung ist. 

Wir haben aber auch eine anschauliche, konkrete 
Baumvorstellung; jedesmal, wenn wir das Auge ge- 
brauchen, kommt sie uns zu, und wenn wir es geschlossen 
halten, so erscheint sie uns wiederum im natürlichen 
Augenschwarz. 

Auch der Gegenstand dieser Baumvorstellung, der — 
wie wir ja sagen können — konkrete, anschauliche Baum 
ist nach den gleichen drei Dimensionen ausgedehnt. Aber 
er ist erstens nicht unendlich, sondern stets begrenzt. 
Nach der Höhe und Breite sind es zunächst schon die 
das Auge umgebenden Gesichtsteile, z. B. der Nasen- 
rücken, die den gesehenen Baum begrenzen, und man 
hat mittels eigener dazu konstruierter Apparate, der Peri- 
meter, gemessen, wie weit sich das Gesichtsfeld nach den 
einzelnen Bichtungen erstreckt. So hat man gefunden, 
daß die Ausdehnung des Gesichtsfeldes eines Auges bei 
geradeaus nach vom gerichtetem Blick normalerweise 



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1. ffillfte: Psychologie des Geisteslebens. 17 3 

gegen oben zirka 50 ^ unten 65®, außen 85®, innen 55® 
beträgt; die Gresichtsf eider der beiden Augen decken sich 
zum Teil. (Es sollte übrigens nicht vergessen werden, 
daß es neben dieser Begrenzung durch die benachbarten 
Gesichtsteile noch eine ursprünglichere, unmittelbarere 
andere gibt, die physisch durch die Grenzen der Netz- 
haut bedingt ist und die am deutlichsten in völliger 
Dunkelheit oder bei geschlossenen Augen zur Geltung 
kommt, wobei ja gleichfalls ein begrenztes, nicht ein 
unendlich ausgedehntes Schwarz erscheint.) Nach der 
dritten Dimension, der Tiefe, ist der jeweils gesehene Eaum 
bei geöffnetem Auge durch die vor uns befindlichen 
äußeren Gegenstände begrenzt; ob das Schwarz des ge- 
schlossenen Auges oder eines völlig dunklen Eaumes sich, 
wenn auch unbestimmt, so doch überhaupt nach der Tiefe 
zu erstrecken scheint (Hering), oder ob es sich rein zwei- 
dimensional darstellt, ist strittig. — Der anschauliche, 
konkrete Baum ist zweitens niemals leer, sondern stets 
ausgefüllt. Natürlich ist dies nicht im Sinne von wirklichen 
Bäumlichkeiten und Dingen gemeint ; ein Zimmer kann ja 
„leer" sein. Die psychologische Tatsache, die damit ausge- 
drückt sein soll, besteht darin, daß niemals Ausdehnung für 
sich allein anschaulich vorgestellt werden kann, sondern 
daß mit den räumlichen Inhaltsbestimmungen immer noch 
andere, nämlich Farbenbestimmungen verbunden sind: 
Anschaulich vorgestellte Ausdehnung ist immer farbig (im 
weitesten Sinne). — Drittens hat der subjektive, anschau- 
lich vorgestellte Eaum die Eigentümlichkeit, daß er der 
unendlichen Mannigfaltigkeit des unanschaulich vorge- 
stellten oder objektiven Eaumes nur innerhalb der engen 
Grenzen seiner Endlichkeit folgt und im übrigen die be- 
schränkte Mannigfaltigkeit seiner Elemente überallhin 
überträgt; m. a. W. die subjektiven Eaumdaten, die 
verschiedenen charakteristischen Lagen im Gesichtsfeld 
sind immer dieselben, ob ich mich hier oder tausend Meilen 
weit weg von hier befinde, oder noch anders ausgedrückt : 
der Inhalt unserer anschaulichen Gesichtsraumvorstellung 
ist immer der gleiche, wenn der wirkliche Eaum, den wir 
durch sie erfassen, auch noch so sehr verschieden wird. 
Damit haben wir uns die ursprüngliche Eaumvor- 
stellung in ihren Haupteigentiimlichkeiten vergegenwärtigt. 



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174 II« T®^^- Spezielle Psychologie. 

und wir könnten nun daran gehen, zu untersuchen, ob 
und wieweit sie der Sinnesempfindung entstammt. Aber 
gerade mit dem zuletzt angeführten Charakteristikum der 
Eaumvorstellung ist eine Tatsache berührt, auf Grund 
welcher vielfach die Meinung aufgestellt worden ist, daß 
die Raumvorstellung überhaupt nicht und in keinerlei 
Hinsicht direkt der Empfindung entstammen könne, son- 
dern daß sie sich auf Grund von Empfindungen ganz und 
gar anderen Inhaltes durch mehr oder weniger komplizierte 
psychische Prozesse erst allmählich entwickle. Freilich 
stützen sich diese sogenannten genetischen oder empi- 
ristischen Raumtheorien auch noch auf mancherlei 
andere Gründe. Nur der wichtigsten kann hier gedacht 
werden. Vor allem: Es gibt keinen spezifischen Sinnes- 
reiz für eine allfällige Raumempfindung. Denn jeder 
Sinnesreiz muß als solcher kausal auf das Sinnesorgan 
einwirken. Die Dinge wirken jedoch nur vermittelst des 
von ihnen ausgehenden oder reflektierten Lichtes auf das 
Auge; dieses Licht erzeugt aber die Farbenempfindung, 
kann also nicht der adäquate Reiz einer allfälligen Orts- 
empfindung sein. Der bloße wirkliche Raum dagegen, 
den ein Körper einnimmt, für sich allein und abgesehen 
von den Sinneswirkungen des Körpers, kann noch weniger 
in solcher Weise zur Geltung kommen. Meint man 
jedoch, daß, wie ja die Konstruktion der Richtungslinien 
(s. S. 167) für verschiedene Punkte des äußeren Raumes 
lehrt, die Bilder der äußeren Gegenstände auf verschiedene 
Stellen der Netzhaut fallen, je nachdem sich diese an 
verschiedenen Orten des Außenraumes befinden, und daß 
damit das Zustandekommen von Empfindungen verschie- 
denen Ortes erklärt sei, so wird dagegen eingewendet, daß 
absolut nicht einzusehen sei, wieso zwei Netzhautfasem 
lediglich deshalb, weil sie sich an verschiedenem objek- 
tiven Orte in der Netzhaut befinden, auf sonst gleichen 
Reiz mit verschiedenen (Orts-)Empfindungen antworten 
sollten. — Noch einleuchtender vermag man durch ana- 
loge Überlegungen die Unmöglichkeit einer wirklichen, 
direkten Empfindung der dritten (Tiefen-)Dimension dar- 
zutun. Wenn sich die Lage des Objektpunktes im äußeren 
Räume bei gleichbleibender Richtung zum Auge nur nach 
seiner Entfernung vom Auge verändert, so fällt das Bild 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 175 

des Punktes immer auf die gleiche Stelle in der Netz- 
haut, und die Verschiedenheit des Ahstandes bleibt ganz 
wirkungslos. 

Diese und noch andere, minder wichtige Gründe 
haben also, wie gesagt, zur Meinung geführt, daß es eine 
Baumempfindung überhaupt nicht gibt und unsere Eaum- 
Vorstellung durch Verarbeitung von Empfindungsdaten 
anderen Inhalts gewonnen wird. Ein typisches Beispiel 
einer solchen genetischen Baumtheorie ist die Lokal- 
zeichentheorie Lotzes. Vermöge einer ursprünglichen Ein- 
richtung unseres Sehorgans wenden wir das Auge, sobald 
sich irgendwo seitlich im Gesichtsfeld ein Lichtreiz geltend 
macht, ganz unwillkürlich so, daß der Lichteindruck auf 
die Stelle des deutlichsten Sehens zu liegen konmit. Diese 
Wendung des Augapfels ist natürlich mit kinästhetischen 
(Muskel-, Bewegungs-)Empfindungen (S. 199 f.) verbunden ; 
und da zu den verschiedenen Punkten des seitlichen 
Gesichtsfeldes der Bichtung und Weite nach ver- 
schiedene Augenbewegungen nötig sind, so sind diese 
kinästhetischen Empfindungen für die verschiedenen 
Punkte des Gesichtsfeldes verschieden. Sie sind es nun, 
die als „Lokalzeichen" fungieren; werden die Augen- 
bew^ungen wirklich ausgeführt, so unmittelbar als 
Empfindungen; bleibt das Auge in Buhe, wird also mit 
ruhendem Auge eine Fläche in ihren räumlichen Ab- 
messungen aufgefaßt, als Erinnerungsvorstellungen, die as- 
soziativ (siehe Abschn. c) hervorgerufen werden. Sie knüpfen 
sich an die Farbenempfindungen der zugehörigen Netz- 
hautpunkte. Selbst zwar noch völlig unräumlich, nur eine 
qualitative Mannigfaltigkeit von nach Länge und Bichtung 
der auszuführenden Bewegungen fein abgestuften Muskel- 
empfindungen, veranlassen sie erst die Seele auf eiüe 
nicht weiter zu erklärende Weise dazu, die zugehörigen 
Farbenempfindungen in analogem Sinne anzuordiien, und 
die Anordnung, die dabei resultiert, ist etwas Neues, 
näi^lich die des räumlichen Nebeneinander. 

Was einem an dieser und verwandten Theorien so- 
fort höchst befremdlich auffällt, ist, daß sie psychische 
Tatsachen, die sich auf den ersten Blick ganz wie Empfin- 
dungen ausnehmen, in Erinnerungsvorstellungen auflösen 
wollen, noch mehr, daß sie ursprünglich, unvermittelt und 

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176 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

einfach Scheinendes auf höchst künstliche Vermittelung 
zurückführen, ohne jedoch das zu erklärende Gegebene 
begreiflicher zu machen. Dazu sind sie noch einer ganzen 
Keihe anderer wohlbegründeter Einwendungen ausgesetzt, 
auf die allerdings an dieser Stelle nicht näher eingegangen 
werden kann. Indes könnte das alles gegen die genetischen 
Theorien überhaupt nur wenig ins Gewicht fallen, wenn 
die oben skizzierten Schwierigkeiten einer direkten Eaum- 
empf indung wirklich zu Eecht bestünden ; man wäre dann 
nur eben dazu gezwungen, leistungsfähigere genetische 
Theorien zu suchen. 

Näher besehen erweisen sich aber jene Schwierigkeiten 
nicht als zwingend. Es ist irrig, wenn man meint, daß sie 
die Annahme direkter Eaumempfindung in jedem Sinne 
unmöglich machen. 

Zunächst was gegen die Empfindung von Eaum- 
daten der ersten zwei Dimensionen, die Empfindung des 
Plächenhaften, eingewendet wird. Es ist richtig, der bloße 
Umstand, daß bei verschiedener Lage des Objektpunktes 
das Bild auf der Netzhaut gleichfalls verschiedene Lage 
hat, genüjgt nicht, verschiedene EÄumempfindungswirkung 
verständlich zu machen; eine Netzhautfaser muß, gereizt, 
die gleiche Empfindung ergeben, gleichviel ob sie sich 
nun da oder dort befindet. Aber es ist ja auch gar nicht 
gemeint, daß die Netzhautfaser, nur weil sie gerade an 
dieser und nicht an jener Stelle der Netzhaut liegt, eine 
andere Ortsempfindung ergeben soll. Die Meinung ist 
vielmehr die, daß die an verschiedenen Stellen der Netz- 
haut Uzenden Fasern selbst verschieden beschaffen sind, 
und zwar des Näheren so, daß sie verschiedene spezi- 
fische Energie für verschiedene Ortsempfindung haben. 
Es muß dann nur noch die Annahme hinzugefügt werden, 
daß sie diesen Ortsenergien gemäß geordnet sind, eine 
Annahme, die durchaus nicht zu viel verlangt, wenn man 
bedenkt, daß sich die spezifischen Energien in solcher 
Anordnung im Laufe der Entwicklung durch Anpassung 
an die Umgebung herangebildet haben können. Zudem 
liegt ein Beweis für die Existenz solcher spezifischer 
Ortsenergien in der pathologischen Tatsache der soge- 
nannten Metamorphopsie : "Wenn durch krjmkhafte Pro- 
zesse Zerrungen und Faltungen der Netzhaut und damit 



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oogle 



1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 177 

Verschiebungen der empfindenden Elemente eintreten, so 
nehmen diese Elemente ihre Ortsenergie unverändert mit, 
und es erscheinen daher die Gegenstände, die mit einer 
solchen Netzhaut gesehen werden, verzerrt. Freilich sollen 
diese Verzerrungen trotz bestehen bleibender Dislokation 
der Netzhautelemente allmählich wieder zurückgehen; in- 
des dürfte diese an sich nicht häufige Erfahrung doch 
noch verschiedener Interpretation zugänglich sein. 

Damit erscheint die Möglichkeit direkter Empfin- 
dung des Flächenhaften doch schon sehr nahe gerückt, 
so daß dem Zeugnis der inneren Wahrnehmung, der 
sich die Ortsauffassung in der charakteristischen Be- 
schaffenheit der Empfindung präsentiert, zu mißtrauen 
kein rechter Anlaß mehr vorliegt. Damit ist aber auch 
schon ein sehr wesentliches empfindungsmäßiges Grund- 
kapital der Eaumauffassung überhaupt gewonnen, das 
gewiß auch zum Verständnis der "Wahrnehmung der dritten 
Dimension in Betracht gezogen werden muß. 

Nun haben wir uns aber zu fragen, ob die Auffassung 
der dritten Dimension auch noch etwas Eigenes an direkter 
Empfindung hinzubringt, oder ob sie im ganzen nur An- 
wendung und psychische Umformung der zweidimensio- 
nalen Raumempfindung ist. 

Man wird zugeben, daß hier die Erfahrung viel 
weniger eindeutig und bestimmt für Empfindung spricht, 
daß man also auch ein geringeres Interesse daran hat, 
eine direkte Tiefenempfindung für jeden Fall als möglich 
oder gar notwendig zu erweisen. Es kommen unzweifel- 
haft Fälle von richtiger Auffassung der Tiefendimension 
und der Abstandsverhältnisse vor, in denen die anschau- 
liche Vorstellung des Räumlichen gewiß nichts anderes 
enthält als ein Nebeneinander, also Flächenhaftes. Das 
ist z. B. dann verwirklicht, wenn wir sehr entfernte 
Gegenstände betrachten. Hintereinander liegende Gebirgs- 
züge am Horizont erscheinen in Wirklichkeit der Per- 
spektive nach nicht anders, als wenn sie, etwa in einer 
Theaterdekoration, auf der Leinwandfläche dargestellt 
sind. Was wir unmittelbar sehen, ist in beiden Fällen 
das Gleiche, von einer Tiefenempfindung kann also 
keine Rede sein. Dennoch unterliegen wir in der Haupt- 
sache keiner Täuschung, sondern sind über die räum- 

Witasek, Grundlinien der Psychologie. 12 

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178 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

liehen Verhältnisse der fernen Gebirgszüge im großen 
Ganzen recht unterrichtet. "Wir wissen, welcher der 
nähere, welcher der entferntere ist. Dieses Wissen gründet 
sich aber nicht auf ein anschauliches Erfassen, auf ein 
Sehen ihres Abstandes, sondern auf unanschauliche und 
reproduzierte Tiefenvorstellungen, die durch in der 
Wahrnehmungsvorstellung anschaulich enthaltene Daten 
anderer Art assoziativ hervorgerufen werden. So deutet 
uns das Verschwimmen und Verblauen der Farben 
— die sog. Luftperspektive — die größere Entfer- 
nung an; so ist das Überschneiden der Konturen ein 
Anzeichen dafür, welcher von zwei Gebirgszügen der 
vordere, welcher der verdeckte sein muß. Handelt es sich 
um geringere, aber immer noch große Entfernungen, und 
um Gegenstände, deren wirkliche Größe uns geläufig ist, 
so gibt uns auch die Lage der Schlagschatten und das 
Verhältnis d^ scheinbaren Größen (je entfernter der 
Gegenstand, desto geringer ist sie) Aufschluß über die 
Tiefenlagen. Wo alle diese indirekten Hilfsmittel fehlen, 
da „nehmen" wir auch nichts „wahr" von den Tiefen- 
abständen: die Gestirne des Himmels erscheinen trotz 
ihrer großen Entfernungsunterschiede alle so ziemlich in 
gleicher Entfernung. 

Dieses flächenhafte Bild der körperlichen Umgebung 
bleibt in seiner Eigenart auch noch für wesentlich ge- 
ringere Entfernungen (15 — 20 m) völlig erhalten, wenn 
man nur für eine gewisse Modifikation des Sehapparates 
sorgt, nämlich bloß mit einem Auge schaut und das 
andere verschlossen hält. Dann ergibt sich auch für diese 
geringeren Distanzen ein Bild, das seinem Inhalte nach 
mit einer guten Darstellung auf einer Leinwandfläche 
völlig übereinkommen kann. Die Empfindung enthält 
auch da noch durchaus nichts anderes als das, was ihr 
auch von der flächenhaften Darstellung aus geboten wird. 

Allmählich anders gestaltet sich der Eindruck, wenn 
wir mit der einäugigen Betrachtung zu immer näherem 
und näherem Umkreis übergehen. Immer unmittelbarer, 
deutlicher, zwingender drängt sich dabei die Körperlich- 
keit, die Tiefenerstreckung auf, immer schwerer wird es 
uns, diesen Eindruck auf eine flächenhafte Darstellung 
zu beziehen. Wenn wir nach einer Erklärung dafür 



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1. Hälfte: Psychologie des Greisteslebens. I79 

suchen, so werden wir uns vielleicht sagen, daß bei so 
kurzen Objektdistanzen schon ganz geringfügige, unbeab- 
sichtigte Bewegungen des Kopfes und der Augen merk- 
liche Verschiebungen in der Projektion der vorderen Ge- 
genstände auf die verdeckten entfernteren zur Folge haben, 
und daß dadurch der Gedanke an das Hintereinander der 
Dinge — gleichfalls assoziativ und unanschaulich — 
stets wach und lebendig erhalten werde. Aber es fällt 
schon beinahe schwer, den Tiefeneindruck auch in diesem 
Falle noch als reproduktiv vermittelt anzusehen. 

Und doch ändert sich der Eindruck noch ganz ge- 
waltig, wenn man nun auf einmal auch das zweite Auge 
wieder in Aktion treten läßt. Wie mit einem Schlage rücken 
die Dinge in der Tiefe auseinander, und in volbter sinn- 
licher Lebhaftigkeit steht die Körperwelt vor uns. Der 
Eindruck ist grundverschieden von jenem zuerst skiz- 
zierten, der sich so ohne weiteres auöh durch wirklich 
nur Flächenhaftes herstellen ließ. Es ist etwas eigen- 
artiges Neues in den Eindruck hineingekommen, das 
gleichfalls Käumliches, aber doch kein Nebeneinander 
vorstellt, etwas, um deswillen es nicht mehr möglich ist, 
den Eindruck auf den einer Fläche zu reduzieren, ein 
durchaus charakteristischer neuer Inhaltsteil, der aller- 
dings, wie alles Ursprüngliche und Letzte, weder weiter 
zu analysieren noch zu definieren ist, und der deshalb 
insoweit sehr wohl als Inhalt einer eigenen Tiefenempfin- 
dung angesprochen werden könnte. 

Man wird freiKch gut daran tun, die Möglichkeit 
im Auge zu behalten, daß dieser Eindruck, dessen Tat- 
sächlichkeit zunächst nun einmal nicht zu leugnen ist, 
doch einstens noch der Analyse erschlossen werde und 
sich dann auf anderes zurückführen läßt. Sofern das aber 
bis heute nicht gelungen ist, mag es wohl angemessen sein, 
ihn auch unter dem Gesichtspunkte einer Tiefenempfin- 
dung zu betrachten. 

Nun steht ja aber geradezu der Möglichkeit einer 
Tiefenempfindung noch unser sozusagen geometrisch- 
apriorisches Argument entgegen, das sich darauf beruft, 
daß es der dritten Dimension an einem adäquaten Sinnes- 
reiz für das Auge gebricht (s. S. 174). Dieses Argu- 
ment nimmt jedoch nur auf den Fall des einäugigen 

12*. 

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180 ^' ^^ Spezielle Psychologie. 

Sehens Bücksicht; jetzt sind wir aber darauf aufmerksam I 
geworden, daß jenes Moment, das dazu herausfordert, als 
eigentliche Tiefenempfindung aufgefaßt zu werden, erst 
beim zweiäugigen Sehen auftritt, und es wird sofort ge- 
zeigt werden, daß in der Tat für diesen Fall die Mög- 
lichkeit einer adäquaten Eeizwirksamkeit der dritten 
Dimension vorhanden ist. 

Zuvor sei nur noch die Meinung zurückgewiesen, 
daß es keine zweiäugige Tiefenempfindung geben könne, 
wenn es keine einäugige gibt. Unser Gesichtsorgan mit 
seinen zwei symmetrisch gebauten Endgebilden ist ein 
einheitlich zusanmien funktionierendes Ganzes; das ist 
durch mehrfache Erfahrungstatsachen bezeugt. Es ist 
daher wohl möglich, daß die beiden Augen zusammen- 
wirkend etwas ergeben, was jedes für sich allein nicht 
leistet. Weist man vollends umgekehrt darauf hin, daß 
auch der Einäugige über die Tiefenverhältnisse orien- 
tiert ist, so genügen, wenn man jedes Tiefenempfindungs- 
moment beim einäugigen Sehen ablehnt, die mannigfachen 
indirekten Hilfen der Tiefenauffassung, um dies zu er- 
klären; übrigens zeigt ja auch der Versuch, daß wir bei 
Ausschaltung der indirekten Hilfen im einäugigen Sehen 
z. B. eine vorgehaltene Bleistiftspitze viel unsicherer mit 
einer zweiten Spitze berühren als im zweiäugigen, wie 
sehr dieses jenem in der Tiefenwahmehmung überlegen 
ist. Und wenn wir Gemälde, um den Eindruck der Plastik 
zu erhöhen, gern einäugig durch einen Tubus betrachten, 
so geht daraus nur hervor, daß dabei die im Gemälde zur 
Anwendung gebrachten indirekten Hilfen (Licht- und 
Linienperspektive, Konturenüberschneidung, Schatten, Ver- 
kleinerung nach der Tiefe) besser zur Geltung kommen, 
weil sie in ihrer Wirkung nicht beeinträchtigt werden 
durch den Gegensatz, in den sie bei zweiäugiger Betrach- 
tung mit den Angaben des Doppelauges geraten, das in 
diesem Fall den Empfindungseindruck der Tiefener- 
streckung null liefert. 

"Woran liegt es nun aber, daß sich für das Doppel- 
auge verschiedene Tiefenabstände verschieden wirksam er- 
weisen können, so daß es für das Doppelauge einen 
bestimmten Tiefenreiz geben kann, für das einzelne Auge 
jedoch nicht? Die schematische Zeichnung Fig. 10 



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oogle 



1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 



181 



B 
A 



erläutert dies auf das einfachste. Sie stellt einen Durch- 
schnitt durch die beiden Augäpfel dar, der in der so- 
genannten Blickebene ^ 
geführt ist, d. i. der durch 
die beiden Gesichtslinien 
bestimmten Ebene, wobei 
unter Gesichtslinie die 
Richtungslinie (s. S. 167) 
der Netzhautgrube ver- 
standen wird. Nur solche 
Augenlagen kommen 
nämUch in Betracht, in 
denen die Gesichtslinien 
entweder parallel sind 
oder sich in einem Funkte 
schneiden (konvergieren); 
denn der gesunde Augen- 
apparat führt andere 
Bewegungen nicht aus. 
Der Winkel, in dem sich 
die beiden Gesichtslinien 
schneiden, heißt Kon- 
vergenzwinkel ; derPunkt, 
in dem sie sich schnei- 
den , Blickpunkt , denn 
da sein Bild auf die Stelle 
des deutlichsten Sehens 
fällt, so ist er es, der (ent- 
sprechende Akkommoda- 
tion vorausgesetzt) an- 
geblickt, j&xiert wird. 

Man sieht nun aus 
der Figur sofort, daß 
bei gegebenem Konver- 
genzwinkel oder, was 
auf das Gleiche hinaus- 
kommt, bei gegebenem 
Blickpunkt jedem belie- 
bigen Paar von Netzhautpunkten ein Punkt, und zwar nur 
ein Punkt des Außenraumes zugeordnet ist. Mit den Netz- 
hautpunkten a und c wird der Punkt Pj gesehen; der 





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X82 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

Punkt Pg bildet sich im linken Auge wohl auch auf der 
Netzhautetelle a ab, aber im rechten Auge nicht auf e, 
sondern auf h. Für das einzelne Auge besteht also aller- 
dings keine eindeutige Zuordnung zwischen Tiefenlage 
und Beizwirkung, wohl aber besteht eine solche für das 
normale Sehen, für das Doppelauge. Das geometrisch- 
apriorische Argument gegen die Möglichkeit einer Tiefen- 
empfindung hat also keine Oeltung. 

Sonach müssen wir zugeben, daß eine vorgängige 
Möglichkeit zum Zustandekommen von Tiefenempfindung 
besteht, und daß sie im Zusammenwirken eines zwei- 
äugigen Netzhautpunktpaares liegt. Die Frage ist weiter, 
was sich aus diesem Zusammenwirken an Empfindungen in 
."Wirklichkeit ergibt. Das ist eine reine Tatsachenfrage, 
die nur durch empirische Untersuchung zu beantworten 
ist. Man hat dabei folgendes gefunden. 

Der Objektpunkt, in welchem sich die beiden Eich- 
tungslinien schneiden, bildet sich zunächst auf beiden 
Netzhäuten ab, selbstverständlich vorausgesetzt, daß das 
Licht ungehinderten Weg zum Auge hat. Es ent- 
stehen also unter dieser Bedingung stets zwei Netzhaut- 
bilder. Trotzdem haben wir im großen Ganzen nur 
ein Wahrnehmungsbild. Das ist aber durchaus nicht 
die allgemeine Eegel. Vielmehr stellt es eigentlich einen 
Ausnahmefall dar, all^dings einen, dem für die Praxis 
des Sehens überragende Bedeutung zukommt. Im allge- 
meinen entstehen tatsächlich zwei Wahrnehmungsbilder, 
der Punkt wird doppelt gesehen. Nur wenn der Netz- 
hautpunkt des einen Auges zusammenwirkt mit einem, 
und zwar einem einzigen, ganz bestimmten Netzhaut- 
punkte des andern Auges, wird einfach gesehen. Solche 
Paare einander zugeordneter Netzhautstellen heißen kor- 
respondierende oder identische Punkte (auch Deck- 
punkte). Sie sind so verteilt, daß vor allem die beiden 
Netzhautgruben einander korrespondieren und, dann immer 
solche Punkte, die von den Netzhautgruben in gleicher 
Richtung gleich weit abstehen. Dies gilt jedoch nur an- 
nähernd, und besonders ist zu vermerken, daß die Distanzen 
der korrespondierenden Punkte auf der äußeren Netzhaut- 
hälfte merklich rascher wachsen als die der ihnen auf der 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 183 

inneren Netzhauthälfte des anderen Auges zugeordneten 
Punkte. (Hildebrand, 1893.) 

Alle Objektpunkte, die sich nicht auf korrespon- 
dierenden Stellen abbilden, werden also doppelt gesehen. 
Man halte z. B. zwei verschieden gefärbte Stäbchen so 
gerade vor sich, daß das eine etwa zwanzig, das zweite 
in gleicher Linie etwa vierzig Zentimeter von der Stirne 
absteht. Fixiert man das nähere, so erscheint das ent- 
ferntere doppelt, und umgekehrt. 

So läßt sich in ziemlich weitem Ausmaße auf empi- 
rischem Wege die Gesamtheit aller der Punkte des Außen- 
raumes bestimmen, die bei gegebener Augenstellung ein- 
fach gesehen werden. Man nennt diese Punkte-Gesamtheit 
den „Horopter". Der Horopter hat für verschiedene Augen- 
stellungen verschiedene Lage, In der Hauptsache ist zu 
sagen, daß er bei geradeaus nach vom gerichteten Augen 
eine zur Frontal-(= Stim-)ebene parallele Ebene bildet, in 
der natürlich auch der Pixations-(Blick-)Punkt liegt. 

Werden identische Netzhautstellen von Licht ver- 
schiedener Qualität getroffen — was z. B. der Fall ist, 
wenn sich zwischen den Schnittpunkt der Richtungslinien 
und die Augen Hindernisse verschiedener Art einschieben 
— so ergibt sich an dem Orte, an dem sonst das einfache 
Bild gesehen würde, ein eigentümliches Phänomen: der 
sogenannte Wettstreit. Er besteht in einem unruhigen, 
regellosen Hin und Her des Eindrucks zwischen den beiden 
Farben, in dem bald die eine bald die andere auf kurze 
Zeit obsiegt, vorübergehend wohl auch teilweise Mischung 
eintritt. Fallen verschiedene Konturenbilder auf iden- 
tische Stellen der beiden Netzhäute, so gilt für den Ein- 
druckseffekt ganz Analoges. 

Was hat nun eigentlich dies alles mit dem Tiefen- 
sehen zu tun? Das sagt uns folgende Beobachtung. 
(Hering, 1865.) Die in der Kongruenz der Netzhäute 
gegebene Zuordnung ist nicht, wie es nach der bisherigen 
Darstellung scheinen könnte, eine geradezu punktuelle. 
Es besteht vielmehr ein gewisser geringer Spielraum, inner- 
halb dessen sich das Bild auf der einen Netzhaut ver- 
schieben darf, ohne daß sich trotz Festbleiben des Bild- 
punktes auf der andern Netzhaut das Einfachsehen in 
ein Doppeltsehen zerteilt. Die Größe dieses Spielraumes 



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184 n. TeiL Spezielle Psychologie. 

ist allerdings variabel; und es scheint sogar, daß sie sich 
durch Übung beeinflussen, und zwar herabsetzen läßt, 
insofern als nach und nach schon bei geringerer Ab- 
weichung von punktueller Kongruenz Doppelbilder be- 
merkt werden. Stets aber zeigt sich dabei, daß, bevor die 
für Einfachsehen zulässige Grenze des Spielraumes über- 
schritten wird, bevor also noch das einfache Bild in 
Doppelbilder auseinander tritt, eine zwar kleine, aber doch 
deutliche Verschiebung des einfachen Bildes in der dritten 
Dimension — und zwar nach bestimmter, hier nicht näher 
auszuführender Gesetzmäßigkeit entweder nach vor- oder 
nach rückwärts — zustande kommt. Ein einfaches und 
schlagendes Mittel, sich von diesem Sachverhalt zu über- 
zeugen, kann man sich dadurch verschaffen, daß man 
auf zwei Kartonblätter vertikale Gerade zeichnet, von 



1 


f 1 


1 
' Z i 


1 1 

5' l' 1' 2' r 



Fig. 11. 

denen auf jedem eine mittlere als Ausgangspunkt dient, 
während die übrigen paarweise genau gleichen oder um 
geringes verschiedenen Abstand von jener Mittellinie 
haben; sieht man diese beiden Blätter (Fig. 11), am be- 
quemsten mittelst einer geeigneten Spiegel- oder Linsen- 
kombination, so an, daß man mit dem einen Auge einen 
Punkt der Mittellinie des einen, mit dem andern einen 
Punkt der Mittellinie des andern fixiert, so fallen die 
beiden Bilder derselben zusammen und ebenso paarweise 
die der gleichzähligen Vertikalen auf beiden Seiten. Dabei 
erscheinen nun die Vertikalen, in denen sich von der 
Mittellinie auf den beiden Kartons gleichweit abstehende 
Gerade vereinigen und die daher mit genau korrespon- 
dierenden Stellen gesehen werden, mit dieser in derselben 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 185 

— zur Frontalebene parallelen — Ebene, während die 
anderen Vertikalen, deren Netzhautbilder eben auf nicht 
genau korrespondierende Stellen fallen, entweder vor diese 
Ebene vor, oder hinter sie zurück zu treten scheinen. 

Solche hierzu geeignete Spiegel- oder Linsenkombi- 
nationen sind das Wesentliche des Apparates, der unter 
dem Namen ^Stereoskop bekannt ist (Fig. 12 und 13). 
Seine Wirkungsweise besteht darin, daß er zwei Bilder eines 
und desselben Gegenstandes, die sich nach ihren räum- 
lichen Abmessungen in bestimmtem Sinne um ein ge- 
ringes unterscheiden, bequem zur Deckung bringt und, 

Ar AI 

Q Q 




Fig. 12. 

Sehamft dM LiBiaa- (Brewster-) StereotkopM. 

Ar AI« reohtai, linkes Auge; P, P BikonTex-Prismen; Br, Bl reohtet, linkes 

Halbbild; TB TotalBehbUd. 

da die Konturen nicht auf genau korrespondierende Stellen 
fallen, den Eindruck der Tiefenerstreckung, also des 
Körperlichen, Plastischen erzeugt. 

Das Einfachsehen mit nicht kongruenten (öder, wie 
man zu sagen pflegt, disparaten) Netzhautstellen ent- 
hält also ganz unverkennbar Tiefendaten. Dieselben sind 
aber gleichsam nur relativen Inhalts; denn sie bestimmen 
den gesdienen Punkt in seiner Tiefenlage nur als vor 
oder hinter dem fixierten Punkte liegend. Dieser fixierte 
Pimkt spielt für die Auffassung der Tiefendimension eine 
besondere Rolle und heißt als solcher Kernpunkt des 
Sehraumes. Auch dieser Kernpunkt erscheint uns in 



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186 



n. Teil. Spezielle Psychologie. 



einer gewissen Tiefe, und das Doppelauge vermag uns 
auch über die ihn betreffenden Tiefen unterschiede inner- 
halb weiter Grenzen mit ziemlicher Genauigkeit zu unter- 
richten. Ob dies nur durch die vorhin besprochenen in- 
direkten Hilfen der Tiefenauffassung geleistet wird, oder 
ob nicht doch vielleicht auch daran eine direkte Empfin- 
dung, etwa auf Grund des mit der verschiedenen Tiefe 
des fixierten Punktes variierenden Konvergenzgrades der 
Augen, innerhalb gewisser Grenzen mitbeteiligt ist, ist 
heute noch unentschieden. (Siehe dazu Hillebrand, 1894.) 
Ja selbst bezüglich des auf Netzhautdisparation beruhenden 




Fig. 13. 
Seliaiii« det Spiegel- (Whaatstone-) Storaotkopes. 

Ar^ AI rechtes, Ilnkee Auge ; SS Spiegel ; Br, Bl rechtes, linkes Halbbild; 
TB TotalsehbUd. 

gleichsam relativen Tiefeneindrucks muß immerhin noch 
mit der Eventualität gerechnet werden, daß auch er — 
trotz des ausgesprochenen Scheines sinnlicher Unmittel- 
barkeit — nicht ursprüngliches Empfindungsdatum, son- 
dern ein eigentümlich gestalteter Komplex aus solchen 
ist ; doch kann von derartigen, heute noch so fernliegenden 
allfälligen Ergebnissen künftiger Analyse an dieser Stelle 
füglich abgesehen werden. 

Im Gegensatze zu den eingangs charakterisierten ge- 
netischen oder empiristischen Kaumtheorien ist nun aJso 
doch ein sehr ansehnlicher und wesentlicher Grundstock 
direkter Kaumempfindung anzuerkennen. Das Auffassen 



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1. Hälfte: Psychologie des Greisteslebens. 187 

des Flächenhaften kann ganz ihr zugeschrieben werden; 
es fehlt jeder Anlaß, von dieser nächstliegenden Inter- 
pretation der Sachlage abzugehen. Damit ist für jeden 
Fall eine wenn auch noch entfernte sinnliche Grund- 
lage auch zur Bildung der Tiefenvorstellung gegeben. 
Aber selbst der direkten Empfindung dürfte nach dem 
Dargelegten nicht aller Anteil an der Tiefenauffassung 
abzusprechen sein. Damit schließen wir uns dem Grund- 
gedanken der sogenannten nativistischen Eaumtheorien 
(Hering; Stumpf, 1873) an. 

Zur Vermeidung von Irrtümern muß nun aber diese 
Position in einem Punkte noch ausdrücklich näher erläutert 
werden. Wenn von Eaumempfindung die Rede ist, so 
kann es sich schon aus diesem Grunde nur um Auf- 
fassung des Einfachen, Elementaren handeln. Das Auf- 
fassen von Baumgestalten ist also nicht Sache der 
Raumempfindung. Denn die ßaumgestalten sind Kom- 
plexe von elementaren Eaumdaten, etwa Baumpunkten, 
und das Zusammenfassen der Baumelemente zu Komplexen 
von der Art der Gestalten kann nicht mehr durch die 
bloße Empfindung geleistet werden. Das wird sich an 
anderer Stelle deutlicher zeigen, und dort wird dann auch 
vom Auffassen der Baumgestalten die Bede sein. Das 
eigentümliche Beisammen- oder Nebeneinandersein der 
Baumelemente muß allerdings gleichfalls noch als etwas 
ursprünglich G^ebenes hingenommen werden; wir sehen 
es geradezu, es ist geradeso Gegenstand der unmittelbaren 
Empfindung wie das einzelne Baumelement. Wir sehen 
das Nebeneinander als solches geradeso unmittelbar, wie 
wir auf dem Tongebiete die Tonverschmelzungsphäno- 
mene hören. — Der reinen Empfindung entstammt also 
nur die Auffassung der einzelnen, elementaren Baumdaten 
und die ihres — nach allen Seiten durchaus gleichmäßigen, 
gestaltlich noch völlig undifferenzierten — Nebeneinander- 
seins. Alle andern räumlichen Eigenschaften der gesehenen 
Dinge sind schon nicht mehr durch Empfindung allein zur 
Vorstellung zu bringen. 

Gibt es Baumempfindung, so wird auch nach der 
Natur des adäquaten Beizes dieser Empfindung gefragt 
werden müssen. Die Antwort auf diese Frage kann nur 
durch den blanken Hinweis auf den objektiven, wirklichen 



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188 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

Bäudi gegeben werden. Ob wir erkenntnistheoretiseh recht 
haben, die wirkliehe Existenz eines objektiven Baumes 
anzunehmen, ist strenge genonmien eine Frage, die die 
Psychologie nichts angeht. Es sei jedoch bemerkt, 
daß der Versuch, dem Kaum im Vergleich zu den 
Gegenständen der übrigen Sinnesempfindungen eine 
Subjektivität höherer Art zuzusprechen, derzufolge ihm 
in keiner Weise irgend welche Objektivität zukäme und 
er als ,y4Lnschauungsform" diesen entgegenzustellen wäre 
(Kant, 1781), der triftigen Gründe ermangelt; es besteht 
kein zwingender Anlaß, der Kaumvorstellung in dieser Be- 
ziehung eine andere theoretische Stelle anzuweisen als 
den Vorstellungen der übrigen Sinnesgebiete. Damit ist 
allerdings auch schon gesagt, daß wir, ganz analog wie 
bei diesen, über Sein und wirkliche Beschaffenheit des 
objektiven Baumes nichts wissen. 

Dessen ungeachtet kann und muß auch hier die Frage 
nach der Zuordnung im einzelnen zwischen Beiz und 
Empfindung aufgeworfen werden, und ihre Beantwortung 
ist auch hier nicht anders gemeint als etwa beim Ton- 
oder Farbensinn. Die Frage ist für den Baumsinn un- 
gemein weitläufig, auch bereits nach den verschiedensten 
Bichtimgen in ausgedehntestem Maße bearbeitet, wobei 
ein umfangreiches Material von Einzelergebnissen zutage 
gefördert worden ist, darf aber gleichwohl noch nicht als 
endgültig erledigt betrachtet werden. Hier kann nur das 
Allerwichtigste davon berichtet werden. 

Zunächst einiges über die gegenseitige Lage der Ob- 
jektpunkte in ihrem Verhältnis zur gegenseitigen Lage der 
zugeordneten Sehpunkte des subjektiven Baumes. 

Bei aufrechter, gerader Kopfhaltung und horizontal 
parallel nach vom gerichteten Blicklinien erscheint im 
allgemeinen jede Gerade, die durch den Fixationspunkt 
geht, als Gerade ; als vertikal (bei einäugiger Betrachtung) 
dann, wenn sie mit dem oberen Ende um einen geringen 
Betrag — bei verschiedenen Individuen verschieden, im 
Maximum von 1.5^ — nach außen geneigt ist; als hori- 
zontal, wenn sie auch objektiv horizontal liegt. Analoges 
gilt von den diesen beiden nahe benachbarten Parallelen, 
Solche Gerade aber, die in größerer Entfernung vom 
Fixationspunkte verlaufen, erscheinen subjektiv, unbe- 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 189 

wegtes Auge vorausgesetzt, um ein geringes gegen den 
Fixationspunkt konkav gekrümmt. Gleich lange Strecken 
an solchen Geraden erscheinen um so kürzer, je ent- 
fernter sie vom Fixationspunkte abliegen. — Soviel über 
die relative subjektive Lage der gesehenen Punkte zu- 
einander im Verhältnis zu ihrer objektiven Lage. 

Fragt man nun aber überhaupt um die Lage im sub- 
jektiven Baume, in der ein seiner Lage nach bestimmter 
Punkt des objektiven Kaumes gesehen wird, so gilt zu- 
nächst, daß die subjektive Lage (von allfälligen, hier zu 
vernachlässigenden Einschränkungen abgesehen) eindeutig 
von der Lage der gereizten Netzhautstelle abhängt; was 
an ein und derselben Netzhautstelle, sei es gleichzeitig 
oder zu verschiedenen Zeiten, sich abbildet, das wird 
an ein und derselben Stelle des subjektiven (mit dem 
Auge beweglichen) Gesichtsfeldes oder, was geometrisch 
auf dasselbe hinauskommt, in der (relativ zum beweglichen 
Auge) gleichen Kichtung gesehen. Zur näheren Bestim- 
mung dieser Bichtung hielt die altherkömmliche „Pro- 
jektionstheorie" den Hinweis auf die Bichtungslinie für 
ausreichend; darnach sollte das Netzhautbild längs der 
Bichtungslinie, d. i. also längst der Geraden vom Netz- 
hautbildpunkte über den Knotenpunkt zum Objekt- 
punkt, in den Außenraum -verlegt, sonach das Objekt 
in seiner wahren Bichtung gesehen werden. Diese 
Projektionstheorie ist falsch. Das ergibt sich aus 
folgender Beobachtung. Wählt man einen Fixationspunkt 
(z, B. eine mit Tinte bezeichnete Stelle an einer Fenster- 
scheibe) so, daß er mit dem linken Auge fixiert mit 
einem entfernten Gegenstande A (z. B. einem Schornstein) 
rechts in der Bichtung zur Deckung kommt, mit dem 
rechten Auge fixiert bei unveränderter Kopflage mit 
einem anderen entfernten Gegenstande B links (z. B. einem 
Baum) zur Deckung kommt, so zeigen sich, wenn man 
nun, wieder bei unveränderter Kopflage, den Punkt mit 
beiden Augen zugleich fixiert, die zwei Gegenstände A 
undlB, natürlich im "Wettstreit, an derselben Stelle des 
Sehraumes, also in gleicher Bichtung, und zwar in der 
Feme geradeaus hinter dem fixierten Punkte. Obwohl 
also die Bichtungslinien zu A und B durchaus verschiedene 
Lage haben, werden A und B doch in derselben Bichtung 



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190 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

gesehen; wir verlegen also die Bilder der Gegenstände 
keineswegs nach den Eichtungslinien in den Sehraum. 
Die Sache steht vielmehr so, daß wir bei zweiäugigem 
Sehen, was immer sich auf korrespondierenden Stellen 
abbildet, in ein und derselben Bichtong sehen, und 
zwar (bei geradeaus nach vom gerichtetem Blicke) in 
der Eichtung, die die BichtungsUnien annehmen, wenn 
man sich ein Auge mit seinem Bichtungslinienbüschel 
in die Mitte zwischen die beiden wirklichen Augen ver- 
setzt und so orientiert denkt, daß die Bichtungsfinie der 
Netzhautgrube geradeaus nach vom gerichtet ist (ima- 
ginäres Einauge, Zyklopenauge). Das ist der wesentliche 
Inhalt des von Hering (1861) auf Grund des obigen Ver- 
suches aufgestellten sogenannten „Gesetzes der identischen 
Sehrichtungen". "Wenn es auch die aufgeworfene Frage 
vielleicht noch nicht bis ins einzelne erschöpfend erledigt, 
so stellt es doch die Hauptsache richtig dar und kommt 
im ganzen dem wahren Sachverhalte wesentlich näher 
als die ältere Projektionstheorie. — 

Es seien nun noch einige quantitative Beziehungen 
zwischen Beiz und Empfindung des Gesichtsraumsinnes 
kurz berührt. 

Zunächst die Frage nach der Größe des kleinsten, 
eben noch wahrnehmbaren Flächenelementes; sie kommt 
über ein mit der Frage nach dem kleinsten Gesichts- 
winkel, imter dem ein Objekt eben noch sichtbar sein 
kann — wobei unter Gesichtswinkel der "Winkel zu ver- 
stehen ist, den die Eichtungslinien von den Endpunkten 
des Objektes miteinander einschließen. Es hat sich ge- 
zeigt, daß der gesuchte Wert (eine Art Eeizschwelle) in 
hohem Maße vor allem von der absoluten Helligkeit und 
dem Helligkeitsverhältnis zwischen Grund und Objekt 
abhängt; nach den bisherigen Messungen schwankt er 
zwischen ungefähr 10 und 50 Bogen^ekunden. 

Eine weitere Frage ist die nach dem kleinsten Ab- 
stände, den zwei Punkte wenigstens haben müssen, um 
noch gesondert wahrgenommen, d. i. als verschieden er- 
kannt werden zu können. Auch dieser Abstand ist 
nach dem Winkel der Eichtungslinien zu messen. 
Je kleiner der gesuchte Wert (eine Art Unterschieds- 
schwelle) ausfällt, desto größer, sagt man, ist die Seh- 



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oogle 



1. Hälfte: Psychologie des GeiBteslebens. 191 

schärfe. Absolute und relative Helligkeit, dazu noch 
anderiös, beeinflussen auch diesen Wert außerordentlich; 
er liegt normalerweise zwischen 50" und 3.5'. 

Analoge Messungen beziehen sich auf die „Tiefen - 
Sehschärfe", gleichsam die Unterschiedsempfindlichkeit 
in der Tief enwahmehmung. Man untersuchte, um wieviel 
die mittlere von drei in einer Ebene aufgestellten Nadeln 
aus dieser Ebene herausgerückt werden muß, um in ihrer 
Tiefenverschiebung erkannt zu werden. Dabei hat sich 
z. B. ergeben, daß bei einem Abstand der Nadeln von- 
einander von 3 mm und einer Entfernung der Nadelebene 
vom Auge von 2 m bereits Tiefen unterschiede von 1.5 mm 
genügen. Dies entspricht einem Abstand der beiden Netz- 
hautbilder von nur 5". (Bourdon, 1900.) Hierzu ist zu 
bemerken, daß diese Leistung nicht etwa auf der Kon: 
vergenz des Doppelauges beruht (die Tiefenempfindlichkeit 
des Konvergenzapparates ist 400 bis 500mal geringer), 
sondern auf der sogenannten binocularen Parallaxe, 
d. h. darauf, daß, da ja ein und dasselbe Objekt, seine 
unveränderte Lage vorausgesetzt, sich im allgemeinen ver- 
schieden präsentiert, je nachdem es von diesem oder von 
einem andern Orte aus besehen wird, es auch jedem der 
beiden Augen für sich räumlich um ein geringes anders 
eorscheint. 

5.* Druckempfindungen. 

"Wenn irgend eine Stelle unserer Körperoberfläche 
mit einem fremden Gegenstande oder einem andern Teile 
unseres eigenen Körpers in Berührung kommt, so tritt 
in der Regel ein ganzer Komplex von Empfindungen im 
Bewußtsein auf. Noch bevor wir uns auf eine wissen- 
schaftliche Analyse dieses Komplexes einlassen, können 
wir in ihm die Einzelempfindungen von Berührung und 
Druck, von Erwärmung oder Abkühlung, von Stumpf, 
Kantig oder Spitzig, von Glatt oder Rauh, von Naß oder 
Trocken unterscheiden, und unter Umständen finden wir 
auch noch Schmerzhaftigkeit (Stechen, Brennen) oder ein 
gewisses Jucken, Kitzeln, Kriebeln usw. hinzugesellt. 
Bei näherer Analyse zeigt sich jedoch, daß die Mannig- 
faltigkeit in letzter Linie geringer ist, als es fürs erste 
scheint, weil nicht alle die genannten Qualitäten gleich 

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192 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

elementarer Natur sind. Nur ein Teil von ihnen, nämlich 
die der Berührung, der Wärme und Kälte, femer die 
Schmerzhaftigkeit erweisen sich als ursprünglich, nicht 
weiter auf anderes oder aufeinander zurückführbar, 
während die übrigen leicht als verscTiieden gestaltete 
Komplexe aus den genannten Elementen zu erkennen sind, 
höchstens mit etwaiger Ausnahme des Juckens, Kitzels 
usw., deren Natur zweifelhafter ist. Die Elementarquali- 
täten dagegen sind voneinander vielleicht in gleich hohem 
Grade grundverschieden, wie dies von den Gesichts- gegen- 
über den Gehörsempfindungen gilt, so daß man guten 
Grund hat, auch hier von verschiedenen Sinnen, einem 
Druck-, Temperatur- und etwa auch „Schmerz"-Smn, zu 
sprechen. 

Die Berührungs-, bei größerer Intensität Druckempfin- 
dung ist stets von ein und derselben Qualität. Sie ist 
also nur nach Intensiiät (Stärke des Druckes) und ört- 
licher Bestimmtheit (Lokalisation) veränderlich ; die räum- 
liche Ausdehnung kann dabei streng genommen schon 
nicht mehr genannt werden, weil sie in der Hauptsache 
durch das Zusammentreten mehrerer verschieden, wenn 
auch benachbart lokalisierter Einzelempfindungen zu- 
stande konunt. 

Der physikalische Vorgang, der als äußerer Eeiz 
Druckempfindungen hervorruft, besteht kurz gesagt im 
Zusammentreffen der Haut mit einem ' anderen Gegen- 
stande. Die Haut selbst ist aber noch nicht das der Druck- 
empfindung dienende Sinnesorgan. Sie ist nur die Stelle, 
in der die eigentlichen Sinnesorgane, nämlich frei oder 
in besonderen meist mikroskopisch kleinen Gebilden endi- 
gende Nervenfasern, eingebettet sind. Der auf die Haut 
eindringende äußere Reizvorgang wird also noch durch 
die Haut zum eigentlichen Sinnesorgan weitergeleitet, und 
es' entsteht die Etage, in welcher Form er auf dieses auf- 
trifft, m. a. "W., worin der adäquate Reiz für den Druck- 
sinn besteht. Und da hat man gefunden, daß es höchst- 
wahrscheinlich nicht der in der Umgebung des Druck- 
sinnesorganes herrschende absolute Druck ist, was dieses 
in den Erregungszustand versetzt, sondern das Druckge- 
fälle, d. h. die Zu- oder Abnahme des Druckes in der 
Haut von außen nach innen, (v. Frey und Kiesow, 1899.) 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 193 

Dio Beizschwelle des Drucksianes läßt sich im all- 
gemeinen nicht durch eine bestimmte Zahl angeben; sie 
ist im einzelnen zu sehr von verschiedenartigen Faktoren 
abhängig. Zunächst einmal von der Flächenausdehnung 
der Berührung. An härchenfreien Hautstellen (z. B. der 
Innenfläche der Hand) ergibt sich die größte Empfind- 
lichkeit bei einer Berührungsfläche von V« nim* (ca. 0.36 g 
auf 1 mm* oder 0.18 g auf die untersuchte Fläche von 
Vj mm*). Nimmt die Fläche zu oder ab, so wächst der 
pro Flächeneinheit nötige Minimaldruck. — Aber auch 
wenn man mit sozusagen punktförmigen Druckreizen 
untersucht, findet man, und zwar unmittelbar neben- 
einander, außerordentlich große Verschiedenheiten der 
EmpfiDdlichkeit ; ja, man kann sagen, die Druckempfind- 
lichkeit ist überhaupt nicht über die ganze Haut aus- 
gedehnt, sondern auf einzelne zerstreut liegende Stellen, 
die Druckpunkte, beschränkt, während die dazwischen be- 
findlichen Hautpartien nur bei einer sich über die Druck- 
punkte hin erstreckenden Deformation Empfindung ver- 
mitteln. (Blix, 1884.) Die Zahl der Druckpunkte ist an 
den verschiedenen Hautstellen sehr verschieden; an den 
Fingerbeeren liegen sie so dicht, daß sie kaum zu sondern 
sind, im Gesamtdurchschnitt sind es kaum 25 auf den 
Quadratzentimeter, (v. Frey, 1899.) Eegelmäßig liegt ein 
Druckpunkt an der Wurzel eines jeden Härchens. An 
Empfindlichkeit unterscheiden sie sich sehr erheblich von- 
einander. — Ein dritter Faktor, von dem die Intensität 
der resultierenden Druckempfindung und damit auch die 
Druckreizschwelle wesentlich abhängt, ist die Geschwindig- 
keit, mit der der äußere Druck auf die Haut eindringt; 
je größer die Belastungszunahme pro Sekunde, desto 
niederer liegt die Beizschwelle. 

Unter so verwickelten Verhältnissen ist die Ermit- 
telung der Unterschiedsschwelle natürlich mit noch 
größeren Schwierigkeiten verbunden; sie ist daher auch 
noch nicht durchwegs befriedigend gelungen, obwohl sie 
zu den ältesten Untersuchungen der Psychophysik gehört 
und schon von E. H. Wober in Angriff genominen worden 
ist. Sie führt auch zu außerordentlich verschiedenen 
Werten je nach den zeitlichen und räumlichen Verhält- 
nissen d&r Applikation der beiden Reize. Weber fand 

Witasek, Qnmdlinieii der F87oholo8:ie. ^ , ^u^ 1 n ivm- 

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194 ^* ^^il- Spezielle Psychologie« 

nach seinem noch recht summarischen Verfahren zirka 
Vm als relative Unterschiedsschwelle und zugleich an- 
nähernde Konstanz derselben innerhalb eines weiten Ge- 
bietes der ßeizskala. Darnach erwiese sich hier das Weber- 
sche Gesetz als gültig, ein Ergebnis, das neuerdings teil- 
weise Bestätigung erfahren hat. (Stratton, 1896.) 

An- und Abklingen der Druckempfindung sind von 
ungemein kurzer Dauer, ja geradezu kaum nachweisbar. 
Die Druckreize können deshalb in auJJerordentlich schnel- 
ler Aufeinanderfolge, vielleicht bis zu tausend in der Se- 
kunde, auf das Organ treffen, ohne daß die Empfindungen 
aufhören, einzeln, jede für sich, zur Geltung zu kommen; 
erst bei noch größerer Keizfrequenz verschmelzen sie zu 
einem glatten, einheitlichen Eindruck. Der Drucksinn ist 
darin allen andern Sinnen überlegen. 

Was schließlich die nähere Bestimmung des Druck- 
sinnesorganes anlangt, so hat uns die anatomisch-histo- 
logische Forschimg allerdings mit mancherlei nervösen 
Gebilden bekannt gemacht, die, in die Körperhaut ein- 
gebettet, offenbar der Vermittelung der verschiedenen 
Arten von Hautempfindungen dienen. .Wir wissen, da^ 
die Härchen der Haut an ihren .Wurzeln von Nerven- 
fasern umgeben sind, wir kennen andere verschieden ge- 
staltete Endapparate, in denen Nervenfasern auslaufen; 
so die winzigen Merkeischen Tastzellen, die in den Ver- 
tiefungen zwischen den Papillen der Lederhaut sitzen, 
die schon wesentlich größeren Meißnerschen Tastkör- 
perchen, die in den Papillen selbst zu finden sind, die 
bereits mit freiem Auge sichtbaren (2 — 3 mm langen) 
Vater-Pacinischen Körperchen, die am tiefsten in der Haut 
liegen, aber auch sonst im Körper, z. B, in den Ge- 
lenken, vorkommen; wir wissen, daß außerdem noch 
eine Unzahl vieKach verzweigter Nervenfasern frei, 
ohne besonderes Endorgan, in der Haut endigen. .Welche 
von diesen Gebilden jedoch dem Drucksinn dienen, 
darüber gibt es zurzeit nur schwankende Vermutungen. 
Am ehesten sind die Meißnerschen Tastkörperchen und 
die Hauthärchen den Berührungs- und Druckempfin- 
dungen zuzuweisen. Vollends über die physiologische Na- 
tur ihres Erregungszustandes sind noch kaum vagste Hypo- 
thesen möglich. 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 196 

6. Temperaturempfindungen. 

Trotz allfälliger Gegenindizien scheint es ange- 
messener, kalt und warm als Qualitäten eines Sinnes- 
gebietes, und nicht als Empfindungen verschiedener Sinne, 
aufzufassen. Beide Qualitäten sind der Intensitätssteige- 
rung vom Null- bis zu einem gewissen Höhepunkte 
zugänglich. Doch dürften die Extreme, die Empfindung 
heiß und wohl auch die von exzessiver Kälte, nicht ak 
reine Intensitätsmaxima, sondern richtiger als verschieden- 
anteilige Mischungen aus beiden Qualitäten aufzufassen 
sein. (Alrutz, 1897; Thunberg, 1901.) 

Es gilt nämlich auch hier, was analog bereits vom 
Drucksinn zu vermerken war. Auch die Temperatur- 
empfindlichkeit ist nicht kontinuierlich über die ganze 
Hautfläche ausgedehnt, sondern auf einzelne Punkte be- 
schränkt, die durch temperaturunempfindliche Stellen von- 
einander getrennt sind. Ja die Sache geht noch weiter, 
indem von diesen Punkten die einen nur Kälte-, die andern 
nur Wärmeempfindung vermitteln. Man kann. sich davon 
leicht überzeugen, indem man mit einer mäßig erwärmten 
oder abgekühlten Spitze sanft und langsam über eine 
Hautstelle geringer Ausdehnung hinwegstreicht. An ein- 
zelnen, immer wieder aufzufindenden Punkten blitzt deut- 
lich die Klälteempfindung auf, während sich die Stellen 
dazwischen gegen diesen Reiz unempfindlich erweisen; 
an andern, gleichfalls unregelmäßig gelagerten, aber wohl 
etwas schwerer aufzufindenden Punkten löst der Wärme- 
reiz die Wärmeempfindung aus. Im Durchschnitt kommen 
12 — 13 Kälte-, 1 — 2 Wärmepunkte auf den Quadratzenti- 
meter. (Sommer, 1901.) — Des weiteren hat sich aber 
auch noch gezeigt, daß die Kältepunkte auch auf Wärme- 
reize, allerdings in der Regel nur auf solche höherer 
Temperatur, 50 <> und darüber, Kälteempfindung vermit- 
teln; man hat die dabei zustandekommenden Sensationen 
als paradoxe Kälteempfindung bezeichnet. (Lehmann, 
1892 ; V. Frey, 1895.) Ob es analog auch paradoxe Wärme- 
empfindungen gibt, ist nicht endgültig entschieden, aber 
wahrscheinlich. 

Es sind nun einige Gesichtspunkte und Tatsachen 
zu berücksichtigen, die es nicht ohne weiteres angängig 

13* 

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196 II' Teil Spezielle Psychologie. 

erscheiucn lassen, wie es vorerst am nächsten läge, die 
absolute Temperatur des mit dem Organ in Berührung 
kommenden Gegenstandes, genauer die absolute Tempe- 
ratur, auf welche das Organ durch die Berührung ge- 
bracht wird, als adäquaten Beiz anzusehen. Vor allem 
wissen wir schon aus alltäglichen Erfahren, daß eine 
und dieselbe objektive Temperatur sehr verschiedene 
Empfindungen hervorrufen kann. Halten wir eine Minute 
lang die eine Hand in kaltes, die andere in warmes Wasser 
und stecken wir sie dann zugleich in ein und dasselbe 
Wasser mittlerer Temperatur, so verspüren wir in der 
einen Hand Wärme, in der andern Kälte. Läßt man die 
beiden Hände genügend lang in diesem Wasser, so ver- 
schwinden nach und nach beide Temperaturempfindun- 
gen. Überhaupt läßt sich für jede Hautstelle zu jeder 
Zeit eine Temperatur ausfindig machen, die eben weder 
Wärme- noch Kältecharakter hat, weder Wärme- noch 
Kälteempfindung auslöst. Diese sogenannte Indifferenz- 
temperatur ist jedoch für verschiedene Hautstellen, und 
für ein und dieselbe zu verschiedenen Zeiten, in weitem 
Maße verschieden; sie variiert etwa zwischen 10® und 
39<>. (Thunberg, 1895, 1905.) Wir entnehmen daraus, 
daß das Temperaturorgan, ähnlich wie das Auge, einer 
Adaptation an den äußeren Eeiz fähig ist. Ob übrigens 
dieser Vorgang der Adaptation darin besteht, daß sich 
die Eigentemperatur des Organes der Beiztemperatur an- 
nähert, etwa gar mit der jeweiligen Indifferenztemperatur 
zusammenfällt und sonach Verschiebungen des „physio- 
logischen Nullpunktes" stattfinden, ist unentschieden. — 
Außerdem sind es mancherlei (hier nicht weiter auszu- 
führende) Tatsachen von Temperatumachempfindungen, 
die sich nur schwer dieser ersten, allerdings nächst- 
liegenden Auffassung von der Natur des adäquaten Beizes 
einfügen lassen. 

Es hat daher bereits E. H. Weber (1846) die Hypothese 
aufgestellt, daß nur das Steigen oder Sinken der Haut- 
temperatur, gleichviel ob es durch innere oder durch äußere 
Ursachen zustande kommt, und nicht ihr absoluter, allen- 
falls auch konstanter Stand selbst, als adäquater Wärme- 
und Kältereiz anzusehen sei. Damit ist aber vor allem 
wieder schwer verträglich, daß wir doch auch durchaus 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 197 

andauernder Kalte- und Wärmeempfindung fähig sind, 
während der Temperaturausgleich in der Haut gewiß in 
verhältnismäßig kurzer Zeit zum Stillstand kommen muß. 
Darum hat in neuerer Zeit E. Hering (1877) wieder auf die 
alte Auffassung zurückgegriffen und sie zum Grundge- 
danken einer kunstvoll ausgebauten Theorie gemacht, ohne 
indes auch damit sämtlichen Erfahrungstatsachen, beson- 
ders den später bekannt gewordenen, völlig gerecht zu 
werden — so daß die Frage nach der Natur des adä- 
quaten Eeizes derzeit noch ungelöst erscheint. 

Es ist klar, daß unter solchen umständen die 
Angaben über Eeiz- und Unterschiedsschwelle nur von 
indirekter, überdies noch ungeklärter Bedeutung sein 
können. Unabhängig davon sind nur die Ermittelungen 
über gewisse relative Bestimmungen dieser Größen. So 
ist die Intensität einer Kälte- oder Wärmeempfindung sehr 
wesentlich von der Hautstelle (Körperregion) abhängig, 
auf welche der Eeiz appliziert wird. Man hat in diesem 
Sinne zwölf Stufen der Kälte-, acht der Wärmeempfind- 
lichkeit unterschieden, die sich ganz unregelmäßig und 
unabhängig voneinander auf der gesamten Hautoberfläche 
verteilen. (Goldscheider, 1887.) Die Empfindung ist femer 
innerhalb gewisser Grenzen um so intensiver, je größer 
die Hautfläche ist, auf die der Eeiz zur Wirkung kommt ; 
ebenso, je besser das Wärmeleitungsvermögen des Gegen- 
standes ist, der der Haut den Temperaturreiz zuführt. 
All dies und noch anderes mehr in Eücksicht gezogen, 
kann man sagen, daß sich unter optims^len Bedingungen 
als Eeizschwelle eine Abweichung von der Indifferenz- 
temperatur um 0.2 bis 1.1 <> C (Eulenburg, 1885), als Unter- 
schiedsschwelle eine Differenz von 0.05** bis 0.2 *> und 
mehr (Lindemann, 1857 ; Nothnagel, 1867) ergibt. — Die 
Beziehungen der Temperaturempfindungen zum Weberschen 
Gesetz sind noch ganz unklar. 

7. Schmerzempfindungen. 

Es ist bekannt, daß sich überall auf der Hautober- 
fläche, Stellen besonders verdickter Epidermis (Schwielen) 
allenfalls ausgenommen, mit einer spitzen Nadel schon 
durch ganz leichtes Einstechen Schmerz erzeugen läßt. 

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198 II« Teil. Spezielle Psychologie. 

Versucht man aber ein Gleiches mit noch zarteren, feineren 
und schärferen Keizmitteln, so zeigt sich, daß auch die 
Schmerzempfindlichkeit der Haut auf isolierte Punkte be- 
schränkt ist. Diese Schmerzj)unkte liegen freilich viel 
dichter als die Druck-, Wärme- und Kältepunkte, etwa 
150 auf ein cm* (v. Frey, 1896), im übrigen gilt aber auch 
von ihnen, daß sie maximale Empfindlichkeit besitzen, 
indem gleiche Heize in den Zwischenräumen wirkungslos, 
zum mindesten schmerzlos bleiben. 

Unter geeigneten Umständen kann man an den Schmerz- 
punkten Eindrücke erzeugen, die nur schmerzartig sind, 
und die keine Spur von Wärme- oder Kälte-, noch weniger 
von Druckempfindung zu enthalten scheinen. Da der 
schmerzartige Eindruck zunächst doch wohl als Gefühl, 
und zwar als sinnliches Unlustgefühl aufzufassen sein 
mag, so würde dies den paradoxen Fall eines Gefühles 
ohne intellektuelle Grundlage (Voraussetzung), ohne 
Empfindung oder Vorstellung, durch die es angeregt, und 
auf die es gerichtet wäre, darstellen.^) Die Erfahrung muß 
jedoch nicht unbedingt in diesem Sinne verstanden werden. 
Wenn man nämlich die Reizintensität genügend weit 
herabmindert, erhält man deutlich stechende Empfin- 
dungen, die gänzlich frei von aller Schmerzhaftigkeit sind, 
und die ihrer Qualität nach unschwer als Druckempfin- 
dungen, nur eben von bestimmter räumlicher Gestaltung, 
aufgefaßt werden können. Es ist die Annahme zulässig, 
daß diese druckartigen Empfindungen auch bei größerer 
Reizintensität eintreten, durch den begleitenden Schmerz 
jedoch gleichsam übertäubt werden ; dann hätte auch dieses 
Gefühl seine intellektuelle Grundlage. Vielleicht ist aber 
die Sachlage auch so aufzufassen, daß solcher physischer 
Schmerz seiner Natur nach wirklich selbst Empfindung 
und nicht Gefühl ist, nur begleitet von einem Gefühl 
der Unannehmlichkeit, geradeso wie die Empfindung des 
Frösteins oder eines bittern Geschmacks. (Thunberg, 1905.) 
Ja auch die dritte Eventualität mag zu erwägen sein, ob 
wir es in diesem körperlichen Schmerz nicht mit einem 
Mittelglied zwischen Empfindung und Gefühl zu tun haben. 



^) Siehe hierzu den Begriff der Gefühlsvoraussetzung im Kapitel 
über die Gefühle, (Sachregister!) 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 199 

Dagegen wird man sich wohl etwas schwerer dazu ent- 
schließen, die reine Schmerzqualität, wie es bisweilen ver- 
sucht worden ist (v. Frey, 1894; Goldscheider, [1881], 
1898; Stumpf, 1907), selbst und in gleichem Sinne wie 
Wärme oder Farbe direkt als eigene Empfindungsqualität 
anzusehen, so daß die Annahme des Hinzutretens irgend 
eines besonderen Gefühlstones überflüssig würde. Der 
psychologische Sachverhalt ist eben nicht endgültig ge- 
klärt. Die mitgeteilten Tatsachen und ihre physiologische 
Ausdeutung, etwa auch die Hypothese einer gesonderten 
Schmerzleitung im Rückenmark (Schiff, Funcke), sind 
davon ziemlich unabhängig, ebenso die Annahme, daß das 
periphere Organ der Schmerzempfindung mit den in der 
Haut frei endigenden Nerven identisch sei. (v. Frey.) Das 
Gleiche gilt von den ausgedehnten Untersuchungen über 
Schmerzempfindlichkeit der verschiedenen Hautstellen und 
den Reizschwellenbestimmungen (der sog. Algesimetrie), 
deren wichtigste Ergebnisse dahin zu formulieren sind, 
daß die Schmerzschwelle viel höher liegt als die Druck- 
schwelle und der Schmerzempfindung ein ungemein lang- 
sames An- und Abklingen zukommt. 

8. Kinästhetische Empfindungen. 

Auch im Dunkeln und bei geschlossenen Augen sind 
wir, wie jedermann weiß, von der jeweiligen Lage und 
Stellung unserer Gliedmaßen sowie von Ausdehnung, Rich- 
tung und Geschwindigkeit ihrer allfälligen Bewegungen 
mit großer Genauigkeit unterrichtet. Auch können wir, 
von Fällen pathologischer Störungen abgesehen, vorge- 
schriebene Bewegungen ohne begleitende Kontrolle des 
Auges mit aller nötigen Sicherheit prompt vollziehen. 
Daraus geht hervor, daß wir noch außerhalb des Ge- 
sichtssinnes Empfindungen haben müssen, die uns von 
all dem Nachricht get^n. Und in der Tat, so wenig 
diese zweifellos vorhandenen Empfindungen von selbst 
die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen pflegen, so leicht 
wird man ihrer gewahr, wenn man nur einmal dazu ver- 
anlaßt wird, sie zu suchen. 

Sie sind übrigens mehrerlei Ursprunges. Als die 
wichtigsten unter ihnen hat man Empfindungen erkannt, 



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200 -fl« Teil. Spezielle Psychologie. 

die in den Gelenken entstehen und dort lokalisiert werden. 
An Sinnesorganen zu solchen Sensationen fehlt es nicht: 
die Gelenkflächen sind reichlich mit Vaterschen Kör- 
perchen ausgestattet. Diese werden nach der jeweiligen 
Lage des Gelenkes durch das Aneinanderliegen der Ge- 
lenkseiten bald in dieser, bald in jener Anordnung und 
Ausdehnung in Keizzustand versetzt und ergeben so ver- 
schieden gestaltete Komplexe von Berührungs- oder Druck- 
empfindungen, die uns als Zeichen für die Gliedlage dienen. 
Vollzieht sich eine Bewegung im Gelenke, so gilt das 
Gleiche, nur daß ein zeitlich ausgedehnter Komplex von 
solchen Empfindungen zustande kommt. Ist das bewegte 
Glied belastet, hat es ein Gewicht zu heben, so drücken 
sich z. B.. die G^lenkflächen kräftiger aneinander, es 
entsteht die sogen. Gewichts- oder Schwerempfindung. — 
Hinzu kommen bei all dem noch Tastempfindungen aus 
der äußeren Haut des Gliedes, die bei dessen Bewegungen 
allerlei Dehnungen, Keibungen usw. erfährt; ferner eigen- 
tümliche Empfindungen aus dem Innern der in Tätig- 
keit befindlichen Muskeln, die, vermittelt durch zahlreiche 
im Muskel selbst endigende Sinnesnerven, unser Bewußt- 
sein von Kraftanspannung und Anstrengung ausmachen. 
Alle diese Empfindungen, in ihrer Gesamtheit heute zu- 
meist als kinästhetische bezeichnet, sind ihrer Qualität nach 
den Druckempfindungen der Haut, soweit nicht tatsäch- 
lich gleich, so doch ungemein nahe verwandt. Sie ge- 
nügen durchaus zur Erklärung unseres Lage- und Be- 
wegungsbewußtseins, so daß die seinerzeit vielfach ver- 
tretene Annahme sogenannter Innervationsempfindungen, 
nach der wir eine Empfindung von dem dem Muskel 
zugesandten nervösen Bewegungsimpuls, dem Willens- 
antrieb, haben soUten, gegenwärtig, übrigens auch auf 
Grund verschiedener direkter Gegenerfahrungen, so gut 
wie allgemein fallen gelassen ist. 

Man hat sich auch bereits messend mit ihnen be- 
schäftigt und dabei eine ganz außerordentliche Empfind- 
lichkeit — sie ist psychologisch streng genommen stets 
Unterschiedsempfindlichkeit — dieses Sinnesgebietes ge- 
funden. So ist unter günstigen Umständen im Schulter- 
gelenk z. B. bereits eine passive Verschiebung von 0.3<* 
per Sekunde merklich (Goldscheider, 1898). Von beson- 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 201 

derer Wichtigkeit für die Psychologie sind die Versuche 
über die Unterschiedsschwelle der „Gewichtsempfindung" 
geworden. E. H. Weber hat damit (1846) die gesamte 
Psychophysik inauguriert, und in der Folge haben eben 
diese Versuche, in jüngster Zeit besonders durch die 
Arbeiten G. E. Müllers (1889, 1899), zu wertvollen Be- 
reicherungen nicht nur der Psychophysik, sondern der 
Psychologie überhaupt, vor allem der des Vergleichens und 
verwandter Prozesse, die Handhabe geboten. Auf das reiche 
Detail kann hier nicht eingegangen werden. — Die Unter- 
schiedsempfindlichkeit für gehobene Gewichte ist be- 
deutend größer als für solche, die der ruhenden Hand 
aufliegen und daher nur Haut-Druckempfindungen er- 
zeugen. 

9. Tastraumempfindungen. 

Ähnlich wie der Gesichtssinn liefern uns auch die 
Hautsinne neben und mit ihren spezifischen Qualitäten 
von Druck, Temperatur und Schm^z auch noch räum- 
liche Daten. Normalerweise ist mit einer Druckempfin- 
dung innerhalb gewisser Grenzen auch bereits die Kennt- 
nis, oder wenigstens die Möglichkeit der Kenntnis vom 
Orte der berührten Hautstelle, mit mehreren Druck- 
empfindungen die ihrer gegenseitigen Lage verbunden. 
Auch die kinästhetischen Empfindungen vermitteln räum- 
liche Daten; wir sind über die räumlichen Eigenschaften 
unserer Körperbewegungen, über ihre Kichtung, Ge- 
schwindigkeit und Weite mit beträchtlicher Genauigkeit 
unterrichtet. So vermögen wir uns nicht nur durch den 
Gesichtssinn, sondern auch durch die Empfindungen 
dieser Art von der Größe, Gestalt und Lage der uns 
umgebenden Gegenstände in weitem Ausmaß Kenntnis 
zu verschaffen, und für den Blinden ist dies die einzige, 
doch auch erstaunlich ausreichende Möglichkeit dazu. 

Was wir den objektiven Baum nennen, des werden 
wir also auf zweierlei Wegen inne: durch das Gesicht 
und durch das Getast zusammen mit dem kinästhetischen 
Sinn. Die beiderseitigen Daten stimmen im allgemeinen 
durchaus zusammen; der Eaum erscheint schließlich hier 
und dort als ein dreidimensionaler, und Abmessungen wie 



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202 II« Teil. Spezielle Psychologie. 

Richtungen erscheinen — von einzehien besonderer Be- 
achtung werten Ausnahmen abgesehen — gleich, ob sie 
auf diesem oder jenem Wege aufgefaßt werden. 

Der Gegenstand, von dem wir Kunde erhalten, ist 
also (in räumlicher Beziehung) bei beiden Sinnesgebieten 
durchaus derselbe. Die Empfindungen selbst aber, genauer 
die Empfindungsinhalte, die uns diese Kunde vermitteln, 
sind zweierlei, und verschieden, zunächst gewiß in bezug 
auf ihre spezifischen Sinnesqualitäten, hier Farbe, dort 
Berührung, Wärme usw., dann aber wohl auch in bezug 
auf den speziellen Inhaltsteil, der das räumliche Merk- 
mal ausmacht, das „Lokalzeichen**, wie wir ihn unter 
Wiederaufnahme eines althergebrachten, theoretisch stark 
aber verschiedenartig pointierten Terminus nennen wollen, 
nur daß es bezüglich dieses nicht so sicher und selbst- 
verständlich ist, wie bezüglich jenes. Auf jeden Fall steht 
die Psychologie vor der Aufgabe, Natur und Beschaffen- 
heit dieses Lokalzeichens klarzulegen. 

Dieser Aufgabe stehen jedoch erhebliche Schwierig- 
keiten entgegen. Es gelingt nämlich kaum je, die Tast- 
raumdaten rein und für sich gesondert zu erleben; die 
Vorstellungen der zugehörigen Daten des Gesichtsraumes 
sind durch so innige Assoziation mit ihnen verknüpft, 
daß sie sich im Verein mit den Tasfcraumdaten stets ein- 
stellen und besonders, wenn man sich dieser ausdrücklich 
zu entsinnen unternimmt, erst recht aufdrängen, ja gleich- 
sam vordrängen, weil wir auch sonst, wenn unser Geist 
mit Bäumlichem beschäftigt ist, die Aufmerksamkeit den 
im ganzen reichhaltigeren und leistungsfähigeren Daten 
des G^ichtssinnes zuwenden. So kommt es, daß, wenn 
wir an einer gegebenen Berührungsempfindung das tak- 
tile Lokalzeichen aufsuchen und näher besehen wollen, 
das Gesichtsbild des berührten Körperteiles, der berührten 
Hautstelle vor unserem geistigen Auge auftaucht und die 
ganze psychische Situation beherrscht; oder, wenn wir 
uns über die räumliche Gestalt eines Körpers durch Ab- 
tasten unterrichtet haben, und dabei offenbar ein ganzer 
Komplex taktiler Lokalzeichen in uns vorhanden war, 
sich dieser Komplex ganz unvermerkt und ohne daß wir 
seiner noch recht habhaft werden konnten, in das an- 
schauliche Gesichtsbüd der abgetasteten Gestalt umsetzt. 



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oogle 



1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 203 

Daß es aber weder von vornherein noch den vorliegenden 
Erfahrungen nach ausgemacht ist, daß dieses mit jenem 
seiner Natur nach identisch . ist, das geht schon daraus 
hervor, daß man die Frage aufwerfen und vielfältig dis- 
kutieren konnte, ob ein Blindgeborener, der vermittelst des 
Getastes eine Kugel, einen Würfel als solche zu erkennen 
vermag, wenn er durch Operation das Gesicht erlangt, 
nun auch sofort der gleichen Leistung vermittelst des 
Auges allein fähig ist. 

Es ist also der Psychologie bis heute noch nicht 
gelungen, über die Natur und Beschaffenheit der taktilen 
Lokalzeichen ins reine zu kommen. Der Meinungen sind 
freilich schon mannigfaltige aufgestellt, zur Entscheidung 
fehlt es noch ziemlich weit, und es besteht auch wenig 
Aussicht, daß sie, wie es zumeist bisher versucht worden 
ist, durch die bloße psychologische Analyse allein wird 
gefunden werden können; das Experiment wird wahr- 
scheinlich noch sehr Wesentliches mit zu arbeiten haben. 
Im allgemeinen scheiden sich die heute vorliegenden Theo- 
rien auch hier in nativistische und in genetische oder empi- 
ristische; sie fassen das Lokalzeichen entweder als ur- 
sprüngliches, nicht weiter zurückführbares direktes Emp- 
findungsdatum auf, oder als das Ergebnis des allmählichen 
Zusanomienwirkens verschiedener Vorstellungs- und Er- 
kenntniselemente, die an sich noch nichts von raumdar- 
stellenden Merkmalen enthalten. 

Sind also zwar die Grundfragen der Psychologie 
des Tastraumes noch in der Schwebe, so ist sie doch 
wenigstens im Speziellen schon sehr eingehend bearbeitet. 
Vor allem war das Interesse der Forscher der sogenannten 
Eaumschwelle zugewendet, der Ermittelung des klein- 
sten Abstandes, in dem die Berührung zweier Hautpunkte 
noch als gesondert, eben als die zweier Punkte, erkannt 
wird. Geht die Distanz der zwei berührten Punkte unter 
dieses Maß herab, so entsteht nämlich der Eindruck einer 
ausgedehnten Berührung, der sich immer mehr und mehr 
dem der Berührung eines einzigen Punktes nähert. Diese 
Kaumschwelle (Duplizitätsschwelle) ist an verschiedenen 
Hautstellen sehr verschieden, am kleinsten an der Zungen- 
spitze (1 mm) und den Fingerspitzen (2 mm), am größten 
auf der Eückenhaut (zirka 70 mm), im allgemeinen um 



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204 II' Teil. Spezielle Psychologie. 

SO kleiner, je beweglicher das untersuchte Glied, und 
in der Längsrichtung des Gliedes größer als in der Quer- 
richtung. (E. H. Weber, 1829.) Sie ist übrigens auch 
für ein und dieselbe Haustelle durchaus keine konstante 
Größe. Sie fällt wesentlich kleiner aus, wenn die beiden 
Berührungen nicht gleichzeitig, sondern nacheinander er- 
folgen. Sie laßt sich femer — was allerdings neuerlich 
nicht allgemein zugegeben wird — durch Übung sehr stark 
herabsetzen, wobei sich diese Herabsetzung nicht nur an 
der direkt bearbeiteten, sondern (durch Mitübung) auch 
an der symmetrischen Hautstelle der andern Körperhälfte 
und in geringerem Maße überhaupt auch sonst geltend 
macht. Geistige und körperliche Ermüdung ruft dagegen 
eine Vergrößerung der Kaumschwelle hervor. Werden 
die Keize möglichst genau auf einzelne Druckpunkte ein- 
geschränkt, so fallen die Werte sehr viel kleiner aus, 
wie denn überhaupt die Art der Berührung nach Stärke 
und Gleichheit der Keize von größtem Belang ist. 

Aus all dem geht hervor, daß die Raumschwellen, wie 
sie sich nach diesen Messungen ergeben, zunächst nicht 
die untere Distanzgrenze darstellen, bei der eben noch 
Empfindungen verschiedenen Lokalzeichens entstehen, son- 
dern die, bei der die verschiedenen Lokalzeichen eben noch 
als voneinander verschieden erkannt, auseinanderanalysiert 
werden können. Der alte Begriff des Empfindungs- 
kreises erfährt überdies auch schon durch die anatomi- 
schen Befunde eine Berichtigung ; er kann nicht mehr die 
kleinsten Hautbezirke bedeuten, die nur von einer einzigen 
Nervenfaser aus versorgt würden und deshalb in ihrer 
ganzen Ausdehnung nur Empfindungen eines und des- 
selben Lokalzeichens vermitteln könnten, denn die Nerven- 
fasern der Haut sind so sehr ineinander verflochten 
und verzweigt, daß es solche Bezirke gar nicht gibt; 
er ist nur mehr in dem rein empirisch-psychologischen 
Sinne beizubehalten als jener Hautbezirk, der sich 
nach keiner Kichtung über die Kaumschwelle hinaus 
erstreckt. \ 

Schließlich sei noch bemerkt, daß es irrig wäre zu 
meinen, die Lokalisation (Räumlichkeit) der Druckempfin- 
dungen sei mit der der Temperatur- und Schmerzempfin- 
dungen identisch; vielmehr muß man damit rechnen, daß 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. • 206 

sich andere Eaumschwelien ergeben, wenn nicht Druck-, 
sondern Temperatur- oder Schmerzreize verwendet werden. 
Doch liegen noch keine endgültigen Daten darüber vor, 
geschweige denn, daß bereits theoretische Konsequenzen 
erwogen worden wären. 

10. Vestibularempfindungen. 

Die Empfindungen, von denen unter diesem Titel 
die Bede sein soll, sind hier nach dem Nerveii benannt, 
durch den sie uns zugeführt werden. Der Vestibular- 
nerv tritt, mit dem der Gebörsempfindung dienenden 
Schüeckennerven zum sogenannten Hömerven (Vin. Ge- 
hirnnervenpaar) vereint, ins Labyrinth des Ohres ein, trennt 
sich dann von diesem ab und endigt mit eigenartig ge- 
stalteten Aufnahmsorganen in den Säckchen des Vorhofes 
sowie an den Ursprungsstellen (Ampullen) der drei zu- 
einander rechtwinklig orientierten Bogengänge, der sogen, 
halbzirkelförmigen Kanäle (siehe S. 139). Über seine 
Funktion war man bis vor kaum mehr als einem Menschen- 
alter noch völlig im unklaren. Dank den von Flourens 
(1828) eingeleiteten vivisektorischen Tierversuchen, die 
dann hauptsächlich von Goltz (1870) vervollständigt und 
gedeutet, von Mach und Breuer (1875) theoretisch ge- 
klärt worden sind, wissen wir nun, daß er der Perzeption 
und Begulierung von Lagen und Bewegungen unseres 
Körpers dient. 

Allerdings haben die kinästhetischen Empfindungen 
den Hauptanteil daran, wenn wir jeweils über die gegen- 
seitige Lage unserer Körperteile und ihrer Bewegungen 
unterrichtet sind, und auch für die Orientierung nach 
der Vertikalen geben sie uns im Gewichtseindruck ge- 
nügenden Anhalt. Jedoch die Vestibularempfindungen 
liefern dazu eine merkliche Ergänzung — die freilich 
für den Menschen nur unter besonderen Bedingungen 
von ausschlaggebender Bedeutung wird, etwa im Falle 
aufgehobener Schwerkraft, z. B. beim Tauchen unter 
Wasser, dafür aber für manche Tiergattungen um so 
wichtiger sein dürfte. 

Bei Exstirpation oder Verletzung der Bogengänge 
treten verschiedenartige nickende oder pendelnde Kopf- 



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206 • II' Teil. Spezielle Psychologie. 

bewegimgen ein, das Tier dreht sich nach einer Seite, 
läuft im Kreise statt geradeaus, fällt zur Seite, nach vorn 
oder hinten. Durch künstliche Eeizung des Vestibular- 
organes, etwa mittels elektrisclien Stromes, entsteht die 
Empfindung des Drehschwindels. Ist das Organ durch 
Krankheit, wie z. B. bei vielen Taubstummen, funktions- 
untüchtig, so kann durch Drehung des Körpers um die 
vertikale Achse nicht wie sonst Drehschwindel erzeugt 
werden. Der Gesunde hat in diesem Falle ungemein 
deutlich die (fälschliche) Empfindung einer der zuvor 
wirklich ausgeführten entgegengesetzten Bewegung, eine 
Empfindung, die im Kopf lokalisiert ist und die gewisser- 
maßen das negative Nachbild der sonst qualitativ durch- 
aus gleichartigen, nur entgegengesetzt gerichteten Dreh- 
epapfindung ausmacht, die sich während der wirklichen 
Drehbewegung im Kopfe einstellt, zwar leicht über- 
sehen wird und unbeachtet bleibt, bei ausdrücklich 
darauf gerichteter Aufmerksamkeit jedoch sehr wohl zu 
erkennen ist. 

Die physiologische Funktionsweise des Vestibular- 
organes besteht höchstwahrscheinlich darin, daß die in 
den Bogengängen enthaltene Flüssigkeit bei Drehbe- 
wegungen des Kopfes vermöge der eigenen Trägheit nur 
allmählich der Bewegung folgt, demnach Verschiebungen 
g^en die Wandungen erfährt, in Strömung gerät 'und dabei 
die feinen Härchen, die in den Ampullen stehen, aus- 
biegt; und femer darin, daß die Otolithen, winzige 
Steinchen, die in den Säckchen des Vorhofs auf Büscheln 
aufrecht stehender Härchen auflagern, je nach der Neigung 
des Kopfes in verschiedener Richtung einen Druck auf 
diese ihre Unterlage ausüben. 

11. Geruchsempfindungen. 

Das Interesse der Forscher hat sich in den letzten 
Jaliren den Ger!uchsempfindungen intensiv und erfolg- 
reich zugeweadet, unsere Kenntnis dieses Gebietes be- 
findet sich jedoch dermalen gleichwohl erst im Stadium 
ungefährer Vorentwürfe. Aber schon dieses Stadium läßt 
erkennen, daß von der näheren Klärung der hier ver- 
borgenen Probleme wertvolle Aufschlüsse für die Phy- 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 207 

siologie und Psychologie a,uch angrenzender und allge- 
meinerer Fragen zu erwarten sind. 

Die Mannigfaltigkeit der qualitativ verschiedenen 
Greruchsempfindungen ist ungemein groß, ja geradezu un- 
übersehbar. Daß sie indes tatsächlich als unübersehbar 
bezeichnet werden kann, das liegt nicht so sehr an der 
ganz unbestimmbar großen Zahl, als vielmehr daran, daß 
sich die Geruchsempfindungen nicht, wie die ja gleich- 
falls sehr inhaltsreichen l^toimigfaltigkeiten der Farben 
oder Töne, in eine natürliche Ordnung bringen lassen. 
Wenigstens gut dies für den heutigen Stand unserer Kennt- 
nis. Vielleicht wird das einmal anders. Vielleicht gelingt 
es einmal, ähnlich wie beim Licht- und Farbensinn, auch 
hier, Grundempfindungen ausfindig zu machen, aus deren 
Zusammenwirken sich alle übrigen verstehen lassen; die 
sogleich anzuführenden Tatsachen der partiellen Er- 
müdung, der Mischung und Kompensation von Gerüchen 
bahnen dies möglicherweise auch schon an. Vielleicht 
gelangen wir durch intensivere Betrachtung und Ver- 
gleichung der mannigfaltigen Empfindungsqualitäten selbst 
sogar noch dazu, ein System von Dimensionen heraus- 
zufinden, in das sie sich natürlich eingruppieren. Vor- 
erst ist es zu allem dem noch mächtig weit. Zurzeit 
müssen wir uns damit begnügen, aus der gesamten Mannig- 
faltigkeit Gruppen von ähnlichsten Qualitäten herauszu- 
heben, wobei jedoch die Bildung und Abgrenzung der 
Gruppen an sich bereits höchst arbiträr bleibt und über- 
dies weder innerhalb der einzelnen Gruppen noch im 
Verhältnis der Gruppen zueinander auch nur der Schein 
eines natürlich ordnenden Prinzips zur Geltung kommt. 
Das spricht sich schon in der nicht geringen AjizbüiI der 
verschiedenen hierher gehörigen Versuche aus. Doch hat 
man sich heute so ziemlich an eine Einteilung gewöhnt, 
die in der Hauptsache von Linnö (1759) stammt, neuer- 
dings von Zwaardemaker (1895) wieder aufgenommen und 
durch Hinzufügung von zwei Klassen ergänzt worden 
ist. Sie lautet: 

1. Ätherische Gerüche (Wein, Wachs) ; 2. Aromatische 
Gerüche (Terpentin, Anis, Menthol); 3. Balsamische Ge- 
rüche (Orange, Vanille); 4. Moschusartige Gerüche (Mo- 
schus, Ambra) ; 5. Zwiebelartige Gerüche (Zwiebel, Jod) ; 



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208 il* Teil. Spezielle Psychologie. 

6. Brenzliche Gerüche (Tabak, Kaffee, Teer); 7. Bocks- 
gerüche (Schweiß, Käse, Kaprylsäure) ; 8. Widerliche Ge- 
rüche (Wanzen); 9. Ekelhafte Gerüche (Fäulnis). 

Man sieht der Einteilung die Systemlosigkeit sofort an, 
und schwerer wiegende Bedenken sind von ihrem eigenen 
Boden aus gegen sie erhoben worden. Immerhin ist sie 
das beste, was wir bis heute in dieser Sache haben. 

Die adäquate Beizung des Geruchsorganes geht durch 
chemische Wechselwirkung zwischen der Eiechsubstanz 
und den Endigungen des Riechnerven vor sich. Für den 
Aggregatzustand der Eiechsubstanz scheint es eine Be- 
schränkung nicht zu geben; wenigstens hat der alte Ver- 
such E. H. Webers (1847), demzufolge die riechende 
Substanz in gas- oder dampfförmigem Zustande in die 
Nase kommen müsse, auf Grund neuerer Untersuchungen 
(Aronsohn, 1886) Widerspruch erfahren, so daß die Mög- 
lichkeit, daß das Geruchsorgan auch durch Flüssigkeiten 
dirett erregbar ist, immerhin im Auge behalten werden muß. 
— Eine allgemeine chemische Charakteristik der Eiech- 
stoff e ist bisher noch ebensowenig gelungen wie eine natür- 
liche Systematik der Gerüche; man weiß dermalen nichts 
Wesentliches darüber, welche chemische Eigenschaft die 
Eiechbarkeit einer Substanz ausmacht. — Eine inadäquate 
Eeizung des Geruchsorganes ist durch Elektrizität herbei- 
zuführen. 

Mit einem einfachen Apparat, dem Olfaktometer 
(Zwaardemaker, 1895), lassen sich quantitative Unter- 
suchungen des Geruchsinnes vornehmen. Die in die Nase 
eingezogene Luft streicht durch aus der Eiechsubstanz 
hergestellte Eöhrenstücke von variabler, meßbarer Länge. 
Als Einheit gilt die „Olfaktie", d. i. die Geruchsstärke 
der Luft, die durch ein 1 cm langes, 5 mm weites Kaut- 
schukrohr hindurchgegangen ist Sie entspricht im all- 
gemeinen der normalen Eeizschwelle. 

Die Eeizschwelle ist übrigens ungemein variabel je 
nach individueller Anlage und dem augenblicklichen Adap- 
tationszustande. Bei Weibern, noch mehr bei Kindern, 
scheint sie weit niedriger zu sein als bei Männern.. 
(Vaschide, 1899.) Durch Ermüdung infolge dauernder 
Einwirkung eines Geruches steigt sie nach und nach so 
hoch, daß die Geruchsempfindung schließlich ganz aus- 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 

bleibt. Die Ermüdung ist meist eine partielle, d. h. 
sie betrifft zunächst nur eine ganz begrenzte Zahl 
von Geruchsqualitäten, während die Empfindlichkeit für 
andere nur wenig, für alle übrigen gar nicht tangiert 
erscheint. • ' 

Unter günstigen Umstanden läßt sich wirkliche 
Geruchskompensation — nicht nur Übertäuben eines 
Geruches durch einen andern noch stärkeren, sondern tat- 
sächliche Aufhebung desselben — beobachten. Kautschuk- 
und Wachsgeruch, in richtigem Verhältnis, etwa mittelst des 
Doppelolfaktometers den beiden Nasenlöchern zugeführt, 
löschen einander gänzlich aus. — Die Mischgerüche stehen 
in gewisser Analogie zu den Mischfarben. Sie kommen 
durch gleichzeitige Einwirkung der Komponenten-Gerüche 
zustande, scheinen aber von ebenso einfacher Qualität 
wie diese und von ihnen verschieden. Vanillin und Brom, 
Terpentin und Xylol z. B. sollen solche Mischgerüche 
ergeben. (Nagel, 1897.) 

Soweit sich Unterschiedsschwellen mit dem Olfakto- 
meter messen lassen, hat man gefunden, daß die Geruchs- 
empfindungen ihrer Intensität nach im großen Ganzen 
dem Weberschen Gesetze entsprechen. — 

Das Organ, an dem der physische Geruchsreiz an- 
zugreifen hat, also das eigentliche Geruchssinnesorgan, 
liegt in der sogenannten Regio olfactoria, ein beim 
Menschen im Vergleich zu den andern Wirbeltieren sehr 
kleines Gebiet der Nasenschleimhaut in der obersten, schon 
sehr schwer zugänglichen der drei Nasenmuscheln. Es 
zeichnet sich durch deutliche braungelbe Färbung aus 
und enthält zwischen zylindrischen Epithelzellen die Ur- 
sprungszellen des Riechnerven, deren zentralwärts ab- 
gehende Fasern zu mehreren dünnen Strängen vereinigt 
durch die Lücken des Siebbeins in die Schädelkapsel ein- 
dringen, um dort sogleich in den Riechkolben zu endigen. 



12. Geschmacksempfindungen. 

Es ist nicht zu verkennen, daß die Empfindungen des 
Geschmacks denen des Geruchssinnes auffallend nahestehen 
und in ihrem psychischen Aspekt eine gewisse Ahnlich- 

Witasek, Onmdlinien der Paychologie. 14 

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210 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

kelt mit dieBen zeigen. Gleichwohl hat die theoretische 
Betrachtung auf tiefgehende Verschiedenheiten zwischen 
beideü Sinnesgebieten hinzuweisen. 

Die merkwürdigste davon liegt wohl an der Quali- 
tätenzahl. Der unzählbaren Menge verschiedener Geruchs- 
qualitaten stehen nur vier, höchstens sechs verschiedene 
Geschma<cksqualitäten gegenüber. Der Geschmackssinn 
gleicht darin eher dem Temperatursinn mit seinen zwei 
Qualitäten des Warmen und Kalten. Nur lassen sich seine 
Qualitäten nicht so schön in eine Eeihe ordnen wie diese. 
Süß, bitter, sauer und salzig — das sind sie nämlich — 
stehen fast ganz beziehungslos nebeneinander und geben 
keine Anhaltspunkte zu einer innerlich begründeten An- 
ordnung. Ob diesen vieren noch das Metallische und das 
Laugenhafte als eigene Geschmacksqualitäten anzureihen 
ist, kann heute nicht «itschieden werden; vielleicht sind 
sie als Mischgeschmäcke anzusehen. 

Fürs erste mag es befremden, daß isich die doch 
recht ansehnliche Geschmacksmannigfaltigkeit nur schon 
unserer Speisen auf eine Vierzahl reduzieren soll. Aber 
das ist auch gar nicht verlangt; diese Mannigfaltigkeit 
bleibt unverkürzt bestehen. Doch ist sie im strengen 
Sinne nicht Geschmacksmannigfaltigkeit. Sie enthält 
nicht reine, einfache Geschmäcke im psychologischen 
Sinne, sondern vielmehr zusammengesetzte Sensationen, 
in denen Geruchs- und Tastsinneselemente eine ausgiebige 
Eolle spielen. Besonders Gerüche machen einen sehr 
großen Teil, bisweilen nahezu alles von dem aus, was 
wir den Geschmack einer Speise nennen. Man kann sich 
davon leicht überzeugen, wenn man die Speisen bei zu- 
gehaltener Nase in den Mund einführt und verschluckt. 
Die verschiedensten „Geschmäcke" sind dann nicht von- 
einander zu unterscheiden, z. B. Apfel und Zwiebel. Der 
Geruch dringt eben normalerweise zuerst von außen und 
beim Verschlucken von innen aus in die Nase ein und 
verschmilzt mit dem allfälligen Geschmack und den 
gleichzeitigen Tastempfindungen des Harten, Glatten, 
Eauhen, Herben, Scharfen usw. zu einem einheitlichen 
Eindruck, aus dem der Anteil der verschiedenen Sinnes- 
gebiete nur bei eigens darauf gerichteter Analyse heraus- 
zukefonen ist. 



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1. Hälfte: PByohologie de» G.eisteslebens. 211 

Als peripheres Sinnesorgan des Geschmacks sind die 
sogenannten Geschmacksknospen anzusehen, zirka 0.08 mm 
lange, 0.04 mm dicke knospenförmige Zusammenordnungen 
von zweierleiartigen, zum Teil länglichen Zellen, zwischen 
denen die sensorischen Nervenfasern liegen. Solche Ge- 
sehmacksknospen finden sich zusammengehäuft in dreierlei 
Arten von Papillen, von denen die einen (papillae circum- 
vallatae), die weitaus größten, in geringer Anzahl am 
hinteren Teil des Zungenrückens, andere (foliatae) in der 
Nähe an den Zungenrändem, andere (f ungiformes) an der 
Zungenspitze liegen. Nur die bezeichneten Gebiete der 
Zunge sind in leistungsfähigem Maße geschmacksempfind- 
lich. Es finden sich jedoch auch sonst freie, vielleicht der 
Geschmacksempfindung dienende Nervenenden in der 
Zungenschleimhaut, und die Rückseite des Gaumensegels 
ist höchstwiahrecheinlich der Ort des sogenannten gusta- 
torisehen Riechens, nämlich der z. B. beim Einziehen von 
Chloroformdämpfen durch die Nase entstehenden süß- 
lichen Geschmacksempfindung. (Rollett, 1899.) 

Als adäquater Reiz des Geschmackssinnes kommen 
Stoffe in Bietracht, die, wenn auch nur in minimalstem 
Quantum, in der Mundflüssigkeit gelöst sind. An welcher 
ch«nischen odar physikalischen Eigenschaft es liegt, daß 
ein Stoff Geschmack hat, ist dermalen noch unergründet, 
geschweige denn, woran es liegt, daß der eine süß, der 
andere sauer usw. schmeckt. — Ob Elektrizität als inadä- 
quater Gesehmacksreiz zu verzeichnen ist, da, wie schon 
vor langer Zeit (Sulzer, Volta) beobachtet wurde, der 
galvanische Strom auf der Zunge die Empfindung von 
sauer an der Anode, von laugenhaft oder bitter an der 
Kiithode hearvorbringt, ist trotz ungemein zahlreicher und 
mannigfaltiger hierauf gerichteter Untersuchungen auch 
heute immer noch strittig, weil es bisher nicht gelungen 
ist, den Einwand auszuschalten, daß diese Geschmacks- 
empfindungen auf adäquatem Wege durch allfällige Elek- 
trolyse des Speichelbelages zustande kommen. 

Zur Messung der Reizschwelle bestimmt man am 
einfachsten die geringste Gewichtsmenge der Reizsub- 
stanz, die eben noch Empfindung hervorruft. Freilich 
muß man, da die Reizsubstanz in gelöstem Zustande mit 
der Zunge in Berührung zu bringen ist, darauf achten, 

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212 n. Teil, Spezielle Psychologie. 

daß diese Gewichtsmenge sehr wesentlich von der Menge 
der zum Schmecken gebrachten Flüssigkeit, also von der 
Konzentration der Lösung abhängig ist. Überdies ist auch 
die Größe der gereizten Schleimhautfläche, die Dauer und 
vor allem auch die Art der Applikation des Reizes (Be- 
spülen, Betupfen, Einreiben) und noch manches andere 
auf den Ausfall der Beizschwelle von Einfluß, so daß es 
nicht zu verwundern ist, daß die zahlreichen, von ver- 
schiedenen Forschem Vorgenoinmenen Messungen nur 
innerhalb sehr weiter Grenzen zusammenstimmen. Allge- 
mein hat sich ergeben, daß die Empfindlichkeit für sauer 
und besonders für bitter bedeutend größer ist als die für 
salzig und süß (wobei vorausgesetzt wird, daß die Prüfung 
mit den vier dazu zumeist verwendeten Stoffen: Chinin- 
sulfat, Schwefelsäure, Kochsalz, Zucker erfolgt). Um eine 
Vorstellung von der Größenordnung der Zahlen zu geben, 
sei angeführt, daß 0.24 g Zucker in 20 cm» "Wasser ge- 
löst und auf die Zunge gespült, gerade noch eine Spur 
von süßem Geschmack erg^eben, und daß sich für Chinin 
noch mehr als tausendfach geringere Werte zeigen 
(Valentin, 1848). — Wichtig ist auch, daß sich die ein- 
zelnen Papillen, ja ganze Partien der Zunge für ver- 
schiedene Geschmacksqualitäten in verschiedenem Maße 
empfindlich zeigen, die Zungenwurzel vorwi^end für 
bitter, die Spitze für süß ; ja man hat sogar behaupten zu 
dürfen gemeint, daß jede Substanz je nach der Reizstelle 
verschiedenen Geschmack hervorruft. Es scheint daraus 
hervorzugehen, daß die einzelnen Geschmacksknospen für 
die verschiedenen (3eschmacksreize verschiedene'spezifische 
Disposition haben. Ob etwa viererlei Geschmacksfaserarten 
von verschiedener spezifischer Energie anzunehmen sind, 
ist strittig. — Über die Unterschiedsempfindlichkeit des 
Geschmackssinnes läßt sich derzeit noch nichts einiger- 
tnaßen Bestimmtes beibringen. 

Von großem theoretischen Interesse ist eine Beihe 
von Tatsachen, die sich recht natürlich zu den Umstim- 
Inungs- und Kontrasterscheinungen des Lichtsinnes in 
Analogie stellen lassen. Nach Ausspülen des Mundes tait 
dem schwach schmeckenden Kaliumchlorat schmeckt reines 
Wasser süßlich. (Nagel, 1896.) Die Säure des Weines 
ist merklicher nach süßen Speisen. Als Mischungs- und 



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1. Hälfte: Psychologie dea Geisteslebens. 213 

zugleich Kompensationserscheinung erweist es sich, daß 
eine schwache Zucker- mit einer schwachen Salzlösung 
zusammen einen schwachen laugig-faden Geschmack er- 
gibt, der weder etwas von süß noch von salzig enthält. 
(Kiesow, 1896.) Nicht sowohl als reine Kompensations- 
erscheinung kann es aufgefaßt werden, wenn wir bitteren 
Getränken durch Zucker etwas von ihrem bitteren Ge- 
schmack benehmen oder gar, wenn der Apotheker unan- 
genehm schmeckende Medikamente durch Zusatz von stark 
riechenden oder einen Hautreiz ausübenden Substanzen! 
(Pfefferminze, Orange) erträglich zu machen sucht. Aber 
all diese übrigens ungemein mannigfaltigen Tatsachen sind 
trotz einiger wertvoller darauf gerichteter Arbeiten im 
einzelnen noch zu wenig genau bekannt, um mit Erfolg 
dem Versuch einer theoretischen Erklärung unterzogen 
werden zu können. 

13. Organempfindungen. 

Unsere bisherige Betrachtung der verschiedenen 
Sinnesgebiete hat sich im wesentlichen auf den Fall be- 
schränkt, daß die zur Geltung kommenden Eeize als phy- 
sikalische Vorgänge von außen an den körperlichen Or- 
ganismus herantreten; die Sinnesorgane, von denen wir 
dabei zu sprechen hatten, liegen demgemäß ziemlich 
an der Oberfläche des Körpers. Nun gibt es aber 
auch im Innern des Organismus allenthalben sensoriell 
erregbare Nervenendigungen, und die Eeizvorgänge, welche 
von diesen aufgenommen werden, sind in der Eegel nicht 
in äußeren, physikalischen, sondern in inneren, physio- 
logischen Vorgängen, zumeist den Funktionen der ver- 
schiedenen Innenorgane, gegeben. Dies ist der Gesichts- 
punkt, nach dem man schon seit E. H. Weber das Gemein- 
gefühl, besser die Gemeinempfindungen, oder, .wie man 
sie gegenwärtig zu benennen pflegt, die Organempfin- 
dungen von den übrigen Empfindungen zu unterscheiden 
sich gewöhnt hat. 

Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um eine 
scharfe Grenze. Dem subjektiven Eindrucke nach kann 
unter Umständen auch einmal ein und dieselbe Empfin- 
dung sowohl als äußere wie als Organempfindung auf- 

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214 n* "^^^ Spezielle Psychologie« 

gefaßt werden, z. B. eine Wärmesensation, je nachdem 
£|ie für subj^tiven oder objektiven Ursprungs gehalten 
wird. Die Organempfindungen sind nämlich ihren Grund- 
qualitäten nach, wenn überhaupt, so gewiß nicht durch- 
wegs von eigenartiger Qualität. Sie sind vielmehr in der 
Hauptsache Druck-, Temperatur- und, wenn wir diese 
„Empfindungs"art beibehalten wollen, Schmerzempfin- 
dungen ; freilich meist höchst komplexer Natur, im Innern 
des Körpers diffus lokalisiert. Ob es irgend welche Organ- 
empfindungen von anderer, besonderer, eigenartiger Quali- 
tät gibt, erscheint fraglich 

Di^ große Manni^altigkeit der verschiedenen Organ- 
empfindungen, die wir kennen, kommt wohl zumeist durch 
die verschiedene Art des Aufbaues des Komplexes aus 
den Elementarempfindungen und durch die verschiedene 
Lokalisation zustande. Aber erst wenn wir zu diesen zu- 
nächst rein empfindungsmäßigen (sensoriellen) Bewußt- 
seinserlebnissen auch, noch die begleitenden Gefühlstat- 
sachen hinzunehmen, die gerade hier eine ganz besonders 
große EoUe spielen und leicht beträchtliche Intensität auf- 
weisen, erst dann bekommen wir jene Gesamtkomplexe, 
die dem gewöhnlichen Leben so außerordentlich gelaufig 
und wichtig, und die daher von der Sprache mit eigenen 
Namen belegt sind. Freilich sind die Bezeichnungen oft 
auch von denen der zugehörigen Organe oder organischen 
Funktionen abgeleitet. Fast in allen Fällen aber ist auch 
dem üngelehrten der Zusanimenhang dieser eigenartigen 
Bewußtseinserlebnisse mit dieser oder jener vitalen Funk- 
tion des Organismus sehr wohl bekannt. Dies gilt von 
Hunger, Durst, Sättigung, Übelkeit, Ekel, Beklemmung, 
Ermüdung usw. Andere werden weniger auf ein einzelnes 
Organsystem als auf den gesamten Organismus bezogen, 
wie Aufregung, Euhe, Schwäche, Mattigkeit usw., bei 
denen allerdings der Anteil der Organempfindungen 
gegenüber dem der begleitenden Gefühle und der Cha- 
rakteristik, die der Gesamtzustand von der jeweiligen Art 
des Ablaufs des ganzen geistigen Lebens erhält, bisweilen 
stark zurücktritt. 

Die Organempfindungen stehen jedoch mit Gefühlen 
nicht nur als dwen Erreger in Verbindung, nicht nur so, 
wie z. B. gewisse Empfindungen im Verdauungstraktus 

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1. Hälfte: Psychologie des Oelsteslebens. 215 

Gefühle des Unbehagens hervorrufen ; das Verhältnis kann, 
zunächst wenigstens äußerlich betrachtet, auch umgekehrt 
sein, so daß irgend welche Gefühle, deren Ursprung von 
bloßen Empfindungen ßchon sehr weit abliegt, etwa in 
rein Gedanklichem begründet ist, z. B. die Freude über 
die bevorstehende Ankunft meines lang vermißten Freun- 
des, Anlaß werden zu besonderen Veränderungen, zumeist 
im Blutkreislauf und der Atmung, die als Organempfin- 
dungen zum Bewußtsein kommen und als solche ein über- 
aus wesentliches Charakteristikum des gesamten emotio- 
nalen Zustandes abgeben. Wir werden von der Kolle, 
welche solche Organempfindungen als Begleittatsachen von 
(„höheren") Gefühlen spielen, später noch etwas genauer 
zu sprechen haben. 

14. „Zeitempfindungen." 

Die Anführungszeichen der Überschrift sollen an- 
deuten, daß es sich hier um eine problematische Sache 
handelt Lautete sie Zeitvorstellungen, so wäre kein 
Anlaß dazu; denn die Tatsächlichkeit von Zeitvorstel- 
lungen ist außer Frage. Augenblick, Gegenwart, Ver- 
gangenheit, Ehythmus, Dauer, Stunde, Ewigkeit, Vorher, 
Nachher sind Beispiele dafür, Beispiele, in denen auch 
schon ihre Mannigfaltigkeit teilweise zum Ausdruck 
kommt. Das Problematische hängt an der Zeitempfin- 
düng. Gibt es Zeitempfindungen im eigentlichen Sinne, 
oder ist es unzulässig, vielleicht gar sinnlos, solche an- 
zunehmen ? 

Die Frage nach dem Ursprung unserer Zeitvorstel- 
lungen ist unausweichlich, und die nächstliegende Ant- 
wort wäre hier wie bei allen analogen Fragen der Hin- 
weis auf Empfindung. Dieser Hinweis fände eine Stütze 
darin, daß sich der Inhalt der Zeitvorstellung in letzter 
Linie als einfach und nicht auf anderes zurückführbar 
erweist; vielleicht auch darin, daß wir die — gleichviel 
ob richtige oder fehlerhafte — Kenntnis der zeitlichen 
Verhältnisse in den Außendingen zweifellos mit Hilfe der 
Empfindung erlangen, die Dauer eines Tones z. B. direkt 
nur so erfahren, daß wir ihn hören. Dagegen ist ^es 
schwer, die Frage nach dem äußeren Beiz und nach dem 

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216 n* Teil» Spezielle Psychologie, 

Sinnesorgan einer Zeitempfindung befriedigend zu beant- 
worten. Was wir uns als objektive, wirkliche Zeit vor- 
stellen, dem wird man die Funktion des Sinnesreizes in 
ähnlicher Weise, wie etwa dem objektiven Lichte fürs 
Auge oder dem objektiven Schall fürs Ohr kaum zu- 
schreiben wollen. Und von den einzelnen Sinnesgebieten 
ist, anders als beim Eaume, jedes oder keines das der Zeit- 
empfindung; denn jede Empfindung gleichviel welches 
Sinnes hat Zeitbestimmungen, nur daß nicht alle Sinne 
die zeitlichen Verhältnisse der äußeren Reize gleich genau 
wiedergeben. Dagegen ist die Fiktion plausibel, daß uns das 
Bewußtsein des Zeitablaufs, auch wenn wir einmal gar 
keine Empfindungen irgend welcher Art hätten, trotz- 
dem nicht verloren ginge oder wenigstens gehen müßte; 
so daß das Erfassen der Zeit wohl nicht an die Funktion 
eines Sinnesorganes gebunden sein kann. — Gibt es ferner 
wirklich ein eigenes Empfindungsgebiet, die Zeitempfin- 
dungen, so weist es jedenfalls eine besondere Merkwürdig- 
keit insofern auf, als es qualitativ nur eine einzige Empfin- 
dung enthält und die ganze Mannigfaltigkeit des Gebietes 
auf 1 eingeschränkt hat: die Empfindung der Gegenwart, 
die an sich immer ein und dieselbe scheint. Dagegen bleiben 
andere nicht minder belangreiche Zeitvorstellungen von 
vornherein gänzlich außerhalb jeder Empfindungsmöglich- 
keit, und da sie inhaltlich von der der Gegenwart ver- 
schieden sind, so müßte für sie auf jeden Fsdl noch ein 
anderer Ursprung nachgewiesen werden, als der der reinen 
Empfindung: die Vorstellungen vergangener und zukünf- 
tiger Zeiten sowie die von einigermaßen längeren Dauern. 
Denn die Empfindung kann naturgemäß nur dem Gegen- 
wärtigen zugewendet sein, und das anschauliche Erfassen 
einer Zeitstrecke in einem Akte geht über ganz wenige 
Sekunden nicht hinaus. 

Diese und ähnliche Schwierigkeiten haben vielfach 
zu eigenartiger Sonderbehandlung des psychologischen 
Zeitproblems geführt. Kant hebt das zeitliche gleichwie 
das räumliche Datum unserer Empfindungen, ja Vor- 
stellungen überhaupt, ganz aus der Analogie der übrigen 
Inhaltsmerkmale heraus und stellt es diesen als bloße, 
rein subjektive Form der Anschauung a priori, der nichts 
im Ding an sich entspricht, entg^en. Seine Gründe 



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1. Hälfte: Psychologie des CreiBteBlebens. 217 

scheinen jedoch für eine so weit gehende Position nicht 
auszureichen. 

Die neueren Bearbeitungen des Problems sondern 
sich, gleich denen vom Ursprung der ßaumvorstellung,* 
nach den gegensätzlichen Gesichtspunkten des Nati- 
yismus und des Empirismus. Der nativistischen Auf- 
fassung gilt die Zeit geradeso als Gegenstand direkter, 
eigentlicher Empfindung wie etwa Farbe oder Wärme. 
Freilich muB sie der eigenartigen Sachlage doch noch 
des näheren Bechnung tragen. So nimmt sie z. B. als 
adäquaten Eeiz der spezifischen Zeitempfindung einen 
inneren organischen Vorgang an, die „organische Kon- 
sumption", womit der physiologische Prozeß, der der 
Arbeit des Aufmerkens zugrunde liegt, gemeint ist. (Mach, 
1886.) Die genetischen oder empiristischen Theorien sind 
recht yerschieden ausgestaltet worden; sie kommen darin 
überein, daß sie die Zeitperzeption durch sogenannte psy- 
chische Synthese oder Verschmelzung aus Bewußtseins- 
Tatbeständen zustande kommen lassen wollen, die an sich 
etwas ganz andersartiges darstellen. Sei es nun aber, daß 
als solche Temporalzeichen die sukzessive in immer 
höherem Grade abdunkelnden Gedächtnisresiduen von den 
der Beihe nach gegenwärtigen Eindrücken (Lipps), sei es, 
daß Spannungsempfindungen von Muskelkontraktionen 
(Münsterberg) oder periodisch wechselnde Gefühle der 
Erwartung und Erfüllung (Wundt) dafür gelten sollen, 
keine dieser Theorien gibt, von anderen, spezielleren 
Schwierigkeiten abgesehen, auf die unausweichliche Frage 
Auskunft, wie und warum denn aus diesen so ganz hetero- 
genen Elementen die Zeitvorstellung zu resultieren vermag. 

So dürfte folgender Lösungsversuch, trotzdem er sich 
nur primitiver, naheliegender Mittel bedient, vielleicht 
immer noch am annehmbarsten erscheinen.^) Es ist jeden- 
falls außer aller Frage, daß unser psychisches Leben in 
der Zeit abläuft; jeder psychische Tatbestand tritt zu 
bestimmter Zeit ein, dauert eine gewisse Zeit hindurch 
und endet zu bestimmter Zeit. Zu den Eigenschaften 
eines jeden psychischen Tatbestandes gehört also eine 



1) Er berührt sich, wenn ich recht sehe, am lüchsten mit der 
Auf&nmig Meumanns (1898—1896). 



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218 IL ^®ü« Spezielle Psycliologie« 

gewisse zeitliche Bestimmtheit. Diese Zeitbestimmtheit ist 
aber immerhin noch etwas geradezu Objektives; ein Ge- 
fühl, ein Gedanke hat seine Zeit geradeso, wie eine Muskel- 
kontraktion, ein Windstoß oder sonst ein physisches Ge- 
schehen sie hat, es reihen sich die psychischen Tatsachen 
gleichwie die physischen ein in den Ablauf der Zeit. 
Das ist erst die Zeit, man möchte sagen die Äußere 
Zeit des Gefühls, des Gedankens, der Vorstellung; aber 
um die Zeitvorstellung handelt es sich uns. Die beiden 
sind nicht dasselbe; die Zeit einer Vorstellung und die 
vorgestellte Zeit fallen nur in Ausnahmefällen zusanmien. 
Jede Vorstellung hat eine bestimmte Zeit, spielt sich ab 
zu einer bestimmten Zeit; nur verhältnismäßig wenige 
Vorstellungen haben Zeit zum Gegenstande, sind also Zeit- 
vorstellungen. Und selbst bei Zeitvorstellungen ist es nur 
ein spezieller Fall, wenn die vorgestellte Zeit mit der 
Zeit der Vorstellung identisch ist ; nämlich der, daß gerade 
die augenblickliche G^enwart vorgestellt wird. Schon 
aus diesem Grunde also und noch ganz abgesehen von 
dem begrifflichen, wie sachlichen Unterschied zwischen 
Vorstellungszeit und Zeitvorstellung ist mit dem Nach- 
weis der durchgängigen zeitlichen Bestimmtheit des Psy- 
chischen für die Frage nach dem Ursprung der Zeit- 
vorstellung direkt noch nichts geleistet. Aber er ist des- 
halb nicht belanglos; er bildet den Ausgangspunkt zor 
Beantwortung. 

In der inneren Wahrnehmung erkennen wir die Eigen- 
schaften und Merkmale der bewußten psychischen Tat- 
sachen. Sind, worauf eben hingewiesen worden ist, die 
psychischen Tatsachen unter anderem auch mit einem 
Zeitmerkmal versehen, so werden wir in der inneren Wahr- 
nehmung auch dieses Merkmal erfassen und damit ohne 
weiteres zur Zeitvorstellung, zunächst zur Gegenwart- 
vorstellung gelangen müssen. 

Ist ds^nit vorerst wohl nur die Zeit des Vorstellens, 
allgemein des Psychischen erfaßt, so führt es doch auch 
bereits zum Erfassen der Zeit des Vorgestellten und des 
Physischen. In der Empfindung nimmt nicht nur der 
Akt des Empfindens, sondern auch der Inhalt an der Zeit- 
bestimmtheit teil. Mittelst des Inhaltes erfassen wir 
jedoch den empfundenen Gegenstand; wir übertragen die 

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1. Hälfte: Psychologie des G^eisteslebens. 21 Ö 

Merkmale des Inhaltes in gewisser, nicht näher zu be- 
schreibender "Weise auf den Gegenstand, und damit auch 
seine Zeitbestimmtheit. So gelangen wir zur Vorstellung 
der Zeitbestimmtheit von Physischem. Tatsache ist, daß 
uns ursprünglich ein Licht, ein Ton dann und so lange 
gegenwärtig erscheint, als wir die Empfindung davon 
haben. 

Da nun im tatsächlichen, objektiven Ablauf der Zeit 
kontinuierlich neue und immer neue Augenblicke einander 
folgen, von denen jeder von allen früheren und allen fol- 
gend^i verschieden ist, so nehmen wir auch immer neue, 
andere Zeitmerkmale lan den einander folgenden psychi- 
schen und physischen Tatsachen wahr; die — reprodu- 
zierte — Vorstellung solcher nicht eben erst, sondern 
bereits früher einmal wahrgenommener Zeitmerkmale ist 
die Vorstellung der Vergangenheit. 

Es ist außer Präge, daß damit nur eine selbst jin 
den Grundzügen, vom Speziellen ganz zu geschweigen, 
noch lückenhgJte Lösung des Problems skizziert ist. Ebenso 
sicher aber scheint es, daß diese Skizze den natürlichen 
Ausdruck des empirisch-psychologischen Sachverhalts dar- 
stellt. Was die empirische Psychologie am allgemeinen 
Ursprung der Zeitvorstellung interessiert, das ist in der 
Hauptsache damit erledigt. Die sonst noch vorhandenen 
Eigentümlichkeiten und Besonderheiten der Sachlage 
kommen nicht auf Eechnung der Zeitvorstellung, sondern 
wurzeln in ihrem Gegenstande, der objektiven, wirklichen 
Zeit, von der aus sie sich dort nur widerspiegeln; ihre 
theoretische Behandlung ist daher nicht Sache der Psy- 
chologie, sondern der Metaphysik, der Ontologie, geradeso 
wie die der objektiven Dinge oder der Wirklichkeit über- 
haupt. 

Der Psychologie fällt demnach an dem Erfassen von 
Zeiten und Zeitbestimmungen im weiteren die analoge Auf- 
gabe zu wie auf den einzelnen Gebieten der spezifischen 
Sinnesempfindungen. Es handelt sich um die Präge, wie 
die subjektiven Zeiten (Zeitpunkte und -dauern) den ob- 
jektiveai entsprechen, speziell auch um die Bestimmung 
der d^i Beiz- und Unterschiedsschwellen analogen Werte. 

Diese Aufgaben sind von der experimentellen Psy- 
chologie bereits in sehr ausgedehntem Maße bearbeitet 

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220 U* ^eü* Spezielle Psychologie» 

worden und es hat sich dabei eine reiche ITüIle mehr oder 
weniger gesicherter Einzeitatsachen unserer Kenntnis er- 
schlossen. Aber auch eine Schritt für Schritt wachsende 
Kompliziertheit des zu untersuchenden Sachverhaltes hat 
sich dabei gezeigt, eine Kompliziertheit, auf die man 
anfangs kaum gefaiit gewesen war. Um nur einiges an- 
zuführen, so sei daran erinnert, wie zunächst einmal 
schon die blo£en Begriffe lieiz- und Unterschiedsschwelle, 
die ja ursprünglich auf Empfindungen im eigentlichen 
Sinne berechnet sind, den beim Erlassen von Zeitdaten 
vorliegenden besonderen Verhältnissen erst angepaßt 
werden müssen; wie femer die Herstellung von Zeit- 
daten niemals rein für sich möglich ist, sondern stets 
der Mitwirkung von andern Inhalten, am einfachsten von 
spezifischen Sinnesempfindungen, bedarf, wodurch sie 
jedoch mit den je nach dem Sinnesorgan verschiedenen 
zeitlichen Eigentümlichkeiten seiner i'unktionsweise in 
Interferenz gerät; wie schließlich vor allem die Unter- 
suchung aller dieser Eragen auf das Vergleichen von Zeit- 
strecken und Intervallen angewiesen ist, dieses Vergleichen 
aber in seinem Ausfall — was sich in immer gröüerer 
Ausdehnung und Mannigfaltigkeit als gültig erweist — 
überaus abhängig ist von den verschiedensten Nebenum- 
ständen. 

So ist es denn nicht zu verwundem, wenn bündige 
Antworten auf die obigen Eragen derzeit nicht gegeben 
werden können. Übrigens ist der psychologischen Eor- 
schung reichlicher Ersatz dafür geworden, indem gerade 
die Versuche, die komplizierten Sachverhalte zu entwirren, 
in die verborgenen Tiefen des psychischen Getriebes ge- 
führt und so manche seiner wichtigsten Eigentümlichkeiten 
ans Tageslicht gebracht haben. Doch betreffen diese nicht 
gerade nur das Zeit-Erfassen, sondern sind ihrer Natur 
nach von anderer, teilweise allgemeinerer Bedeutung; sie 
werden daher auch an anderer Stelle zu verzeichnen sein. 
Eür hier genüge folgendes. 

Die untere Grenze der Dauer für die eben noch in 
einem Akte anschaulich erfaßbare Zeitstrecke ist aus 
äußeren Gründen nicht leicht zu bestimmen, weil auch 
Momentanreize vermöge der — beim Auge z. ß. sehr 
erheblichen — Nachdauer der nervösen Erregung im 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 221 

Sinnesorgan Empfindungen von immer noch stark über- 
merklicher Dauer zur Folge haben. 

Die obere Grenze dieser Zeitstrecke („psychische 
Präsenzzeit" nach Stern, 1897) wird verschieden ange- 
geben; sie hängt offenbar von mannigfaltigen variablen 
Bedingungen ab. Keinesfalls aber geht sie über den Be- 
trag von ganz wenigen Sekunden (1.5 Sekunden nach 
Kollert, 1883; 5—8 Sekunden nach Estel, 1884) hinaus. 

Die geringste Distanz, die zwei getrennte Zeitpunkte 
einhalten müssen, um noch als verschieden, als zwei, er- 
kannt zu werden, ist schwer zu bestimmen, weil die beiden 
Zeitpunkte nur durch Sinnesempfindungen, d. h. durch 
Applikation von Sinnesreizen zu markieren sind und die 
verschiedenen Sinnesorgane mit verschiedener Dauer des 
An- und Abklingens der Erregung funktionieren. Die 
verschiedenen Ergebnisse, die man bei der Untersuchung 
dieser Frage auf den verschiedenen Sinnesgebieten erhält 
(z. B. Vsoo" für das Knistern zweier einander folgender 
elektrischer Funken, ^Ud' für einander folgende Licht- 
blitze), sind in ihrer Verschiedenheit für das, worauf die 
Frage eigentlich gemünzt ist, gänzlich belanglos. Dafür 
kann nicht die Trägheit des Sinnesorgans von Belang 
sein, sondern allenfalls die größere oder geringere Dauer 
der sogenannten „Gegenwartszeit" (Benussi, 1907) d. i. 
der Zeit, während welcher unsere Aufmerksamkeit von 
dem durch sie zu erfassenden Eindruck, hier eines Zeit- 
momentes, in Anspruch genommen ist. Aus der Tatsache 
dieser Gegenwartszeit zusammen mit der der verschiedenen 
Auffälligkeit von Eindrücken verschiedener Art mag es 
sich in der Hauptsache auch erklären, daß wir bei der 
Beurteilung des gegenseitigen zeitlichen Verhältnisses von 
Momentaneindrücken verschiedener Sinne gewissen mehr 
oder weniger konstanten Täuschungen unterliegen, z. B. 
bei objektiver Gleichzeitigkeit von Geräusch und Funke 
auf Sukzession urteilen. („Komplikations"- Versuche.) 

Bei den Versuchen zur Messung der Unterschieds- 
schwelle hat man zunächst ziemlich allgemein eine kon- 
stante Fehlertendenz gefunden. Sie geht dahin, daß, wie 
man zu sagen pflegt, kleine Zeiten ein wenig über-, größere 
etwas unterschätzt werden; dazwischen liegt eine sogen. 
Indifferenzzeit, bei der sich die beiden Tendenzen auf- 

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II. TeiL Spezielle P8ychologie. 

heben, die also im allgemeinen richtig aufgefaßt wird. 
Sie beträgt nach verschiedenen Angaben zirka Va" (Kollert, 
1883) bis 2V» oder SV/' (Vierordt, 1868). Eelative Minima 
des konstanten Fehlers sollen auch bei den ganzen Viel- 
fachen dieser Zeiten zu beobachten sein. — Davon ab- 
gesehen hat sich bei Dauern bis zu einigen Sekunden eine 
relative ünterschiedsschwelle von ungefähr V25 ergeben. 
Über die Konstanz dieses Wertes, somit über die Gültig- 
keit des Weberschen Gesetzes für Zeitvergleichungen 
gehen die Meinungen derzeit noch auseinander. 

Noch sei bemerkt, daß leere Zeiten im Vergleich zu 
reiz-(empfindungs-)erfüLllten stark vergrößert erseheinen, 
desgleichen eingeteilte (durch gleichmäßig intermitti^ende 
Empfindung ausgefüllte) im Vergleich zu nicht einge- 
teilten. Doch gehört dies bereits zu den zahlreichen und 
mannigfaltigen wichtigen Nebenumständen, von denen das 
Ergebnis des Vergleichungsvorganges überhaupt, nicht ge- 
rade nur das des Zeitvergleichens, in so hohem Grade ;be- 
einflußt wird. 



b) Die produzierten Torstellungren. 

1. Die Tatsache der Vorstellungsproduktion. 

Es ist nun an der Zeit, die Tatsächlichkeit und Eigen- 
art der zweiten Vorstellungsquelle, wie wir sie in unserer 
Einteilung (S. 99) vorläufig angedeutet haben, näher zu 
begründen und zu beleuchten. — 

Die Sinnesempfindungen, von denen wir bisher ge- 
sprochen haben, vermitteln uns eine überaus große Menge 
von Daten über die uns umgebenden Gegenstände. Wir 
brauchen uns jedoch nur einen Augenblick zu besinnen, 
um zu erkennen, daß sie noch keineswegs alles enthalten, 
was wir von den Gegenständen erfassen. Nicht nur Farben 
und Töne sind es, was wir um uns herum vorfinden, 
Gerüche, Geschmäcke und dergleichen, sondern all dies 
zusammengefaßt und wieder gesondert in räumliche Ge- 
stalten flächenhäfter und körperlicher Art, in Ton- und 
Geräuschgestalten wie Melodien oder Sprachgebilde ; wir 
sehen Bewegung, Gleichbleiben und Veränderung 
in verschiedenstem Sinne, wir nehmen Ähnlichkeiten 



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1. Hälfte: Psychologie* des Geisteslebens. 223 

uad Gegensätze wahr und finden dies oder jenes ver- 
einzelt oder in größerer, geringerer Anzahl vor. Dies 
alles und noch Ähnliches mehr gehört sehr wesentlich 
zum Welthilde, wie es sich zunächst mit Hilfe unserer 
Sinne in uns darstellt. Von alledem ist jedoch bisher 
bei der Behandlling des Inhalts unserer Sinnesempfin- 
dungen noch gar nicht die Eede gewesen. Es ist daher 
der Ursprung dieser neuen Inhalte noch aufzuzeigen. 

Oder sollten sie vielleicht doch gegenüber den bereits 
vorgeführten Inhalten der Sinnesempfindungen, wie Ton; 
Jarbe, Ortsbestimmung, Druck, Temperatur, Geruch, Ge- 
schmack usw., gar nichts Neues sein? Löst sich nicht, 
was in allen diesen Pällen an Vorstellungsinhalten vor- 
liegt, naher besehen völlig auf in die Inhalte eben dieser 
Sinnesempfindungen ? 

So viel ist zweifellos richtig, daß sich jedesmal, 
wenn einer von diesen neuen Inhalten im Bewußtsein 
auftritt, auch irgend welche Inhalte, die ihrer Natur nach 
ursprünglich Sinnesinhalte sind, mit ' gleichsam innerer 
Notwendigkeit daran beteiligt finden. Räumliche Gestalt 
kann nicht vorgestellt werden, ohne daß ein irgendwie 
Farbigeis in dieser Gestalt vorgestellt würde, Melodie nicht 
ohne Ton, Bewegung nicht ohne Ortsbestimmung und 
farbigen Kontur, Veränderung, Ähnlichkeit, Zahl nicht 
ohne ein sinnlich irgendwie bestimmtes sich Veränderndes, 
Ähnliches, Zählbares — vorausgesetzt natürlich, daß man 
sich dabei nicht mit durchaus unanschaulichen, indirekten 
Vorstellungen begnügt. Aber höchstens bei einigen von 
ihnen, wie etwa der räumlichen Gestalt, der Melodie oder 
der Bewegung und Veränderung, besteht einiger Schein 
für diese AuÖassung; den Vorstellungen der Ähnlichkeit, 
oder der Zahl sieht man es ohne weiteres an, daß sie 
etwas anderes. Neues und um etwas mehr enthalten als 
die bloßen Vorstellungen der Gegenstände, die ähnlich 
sind oder gezählt werden können. Aber auch für Baum- 
gestalt, Tongestalt, Bewegung, Veränderung usw. ist der 
analöge Nachweis nicht allzu schwer. Am handlichsten 
ist er an der Melodie zu erbringen, mütatis mutändis gilt 
er jedoch auch für die andern Fälle. 

Da ist zunächst darauf zu verweisen, daß allerdings 
die Töne in der Melodie enthalten sind, und wenn die 

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224 !!• Teil. Spezielle Psychologie. 

Melodie vorgestellt werden soll, auch die Töne vorgestellt 
werden müssen; aber die Töne in ihrer Gesamtheit sind 
dann doch nur „mehrere Töne", sind etwa eine bloße 
Ansammlung von Tönen ohne inneren Zusammenhang. 
Die Melodie ist demgegenüber etwas wesentlich Neues. 
Das wäre schon am bloßen direkten Augenschein genug- 
sam deutlich abzunehmen. "Wem dieser direkte Augen- 
schein jedoch versagt, dem kann mit einigen indirekten 
Argumenten aufgewartet werden. (Ehrenfels, 1890.) 

Es kommt, besonders bei Leuten von geringer musi- 
kalischer Anlage oder Übung, oft genug vor, daß sie beim 
Anhören etwas schwierigerer Musik wohl die aufeinander- 
folgenden Tonempfindungen haben, aber auch nicht mehr ; 
die Vorstellungen der Tongestalten, der Melodien bleiben 
ihnen aus, weil ihnen die Fähigkeit abgeht, die Ton- 
empfindungen in der entsprechenden "Weise zu verarbeiten. 
Ja selbst ein den Charakter eines pathologischen Defektes 
zeigendes dauerndes und absolutes Unvermögen, diese 
Arbeit zu leisten, ist bereits konstatiert und unter dem 
Namen „Melodietaubheit" beschrieben worden. (Alt, 1906.) 
Und auch der erfahrene, gewandte Musiker hat bisweilen 
Gelegenheit, diese Arbeit mehr oder weniger deutlich in 
sich zu verspüren, besonders wenn er sich Tongebilden 
ungewöhnlichen Aufbaues zum erstenmal gegenüber findet. 
Die Gesamtheit der Tonempfindungen ist also noch nicht 
die Melodievorstellung. — Ein anderes Argument dafür 
liegt in folgendem. Eine und dieselbe Reihe von Tönen 
kann, je nach der Art, wie sie vom Hörer zusammengefaßt 
und verarbeitet werden, zu ganz verschiedenen Melodie- 
vorstellungen führen; z. B. läßt sich eine gleichmäßig 
gespielte Skala nach Belieben als Melodie von dreiteiligem 
wie von vierteiligem Takte auffassen. Und umgekehrt 
können bekanntlich ganz verschiedene Töne dieselbe Me- 
lodie ergeben; durch Transposition von einer Tonart in 
eine andere ist es leicht zu erreichen, daß nicht ein einziger 
Ton, der ursprünglich an der Melodie beteiligt war, in 
ihrem neuen Aufbau sich wiederfindet. Die Gesamtheit 
der Töne ist dann eine durchwegs andere, und doch ist die 
Melodie dieselbe geblieben, sie muß daher notwendig etwas 
anderes als die Gesamtheit der Töne sein, ein Argument, 
dessen Triftigkeit durch den Hinweis auf die Tatsache, daß 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 285 

beim Transponieren die rhythmischen Verhältnisse sowohl 
wie die Intervallschritte und deren Aufeinanderfolge er- 
halten bleiben und dadurch die Melodie bewahrt würde, 
nicht im geringsten erschüttert werden kann, weil ja genau 
dasselbe, was von der Melodie im ganzen, auch schon von 
Rhythmus, Intervall und Aufeinanderfolge im einzelnen 
gilt, indem auch diese als Gestalten, nur eben Gestidten 
geringeren Umf anges oder niedererer Ordnung, ihre Gleich- 
artigkeit trotz "Wechsel der sie konstituierenden Töne oder 
Zeitmomente nur deshalb bewahren können, weil sie eben 
selbst auch etwas anderes sind als nur die Gresamtheit 
dieser. — Endlich kann zum Beweis derselben Sache auch 
darauf hingewiesen werden, wie leicht und sicher im all- 
gemeinen Melodien im Gedächtnis behalten und reprodu- 
ziert werden, und wie von den einzelnen absoluten Ton- 
höhen geradezu das Gegenteil gilt, wie wir ferner beim 
Erinnern von Melodien unsere Arbeit durchaus nicht auf 
die Reproduktion von einzelnen Tönen, sondern auf die 
eines einheitlichen melodischen Ganzen gerichtet halten. 
Dies alles liegt also darin begründet, daß man, um 
eine Melodievorstellung zu haben, die Tonempfindungen 
noch in bestimmter Weise zusammennehmen, zusammen- 
fassen, zu etwas Neuem zusammenwirken lassen muß. Für' 
das Zustandekommen der bloßen Tonempfindungen sorgt das 
Sinnesorgan; das geht unwillkürlich und gleichsam ohne 
unser Hinzutun. Aber wenn es zur Melodievorstellung 
kommen soll, ist es mit der bloßen Ansammlung der Ton- 
empfindungen allein noch nicht getan; dazu müssen die 
Tonempfindungen in uns erst noch einen eigenen Prozeß 
anregen, der bald schwerer, bald leichter, meist ganz un- 
vermerkt vonstatten geht, und dessen Ergebnis eine gleich- 
sam über den Tonempfindungen aufgebaute neue Vor- 
stellung, die der Tongestalt, der Melodie, ist. Diese Ge- 
staltvorstellung enthält die einzelnen Tonvorstellungen 
zwar in sich, außerdem aber noch etwas mehr, ein Plus, 
das das Subj^, angeregt von den Tonvorstellungen, mit 
deren Hilfe, aus sich herausproduziert hat. Die Gestalt- 
Vorstellung ist also etwas Neues, etwas, das neben den 
Tonvorstellungen als etwas Eigenartiges angesehen werden 
muß, und nicht etwa mit diesen oder ihrer Gesamtheit 
identisch ist. 

Witasek, Onmdlioien der Psychologie. 16^ i 

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SS6 n. TeiL äpesielle Fsycliologie. 

Der Nachweis ist hier am Beispiele der Melodie- 
Torstellung g^ührt. Er gilt aber keineswegs nur für diesen 
spezidien Fall. Er hat allgemeinere Bedeutung und ist 
ohne weiteres auf die Vorstellungen sogenannter zeitloser 
Tongestalten, nämlich Akkorde, Harmonien übertragbar, 
dann aber auch auf die von Baumgestalten, räumlicher 
Bewegung, Veinänderung überhaupt und ähnliche. Für 
alle gilt, daß ihr Inhalt gegenüber dem der Bestandstück- 
Vorstellungen, seien dies nun Töne, räumliche Orter, Zeit- 
momente oder was immer, etwas Neues, ein Mehr dar- 
stellt. Bei andern, gleichfalls hierhergehörigen Vorstel- 
lungen, wie der der Ähnlichkeit, Verschiedenheit, der 
Zahl usw., ist ein ausdrücklicher Beweis für den ana- 
logen Sachverhalt schon von vornherein überflüssig; 
niemandem, der zu denken versteht, wird es einfallen zu 
meinen, die Vorstellung „neun Punkte" sei identisch mit 
der Vorstellung von mehreren Punkten, die an sich in 
einer Anzahl von neun vorhanden sind, oder die Vor- 
stellung der Verschiedenheit zwischen Schwarz und Weiß 
sei identisch mit dem bloßen Nebeneinander der Vor- 
stellung von Schwarz und der von Weiß. — 

Es ist also ausgemacht, daß wir es hier mit Vorstel- 
lungen zu tun haben, die gegenüber den bisher behandelten 
Sinnesempfindungen etwas Neues sind. Wir haben uns 
daher nach dem Ursprünge dieser Vorstellungen zu fragen. 
Und da wäre es vorerst das Nächstliegende, zudem 
auch methodisch geboten, wenn wir zunächst auch hier 
mit dar Art des Ursprunges von Vorstellungen, die sich 
uns bisher bewährt und als leistungsfähig erwiesen hat, 
nämlich der Empfindung, das Auslangen zu finden ver- 
suchten und auch diese neuen Vorstellungen als Empfin- 
dungen, nur eben Empfindungen einer eigenen Klasse, 
entstanden dächten. 

Es gibt nun wirklich einige Gesichtspunkte, die sich 
dahin deuten lassen, daß wir mit dieser methodischen 
Vorsicht auch tatsächlich das Biehtige treffen. Wir sagen 
ungezwungen, daß wir Melodien hören, Baumgestalten, 
Bewegungen, ja sogar die Verschiedenheit zweier Farben 
sehen ; Hören und Sehen ist aber doch Empfinden, und 
sollte sich auch mancher dagegen sträuben, zu meinen, 
daß es gerade die elementare Tätigkeit des Ohres oder des 



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1. Hälfte 1 Psychologie des GeiiieslebeDS. 227 

Auges wäre, wodurch wir die genannten Gegenstände in 
uns aufnehmen, so liegt doch in der unverkennbaren sinh- 
lichtti Lebhaftigkeit, mit der uns diese Eindrücke ganz 
und gar im psychischen Habitus von Empfindungen ent- 
gegentreten, immer noch ein Anzeichen dafür vor, daß 
sie mit diesen wesensgleich sind. Auch die Unmittelbar- 
keit, mit der sie allenthalben in uns entstehen, haben sie 
mit den Empfindungen gemein ; wie diese können sie ein- 
setzen, ohne daß wir irgend einer psychischen Vermittelung 
inne würden. Fragt man nach dem äußeren Keize, diesem 
wesentlichen Bestimmungsstücke der Empfindung, so 
liegen hier die Dinge allerdings um ein Geringes anders 
als bish^ ; aber, wie es scheint, doch nur um ein Geringes, 
Unwesentliches. Haben wir etwa eine Ton- und eine 
Parbenempfindung, so liegt auch ein eigener Ton- und 
ein eigener jFarbenreiz vor; haben wir aber Tonempfin- 
dungen und dazu noch eine Melodie-„Empfindung'', oder 
zwei Farbenempfindungen, etwa von Kot und Grün, und 
dazu noch die Verschiedenheits-„Empfindung'', so sind 
wohl die äußeren Beize der Ton- und Farbenempfindungen 
aufzuweisen, nicht aber noch daneben irgend welche andere 
äußere Reizvorgänge, die der Melodie- oder der Ver- 
schiedenheits - „Empfindung" eigens zugehörten. Doch 
läßt sich vielleicht sagen, daß allerdings ausschließlich 
eigene Eeize für diese neuen Empfindungen nicht da sind, 
daß aber die Beizvorgänge der Töne und der Farben usw. 
auch noch für diese Empfindungen mit aufkommen; es 
ist ja auch nur der einheitliche Vorgang der SchaU- 
schwingungen, was je nach seinen verschiedenen Be- 
stimmungen die Vorstellung der Tonstärke, der Tonhöhe 
und der Klangfarbe zugleich hervorruft, und so seien 
auch die einzelnen (objektiven) Töne einmal jeder für 
sich und dann dieselben in ihrer eigenartigen Anordnung 
und Aufeinanderfolge als verschiedene Seiten an einem 
und demselben objektiven Beizvorgange zu fassen, von 
denen die eine als Beiz für die einzelnen Tonempfin- 
dungen, die andere als Beiz für die Melodieempfindung 
fungiere. Daß wir unter solchen Umständen auch 
nicht mehr einem eigenen Sinnesorgane für diese neu- 
artigen Empfindungen nachzufragen brauchten, ist klar, 
und so wäre tatsächlich alles in Ordnung, was für diese 

Digitiz^V*VjUUyiC 



328 ^* '^^^ Spezielle Psychologie. 

ihre theoretische Angliederung an die bisher behandelten 
Empfindungsklassen notwendig erschiene. 

Die mannigfachen Ähnlichkeiten und Analogien 
zwischen den in Bede stehenden Vorstellungen und den 
eigentlichen Empfindungen sollen keineswegs geleugnet 
werden. Dennoch hieße es höchst wesentliche Eigentüm- 
lichkeiten übersehen und charakteristische Gegensätze in 
den psychischen Gebilden verwischen, wollte man sich 
dabei beruhigen und sie durchaus den Empfindungen 
analogisieren. 

Die Empfindung kommt unfehlbar zur Auslösung, 
wenn der äußere Beiz vorhanden ist und auf ein funktions- 
tüchtiges Sinnesorgan auf trifft; höchstens daß sie unbe- 
merkt bleiben kann, wenn die Aufmerksamkeit von ihr 
abgewendet ist, was an ihrem aktuellen Dasein natürlich 
nichts ändert (s. S. 58 f.). Was als äußerer Beiz und 
als Sinnesorgan für unsere neuartigen Vorstellungen in 
Betracht kommen mag, haben wir soeben aufgezeigt; wir 
wissen nun aber aus Erfahrung, daß hier das ungehinderte 
Zusammentreffen von Beiz und Sinnesorgan durchaus 
nicht mit gleicher Begelmäßigkeit, Unmittelbarkeit und 
Unfehlbarkeit die Tongestalts-, Ähnlichkeits- oder Ver- 
schiedenheitsvorstellung zur Folge hat. Wir sehen z. B., 
wenn wir die Augen geöffnet haben, ohne Unterlaß zahl- 
reiche Farben, zwischen denen die verschiedensten Ahn- 
lichkeitsbeziehungen obwalten, und deren Empfindungen 
da sind, auch ohne daß wir darauf merken ; daß wir dabei 
aber auch gleich alle diese zahllosen Ähnlichkeitsbe- 
ziehungen auffaßten, die Vorstellungen aller der zwischen 
den gesehenen Farben bestehenden Ähnlichkeiten und 
Verschiedenheiten aktuell, wenn auch nicht von der 
Aufmerksamkeit getroffen, gegenwärtig hätten, wird man 
vernünftigerweise nicht behaupten wollen. „Beiz" und 
„Sinnesorgan" genügen eben nicht dazu, die Sache muß 
sich über das, was diese beiden für sich zustande bringen, 
über die eigentliche Empfindung hinaus noch ein Stück 
weiter entwickeln, man muß eine innere Tätigkeit voll- 
ziehen, vergleichen, damit die Verschiedenheitsvorstel- 
lung zustande kommt. Und Analoges gilt auch von den 
andern der hierher gehörigen Vorstellungen. 

Dazu kommt ein Zweites. Beiz und Organ zusanmien 

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1. Hallte: Psychologie des Greisteslebens. 229 

bestimmen innerhalb sehr enger Grenzen die Art (Quali- 
tät, Intensität usw.) der zustande kommenden Empfindung, 
und die Willkür des Subjektes hat auf den Ausfall so 
gut wie keinen Einfluß. Bei den in Frage stehenden 
Vorstellungen ist das anders. Erblicke ich vier schwarze 
Punkte auf weißem Grunde, so kann ich daran die Vor- 
stellung der Earbenverschiedenheit zwischen Grund und 
Punkten haben, oder die der Ortsversohiedenheiten, die 
zwischen ihnen bestehen, oder die der räumlichen Gestalt 
des Quadrates, oder die der Zahl vier, und noch vielleicht 
anderer mehr. Welche von allen diesen Vorstellungen 
jeweils eintritt, hängt von den jeweiligen Absichten und 
Interessen des Subjektes oder von sonst welchen Umständen 
ab, nicht aber von Beiz und Sinnesorgan allein, wie bei 
den wahren Empfindungen. Auch daran sehen wir ako, 
daß zum Zustandekommen dieser Vorstellungen die direkte, 
invariable Beizwirkung des äußeren Vorganges nicht 
ausreicht, sondern daß nach dieser noch ein weiterer, 
eigener Faktor einzugreifen hat, der nicht mehr eindeutig 
kausal vom äußeren Beize aus zur Anregung gelangt. 

Nun ist aber auch das Endergebnis des ganzen Pro- 
zesses selbst, die Vorstellung der besagten Art, in einem 
Punkte wenigstens von wesentlich anderer Beschaffenheit 
als die Empfindungen. Dieser Punkt läßt sich am ein- 
fachsten dadurch charakterisieren, daß man sagt, die 
Empfindimgen sind ihrer Natur nach innerlich selb- 
ständig, die Vorstellimgen der in Bede stehenden Art 
sind (den Empfindungen gegenüber) innerlich unselb- 
ständig. Es ist unmöglich, eine Verschiedenheit vorzu- 
stellen, ohne Gegenstände, etwa im Wege der Sinnes- 
empfindung, mit vorzustellen, die in dieser Verschieden- 
heit zueinander stehen; es ist unmöglich, eine Tongestalt, 
einen Bhythmus vorzustellen, ohne die einzelnen Töne, 
Zeitmarken, auf denen sie sich aufbauen, zugleich vor- 
zustellen. Dagegen kann man viele Töne, Farben usw. 
vorstellen, ohne dabei zugleich auch die zahlreichen Ge- 
stalten, Ähnlichkeits- und Verschiedenheitsbeziehungen, in 
denen sie stehen, zu erfassen, vorzustellen. (Ameseder, 
1904.) Es ist ein ganz eigenartiges Verhältnis des inner- 
lich miteinander Verwobenseins, des einander Durch- 
dringens, des zusammen ein einheitliches, unteilbares 



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230 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

Ganzes Bilden, in dem die Vorstellung der Oestalt 
oder der Ähnlichkeit zu den zugehörigen Vorstellungen 
der gestaltbildenden Töne usw., oder der ähnlichen 
Farben stehen, ein reales psychisches Verhältnis, durch 
das die Gestalt- und verwandten Vorstellungen an Emp- 
findungen gebunden sind, während dagegen diese auch 
für sich allein aktualisiert sein können. Die Empfindungen 
sind eben, wie gesagt, innerlich selbständig, jene anders- 
artigen Vorstellungen innerlich unselbständig. 

Schließlich geht es auch mit d^ Aufzeigung des 
Beizvorganges, der doch unerläßlich ist, wenn es sich 
wirklich um Empfindung handeln soll, keineswegs so 
glatt ab, als es anfangs geschienen haben mochte. Die 
Art des Zusammenseins, der Anordnung, der Konfi- 
guration der Elementarreize, sagt man, soll es sein, was 
als die für die fraglichen Vorstellungen wirksame Seite 
des gesamten Beizvorganges fungiert. Nun ist ja ge- 
wiß richtig, daß eben diese Art des Zusammenseins 
für den psychischen Effekt nicht gleichgültig ist. Es 
ist nicht gleichgültig, ob rotes und grünes, oder ob 
rotes und orangefarbenes Licht auf das Auge eindringen ; 
aber wofür es eben nicht gleichgültig ist, das kommt 
lediglich darin zur Geltung, daß im einen Fall die Empfin- 
dungen von rot und grün, im andern die von rot und 
orange, oder, wie wir auch sagen können, das eine Mal 
ähnliche, das andere Mal verschiedene Empfindungen auf- 
treten; damit ist aber noch nicht das Bewußt- 
sein der Verschiedenheit, die Vorstellung der Ähn- 
lichkeit gegeben. Es ist auch nicht gleichgültig, ob 
die Schallwellen von drei oder von fünf aufeinander- 
folgenden Glockenschlägen das Ohr treffen; aber was 
diese Verschiedenartigkeit der Beizkonfiguration für den 
unmittelbaren psychischen Effekt zu bedeuten hat, das 
erschöpft sich darin, daß drei oder daß fünf Geräusch- 
empfindungen zur Auslösung gelangen, ohne daß da- 
mit auch schon die Vorstellimg ihrer Dreizahl oder 
Fünfzahl verbunden ist. Es ist auch nicht gleichgültig, 
ob zwei Töne nacheinander oder zugleich erkUngen ; aber 
die unmittelbare Beiz^npfindungswirkung ist von dieser 
Verschiedenheit der Anordnung auch nur insofern beein- 
flußt, als das eine Mal zwei Empfindungen gleichzeitige 



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1. Hälfte: Fiiyeliologie des G^eisteflebens. 231 

das andere Mal nacheinander zustande kommen, was aber 
noch lange nicht auch schon das Bewußtsein der Gleich- 
z^tigkeit oder der Aufeinanderfolge ist. Und so gilt im 
allgemeinen, daß die Verschiedenheit der Konfiguration 
der Einzelreize als unmittelbaren Effekt im Psychischen 
nur eine mehr oder weniger korrespondierende Ver- 
schiedenheit der Konfiguration der Einzelempfindungen 
zur Folge hat; das Bewußtsein, die Vorstellung der 
Konfiguration dageg^i — und darauf kommt es uns ja an — 
ist damit nicht identisch, nicht unmittelbar damit gegeben. 
Die Vorstellung der Konfiguration, d. i. die Vorstellung 
der Gestalt, der Zahl, der Ähnlichkeit usw. ist ein neues 
reales^ psychisches Gebilde, das als solches seine reale Ur- 
sache haben muß. Die äußere Konfiguration der Beiz- 
Vorgänge ist aber nichts Beales; real si^d nur die Beiz- 
vorgänge selber. Soll außer den unmittelbaren Wirkungen 
der einzelnen Beizvorgänge, also außer den einzelnen 
Empfindungen, noch eine weitere psychische Wirkung, 
nämlich die Vorstellung der Konfiguration, hervorge- 
rufen werden, so ist dies nur dadurch möglich, daß die 
einzelnen Beizvorgänge als Teilursachen in einem Gesamt- 
ursachenkomplex zur Geltung kommen. Dieser Ursachen- 
komplex ist aber, wie wir wissen, im objektiv Existierenden, 
im Physischen außerhalb des Subjektes noch nicht kom- 
plett; das Zusammensein der einzelnen Beizvorgänge bringt 
hier, im Objektiven, nichts Neues hervor. Eine neue 
reale Wirkung erwächst aus diesem Ursachenkomplex erst, 
nachdem das Subjekt als weitere Teilursache hinzuge- 
treten ist, m. a. W. nachdem sieh die einzelnen Beiz- 
vorgänge im Subjekt (Gehirn, Seele irgend welchen Sinnes) 
zusammengefunden haben. Aber auch da ist die Wirkung, 
wie wir gesehen haben, keine so gleichsam mechanische, 
direkte und unmittelbare, wie bei den Empfindungen, 
sondern es muß sich offenbar, wohl auf Grund der Emp- 
findungsprozesse und nach deren erfolgreichem Ablauf, 
noch ein innerer Entwicklungsprozeß dazwischenschieben, 
von dessen Beschaffenheit (üe Art der jeweils zustande 
kommenden Konfigurationsvorstellung (ob Gestalt, Ähn- 
lichkeit, Zahl usw.) abhängt und in dem der Angriffspunkt 
für unsem Willen liegt, wenn er auf das Zustandekommen 
ßolcher Vorstellungen bestimmend eingreift — 



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g3S n» Teil SpeiiiBlle Psychologie 

Die Merkmale und Eigentümlichkeiteii, durch die sich 
der vorliegende Sachverhalt von dem der Empfindung 
unterscheidet, sind also, wie wir sehen, zahlreich imd 
charakteristisch genug, daß eine begriffliche Trennang 
erforderlich ist. Auch die Vorstellungen dieser Art ent- 
stehen natürlich auf durchaus naturgesetzlich kausalem 
iWege, auch sie sind ein Produkt unserer psychischen 
Organe, nur nicht unmittelbar der Sinnesorgane ; vielmehr 
entwickeln sie sich erst von da an und auf Grund dessen, 
was die Sinnesorgane unmittelbar liefern, nämlich der 
Empfindungen, und durch deren weiteres Zusammenwirken 
im Subjekte gleichsam aus dem Subjekte selbst heraus. Sie 
werden daher zum Unterschiede von den Empfindungen 
mit Becht als produzierte Vorstellungen bezeichnet, 
und der Prozeß, der sich im Subjekte auf Grund der 
Empfindungen weiterhin abspielt und dessen Ei^ebnis 
diese Vorstellungen eben sind, heißt Vorstellungspro- 
duktion. 

Die Vorstellungsproduktion ist nicht etwa irgend eine 
mystische Schöpfertätigkeit der Seele, mit der sie sich, 
selbstherrlich waltend, gegen die von außen kommenden 
Eindrücke wendete, um aus diesem „rohen" Stoffe irgend 
etwas Erhabenes, Höheres zu gestalten. Sie ist ein psy- 
chischer Prozeß, im allgemeinen genau wie alle andern, 
der so wie diese nach durchaus natürlichen, kausaloi 
Gesetzen im Subjekte — als physischer Vorgang im Ge- 
hirn — abläuft und in psychische Gebilde, die proda- 
zierten Vorstellungen, ausmündet, die zu den gewöhn- 
lichsten des ganzen intellektuellen Lebens gehören. 

Auf der Seite der Gegenstände ist eine analoge Sach- 
lage zu konstatieren. Der Gegenstand „Verschiedenheit" 
z. B. ist unselbständig gegenüber den Gegenständen, die 
verschieden sind, insofern als es ohne solche eine Ver- 
schiedenheit nicht geben kann; die Verschiedenheit ist 
aufgebaut, konstituiert durch die verschiedenen Gegen- 
stände, die Zahl durch die zählbaren Gegenstände. Man 
nennt solche Gegenstände deshalb „fundierte Gegenstände" 
oder auch allgemeiner „Gegenstände höherer Ordnung''. 
(Meinong, 1899.) Der Gegenstand einer produzierten Vor- 
stellung ist also immer ein Gegenstand höherer Ordnung; 
und die Gegenstände höherer Ordnung sind stets etwas 



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1. Hälfte: Psychologie des GeisieBlebens. £33 

Nicht-Reales: an der Verschiedenheit von rot und grün 
liegt Yon Bealem nichts weiter vor als das rote Licht und 
das grüne Licht und nicht etwa noch ein drittes reales 
Ding, die Verschiedenheit. 

2. Die verschiedenen Arten der produzierten 
Vorstellungen und ihre Bedeutung im psychischen 

Leben, 

Der Produktionsprozeß kann von verschiedener Art 
sein, und diese Art ist neben der Art und Beschaffenheit 
der produzierenden Vorstellungen von wesentlichem Be- 
lang für den Ausfall der produzierten Vorstellung. 

So unterscheiden wir nach der Art des Produktions- 
prozesses hauptsächlich drei Arten produzierter Vorstel- 
lungen, nämlich Gestaltvorstellungen, Vergleichungsvor- 
stellungen und Verbindungsvorstellungen. So groß auch 
die spezielleren Verschiedenheiten innerhalb einer jeden 
dieser Arten immer noch sind, so genügt es doch, die 
einzelnen Fälle aufzuzählen, um die Verwandtschaften er- 
kennen zu lassen. 

Die Oestaltvorstellungen haben ihre Bezeichnung von 
den Eaumgestalten, welche G^enstand einer Gruppe von 
ihnen sind. Die Vorstellungen einer Strecke, eines 
[Winkels, eines Dreiecks, einer Kugel usw. sind Beispiele 
dafür. Die produzierenden Vorstellungen dazu bestehen 
in den Vorstellungen (Empfindungen) der in ihnen ent- 
haltenen einzelnen Baumbestimmungen. Dabei ist es nicht 
erforderlich, daß alle die produzierenden Vorstellungen 
getrennt und einzeln beachtet werden, ja bei der Pro- 
duktion der Vorstellung eines Eontinuums, wie z. B. 
einer ununterbrochenen Strecke, wäre dies wegen der 
überaus großen Zahl der produzierenden Vorstellungen 
gar nicht möglich. — Die Gesamtheit der Empfindungen 
der Baumpunkte enthält stets die Grundlagen zu einer 
unerschöpflichen Fülle von Gestaltvorstellungen. Welche 
Gestaltvorstellung jeweils tatsächlich realisiert wird, das 
hängt von zwei Faktoren ab. Erstens davon, inwieweit 
einzelne Baumpunkte durch gewisse Besonderheiten ihrer 
sonstigen Beschaffenheit bestimmte Gestaltbildungen be- 

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234 n* Teil. Speaelle Psychologie. 

günstigen; dies gilt z. B. hauptsächlich für Punkte, die 
sich durch ihre Färbung deutlich von der Umgebung ab- 
heben und denen desh^b die Gestaltproduktion zumeist 
unwillkürlich zu folgen pflegt. Der zweite Faktor ist 
der subjektive und besteht darin, daß der Produktions- 
prozeß selbst in verschiedene Bahnen gelenkt werden 
kann; er muß z. B. durchaus nicht unbedingt den durch 
farbige Abhebungen zunächst und gleichsam objektiv yor- 
gezeichneten Gestaltbildungen folgen, sondern kann diese 
sozusagen vernachlässigen und andere Gestalten heraus- 
heben, wie es etwa zu geschehen pflegt, wenn wir ein 
stark zersprungenes altes und verblaßtes Mosaikbild be- 
trachten, wo das weitverzweigte und sonst recht aufdring- 
liche Netz der dunklen Linien der Sprünge die Auf- 
fassung der Gestalten des Gemäldes kaum zu stören 
braucht; ja der Produktionsprozeß hat selbst dann, wenn 
er sich an die farbigen Abhebungen hält, zumeist noch in 
weitem Ausmaße freie Hand in der Bestimmung der zu 
bildenden Gestalt, indem beispielshalber nur schon eine 
so einfache Konfiguration wie die von vier Punkten \ [ 
zur Gestaltsvorstellung eines Quadrates, eines li^enden 
Kreuzes, zweier horizontaler oder vertikaler Paralleler, 
zweier rechtwinkliger Dreiecke usw. führen kann. 

Von der Eaumgestalt vollzieht sich die Übertragung 
des Gestaltgedankens ungemein natürlich auf eine ganze 
Beihe anderer. Die empfindungsmäßige Auffassung der 
einzelnen Zeitmomente gibt die Bestandstücke, aus denen 
sich Zeitgestalten, wie z. B. Zeitstrecken, Zeitdauern und 
vor allem die verschiedenen rhythmischen Gestaltungen 
aufbauen. Daß solche Gebilde mit den Eaumgestalten 
leicht in Analogie gestellt werden können, muß jedermann 
einleuchten, unbeschadet der deutlichen Divergenz zwischen 
beiden, die darin besteht, daß die Baumgestalt in ihrer 
Eigenart von zeitlichen Bestimmungen gänzlich unab- 
hängig, sozusagen „zeitlos'' ist, während die Zeil^gestalt 
ihrer Natur nach verschiedener Zeitmomente zur Bestim- 
mung ihrer Eigenart bedarf und daher als „zeitverteilte" 
Gestalt bezeichnet werden mag. 

Eine Gestaltvorstellung, die sowohl aus räomlichen 
wie aus zeitlichen BestandstückvorstelluiigeQ produaert 
ist und somit als zeitverteilte Baumgestaltvorstellung gelten 

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1. Hälfte: Psychologie des Geisieslebens. 235 

kann, ist die anschauliche Vorsteliung der räumlichen 
Bewegung und die ihres Gegensatzes, der Buhe. Zeitlose 
sowohl wie zeitverteilte Grestaltproduktion findet sich im 
Tongebiete ; die eine führt zu den Akkord-, die andere zu 
den Melodievorstellungen. Die Wörter der Lautsprache 
sind zeitverteilte Ton- und Geräuschgestalten. Schließ- 
lich ist auch die anschauliche Vorstellung einer jeden 
Veränderung, z. £. der eines deutlichen allmählichen 
Hellerwerdens einer Beleuchtung, des Crescendo und 
Decrescendo eines Tones, der plötzlichen Abnahme eines 
Gewichtsdruckes auf der Hand eine solche Gestaltvor- 
stellung. — 

Bei allen diesen Gestaltvorstellungen ist der Pro- 
duktionsprozeß im großen Ganzen stets von derselben Art ; 
und schon wenn man auch nur oberflächlich auf die Be- 
schaffenheit seiner inneren Erlebnisse acht hat, wird man 
gewahr, daß er von anderer Art ist als der, der zu den 
Vergleichungsvorstellungen führt. "Wir haben einen eigenen 
Namen für den Produktionsprozeß dieser zweiten Art: 
das Vergleichen. Seine Ergebnisse sind hauptsächlich die 
Vorstellungen der Verschiedenheit und der Ähnlichkeit. 
Die Vorstellung der Gleichheit ist diesen beiden kaum 
zu koordinieren, da sie höchstwahrscheinlich nichts anderes 
ist als die Vorstellung maximaler Ähnlichkeit — denn 
diese ist ja bekanntlich steigerungsfähig. Wohl davon zu 
unterscheiden ist jedoch eine andere Gleichheits - „Vor- 
stellung", nämlich jene, die sich psychologisch als der 
Gredanke des Nicht-verschieden darstellt, also ein psy- 
chisches Gebilde, das zwar ebenfalls den Gegenstand 
Gleichheit erfaßt, ja dies sogar in der denkbar größten 
Schärfe, wie sie der andern niemals erreichbar ist, 
jedoch nur indirekt, auf dem Umwege über die Negation, 
also unanschaulich. — In ähnlichem Verhältnis, wie diese 
unanschauliche Gleichheitsvorstellung zur anschaulichen 
der maximalen Ähnlichkeit, steht auch eine hier zu 
erwähnende Veränderungs- und Bewegungsvorstellung zu 
jener, die wir oben unter den Gestaltvorstellungen zu ver- 
zeichnen hatten. Die Bewegung des Sekundenzeigers einer 
Uhr nehme ich unmittelbar wahr, „sehe" ich geradezu, 
ohne auch nur im entferntesten die einzelnen Stellungen 
des Zeigers bezüglich ihrer Lage miteinander zu ver- 

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n. Teil. Spezielle Psychologie. 

gleichen; er vermittelt mir die anschauliche, die Gestalt- 
Vorstellung der Bewegung. Den gleichen Gegenstand Be- 
wegung erfasse ich auch am Stunden- oder Minutenzeiger, 
aber nicht anschaulich, als Gestalt, sondern indirekt und 
unanschaulich, auf dem .Wege einer Verschiedenheits- 
vorstellung, die ich erhalte, indem ich die Stellungen des 
Zeigers zu verschiedenen Zeiten erfasse und miteinander 
vergleiche. Analoges gilt auch von anderen als von 
Ortsveränderimgen. — Auch der Distanzvorstellung ist 
an dieser Stelle zu gedenken. Sie ist nichts weiter als 
die Vorstellung einer in ihrer Größe bestimmt aufge- 
faßten Verschiedenheit, und zwar wird sie zunächst auf 
Orter, auf Baumpunkte angewendet. Die Distan^z zweier 
Punkte ist die Größe ihrer räumlichen Verschiedenheit. 
[Wohl zu unterscheiden ist diese Vorstellung von der der 
räumlichen Strecke; denn diese, wiederum eine Gestalt- 
vorstellung, betrifft die in eine Gestalt zusammengefaßte 
Gesamtheit der zwischen den beiden Endpunkten liegenden 
Baumpunkte. Übrigens ist dieser Gegensatz keineswegs 
nur auf dem Gebiete des Bäumlichen von Belang ; er gUt 
überall, wo von Distanz (Verschiedenheit) einerseits und 
Strecke (Differenz, Unterschied) anderseits die Bede sein 
kann. (Meinong, 1896.) 

Am wenigsten besonders ausgestaltet ist das Ergebnis 
der Vorstellungsproduktion dritter Art. Es führt gerade 
nur zur Vorstellung der bloßen Verbindung der von den 
produzierenden Vorstellungen getroffenen Gegenstände. 
Sein sprachlicher Ausdruck ist das Wörtchen „und**. Auch 
dieses Wörtchen hat seine Bedeutung, und diese Bedeu- 
tung wird vorgestellt, w'enn es sprachlich gebraucht 
wird. Die Vorstellung „Himmel und Erde" ist etwas 
anderes als die Vorstellung „Hinmier' und, wenn auch s. z. 
s. gleichzeitig, die Vorstellung „Erde". Im zweiten Falle 
sind lediglich die beiden Gegenstände, und zwar unver- 
bunden, jeder ganz für sich, vorgestellt; im ersten Falle 
dagegen sind sie zusammengenommen, in Verbindung mit- 
einander vorgestellt, wenn auch in einer weiter gar nicht 
differenzierten. Es ist also im zweiten Falle mehr vor- 
gestellt, und dieses Mehr, das, wie man sieht, nichts ob- 
jektiv real Dingliches ist, muß Gegenstand eines eigenen, 
produzierten Vorstellungsmomentes sein; dieses ist dann 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 237 

eben die Verbindungsvorstellung. So geringfügig nun 
auch das Ergebnis dieser Art von Vorstellungsproduktion 
zu sein scheint, so bedeutend und wichtig ist es trotzdem 
für das intellektuelle Leben und seine Leistungen. Denn 
diese Vorstellungsproduktion ist es, der die Vorstellung 
der Zahl ihren IFrsprung verdankt. Wenn auch Schwie- 
rigkeiten mancherlei Art noch daran hängen mögen, dazu 
braucht es keiner besonderen Überlegung, zu erkennen, 
daß der Grundinhalt der Zahlvorstellung mit dem der 
bloßen Und- Vorstellung übereinkommt, nur daß dabei die 
verbundenen Gegenstände als im Prinzip gleichartig ge- 
dacht werden müssen und die Verbindung nicht, wie sie 
durch das „Und" geleistet wird, bloß als zweigliedrige, 
sondern wohl auch sozusagen gleichmäßig verteilt über 
eine beliebige Anzahl von Einzelgliedem zur Geltung 
kommen kann. 

Damit sei unsere überschau über die verschiedenen 
Arten produzierter Vorstellungen zu Ende geführt. Sie 
ist keineswegs als eine vollständige zu nehmen, wir müssen 
uns die Vorstellungsproduktion vielmehr noch wesentlich 
reichhaltiger und mannigfaltiger denken. Gleichwohl 
können wir uns auch so schon "einen Begriff davon machen, 
eine wie außerordentlich bedeutende Rolle sie im psy- 
chischen Leben zu spielen hat. Zur Vervollständigung 
sei noch daran erinnert, daß die Vorstellungsproduktion 
keineswegs nur auf Verarbeitung von Empfindungs- 
material beschränkt ist; sie kann sich auch geradeso 
gut reproduzierter Vorstellungselemente bedienen, wenn 
auch dieser Fall seltener verwirklicht sein Inag. So kommt 
es ja leicht genug vor, daß man die Ähnlichkeit eines 
gegenwärtigen mit einem früher einmal wahrgenommenen, 
daher jetzt nur in der Erinnerung vorgestellten Gegen- 
stande konstatiert; oder daß der Musiker sich in Ge- 
danken den Ausfall dieser oder jener Elangkombination 
konstruiert. 

Mit solchen Beispielen soll jedoch keineswegs der 
irrigen Ansicht Vorschub geleistet werden, als ob die 
Tätigkeit des Neues schaffenden Künstlers sich so ge- 
staltete, daß er, um neue Gestalten seines Kunstgebietes, 
z. B. neue musikalische Motive, neue ornamentale Formen, 

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288 U* Teil Spezielle Psychologie. 

ZU ersinnen, zunächst nach mehr oder weniger zufälliger 
Auswahl Elementarvorstellungen aus seinem reproduzier- 
baren Vorstellungsvorrate hervorholte, um sie dann zur 
Produktion der Gestaltvorstellung sich zusammenschließen 
zu lassen. Die Schöpfertätigkeit steht zu ihren Erzeug- 
nissen nicht soweit im Verhältnisse des Zufälligen und 
Passiven, die direkte Aktivität des Künstlers ist nicht auf 
das Reproduzieren von Elementarvorstellungen gerichtet, 
sondern auf das unmittelbare Erzeugen neuer Gestalten, 
und es macht eben das Merkmal des künstlerischen Genius 
aus, daß er unter dem Einflüsse der Inspiration und 
Stimmung neue Gestaltvorstellungen aus sich heraus direkt 
zu erzeugen vermag, nicht produzierend auf Grund vor- 
gegebener Elementarvorstellungen und von diesen aus- 
gehend, sondern die Gestaltvorstellung als ein Fertiges, 
Primäres liefernd, das dann die Vorstellungen der Be- 
standstücke notwendig und implizite zugleich mit sich 
bringt. Darin liegt eine Seite des Wesens der schöpfe- 
rischen Phantasie, und die Bedeutung der produzierten 
Vorstellungen für das psychische Leben ist zum Teil 
eben auch darin gegeben, daß sie es sind, auf deren Ge- 
biete der Geist relativ unabhängig von der Sinnestätigkeit 
neue Gebilde zur Bereicherung des Vorstellungsschatzes 
zu schaffen vermag. 

Rein extensiv jedoch betrachtet, spielt die Vorstel- 
lungsproduktion nicht in diesem Belang die größte Rolle. 
Nicht in Gedächtnis- und Phantasietätigkeit kommt sie 
am ausgiebigsten zur Geltung, sondern beim Wahrnehmen, 
und damit in der extensiv mächtigsten Betätigung des 
Intellektes. Jeder Wahmehmungsakt wird durch die 
Sinnestätigkeit eingeleitet; die Sinnestätigkeit ergibt 
Empfindungen. Aber damit ist noch lange nicht der volle 
Wahmehmungsakt gegeben und kaum jemals bleibt der 
Prozeß bei den Empfindungen stehen. Die Empfindungen 
schließen sich vielmehr fast stets zu Gestaltvorstellungen 
zusammen, wir nehmen mit dem Auge nicht ein sinnloses, 
ungeordnetes Gewirr von Farben und Raumelementen^ 
mit dem Ohre nicht ein ungesondertes Durcheinander von 
Tönen und Geräuschen wahr, sondern fast stets und all- 
sogleich geklärte Raum- und Tongestalten und Verwandtes. 
Die Vorstellungen also, die in den Wahmehmungsakt ein- 

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U Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 239 

gehen, sind demnach nicht mehr reine Empfindungen, 
sondern bereits Empfindungen hineinverwoben in mit 
ihnen produzierte Gestaltvorstellungen. Das ist in weite- 
stem umfange fast ausnahmslos diei Begel, und man könnte 
deshalb die Bedeutung des Ausdruck „Wahmehmungs- 
Vorstellung" ohne fühlbare Gewaltsamkeit auf solche Vor- 
stellungen festl^en.i) 

3. Adäquate und inadäquate Vorstellungs- 
produktion. 

Wir haben den Produktionsprozeß bisher hauptsäch- 
lich nach der Art und Beschaffenheit seiner Ergebnisse, 
der produzierten Vorstellungen, charakterisiert. Dies ist 
jedoch nur eine indirekte Charakteristik, und es bleibt 
durchaus wünschenswert und erforderlich, daß sie durch 
eine direkte, den Prozeß als solchen selbst betreffende, 
ergänzt werde. Denn wenn er sich auch wesentlich 
im Unbewußten abspielt, so ist es für die Psychologie 
innerhalb gewisser Grenzen trotzdem nicht nur möglich, 
sondern geradezu notwendig, über das innere Wesen des 
Produktionsprozesses, über die Frage, ob er als Aktivität 
oder als Passivität aufzufassen ist, über die Eigentümlich- 
keit der Produktion des Zeitverteilten gegenüber der des 
Zeitlosen sowie über die sonstigen Gesetze und Eigen- 
schaften ihres Ablaufes Aufschluß zu suchen. 

Was aber als Antwort auf all diese Fragen heute 
vorliegt, ist weniger als ein allererster lückenhafter An- 
fang. Im allgemeinen ist nur zu sagen, daß die produ- 
zierenden Vorstellungen im Produktionsprozeß eine reale 
Verbindung (Eealrelation) miteinander eingehen ; doch ist 
dieser Aufschluß kaum viel mehr als eine Umschreibung. 
Denn es fragt sich ja eben darum, worin diese reale 
Verbindung besteht und wie sie sich entwickelt. Darauf 
müssen wir aber die Antwort noch schuldig bleiben. Was 
femer die speziellen Eigentümlichkeiten der einzelnen 
Arten des Prozesses anlangt, so ist auf das Wenige, was 
davon einigermaßen bekannt ist, bereits unter dem vorigen 

1) Siehe*" dazu auch die Ausführungen über das Wahrnehmungs- 
urteil (Saohregister!). 

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240 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

Titel hingewiesen worden. Doch liegen wenigstens An- 
fänge zu einer Erweiterung dieser Kenntnisse vor, An- 
fänge von so gesunder Art, daß sich die besten Erwar- 
tungen daran knüpfen. JJnd wie schon bei der Erforschung 
der Empfindungsprozesse, besonders beim Licht- und 
Farbensinne, gerade die Betrachtung des abnormalen Ver- 
haltens des Sinnesorganes am ehesten einen Einblick in 
das Wesen seiner Funktionsweise zu gewähren vermochte, 
so scheinen sich die Schleier auch hier vom gleichsam 
fehlerhaften Ablauf des Prozesses aus lüften zu wollen. 
Es ist die sogenannte inadäquate Vorstellungsproduktion, 
deren Untersuchung zu solchen Ansätzen geführt hat. 

Wir nennen eine Vorstellung adäquat, wenn ihr In- 
halt so beschaffen ist, daß sie, einem bejahenden Seins- 
Urteile über ihren Gegenstand eingefügt, ein richtiges 
Urteil ergibt; inadäquat, wenn sie vermöge der Be- 
schaffenheit ihres Inhaltes zu einer Täuschung über ihren 
Gegenstand zu führen geeignet ist. Wenn eine in Wirk- 
lichkeit graue Fläche w^en des augenblicklichen Adap- 
tationszustandes des Auges etwa gelblich erscheint, so 
ist diese Empfindung inadäquat, und adäquat, wenn sie 
grau erscheint. Es ist leicht einzusehen, daß der Begriff 
der Vorstellungsadäquatheit in seiner Anwendung auf 
Empfindungen, wenn er in voller Strenge genommen werden 
soll, wegen seiner Beziehung auf die „wirkliche" Be- 
schaffenheit des objektiven Gegenstandes, mit einigen er- 
kenntnistheoretischen Subtilitäten behaftet ist. Diese ent- 
fallen, wenn es sich nicht um Empfindungen, sondern 
um produzierte Vorstellungen handelt. Die Inadäquaiheit 
kann ja an zweierlei Stellen des ganzen Prozesses vom 
Reiz bis zur Wahmehmungsvorstellung verursacht sein; 
entweder durch irgend eine Abnormität auf dem Wege 
vom Reiz zur Empfindung — dann kommt es schon zu 
einer inadäquaten Empfindung; oder auf dem Wege von 
den Empfindungen zur Wahmehmungsvorstellang infolge 
inadäquaten Ablaufes des Produktionsprozesses — dann 
kommt es zu einer inadäquaten Produktions Vorstellung. 
Solche inadäquate Produktion ist leicht dadurch zu defi- 
nieren, daß ihr (Vorstellungs-)Ergebnis anders ausfällt, 
als es der notwendige Zusammenhang zwischen den Ge- 
genständen der produzierenden Vorstellungen und dem 



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1. !ffilfte: Psychologie de« Geisteslebeiis. 



Ui 




/ 



zugehörigen Gegenstände höherer Ordnung vorzeichnet. 
Die Gegenstände Rot und Grün sind notwendig ver- 
schieden, eie fundieren mit Notwendigkeit den Gegen- 
stand höherer Ordnung „Verschiedenheit". Die Gegen- 
stände Punkt a, b, c in der Anordnung ^\^ fundieren 

mit Notwendigkeit den Gegenstand höherer Ordnung „Drei- 
eck". Wenn ako die Vorstellungsproduktion dieser in den 
G^enständen liegenden Notwendigkeit gleichsam folgt \md 
wirklich auf die Vorstellungen der Verschiedenheit, des 
Dreiecks, führt, so nennen wir sie eine adäquate Pro- 
duktion und ihr Ergebnis ist eine adäquate Produktions- 
vorstellung; im Gegenfalle inadäquat. — Daneben gibt 
es noch inadäquate produzierte 
Vorstellungen anderen Ursprungs, 
nämlich solche, bei denen die In- 
adäquatheit nicht im Produktions- 
prozesse begründet liegt, sondern, 
infolge einer. Abnormität des Emp- 
findungprozesses , bereits in den 
Empfindungen enthalten ist; ver- 
läuft nämlich ein an sich durchaus 
adäquater Produktionsprozeß auf 
Grund von bereits inadäquaten 
Empfindungen, so muß er Datürlich 
gleichfalls zu einer inadäquaten Vor- 
stellung führen. Aber solche Fälle 
haben hier für uns kein Interesse. 

Fälle eigentlicher inadäquater Vorstellungsproduktion 
sind in jüngster Zeit mehrfach als solche erkannt und 
untersucht worden. Zunächst solche inadäquater Gestalts- 
produktion. Es' gehören hierher vor allem die so genannten 
„geometrisch-optischen Täuschungen". Diese Bezeichnung 
erweist sich jetzt als ein auf durchaus unwesentliche 
äußere Momente gestützter Verlegenheitsbehelf, veran- 
laßt durch Unkenntnis oder Mißdeutung des .Wesens der 
in Eede stehenden Tatsachen. Von den überaus zahl- 
reichen Formen der hierher gehörigen Täuschungsge- 
stalten seien nur folgende zwei angeführt : das sogenannte 
Zöllnersche Muster (Fig. 14) und die MüUer-Lyersche 
Figur (Fig. 15). Das ZöUnersche Muster (1860) besteht 



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\\ 




Fig. 14. 
ZollaenekM Mutor. 



Witasek, Grundlinien der Psychologie. 



16 T 

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343 II* '^^ Spezielle Psychologie. 

in seiner einfachsten Form aus zwei langen parallelen 
Geraden, die von kurzen parallelen Transversalen schief- 
winklig in paarweise entgegengesetztem Sinne gekreuzt 
werden; die beiden lang^i Parallelen erscheinen konver- 
gent, und zwar nach der der Konvergenz der Transver- 
salen entgegengesetzten Richtung. Die Müller-Lyersche 
Figur (1889) enthält zwei objektiv gleich lange Strecken, 
von denen die eine durch beiderseits angesetzte, nach auJ3en 
gerichtete Winkektücke verlängert, die andere durch 
ebensolche nach innen gerichtete verkürzt erscheint. 

Zahlreiche verschiedene Erklärungsversuche haben 
sich mit diesen und vielen anderen mehr oder weniger ver- 
wandten Täuschungsfigaren beschäftigt. Im ganzen lassen 
sie sich unterscheiden in solche, die den Grund der 
Täuschung in inadäquater Empfindung der Baumpunkte 
finden wollen, und in solche, die selbst die Gestaltvorstel- 





Fig. 16. 

MflUer-Lyenek« Figur. 

lung für adäquat gelten lassen und den Fall als reine 
„Urteilstäuschung'' hinstellen, in dem Sinne, daB nur die 
Beurteilung der an sich richtig vorgestellten Gestalt 
durch irgend welche täuschende Motive irr^eleitet würde. 
Beide Auffassungen haben sich als unhaltbar erwiesen. 
Die Urteilstheorien haben eine Reihe experimentell ge- 
fundener Tatsachen gegen sich, verlangen etwas psycho- 
logisch Unklares, psychologisch innerlich Unmögliches und 
sind schon mit der ganz unfehlbar und leicht zugänglichen 
Erfahrung unvereinbar, daß der täuschende Schein auch 
allfälligem, indirekt erworbenem besseren Wissen über die 
wahre Gestalt der Figur zum Trotz hartnäckig bestehen 
bleibt ; denn wenn die Täuschung nicht an einer inadäquaten 
Vorstellung, sondern nur an einem falschen Urteile liegt, 
so könnte dieses falsche Urteil nicht fortdauern, wenn 
anderseits das richtige Wissen — das ja auch nichts 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 243 

weiter als Urteil ist — erworben worden ist, weil zwei 
einander entgegengesetzte Urteile (Überzeugungen) über 
denselben Gegenstand in einem und demselben Individuum 
zu gleicher Zeit unmöglich sind. (Witasek, 1899.) 

Aber auch die Empfindungstheorien sind durch 
neuere experimentelle Untersuchungen (Benussi, 1902 
bis 1907) so gut wie endgültig ausgeschlossen. Die Kri- 
terien, welche dabei maßgebend waren, sind in der Haupt- 
sache folgende. Täuschungen, die auf Empfindungsinad- 
äquatheit beruhen, sind in ihrer Art, Richtung und Größe 
durchaus eindeutig und notwendig von Intensität und 
Qualität des Eeizes bestimmt; bei gegebenen Reizverhält- 
nissen tritt ein und allemal dieselbe inadäquate Empfin- 
dung mit fest bestimmter Täuschungsgröße auf, und zwar 
gänzlich unbeeinflußbar durch irgend welche weitere sub- 
jektive Momente, wie etwa allfälliges gegenteiliges "Wissen, 
Übung oder sonstwie willkürlich verändertes psychisches 
Verhalten. Die Eeizverhältnisse sind die vollständige und 
eindeutige Veranlassung des Täuschungseffektes. So liegen 
die Dinge z. B. bei den durch Licht- und Farbeninduktion 
oder durch die positiven sowie negativen Nachbilder 
bedingten Empfindungsinadäquatheiten. Die geometrisch- 
optischen Täuschungen dagegen verhalten sich, wie 
durch zahlreiche experimentelle Ermittelungen festgestellt 
ist, in diesen Punkten wesentlich anders. Sie können 
bei konstanten Reizen nicht nur sehr verschieden in 
ihrer Größe ausfallen, sondern geradezu entgegenge- 
setztes Vorzeichen annehmen, so daß ein und derselbe 
Eeizkomplex je nach Umständen verschiedene, einander 
entgegengesetzte Täuschungen, und jede derselben wieder 
je nach Umständen verschiedene, innerhalb gewisser 
Maxima und Minima schwankende Größen ergibt. Ein 

Eeizkomplex von der Anordnung — z. B. führt 

bisweilen zu einer scheinbaren Verlängerung, bisweilen 
zu einer scheinbaren Verkürzung der horizontalen Strecke. 
Die Umstände, von denen Richtung und Größe der In- 
adäquatheit abhängt, müssen also subjektiver Natur sein, 
und die experimentelle Untersuchung hat ergeben, daß 
sie in nächstem Zusammenhange mit der auf den Empfin- 



244 H. Teil. Spezielle Psychologie. 

dungskomplex sich gründenden Gestaltprpduktion stehen. 
Je nachdem sich die Empfindungsdaten in diesem Pro- 
zeß mehr oder weniger leicht, energisch und ungestört 
zu einer Gestalt zusammenschließen, desto ausgiebiger 
konunt es zu der mit dieser Gestalt verbundenen Inad- 
äquatheit, und wenn die Inadäquatheit auf Grund der- 
selben Empfindungsdaten in ihr entgegengesetztes Vor- 
zeichen umschlägt, so kommt das daher, daß sie sich nun 
zu einer anderen Gestalt zusammengeschlossen haben. Der 

Eeizkomplex kann zu einer Gestaltproduktion 

verwendet werden, in der die Punkte mit den Streckenenden 

(also ^ ^) oder untereinander (also — i — i — ) 

in Beziehung gesetzt sind (natürlich ohne daß dazu in 
der Phantasie schwarze Linien ausgezogen gedacht würden). 
Im ersten Falle erscheint die Strecke verkürzt, im zweiten 

verlängert. Der Eeizkomplex \- ^ kann durch un- 
gehinderte Produktion zu einer einheitlich erfaßten Ge- 
stalt zusammengeschlossen werden; es kann aber auch 
diese G^staltproduktion durch besonderes Herausheben 
der Strecke als einer Gestalt für sich und Abtrennen von 
den zurückzudrängenden "Winkelstückchen — die ja da- 
durch nicht aus der Empfindung verschwinden — auf- 
gehalten, gehindert werden; je ausgesprochener nun das 
eine und das andere gelingt, desto größer ist im ersten 
Falle die scheinbare Verkürzung der Strecke, desto mehr 
nähert sie sich im andern Falle ihrer adäquaten Länge. 
Damit ist zugleich gesagt und erklärt, daß solche 
Täuschungen, im Gegensatz zur Empf indungsinadäquatheit, 
durch wiederholtes Betrachten, selbst mehr oder weniger 
willkürlich, steigerungsfähig, der Übung zugänglich sind, 
und dies noch dazu in beiderlei, einander entgegenge- 
setztem Sinne. 

Dies dürfte genügen, um die Annahme, daß die geo- 
metrisch-optischen Täuschungen in inadäquatem Ablauf 
des Produktionsprozesses begründet sind, zu rechtfertigen. 
Gestützt dürfte diese Annahme noch dadurch werden, 

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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebeus. 246 

daß Sich bei Tastraum- und bei Zeitgestalten ähnliche 
Täuschungen haben nachweisen lassen. (Bieber, 1903. 
Sobeski, 1903. Meumann, 1896.) Worauf nun aber des 
näheren die Inadäquatheit dieses Prozesses zurückzu- 
führen ist, darüber kann zurzeit noch nicht viel bei- 
gebracht werden. Es )äßt sich nur vermuten, daß 
Vorstellungsprozesse, die miteinander jene reale Verbin- 
dung eingehen, welche der Produktionsprozeß zur Voraus- 
setzung hat, einander im Sinne der eigenen Beschaffenheit 
beeinflussen. Bestätigt sich diese Vermutung, so wird 
es auch einmal gelingen, die geometrisch - optischen 
Täuschungen mit den eigentlichen Sinnestäuschungen, 
m. a. W. die Inadäquatheiten des Produktions- mit denen 
des Empfindungsprozesses unter einer einzigen, allerdings 
höheren, allgemeineren Formel zu fassen, insofern als ja 
auch diese auf einer gegenseitigen Beeinflussung der 
(Empfindungs-)Prozeese beruhen. — 

Mit wenigen Worten sei nun noch darauf hingewiesen, 
daß solche Produktionsinadäquatheiten nicht etwa auf das 
Gebiet der Gestaltproduktion beschränkt zu sein brauchen, 
ja daß wir auch schon einige experimentell wohluntersuchte 
Tatsachen kennen, die offenbar gleichfalls als solche auf- 
zufassen sind, aber einer anderen Produktionsart, nämlich 
der des Vergleichens, angehören. Bei Versuchen über 
das Vergleichen gehobener Gewichte (Martin und Müller 
1899) sowie bei Versuchen über das Vergleichen von 
Zeitstrecken und Zeitdistanzen (Schumann, 1898, Meu- 
mann, 1896, Benussi, 1907) haben sich nämlich je nach 
den Begleitumständen des Vergleichs verschiedene, sonst 
übrigens sehr konstante Gesetzmäßigkeiten des Vergleichs- 
fehlers gezeigt. Das Ergebnis bei Gewichtsvergleichungen 
erwies sich z. B. deutlich abhängig von der Art der 
Anordnung der aufeinanderfolgenden Vergleichspaare, das 
bei Zeitvergleichungen von der Qualität und Intensität 
der Geräusche, durch welche die zu vergleichenden 
Zeiten begrenzt sind. Auf das Einzelne der jeweiligen 
Sachlage kann hier nicht eingegangen werden. Im all- 
gemeinen beruhen solche Vergleichstäuschungen zu- 
meist wahrscheinlich darauf, daß sich der Produktions- 
prozeß auf Grund anderer Elementarvorstellungen (Emp- 
findungen) entwickelt, als die sind, auf deren Gegen- 



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246 II- Teil. Spezielle Psychologie. 

stände schließlich! die fertig produzierte Vergleichsvor- 
stellung bezogen wird. So verhält sich die Sache mit dem 
Einfluß der sogenannten Nebenvergleichungen bei Ge- 
wichtsversuchen, die darin bestehen, daß sich vermöge 
der Aufeinanderfolge der Vergleichspaare bei der Aas- 
führung der Vergleichsaufgabe Gewichtseindrücke in die 
Vergleichstätigkeit eindrängen und das Vergleichsergebnis 
bestimmen, die in der Aufgabe nicht gemeint waren, 
während das Vergleichsergebnis dann doch auf die in 
der Aufgabe gemeinten Gewichtseindrücke bezogen wird; 
so verhält es sich auch, wenn beim Vergleichen von kurzen 
Zeitstrecken die durch stärkere Geräusche begrenzte 
Strecke gegenüber der durch schwächere begrenzten über- 
schätzt wird, indem dabei vermöge der Kürze der Zeiten 
den Grenzgeräuschen die größere Auffälligkeit zukommt 
und das im unvermerkten Vergleichen dieser gewonnene 
„Größer" unwillkürlich auf die Zeitstrecken übertragen 
wird. Die Inadäquatheit liegt also in allen diesen Fällen 
darin begründet, daß der auf die Vorstellungen a und h 
tendierte Produktionsprozeß sich unwillkürlich auf Grund 
anderer Vorstellungen c und d entwickelt, sich aber im 
Produktionsergebnis als die produzierte Vorstellung tra- 
gende Vorstellungen doch wiederum a und h unterschieben, 
statt daß diese Funktion, wie es normal wäre, c und d 
behalten. — Damit ist beispielshalber eine der überaus 
mannigfaltigen und gewiß noch nicht annähernd voll- 
ständig bekannten Formen inadäquaten Produktionsab- 
laufes beim Vergleichen charakterisiert; womit jedoch 
keineswegs gesagt sein soll, daß alle fehlerhaften Ver- 
gleichsergebnisse auf Produktionsinadäquatheit beruhen 
müßten. 

e) Die reproduzierten YorstellnDsren. 

1. Zur Einteilung. 

Unsere Einteilung der Vorstellungen in Empfindun- 
gen, dann produzierte und reproduzierte Vorstellungen 
gründet sich bekanntlich auf die Verschiedenheiten ihres 
Ursprunges. Nun sind die Vorstellungen des wirklichen 
psychischen Lebens fast immer zusammengesetzte Vor- 
stellungen, Komplexe aus Elementarvorstellungen ; und wir 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 247 

finden, daß sie, jede für sich genommen, zumeist aus 
Elementarvorstellungen verschiedener Ursprungsart zu- 
sammengesetzt sind. So erkannten wir bereits, daß die 
Wahmehmungsvorstellungen, wohl eine der wichtigsten 
Vorstellungsarten, Empfindung und Produktion zugleich 
enthalten, und vielleicht darf man ergänzend hinzufügen, 
daß es Fälle gibt, in denen selbst reproduktive Elemente 
vervollständigend an ihnen mitwirken ; beim Anblick eines 
schönen, reifen Apfels z. B. ereignet es sich leicht, 
daß auch der Eindruck des säuerlichen Geschmackes re- 
produktiv anklingt und zur „Wahrnehmung", wenn auch 
fälschlich, hinzugenommen wird. Daraus folgt, daß unsere 
Einteilung in strenger Sonderung nur auf die Elementar- 
vorstellungen anwendbar ist, und sich die komplexen Vor- 
stellungen des wirklichen Lebens hauptsächlich nur nach 
den verschiedenen Kombinationen, in denen sich die ver- 
schiedenen Elementarvorstellungen in ihnen finden, ver- 
schiedenartig charakterisieren. 

Dem Wesen der Vorstellungsreproduktion gemäß kön- 
nen im Prinzip nur solche Elementarinhalte reproduziert 
werden, die schon vorher einmal auf einem anderen Wege 
ins Bewußtsein gekommen sind. Solche andere Wege 
gibt es bekanntlich nur zwei, nämlich Empfindung und 
Produktion; und in der Tat können im allgemeinen so- 
wohl ursprüngliche Empfindungs- als auch ursprüngliche 
Produktionsinhalte reproduziert werden. 

Komplexe Vorstellungen nun, in denen sowohl die 
ursprünglichen Empfindungs- als auch die ursprünglichen 
Produktionsinhalte reproduziert sind, stellen das dar, 
was wir auch im gewöhnlichen Leben als Gedächtnis- oder 
Erinnerungsvorstellung im eigentlichen Sinne bezeichnen. 
Wenn ich mir den Anblick einer Landschaft, das Äußere 
einer abwesenden Person, die Themen eines Musikstückes 
im Gedächtnis vergegenwärtige, so sind das solche Fälle; 
sowohl die Elemente (Bestandstücke) als auch die Gestalten 
sind aus der Erinnerung bekannt und nun in entsprechen- 
der Verbindung reproduziert. Nur das eine wäre hinzu- 
zufügen, daß dabei der Reproduktion des ursprünglich 
produzierten Inhaltes, also zumeist der Gestalt, in der 
Regel ein gewisser Vorrang zukommt, indem Absicht, 
Aufmerksamkeit und Tätigkeit des Subjektes zunächst auf 



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248 ^ ^^^' Spezielle Psychologie. 

sie gerichtet sind, und, wenn sie gelingt, die Beproduktion 
der Bestandstückrorstellungen gleichtun automatisch mit 
erfolgt; wer sich eine Melodie ins Gedächtnis ruft, der 
sucht nicht willkürlich und planlos Töne zu reproduzieren, 
sondern er sucht sofort direkt und unvermittelt nach der 
Tongestalt, der Melodie, und unter Führung der Gestalt- 
vorstellung macht sich die Auswahl der reproduzierten 
TonvorsteUungen. Daher kommt es auch, daß eine Me- 
lodie zumeist gar nicht mit jenen Tönen reproduziert 
wird, mit denen sie ursprünglich vernommen wurde, 
sondern mit andern, d. h. unwillkürlich transponiert. (Siehe 
S. 224.) 

Von diesen rein reproduzierten Vorteilungen oder, 
wie wir sagten, eigentlichen Gedächtnis- oder Erinnerungs- 
vorstellungen zu unterscheiden sind nun solche kom- 
plexe Vorstellungen, in denen eine der beiden Kom- 
ponenten nicht reproduziert ist; und da sich dann die 
Sache so verhalten muß, daß der Inhalt dieser Kom- 
ponente nicht vorher schon einmal in der Vorstellung, 
auch nicht in einer Wahmehmungsvorstellung, vorhanden 
gewesen war, er also für das gegebene Subjekt etwas 
Neues sein soll, so wird diese Bolle, wenn man von 
dem gleichgültigen Falle der Mitwirkung neuer Empfin- 
dungen absieht, der Produktionskomponente zufallen 
müssen. Der produzierte Inhalt, wohl zumeist ein Gestalt- 
inhalt, soll also etwas Neues sein: man sieht, daß wir 
damit auf jene Vorstellungen kommen, die herkömmlich 
als Phantasievorstellungen bezeichnet werden. — Aber 
auch da ist es nicht gleichgültig, ob die Aktivität des 
Subjektes zunächst auf die Beproduktion der Bestand- 
stückvorstellungen gerichtet ist und sich erst auf deren 
Grunde ein regelrechter Produktionsvorgang abspielt, der 
zu einer neuen produzierten Vorstellung gleichsam 
zufällig dann führt, wenn eben die Konfiguration der 
reproduzierten Inhalte darnach geraten ist; oder ob 
die neue Produktionsvorstellung selbst es ist, was von 
dem ganzen, komplexen Vorsiellungsgebilde primär und 
unmittelbar ins Bewußtsein kommt, während die zu- 
gehörigen Elementar-Bestandstück- Vorstellungen lediglich 
von ihr aus angeregt zur Beproduktion gelangen. Der 
erste der beiden Fälle bat kaum irgendwo einige Bedeutung, 



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1. Hälfte: Psychologie dei GheiBteslebens. 249 

höchstens im Gange mathematischer Forschung, wenn 
unter der Leitung eines gewissen mathematischen In- 
stinktes anscheinend willkürlich algebraische oder geo- 
metrische Gebilde herausgegriffen werden und die Frage 
nach den zwischen ihnen bestehenden Beziehungen, d. i. 
den auf ihnen sich aufbauenden (mathematischen) Gegen- 
ständen höherer Ordnung zur Erledigung kommt. Der 
zweite Fall dagegen ist der eigentiiche Weg der schöpfe- 
rischen Phantasie. Der bildende KünsÜer, der neue 
Formen schafft, der Tondichter, der neue musikalische 
Motive ersinnt, geht nicht von den einzelnen Bestand- 
stiicken aus, um sie dann erst zusammenzulegen, nicht 
die einzelnen Linien, Töne sind es, die in seinem Bewußt- 
sein auftauchen, sondern die Baum- oder Ton g estalt 
selbst löst sich los aus jener eigenartigen Gesamtbewußt- 
seinslage, auf deren Boden die künstlerische Konzeption 
entspringt. Der erste der beiden Fälle ist wohl auch 
Phantasietätigkeit, dem zweiten aber pflegen wir diese 
Bezeichnung im eigentlichen Sinne vorzubehalten. 

Damit sind nun sämtliche Hauptformen komplexer 
Vorstellungen aufgezeigt, die sich noch außer den Wahr- 
nehmungsvörstellungen aus der Kombination der ver- 
schiedenen Ursprungsarten der Elementarvorstellungen er- 
geben. Suchen wir nach einer gemeinsamen Bezeichnung 
für sie, so stellt sich uns der Ausdruck „Einbildungs- 
vorstellungen** oder „Phantasievorstellungen im weiteren 
Sinne" zur Verfügung. Als Unterarten gehören dann dazu 
die rein reproduzierten, nämlich die Gedächtnis- oder 
Erinnerungsvorstellungen einerseits, und anderseits die 
Phantasievorstellungen engeren Sinnes, die den obigen 
Auseinandersetzungen geii^ noch in uneigentliche und 
eigentliche unterschieden werden können. — 

Die seinerzeit (S. 100 f.) vorgeführte gegensätzliche 
Charakteristik der Vorstellungen aLs anschaulicher gegen- 
über unanschaulichen, konkreter gegenüber abstrakten, in- 
dividueller gegenüber allgemeinen zur Untersuchung der 
empirisch gegebenen Vorstellungsmannigfaltigkeit mit 
der eben besprochenen Einteilungsweise zu kombinieren, 
würde, wenn sie Wert und Erfolg haben soll, zu schwierige 
und weitläufige Analysen der Natur jener Gegensätze 
verlangen. Es genüge daher die Bemerkung, daß Empfin- 



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260 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

dangen und Wahmehmungsvorstellungen stets nur auf 
der einen Seite der drei Dichotomien (anschaulich, kon- 
kret, individuell) zu stehen kommen können, während sich 
die verschiedenen Einbildungsvorstellungen dazu im all- 
gemeinen ziemlich indifferent verhalten. 

2. Nähere Beschreibung. 

Alle Arten von Einbildungsvorstellungen kennzeich- 
nen sich als zu einer gemeinsamen natürlichen Klasse 
gehörig schon durch ihie gleichartige Beschaffenheit, 
ihren gemeinsamen psychischen Habitus. Dieser psy- 
chische Habitus ist bereits der elementaren Beproduktions- 
vorstellung eigen, und diese ist es daher in erster Linie, 
die auch der zusammengesetzten Einbildungsvorstellung 
die charakteristische Beschaffenheit verleiht. 

Zwei Momente sind es hauptsächlich, die da angeführt 
werden müssen, freilich, da sie ihrer psychologischen Natur 
nach nur unzureichend geklärt sind, bloß in mehr oder 
weniger bildlicher, metaphorischer Ausdrucksweise. Das 
eine läßt sich als eine gewisse Flüchtigkeit, das andere 
als Blässe, Mattigkeit der reproduzierten Vorstellungen 
bezeichnen. 

Die Flüchtigkeit ist leichter zu beschreiben. Ee- 
produzierte Vorstellungen halten sich in der Eegel nur 
für ganz kurze Zeit, kleine Bruchteile von Sekunden, 
aktuell im Bewußtsein-, sie tauchen auf, vergehen aber 
fast sofort wieder, können freilich nach kürzerer oder 
längerer Zeit beinahe unverändert zurückkehren, um dann 
aber ebenso rasch und unaufhaltsam wieder zu ver- 
schwinden. Sie sind es hauptsächlich, die das beständige 
Auf und Nieder, den steten Wechsel ins Bewußtsein 
bringen, über den selbst der intensivste Gegenwille nur 
80 weit Herr zu werden vermag, daß ausgiebigste rasche 
Wiederkehr ein und derselben Vorstellungen, nicht deren 
ständiges Beharren, eine Konzentration des Denkens und 
Stabilität der Denkrichtung ermöglicht. Übrigens läßt sich 
diese Flüchtigkeit der reproduzierten Vorstellungen als eine, 
nur eben hochgradige, Steigerung von etwas auffassen, 
was schon für die Empfindungen gilt: auch diese halten 
nicht ins Unbegrenzte aus ; wirkt dauernd ein und derselbe 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 261 

Eeiz ganz unverändert und ununterbrochen auf das Sinnes- 
organ ein, so ändert sich, besonders beim Licht und 
Farben- sowie beim Temperatursinn, nach und nach die 
Empfindung, und schließlich fällt sie ganz aus. 

Die zweite Eigentümlichkeit ist durch die meta- 
phorische Bezeichnung „Mattigkeit", „Blässe" relativ gut 
getroffen; es wäre aber doch schwer, sie eindeutig und 
verständlich vorzuführen, wenn sie nicht allen aus der 
inneren Erfahrung und dem handgreiflichen Kontraste 
gegen die Lebhaftigkeit, Gesättigtheit und Plastik der 
Empfindungen so deutlich bekannt wäre. Bei diesem Hin- 
weis auf die Erfahrung muB es aber auch bleiben; denn 
eine weitere Beschreibung ist uns dermalen nicht möglich. 
Eine solche kann ja nur dort Platz greifen, wo -Analyse 
und Zurückführung auf anderweitig Bekanntes gelungen 
ist, und das ist hier nicht der Fall. Man wird deshalb 
die Möglichkeit, daß es vielleicht doch einmal gelingt, 
noch nicht von vornherein abweisen dürfen; unsere der- 
maligen psychologischen Forschungsmittel werden ja ge- 
wiß noch manche Steigerung zulassen und auch erfahren. 
"Was jedoch bis jetzt an Zurückführungsversuchen vor- 
liegt, kann keine Geltung beanspruchen. Einige Be- 
achtung verdient nur die nicht eben selten aufgestellte 
Meinung, der Unterschied zwischen der Eeproduktions- 
blässe und der Empfindungslebhaftigkeit sei lediglich ein 
Unterschied des Intensitätsgrades. Nun wird man viel- 
leicht zugeben können, daß jene Blässe und diese Leb- 
haftigkeit einem, und zwar einem und demselben Konti- 
nuum steigerungsfähiger Grade angehören. Denn die 
Blässe und Mattigkeit der Einbildungsvorstellungen kann 
bald mehr, bald weniger ausgeprägt, höheren, geringeren 
Grades sein; und je geringeren Grades sie ist, desto mehr 
nähert sie sich der Lebhaftigkeit, die wir an den Wahr- 
nehmungsvorstellungen kennen. Wohl jedermann kennt 
aus der eigenen inneren Erfahrung diese Gradunterschiede 
in der Lebhaftigkeit der Einbildungsvorstellungen; denn 
wenn auch für jedes Individuum ein bestimmtes Grad- 
niveau die Regel sein mag, so erlebt es doch bisweilen 
Abweichungen von diesem Niveau, erhöhte Lebhaftigkeit 
bei der Eeproduktion eben erst erloschener Sinnesein- 
drücke, in Zuständen besonderer geistiger Begsamkeit oder 



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252 n. Teil Spezielle Psychologie. 

krankhafter Aufregung, vielleicht auch im Traume, ex- 
zessiv herabgesetzte Lebhaftigkeit bei Ermüdung, und 
die meisten Individuen bevorzugen gemäß natürlicher 
Anlage und Übung das eine oder das andere Sinnesgebiet, 
indem sie entweder Farben oder Töne usw. vor anderem 
besonders lebhaft zu reproduzieren vermögen. Auch haben 
wir deutliche Anzeichen dafür, daß jenes durchschnittliche 
Niveau bei verschiedenen Individuen sehr verschiedene 
Höhe hat. Unter der Bezeichnung „Phantasmen" sind 
bereits mehrfach Einbildungsvorstellungen von so hoch- 
gradig gesteigerter Lebhaftigkoit berichtet und geschildert 
worden, daß sie den Wahrnehmungsvorstellungen schon 
unverkennbar nahestanden; und Halluzinationen sind — 
allerdings wohl nur innerhalb des pathologischen Ge- 
schehens auftretende — Vorstellungen, die trotz Abwesen- 
heit aller entsprechender Reizvorgänge den Charakter 
wirklicher Wahmehmungsvorstellungen zur Genüge an 
sich haben. Anderseits kommt es vor, daß man bei 
Abstufung minimaler Reize an der Reizschwelle, besonders 
von Tönen und Geräuschen, bisweilen nicht sicher sagen 
kann, ob man wirklich noch eine Empfindung gehabt 
hat oder nur eine so lebhafte Einbildungsvorstellung des 
zu erwartenden Eindrucks. Alle diese Tatsachen können 
als Fingerzeige dafür genommen werden, daß eine kon- 
tinuierliche Intensitätsskala von den blassesten reprodu- 
zierten Vorstellungen über immer lebhaftere und leb- 
haftere endlich zu den Empfindungen führt. Daß gerade 
die Ubergangszone bei Empfindungen starken Inhaltes 
empirisch nicht belegt ist — bei solchen schwachen In- 
haltes ist sie es ja, wie eben gezeigt wurde — , mag immer- 
hin auf Rechnung irgend eine • funktionellen Zusamnien- 
hanges zwischen der Intensität des Vorstellungsaktes und 
der des Inhaltes zu setzen sein. Denn das muß jedenfalls 
festgehalten werden: liVenn man überhaupt daran denkt, 
die Mattigkeit der reproduzierten Vorstellungen als ge- 
ringen Intensitätsgrad aufzufassen, so kann dies nur auf 
die Intensität des Vorstellungsaktes und nicht auf die 
des Inhaltes bezogen werden; wenn wir einmal ein 
ganz leises Geräusch, z. B. das Klopfen des Holzwurms, 
und dann ein starkes, etwa Kanonendonner, vorstellen, 
so ist mit dieser, die Intensität des Inhaltes betreffenden Ver- 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 263 

änderung an sich noch keine Steigerung der Lebhaftigkeit 
des Vorstellens verbunden. — Gleichwohl ist diese Zu- 
rückführung auf Intensitätsunterschiede des Vorstellungs- 
aktes nicht unter allen Gesichtspunkten gleich befriedi- 
gend, und es muJB die Möglichkeit immer noch im Auge 
behalten werden, daß sie sich schließlich doch einmal 
endgültig als unhaltbar erweist. Dann wird es keinen 
andern Ausweg geben, als, den Lebhaftigkeitsunterschied 
zwischen Empfindung und Eeproduktion für einen in 
der Qualität des Vorstellungsaktes liegenden hinzunehmen. 
Auf jeden Fall aber ist dieses Moment an der .Vor- 
stellung der Steigerung und Herabsetzung fähig, und da 
ist es besonders eine Gradstufenzone, nämlich die der 
allerschwächsten Lebhaftigkeitsgrade, der wir noch einige 
Beachtung zuwenden wollen. Es kommt oft vor, daß man 
sich z. B. eines Namens zu entsinnen wünscht, daß man 
sich des Erfolgs dabei so ziemlich sicher glaubt, ja daß 
man gar schon meint, bereits so weit zu sein, daß es 
sich nur mehr um das Aussprechen handelt; und doch 
gelingt es nicht, der Name ist nicht einmal noch im 
Bewußtsein, er ist noch gar nicht vorgestellt, zum min- 
desten nicht deutlich. Dabei hat man gleichwohl be- 
stimmtest das Gefühl, daß man das Gesuchte wenigstens 
bis zu einem gewissen Grade schon hat, daß die verlangte 
Vorstellung bereits in ein Anfangsstadium der Eeproduk- 
tion getreten ist, das zwar zu positiver Angabe des Namens 
noch nicht genügt, das aber dazu ausreicht, daß wenig- 
stens jede fehlgehende Eeproduktion sofort als solche er- 
kannt und zurückgewiesen wird. „Der Name liegt mir 
auf der Zunge", wie man zu sagen pflegt. Es ist schon 
etwas von ihm da im Bewußtsein, aber noch nicht genug. 
Mit diesem „Etwas" sollen übrigens nicht einzelne Teil- 
silben, Laute, gemeint sein. Auch das kommt freilich 
vor, besonders häufig ist es der Anlaut, der so im Ee- 
produktionsprozeß voraneilt. Doch sind dies teilweise 
andere Fälle als der, von dem hier die Eede ist. Da ist 
das ganze "Wort gleichmäßig unlebendig, vorhanden im 
Bewußtsein und doch nicht jgegenwärtig, genauer aus- 
gedrückt, im allerersten Anfangsstedium des Eeproduziert- 
seins, oder, wie wir wohl sagen dürfen, in exzessiver 
Mattigkeit und Blässe vorgestellt. In anderer "Weise sind 



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264 II. Teil. Spezielle Psychologie. 

die geschilderten Oedächtnistatsachen nicht zu verstehen ; 
als Teilreproduktion oder als hochgradig unanschauliches 
Vorstellen lassen sie sich nicht deuten. Dagegen werden 
sie recht gut verständlich, wenn man sie, wie schon 
gesagt, als höchsten Grad der den reproduzierten Vor- 
stellungen auch sonst eigenen Blässe ansieht. In diesem 
Sinne ßeJJen sie sich treffend als „Vorstellungsrudimente" 
bezeichnen. Sie kommen natürlich keineswegs nur beim 
Namensuchen vor; an vielleicht jeder andern Vorstellung 
kann man sie erleben. Ich suche mich einer Melodie 
zu entsinnen und komme nicht über das Stadium hinaus, 
da ich sie zu haben glaube und doch nicht fassen kann. 
Auch kommen sie nicht nur vor in Fällen willkürlichen 
Suchens nach der Eeproduktion ; man wird vielmehr mit 
Becht annehmen dürfen, daß unser Bewußtsein gleichsam 
auf seinem Grunde jederzeit von zahlreichen derartigen 
Vorstellungsrudimenten erfüllt ist, die, durch mannigfache 
Anlässe im Bewnßtseinsablauf angeregt, entweder doch 
zu wenig Anregung erhalten haben oder, so wie in jenen 
anderen Fällen, durch Hemmungen irgendwelcher Art 
in ihrer Entwicklung zu vollerer Lebhaftigkeit zurück- 
gehalten werden.^) 

Die besondere Bedeutung, welche dem Momente der 
größeren oder geringeren Lebhaftigkeit der Einbildungs- 
vorstellungen für die Eigenart des psychischen Lebens 
verschiedener Individuen zukommt, ist schon oben ge- 
streift worden. Nicht nur, daß der durchschnittliche Leb- 
haftigkeitsgrad individuell wechselt, auch nach dem Vor- 
stellungsgebiete, auf dem sich mehr oder weniger ständig 
die größte Lebhaftigkeit findet, unterscheiden sich die 
einzelnen Individuen. Das eine bevorzugt Gesichts-, das 
andere Gehörs-, das dritte kinästhetische Vorstellungen 
oder irgend eine Kombination aus den dreien ; man kennt 
darnach einen visuellen, einen akustischen, einen mo- 
torischen Typus. Doch mag das Wesentliche der Typen 
nicht nur darin, sondern auch in der Häufigkeitsbevor- 

^) Vielleicht können wir in diesem Konglomerat von VorateUungs- 
radimenten zusammen mit zugehörigen Gefühlsanregungen das er- 
blicken, was kürzlich unter dem Terminus „Bewu£tseinslage" in 
psychologischen Betracht gezogen worden ist. (Mayer u. Orth, 1901 ; 
Marbe, 1901; Orth, 1908.) 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 255 

zuguag des bestimmten Gebietes liegen, so daß z. B. 
der Visuelle die "Wörter der Sprache vorwiegend nach 
dem Schriftbilde, der Akustische nach dem Lautbilde, 
der Motorische nach den kinästhetischen Empfindungen 
in den Sprechwerkzeugen vorstellt. (Charcot, 1886.) In 
neuerer Zeit beginnt man übrigens die Typenunter- 
scheidungen zu vermehren und auch noch auf andere in- 
dividuelle Eigentümlichkeiten des intellektuellen Lebens 
auszudehnen. (Ogden, 1904.) Ihre Untersuchung bildet 
eine der zahlreichen Aufgaben der sogenannten „Indivi- 
dualpsychologie", auch „Psychologie der individuellen Dif- 
ferenzen" genannt (Stern, 1900), die die charakteristischen 
Eigentümlichkeiten, durch welche sich die verschiedenen 
Individuen in ihrer psychischen Organisation gegenein-, 
ander unterscheiden, festzustellen hat. 

Die zwei bisher betrachteten Eigenschaften der re- 
produzierten Vorstellungen, die Flüchtigkeit und die 
Mattigkeit, gelten sowohl für die zusammengesetzten als 
auch für die einfachen (elementaren) VorsteUungen. Ein 
drittes und letztes Merkmal kommt seiner Natur nach 
nur den zusammengesetzten Vorstellungen zu: die re- 
lative Inhaltsarmut und Unvollständigkeit. Die Wahr- 
nehmungsvorstellung eines auch noch so primitiven Ge- 
genstandes weist in ihrem Inhalt eine kaum zu er- 
schöpfende Menge von Merkmalen und Einzelheiten auf; 
der Federstiel in meiner Hand könnte, wenn er bis ins 
Letzte beschrieben werden sollte, Arbeit auf viele Stunden 
geben. Aber selbst der, der sich einer solchen Mühe unter- 
zöge, wäre nachher nicht dazu imstande, den Federstiel 
auch nur entferntest mit ebensovielen Merkmalen und 
Einzelheiten zugleich im Gedächtnis anschaulich vorzu- 
stellen. Auch die getreueste und anschaulichste Gedächt- 
mswiedergabe vereinfacht und schematisiert das Original, 
sie ist an Einzelheiten des Inhaltes ärmer als die Wahr- 
nehmungsvorstellung. 

3. Teilursachen innerhalb des Bewußtseins. 

Die Gesamtursache, die in jedem Falle dem Auftreten 
einer reproduzierten Vorstellung zugrunde liegt, ist ein 
Komplex, der nur teilweise dem Bewußtsein angehört, 



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266 n. Teil. Spezielle PBychologie. 

d. i. aus aktuellen psychischen Tatsachen besteht, zum 
andern Teil dagegen außerhalb des Bewußtseins gesucht 
werden muß. Es sollen hier zunächst die aktuellen psy- 
chischen Teilursachen in Betracht gezogen werden. 

Es ist eine der populärsten Tatsachen der ganzen 
Psychologie, daß reproduzierte Vorstellungen durch an- 
dere Vorstellungen, Empfindungen und Wahrnehmungs- 
yorstellungen ' so gut wie etwa gleichfalls Einbildungs- 
(Vorstellungen, hervorgerufen werden können. Die Tat- 
sache ist unter dem Namen der Vorstellungsassoziation 
gang und gäbe. Man meint damit, daß die beiden Vor- 
stellungen so „aneinander gekettet'' sind, daß das Auf- 
treten der einen die psychische Teilursache zur Aktuali* 
sierung der andern ist, wobei in manchen Fällen jede 
der beiden assoziierten Vorstellungen die Bolle der vor- 
ausgehenden, der Teilursache übernehmen kann, in anderen 
nur die eine von ihnen, so daß dann die 'Assoziation 
nur in einer der beiden Dichtungen wirksam wird. Eine 
alte Eisenbahnfahrkarte, die ich zufällig in einer Bock- 
tasche finde, erinnert mich an eine Beise, die ich vor 
längerer Zeit gemacht, an Städte und Menschen, die ich 
dabei kennen gelernt, an Fragen, die ich da und dort 
besprochen, an Arbeitspläne, die sich daran geknüpft, und 
an weitere Beisen, die ich in Aussicht genommen habe. Ob 
wir dabei ein Eecht haben, die assoziierende Vorstellung 
im Bewußtsein wirklich als wirkende Teilursache auf- 
zufassen, oder ob sie nicht vielmehr nur als gleichgültige 
Begleiterscheinung von anderwärts zu suchenden Ursachen 
zu nehmen ist, ist eine theoretisch-prinzipielle Frage, die 
uns hier nicht mehr aufzuhalten braucht; denn sie findet 
ihre Erledigung gemäß den Erörterungen des allgemeinen 
Teiles. Jetzt interessieren wir uns für die empirisch kon- 
statierbaren Tatsachen, und diese sind so beschaffen, daß 
wir von assoziierender und assoziierter Vorstellung am 
natürlichsten als von Teilursache und Wirkung sprechen. 

Schon in den ersten Zeiten der wissenscluiftlichen 
Psychologie hat die Vorstellungsassoziation die Aufmerk- 
samkeit auf sich gezogen und dazu angeregt, Gesetze 
ihres Ursprungs und Verlaufes aufzusuchen; und schon 
aus jenen ersten Zeiten stammen die Gesichtspunkte, nach 
denen man sich hierauf durch alle folgenden Jahrhunderte 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 257 

bis vor nicht gar zu langer Zeit die Tatsachen zurecht- 
zulegen pflegte. Es waren die vier alten „Assoziations- 
gesetze". Sie sollten besagen, was für Vorstellungspaare 
assoziative Verbindung eingehen können. Darnach gab 
es Assoziation durch Ähnlichkeit (Bild — Original), durch 
Kontrast (Eiese — Zwerg), durch zeitliche Folge (Blitz 

— Donner) und durch räumliches Beieinander (Himmel 

— iWolken). i 

Die heutige Psychologie hat diese Vierzahl auf- 
gegeben. Denn in zweierlei Sinne können solche Asso- 
ziationsgesetze intentioniert sein und verstanden werden, 
in einem funktionellen und einem mehr formalen, aber 
weder im einen noch im anderen hat sich die alte Vier- 
zahl zutreffend erwiesen. Entweder nämlich ist ein Asso- 
ziationsgesetz der Ausdruck für die Bedingung, der der 
Ablauf des psychischen Geschehens genügen muß, wenn 
sich die funktionelle Beziehung, in der die assoziative Ver- 
bindung besteht, soll entwickeln können; es gibt dann 
die Antwort auf die Frage: was für Ereignisse im 
Vorstellungsverlaufe bewirken die Entstehung von As- 
soziationen? In diesem Sinne aufgefaßt, verdecken die 
alten Assoziationsgesetze den wahren Sachverhalt, indem 
sie Wesentliches und Unwesentliches nebeneinander- 
stellen. Nach eingehender Diskussion bekennt sich die 
heutige Psychologie vorwiegend zu der Entscheidung, daß 
die einzige Bedingung, die, von mehr oder weniger förder- 
lichen Nebenumständen abgesehen, im Vorstellungsverlauf 
erfüllt sein muß, wenn es zur Begründung einer Asso- 
ziation kommen soll, die ist, daß die beiden Vorstellungen 
in zeitliche Berührung miteinander geraten; ob es auf 
unmittelbare Folge oder auf Gleichzeitigkeit ausschließ- 
lich ankommt, ist wohl noch eine offene Frage. Es ist 
also in diesem Sinne von den vier alten Assoziations- 
gesetzen das an dritter Stelle genannte zum allgemeinen 
Assoziationsgesetz erhoben worden ; die drei andern haben 
sich der näheren Kritik als durch zufällige Nebenum- 
stände besonders ausgestaltete spezielle Fälle enthüllt. 

Faßt man anderseits den Sinn der Assoziations- 
gesetze dahin auf, daß sie rein nur auf die mannigfachen 
Beziehungen, die sich zwischen den Bedeutungen der 
in der Erfahrung vorfindlichen assoziierten Vorstellun- 

Witasek, Grundlinien der Psychologrie. 17 

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268 n. ^il Spezielle Psychologie. 

gen zeigen, abzielen, sie in allgemeine Klassen zu- 
sammennehmen und darnach einteilen, so zeigt sich, daß 
die Einteilung nach der alten Vierzahl unvollständig und 
nicht eindeutig ist; die vier Klassen schließen einander 
nicht aus, und es ist meistens mehr oder weniger Sache 
der Willkür, wenn es gilt, einen konkret vorliegenden 
Fall in eine dieser Klassen einzureihen. Auch in diesem 
Sinne hat man daher einwandfreien Ersatz zu schaffen 
gesucht und unter verschiedenen meist praktischen (in- 
dividualpsychologischen oder pathologischen) Gesichts- 
punkten verschiedene Vorschläge gemacht. Nur einer sei 
davon ausdrücklich erwähnt, der vielfach Annahme ge- 
funden hat. Er teilt die Assoziationen in „äußere'' und 
„innere", was soviel heißt, als daß bei jenen jede gegen- 
ständliche Beziehung der Vorstellungen fehlt, bei diesen 
wohl eine vorhanden ist; die äußeren zerfallen dann in 
solche mit ursprünglich simultanem und solche mit ur- 
sprünglich sukzessivem Zusammensein der Vorstellungen, 
die inneren in Assoziation nach Über- und Unterord- 
nung, nach Koordination und nach Kausal- oder Zweck- 
beziehung. (Trautscholdt, 1883 ; Aschaffenburg, 1896.) Je 
nach den praktischen Zwecken, die man verfolgt, mag man 
dann diese Einteilung logisch mehr oder weniger streng 
fassen und nach Bedarf erweitern. 

Die Bedeutung der Vorstellungsassoziation für den 
Ablauf des pychischen Lebens ist gewiß ganz außer- 
ordentlich groß; fast überall und jederzeit, wo wir es 
betrachten, ist irgendwie auch sie am Fortgange be- 
teiligt. Und darin mag es begründet sein, daß man viel- 
fach den Blick für andere Vorstellungsverbindungen ver- 
loren und manches für Assoziation gehalten hat, was von 
ganz anderer Natur ist. Es sei zunächst auf einen nicht 
unwichtigen speziellen Fall aufmerksam gemacht. Wenn 
ich den Anfang einer mir recht wohlbekannten Melodie 
yernehme, so setzt sich unwillkürlich in meinem Be- 
wußtsein die Melodie von selber fort. Die Tonvorstellun- 
gen aber, die da einander folgen, sind nicht etwa asso- 
ziativ reproduziert, sondern sie ergeben sich als not- 
wendige Bestandstücke aus der durch die gehörten An- 
fangstöne angeregten Melodie-(Gestalt-) Vorstellung, die 
schon mit diesen in ihrer Gänze gleichsam vorwegge- 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 259 

nommen ist und selbständig aus sich heraus zu Ende 
läuft Solche und andere, noch weit wichtigere Fälle, 
von denen sogleich die Eede sein wird müssen, sind 
in ihrer Eigenart oft verkannt und für reine Asso- 
ziationen genommen worden. Es hat sich daraus eine Sich- 
tung der Psychologie ergeben, nach der jede Vorstellungs- 
verbindung, ja jede Bewegung im inteUektuellen Leben, 
zum Teil sogar auch noch im emotionalen, auf Vor- 
stellungsassoziation zurückzuführen wäre, die sogenannte 
Assoziationspsychologie, wie sie um die Mitte des acht- 
zehnten Jahrhunderts in England von Hartley und von 
Hume begründet worden ist und auch heute noch von 
hervorragenden Forschern vertreten wird. 

Die Assoziationspsychologie entwirft ein teilweise fal- 
sches Bild vom psychischen Leben, weil sie nur eine 
Art von innerhalb des Bewußtseins liegenden Teilursachen 
reproduzierter Vorstellungen gelten läßt, nämlich nur 
Vorstellungen. Wir haben aber noch eine zweite Art 
von solchen Teilursachen zu verzeichnen: Komplexe von 
Vorstellungen zusammen mit einem Willensakt; der 
Willensakt ist daran das Charakteristische. 

Wir alle wissen, daß wir unseren Gedanken will- 
kürlich eine bestimmte Bichtung geben können, daß wir 
uns absichtlich bestimmte Vorstellungen ins Bewußtsein 
zu rufen vermögen und daß der Erfolg in solchen Fällen 
ausbleibt, wenn nicht die Willensanspannung mehr oder 
weniger kräftig mitwirkt. Schon der bloße psychische 
Aspekt lehrt uns, daß solche Fälle der VorsteUungsbe- 
wegung von wesentlich anderer Natur sind als die der 
reinen Assoziation. Die reine Assoziation ist durch 
den völligen Automatismus charakterisiert, in dem sich 
die Bewegung mechanisch und von selbst, gleichsam 
ganz ohne unser eigenes Zutun, ja bisweilen geradezu 
entgegen unserem Willen vollzieht; in der willldirlichen 
Vorstellungsfolge verspüren wir uns deutlich aktiv, die 
neue Vorstellung wird von uns gesucht, und es hängt 
von unserem Wollen ab, ob wir weiter suchen oder nicht, 
somit auch in gewissem Grade, ob sie zur Beproduktion 
gelangt. 

Diese Verschiedenheit des psychischen Aspektes bleibt 
auf jeden Fall zu Becht bestehen und würde für sich 

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260 II- TeiL Spezielle Psychologie. 

allein bereits verlangen, daß man die beiden Arten der 
Vorstellungsverbindung sondert, auch wenn man in dem 
Willensmoment, wie es ja manche tun, nichts anderes 
sehen zu dürfen meint, als eine eigentümliche Kombi- 
nation von mancherlei Empfindungs- und sonstigen Vor- 
stellungselementen mit etwaigen Gefühlen. Denn auch 
für diese Anschauungsweise wirkt dabei ein Faktor mit, 
der unseirn reinen Assoziationen fehlt, und den nach dem 
funktionellen Assoziationsgesetze zu verstehen kaum 
glücken dürfte. Vollends, wenn man eine solche Ana- 
lyse des Willensmomentes nicht anerkennt, so hat man 
unleugbar einen ganz eigenartigen Fall von Vorstellungs- 
verlauf vor sich, der dem der reinen Assoziation zu ,ko- 
ordiniern ist. (Witasek, 1896.) 

Da es sich in der willktürlichen Vorstellungsverbin- 
dung immer darum handelt, daß eine Vorstellung ak- 
tualisiert wird, die zunächst natürlich noch nicht vor- 
handen ist, als Strebungsobjekt des Willens jedoch trotz- 
dem bereits irgendwie vorgestellt sein muß, so kann dies 
letztere nur dadurch geleistet sein, daß die erstrebte (ge- 
wollte, gesuchte) Vorstellimg vorerst nur unanschauHch, 
indirekt gedacht dem Willen vorgehalten wird. So kommt es, 
daß die eigentliche Domäne der willkürlichen Vorstellungs- 
aufeinanderfolge der absichtliche Übergang von einer 
zunächst nur unanschaulichen, indirekten zur anschau- 
lichen, direkten Vorstellung desselben Gegenstandes ist. 
Ich suche den „Namen des Vaters Karls des Großen" 
(unanschauliche Vorstellung) und nach einigem Nach- 
denken kommt mir „Pipin" (anschauliche Vorstellung) in 
den Sinn. Es ist gefragt nach der „Kurve, die ein Punkt 
eines auf einer Geraden rollenden Kreises beschreibt" 
(unanschauliche Vorstellung), und ich stelle mir die Ge- 
stalt der Cykloide (anschauliche Vorstellung) vor — usw. 
In der unanschaulichen, indirekten, Vorstellung ist also 
das Ziel des vom Willen angeregten Denkens, soweit 
es sich darin um Vorstellungen handelt, gleichsam vor- 
weggenommen, in der anschaulichen, direkten, ist es er- 
reicht. Die willkürliche Vorstellungsverbindung ist es 
daher auch, in deren Bahnen sich vorwiegend die Tätig- 
keit des wissenschaftlichen Denkers wie auch des tech- 
nischen Erfinders bewegt; die Idee, der Zweck einer 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 261 

ZU konstruierenden Maschine sind bekannt, sowie die 
mechanischen Mittel, die dazu zur Verfügung stehen (un- 
anschauliche Vorstellung), und daraus entwickelt sich der 
Techniker ihr anschauliches Bild. 

Man hat in jüngster Zeit vielfach von sogenannten, 
den Assoziationsablauf „determinierenden Tendenzen'' ge- 
sprochen, oder von der „Aufgabe", unter der er siph 
gegebenen Falles abzuwickeln hat. (Binet, 1903; Ach, 
1905; Watt, 1906.) Es wird z. B. bei der Prüfung von 
Assoziationen das Wort „Drama" angegeben, mit der vor- 
ausgegangenen Weisung, die weitere Vorstellung, die da- 
durch unmittelbar assoziativ ausgelöst wird, zu nennen. 
Das wäre dann ein Fall von „freiem" Assoziationsablauf. 
Wird jedoch hinzugefügt, es sei nach dem Schema der 
Unterordnung zu assoziieren, also der Name eines be- 
stimmten Dramas zu reproduzieren, etwa noch weiter der 
eines Dramas Grillparzers, so läuft diese „Assoziation" 
nicht mehr frei ab, sondern unter dem Einfluß deter- 
minierender Tendenzen, die Lösung einer solchen „Auf- 
gabe" ist, wie man sieht, zumeist wohl eigentlich ein 
Fall von willkürlicher Vorstellungsverbindung. — 

Wir finden also zwei verschiedene Arten von inner- 
halb des Bewußtseins liegenden Teilursachen der Vor- 
stellungsreproduktion, nach denen sich zwei verschiedene 
Formen des Vorstellungsverlaufes bestimmen: der asso- 
ziative und der willkürliche. Die beiden Formen kommen 
übrigens in völliger Eeinheit nicht gleich leicht zur 
Geltung; bei der Zusammengesetztheit der Einbildungs- 
vorstellungen wirken auch sie zumeist zusammen. Indessen 
sind extreme Fälle von Assoziation durchaus keine Selten- 
heit, wogegen das Gleiche von der anderen Form kaum 
gesagt wird werden können. Die Eegel ist ein mehr 
oder weniger inniges Ineinanderverwebtsein beider For- 
men. Der psychische Vorgang, der sich dabei ergibt, 
ist der, der sich in uns abspielt, wenn wir uns auf 
etwas besinnen; so z. B., indem wir uns eines Namens, 
einer Jahreszahl zu entsinnen uns mühen. Im übrigen be- 
währt sich auch hier die Tendenz der Prozesse, sich bei 
häufiger Wiederholung nach und nach aus Tätigkeiten 
in Vorgänge zu verwandeln (siehe S. 85) ; das durch eine 
Willensanspannung unterhaltene Sichbe^ir^nen geht bei 



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262 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

genügend häufiger Wiederholung allmählich in automati- 
sche Assoziation über. — i 

Nun ist in diesem Zusammenhange noch eine Frage 
zu berühren: Gibt es Fälle, in denen Einbildungsvor- 
Stellungen im Bewußtsein auftauchen, ohne daß inner- 
halb des Bewußtseins überhaupt irgendwelche ihnen zu- 
gehörige Teilursachen yorhanden wären? Gibt es, mit 
anderen Worten, sogenannte „freisteigende Vorstellungen", 
EinbildungsTorstellungen, die nur durch außerhalb des 
Bewußtseins liegende Faktoren hervorgerufen sind? 

So wichtig und bedeutsam diese Angelegenheit be- 
sonders in ihren weiteren Konsequenzen für die psycho- 
logische Theorie erscheint, so schwierig ist es dermalen, 
sie sicher zu entscheiden. 

Besinnt man sich auf die Erfahrungen vom psy- 
chischen Ablauf im gewöhnlichen Leben, so mag man 
geneigt sein, die Tatsächlichkeit freisteigender Vorstellun- 
gen anzuerkennen. Oft genug kommt uns, wie es scheint 
ganz zufällig, eine Erinnerung, ein Gedächtnisbild, das 
wir vielleicht für längst vergessen gehalten haben oder 
das uns sonst recht gleichgültig ist, in den Sinn, wie- 
wohl es mit den Dingen, die uns eben beschäftigen, 
in gar keinem Zusammenhange steht. Das Auftreten 
solcher unvermittelter plötzlicher Einfälle ist bisweilen 
geradezu überraschend, und wenn wir, dadurch aufmerk- 
sam geworden, ihrem Anlaß nachzuspüren imtemehmen, 
so müssen wir es oft trotz eifrigstem Bemühen als erfolg- 
los endlich wieder aufgeben. Anderseits verfolgt uns 
manchmal irgend eine Vorstellung, z. B. die einer Me- 
lodie, durch längere Zeit, vielleicht durch Tage, ja Mo- 
nate hindurch, indem sie inuner und immer wieder in 
den verschiedensten Situationen auftaucht und sich in 
die heterogensten Gedankengänge eindrängt. 

So geläufig derartige Erfahrungen für jedermann 
auch sind, so ist durch sie die Tatsache freisteigen- 
der Vorstellungen trotzdem nicht ausgemacht. Den 
Fällen, in welchen es nicht gelingt, eine die Reproduktion 
assoziativ auslösende Vorstellung nachträglich aufzufinden, 
steht ein beträchtlicher Prozentsatz von solchen mit gün- 
stigem Erfolg gegenüber (etwa 22o/o + 17o/o ungewisser 
Fälle, nach Kiesow, 1906): Anlaß genug, die Möglich- 



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1. Hälfte: Psychologie des Greisteslebens. 

keit im Auge zu behalten, daß auch in den übrigen 
Fällen eine vermittelnde Vorstellung vorhanden war, je- 
doch unbemerkt geblieben ist; dies um. so eher, als 
auch Vorstellungsrudimenten und den aus ihnen re- 
sultierenden Stimmungen assoziative E[raft wird zuzu- 
sprechen sein. 

Dagegen ist aber auch von der experimentellen For- 
schung her den freisteigenden Vorstellungen eine Stütze er- 
wachsen, indem sie zur Anerkennung einer sogenannten 
Persevörationstendenz der Vorstellungen geführt hat. (Mül- 
ler und Pilzecker, 1900.) In ausgedehnten Versuchs- 
reihen der verschiedensten Art hat sich aus mannigfachen 
Anzeichen stets wiederum ergeben, daß jede Vorstellung 
nach ihrem Auftreten im Bewußtsein eine im allgemeinen 
schnell abklingende Tendenz besitzt, „frei ins Bewußtsein 
zu steigen. Diese Tendenz ist um so stärker, je inten- 
siver die Aufmerksamkeit auf die Vorstellung gerichtet 
war, und steigert sich, wenn die betreffende Vorstellung 
oder Vorstellungsreihe sich sehr bald wiederholt. Bei 
häufiger Wiederholung kommt es leicht vor, daß die be- 
treffende Vorstellung oder Vorstellungsfolge lediglich 
infolge ihrer Persevörationstendenz zu solchen Zeitpunkten 
in &s Bewußtsein tritt, wo die anderweiten, dasselbe 
bestürmenden Faktoren nicht von besonderer Stärke und 
Nachhaltigkeit sind." 

Diese Sätze sind auf Grund von Lernversuchen mit 
sinnlosen Silbenreihen aufgestellt worden. Man findet sich 
aber auch in anderen Situationen und an anderem Vor- 
stellungsmaterial auf sie hingeführt. An Ermüdungszu- 
ständen und besonders an gewissen Geistesstörungen ist 
Analoges schon seit längerem in viel ausgeprägterem 
Grade beobachtet worden. Eine Art von Perseveration 
zeigt sich auch bei den den Muskeln zugeführten Be- 
wegungsimpulsen, die sich ja auch im Nervensystem ab- 
spielen. Und jüngst hat man es mehrfach versucht, die 
Perseverationstendenzen nicht nur für die Zeit un- 
mittelbar nach dem Auftreten der Vorstellung im Be- 
wußtsein und im kontinuierlichen Anschluß an dieses 
gelten zu lassen, sondern auch für beträchtlich län- 
gere Zeiträume hernach. Nur die oben besprochenen 
Vorstellungsereignisse aus dem gewöhnlichen Leben wird 



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264 II. Teil. Spezielle Psychologie. 

dann um so weniger auf ihr Konto zu schreiben 
geraten sein, je überraschender und fremdartiger sie 
sich im einzelnen Falle ausnehmen. Immerhin aber 
läge eben in den Äußerungen der Perseverationstendenz 
gerade das, was wir suchen, nämlich das Auftauchen 
von reproduzierten Vorstellungen ohne innerhalb des Be- 
wußtseins liegende Teilursachen. 

Freilich ist die Tatsache der Persereration vorläufig 
noch nicht so eingehend studiert, daß der Ausweg ab- 
geschnitten wäre, sie selbst wiederum als ein Assoziations- 
phänomen ^ das sich nur eben unter besonderen Be- 
dingungen abspielt — aufzufassen. Man muß nur be- 
denken einerseits, daß eine Assoziation zwischen den Vor- 
stellungen a und b keineswegs nur dann wirksam wird, 
wenn eine jenem a genau gleiche Vorstellung ins Bewußt- 
sein tritt, sondern daß, wenn nur die Assoziation kräftig 
genug ist, ein ihm ähnliches a' gleichfalls die Wirkung 
tut, b ins Bewußtsein zu rufen ; man weiß nun aber nicht, 
wie weit, genügend hochgradig gesteigerte Leistungsfähig- 
keit der gegebenen Assoziation vorausgesetzt, die Unähn- 
lichkeit zwischen a' und a noch gehen darf; anderseits ist 
sicher, daß die assoziative Reproduzierbarkeit einer Vor- 
stellung mit der zeitlichen Entfernung von ihrem Auf- 
treten im Bewußtsein stetig abnimmt, und zwar nach 
einem ganz kurzen, mehr stationären Anfangsstadium 
sehr stark, dabei um so viel rascher, je kürzer diese 
Zeit noch ist, so daß es immerhin möglich wird, die 
exzessiv maximale Reproduzierbarkeit einer Vorstellung, 
wie wir sie im unmittelbar zeitlichen Anschluß an ihr 
Vorhandensein konstatieren können, als den nach diesem 
Abnahmegesetz allein schon sich ergebenden Anfangszu- 
stand der bekannten Assoziationsdisposition aufzufassen 
und nicht erst noch als Folge einer besonderen Persevera- 
tionstendenz. Die individuellen Unterschiede in dem Ver- 
hältnis zwischen Perseverationstendenz und Dauerhaftigkeit 
der Assoziationen fänden dann ihre Erklärung immer 
noch darin, daß jenes oben besprochene zulässige Ver- 
schiedenheitsmaß zwischen a' und a bei verschiedenen 
Individuen verschieden groß sein mag, und daß sich der 
Gradabfall der assoziativen Reproduzierbarkeit in ver- 
schiedenen Kurven vollziehen kann. Der Sonderstellung, 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 265 

in der sich irgendwelche Vorstellungsgebiete fast bei 
jedem Individuum befinden, daß sie nämlich zu jeder 
Zeit auch durch die entferntesten Anlässe zum Anklingen 
zu bringen sind, wird, wenn man die dispositionsf ordernde 
Kraft emotionaler Momente in Anschlag setzt, gleichfalls 
noch Eechnung zu tragen sein. *— So könnten sich die 
Tatsachen der Perseveration vielleicht doch wiederum als 
Assoziationen entpuppen, und für freisteigende Vorstellun- 
gen wären dann auch sie nicht mehr in Anspruch zu 
nehmen. Doch ist noch einmal zu betonen, daß die .ex- 
perimentelle Untersuchung der Perseverationstendenz der- 
malen noch nicht so weit gediehen ist, um über die vor- 
gelegten Punkte eine sichere Entscheidung zuzulassen. 

Andere Gesichtspunkte zur Untersuchung der Frage 
von den freisteigenden Vorstellungen sind nahegelegt 
durch die relative Unbestimmtheit der Assoziationen und 
durch die sogenannte Spontaneität der Phantasievorstellun- 
gen. (Meinong, 1889; Ölzelt-Newin, 1889.) Der Name 
meines Freundes ruft mir assoziativ die Vorstellung seines 
Äußeren ins Bewußtsein, jedoch des Äußeren sogleich 
in einer bestimmten Haltung, Beleuchtung, Umgebung 
usw.; ist für alle diese Detaüvorstellungen auch der ge- 
hörte Name kausales Antezedens? Und ist überhaupt an- 
zunehmen, daß jede solche genau determinierte Vorstellung 
eine genaue Wiederholung einer ehemals vorhanden ge- 
wesenen Wahrnehmungsvorstellung ist ? Wenn sie es aber 
nicht ist, kann für die die Abweichung ausmachenden 
neuen Einfügungen Assoziation -verantwortlich gemacht 
werden? — Die wohlbeglaubigte Spontaneität der Phanta- 
sie vollends scheint schon an sich ein Gegensatz gegen 
assoziative Einengung des Vorstellungsverlaufes und 
Wiederholung von ehemals bereits Dagewesenem. — Die 
nähere Diskussion dieser beiden Gesichtspunkte müßte sich 
bei der außerordentlichen Kompliziertheit der für sie in 
Betracht kommenden Tatsachen höchst umfangreich ge- 
stalten, und da auch sie zu einem sicheren Ergebnis 
nicht führen könnte, so mag an dieser Stelle auf sie ver- 
zichtet werden. 

Die Frage nach der Tatsächlichkeit der freisteigenden 
Vorstellungen muß deshalb noch offen gelassen werden. 



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266 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

4. Teilursachen außerhalb des Bewußtseins. 

Als außerhalb des Bewußtseins liegende Teilursachen 
der reproduzierten Vorstellungen kommen die Dispositio- 
nen, genauer Dispositionsgrundlagen in Betracht, als deren 
Leistungen diese aufzufassen sind. 

Schon im allgemeinen Teile ist gelegentlich des Ab- 
schnittes über das unbewußte PsycMsche (S. 64 ff.) die 
theoretische Auffassung der Tatsache der Vorstellungs- 
reproduktion dahin festgelegt ^worden, daß im allgemeinen 
durch jedes erstmalige Auftreten einer neuen Vorstellung 
eine Disposition begründet (erworben) wird, deren Leistung 
in der Eeproduktion eben dieser Vorstellung besteht. Wir 
nennen sie deshalb die Beproduktionsdisposition dieser 
Vorstellung. 

Von aer Art der erstmalig auftretenden neuen Vor- 
stellung ist das Zustandekommen der Beproduktions- 
disposition unabhängig. Nicht nur Sinnesempfindungen, 
sondern auch produzierte Vorstellungen haben also (fiese 
Wirkung, die einen wie die andern lagern ihre Inhalte, 
so verstanden, gleichsam im Gedächtnis ab. Freilich treten 
sie ja ohnedies stets zusammen auf; es kann bekanntlich 
kein Produktionsinhalt vorhanden sein, ohne daß mit ihm 
zusammen auch Sinnesempfindungsinhalte, wenn auch nur 
reproduzierte, vorhanden wären. Aber die beiden haben 
für das Gedächtnis dennoch eine weitgehende gegen- 
seitige Unabhängigkeit. Ist nämlich gegebenen Falles der 
Produktionsinhalt ein durchaus neuer, so muß ein gleiches 
keineswegs auch von den ihm zugehörigen Empfindungs- 
inhalten gelten; eine neue Melodie, die mir zum ersten 
Male unterkommt, besteht aus Tönen, die ich schon un- 
zählige Male gehört habe. Dann ist kein Anlaß mehr vor- 
handen, daß sich Eeproduktionsdispositionen für die Emp- 
findungsinhalte bilden; denn diese sind ja längst bereits 
vorhanden. Wohl aber bildet sich — mehr oder weniger 
nachhaltig — die Reproduktionsdisposition für den neuen 
produzierten Inhalt, in unserem Beispiel für die Melodie 
als solche, als Gestalt. Und diese Disposition kann dann 
auch in Aktion treten (die Melodie kann reproduziert 
werden), ohne daß gerade jene Reproduktionsdispositionen 
mitwirken, die zu den Sinnesempfindungen gehören, mit 



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1« Hälfte: Psychologie des Geisteslebeiu. 267 

welchen die Melodie damals zu Gehör gekommen ist: die 
Melodie kann mittelst ganz anderer Töne (in anderer Ton- 
lage) reproduziert werden. 

Die Leistung der Beproduktionsdisposition besteht, 
wie gesagt, in der Beproduktion des Inhaltes, durch dessen 
früheres Auftreten sie begründet worden ist. Es wäre 
jedoch irrig, diese Zuordnung für eine feste, starre zu 
halten; das Leistungsgebiet einer jeden Disposition hat 
fließende GTrenzen. Kaum jemals wird ein Lihalt genau so 
reproduziert, wie er ursprünglich erlebt worden ist; die 
Beproduktionsdisposition ist nichts Unveränderliches, im 
Laufe der Zeit erleidet sie Veränderungen, oder besser, 
sie wird immer unbestimmter, anfänglich nur in den 
nebensächlichen Merkmalen, nach und nach auch in den 
wesentlichen. Sieht man einen Gegenstand, z. 6. ein 
Gemälde, nach Jahren wieder, nachdem man es die ganze 
Zeit nur im Gedächtnis hatte, so hat man oft Ursache, zu 
erstaunen, wie unrichtig man es in letzter Zeit bereits 
erinnerte. Wie diese so zu nennende Flüssigkeit der Be- 
produktionsdispositionen des näheren zu yerstehen ist, 
worin sie eigentlich begründet ist, auf diese theoretisch 
höchst bedeutsame IVage kann hier nicht eingegan- 
gen werden. Dagegen soll ausdrücklich darauf hin- 
gewiesen werden, daß man keine Anhaltspunkte dafür hat, 
die Grenze festzulegen, bis zu welcher die Reproduktionen 
infolge dieser Flüssigkeit äußersten Falles sich ver- 
ändern können; man muß daher gewiß auch die Mög- 
lichkeit mit in Betracht ziehen, daß die Veränderungen 
einmal so weit gehen, daß der auf Grimd einer solchen Dis- 
position vorgestellte Inhalt mit dem ehemaligen alten kaum 
mehr etwas Wesentliches gemein hat und ^o unter Um- 
ständen recht wohl als ein durchaus „neuer" gelten kann. 
Das ist dann aber jenes aktuelle Vorstellungsereignis, 
durch das wir das Wesen der spontanen Phantasie (im 
eigentlichen Sinne) charakterisiert haben: Aktualisierung 
von Einbildungsvorstellungen mit durchaus neuem Inhalte. 
Es würde sich daraus ergeben, daß das Wesen der spon- 
tanen Phantasie in der Hauptsache auf die Flüssigkeit der 
Beproduktionsdispositionen zurückzuführen ist, daß daher 
die Phantasie nicht etwas Eigenes, Neues neben der Bepro- 
duktion bedeutet, sondern ihre Dispositionen mit denen dieser 



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268 II« Teil. Spezielle Psychologie. 

ursprünglich zusammenfallen (Ameseder, 1904); und die 
verschiedenen Eigenschaften der Phantasie, durch die sie 
sich im allgemeinen sowohl wie an verschiedenen In- 
dividuen charakterisiert, müßten dann als gesetzmäßige 
Beziehungen zum Gedächtnis aus den Eigenschaften der 
Reproduktionsdispositionen ableitbar sein. Indes mag es 
an dieser Stelle bei dem Hinweis bleiben; denn nach 
dem heute vorliegenden Material ist es noch nicht einmal 
möglich, die eben berührte Grundfrage nach dem Ver- 
hältnis von Gedächtnis und spontaner Phantasie zu ent- 
scheiden. 

Über die spezielleren Umstände und Bedingungen des 
Entstehens, Bestehens und Vergehens der Reproduktions- 
disposition ist schon aus der Beobachtung des natürlichen 
Vorstellungsverlaufes mancherlei in ungefähren Umrissen 
bekannt geworden : Die Förderung, welche die Einprägung 
durch Aufmerksamkeit und Interesse sowie durch be- 
gleitende sonstige Gefühle erfährt (der Einfluß der Ge- 
fühle ist übrigens kürzlich in Frage gestellt worden, Gor- 
don, 1905), das rasche Absinken der Disposition (Ver- 
gessen) im Anfange, und dessen Verlangsamung im 
weiteren Verlaufe, vor allem aber die außerordentlich 
bedeutsamen individuellen Unterschiede, die alle diese 
Momente in qualitativer wie quantitativer Beziehung auf- 
weisen. Zu exakteren Kenntnissen über das Gedächt- 
nis sind wir jedoch erst durch die Anwendung ex- 
perimenteller Forschungsmittel gekommen, die, vor etwa 
zwanzig Jahren glücklichst inauguriert (Ebbinghaus, 1885), 
seither überaus intensiv weiter betrieben worden ist und 
bereits ein reiches Maß genau definierter spezieller Daten 
ergeben hat. 

Doch ist hier erst noch eine prinzipielle Bemerkung 
vorauszuschicken. 

Dispositionen irgendwelcher Art können nicht anders 
experimentell untersucht werden, als indem man ihre 
Äußerungen, das sind ihre Leistungen (Korrelate), prüft. 
Auch die experimentelle Untersuchung der Reproduktions- 
dispositionen wird daher im wesentlichen darin bestehen, 
daß man sie sich aktualisieren, d. h. die zugehörigen 
Vorstellungen reproduzieren läßt. Um nun aber eine Dis- 
position zur Aktualisierung zu bringen und zu veranlassen, 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 269 

daß sie die ihr zugehörige Leistung setzt, bedarf es des 
Hinzukommens eines Erregers, der cüe Auslösung besorgt ; 
und wenn, wie zwecks experimenteller Untersuchung, die 
Aktualisierung absichtlich herbeigeführt werden soll, so 
muß eben dieser Erreger absichtlich hinzugebracht werden. 
Bei der Untersuchung von Empfindungsdispositionen han- 
delt es sich dann einfach darum, den Eeizvorgang herbei- 
zuschaffen. Für Eeproduktionsdispositionen gibt es viel- 
leicht verschiedene wirksame Erreger. Es ist geboten, den zu 
wählen, der relativ am wenigsten variable subjektive Fak- 
toren mit sich bringt: das ist die Auslösung der Be- 
produktionsdisposition durch Assoziation. Und so hat sich 
die experimentelle Untersuchung des Gedächtnisses bis- 
her ganz überwiegend dieses Weges bedient. Nun muß 
man aber wohl beachten, daß sich dabei eine nicht 
gleichgültige Komplikation ergibt. Nicht jede beliebige 
Vorstellung ist als Erreger der Eeproduktionsdisposition 
gleich gut zu gebrauchen ; nur solche tun die gewünschte 
Wirkung, die mit der zu reproduzierenden in genügend 
kräftiger assoziativer Verbindung stehen. Alle anderen ver- 
sagen, die Leistung der Eeproduktionsdisposition bleibt aus, 
so leistungsfähig sie an sich auch sein mag, und der äußere 
Erfolg ist ganz der gleiche, wie wenn sie selbst leistungs- 
unfäMg wäre. Das äußere Ergebnis in jedem solchen 
Falle ist also die Eesultante aus zwei verschiedenen dis- 
positionellen Faktoren. Die Sache liegt ganz anders als 
bei den Empfindungsdispositionen. Auch diese bedürfen 
eines geeigneten Reizvorgangs zur Auslösung. Aber 
sie bestehen eben darin, da[ß dieser Eeizvorgang die 
Empfindung auslöst, es ist, wenn sie vorhanden sind, 
nichts mehr Besonderes zur Wirkungsmöglichkeit des 
Eeizes hinzii zu erwerben. Die Eeproduktionsdisposition 
dagegen besteht nicht darin, daß diese oder jene Vor- 
stellung die reproduzierte Vorstellung hervorruft, sondern 
darin, daß im Subjekte jene Bedingungen („Spuren") 
entstanden sind, vermöge welcher es die Vorstellung ohne 
äußeren Eeiz gleichsam aus Eigenem (auf „zentrale An- 
regung" hin) aktuell werden lassen kann; und wenn eine 
bestimmte andere Vorstellung als ihr Erreger soll fun- 
gieren können, so muß erst die assoziative Verbindung 
zwischen ihr und dieser hergestellt, d. h. eine neue, andere 



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270 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

Disposition hinzuerworben werden, die Assoziation. Be- 
dient man sich also bei der experimentellen Untersuchung 
des Gedächtnisses der assoziativen Beproduktionsanregung, 
so sind die Urergebnisse stets als Kombination der 
Leistungen zweier verschiedener Dispositionen aufzu- 
fassen, der Assoziations- und der Eeproduktionsdisposition, 
und man hat sich je nach der Versuchsanordnung darüber 
Bechenschaft zu geben, für welche von den beiden das 
Ergebnis charakteristischer ist. Eine der interessantesten 
Fragen der Gedächtnispsychologie wäre allerdings bereits 
die ganz allgemeine, ob, und wenn ja, in welchem quali- 
tativen und quantitativen Abhängigkeitsverhältnis die 
beiden Dispositionen überhaupt zueinander stehen. 

In den bisherigen Gedächtnisuntersuchungen fällt 
das weitaus größte Interesse der Assoziation zu. 

Um wenigstens ein ungefähres allgemeines Bild von 
ihrer Methodik zu geben, seien ihre charakteristischesten 
Züge kurz vermerkt. Die Versuche bestehen in der Begel 
aus zwei Hauptabschnitten, dem Einlernen eines be- 
stimmten Gedächtnismateriales (Erwerben der Dispositio- 
nen) und hierauf dem Abfragen oder sonstigen Nach- 
prüfen desselben (Aktualisieren der Dispositionen zwecks 
ihrer Messung). Jede der beiden Abteilungen ist in ihrer 
Anordnung der jeweiligen speziellen Fragestellung an- 
zupassen ; doch kann daiauf hier nicht näher eingegangen 
werden. Als Lernmaterial werden zumeist Beihen sinn- 
loser Silben verwendet, die sowohl wie die Beihen selbst 
nach bestimmten Gesetzen aufgebaut sind. Man gewinnt 
dadurch den Vorteil maximaler Homogeneität und Gleich- 
mäßigkeit bei nahezu völliger praktischer Unerschöpflich- 
keit; überdies ist dieses Material so gut wie gänzlich 
frei von unkontrollierbaren Zusammenhängen mit aus 
dem übrigen Leben der Versuchsperson stammenden Vor- 
stellungs- und Interessenkreisen. Es ist freilich not- 
wendig, zur Überprüfung auch anderes, vor allem sinn- 
volles Material heranzuziehen, um allfällige, von der Natur 
des Lernstoffes herrührende Modifikationen der unter- 
suchten Gesetzmäßigkeiten zu entdecken. Solche Silben- 
reihen werden dann der Versuchsperson in der Begel durch 
einen dazu geeigneten Apparat dargeboten, der bei Aus- 
schluß störender Nebenumstände völlige Gleichmäßigkeit 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 271 

der Darbietung, besonders des übrigens verschieden ein- 
stellbaren Tempos, und ausschließUche Sukzession der 
Silben gewährleistet. — Zum Nachprüfen der eingelernten 
Beihen stehen derzeit unter anderen hauptsächlich zwei 
Methoden zur Verfügung: das Erspamisverfahren (Eb- 
binghaus, 1886) und die Treffermethode (Müller und 
Pilaecker, 1900). Beim Erspamisverfahren wird die Er- 
sparnis an Lernarbeit (Wiederholungen oder Zeit) ge- 
messen, welche sich gegenüber dem Erlernen von übrigens 
gleichartigen, aber vöUig neuen Reihen ergibt, wenn man 
andere Beihen, die ganz oder zum Teil aus bereits ,vor 
bestimmter Zeit eingeprägten Assoziationsgliedem be- 
stehen, bis zum Erreichen eines bestimmten Einprägungs- 
grades neuerdings nachlemt. Bei der Methode der Treffer 
wird der Versuchsperson von den etwa in Beihen vorher 
eingelernten Assoziationspaaren eines der beiden Glieder 
angegeben, und sie hat das dazugehörige zweite aus dem 
Gedächtnis hinzuzufügen; das Verhältnis der Zahl der 
richtigen Antworten (Treffer) zu der der falschen gibt 
ein Maß der Leistung. 

Von den zahlreichen Einzelergebnissen, die mit Hilfe 
dieser und ähnlicher Methoden bereits zutage gefördert 
worden sind, können hier nur die hauptsächlichsten kurz 
mitgeteilt werden. 

Der Einprägungsgrad einer Beihe wächst mit der 
Anzahl der Wiederholungen, die mit ihr stattgefunden 
haben; jedoch nicht in gerader Proportion, sondern der 
Einprägungswert einer Wiederholung sinkt im großen 
Ganzen mit steigender Ordnungszahl. — Dieses Gesetz 
kommt aber infolge des Zusammenwirkens mit mehreren 
anderen maßgebenden Momenten in voller Beinheit nur 
selten zur Geltung. — Vor allem ist die Art der Ver- 
teilung der Wiederholungen von großer Bedeutung: sie 
ist um so günstiger, je ausgedehnter sie ist. 24 Wieder- 
holungen zu je zwei auf 12 aufeinanderfolgende Tage 
verteilt, ergeben höheren Einprägungsgrad als zu je 4 
auf 6, und dies wieder einen höheren als bei einer Ver- 
teilung von je 8 Wiederholungen auf 3 Tage. Es ist daraus 
zu entnehmen, daß die neue Wiederholung einer seit bereits 
längerer Zeit bestehenden Assoziation unter sonst gleichen 
Umständen größeren Einprägungswert hat als die einer 



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272 II. Teil. Spezielle Psychologie. 

jüngeren Assoziation. (Jost, 1897.) — Ferner ist es nicht 
gleichgültig, ob der einzuprägende Lernstoff im Ganzen 
oder in Teilen gelernt wird, das heißt, ob die einzelnen 
Wiederholungen immer durchweg das ganze Stück um- 
fassen, oder ob dieses in einzelne Teile zerlegt wird und 
die Teile einzeln für sich durch aufeinanderfolgende 
Wiederholungen eingeprägt werden. Man hat gefunden, 
daß bei geläufigem Material das Lernen im Ganzen, bei 
ungeläufigem das in Teilen förderlicher ist. (Ephrussi, 
1904.) — Auch die Geschwindigkeit der Darbietung des 
Lernstoffes (der Silbenaufeinanderfolge) ist von Einfluß; 
für sinnlose Silbenreihen hat sich im Durchschnitt ein 
Tempo von 0.5 Sekunde pro Silbe als das günstigste er- 
wiesen, für sinnvolles Material dagegen ein noch viel 
rascheres. Individuelle Eigentümlichkeiten der Lernweise 
sind dabei übrigens von hohem Belang. (Ogden, 1904.) 
— Keihen, die aus Assoziationspaaren bestehen, deren 
erstes Glied mit dem ersten Glied anderer, bereits 
früher gestifteter Assoziationspaare identisch (oder auch 
nur hochgradig ähnlich) ist, prägen sich schwerer ein 
als unter sonst gleichen Umständen solche, bei denen 
das nicht der Fall ist. („Generative" Henunung, Müller 
und Pilzecker, 1900; Ranschburg, 1905.) — Die As- 
soziationsdisposition für ein bestimmtes Paar von Vor- 
stellungen (eine Silbenreihe) wird ina allgemeinen durch 
jede Wiederholung des Paares (der Keihe) gesteigert, 
weiter gefestigt, oder, wie man auch zu sagen pflegt, 
geübt. Die Übung betrifft zunächst jenes Assoziations- 
paar, das eben wiederholt worden ist. Aber nicht nur 
direkt gerade dieses allein, sondern auch noch die Fähig- 
keit zum Erlernen und Aneignen anderer Assoziationen; 
das Lernen von Silbenreihen übt sich ; je länger man sich, 
innerhalb gewisser Grenzen, an solchen Versuchen be- 
teiligt, desto leichter lernt man die späteren, wenn auch 
ganz neuen Reihen. Diese Übung im Lernen, dem An- 
eignen von Gedächtnisdispositionen, scheint aber nicht 
nur auf das Erlernen solchen Stoffes beschränkt zu sein, 
der in den übenden Wiederholungen zur Anwendung ge- 
kommen ist, in unserem Falle auf das Erlernen von 
Silbenreihen, sondern sie erstreckt sich, als Mitübung, 
höchstwahrscheinlich auch auf das Erlernen von anderen 



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1. Hälfte: Psychologie des Gheiftteslebens. 373 

Gedächtnisstoffen, z. B. optischer Figuren, Vokabehi, sinn- 
voller Prosa, usw., und zwar in abnehmendem Maße mit 
sinkender Ähnlichkeit des Stoffes. (Ebert und Meumann, 
1905.) — Auch vom Ausmaß der Aktivität (Selbst- 
tätigkeit), das die Versuchsperson bei der Wiederholung 
der Reihe entfaltet, hängt der Einprägungswert bedeutend 
ab; bei freier Rezitation ist er im allgemeinen ganz un- 
vergleichlich höher als bei Lesung. (Witasek, 1907.) — 
Der auch sonst schon bekannte große Einfluß, den 
für die Einprägung von Vorstellungen und Assozia- 
tionen die AufmeÄsamkeit bekundet, hat sich zwar 
auch bei den Versuchen in verschiedenster Weise bestätigt, 
es ist jedoch mehrfach zutage getreten, daß er nicht gänz- 
lich unerläßlich ist, sondern sich auch solche Vorstellungen 
zu assoziieren vermögen, auf die gewiß nicht die geringste 
Aufmerksamkeit gewendet war. — Selbst noch das Ver- 
halten nach der einzelnen Wiederholung und nach der 
Lernarbeit beeinflußt ihren Erfolg; ein möglichst un- 
gestörtes passives Gehenlassen der Gedanken hat sich 
am vorteilhaftesten erwiesen, während besonders jede inten- 
sive geistige Arbeit, sei es an gleichem oder andersartigem 
Material, die Einprägung schädigt. (Rückwirkende Hem- 
mung. Müller und Pilzecker, 1900.) 

An dem Vorgang des Aktuellwerdens bereits vor- 
handener Assoziationsdispositionen interessiert vor allem 
die Länge der sogenannten Reproduktionszeit (oder genauer 
Assoziationszeit?), d. i. der Zeit, welche verstreicht vom 
Auftreten der auslösenden, assoziierenden bis zu dem der 
assoziierten Vorstellung. Von ihr ist hauptsächlich zu 
sagen, daß sie innerhalb ziemlich weiter Grenzen je nach 
Umständen verschieden ausfällt, von etwa 0.1 bis 4.5 
und mehr Sekunden. Es ist indes hinzuzufügen, daß viele 
der unter diesem Titel angegebenen Zeiten, insbesondere 
die langen, nicht reine Assoziationszeiten sind, sondern 
zugleich auch auf willkürliche Vorstellungsverbindung be- 
zogen werden müssen, weil an den durch sie gemessenen 
Prozessen der Akt des sich aktiv Besinnens (s. S. 261) 
oft und in verschiedener Weise höchst wesentlich be- 
teiligt war. Bemerkenswert ist ferner, daß Assoziationen, 
die schon seit längerer Zeit bestehen, im Vergleich mit 
jüngeren von gleichem Einprägungsgrade (d. h. bei gleicher 



Witasek, Gnuidlixiiezi der Psychologie. 18 

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274 n. TeiL Spezielle Psychologie. 

Trefferzahl) größere Assoziatioiiszeiten haben; und daß 
von gleich alten Assoziationen die dauerhafteren unter 
sonst gleichen Umstanden kürzere Beproduktionszeiten 
ergeben. Ist eine und dieselbe Vorstellung a in zwei- 
facher Weise assoziativ verbunden, einmal mit einer 
Vorstellung b, und zugleich noch mit einer Vorstellung 

c, so wird, wenn a ins Bewußtsein tritt, von den 
beiden konkurrierenden Assoziationen jene zuerst ak- 
tuell wirksam, die, für sich allein genommen, die 
kürzere Eeproduktionszeit hätte. Übrigens kommt es 
in solchen Fällen zur sogenannten effektuellen Hemmung, 

d. h. die Assoziationsdisposition ab kann, obwohl an 
sich durchaus leistungsfähig, durch das gleichzeitige Vor- 
handensein der Assoziationsdisposition ac — und um- 
gekehrt — für das Bewußtsein völlig unwirksam gemacht 
oder wenigstens in ihrem Ablauf verzögert werden. Es 
kann sich aber auch ergeben, daß das a eine Vorstellung 
ins Bewußtsein ruft, die sich aus Bestandteilen von b 
und von c zusammensetzt: Assoziative Mischwirkung. 
(Müller und Pilzecker, 1900.) 

Über das Schwinden der Assoziationen, das Vergessen, 
sind nur wenige Sonderdaten anzuführen. Es nimmt im 
allgemeinen einen ganz charakteristischen Verlauf: an- 
fangs geht es geradezu rapid vorwärts, dann wird es 
langsamer und inmier langsamer, bis es schließlich kaum 
mehr merklich fortschreitet. Aus hierher gehörigen Ver- 
suchsreihen ergab sich 20 Minuten nach dem ersten Ein- 
lernen eine Lernerspamis von 58 o/o, nach einer Stunde 
von 440/0, nach einem Tage von 34o/o, nach sechs Tagen 
von 250/0, nach einem Monate von 21 0/0. (Ebbinghaus, 
1885.) — Bei gegenwärtig gleicher Eeproduktionsfähigkeit 
schwinden Assoziationen von verschiedenem Alter um so 
langsamer, je älter sie sind. — 

Lange bevor man, wie zu den eben besprochenen Re- 
sultaten, daran gedacht hat, zwecks experimenteller Unter- 
suchung des Gedächtnisses Assoziationen erst künstlich 
zu stiften, wurden bereits die eigentlich sogenannten „As- 
soziationsversuche'' gepflegt, deren Interesse auf den im 
individuellen Alltagsleben von selbst sich ergebenden Be- 
sitz an Assoziationsdispositionen des SubjeMes gerichtet 
igt. Sie sind im allgemeinen so gestaltet, daß der Ver- 



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1. Hälfte: Piychologie des Geisietlebens. 275 

suchspersou ein Eeizwort zugerufen oder vorgezeigt wird 
und sie di#^ Aufgabe hat, das Nächste, was ihr daraufhin 
einfällt, zu äußern. Daß sich dabei die Assoziation leicht 
mehr oder weniger mit willkürlicher Vorstellungsver- 
bindung vermengt, ist nach dem Obigen (S. 259 ff.) sofort 
einzusehen. Die Versuche haben auch verhältnismäßig 
geringen Ertrag für die Psychologie abgeworfen, und 
erst seitdem man auf ihren Zusammenhang mit den Pro- 
blemen der „Aufgabe", der determinierenden Reproduk- 
tionstendenz, kurz der willkürlichen Vorstellungsverbin- 
dung aufmerksam geworden ist, beginnen sie wieder an 
Bedeutung zu gewinnen. Auch für praktische Interessen, 
die sogenannte „Tatbestandsdiagnostik" in der Strafrechts- 
pflege, sucht man sie neuerdings nutzbar zu machen, 
indem gezeigt worden ist, daß aus einer größeren Anzahl 
von „verdächtigen" Personen, von denen die einen genaue 
Kenntnis von einem bestimmten Tatbestand, z. B. einem 
fingierten Einbruchsdiebstahl, hatten, die andern nicht, 
bei geschickter Auswahl der assoziierenden Reizworte an 
dem Ausfall der ausgesprochenen assoziierten Reaktions- 
worte mit großer Sicherheit diejenigen unter den 
Personen, die die Kenntnis des Tatbestandes hatten 
(die „Schuldigen"), herausgefunden werden konnten, 
auch wenn sie etwa eine Täuschungsabsicht dabei ver- 
folgten. (Wertheimer und Klein, 1904; ^Wertheimer, 
1906.) — 

Experimentelle Untersuchungen der Reproduktions- 
disposition selber ohne Ausnützung von Assoziationen 
sind gleichfalls schon vor längerer Zeit zur Einfüh- 
rung gekommen. Sie setzen sich in der Regel das 
Ziel, die allmähliche Veränderung oder auch das all- 
mähliche Unbestimmterwerden der Reproduktionsdisposi- 
tionen, von dem schon vorher die Rede war (S. 267), 
nach Quantität und Qualität genauer zu bestimmen. Ihr 
Verfahren besteht im allgemeinen darin, daß der Ver- 
suchsperson irgend ein einfacher Inhalt, z. B. Töne, Hellig- 
keiten, durch Sinnesempfindung vorgegeben wird und 
sie die Aufgabe hat, sich über Gleichheit oder Ver- 
schiedenheit eines in bestimmtem Zeitintervall darauf 
folgenden Eindrucks derselben Art zu äußern. Man nimmt 
an, daß sie dabei den neuen Eindruck mit dem zu dessen 

18* , 

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276 n, TeiL Spezielle Psychologie. 

Zeit reprodusderten Gedächtnisbild des alten vergleicht, 
und daß die Fehler dieses Vergleichungsurteiles einer 
Veränderung der Reproduktionsdisposition zur Last fallen. 
Die Verhältnisse liegen indes wohl viel verwickelter, und 
diese Annahmen bedürfen noch sehr der Prüfung, so 
daß eine so einfache Ausdeutung der Versuchsergebnisse 
kaum förderlich erscheint. Übrigens stimmen sie im all- 
gemeinsten mit dem überein, was über das Schwinden 
der Assoziationsdispositionen zu berichten war; auch hier 
geht die Veränderung (allerdings erst nach einem ganz 
kurzen Intervall von etwa zwei Sekunden, in welchem 
die besten Vergleichungsergebnisse erzielt werden) un- 
mittelbar nach dem Aufhören der Empfindung sehr schnell, 
dann aber nach und nach immer langsamer vor sich, und 
zwar, was, wenn es sich bewährt, bemerkenswert erscheint, 
nicht gleichmäßig abwärts, sondern in annähernd pe- 
riodischen Schwankungen. (Wolfe, 1886. Radoslawow, 
1900. 

5. Zur Theorie der Vorstellungsreproduktion. 

Die Grrundposition unserer Theorie der Vorstellungs- 
reproduktion haben wir schon im Abschnitt über das 
unbewußte Psychische entwickelt und im Vorstehenden 
stets vorausgesetzt und angewendet. Sie besteht in der 
Annahme von Vorstellungsdispositionen in dem dort 
(S. 54 ff.) dargelegten Sinne. 

Mit dieser Grundannahme ist aber, wenn auch der 
wesentlichste Charakterzug, so doch natürlich nur der 
allgemeine Rahmen der Theorie gegeben. Es würde sich 
nunmehr darum handeln, die bisher noch durchaus ab- 
strakten Begriffe auf Grund empirischer Untersuchung 
mit näheren Determinationen auszufüllen. Vor allem 
drängt sich die Frage auf: Was sind denn eigentlich an 
sich betrachtet jene Dispositionen? Oder genauer: Was 
ist das wirklich existierende Reale, das wir als Disposi- 
tionsgrundlage supponieren müssen? Und worin besteht 
der wirkliche reale Vorgang, der mit dem Funktionieren 
der Dispositionsgrundlage identisch ist, sonach dem Wirk- 
samwerden der Disposition, der Reproduktion der Vor- 
stellung, zugrunde Uegt? 



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1. !ffiQfte: ^hiychologie de« GeisteslebenB. 277 

färst mit der Beantwortuug dieser Fragen wäre die 
Theorie in ihren Grundzügen voll ausgebaut. Doch fehlen 
uns heute die Antworten noch so gut wie ganz. Einen 
kleinen Schritt nur können wir noch tastend vorwärts 
tun ; dabei ist derzeit wohl Beschränkung auf die physische 
Seite des Faroblems geboten. Der Gegensatz zwischen 
parallelistischer und kausaler Auffassung des Verhält- 
nisses zwischen Physischem und Psychischem kommt 
hier nicht zu Worte; er würde nur verschiedene Inter- 
pretation der Endergebnisse bedingen. 

Was also noch mit einigem Vertrauen zu sagen ist, 
betrifft die ungefähre Lokalisation (die Lage) sowie die 
ganz allgemeinste anatomisch-histologische Beschaffen- 
heit der Dispositionsgrundlagen in der Großhirnrinde. 
Man hat gute Ursache, dafür zu halten, daß die Teile der 
Großhirnrinde, die bei der Keproduktion einer Vorstdlung 
in Aktion treten, im wesentlichen identisch sind mit 
jenen Teilen, in denen sich der zur Wahmehmungsvor- 
stellung desselben Inhaltes gehörige physiologische Vor- 
gang abspielt. Grenzt man also, wie wir gesehen haben 
(S. 16), für die verschiedenen Sinnesgebiete verschie- 
dene Sinnesfelder auf der Großhirnrinde ab, so gelten 
sie zugleich als Abgrenzung der Gebiete, in denen 
auch (he physiologische Eeproduktion der gleichen In- 
halte zu lokalisieren ist. Und läßt die Gesamtheit der 
Sianesfelder noch größere Partien der Großhirnrinde 
übrig, so mag man sie unter dem Namen „Assoziaüons- 
Zentren" (Flechsig, 1896) für die „Verbindung" d^ Vor- 
stellungen in Anspruch nehmen, womit jedoch nicht gesagt 
sein soll, daß sich diese selbst für den heutigen Stand 
d^ Gehirnanatomie und der Psychologie etwas grob- 
primitive Interpretation nicht noch verfeinern und kon- 
struktiv weiter ausführen ließe. (Exner, 1894.) Was 
ferner die anatomisch-histologische Beschaffenheit der Dis- 
positionsgrundlagen anlangt, so läßt sich nur sagen, daß 
es sicher verfehlt ist, wenn man, wie es noch oft ge- 
schieht, annimmt, daß jeder einzelnen Vorstellung etwA 
auch eine eigene und nur eine bestimmte Großhim- 
rindenzelle zugeordnet sei; die Analyse der psychischen 
Tatsachen und ihres Zusammenhanges mit den physio- 
iogiBchen drängt vielmehr mit aller Deutiicfakeü zu einer 

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278 n. Tdfl. Spezidll« Piychologie. 

viel komplizierteren Auffassung, nämlich zu der, daß es 
weit ausgedehnte und aus zahlreichen, vielleicht fern von- 
einander abliegenden Zellen bestehende Komplexe sind, 
die den einzelnen Vorstellungen entsprechen, und deren 
einzelne Elemente durchaus nicht nur einer einzigen Vor- 
stellung dienen, sondern in verschiedenen Kombinationen 
mit anderen Zellen ganz verschiedenen Vorstellungen zu- 
gehören. 

Über die Art des Vorganges, der sich zur Aktuali- 
si^ung der Vorstellung in einem solchen Zelienkomplex 
ereignet, ist hier nichts beizubringen; höchstens ist an- 
zumerken, daß dieser Vorgang sowohl von der Peripherie, 
dem Sinnesorgane, aus, als auch von innerhalb des Gehirns 
zentral zur Anregung gebracht werden kann, wobei im 
ersten Fall Empfindung, im zweiten Beproduküon zu- 
stande kommt. 

Dagegen liegen bemerkenswerte Versuche vor, die 
Grundtatsache des Gedächtnisses überhaupt, nämlich die, 
daß im allgemeinen jede neu auftretende Vorstellung eine 
Disposition begründet, vermöge welcher sie späterMn re- 
produziert zu werden vermag, theoretisch verständlich zu 
machen. Der wesentliche Gedanke solcher Versuche be- 
steht darin, daß das „Gedächtnis als eine allgemeine 
Funktion der organisierten Materie'' (Hering, 1870), mit 
anderen ^Worten als spezieller Fall eines auch sonst noch 
konstatierbaren Beproduktionsvermögens der Materie auf- 
gefaßt wird. Die allgemeinste Äußerung dieses ßeproduk- 
tionsvermögens ist die Tatsache der Übung, welche besagt, 
daß jede Funktion, jede Veränderung, die sich einmal 
in der Materie vollzogen hat, sich das nächste Mal leichter 
vollzieht. Man denke etwa an die Muskeltätigkeit. ,Die 
reproduktive Wiederholung eines Vorstellungsprozesses im 
Gehirn sei demnach nichts anderes als die Folge der 
Erleichterung seines Eintrittes auf Grund dieses all- 
gemeinen Gesetzes der Übung. Auch die Tatsachen der 
.Vererbung körperlicher Eigenschaften sowie die Tatsache 
der Begeneratiön einzelner Teile eines Organismus aus 
seinen anderen Teilen werden als Beproduküonserschei- 
nungen demselben Gesetze subsumiert und als spezielle 
Fälle der Vorstellungsreproduktion an die Seite gestellt. 
Besonders im letztgenannten Sinne sind diese Gedanken 



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1. HSlfte: Psychologie des GeisieslebenB. 279 

in jüngerer Zeit wieder aufgenommen und weit ins 
Einzelne ausgeführt worden (Semon, 1904), doch kann 
hier nicht näher darauf eingegangen werden. 



2. Kapitel. 

Die Cfedanken. 

1. Zur näheren Beschreibung des Urteils. 

Die Abgrenzung des Denkens vom bloßen Vorstellen 
ist schon im allgemeinen Teil dieses Buches (4. Kapitel) 
vollzogen und begründet worden. Auch die überragende 
Stellung des Urteils (Überzeugtseins) innerhalb des Den^ 
kens, als dessen höchstentwickeltes Gebilde es erscheint, 
konnte dort bereits zur Geltung kommen. Nun aber, bei 
näherer Beschreibung sowohl, wie im Vergleich zur 
anderen, minder entwickelten Form des Denkens, wird 
sie erst ganz zur Anschauung zu bringen sein. 

Vorher sei nochmals diurauf hingewiesen, daß die 
fundamentale Position von der Sonderart des Denkens 
gegenüber dem bloßen Vorstellen derzeit hauptsächlich 
der sicheren und unbefangenen Handhabung der Methode 
der inneren Wahrnehmung von selten nur einiger weniger 
Forscher (Brentano, Lipps, Meinong, Marty, Höfler u. a.) 
ihr Dasein verdankt, während sie von vielen anderen her- 
vorragenden Vertretern der heutigen Psychologie, beson- 
ders der prononciert experimentellen, noch verworfen wird. 
Aber auch in diesem Lager beginnt sich in jüngster ,Zeit 
hie und da etwas zu regen, was sich wie Suchen, ja gar 
schon Finden von etwas Neuem, Eigenartigem, dem Urteil^ 
ausnimmt (Messer, 1906; Bühler, 1907), und wenn von 
anderer Seite auch wieder auf Grund von Experimenten 
die Lehre aufgestellt wird, es gebe kein spezifisches 
Erlebnis, das zu Bewußtseinsvorgängen (Vorstellungen) 
hinzukommen muß, um sie zu Urteilen zu erheben — weil 
sich in den Versuchsprototi^ollen keine Aussagen der Ver- 
suchspersonen über das Vorhandensein eines spezifischen 
Urteilsbewußtsein finden (Marbe, 1901), so folgt aus 
diesem Datum schwerlich mehr, als daß die Versuchs- 

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280 n. Teil Spesielle Psychologie. 

Personen dabei, wie es ja leicht zu geschehen pflegt^ 4^ 
Vertraute und Nächstli^ende entweder übersehen oder 
wenigstens nicht ausdrücklicher Erwähnung wert be- 
funden haben. ; 

Als die zwei wesentlichen und charakteristischen Mo- 
mente des Urteils sind, wie seinerzeit bereits geschehen, 
erstens das Moment des Glaubens, Meinens, Yermutens, 
Überzeugtseins, und zweitens das der Bejahung und Ver- 
neinung anzuführen. Weder das eine noch das andere 
dieser beiden Momente läßt sich der Eigenart des Vor- 
stellens subsumieren oder sonst irgendwie als bloße Vor- 
stellungstatsache verstehen. Und erst wenn sie, oder 
wenigstens das zweite von ihnen, noch zu den Vorstellun- 
gen hinzukommen und sich mit ihnen zu einem einheit- 
lichen Ganzen real verbinden, entstehen psychische Ge- 
bilde — die Urteile, Gedanken — , die auch insofern 
den Vorstellungen gegenüber etwas Neues sind, als auf 
sie der Gegensatz von Wahr und Falsch in nahem ßinne 
Anwendung finden kann, auf diese nicht. 

Wenn wir am Urteil, unseren früherwi Ausführungen 
gemäß (S. 73 ff.), Akt und Inhalt unterscheiden, so gehören 
die zwei bezeichneten Momente unzweifelhaft dem Akte 
zu. Der Inhalt des Urteils fällt dann mit dem Inhalt der 
in das Urteil eingegangenen Vorstellungen zusanmien. So- 
fern weiter nach dem Inhalt sich der Gegenstand (das 
Objekt) bestimmt, so ist auch der Gegenstand des Ur- 
teils identisch mit dem seiner Vorstellungen. Hier macht 
sich jedoch das Bedürfnis nach einer neuen Begriffsbildung 
geltend. Urteile ich einmal: Die Sonne scheint (Es ist 
Sonnenschein), ein anderes Mal: Die Sonne scheint nicht 
(Es ist kein Sonnenschein), so ist beide Male der Inhalt 
des Urteils gleich dem Inhalt der Vorstellungen Sonne 
und Scheinen („Sonnenschein"), somit auch der Gegen- 
stand beider Urteile derselbe; beide Male wird über 
Sonnenschein geurteilt. Denn die Negation ist, wie 
wir schon seinerzeit gesehen haben, weder Vorstellung 
nodi Vorgestelltes. Trotzdem hat es aber auch einen 
guten Sinn, zu sagen, der ,Jnhalt" dessen, was das. eine 
Mal ausgesagt worden ist, ist ein anderer als der der 
zweiten Aussage, ja diesem geradezu entgegengesetzt. In 
diesem Sinne kann mit Inhalt nicht der Inhalt der Vor- 



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1. Häffte: Psychologie des GoBtedebeiiB» 281 

Stellungen gemeint sein. In diesem Sinne ist Inhalt über- 
haupt nichts Psychisches, wie es der Vorstellungsinhalt 
wäre; der Inhalt dessen, was in den beiden Sätzen aus- 
gesagt wird, betrifft nicht Vorstellungen noch Vor- 
stellungsinhaite, wohl aber deren Gegenstände Sonne und 
Scheinen. Er ist also etwas Gegenständliches, ist jedoch 
mit diesen beiden Gegenständen nicht erschöpft, weil er 
sonst für beide Aussagen derselbe wäre. Daß aber dieses 
G^enständliche, was den „Inhalt'' der einen und der 
andern Aussage ausmacht, für beide nicht dasselbe ist, 
das kommt daher, daß es auch noch die Affirmation im 
einen, die Negation im andern Falle in sich befaßt. Der 
„Inhalt" dessen, was (aus)gesagt wird, oder, wie wir uns 
nun auch anders ausdrücken können, das gesamte Gegen- 
sländlidie, „Tatsächliche", was zum Urteil gehört* und 
von ihm allenfalls getroffen wird, ist die Tatsache, daß 
die Sonne sch^t, (daß sie nicht scheint), also etwas, 
das sich aus den Vorstellungsgegenständen und der Af^ 
firmation (Negatien) des ürteüs aufbaut. Wir wollen 
dieses komplexere Gebilde, den eigentlichen Urteilsgegen- 
stand zum Unterschied vom eigentlichen Vorstellungs- 
gegenstande, dem Objekt, nach bewährtem Vorgang als 
das Objektiv des Urteils bezeichnen. (Meinong, 1902.) 
Sonach haben wir an dem psychischen Gebilde „Vor- 
stellung" zwei allerdings de facto untrennbare Teile, Akt 
und Inhalt, zu unterscheiden, und wissen, daß die Vor- 
stellung, wenn auch vielleicht nur mit Hilfe des Denkens, 
stets einen je nach ihrem Inhalte bestimmten, jedoch 
aufierhalb ihrer selbst liegenden Gegenstand betiifft. An 
dem psychischen Gebilde „Urteil" haben wir zunächst 
gleichfalls Akt und Inhalt zu unterscheiden, aber, während 
der Akt als ein neuer, dem Urteil durchaus eigentümlicher, 
zu den im Urteil enthaltenen Vorstellungen hinzukommt, 
fällt der Inhalt des Urteils mit dem der Vorstellungen 
zusammen. Aber aus der Berührung dieser Inh^te mit 
d^ Affirmation oder Negation des hinzugekommenen Ur- 
teilsaktes geht doch ein neues, wenigstens quasi-inhalt- 
liches Moment hervor, das sich darin äußert, daß nun 
auch der zum Urteil gehörige Gegenstand mit dem Ja 
oder Nein kompliziert ist und zur Tatsache, zum Ob- 
jdrtiv wird. — .Wenn nun auch dieses Objektiv, geradeso 



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S82 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

wie das Objekt (der Vorstellungsgegenstand) kein psycho- 
logischer Begriff ist, sondern der Erkenntnis- und Gegen- 
standstheorie angehört, so ist es doch auch für die psycho- 
logische Behausung des Urteils förderlich, sich seiner 
bedienen 2u können. 

So wird man z. B. schon durch die auffällig ver- 
schiedenen Arten von Objektiven, die es gibt, eindringlich 
und klar auf einen sonst schwer zugänglichen Unterschied 
aufmerksam, der die Art und Weise betrifft, wie der 
ürteilsakt an die Vorstellungen des Urteils gleichsam her- 
antritt und sich mit ihnen verbindet. Die zwei Arten 
von Objektiven seien repräsentiert durch die Beispiele: 
„Erkenntnis ist' wertvoll'* und „Es gibt Erkenntnis". Das 
ist kurz gesagt der von altersher studierte Gegensatz der 
existenzialen und kategorischen Sätze oder Urteile. Wie 
ist dieser Unterschied zu verstehen und zu definieren? 
Man hat versucht, ihn als einen bloß sprachlichen, rein 
nur in der Gewohnheit des Ausdrucks begründeten hin- 
zustellen, der mit Verschiedenheiten des Gedankens gar 
nichts zu tun hätte; der kategorische Satz sei nur ein 
anderer Ausdruck für das im allgemeinen gleiche psy- 
chische Faktum und den gleichen Gedanken, wie die 
Seinsaussage, die nur eben im Existenzialsatz am ein- 
fachsten zum Ausdruck käme. „Erkenntnis ist wertvoll" 
sei dasselbe wie etwa „Es gibt wertvolle Erkenntnis", 
oder „Es gibt keine nicht wertvolle Erkenntnis" oder 
„Es gibt einen Wert der Erkenntnis" — lauter reine Seins- 
aussagen. Aber man bedarf nicht gerade ganz unerhörter 
Feinheit des Gefühls für Verschiedenheiten der Gedanken 
und deren adäquaten Ausdruck, um herauszuspüren, daß 
diese verschiedenen Formulierungen, wenn auch zum Teil 
praktisch äquivalent, doch keineswegs genau, das gleiche 
bedeuten noch genau denselben psychischen Sachverhalt 
zum Ausdruck bringen. Was aber die kategoriale von 
der existenzialen Fassung auch im günstigsten Falle 
noch unterscheidet, das liegt, wie leicht zu sehen ist, 
nicht an den Vorstellungen, die dem Urteil zugehören, 
nicht an einer besonderen Art der Betrachtung oder etwa 
Zerlegung einer und derselben Vorstellung, sondern das 
liegt daran^ daß das eine Mal tatsächlich nur eine, das 
andere Mal tatsächlich zwei Vorstellungen in das Urteil 



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1. Hälfte: Psychologie des G^eisteilebenB. ggS 

eingehen und der Urteilsakt in verschiedener Weise „an 
das hier und dort vorgegebene Vorstellungsmaterial her- 
antritt. Läßt man es als eine Art Beschreibung des Vor- 
ganges beim Seinsurteile gelten, daß da das Urteil sich 
an den vorgegebenen Vorstellungsinhalt anschließt, so- 
nach an den durch die Vorstellung vorgegebenen Gegen- 
stand gleichsam herankommt und ihn zu eiiassen trachtet, 
so werden es am Ende auch mehr als "Worte und kaum 
weiter abliegende Bilder sein, wenn man sich den Fall 
des kategorischen Urteils so zurechtlegt, daß das Urteil 
hier an zwei Vorstellungsinhalten Anschluß sucht, sich 
gleichsam zwischen die Gegenstände der beiden Vor- 
stellungen stellt und diese so in gewissem Sinne mit- 
einander verbindet. Im Hinblick auf solche Bilder ist 
es vielleicht nicht ohne charakterisierende Bedeutung, dem 
kategorischen Urteil eine ,synthetische Funktion* i) zu- 
zuschreiben, der man dann nicht ohne Anschluß an lo- 
gische Traditionen die Funktion des Seinsurteils als ,the- 
tische* gegenüberstellen könnte." (Meinong, 1902.) Es 
konunen also, je nachdem der psychische Akt des Ur- 
teilens in der einen oder in der andern Weise funktioniert, 
psychologisch verschiedene Gedanken zustande, die auch 
verschiedene Tatsachen (Objektive) erfassen; im the- 
tischen Urteil wird der Gegenstand der Vorstellung zu 
einem seienden oder wenigstens als seiend hingestellt; im 
synthetischen wird eine Verbindung zwischen den Gegen- 
ständen der beiden Vorstellungen gesetzt. — 

Eine andere Variabilität des Urteilsaktes ist von alters- 
her bekannt, übrigens auch hier schon des öfteren gestreift 
und bedarf keinerlei weiterer Erörterung. Es ist die im 
eigentlichen Sinne als qualitative Bestimmung bezeichnete 
Gegensätzlichkeit von Bejahung (Affirmation, Position) 
und Verneinung (Negation). Jede dieser beiden Qualitäts- 
arten ist ursprünglich dem Urteilsakte eigen, und keine 
läßt sich irgendwie auf die andere zurückführen. 

Dagegen mag immerhin die Frage aufgeworfen 
werden, ob sich nicht unter Umständen Übergangsformen 
zwischen dem ausdrücklichen Ja und dem ausdrücklichen 



*) Mit dem Gegensatz za analytiscli hat diese Anwendimg des 
Terminiu synthetiscli nichts zu ton. 



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2S4 n. Teil Spesielle Psychologie. 

Nma in der Erfahrung aufzeigen lassen, und es scheint 
in der Tat, daß dem so ist. Wenn man )5chon mehrere Male 
die Beobachtung gemacht hat, daß bei einer bestimmten 
Konstellation der meteorologischen Momente (Luftdruck, 
■Windrichtung, Temperatur usw.) Kegenwetter folgt, so 
wird man, wenn sie ein nächstes Mal wieder eintritt, 
urteilen, daß Hegen im Anzug ist, zwar nicht mit voller 
Gewißheit, sondern nur im Sinne von Wahrscheinlichkeit, 
dies aber mit einer gewissen Berechtigung. Wenn man 
aus einem S^ck mit Kugeln von unbekannter Farbe im 
ganzen zwanzig Züge getan hat, die sämtlich weiß er- 
geben haben, so wird sich in derselben Weise das Wahr- 
scheinlichkeitsurteil einstellen, daß auch der einund- 
zwanzigste Zug eine weiße Kugel ergeben werde. Dieses 
ist kein ausgesprochenes, gewisses Ja, aber doch auch 
noch viel weniger ein Nein; es steht jenem näher als 
diesem. Das Wahrscheinlichkeitsurteil ist also zunächst 
nicht dadurch charakterisiert, daß der Urteilende dem 
zu beurteilenden Sachverhalte unsicher gegenüber stände, 
mit geringerer Sicherheit sich darüber seine Meinung 
bildete und etwa ein unsicheres, aber unausgesprochenes 
Ja-Urteil abgäbe.^) Der Urteilende beherrscht vielmehr 
den zu beurteilenden Sachverhalt mit aller Sicherheit und 
Einsicht, er sagt in aller Sicherheit und Einsicht, vom 
einundzwanzigsten Zuge ist wieder weiß zu erwarten; 
das heißt aber nicht, daß er mit Gewißheit überzeugt 
ist, der nächste Zug werde Weiß ergeben, denn das Ja, 
die Affirmation in seinem Urteil, ist kein reines, extremes, 
sondern es steht auf einer Übergangslinie vom reinen 
Ja zum reinen Nein, jenem im vorliegenden Falle aller- 
dings näher als diesem. Unter günstigen Bedingungen 
läßt sich nun auch die Distanz, in der dieses Zwischen- 

-^r- jeweils vom reinen Ja und reinen Nein zu stehen 

kommt, numerisch bestimmen. Habe ich einen Sack vor 
mir, von dem ich weiß, daß er zehn Kugeln, neun weiße 
und eine schwarze, enthält, so werde ich urteilen, ein 



^) Die Sache kann sich wohl auch so abspielen, ergibt dann 
aber eine andere psychologische Situation, als oben gemeint ist, 
nämlich kein sicheres, evidentes Wahrscheinlichkeitsarteil, sondern 
eine unsichere evidenzlose A£6rmation. 



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1. Hälfte: Psychologie des GreisteftlebeiiB. 286 

Zug aus diesem Sack wird weiß ergeben; aber das 
Ja dieses Urteils ist kein reines Ja, sondern es steht 
um ein Zehntel der Distanz von diesem zum reinen 
Nein dem letztern näher. Weiß ich, da£ fünf weiße 
und fünf schwarze Kugeln im Sacke sind, so werde 
ich weder sagen, daß auf den Zug weiß, noch daß 
schwarz erscheinen wird; aber das heißt nicht, daß 
ich gar nicht urteile und ratlos dem Sachverhalte 
gegenüber mir keine Gedanken bilden könnte. Ich be- 
urteile vielmehr den Sachverhalt gerade so sicher wie 
früher, nur ist das Urteil schwerer auszudrücken, weil 
es sich in seiner Qualität weder dem Ja noch dem Nein 
annähert, sondern zwischen beiden gerade in der Mitte 
steht. Weiß ich aber» daß sich im Sacke nur weiße 
Kugeln befinden, dann werde ich ohne weiteres urteilen, 
der nächste Zug wird Weiß ergeben, und das Ja dieses 
Urteils ist vom Nein so weit als irgend möglich entfernt, 
ein volles, reines Ja, ein ganz gewisses Ja, und evident. • 

Wir kommen damit auf eine neue Eigenschaft der 
Urteile, eine Eigenschaft, die freilich nicht allen zukommt, 
aber doch an vielen sehr deutlich zu erkennen ist: die 
Evidenz. Vergleicht man zum Beispiel Urteilsfälle folgen- 
der Art, wie: Der Teil ist kleiner als das Ganze, Eins 
mehr eins ist zwei, Ich denke eben nach, mit Urteilen, wie 
etwa : Der Eaum ist unendlich. Ich bin gesund, Cäsar fiel 
durch Mörderhände, so wird man des Unterschiedes leicht 
inne. Für die ersten besteht ein gewisser Zwang, daß 
sie so geurteilt werden, wie sie dort lauten; Zwang, aber 
nicht in dem Sinne, daß ihr Gegenteil nicht gedacht oder 
geglaubt werden könnte; denn darin verhalten sich beide 
Gruppen gleich: ich kann ebensowenig glauben, daß eins 
mehr eins nicht zwei wäre, als, daß Cäsar nicht ermordet 
worden sei; bloß „denken" aber kann ich mir beides. 
Der Unterschied besteht darin, daß die einen eine mehr 
oder weniger unmittelbare Einsicht und Gewähr für ihre 
Eichtigkeit mit sich bringen, die andern nicht, daß wir 
uns bei den einen unbedingter als bei den and^:ii be- 
rechtigt fühlen, so zu urteilen. Es ist ein Moment, .das 
wir in manchen Urteilen als vorhanden verspüren, in 
andern nicht, eine Eigenschaft des Urteilsaktes, die zwar 
nicht allen Urteilen eigen ist, an denen aber, die sie be- 



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286 U. Teil. Spezielle Psychologie. 

sitzen, deutlich >uf gefunden werden kann: die Evi- 
denz. 

Die Evidenz kann nun unter Umständen eine solche 
sein, daß sie ein extremes, reines Ja oder ein extremes, 
reines Nein ergibt; dann ist sie Evidenz der Gewißheit. 
Oder sie ist eine solche, daß sie irgend eine (Misch-, 
Mittel-)Übergangsstufe zwischen den beiden Extremen mit 
sich bringt; dann ist sie Evidenz der Wahrscheinlichkeit. 

Wir haben vorhin gesehen, wie die Qualitätsbe- 
stimmung des Urteils nach Affirmation oder Negation, 
die wohl dem Akte und nicht dem Inhalte des Urteils an- 
haftet, dennoch für den „Inhalt'' der Aussage, für das 
Objektiv von bestimmender Bedeutung ist und gegen- 
ständlich sich das in ihm widerspiegelt. Das gleiche gilt 
nun auch von den Übergangsformen zwischen reiner Ne- 
gation und reiner Affirmation. Das gegenständliche Mo- 
ment im Objektiv, das durch solche Übergangsformen 
gedacht, erfaßt wird, nennen wir Wahrscheinlichkeit. 

Man könnte versuchen, sich die Sache umgekehrt 
zurechtzulegen. Dann muß die Wahrscheinlichkeit als 
etwas dem Urteil Vorausgegebenes genommen werden, 
das es als ein Oewißheitsurteil erfassen kann. Ein solches 
Urteil lautete dann etwa: Die Wahrscheinlichkeit für 
das Ereignis xy beträgt neun Zehntel. — Solche Urteile 
gibt es, und sie sind als Gewißheitsurteile über Wahr- 
scheinlichkeit richtig interpretiert. Aber sie machen die 
zuvor entwickelte Erklärung der Wurzel des Wahrschein- 
lichkeitsgedankens nicht überflüssig, sondern setzen sie 
vielmehr voraus. Woher hätten wir denn überhaupt die 
„Vorstellung" der Wahrscheinlichkeit? Wie immer man 
die Sache wenden mag, immer führt sie schließlich auf 
das (primäre) Urteil von Zwischenqualität zurück, als 
dessen gegenständlicher Eeflex, als dessen Objektiv die 
Wahrscheinlichkeit sich ergibt. Ist so der Wahrscheinlich- 
keitsgedanke einmal gewonnen, so kann er als ein Fertiges 
dann freilich (sekundär) eingehen in ein Gewißheitsurteil 
von der obigen Gestalt. 

Gewißheit und Wahrscheinlichkeit ist nun auch durch- 
aus nicht mit der Sicherheit des Urteils zu verwechseln; 
und damit verlassen wir die Betrachtung der für das 
Objektiv belangreichen quasi-inhaltlichen Momente des Ur- 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 287 

teilsaktes und wenden uns der des reinen Überzeugungs- 
momentes zu. An diesem bleibt dann keine andere Mannig- 
faltigkeit übrig als die IntensitätsYeränderung. Diese 
ist es, was wir in den Sicherheitsgraden des Urteils vor 
uns haben. Als ein Intensitäts-(Grrößen-)Kontinuum be- 
kundet sie sich dadurch, daß es nach der einen Eichtung 
in die Null ausläuft : Bei fortgesetzt abnehmender Sicher- 
heit in der Beurteilung eines Tatbestandes, d. h. bei stetig 
steigender Unsicherheit erreicht man schließlich ein Sta- 
dium, in dem man sich dem fraglichen Tatbestande gegen- 
über gar keine Meinung mehr bildet, das Urteil in suspenso 
läßt, mit anderen Worten : es ist die Null erreicht, es tritt 
kein Urteil ein — ganz im Gegensatz zu dem vom Evidenz- 
moment getragenen, seiner Natur nach qualitativen Wahr- 
scheinlichkeitskontinuum, das in keiner seiner Bichtungen 
zu einer NuU, sondern zu den Extremen der zwei quali- 
tativen Gegensätze führt. Im gemeinen Sprachgebrauche 
mag es allerdings bisweilen vorkommen, daß „wahrschein- 
lich" gleichbedeutend steht mit „von geringer Sicher- 
heit"; doch ist dies für die wissenschaftUche Unterschei- 
dung nicht von Belang. Müssen ja auch die übrigen 
Urteilsbezeichnungen der Alltagssprache, wie glauben, 
meinen, dafürhalten, überzeugt sein, wissen, erkennen, 
überlegen, zweifeln usw. ilu-e eigentliche Bedeutung 
erst noch durch wissenschaftliche Analyse kundtun und 
sich für die Verwendung in der Wissenschaft gelegentlich 
gar manche Begriffsverschärfung gefallen lassen. So be- 
deuten, wie man leicht sieht, glauben, meinen, dafürhalten 
zumeist aktuelles, evidenzloses Urteilen von absteigender 
Sicherheit, überzeugt sein bloß maximale Sicherheit, 
während die analogen Bestimmungen für die Ausdrücke 
wissen, erkennen schwierigere Untersuchung voraussetzen. 

2. Einige Spezialfälle des Urteils. 

Ein verhältnismäßig sicherer Wegweiser, sämtliche 
charakteristisch voneinander verschiedenen Arten von Ur- 
teilen des psychischen Lebens aufzufinden, wäre dadurch 
gegeben, daß man die einzelnen Merkmale, welche die 
eben durchgeführte Beschreibung des Urteils aufgedeckt 
hat, in ihren verschiedenen Modifikationen untereinander 



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288 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

und mit den verschiedenen Arten von Vorstellungen all- 
seitig kombiniert und die Ergebnisse an dem empirisch 
vorliegenden Urteilsmaterial prüft. Wir wollen jedoch 
nunmehr nicht dieses vielverzweigte, alles umfassende 
Wegenetz verfolgen, sondern uns damit begnügen, nur 
einzelne charakteristische ürteilsfälle, die im Gesamt- 
gebiet auch so schon auffallen, herauszugreifen. 

a) [Wahrnehmung.] Es wird vielleicht manchen 
wundernehmen, an dieser Stelle von Wahrnehmung zu 
lesen. Denn die Einsicht darein, daß das, was wir Wahr- 
nehmung nennen, ein psychischer Komplex ist, zu dem 
als ganz wesentliches Bestandstück auch ein ürteilsakt 
gehört, hat heute noch recht wenige Verbreitung. Die 
Begel ist, daß man die Wahrnehmung für schon durch 
die Wahrnehmungsvorstellung allein gegeben halt, also 
durch die zur Vorstellung einer Gestalt zusammengefaßten 
Empfindungen. Bei näherer Betrachtung muß man aber 
merken, daß dies mit den Tatsachen nicht zusammen- 
stimmen kann. Denn zweifellos enthält die Wahrnehmung 
nicht nur Farben-, Ton- usw. Qualitäten, sondern auch 
ein Moment des Glaubens, des Uberzeugtsems ; wer etwas 
wahrnimmt, der erlebt in diesem Akte unmittelbar und 
eingeschlossen den Glauben an die Existenz des Wahr- 
genommenen, er denkt den Gegenstand der Wahmeh- 
mungsvorstellung ganz von selbst als einen existierenden. 
Wer Nebel oder Schnee sieht (wahrnimmt), der meint 
implizite, daß Nebel und Schnee da sind. Also können 
wir sagen: Die Wahrnehmung besteht aus einer Wahr- 
nehmungsvorstellung und einem diese in sich befassenden 
Urteil, dem Wahrnehmungsurteil ; Vorstellung und Urteil 
sind natürlich auf dasselbe Objekt gerichtet. 

Das Wahmehmungsurteil ist ein thetisches, bejahen- 
des Urteil von normalerweise maximaler Sicherheit; weist 
es gegebenen Falles überhaupt ein Evidenzmoment auf, 
so dürfte dieses am ehesten als Evidenz der Wahrschein- 
lichkeit anzusprechen sein. (Meinong, 1906.) 

Wenn gelegentlich von falschen Wahrnehmungen ge- 
sprochen wird, so ist damit meist bereits über den hier 
gegebenen ursprünglichen und strengen Sinn des Wahr- 
nehmungsurteiles hinausgegangen; denn in diesem Sinne 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 289 

besagt es gar nichts als die Existenz des in der Wahr- 
nehmungsvorstellung ganz unmittelbar Eepräsentierten, 
dieses ganz absolut und für sich genommen, ohne allen 
Vergleich mit andern Gegenständen, ohne alle Einordnung 
in irgend eine Klasse von Dingen, ja selbst ohne alle 
Benennung. (Das reine Wahrnehmungsurteil ist deshalb 
sprachlich auch nur schwer auszudrücken.) Gleichwohl 
können auch da schon falsche urteile zustande kommen, 
doch ist die Schuld an der Verfälschung dabei nicht 
dem Urteile zuzuschieben, sondern der Vorstellung; man 
denke an die Empfindungs- und an die Produktions- 
täuschungen. — 

Da also eine Wahrnehmung erst dadurch zustande 
kommt, daß zur Empfindung oder Wahmehmungsvor- 
stellung das Wahrnehmungsurteil hinzutritt, so ist es von 
vornherein möglich, daß wir Empfindungen haben, die 
nicht zu Wahrnehmungen führen; und die Erfahrung 
spricht dafür, daß dies auch Tatsache ist. Ja wir können 
sogar sagen, daß von der großen Masse von Empfindungen, 
die dank dem mechanischen Funktionieren der Sinnes- 
organe stets in uns vorhanden sind, jeweils nur ein Teil, 
wenn wir intensiv mit geistiger Arbeit beschäftigt sind, 
nur ein ganz kleiner, zur Wahrnehmung wird; wir 
nehmen also nur von einem Teil der Dinge um uns, 
die mittelst Reiz und Empfindung auf uns einwirken, 
tatsächlich Notiz, der Rest geht für unser Bewußtsein, 
wiewohl er Empfindungen in uns erzeugt, so gut wie 
ganz verloren, er wird nicht wahrgenommen, wir wissen 
trotz Empfindung nichts von seiner Existenz. — 

AU das bisher Gesagte ist auf die sogenannte äußere 
Wahrnehmung gemünzt, die Wahrnehmung, die letztlich 
mit Hilfe der Sinnesempfindung auf physische Gegen- 
stände gerichtet ist. Es gibt aber, wie wir schon wissen 
(S. 93), auch eine andere Wahrnehmung, die sogenannte 
innere, welche Psychisches, und zwar das eben aktuelle 
Psychische des eigenen Bewußtseins zum Gegenstande hat. 
Als Quelle der psychologischen Forschung haben wir diese 
Art der Wahrnehmung bereits gewürdigt. Auch sie ist 
ihrem Wesen nach vor allem Urteil, und zwar ein evi- 
dentes, vielleicht so gut wie evident gewisses. Sie ist es, 
durch die wir jeweüs zum mindesten von einem Teil 

Witasek. Grundlinien der Psychologie. 19^ . 

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290 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

des eben in- uns aktuell vorhandenen Psychischen Kennt- 
nis erhalten, während das übrige von uns unbemerkt, 
gleichsam ungewußt, „unbewußt" bleibt. Durch Perse- 
veration der Vorstellungen wird sie gewiß gefördert; aber 
sie ist keineswegs mit ihr identisch, wie auch schon an- 
genommen worden ist (Ach, 1905), sondern bedarf, wie 
gesagt, wesentlich des Urteils. Doch mag sich hier das 
(thetische) Urteil an seinen Gegenstand, der ja ohne- 
(ües bereits Psychisches ist, unmittelbar anschließen, sich 
mit ihm direkt verbinden, und nicht erst, wie die äußere 
Wahrnehmung, dazu der Vermittelung durch die (Wahr- 
nehmungs-) Vorstellung bedürfen. 

ß) [Erinnerung.] Noch deutlicher als an der Wahr- 
nehmung ist an der Erinnerung die wesentliche Mit- 
wirkung des Urteilsaktes ersichtlich. Reproduzierte Vor- 
stellungen allein sind noch keine Erinnerungen. Erst 
wenn ich mit den reproduzierten Vorstellungen etwas 
aus der Vergangenheit wiederzusehen denke, erst wenn 
ich meine, im Gegenstande einer Vorstellung den 
Gegenstand eines vergangenen Erlebnisses vor mir zu 
haben, ist es Erinnerung. Reproduzierte Vorstellungen 
müssen sich nicht immer und jedesmal mit diesem Er- 
innerungsbewußtsein verbinden; es kann auch etwas zur 
Vorstellung bringen, was ich mir nur ausgedacht, gar 
nicht selbst erlebt habe; alle Einbildungsvorstellungen 
haben ja denselben psychischen Aspekt, und man sieht 
es ihnen für sich allein nicht an, ob sie richtige oder modi- 
fizierte Reproduktion von etwas ehemals Dagewesenem 
oder gar nur Phantasie sind. So kann es sich sogar er- 
geben, daß sich ein negatives Urteil mit einer Ein- 
bildungsvorstellung verbindet und man sagt: so war es 
damals nicht, oder : das habe ich niemals gesehen. 

Die Erinnerung besteht also aus einer oder mehreren 
Erinnerungsvorstellungen und einem Erinnerungsurteil, 
das sich mit diesen verbindet, somit auf dieselben Ob- 
jekte wie sie gerichtet ist. i 

Das Erinnerungsurteil kann sowohl bejahend wie ver- 
neinend sein; die negative Erinnerung (z. B. „Ich war 
damals nicht zugegen") ist ein besonders deutlicher Finger- 
zdg für die Mitbeteiligung des Urteils. Es kann thetisch 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebeiu. 291 

oder synthetisch sein (z. B. „Es regnete", „Mein Freund 
war krank"), es kann evidenzlos sein oder wohl auch 
Vermutungs-(Wahrscheinlichkeits-)Evidenz haben (Mei- 
nong, 1885) und schließlich verschiedene Grade der Sicher- 
heit aufweisen. 

Es ist nicht ohne Interesse, sich zu überlegen, wie 
es mit den dispositionellen Grundlagen der Erinnerung 
bewandt sein mag. Man findet dabei, sowohl nach innerer 
Beobachtung der Erinnerungstatsachen selbst, als auch ge- 
mäß experimentellen Ergebnissen, daß sie von zweierlei 
verschiedener Art sein können. Entweder es wird das 
Urteil selbst gleichsam direkt und primär reproduziert. 
Zum Beispiel, ich weiß und erinnere mich, gestern die 
Ejreutzer-Sonate gespielt zu haben. Dazu ist nicht nötig, 
daß zunächst etwa die reproduzierten Vorstellungen der 
Sonate, dann die des Gestern, des Spielens, die meiner 
Person usw., wenn auch assoziativ auftauchen und sich 
dann erst das Urteil daranschließe; sondern gestern beim 
Spielen war ich mir dessen bewußt, die genannte Sonate 
zu spielen, und dieses „Wahrnehmungs"-Urteil begründete 
— ganz analog wie eine Empfindung — die Disposition 
zum direkten reproduktiven Denken des gleichen Ob- 
jektivs, zum Erinnerungsurteil. — Oder aber es tauchen 
zunächst Einbildungsvorstellungen auf, sie werden wegen 
des Zusammenhanges, in den sie eingefügt erscheinen, 
für reproduzierte, für richtig reproduzierte Vorstellungen 
genommen, und so fügt man das Urteil hinzu, man meint, 
sich auf Grund der aufgetauchten Vorstellungen zu er- 
innern. So geht es z. B. manches Mal, wenn man nach dem 
Detail eines Ereignisses, das man erlebt, eines Gegen- 
standes, den man gesehen hat, ausgefragt wird. Es kommt 
einem die Antwort auf eine solche Detailfrage allen- 
falls nicht sofort, man vergegenwärtigt sich also im Geiste 
anschaulich das Ganze und findet nun an der Stelle 
des erfragten Details tatsächlich ein Merkmal in der re- 
produzierten, anschaulichen Vorstellung enthalten; man 
nimmt somit dieses Merkmal für richtig reproduziert und 
glaubt, daß sich die Sache wirklich so verhalten habe, 
man sich also recht erinnere. Die Erinnerung kann trotz- 
döm ' falsch sein, weil das Merkmal in der anschau- 
lich reproduzierten Gesamtvorstellung immerhin im Ge- 

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292 II« Teil. Spezielle Psychologie. 

dächtnis entstellt oder phantastisch hiuzuerganzt sein 
kann. 

Sehr deutlich sind diese beiden Arten der dispositio- 
nellen Grundlagen und des Werdens von Erinnerungs- 
akten in den seit einiger Zeit eifrig studierten sogenannten 
Aussageversuchen zutage getreten. Diese Versuche ver- 
folgen — ursprünglich in praktischem Interesse, vor- 
wiegend zur Beurteilung des Wertes des Zeugenverhöres 
vor Gericht — den Zweck, die Zuverlässigkeit des Er- 
innerungsurteiles und ihre Bedingungen zu prüfen. Unter 
den vielerlei Einzelergebnissen, die sie geliefert haben, 
ist besonders bemerkenswert der auffallend große Prozent- 
satz von Fehlerinnerungen, den sie liefern; ferner die 
Tatsache, daß selbst bei maximaler subjektiver Sicherheit 
die objektive Zuverlässigkeit des Erinnerungsurteiles gleich 
Null sein kann ; schließlich die Menge und Mannigfaltig- 
keit der objektiv-sachlichen, sowie der persönlich-indi- 
viduellen Bedingungen (Lebensalter, Geschlecht usw.), von 
denen die Zuverlässigkeit in hohem Grade abhängt. (Stern, 
1902, 1904.) Aber auch das scheint in ihnen deutlich 
hervorzutreten, daß sich die Erinnerungsdaten verschieden 
verhalten, je nachdem sie der einen oder der andern der 
beiden oben auseinandergehallenen Arten der dispositio- 
nellen Grundlage entstammen; nicht nur, daß sie von 
ganz verschiedenem Zuverlässigkeitsgrade sind (die direkt 
als „reproduzierte Urteile" zustande kommenden stehen 
bedeutend höher), auch die Art der Fehlerinnerungen ist 
da und dort qualitativ charakteristisch verschieden. 

Y) [Das Wiedererkennen und das Benennungs- 
urteil.] Zu den weitaus häufigsten und verbreitetsten 
Urteilsfällen gehören auch die Urteile des Wiedererken- 
nens und des Benennens; sie sind fast schon mit jedem 
Wahmehmungsakte verbunden und schließen sich diesem 
meist ganz automatisch an. Zum Beispiel : „Derselbe Herr 
war vorhin auch schon da", wird mir gemeldet, nachdan 
ich vom Hause abwesend gewesen war und nun JOTiand 
Fremder nach mir fragt; und „Ah, Herr N. N.", indem 
die Türe sich öffnet und der Fremde eintritt. 

Freilich bieten sich die objektiven Verhältnisse, nach 
denen solche Urteile möglich wären, wahrscheinlich noch 



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oogle 



1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 293 

viel zahlreicher, als diese tatsächlich eintreten. Denn im 
gewöhnlichen Ablauf der vieleiiei Verrichtungen und Si- 
tuationen des Alltagslebens kommen wir f or^esetzt und 
immer wieder mit denselben Dingen und umständen in 
Berührung ; aber unsere Eeaktion, unser Benehmen inner- 
halb dieses gewohnten Kreises hat sich im Laufe der 
Zeit automatisiert, ist teilweise reflexartig geworden, d. h. 
es vollzieht sich schließlich mit einem Minimum von 
bewußten (psychischen) Erlebnissen. Und so sehen wir 
die Dinge um uns und machen unsere Hantierungen 
mit ihnen, wohl ohne daß jedesmal das Bewußtsein in 
uns aktuell wird, wie etwa: „Da Tinte", „da Feder'*, 
„da Papier", „da Eintauchen", „da Zeile", „da Feder 
angesetzt" usw. Und wenn wir auch nicht glauben 
dürfen, daß irgendwelche psychischen Tatsachen schon ge- 
wiß auch wirklich nicht vorhanden sind, wenn sie uns 
nicht gleich ausdrücklich auffallen oder auch bei mehr 
oder weniger flüchtiger Suche nicht gleich zu finden 
sind, so wird man doch recht haben, zu sagen, daß Urteils- 
akte, wie die hier genannten, so zahlreich sie immerhin 
noch sind, in voller Aktualität nur dann auftreten, wenn 
sich in den Zug der gewohnten Wahrnehmungen zwischen 
das tausendmal und tausendmal Wahrgenommene doch 
wenigstens eine irgend merkliche Veränderung einschiebt, 
oder — wenn unser Wille ausdrücklich einmal psychische 
Genauigkeit verlangt, 

Analyse und psychischer Mechanismus dieser Urteile 
sind keineswegs schon klargestellt. Das Wiedererkennen 
eines Gegenstandes bat man sich häufig so zurechtgelegt, 
daß beim neuerlichen Auftauchen der Wahmehmungs- 
vorstellung des Gegenstandes zugleich auch die reprodu- 
ziOTte Vorstellung desselben hervorgerufen wird und damit 
irgendwie das Identitätsbewußtsein gegeben sei. Aber diese 
Analyse ist entschieden zu sehr nach rein logischen Ge- 
sichtspunkten von außen her konstruiert. Vor allem ist 
im tatsächlichen Vorgange von einer aktuell reproduzierten 
Vorstellung nichts zu bemerken ; noch weniger etwas von 
einem Vergleichungsakte zwischen einer solchen und der 
Wahmehmungsvorstellung. Trotzdem wird es wohl richtig 
sein, daß die Eeproduktionsdisposition an dem Vorgange 
irgendwie maßgebend beteiligt ist (gegen Gamble und 

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394 n. Teil. Spezielle Psycliologie« 

Oalkins, 1903). Gewiß aber ist der Sachverhalt wiederum 
nicht 80 einfach, daß die bloße, etwa in statu nascendi 
zustande kommende Verschmelzung der Beproduktions- 
mit der Wahrnehmungsvorstellung schon den ganzen 
Wiedererkennungsakt konstituierte (gegen Lehmiann,1892) ; 
denn er ist eben nicht bloß Vorstellen, sondern wesentlich 
Urteilen. Am ehesten wird i lan auch hier wieder darauf 
hingewiesen, daß die Vorstellungsreproduktionsdisposition 
zusammen mit der durch den ehemaligen Wahmehmungs- 
akt begründeten Disposition zum Erinnerungsurteü (siehe 
oben S. 290), und weiter zusammen mit der durch die 
neuerliche Wahrnehmung ohnedies gewiß in Aktualität 
versetzten (Empfindungs- usw.) Wahmehmungsdisposition, 
lauter Dispositionen, die in ihren Grundlagen teilweise 
zusammenfallen (siehe oben S. 266 ff.) und gemeinsamen 
Erreger haben können, bei solchem, durch gemeinsame, 
gleichzeitige Anregung ineinander geschobenem Funk- 
tionieren auch ein einheitliches, gemeinsames Bewußt- 
seinsergebnis haben, nämlich den eigentümlichen, nicht 
weiter analysierbaren Akt des Wiedererkennens. Die er- 
forderliche experimentelle Prüfung dieser Auffassung steht 
allerdings noch aus. Dagegen lassen sich ihr mit wenigen 
plausiblen Hüfsannahmen die allgemein bekannten Er- 
fahrungen der Gedächtnishalluzinationen (Paramnesien) 
und der Bekanntheitsqualität einfügen. Beide bestehen 
darin, daß man an einem eben vorhandenen Wahr- 
nehmungsgegenstande mehr oder weniger bestimmt das 
ganz unmittelbare Gefühl des Bekannten, nicht Fremden 
oder Neuen, sondern bereits Erlebten hat, ohne, im letzteren 
Falle, sich erinnern zu müssen, wann und wo einem 
der Gegenstand früher einmal untergekommen sei, in den 
Paramnesien gar trotz ausgemachten Wissens, daß man 
ihm jetzt sicherlich zum ersten Male gegenübersteht. 

Die Analyse der Benennungsurteile bietet ähnliche 
Schwierigkeiten. Ich höre einen am Klavier angeschlage- 
nen Ton; ich sehe die Tasten nicht, und nur auf den 
Gehörseindruck hin sage ich : „Es ist der Ton g", und das 
Urteil ist richtig. Es grüßt mich im Vorübergehen auf 
der Straße ein ganz entfernt Bekannter, den ich sonst 
vielleicht übersehen hätte. Wer ist das nur, frage ich 
mich, sein Name will mir ganz und gar nicht einfallen, 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 295 

und indem ich suche, kommen mir die verschiedensten 
Namen in den Sinn. Einen nach dem andern lehne ich 
ab (negative Urteile), bis endlich vielleicht das Urteil 
kommt: „Das ist ja der N. N." — Man; wird sagen, 
der Vorgang ist nichts weiter als Assoziation; der Ein- 
druck des Tones ist an die Vorstellung seiner Bezeichnung, 
der des Mannes an seinen Namen mehr oder weniger 
eng assoziiert. Nun ist Assoziation wohl auch daran 
beteiligt; sie allein kann es aber gewiß nicht machen. 
Denn viele Vorstellungen treten beim Suchen ins Be- 
wußtsein; welche ist die „richtig'' assoziierte? Man sieht 
das ja den einzelnen nicht an. Und durch, die übrigen 
assoziativen Zusammenhänge ist diese Erage nicht zu 
beantworten; denn auch von ihnen sind nur die 
„richtigen" maßgebend. Die Sache steht vielmehr wahr- 
scheinlich so, daß schon in jenen Fällen vom Erleben 
des Zusammenhanges „Ton — g", „dieser Mann — N. 
N.", durch welche die Assoziationsdisposition entstanden 
ist, das Bewußtsein der Zusanmiengehörigkeit aktuell vor- 
handen war, mit anderen Worten das (synthetische) Ur- 
teil, wenn auch vielleicht unausgesprochen, gefällt worden 
ist „Das ist der Ton g", „Das ist der N. N.", und daß 
durch diesen Urteilsakt zusammen mit und in der As- 
soziationsdisposition auch eine weitere Disposition noch 
begründet und erworben wird, deren Leistung in der 
Beproduktion von eben jenem ursprünglichen Zusammen- 
gehörigkeitsurteile besteht. 

b) [Möglichkeit (Bestände)]. Sehr viele Urteile 
betreffen G^enstände von produzierten Vorstellungen, 
reine Gestalten, Beziehungen, Zahlen. Solche Gegen- 
stände haben nicht reale Wirklichkeit, nicht Existenz, 
sie sind nicht reale, sondern ideale (realitätslose) Gegen- 
stände. Ist also auf einen solchen Gegenstand ein Urteil, 
z. B. ein thetisches (Seinsurteil), gerichtet, so kann 
es ihm vernünftigerweise niemals, auch wenn es noch 
so wahr sein soUte, Existenz zuschreiben. Was es 
ihm zuschreibt, ist ein Sein von anderer Art, nicht 
das der realen Dinge, sondern ein bloßes Bestehen, 
eine „Möglichkeit''. So ist's gemeint, wenn man z. B. 
sagt : „Es giht verschiedene Zahlensysteme, unter anderen 

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296 n. TdiL Speziell« Psychologie. 

auch ein dekadisches, ein duodezimales", oder: „Es gibt 
Logarithmen auf der Basis lO'S oder: „Es besteht Gleich- 
heit zwischen den Diagonalen eines Quadrates'', od^ ähn- 
liches mehr. ^ i 

Es entsteht nun die Frage : Sagen solche Urteile ein 
Sein von anderer Art aus wie die Urteile über reale 
Existenz, weil sie Gegenstände betreffen, die selber schon 
nicht mehr reale Gegenständesind ; oder bezeichnen wir nicht 
vielmehr umgekehrt solche Gegenstände nicht als reale, 
sondern als ideale, weil sie vernünftigerweise nicht zum 
Gegenstande eines Existenzial-, sondern nur eines „Be- 
stand' '-(Möglichkeits-)Urteiles gemacht werden können? 
iWobei dann mit der zweiten Position die Annahme im- 
pliziert wäre, daß es zweierlei voneinander psychologisch 
verschiedene Arten von Seinsurteilsakten gebe, ein Exi- 
stenzial- und ein eigenartig anders beschaffenes psy- 
chisches Urteilsgebilde, das Bestandurteil. 

Die Frage ist 'wohl im zweiten Sinne zu entscheiden 
(Meinong, 1899), und es werden damit zweierlei an sich 
verschiedene Urteils-(Überzeugungs-)arten statuiert, deren 
gegenständlicher Reflex im einen Falle das Objektiv 
„Existenz", im anderen das Objektiv „Bestehen" ist, das 
mit dem der „Möglichkeit" sehr nahe Beziehungen zu 
haben scheint. 

Solche Bestandurteile sind es also, die im Gebiete 
der Gegenstände produzierter Vorstellungen die geordnete 
Gedankenwelt ausmachen; solche Bestandurteile sind es, 
in denen vor allem die Wahrheiten der gesamten Mathe- 
matik dem menschlichen Geiste zum Bewußtsein kommen, 
die aber auch sonst überall, wo es sich um apriorisches 
Erkennen, * um Möglichkeit und Notwendigkeit handelt, 
eine höchst bedeutsame EoUe spielen. Es kann indes an 
dieser Stelle nicht näher auf sie eingegangen werden, 
weil es zu weit führen müßte — obzwar allerdings vom 
rein psychologischen Standpunkte, also über die psychischen 
Tatsachen der Urteile selbst, kaum viel Besonderes mehr 
hinzuzufügen wäre und sich das Hauptinteresse den Ob- 
jektiven zuwendet, sonach nicht der Psychologie, sondern 
der Erkenntnistheorie zugehört. 



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1. Hälfte: PsycHologi« des Geisteslebens. 297 

3. Aufmerksamkeit und Abstraktion. 

Die Tatsache der Aufmerksamkeit spielt eine so auf- 
fallende Eolle im psychischen Leben, daß sie im ganzen 
sowohl wie auch nach manchen ihrer Eigentümlichkeiten 
schon der Vulgärpsychologie etwas höchst Vertrautes ist. 
Der wissenschi^tlichen Psychologie dagegen war sie, sofern 
sie sich nicht zu leichten Mutes über sie hinweggesetzt, 
von jeher eine vera crux, und auch heute noch bildet 
sie eines ihrer Zentralprobleme, nach dessen verschiedener 
Auffassung zum Teile sich die verschiedenen Systeme 
charakterisieren. 

Um sicher zu gehen, ist es vor allem notwendig, sich 
vor Augen zu halten, daß der „Begriff' Aufmerksaitnkeit 
nicht in der Wissenschaft entstanden ist, sondern dem 
praktischen Leben seinen Ursprung verdankt, daher der 
Schärfe ebensosehr ermangeln mag wie auch der Ein- 
deutigkeit und Homogeneität. Und in der Tat, bei näherem 
Zusehen zeigt si<3h bald, daß es ein ganzer Komplex ver- 
schiedenartiger, allerdings untereinander zusammenhängen- 
der Tatsachen ist, dem das Wort Aufmerksamkeit zu- 
gehört. 

Dieser Komplex erweist sich als ein psychischer 
Prozeß, genauer als eine psychische Tätigkeit (siehe 
S. 81 ff.), die sich als solche schon nicht einheitlich charak- 
terisieren läßt; er hat aber gleichsam einfci Kern, nach 
dem und von dem aus das übrige an ihm sich ordnet; 
und in diesem Kern erkennen wir wieder einen Urteils- 
akt, einen Akt des Auffassens. Freilich ruft diese Meinung 
bei vielen der heutigen Psychologen geradezu Entsetzen 
hervor; sie ist aber dennoch wahr, und wer überhaupt 
den Blick hat für die psychologische Eigenart des Urteils- 
aktes, der wird sie auch im Tatbestand der Aufmerk- 
samkeit unschwer wiederfinden. 

Mehr als durch den umfassenden Ausdruck Aufmerk- 
samkeit wird man durch das auf die Tätigkeit zugespitzte 
„aufmerken'' zum Urteilsakte hingewiesen. Das Auf- 
merken führt ja doch, wenn es Erfolg hat, zum Bemerken 
des Einzelnen in dem Ganzen, worauf aufgemerkt worden 
war; das Bemerken selbst aber ist nichts anderes als 
das Erfassen des Vorhandenseins, des Daseins des be- 



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298 n. Teü. Speadelle Psychologie. 

merkten Gegenstandes — und dieses Erfassen haben wir 
als identisch mit der Funktion des Urteilens erkannt. 
Merke ich dagegen auf etwas nicht auf, „beachte*' ich 
es nicht, so en^eht mir allenfalls sein Dasein, ich be- 
merke es nicht, d. h. das Seinsurteil, das auf diesen Gegen- 
stand gerichtet wäre, stellt sich nicht ein in meinem 
Bewußtsein ; das Vorhandensein des Gegenstandes entgeht 
mir, wiewohl die EeizTorgänge, die er aussendet, Empfin- 
dungen in mir erzeugen ganz wie sonst. 

Ich gehe im Garten auf und ab, den Blick zu Boden 
gerichtet, in Nachdenken versunken; auf einmal reißt 
der Faden der Gedanken ab, und mit dem leise vor mich 
hingesagten ,Wort „Merkwürdig" hebe ich eine kleine, 
verrostete Medaille vom Boden auf. Oder ; Ich befinde mich 
in einem mit Menschen angefüllten Saal und unterhalte 
mich mitten in dem lauten Stimmengewirr und Durch- 
einander von .Wörtern und Bufen angelegentlichst mit 
meinem Nachbar; plötzlich schlägt ein bekannter Name 
an mein Ohr, ich horche auf. Oder : Ich habe die Absicht, 
zu bestimmter Stunde meine Arbeit zu unterbrechen und 
auszugehen; verschiedene laute und leise Geräusche er- 
eignen sich in meinem Hörkreise, sie stören mich nicht, 
ich achte nicht auf sie, es ist so gut, als hörte ich sie 
nicht einmal; da schlägt die Uhr (üe vorgesetzte Stunde 
und zieht meine Gedanken ab, auf sich und auf ,den 
Vorsatz, weg^gehen. 

.Wie sind (fiese Vorgänge psychologisch zu deuten? 
Man sagt, die Empfindung (Wahrnehmungsvorstellung), 
die sich so plötzlich aus ihrer Umgebung ablöst, den bis- 
herigen Gedankengang unterbricht und von sich aus 
einen neuen einleitet, sei eben stärker, intensiver, als 
die aus ihrer Umgebung, und so erkläre sich der ganze 
Sachverhalt. Aber was soll es heißen, die Farbenempfindun- 
gen, die von der Medaille ausgingen, seien stärker gewesen, 
als die vom Kies in ihrer Umgebung ausgegangenen? 
Und ist die Wirkung des Uhrschlages nicht die gleiche, ob 
er nun ein recht kräftiger oder leiser ist? Wie läßt 
sich überhaupt die Schallstärke vergleichen mit der Stärke 
meiner theoretischen Gedanken? — Also soll es nicht 
die Stärke des Empfindungsinhaltes, sondern die des 
Aktes sein? Wie aber dann, wenn gerade das JVeg- 



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oogle 



1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. ^99 

bleiben einer Empfindung die Aufmerksamkeit erregt, wie 
in dem bekannten Beispiele vom Müller, der beim Stehen- 
bleiben der Mühle gar aus dem Schlafe erwacht ? (S. 57.) 
Von einer plötzlich eintretenden „Empfindung der Stille** 
(S. 143) kann ja, abgesehen von anderem, dabei gewiß 
nicht die Bede sein; bleiben ja doch noch genug andere 
Geräusche übrig. Oder soll da die „Veränderungsempfin- 
dung" aushelfen ? Ist es natürlich, dem Akte der Empfin- 
dung der Veränderung eine obsiegende Intensität zuzu- 
schreiben, wenn die Empfindungen von dem sich Ver- 
ändernden so geringe Intensität haben, daß sie so gut 
wie gar nicht da sind? Zumal ja auch sonst immer noch 
genug plötzliche Veränderungen in der unsere Sinnes- 
organe affizierenden Umgebung vor sich gehen, die unsere 
Aufmerksamkeit nicht erregen. — Aber mit dem allen 
könnte man sich doch noch irgendwie theoretisch ab- 
finden. Dagegen bliebe dabei das Bewußtsein vom Vor- 
handen- (oder Nichtvorhanden-)sein des Aufmerksamkeits- 
erregers, das gerade den Kern des Ganzen ausmacht, 
unerklärt; denn ein solches Bewußtsein kann niemals 
Funktion des bloßen Empfindens, Vorstellens, sondern 
nur eines Urteilsaktes sein. — Faßt man aber das Wesen 
des Aufmerksamkeitsereignisses in Ausdrücken wie : „Die 
Vorstellung wird über die Schwelle gehoben", oder: „Sie 
tritt in den Blickpunkt des Bewußtseins", so sind dies 
so offenkundig rein metaphorische, bildliche Erklärungen, 
daß man sich im Interesse der psychologischen Erkennt- 
nis erst dann bei ihnen beruhigen darf, wenn eine Deutung 
des Bildes und eine direkte, analytische Darstellung des 
Verbildlichten nicht möglich ist. Eine solche direkte Dar- 
stellung des in Eede stehenden Sachverhaltes ist es nun, 
wenn man sagt, der Erfolg des Aufmerkens ist das 
Bemerken des Gegenstandes der Aufmerksamkeit, und das 
Bemerken besteht in einem diesen Gegenstand erfassenden 
(Seins-)Urteilsakte. — 

Damit ist jedoch, wie schon eingangs betont, nur 
der Kernpunkt des ganzen, komplexen Geschehens, auf 
das der Terminus Aufmerksamkeit gemünzt ist, charak- 
terisiert. Es gehört noch ein — unter Umständen freilich 
wegbleibendes — Vorstadium dazu, und ein Nachstadium, 
das die Wirkungen enthält, die jenes Kemereignis des 

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30(1 ^* ^^^' Spezielle Psychologie. 

Bemerkens für den Ablauf des weiter sich daranschließen- 
den psychischen Geschehens hat. 

Das Vorstadium ist im wesentlichen das Bemerken- 
wollen. Der Schauspieler wartet gespannt auf das Stich- 
wort, das für ihn das Zeichen zum Auftreten ist; ,er 
darf es nicht überhören, weil er sonst den Augenblick 
verpaßt; er hält also seine Aufmerksamkeit darauf ge- 
richtet; er will es vernehmen, und aus den vielen 
anderen Lauten, Oehörs-, Gesichtseindrücken, die auf ihn 
eindringen, vernimmt, bemerkt er es auch schließlich. 
Dieses Bemerkenwollen ist somit mit einer Art von Vor- 
wegnahme des erwarteten Eindruckes verbunden, genauer, 
es enthält bereits eine, wenn auch mangels näherer Kennt- 
nis oft nur ganz unanschauliche Einbildungsvorstellung 
des zu bemerkenden Gegenstandes ^) ; doch kann diese Vor- 
stellung auch durchaus anschaulich sein, wie z. B., wenn 
es sich darum handelt, einen Ton, der leise unter andern 
mitklingt, zu bemerken. Die Tonvorstellung mag dann 
anschaulich reproduziert dem Bemerkenwollen gleich- 
sam im Geiste vorgehalten werden, und man beobachtet, 
daß dieses Wollen um so eher zu seinem Ziele führt, je 
anschaulicher und genauer diese vorwegnehmende Vor- 
stellung ist. — Natürlich bringt das Bemerkenwollen auch 
mit sich, daß man im Objektiven wie im Subjektiven 
dem Bemerken möglichst günstige Verhältnisse herstellt 
Dazu gehört unter anderem eine gewisse Anspannung und 
Einstellung der Sinnesorgane — man späht, man horcht 
— es stellen sich also Muskelempfindungen ein, die sich 
auch noch über die unmittelbar zu den beteiligten Sinnen 
gehörigen Gebiete hinaus erstrecken und dann zusammen 
mit dem Stocken oder gar Anhalten der Atmung den Zu- 
stand der „gespannten Aufmerksamkeit" ergeben. 

Es kommt aber auch vor, daß das Bemerken eintritt, 
ohne daß es vorher beabsichtigt, ausdrücklich gewollt 
worden ist. Man hat dann dem Gegenstande nicht will- 
kürlich die Aufmerksamkeit zugewendet, sondern er hat 
sie gleichsam von selbst auf sich gezogen; z. B. 
ein plötzliches starkes Aufflackern der Lampe, ein Donner- 



^) Noch richtiger: die Annahme vom Eintreten des Ghegen« 
Standes (siehe den nächsten Paragraphen)« 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 301 

schlag, ein Meteor. Das Vorstadium fehlt in solchem Falle, 
man spricht herkömmlich von unwillkürlicher Aufmerk- 
samkeit, im Gegensatz zur willkürlichen, die mit dem 
Vorstadium ausgestattet ist. 

Noch nicht so recht zum Nachstadium kann es ge- 
rechnet werden, wenn die Empfindung, die von der Auf- 
merksamkeit getroffen ist, wie manchmal behauptet wird, 
eben dadurch eine geringe Intensitätssteigerung erfährt 
und in ihrem Zustandekommen gegen andere um ein 
weniges beschleunigt erscheint. Aber es sind da auch 
nicht einmal noch die Pakten sichergestellt. 

Als eigentliches Nachstadium ist es dagegen anzu- 
sehen, wenn sich der weitere Gedankenablauf durch den 
Akt des Bemerkens eines Gegenstandes beeinflußt zeigt. 
Eine solche Beeinflussung liegt schon darin, daß die Per- 
severation des beachteten Inhaltes gefördert wird. Da 
ferner als Ausgangspunkt für willkürliche Vorstellungs- 
verbindung nur bemerkte Inhalte, nicht auch unbeachtet 
gebliebene in Betracht kommen, außerdem auch die Vor- 
stellungsassoziation erfahrungsgemäß fast ausschließlich 
ihnen und nur ausnahmsweise den unbeachteten folgt, 
so ist schon dadurch der Aufmerksamkeit ein gewichtiger 
Einfluß auf den Vorstellungsablauf gesichert. Dazu kommt 
aber noch, daß sich auch die Vorj-tellungsproduktion allein 
auf Grund der beachteten Inhalte aufbaut, und wenn man 
bedenkt, daß gerade die produzierten Vorstellungen es 
sind, die das Material zu den entwickelteren Gedanken- 
prozessen beistellen, so sieht man, welche außerordentlich 
große Bedeutung die Aufmerksamkeit auch dadurch wieder 
gewinnt. Schließlich kommt sie in hervorragendem Maße 
auch noch dispositionsbildend zur Geltung; denn sie ist 
im wesentlichen Urteil, und wir haben gefunden, daß 
es eigentlich die Urteile selber sind, die im Akte der 
Erinnerung, des Wiedererkennens und Benennens direkt 
reproduziert werden. — Auf so mannigfaltigen Wegen 
also ergießt sich die anregende, fördernde und be- 
stimmende Kraft der Aufmerksamkeit in den Strom des 
psychischen Lebens, und wenn nun gar, wie es zumeist 
geschieht, aus dem Nachstadium eines Aufmerksamkeits- 
aktes das Vorstadium eines folgenden herauswächst und 
sich die einzelnen Prozesse zeitlich übereinanderschieben, 



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302 n. TeiL SpezieUe Psychologie. 

dann entstehen jene Oedankenketten, in denen sich zum 
großen Teile alle intensive geistige Arbeit abspielt. So 
konnte sie auch kurzweg als „B^ratschaft zu geistiger 
Arbeit" charakterisiert werden. (Höfler, 1894.) 

Daß diese Denkarbeit von unwillkürlichen Bewegun- 
gen verschiedener Art im körperlichen Organismus be- 
gleitet wird, ist schon von altersher bekannt. In neuerer 
Zeit hat man sich viel bemüht, unsere Kenntnis dieser 
BegleitYorgänge exakter zu gestalten, und dabei besonderes 
Interesse den Atmungs- und Blutkreislaufsveränderungen, 
die sich im Zustande gespabuten Aufmerkens ergeben, 
zugewendet. Die Resultate sind jedoch, trotz höchst an- 
sehnlicher Feinheit der Apparate und der Methoden, der- 
malen noch nicht durchsichtig genug; das eine allenfalls 
läßt sich konstatieren, daß eine gewisse Atemhemmung 
ziemlich übereinstimmend gefunden worden ist. (Stevens, 
1905.) Einfacher und sicherer lassen sich die dem Auf- 
merken zugeordneten mimischen Ausdrucksbewegungen 
der Gesichtemuskulatur bestimmen ; doch können die zahl- 
reichen Einzelheiten hier nicht wiedergegeben werden, 
und es genüge, anzuführen, daß man ein „attentives mi- 
misches Zentrum'' mit synmietrischer und unsymmetrischer 
Tätigkeit in der oberen Gesichtshälfte gefunden hat. (De 
Sanctis, 1906.) — 

Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Aufmerksamkeit 
immer nur einem verhältnismäßig kleinen Teil der (sei 
es durch die Sinne oder durch Eeproduktion) psychisch 
gegenwärtigen Gegenstände zugewendet sein kann. Das 
ist das Hauptmoment der sogenannten „Enge des Bewußt- 
seins", eines Begriffes aus dem Besitzstande der älteren 
Psychologie, der in seiner bildlichen und mehrdeutigen 
Fassung in der heutigen Wissenschaft kaum mehr eine 
andere EoUe spielen kann als die eines handlichen Ter- 
minus. Seine Bedeutung ist, soweit sie sich auf die hier 
behandelten Erfahrungen bezieht, einfach dahin festzu- 
legen, daß immer nur ein Teil der jeweils vorgestellten 
Gegenstände auch vom Urteil getroffen ist, oder, wie man 
auch gesagt hat, daß die Vorstellungssphäre weiter reicht 
als die Urteilssphäre. 

Damit erhebt sich jedoch die Frage nach der Größe 
dieses Teiles, nach dem „Umfange des Bewußtseins*', dem 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 303 

„Umfange der Aufmerksamkeit". Diese Frage hat man 
gewöhnlich dahin formuliert, daß die Zahl der Vorstellungen 
Äu bestimmen ist, die gleichzeitig im Blickpunkte des 
Bewußtseins sich befinden, mit anderen Worten: gleich- 
zeitig Yon der Aufmerksamkeit getroffen sein können. 
Es ist ihr von Seite der experimentellen Psychologie sehr 
viel Mühe und Arbeit zugewendet worden. Man hat sie 
einerseits mittelst des sogenannten Tachistoskopes unter- 
sucht, eines Apparates, der es gestattet, dem Gesichts- 
sinne verschiedene Gegenstände (Punkte, geometrische 
Farmen, Buchstaben usw.) in sehr kurzer, meßbarer Dauer 
gleichzeitig darzubieten, anderseits mittelst des Metronoms, 
von dem man in gleichen Zeitabständen einander folgende, 
rhythmische TaW:schläge angeben ließ, um durch Ver- 
gleichen von aufeinander folgenden Gruppen solcher Takt- 
schläge zu bestimmen, wie viele von ihnen in eine Gruppe 
und damit in einen Bewußtseinsakt zusammengefaßt 
werden können. Die bisherigen Resultate sind jedoch durch 
ihre noch nicht ganz zureichende theoretische Fundierung 
in ihrem Werte etwas beeinträchtigt. Sie werden gewöhn- 
lich dahin formuliert, daß die Zahl sechs die obere Grenze 
für miteinander unverbundene einfachere Vorstellungen 
(Punkte, Linien, Ziffern, Buchstaben) darstellt, und daß 
diese Zahl für zusammengesetztere Vorstellungen kaum 
sinkt, wiewohl dabei die Zahl der zulässigen Elemente 
zunimmt, so daß sich z. B. bei Satzbildungen der Umfang 
auf etwa vier bis fünf Wörter mit dagegen zwanzig bis 
dreißig Buchstaben stellt. (Wundt, Phys. Psych. HE; 
Wirth, 1902.) 

Wonach bestimmt sich nun die Auswahl, nach der 
sich das Aufmerksamkeitsurteil mit der einen von den 
vorhandenen Vorstellungen verbindet, mit der andern 
nicht? Für diese Auswahl ist eine Reihe verschiedener 
Momente maßgebend, die teils von allgemeinerer, teils von 
mehr spezieller, bisweilen auch wohl nur individueller Be- 
deutung sind. Gesichtsempfindungen z. B. wendet sich 
die Aiämerksamkeit je nach dem Orte, an dem sie im 
Gesichtsfelde erscheinen, verschieden leicht zu, und es 
ist gelungen, diese „Aufmerksamkeitsverteilung im Seh- 
felde" durch Messung quantitativ zu bestimmen. (Wirth, 
1906.) Verschiedene Farben, verschiedene Geräusche und 



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304 n* Teil. Spezielle Psychologie. 

ElAngfarben ziehen je nach ihrer bloßen Qualität die 
Aufmei^samkeit verschieden leicht auf sich, so daß man 
sehr bezeichnend von einer verschiedenen ^^Auffälligkeit'' 
verschiedener Inhalte sprechen kann. Allgemeiner läßt sich 
sagen, daß der an sich bereits stärkere Eindruck vor dem 
schwächeren den Vorzug hat — ein plötzliches starkes 
Geräusch, ein Lichtblitz ziehen die Aufmerksamkeit auf 
sich — und daß ihm seine gefühlserregende Ejraft gleich- 
falls um so eher den Vorzug sichert, je bedeutender sie ist. 
Der letztgenannte Faktor ist dabei qualitativ von Indivi- 
duum zu Individuum sehr variabel und bedingt so die 
Verschiedenheiten, die zwischen den individuellen Inter- 
essen der einzelnen Personen obwalten; der eine horcht 
auf, wenn er von Gletschereis und Felswänden, der andere, 
wenn er von Börsengeschäften reden hört, denn diesem 
greift dies, jenem jenes mehr ans Herz. — Schließlich sei 
noch hini^gefügt, daß Veränderung und Bewegung vor 
dem Euhenden einen Aufmerksamkeitsvorzug genießt; 
wenn sich in den gemeiniglich ganz unbeachteten seitlichen 
Teilen des Sehfeldes etwas bewegt, z. B. ein Vogel vorbei- 
fliegt, so wendet man zumeist sofort den Kopf dahin. 

Die genannten Momente sind es, die in iluren mannig- 
faltig verschiedenen speziellen Gestaltungen für die Sich- 
tung der unwillkürlichen Aufmerksamkeit ausschließlich 
in Betracht kommen. Die willkürliche Aufmerksamkeit 
dagegen erfährt durch sie nur gleichsam zufällige Neben- 
einflüsse von je nach den Verhältnissen entweder störender 
oder fördernder Natur; denn ihr ist die Eichtung vor- 
geschrieben durch Ziel und Absicht des Subjektes, und 
ihr Erfolg ist wesentlich mitbedingt durch den Grad der 
Genauigkeit und Anschaulichkeit der das Aufmerksam- 
keitsziel indirekt vorwegnehmenden Vorstellung. — 

Verschiedene Erfahrungen haben Anlaß dazu gegeben, 
die allfällige Tatsache der Ermüdung der Aufmerksam- 
keit ins Auge zu fassen. Wir wissen, daß es bisweilen 
Mühe macht, einem weitausgesponnenen Gedankengang 
durch längere Zeit mit angespannter Aufmerksamkeit zu 
folgen. Wir wissen, daß es nicht möglich ist, einem und 
demselben (Einzel-)Gegenstande die Aufmerksamkeit 
länger als einige Augenblicke ununterbrochen zugewendet 
zu erhalten, ja man hat sogar versucht, die Dauer ;su 



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1. Hälfte: Psychologie des GeisteBlebens. 305 

messen, und ist dabei — die Zahlen sind natürlicK noch 
mit Varsicht aufzunehmen — auf durchschnittlich drei 
bis acht Sekunden gekommen. (Pillsbury, 1906.) Außer- 
dem hat man vielfach gefunden, daß sich dauernde, aber 
sehr schwache Sinnesreize (schwächste Töne, Uhrticken) 
nicht ununterbrochen und dauernd verfolgen lassen, son- 
dern daß sich dabei in kurzen Intervallen mehr oder 
weniger periodisch ein subjektives Ausbleiben und Wieder- 
einsetzen des Eindruckes ergibt, eine Beobachtung, die 
man unter der Bezeichnung „Aufmerksamkeitsschwankun- 
gen" gleichfalls als Ermüdungserscheinung zu deuten ver- 
sucht hat, an der aber vorläufig selbst noch das Tat- 
sächliche strittig ist. Auch die Erscheinung des Schlafes 
läßt sich teilweise ungezwungen als ein durch Ermüdung 
hervorgerufenes Absinken der Aufmerksamkeit auf ein 
Minimum verstehen ; doch wird man nicht meinen dürfen, 
ihr auf diese Weise nach jeder Eichtung gerecht zu 
werden, zum mindesten ist es noch fraglich, ob die re- 
lative Buhe, in der sich auch die übrigen geistigen 
Funktionen während des Schlafes befinden, aus einem 
Aussetzen der Aufmerksamkeit allein schon verständlich 
wird. Die Tatsache des „partiellen Schlafes", vor allem 
auch des partiellen Schlafes der Aufmerksamkeit selbst, 
vermöge welcher die große Mehrzahl aller äußeren Ein- 
drücke wirkungslos bleibt und nur für ein kleines Gebiet 
gleichsam ein partieller Wachezustand vorhanden ist — 
die schlafende Mutter neben dem unruhig werdenden 
Kinde — , wird dabei jedenfalls im Auge zu behalten 
sein. — 

Noch eine wichtige Funktion des intellektuellen 
Lebens ist ihrem Wesen nach ^ uf merksamkeits- und so- 
nach Urteilsfunktion und muß daher an dieser Stelle 
kurze Erwähnung finden: die Abstraktion. 

Die Gegenstände, die sich uns in der Wahrnehmung 
darbieten, sind stets in hohem Grade und aus vielen 
Einzelmerkmalen zusammengesetzt ; die zahlreichen be- 
sonderen Einzelheiten der Gestalt, z. B. nur eines (in- 
dividuell bestimmten) Laubblattes, etwa von einer Eiche, 
die zahlreichen Linien des Geäders, die verschiede- 
nen Farben und Farbenübergänge machen bereits einen 
solchen Komplex aus. Hat man tausend solcher Blätter 

Witasek, Grundliiiien der PByoholoffie. 20 

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306 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

nebeneinander, so werden sich nicht zwei von ihoen in 
allen Einzelheiten yöllig gleichen. Dennoch sehen sie 
uns bei ungezwungener gewöhnlicher Betrachtung zum 
Verwechseln gleich aus. Wie kommt das? 

In der Empfindung und Wahrnehmungsvorstellung 
sind wohl alle die Einzelheiten, in denen sie sich unter- 
scheiden, wiedergegeben; aber bei gewöhnlicher Betrach- 
tung entgehen sie uns, wir beachten, wir bemerken sie 
nicht. Die Vorstellung, die wir sonach von einem solchen 
Blatt erhalten, ist für das, was wir von ihm wissen, 
geradeso, als wenn sie all die Einzelheiten nicht enthielte. 
Sie ist die auf natiurlichem, unwillkürlichem und kunst- 
losem Wege zustande gekommene Grundlage und Voraus- 
setzung zur allgemeinen Vorstellung „Eichenblatt'', die 
auf jedes einzelne von ihnen paßt. Sie ist dadurch zu- 
stande gekommen, daß in der hochkomplezen Wahrneh- 
mungsvorstellung einzelne Merkmale von der Aufmerksam- 
keit getroffen und herausgehoben, die anderen vernach- 
lässigt worden sind; jene sind herausabstrahiert worden 
und machen dann die abstrakte Vorstellung aus, die andern 
machen in ihrer Gesamtheit den Komplex aus, von dem 
abstrahiert worden ist. So macht sich dieser Prozeß der 
Abstraktion ganz unwillkürlich immer und immer wieder 
in unserem Wahrnehmungs- und Vorstellungsleben ; nichts 
weiter als ein besonderer Fall der unwillkürlichen Auf- 
merksamkeit. Und so wie die Aufmerksamkeit als will- 
kürliche besonderen Absichten und Zwecken dienstbar 
gemacht werden kann, so führt sie als absichtliche, 
kunstvoll ausgebaute Abstraktion zu jenen Vorstellungs- 
und Gedankengebilden, die wir als allgemeine, als Begriffs- 
vorstellungen kennen. (Meinong, 1900.) Es ist unter 
solchen Umständen nicht anders zu erwarten, als daß der 
Vorgang der Abstraktion im allgemeinen denselben Be- 
dingungen und Gesetzmäßigkeiten gehorcht, wie die Auf- 
merksamkeit selbst. (Külpe, 1904.) 

4. Die Annahme. 

Bei der Beschreibung des Urteils hat sich uns ergeben, 
daß seine Aktqualität (Bejahung und Verneinung) gleich- 
sam als ein quasi-inhaltliches Moment betrachte werden 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 307 

kann ; denn der eigentliche ürteilsgegenstand, die im Urteil 
erfaßte Tatsache, ist nicht etwa scnon durch die bloßen 
Gegenstände der zum Urteil gehörigen Vorstellungen aus- 
gemacht, sondern er enthält nebst diesen auch noch die 
Bejahung bzw. Verneinung vom Urteil her in sich. 
Der eigentliche Urteilsgegenstand ist also seiner Natur 
nach von wesentlich anderer Art als ein Vorstellungs- 
gegenstand ; er ist entweder etwas Affirmatives oder etwas 
Negatives, ein Gegensatz, der innerhalb der bloßen, reinen 
Vorstellungsgegenstände durchaus keine Stelle hat, und 
dessen eines oder anderes Glied, Bejahung oder Ver- 
neinung, durch bloßes Vorstellen auch gar nicht zu er- 
fassen ist; es gibt, im strengen Sinne des Wortes, keine 
negativen Vorstellungen, ebensowenig aber auch affir- 
mative (positive). Wir sprechen deshalb ausdrücklich von 
den Urteilsgegenständen als „Objektiven", im Gegensatze 
zu den „Objekten" als den Vorstellungsgegenständen. Ein 
solches Objektiv (Tatsache) ist es z. B., „daß das Wasser 
bei 100 <^ C siedet", oder „daß Luther eine deutsche Bibel- 
übersetzung hergestellt hat", oder „daß die Erde nicht 
scheibenförmig gestaltet ist". Solche und alle Objektive 
sind durch bloßes Vorstellen allein nicht zu erfassen, sie 
können nicht vorgestellt, sondern nur gedacht, geurteilt 
werden. I j 

Nun haben wir als wesentliches Konstituens des Ur- 
teils das Moment des Glaubens, des Überzeugtseins erkannt 
und festgestellt. An den soeben als Beispiele angeführten 
Objektiven läßt sich dies auch leicht bewähren. Man weiß, 
daß es wahre Tatsachen sind, man denkt sie mit Über- 
zeugung. Aber ich kann mir von allen diesen Objektiven 
auch das Gegenteil denken ; ich kann mir denken, daß die 
Erde eine Scheibe ist, daß das Wasser bei 100^ C friert, 
daß Luther die Bibel nicht übersetzt hat und ähnliches. 
Es wird praktisch keinen Sinn haben, für die psycho- 
logische Theorie dagegen ist es eine höchst wichtige Er- 
fahrung. Wichtig deshalb, weil am Erfassen des Ob- 
jektives, daß die Erde eine Scheibe ist, ein Überzeugtheits- 
moment von meiner Seite offenbar nicht beteiligt sein 
kann. Denken kann ich sie wohl, diese falschen Objektive, 
aber nicht glauben, denken also in einer Art und Weise, 
von der mein Überzeugtsein nicht berührt wird, bei der 

20* 

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308 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

es nicht mitzutun hat. Was für eine Art von psychischem 
Gebilde mag solches Denken sein? 

Urteilen ist es gewiß nicht ; denn dazu fehlt ihm das 
dem Urteilen wesentliche Moment des Glaubens. Also 
bloßes Vorstellen? Den Sprachgebrauch hätte das zum 
Teil für sich: ich „stelle mir vor", daß die Erde eine 
Scheibe ist. Aber das ist doch wohl nur Sache des Sprach- 
gebrauchs, mit dem Begriff „Vorstellung" im Sinne der 
wissenschaftlichen Psychologie hat diese Ausdrucksweise 
kaum etwas Wesentliches gemein. Denn es handelt sich 
offenkundig um Objektive und nicht um Objekte, um Vor- 
stellungsgegenstände. Die Objektive aber — das sieht 
man auch an den vorliegenden Beispielen — enthalten 
stets das Moment der Bejahung oder Verneinung, und 
dieses Moment psychisch zu erfassen, psychisch zu re- 
präsentieren, liegt gänzlich außerhalb des Machtbereichs 
des reinen Vorstellens; der Gegensatz des Ja und Nein 
ist mit dem Vorstellen ganz inkommensurabel. 

Also haben wir in Gedanken von der besprochenen 
Art psychische Gebilde vor uns, die weder schon volles 
Urteüen noch bloßes Vorstellen mehr sind; über dieses 
gehen sie — mit Affirmation und Negation — bereits 
hinaus, zu jenem fehlt ihnen noch etwas, das Moment 
des Glaubens. Es bleibt nichts anderes übrig, als zu ver- 
suchen, sie als ein psychisches Gebilde eigener Art zu 
nehmen, als eine Mitte&orm, die gleichsam zwischen Vor- 
stellen und Urteilen steht, doch diesem näher als jenem, 
ein Urteilen ohne Glauben, eine Fiktion, ein Plumtasie- 
gedanke, eine „Annahme". (Meinong, 1902.) 

Um nun sofort die Wichtigkeit dieses Entscheides ins 
rechte Licht zu rücken, sei sofort gezeigt, daß es sich 
bei den Annahmen nicht etwa nur um derlei gleichgültige, 
ja sinnlose Gedankenspielereien handelt, wie es die obigen 
Beispiele, von ihrer theoretischen Verwertung abgesehen, 
wären, sondern daß sie im psychischen Leben außerordent- 
liche Verbreitung haben und in verschiedenstem Sinne 
eine überaus wichtige Bolle spielen. 

Von den mancherlei Verwebungen, durch die sie mit 
dem übrigen psychischen Leben verflochten sind, ist wohl 
die loseste die, in welcher me als Elemente künstlerischer 
Gestaltungen und im Spiel erscheinen. Sofern die Er- 



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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. 309 

Zeugnisse der Dichtkunst, vor allem der Epik, also Ro- 
man, Dramatik etwa, als das genommen werden, als was 
sie gemeint sind, nämlich nicht als Berichte von wahren 
Begebenheiten, sind sie Gefüge von Objektiven, die nicht 
in Urteilen, sondern nur in Annahmen aufgenommen 
werden; und die Fiktionen, die den Spielen, denen der 
Kinder (z. B. Soldaten-, Schulespielen) sowohl wie, wenn 
auch in geringerem Umfange, den Spielen der Erwachsenen 
(z. B. Schach und Karten) zugrunde liegen, sind ihrer 
psychologischen Art nach gleichfalls Annahmen. Noch 
freier und gesetzloser ist das Auftreten der Annahme in 
der Lüge. — Ferner: Das Verstehen der gesprochenen 
und der geschriebenen Sprache besteht nicht etwa nur 
darin, daß die 'Sprachzeichen auf assoziativem Wege die 
Vorstellungen der Gegenstände, die sie bedeuten, her- 
vorrufen; die Sätze der Sprache bedeuten ja nicht neben- 
einanderstehende Objekte, sondern Objektive, Tatsachen; 
und diese sind nicht durch bloßes Vorstellen, sondern, 
wenn nicht sofortige Überzeugung dem Vernehmen des 
sprachlich Ausgedrückten folgt, durch Annahmen dem 
Worte nachzudenken. Ja es gibt sogar sprachliche Bildun- 
gen, die in erster Linie als Ausdruck von Annahmen 
fungieren; das sind unter noch manch anderen vor allem 
die Daß-Sätze, die z. B. als Subjekt oder als Objekt 
des Satzganzen stehen. Auch die Frage drückt eine An- 
nahme aus, zugleich mit dem Wunsche, über die Gültig- 
keit ihres Objektives unterrichtet zu werden, das Über- 
zeugungsmoment hinzuzubekommen. (Martinak, 1905.) 
Selbst viele Einzelwörter bedeuten Objektive, z. B. Existenz, 
Notwendigkeit, aber auch etwa Bedürftigkeit, sind also 
unter Umständen der Ausdruck einer Annahme. — 
Schließlich sind die Annahmen eines der vielseitigsten 
und unentbehrlichsten Werkzeuge der intellektuellen Ope- 
rationen jeder Art. Es kann hier nur auf weniges be- 
sonders hingewiesen werden. Die wissenschaftliche For- 
schung geht jeweils von einer hypothetischen „Annahme" 
aus, die durch die weitere Untersuchung auf ihre Richtig- 
keit zu prüfen ist; bevor die Prüfung abgeschlossen ist, 
kann sie nicht Sache der Überzeugung sein. Schluß- 
folgerungen sind sehr wohl auf ihre (formale) Richtigkeit 
zu untersuchen, auch wenn man über die Prämissen die 

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310 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

eigene Meinung in suspenso läßt oder sie gar für offen- 
kundig unwahr hält; Schlußfolgerungen sind also nicht 
wesentlich Urteils zusammenhänge, sondern sie können 
sich auch aus Annahmen aufbauen. Die unanschaulichen 
Vorstellungen sind, wie sich nunmehr herausstellt, mit 
Eecht von mancher Seite gar nicht als Vorstellungen gelten 
gelassen worden ; sie sind in Wahrheit mehr minder um- 
fangreiche Komplexe von anschaulichen Teilvorstellungen, 
die durch Urteil oder Annahme synthetisch zum Denken 
eines Gegenstandes zusammengehalten werden: der un- 
endliche Eaum = „Raum, der kein Ende hat*'. Ja, in 
gewissem Sinne ist jede Vorstellung, sofern sie auf einen 
Gegenstand gerichtet sein soll, auf die Mitwirkung von 
Urteil oder Annahme angewiesen; denn der Gegenstand 
muß dann als daseiend gedacht, also wenigstens ange- 
nommen werden, und es ergibt sich, daß das unserem 
Geiste eigentümliche Transzendieren, das auf Gegenstände 
Gerichtetsein, strenge genommen nur Funktion des Ur- 
teilens oder Annehmens ist. 

Auf all dies und noch mancherlei anderes, das gleich- 
falls hierher gehörte, kann, so wichtig es auch ist und 
so sehr es näherer Ausführungen bedürfte, nur in Kürze 
hingewiesen werden. Aber auch daraus schon wird man 
zu ermessen vermögen, von welch umfassender Bedeutung 
die Annahme für das gesamte psychische Leben ist, und 
dies zu zeigen, war hier vor allem nötig. 

Zur näheren Kennzeichnung des Wesens der An- 
nahme ist es nun zweckmäßig, sie nach den verschiedenen 
Bestimmungsmomenten des Urteils mit diesem zu ver- 
gleichen, und da stellt sich denn eine nahe Artverwandt- 
schaft mit ihm heraus, eine Verwandtschaft, die jeden- 
falls näher ist als die zu den Vorstellungen, und die es 
rechtfertigt, wenn wir Urteil und Annahme in einer 
gemeinsamen Klasse psychischer Grundgebilde, der der 
Gedanken, dem Vorstellen zur Seite setzen. Hat man 
ja auch sonst schon, wo man auf den Tatbestand der An- 
nahme mehr oder weniger deutlich aufmerksam geworden 
ist, von „Versuchsurteilen" oder „geltungslosen Urteilen" 
zu sprechen sich bestimmt gefunden. (Messer, 1906 ; Erd- 
mann, 1892.) 

Die Parallele zwischen Urteil und Annahme ergibt 

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1. Hälfte: Psychologie des Geisteslebens. SU 

nun, daß die beiden alles das gemeinsam haben, was zum 
Inhalte, und am Akte zu den sogenannten quasi-inhalt- 
liehen Momenten (S. 281) gehört, so daß als Unterschied 
gerade nur das reine Uberzeugungsmoment mit seinen 
Modifikationen übrig bleibt. Der Annahme geht das Über- 
zeugungsmoment mit seiner Variabilität nach verschie- 
denen Sicherheitsgraden ab; die reine Fiktion kann 
nicht mit größerer oder geringerer subjektiver Sicherheit 
aufgestellt werden. Dagegen ist die Annahme, genau so 
wie das Urteil, entweder thetisch oder synthetisch, ent- 
weder bejahend oder verneinend, und auch an der Evidenz 
hat sie wenigstens insofern Anteil, als, eine Grundannahme 
vorausgesetzt, andere Annahmen evidentermaßen mit Not- 
wendigkeit daraus folgen, andere evidentermaßen mit ihr 
unvereinbar sind : Die Annahme von der Einerleiartigkeit 
aller Materie impliziert vernünftigerweise auch die An- 
nahme der Zusammengesetztheit der heutigen chemischen 
Elemente und schließt die Annahme von einer prinzipiellen 
Verschiedenheit zwischen belebter und unbelebter Materie 
vernünftigerweise aus; oder: Die Annahme, daß sich die 
Erde in absoluter Ruhe befindet, verlangt vernünftiger- 
weise die andere, daß sich der Eixsternhimmel täglich 
um seine Achse dreht. 

Indem die Annahmen vom Überzeugtsein frei sind, 
stellen sie eine Form des Denkens dar, aus der gerade 
jenes Moment ausgeschaltet ist, das sich von allen, die 
es sonst noch aufweist, allein der Herrschaft unseres 
Willens fast ganz entzieht. Wir können unsere Über- 
zeugung nicht nach unserer Willkür modeln; im Auf- 
stellen von Annahmen dagegen hat unser Wollen durch- 
aus freie Hand, da sind wir nicht beschränkt durch 
Tatsachen und Meinungen. Deshalb tritt die Annahme 
überall dort stellvertretend für das Urteil ein, wo Ob- 
jektive zu erfassen sind, die unserer Überzeugung gleich- 
gültig oder gar entgegen wären. Deshalb stellt das Gebiet 
der Annahme auch vorzugsweise ein Gebiet der Phantasie- 
betätigung dar, auf dem sich jedes Gedankengebilde auf- 
führen läßt, frei von dem Zwang der Tatsachen und der 
Logik. So steht die Annahme zum Urteil, unter diesem 
Gesichtspunkte betrachtet, in analogem Verhältnis wie 
die Wahrnehmungs- zur Phantasievorstellyng (weiteren 

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312 n. Teil Speaelle Psychologie. 

Sinnes); so wie die Phantasieyarstellung im Oegensatz 
zur Wahmehmungsvorstellung sich einstellen kann, auch 
wenn es augenblicklich am objektiven Beize fehlt oder 
gar der vorgestellte Gegenstand in der ganzen objektiven 
»Wirklichkeit überhaupt nicht vorkommt, so läßt sich 
wenigstens durch Annahme denken, was von den Ob- 
jektiven nicht wirkliche Tatsache ist und deshalb unsere 
Überzeugung wachzurufen nicht vermag. Es wäre darum 
nicht etwa nur terminologische Bequemlichkeit, wenn wir 
die Annahmen als Scheinurteilo, noch besser als Phantasie- 
urteile bezeichnen wollten; es läge darin ein charak- 
teristischer Ausdruck der Tatsache, daß die Annahmen zu- 
sanmien mit den Phantasievorstellungen vorzugsweise jenes 
Gebiet psychischer Betätigung ausmachen, das mehr im 
Sinne der populären als in dem der wissenschaftlichen 
Psychologie für das der „Phantasie" genommen wird. 

5. Zur Erklärung und Theorie. 

Die Überschrift dieses Paragraphen hat mehr noch 
offene Fragen des Gesamtprogramms als fertige Auf- 
schlüsse anzukündigwi. Unser Wissen über die jeweilige 
Verursachung eines ürteilsaktes, über die relativ dauern- 
den Teilursachen (die Urteilsdispositionen) sowie über die 
vorübergehenden Anlässe ist über die abstraktesten All- 
gemeinheiten noch nicht hinaus, und es ist an dieser 
Stelle nur deshalb zu berühren, damit dieses weiten Feldes 
wichtiger, noch unerledigter Probleme nicht vergessen 
werde. 

An ins Bewußtsein fallenden Teilursachen der Urteils- 
akte ist vor allem das Urteilenwollen zu nennen. Die 
Erfahrung lehrt, daß Urteilsakte, die sonst ausblieben, 
günstige Umstände vorausgesetzt, eintreten, wenn unser 
Wollen darauf gerichtet ist; eine Frage, die sich uns 
aufdrängt, d. i. der Wunsch nach einer Erkenntnis über 
den vorgelegten Gegenstand, kann unmittelbar zur Aus- 
lösung des zugehörigen Urteils führen. Auch an die will- 
kürliche Aufmerksamkeit ist hier nochmals zu erinnern. 
— Zu den bewußten Teilursachen gehören auch die Vor- 
stellungen; ohne Vorstellungen kein Urteil. Damit ist 
jedoch bei dem Umstände, daß die Urteilssphäre nur einen 



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1. Hitöe: Psychologie des G^eisteslebens. 313 

kleinen Teil der Vorstellungssphäxe ausmacht, nur etwas 
ganz Allgemeines, Unbestimmtes angegeben : Welche Vor- 
stellungen von allen wirken als Teilursachen von Urteilen 
und gehen in solche ein? Die Momente, welche die un- 
willkürliche Aufmerksamkeit bestimmen, gehören wohl 
hierher, sie können aber unmöglich alles ausmachen, was 
da zur Geltung kommt. — Ferner erweisen sich auch 
Urteile selbst wieder wirksam als Erreger weiterer Urteile ; 
so besonders in Schlüssen und Folgerungen, vielleicht 
aber auch geradezu nur im Sinne von Urteilsassoziation. 
— Auch Annahmen wirken bestimmend ein auf das Zu- 
standekommen von Urteilen. Die Annahme, die einem 
von autoritativer Seite mit Bestimmtheit aufgedrängt wird, 
geht oft in das entsprechende Fürwahrhalten, Urteilen 
über. Das ist der Grundmechanismus der Urteilssugge- 
stion, die sich so häufig auch des Weges der suggestiven 
Frage bedient; auf die Frageform mit eingefügtem „nicht**, 
in der die Erwartung einer bejahenden Antwort steckt, 
ist man geneigt, mit Ja zu antworten. — Auch unsere 
Gefühle sind in ihrem Einfluß auf den Ausfall unserer 
Urteile nicht zu unterschätzen; was man wünscht, das 
glaubt man gern, je nach individueller Veranlagung aber 
glaubt manch einer gerade auch das leichter, was er 
fürchtet. 

An Urteilsdispositionen verschiedener Art zu denken 
ist im allgemeinen auch schon die Vulgärpsychologie auf- 
merksam geworden; Verstand, Vernunft, Geist, Einsicht, 
aber auch Wissen, Gedächtnis, ferner Leichtgläubigkeit 
usw. sind die Begriffe, mit denen sie sich hilft; für die 
wissenschaftliche Psychologie ist damit kaum noch ein 
brauchbarer Ausgangspunkt gegeben, doch hat sie der- 
malen nichts Besseres an die Stelle zu setzen. Die analy- 
tische Untersuchung und Einteilung der Urteilsdispositio- 
nen, die Art ihres Zusammenwirkens mit den Vorstellungs- 
dispositionen, die „Korrelation** aller der intellektuellen 
Dispositionen, d. i. ihr funktioneller Zusammenhang bzgl. 
Leistungsfähigkeit (Spearman, 1904), ihr Verhalten gegen 
Übung und Ermüdung sind lauter noch fast ganz un- 
bearbeitete Fragen; das wenige, was dazu derzeit bei- 
zubringen ist, wurde an den zugehörigen Stellen früher 
eingefügt. 



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314 n. Teil Spezielle Psychologie. 

Noch ganz im unklaren sind wir vollends über die 
Natur der physiologischen Vorgänge, die im Zentralorgan 
dem Urteil zugeordnet sind. Übrigens ist oft die An- 
schauung vertreten worden, es sei der eigenartigen Be- 
schaffenheit des ürteilsaktes nach ganz ausgeschlossen, 
daß ihm überhaupt ein physiologischer Prozeß entspreche ; 
man hat dabei vorwiegend gemeint, daß eine physische Re- 
präsentation der Bejahung und der Verneinung ihrer Natur 
nach von vornherein unmöglich sei. Indes dürften diese 
Bedenken kaum als triftig anzusehen sein. Es sind wohl 
auch dem Urteilsakt gewisse Vorgänge im Großhirn zu- 
geordnet. Ihre Beschaffenheit ist uns derzeit allerdings 
verborgen. Das eine höchstens können wir mit ziemlicher 
Wahrscheinlichkeit vermuten, daß sie sich an denselben 
Strukturelementen abspielen, die auch die Träger jener 
physiologischen Vorgänge sind, welche den zum Urteil 
gehörigen Vorstellungen entsprechen. Aber nicht als bloße 
Verstärkung der physiologischen Vorstellungsprozesse 
werden sie, wie es bisweilen versucht wird (z. B. Pills- 
bury, 1906), angesehen werden können — denn das Ur- 
teilen ist kein gesteigertes Vorstellen — , sondern nur 
als irgend ein zu diesen hinzukommendes, qualitativ neues 
physiologisches Geschehen. 



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2. Hälfte: Psychologie des Qemütslebens. 



Das Mißverhältnis, das die beiden „Hälften" der 
speziellen Psychologie ihrer Ausdehnung nach in der vor- 
liegenden Darstellung zeigen, soll nicht zu Irrtümern ver- 
leiten. An Intensität sowie an Fülle und Mannigfaltigkeit 
des Inhalts steht das Gemütsleben dem Geistesleben kaum 
nach, an Bedeutung zum mindesten für Charakter und 
praktische Lebensführung hat es vor diesem wahrschein- 
lich einen nicht geringen Vorrang. Theoretisch freilich 
sind Vorstellungen und Gedanken insofern wichtiger, als 
sie nicht nur für sich selbst stehen, sondern zugleich auch 
die Grundlagen und Voraussetzungen des Fühlens und 
Begehrens abgeben. Aus diesem Grunde, dann aber auch 
wegen der vergleichsweise geringen Kompliziertheit und 
vor allem weitaus leichteren Zugänglichkeit des Geistes- 
lebens war diesem die wissenschaftliche Forschung bis- 
her in viel ausgedehnterem Maße zugewendet als dem 
Gemütsleben. Es ist daher natürlich, daß an fertigen Er- 
gebnissen hier weniger zu verzeichnen ist als dort, be- 
sonders, indem wir uns auf streng wissenschaftliche und 
rein psychologische Interessen beschränken. Denn aller- 
dings, wenn wir von diesen Einschränkungen absehen 
wollten, so stünde uns nun für die zweite Hälfte ein Ma- 
terial zur Verfügung, das das der ersten an Umfang viel- 
leicht noch überfrifft. Aber diese Fülle ergibt sich zum Teil 
aus den innigen Beziehungen, die das Gemütsleben mit 
den Gebieten des Schönen und des Guten verbinden, und 
insofern ist sie nur Anwendung psychologischer Er- 
kenntnisse auf Fragen der Ästhetik oder Ethik; zum 
andern Teil ist sie nur ein Erzeugnis der Spekulation 
und Phantasie, die hier, auf diesem ihrem Lieblingsboden, 
dank seiner schwierigen Zugänglichkeit, viel weniger der 



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316 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

Störung durch die exakten Methoden ausgesetzt sind als 
anderwärts. Läßt man dies, wie sich yon selbst versteht, 
beiseite, so bleibt in einer Darstellung der Grundlinien 
tatsächlich hier weit weniger zu sagen, als in der ersten 
Hälfte; und selbst dabei wird der Hinweis auf derzeit 
noch Problematisches wie auch auf weitere noch vöüig 
offene Fragen vorwalten. 



1. Kapitel. 

Die OefBUe. 

1. Beschreibung und Einteilung. 

a) [Abgrenzung.] Das Wort „Gefühl" wird im ge- 
wöhnlichen, zum Teil auch im wissenschaftlichen Sprach- 
gebrauche in sehr weiter, keineswegs durchaus gleich- 
artiger Bedeutung gebraucht. Man spricht vom Gefühl 
der Hoffnung, der Furcht, der Freude, des Mitleids ; vom 
Gefühle der Überraschung, der Erwartung, der Sicherheit ; 
von Gleichheits-, Wirklichkeitsgefühl; von Selbstgefühl, 
Strebungsgefühl und ,dein Gefühl der Aktivität; vom Ge- 
fühl des Aufmerkens, des Vergleichens, des Zweifeins 
u. a. m., ganz abgesehen davon, daß „Gefühl" bisweilen 
auch gleichbedeutend mit Tast-, Wärmeempfindung ge- 
braucht wird. 

Es ist ersichtlich, daß die psychischen Tatsachen, die 
da alle als „Gefühle" genommen werden, von sehr ver- 
schiedener, teilweise geradezu grundverschiedener Art sind. 
Gemeinsam ist ihnen nur, daß sie alle nicht Vorstellungen 
oder auch nur Vorstellungsinhalte sind, sondern etwas 
gleichsam Subjektiveres, subjektiver Bestimmtes. Im übrigen 
aber findet sich manches darunter, was wir nun, nach 
Absolvierung der Psychologie des Geisteslebens, unschwer 
als dorthin gehörig wiedererkennen. Gleichheits„gefühl" 
ist streng genommen ein — wenn auch vielleicht auf 
einem Wege, über den man sich nicht klar ist, zustande 
gekommener — ürteilstatbestand ; WirkUchkeits„gefühl" 
desgleichen, man erinnere sich an die Bedeutung der 
Existenzialurteüe. Sicherheit ist ein Moment, eine Eigen- 



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2. Hälfte: Psychologie des Gemütslebens. 317 

Schaft mancher Urteile. Aufmerken, Vergleichen, Zweifeln 
sind psychische Prozesse, deren ins Bewußtsein ragende 
Manifestationen, wenn sie im einzelnen auch noch so 
schwer bestimmbare Bruchstücke sein mögen, sich im 
wesentlichen doch auf Vorstellungs- und Urteilstatbestände 
reduzieren, während allfällige emotionale Momente, die 
sie begleiten, für ihre Charakteristik gleichgültiger sind. 
Ähnliches gilt von Überraschung und Erwartung; sie 
sind bestimmte eigentümliche Arten des Eintritts, der 
Vorbereitung, des Ablaufs von Urteilen, und greifen über 
das Gebiet des rein Intellektuellen erst dann Mnaus, wenn 
sie zur angenehmen oder unangenehmen Überraschung, 
zur freudigen oder schmerzlichen Erwartung werden. Hin- 
gegen ist gerade dieses emotionale Moment das Wesent- 
liche, wo wir von Hoffnung, Furcht, Freude, Mitleid usw. 
sprechen. Freilich ist auch an ihnen Intellektuelles (Vor- 
stellungen, Gedanken) unerläßlich beteiligt ; aber doch viel 
weniger charakteristisch als am Tatbestand der Über- 
raschung oder der Erwartung, der in seiner Eigenart 
als solcher bestehen bleibt, ob er nun lustvoll oder unlust- 
voll betont oder gar gleichgültig ist, während gerade das 
Moment des Freudigen oder Schmerzlichen, des Lust- 
vollen oder Unlustvollen es ist, woran wir zunächst denken, 
wenn Mitleid, Rreude, Furcht, Hoffnung usw. genannt 
werden. Dieses Moment ist seiner allgemeinen Art nach 
identisch mit dem, das so viel deutlicher und klarer her- 
vortritt in gewissen psychischen Erlebnissen einfacheren 
Aufbaues, wie etwa beim Hören einer wohlklingenden 
Stimme oder an einer unangenehmen Geruchs- 
empfindung. 

Wir wollen den Gebrauch des Terminus Gefühl in 
seinen weitesten Grenzen auf solche Bewußtseinstatbe- 
stände einschränken, die, wiewohl zusammengesetzt und 
Intellektuelles in sich enthaltend, dennoch in ihrem Cha- 
rakter wesentlich durch ein Moment des Freudigen oder 
Schmerzlichen, Angenehmen oder Unangenehmen, der 
Lust oder Unlust bestimmt sind. Unter Gefühl im engeren, 
eigentlichen Sinne werden wir eben dieses emotionale Mo- 
ment selbst verstehen, also eben jenes vergleichsweise ein- 
fache Grundgebilde, das als ein Eigenartiges scharf unter- 
schieden ist gegenüber Vorstellungen und Gedanken, und 



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318 ^^' ^^^* Spezielle Psychologie. 

in seinen verschiedenen Formen neben diesen eine ko- 
ordinierte Klasse psychischer Grundgebilde ausmacht. In 
diesem zweiten Sinne werden wir zur leichteren Unter- 
scheidung für Gefühl schlechtweg die Ausdrücke Ge- 
fühlsmoment, Gefühlston, Elementargefühl, Lust- oder Un- 
lustmoment anwenden. 

ß) [Das Elementargefühl.] Das Gefühlsmoment 
ist, geradeso wie der Vorstellungsakt am Vorstellen oder 
das Überzeugungsmoment am Urteilen, ein einfacher, eigen- 
artiger psychischer Tatbestand; es ist nicht weiter zer- 
legbar und nicht auf andere psychische Tatbestände weiter 
zurückzuführen. 

Zu seiner näheren Beschreibung sind zwei Punkte 
beizubringen. Der eine bedient sich des Hinweises auf 
die Vorstellungen und bietet eine zum Teil nur negative 
Charakteristik. An der Vorstellung hatten wir Vor- 
stellungsakt und Vorstellungsinhalt — wenn auch natür- 
lich niemals voneinander zu sondern, so doch — zu unter- 
scheiden. Der Vorstellungsakt ist in Wirklichkeit niemals 
ohne zugehörigen Vorstellungsinhalt möglich, sowie um- 
gekehrt. Durch die Verbindung von beiden kommt es 
erst zustande, daß sich ein Inhalt in unserem Bewußtsein 
vorfindet und dieses auf einen Gegenstand gerichtet sein 
kann. Auch der Gefühlsakt ist stets an einen Inhalt ge- 
knüpft, auch vom Gefühle läßt sich sagen, daß es auf 
einen Gegenstand gerichtet ist; normalerweise ist keine 
Freude möglich, die nicht Freude über etwas wäre, und 
kein Gefühl des Unangenehmen, wenn ihm nicht irgend- 
welche Empfindungsinhalte (etwa der Kälte, Nässe) zu- 
grunde liegen. Aber der Inhalt, an den der Gefühlsakt 
geknüpft ist, steht zu diesem in einem ganz anderen Ver- 
hältnis als der Vorstellungsinhalt zum Vorstellungsakte: 
Der Vorstellungsinhalt ist gegenüber dem Vorstellungs- 
akte unselbständig, d. h. in seiner Existenz an die des 
Vorstellungsaktes gebunden ; jener Inhalt dagegen ist seiner 
Natur nach sehr gut möglich, ganz unabhängig davon, 
ob ein Gefühlsakt gleichzeitig da ist und sich ihm zu- 
wendet oder nicht. Kein Inhalt ist seiner Natur nach 
notwendig an einen Gefühlsakt gebunden, sowie der Vor- 
stellungsinhalt an den Vorstellungsakt; oder umgekehrt 



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2. Hälfte: Psychologie de» GemütslebenB. 319 

ausgedrückt: Der Gefühlsakt ist niemals Träger eines 
Inhaltes, so wie es der Vorstellungsakt gegenüber dem Vor- 
stellungsinhalte ist. Nach der ganzen Sachlage ist es viel- 
mehr am natürlichsten, den Inhalt, an den der Gefühlsakt 
angeschlossen ist, als mit dem Vorstellungsinhalt iden- 
tisch aufzufassen; gibt es ja doch keine von Gefühlen 
begleiteten Inhalte, die nicht kurzweg Vorstellungsinhalte 
sein könnten. Daraus folgt nun aber ein für den Gefühls- 
akt sehr wesentliches Merkmal, durch das er sich den 
Vorstellungs- und Denkakten gegenüber sehr charakte- 
ristisch unterscheidet: Der Gefühlsakt ist ein psychisches 
Gebilde, das keinen eigenen, neuen Inhalt ins Bewußt- 
sein bringt, daher auch aus sich selbst heraus nicht dazu 
imstande ist, dem Subjekte, so wie die Vorstellungen, Gegen- 
stände vorzuführen ; alles, was wir an Inhalten im Bewußt- 
sein haben, ist Vorstellungsinhalt, alles, was wir an 
Gegenständen kennen, ist Vorstellungs- oder Denkgegen- 
stand; nur das Denken ist direkt und unmittelbar auf 
Gegenstände gerichtet, die Gefühle, die sich ja gleichfalls 
stets auf Gegenstände beziehen, tun dies nur mittelbar, 
nämlich durch Vermittelung der Vorstellungen und Ge- 
danken, mit denen sich der Gefühlsakt jeweüs verknüpft 
erweist. Man will diesen Sachverhalt zuweilen damit 
treffen, daß man sagt, die Vorstellungen seien das Ob- 
jektive im Bewußtsein, die Gefühle das rein Subjektive, 
oder auch, die Vorstellungen würden auf die Objekte 
bezogen (objektiviert), die Gefühle nur auf das Subjekt. 
Der zweite Punkt, der zur Charakteristik des Gefühls- 
momentes vorzubringen ist, besteht in der Analyse seiner 
Mannigfaltigkeit. Die Mannigfaltigkeit des Gefühlsmo- 
mentes nun, oder, mit andern Worten, die Zahl der ver- 
schiedenen Formen und Gestalten, in denen sich das Ge- 
fühlsmoment in verschiedenen Fällen darzustellen vermag, 
ist eine sehr geringe. In qualitativer Beziehung ist die 
Mannigfaltigkeit bereits durch ein Paar einander entgegen- 
gesetzter Qualitäten erschöpft: durch den Gegensatz von 
Lust und Unlust. Das ist alles, was es an verschiedenen 
ursprünglichen Qualitäten des Gefühlsmomentes gibt. Da- 
her kommt es, daß alle Gefühle des wirklichen Lebens, 
soweit sie sich auch in ihrer Komplikation mit anderen 
psychischen Tatsachen von der Einfachheit des bloßen 



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320 II- TeiL Spezielle Psychologie. 

Gefühlsmomentes entfernen mögen, dennoch inmier ent- 
weder Lust- oder Unlustgefühle sind. Daher kommt es 
aber auch, daß, wenn wir die verschiedensten Gefühle 
vergleichend nebeneinander stellen, wenn sie nur sämtlich 
Lust- oder sämtlich Unlustgefühle sind, auch das in ihnen 
enthaltene eigentliche Gefühlsmoment in allen qualitativ 
dasselbe ist, nämlich stets ein und dieselbe Lust oder 
Unlust. Das Lustmoment, das man im Genuß einer wohl- 
schmeckenden Speise erlebt, ist, an und für sich betrachtet, 
qualitativ genau das gleiche wie das, das in der Freude 
am guten Erfolg der eigenen Arbeit steckt, oder das die 
B^eisterung an einem Kunstwerk zu einem lustvollen 
Erlebnis macht. So himmelweit voneinander verschieden 
sich diese Fälle im ganzen auch ausnehmen mögen, und 
so sehr sich deshalb auch die naive Auffassungsweise 
sträuben mag, die eben betonte Gleichartigkeit gelten zu 
lassen, so wenig wird dadurch die tatsächliche Gleich- 
artigkeit des emotionalen Eems dieser komplexen Ge- 
fühlserlebnisse, des reinen Gefühlsmomentes berührt. Die 
außerordentliche Verschiedenartigkeit der komplexen Ge- 
fühlserlebnisse soll damit nicht im geringsten geleugnet 
werden, und sie verträgt sich auch damit sehr gut; ,sie 
liegt eben an den übrigen psychischen Gebilden, die als 
Bestandstücke in den kompletten Gefühlserlebnissen ent- 
halten sind — wie später noch des näheren auseinander- 
gesetzt werden wird. 

Das eigentliche, reine Gefühlsmoment kommt also 
nur in zwei verschiedenen Qualitäten vor: als Lust oder 
als Unlust. Außerdem ist es in jeder der beiden Quali- 
täten nach Intensität veränderlich: starke, schwache Lust 
oder Unlust. So bildet es gleichsam eine einzige Dimension, 
in der es sich von einem in der Mitte liegenden Nullpunkt 
aus nach beiden Eichtungen in stetiger Steigerung der 
Intensität bis zu einem Maximum hin erstreckt; man 
kann sich einen kontinuierlichen Übergang denken, der 
von den höchsten Lustgradeu durch die geringeren Lust- 
grade und über den Indifferenz-(Null-)Punkt zu den ge- 
ringeren und schließlich zu den höchsten Unlustgraden 
führt, und der so alle Modifikationen und Intensitätsstufen 
durchläuft, in denen das reine Gefühlsmoment je auf- 
treten kann. •— 



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2. Hälfte: Psychologie des Gemütslebeni. 321 

Es darf nun keineswegs verschwiegen werden, daß 
zurzeit in dieser Angelegenheit noch keine Einigkeit er- 
reicht worden ist. Die Lehre von der Eindimensionalität 
der Gefühlsmannigfaltigkeit wird heute nicht von allen 
Psychologen zugegeben. Einige meinen, man könne auf 
diese Weise der Vielgestaltigkeit des konkreten mensch- 
lichen Gefühlslebens nicht gerecht werden. Sie glauben 
daher, noch andere qualitative Varianten des Gefühls- 
momentes neben Lust und Unlust annehmen zu müssen. 
Unter Umständen kann so von mehreren, etwa drei 
Qualitätsdimensionen gesprochen werden. Ob übrigens 
die verbreitetste Form der Lehre von einer qualitativen 
Dreidimensionalität des Gefühles hierher zu rechnen ist, 
mag immerhin unentschieden bleiben. Sie stellt als weitere 
Dimensionen neben Lust — Unlust noch Erregung — Be- 
ruhigung und Spannung — Lösung auf und meint, daß 
jedes einzelne konkrete Gefühl in irgend einem Sinne 
nach jedem der drei Gegensätze bestimmt sein muß. 
(Wundt ; Alechsieff , 1907). — Nun läßt sich aber die den 
Gegensatz Erregung — Beruhigung betreffende qualitative 
Eigentümlichkeit höchstwahrscheinlich restlos auf die 
Eigentümlichkeiten des zeitlichen und intensiven Ab- 
laufes des gesamten Gefühlsprozesses zurückführen, wäh- 
rend Spannung auf eine Mitbeteiligung von Willens- 
momenten hindeutet, so daß als ursprüngliche Qualitäten 
des Gefühlstones doch wieder nur Lust — Unlust übrig 
bleiben. Von anderen Versuchen (z. B. des von Lipps), 
mehrere Dimensionen des Gefühlsmomentes zu statuieren, 
mag hier abgesehen werden. Es sei jedoch erwähnt, 
daß bisweilen auch ganz unabhängig von einer so 
strengen Systematisierung der Gefühlsqualitäten, wie 
sie durch Aufstellung von Dimensionen gegeben ist, 
die Meinung vertreten wird, daß es neben Lust — Unlust 
noch andere, vielleicht sogar sehr viele verschiedene Ge- 
fülilsqualitäten gäbe oder daß das ursprüngliche Lust- so- 
wie das Unlustmoment in qualitativ verschiedenen Arten 
vorkomme, so daß sich daraus der Reichtum und die große 
Vielgestaltigkeit des konkreten, komplexen Gefühlslebens 
erkläre; irgendwelche auch nur halbwegs genauere Prä- 
zisierungen oder nähere Ausgestaltungen dieser Meinung 
liegen jedoch nicht vor. 

Wit^sek, Gnmdlii4ea der PsypJjQlogig. gj 

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322 ^' ^^* Spezielle Psychologie. 

T) [Die Gefühlsvoraussetzung und die Eintei- 
lung der Gefühle.] Es war schon oben Gelegenheit, dar- 
auf hinzuweisen, daß die Gefühle normalerweise auf einen 
Gegenstand gerichtet sind. Man hat Wohlgefallen an einer 
Farbe, die Farbe ist Gegenstand des Wohlgefallens ; man 
ist betrübt über einen Verlust, der Verlust ist Gegenstand 
der Betrübnis. Diese Beziehung auf einen Gegenstand 
steckt gleichsam schon im Wesen des Gefühls, so daß 
man wohl sagen kann, daß Ausnahmen von dieser Gesetz- 
mäßigkeit, nämlich sogenannte objektlose Gefühle — im 
strengen Wortsinne genommen — vielleicht nicht einmal 
bei Geisteskrankheiten, geschweige denn im gesunden Be- 
wußtsein vorkommen. Man darf eben nicht schon dort 
überall Objektlosigkeit im strengen Sinne behaupten, 
wo, wie z. B. bei sogenannter objektloser Furcht, ein 
eigentlicher Gegenstand nur nicht ausdrücklich bezeich- 
net werden kann, weil der nächste und unmittelbare 
Gegenstand des einzelnen Gefühlsaktes von einem Mal 
zum andern fortwährend wechselt oder zu unbestimmt ist. 
oder wo gar nur ein „vernünftiger Grund" für die Ge- 
fühlsanwandlung fehlt. 

Mit der Tatsache, daß jedes Gefühl auf einen Gegen- 
stand gerichtet ist, hängt es zusammen, daß der Gefühls- 
akt überhaupt nur in realer Verknüpfung mit Vorstellun- 
gen oder mit Gedanken vorkommt; das Vorhandensein 
solcher intellektueller Grundgebilde und die reale Ver- 
bindung mit ihnen ist für das Zustandekommen eines 
Gefühles unerläßlich. Man kann sie deshalb zweckmäßig 
und treffend als „Gefühlsvoraussetzung" bezeichnen. 
(Meinong, 1894.) 

Die Funktion der Gefühlsvoraussetzung läßt sich als 
eine zweifache auffassen. Einmal erfüllt die Vorstellung 
oder der Gedanke, der als Gefühlsvoraussetzung fungiert, 
die Aufgabe, dem Gefühlsakte gleichkam den Gegenstand 
vorzuhalten, auf den er gerichtet ist; außerdem aber ist 
diese Vorstellung oder dieser Gedanke nach wohl plausibler 
herkömmlicher Meinung auch der Erreger, also Teil- 
ursache des Gefühls. Das Gefühl der Behaglichkeit ist 
nicht nur auf die Wärme gerichtet, sondern auch durch 
die Wärmeempfindung hervorgerufen. 

Die Gefübl9vorau§§etzung macht uun «u^ammen mit 



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2. Hälfte: Psychologie des Gemütslebeiu. 323 

dem eigentlichea Gefiihlsmomente einen innerlich zu- 
sammenhängenden, realen Komplex aus, das „Gefühl" im 
gewöhnlichen Sinne des Wortes. Dieser Komplex ver- 
ändert sich notwendig und charakteristisch mit der Vor- 
aussetzung. Die verschiedenen Formen und Arten der 
Voraussetzung ergeben daher eine Handhabe, die Mannig- 
faltigkeit der Gefühle in natürliche Klassen zu ordnen. 

Wenn wir uns besinnen, welche Arten von psy- 
chischen Tatsachen in der Eolle der Gefühlsvoraussetzung 
auftreten, so kommen wir zu dem Schlüsse, daß dies sicher- 
lich von allen Grundgebilden des Geisteslebens gilt; ob 
auch noch von anderen, mag als minder wichtig dahin- 
gestellt bleiben. 

Am geläufigsten ist es, die Vorstellungen als Gefühls- 
voraussetzung zu denken ; es ist dazu nur primitive Ana- 
lyse nötig. Das Lustgefühl, das sich an einen schönen Zu- 
sammenklang, an den Anblick eines künstlerischen Orna- 
mentes knüpft, das Unlustgefühl, das etwa durch einen 
intensiv bitteren Geschmack hervorgerufen wird, sie alle 
haben eine Vorstellung zur Voraussetzung, nämlich die 
Vorstellung der genannten Gegenstände, und sind mit 
ihr verbunden. 

Wir können nun hinzufügen, daß keine Art von 
Vorstellungen von der Funktion als Gefühlsvoraussetzung 
ausgeschlossen ist. Sowohl Empfindungen als auch produ- 
zierte Vorstellungen, Wahrnehmungs- sowie Erinnerungs- 
vorstellungen, schließlich auch reine Phantasievorstellun- 
gen kommen, jede so gut wie die andere, in dieser Rolle 
vor. Bel^e aus der Erfahrung ausdrücklich anzuführen, 
erübrigt sich. 

Dagegen muß auf einen nicht unwichtigen Unter- 
schied besonders aufmerksam gemacht werden, der die 
Art des Zusammenschlusses des Gefühlsaktes an die Vor- 
aussetzungsvorstellung betrifft. Wir haben es als not- 
wendig und zweckmäßig befunden, an jeder Vorstellung 
als zwei zusammengehörige psychische Teiltatbestände den 
Vorstellungsakt und den Vorstellungsinhalt zu unterschei- 
den. (S. 73 ff.) Gewisse Erfahrungen legen es nun nahe, an- 
zunehmen, daß das Gefühlsmoment zu diesen beiden Teil- 
beständen seiner Voraussetzung nicht in allen Fällen gleich 
oabd Beziehung ]mt- £s ist ja auob von vornherein wohl 

gl* 

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324 n. Teil. Spezielle Peychologie. 

denkbar, daß das Gefühlsmoment im einen Falle mehr 
vom Vorstellungsakte, also jener Seite des ganzen Vor- 
stellungsvorganges, die dem Vorstellen als solchem im 
allgemeinen eigen ist, angeregt und qualitativ bestimmt 
wird, in einem andern Falle mehr vom Vorstellungs- 
inhalte. Daraus erklärt es sich, daß das Gefühl nicht 
jederzeit gleich enge an den Inhalt gebunden und 
damit auch nicht gleich deutlich ausgesprochen auf 
seinen Gegenstand gerichtet erscheint; wo sich die loseste 
Verbindung zeigt, da werden wir es im höchsten Maße 
als durch den Vorstellungsakt bestimmt erachten können ; 
wo es sich dagegen, vielleicht gar bis ins einzelne, als 
von der Beschaffenheit des Inhaltes abhängig erweist, 
da ist es wohl durch die dem Inhalt zugehörige Seite 
des ganzen Vorstellungsvorganges bestimmt. Wir können 
also, wenn wir die Gefühle, die überhaupt Vorstellungen 
zur Voraussetzung haben, als Vorstellungsgefühle be- 
zeichnen, dieselben noch in Vorstellungsakt- und Vor- 
stellungs Inhalts gefühle unterscheiden. 

Die Empirie, die diese Unterscheidung stützt, liegt 
an der Stelle, an der die Unterscheidung zugleich auch 
Bedeutung und Interesse gewinnt. Seit langem bemüht 
man sich um die Wesensabgrenzung der sinnlichen Ge- 
fühle von den ästhetischen : Die Annehmlichkeit des lauen 
Bades dort, das Wohlgefallen an einem hübschen Orna- 
mente da; Zahnschmerzen dort, ein falscher Klang beim 
Geigenspielen da. Wir müssen sagen, beides sind Vor- 
stellungsgefühle. Worin liegt dann ihr Wesensunterschied ? 
Am ehesten wohl darin, daß es sich dort um Akt- und 
hier um Inhaltsgefühle handelt. (Witasek, 1904.) Die 
ästhetischen Gefühle sind ganz auf den Inhalt gerichtet, 
sie hängen enge mit ihm zusammen ; wenn er sich ändert, 
so erleiden auch sie Abänderung; sie bleiben, zum min- 
desten der Qualität nach, unverändert, wenn sich der 
Vorstellungsakt modifiziert, z. B. von einem Empfindungs- 
in einen Eeproduktionsakt übergeht. Bei sinnlichen Ge- 
fühlen, zumal wenn sie Unlust (Schmerz) sind, ist der 
Vorstellungsinhalt meist so gleichgültig, daß man oft 
seiner gar nicht achtet und kaum gewahr wird; der Akt 
jedoch so wesentlich, daß das Gefühl geradezu an seiner 
Beschaffenheit zu hängen scheint : durch die Veränderung 



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2. Hsllfte: Psychologie des Gemütslebens. 325 

des Aktes, die vorgeht, wenn Reproduktion an Stelle der 
Empfindung tritt, verliert sich der sinnliche Schmerz 
geradezu in nichts. Wir können rein sinnlichen Schmerz 
sowohl wie rein sinnliche Lust in der Erinnerung kaum 
mit einem Minimum von wirklichem Gefühlston wieder- 
erwecken; eine schöne Melodie dagegen ist jedem, der 
nur ein genügendes Tonvorstellungsvermogen besitzt, auch 
in der bloßen inneren Reproduktion ein wirklicher Genuß. 

Noch sei ausdrücklich bemerkt, daß sinnliches und 
ästhetisches Gefühl an einem und demselben Fall ein- 
ander durchaus nicht auszuschließen brauchen, daß Akt 
und Inhalt zusammen und zugleich gefühlsbestimmend 
wirksam sein können und daß sich so gewisse Übergangs- 
formen zwischen beiden Extremen ergeben — und wohl 
auch in der Erfahrung nachweisen lassen. 

Was übrigens die sinnlichen Gefühle allein anlangt, 
so sei nochmals daran erinnert, daß in jüngster Zeit der 
Versuch gemacht worden ist, sie nicht als etwas, dem in- 
tellektuellen Psychischen gegenüber andersartiges. Emotio- 
nales, sondern schlechtweg als eine eigene Art von Emp- 
findungen, als sogenannte „Gefühlsempfindungen", auf- 
zufassen. (S. 199.) Der Versuch ist mit wohlüberlegten 
Gründen gestützt worden und hat zweifellos etwas Ver- 
führerisches an sich, besonders, wenn es sich um den 
körperlichen Schmerz handelt, wenn er auch die Ent- 
deckung gesonderter „Schmerzempfindungs"punkte (s. 
S. 197) und gesonderter Schmerzleitung im Rückenmark 
durchaus nicht ausschließlich für sich in Anspruch 
nehmen darf. Auch am körperlichen Schmerz dürfte, wie 
auch an allen übrigen sinnlichen Gefühlszuständen, ein 
wirkliches Empfindungsmoment vom emotionalen, dem Un- 
lustmoment, noch wohl zu unterscheiden sein. Dieses 
Unlust- oder Lustmoment nun seinerseits wieder als 
Empfindung aufzufassen, mag sich deshalb verbieten, 
weil es der für alles Vorstellen und Denken wesent- 
lichen Gegenständlichkeit ermangelt (s. oben S. 319), weil 
es, wie man sagt, nichts Objektives, sondern nur Sub- 
jektives ergibt. Hält man aber diese Differenz für un- 
wesentlich, dann ist freilich kein triftiger Grund mehr 
vorhanden, Empfindung und sinnliches Gefühl zu son- 
dern; dann hat man aber überhaupt der Scheidung von 



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326 ^- '^^' Spezielle Psychologie. 

intellektuellem und emotionalem Psychischen den Boden 
entzogen. Es scheint daher sachgemäßer, die sinnlichen 
Gefühle als wirkliche Gefühle anzuerkennen. Dann quali* 
fizieren sie sich, wie wir gesehen haben, mit Bücksicht 
auf ihre Voraussetzung als Vorstellungs-, genauer als Vor- 
stellungsaktgefühle. \ 

Die Vorstellungsgefühle sind nicht gerade die ver- 
breitetsten Gefühle, wohl aber diejenigen, bei denen die 
Natur der Voraussetzung am deutlichsten zutage liegt. 
Es sind nämlich nicht alle Gefühle, die wir kennen, 
Vorstellungsgefühle; auch Gedanken fungieren, wie wir 
sofort sehen werden, in höchst bedeutsamem Maße als 
Gefühlsvoraussetzung. 

Der Sammler hat an den Gemälden, die er in seinen 
Besitz bringt, neben der ästhetischen Freude, dem ästheti- 
schen Geniä, noch eine zweite Freude anderer Art. Denn 
für das ästhetische Genießen ist es ja gleichgültig, ob 
er das Werk im eigenen Besitze hat oder nur sonst Ge- 
legenheit, es zu beschauen; für das ästhetische Genießen 
(das Vorstellungsgefühl) ist eben nichts weiter nötig, als 
das Gemälde zu beschauen, d. h. die anschauliche Vor- 
stellung, sei es durch die Vermittelung der Sinne oder 
des Gedächtnisses, davon gegenwärtig zu haben. Trachtet 
er dennoch jederzeit darnach, das Kunstwerk in seinen 
Besitz zu bringen, und freut er sich dann erst daran nach 
seiner Weise, so muß wohl diese Freude eine andere sein 
als die ästhetische. Und sie ist es auch, denn diese Freude 
hat zu ihrer Voraussetzung das Bewußtsein vom Besitz 
des Bildes. Dieses Bewußtsein ist nun nicht bloße Vor- 
stellung. Denn diese „bloße Vorstellung" (richtiger Vor- 
stellung in Annahme) konnte er ja auch schon vorher 
haben und hat sie auch gehabt, indem er nach dem Besitz 
gestrebt; ja diese bloße Vorstellung des Besitzes kann 
jeder haben, der selbst nichts weniger ist als ein Besitzer. 
Sie genügt aber durchaus nicht zur Voraussetzung für jene 
Sammlerfreude. Dazu ist es, wird man vielleicht nun 
wieder sagen, erforderlich, daß sich mit der Vorstellung 
des Besitzes auch noch die Vorstellung von der Geltung 
(der „Wirklichkeit", „Tatsächlichkeit") dieser Vorstellung 
verbinde. Eine solche hinzukommende „Vorstellung" irt 
nun aber, wie wir längst eingesehen haben, in Wahrheit 



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2. Hälfte: Psychologie des Gemutslebens. 327 

gar nicht mehr Vorstellung, sie ist das Bewußtsein der 
Gültigkeit, sie ist der Überzeugungs-, der Urteilsakt. Jene 
Samnüerfreude, jenes Gefühl der Befriedigung des Samm- 
lers hat zu seiner jeweiligen Voraussetzung das Wissen, 
daß er nunmehr das Bild besitzt; dieses Wissen ist, wie 
jedes [Wissen, im aktuellen Falle Urteilen, und wir haben 
hier also ein Gefühl gegeben, das mit Eücksicht auf 
seine Voraussetzung als Urteilsgefühl zu qualifi- 
zieren ist. 

Daß der psychologische Sachverhalt damit richtig 
erfaßt ist, bestätigt sich auch darin, daß sich der Gegen- 
stand, auf den das Gefühl gerichtet ist, nicht als Objekt, 
sondern als Objektiv erweist: Der Sanmiler freut sich 
darüber, „daß er das Bild besitzt'', oder darüber, „daß 
es ihm nicht von einem andern Sammler abgejagt worden 
ist". Diese Gefühlsgegenstände sind von ganz anderer 
Natur als die der sinnlichen oder ästhetischen Gefühle, 
sie sind deutlich und ausgesprochen Objektive, können 
also dem ^efühlsakte niemals durch bloße Vorstellung, 
sondern immer nur durch Urteil (oder Annahme, siehe 
unten) vorgehalten werden. 

Es gibt also nicht nur Vorstellungs-, es gibt auch 
Urteilsgefühle, und man wird gewiß sagen können, daß 
sie eine noch größere Bolle im praktischen psychischen 
Leben spielen als jene. Denn alles, was Freude irgend- 
welcher Art, was aktuelle Trauer, was Kummer, Mitleid, 
Neid und Geiz, was Furcht und Hoffnung, Zufriedenheit 
und Ärger und »Wertschätzung ist, das stellt sich bei 
näherer Analyse als Urteilsgefühl heraus, und das, wo- 
durch sie sich voneinander unterscheiden, das liegt zu- 
nächst im Objektiv. 

Geht man noch etwas näher ein auf die Natur- 
geschichte der Urteilsgefühle, so kommt man auf das 
Analogen zu jener Unterscheidung, die wir schon inner- 
halb der VorsteUungsgefühle durchzuführen Anlaß hatten. 
Auch hier kann der Gefühlsakt sich bald mehr durch 
den Urteilsakt, bald mehr durch den Urteils„inhalt" 
bestimmt erweisen. Im ersten Fall ist für das Gefühl nur 
maßgebend, daß überhaupt ein Urteil, ein Wissensakt zu- 
stande kommt, während der Inhalt dieses Wissens dagegen 
gleichgültig bleibt. Das ist der Fall des Forschers und 



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328 -^I- Teil. Spezielle Psychologie. 

des Neugierigen; der Forscher hat seine Lust im Wissen 
und Erkennen als solchem, und der Inhalt des Erkannten 
ist dabei in weiten Grenzen gleichgültig, es ist für diese 
Art Befriedigung ganz einerlei, ob die als wahr erforschte 
Antwort auf die gestellte Frage bejahend ausfällt oder 
verneinend; der Neugierige hat gleichfalls Lust nur im 
Neuigkeitenerfahren als solchem, der Inhalt ist auch da 
von untergeordnetem Belang. Ganz anders bei den Urteils- 
inhaltsgefühlen. Ich freue mich, daß mein Bruder wieder 
genesen ist. Das Lustgefühl schlägt sofort in sein Gegenteil 
um, wenn der „Inhalt" der Aussage negativ wird, es 
geht in seiner Intensität nahezu auf Null herab, wenn sich 
der Inhalt insofern ändert, daß etwa an Stelle von Bruder 
ein mir Unbekannter tritt. 

Auch die Unterscheidung von Urteilsakt- und Urteils- 
inhaltsgefühlen ist bedeutungsvoll als psychologische 
Grundlage der scharfen theoretischen Fixierung des 
Wesens von zwei Gefühlsarten, die auch dem populären 
Denken nicht gar zu ferne liegen. Die ersten sind die 
sogenannten Wissensgefühle, die zweiten — besonders 
wichtig und zugleich bekannt — die Wertgefühle. (Mei- 
nong, 1894.) Die Wertgefühle sind die psychischen Er- 
lebnisse, in denen sich für uns der Wert der Gegenstände 
und Tatsachen manifestiert und auf Grund deren wir 
ihnen Wert zuschreiben. Man überzeugt sich leicht, daß 
die Tatsache des Wertschätzens einer Sache nichts weiter 
ist als die, daß man mit Lustgefühl auf die Überzeugung 
von seinem wirklichen Dasein reagiert. 

Die größte und wichtigste Bedeutung haben die Wert- 
gefühle dort, wo sie auf ethisch Eelevantes gerichtet sind. 
Dann werden sie zur ethischen Befriedigung, Billigung 
und Mißbilligung und machen als solche das Grund- 
phänomen des ethischen Verhaltens aus. In diesem Sinne 
können die Wertgefühle als die ethischen Gefühle ge- 
nommen werden — während die Wissensgefühle einen 
charakteristischen, scharf definierten Grundstock für das 
abgeben mögen, was man — mehr herkömmlich als ein- 
heitlich und klar — als logische Gefühle zu bezeichnen 
pflegt. — 

So haben wir nun die Vorstellungen sowohl als auch 
die Urteile in der Rolle der Gefühlsvoraussetzung kennen 



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2. Hälfte: Psychologie des Gem&islebeiis. 329 

gelernt. Aber damit ist die Systematik der Gefühle, so- 
fern sie sich auf die Gefühlsvoraussetzung gründet, noch 
nicht erschöpft. Wir wissen, daß es außer den Urteilen 
noch eine andere Art von Gedanken gibt, die Annahmen, 
und auch diese treten, wie sich sofort zeigen wird, als 
Gefühlsvoraussetzungen auf. 

Am leichtesten erkennt man das in unserem Verhalten 
gegenüber Werken der erzählenden Dichtkunst. Was uns 
in einem Eoman erzählt wird, was uns die Bühne des 
Theaters vorführt, das nehmen wir bekanntlich nicht für 
Wirklichkeit, es ist uns bloßer Schein. Ins Psychologische 
gewendet, bedeutet dies, daß wir die Ereignisse und Ge- 
stalten, aus denen der Inhalt der Dichtung besteht, kurz 
die Objektive nicht für wahr haltend, d. h. urteilend, 
sondern nur in der Phantasie fingierend, also in Annahmen 
auffassen und denken. Trotzdem werden unsere Gefühle 
oft in sehr hohem Grade eben von diesen Ereignissen und 
Gestalten in Anspruch genonmaen; wir fühlen Sympathie 
mit dem erdichteten Helden, Mitleid, wenn er in Unglück 
und Jammer gerät, Freude, wenn er obsiegt, Entrüstung 
über die Niedertracht seiner Widersacher, Furcht und 
Beklemmung vor dem drohenden Unheil, und ein Stein 
fällt uns vom Herzen, wenn schließlich doch noch alles 
glücklich ausgeht — alles, obwohl wir sehr gut wissen, 
daß dieser Held nur in unserer und des Dichters Phantasie 
lebt und also in Wirklichkeit nichts vorliegt, worüber 
wir uns aufzuregen brauchten. Alle diese Gefühle haben 
sonach nicht Urteile, sondern Annahmen zur Voraus- 
setzung — ein Sachverhalt, der auch noch vielfach sonst 
im Kunstgenießen eine Bolle spielt, jedoch für sich allein 
noch nicht den Kunstgenuß selbst, das ästhetische Genuß- 
gefühl, ausmacht. 

Aber auch noch auf anderen Gebieten kommt der- 
artigen Annahmegefühlen eine EoUe zu. So vor allem 
im psychischen Verhalten beim Spiel. Das Vergnügen 
z. B., das die Eander in den Nachahmungsspielen finden, 
löst sich fast ganz in solche auf. Der kindliche Feldwebel 
hat seine Freude am Bekrutenschinden, die kindlichen 
Bekruten darin, sich in militärischen Künsten auszu- 
zeichnen oder den Feldwebel zu ärgern, während der kind- 
liche General sich in die Brust wirft und in der -^ fin- 



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330 n. Teil. SperieDe Psychologie. 

gierten -^ Machtfülle sein — phantasiertes — Selbstgefühl 
sieh lustvoll steigern läßt. 

Schließlich ergeben sich Annahmegefühle auch sonst 
noch oft genug fiSr sich allein und außerhalb der eben 
genannten Zusammenhänge. Der vom Unglück Verfolgte, 
der sich in seiner Phantasie ein mögliches Glück ausmalt 
und dabei einen Abglanz der Freude und Zufriedenheit 
verspürt, die es ihm bereiten würde; jeder, der sich in 
eine kommende oder sonst irgendwie nicht wirkliche 
Situation versetzt denkt, ja wer auch nur einen Wunsch hat 
oder etwas ersehnt, erlebt dabei eine Gefühlsreaktion, die 
durch bloße Annahme ausgelöst und auf das Angenommene 
gerichtet erscheint, ein Annahmegefühl. 

Da die Annahme, was die Objektive anlangt, in allem 
das genaue Widerspiel des Urteils ist, so müssen sich 
auch die verschiedenen Arten der ürteilsgefühle, die durch 
Objektive verschiedenen Belanges charakterisiert sind 
(siehe oben), in entsprechenden Arten von Urteilsgefühlen 
wiederfinden. So gibt es Freude, Kummer, Mitleid usw. 
da und dort. Dagegen gibt es sehr bezeichnenderweise 
auf Seiten der Annahmegefühle kein Analogon zu den 
Wissens-, d. i. den ürteilsaktgefühlen; Urteil und An- 
nahme unterscheiden sich eben im psychischen Akte, 
und der Annahmeakt hat offenbar nicht die gleiche ge- 
fühlsanregende Kraft wie der Urteilsakt. 

Dieser fast durchgängige Parallelismus zwischen Ur- 
teils- und entsprechenden Annahmegefühlen läßt den tief- 
gehenden Unterschied, der sonst im allgemeinen zwischen 
beiden Arten vorliegt, erst recht deutlich hervortreten. 
Dieser Unterschied ist allerdings leichter zu erfahren als 
in Worten auszudrücken. Denn so natürlich der Sach- 
verhalt des Annahmegefühles in Wirklichkeit sich aus- 
nimmt, so kann er kurz doch nur in einem Paradoxon ge- 
schildert werden : das Annahmegefühl ist zwar Lust oder 
Unlust, aber es läßt weder Lust noch Unlust wirklich 
fühlen. Wer Annahmetrauer erlebt, der fühlt wohl etwas, 
das in gewissem Sinne ganz so aussieht wie wirkliche 
Trauer, er wird aber doch nicht ernstlich traurig sein, 
er kann sich vielmehr dabei wirklich in derselben 
Stimmung befinden, wie einer, der eben Genuß an etwas 
hat; es fehlt gleichsam in beiden Fällen das emstiiche 



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2. Hälfte: PsyeHologie des Gremiitaleben«. 831 

Oefühl, obwohl etwas Lust- oder Unlustartiges da ist. 
So drängt sich unwillkürlich der Vergleich auf zum 
Verhältnis, das zwischen Annahme und Urteil selber 
vorliegt. Auch in der Annahme wird bejaht, verneint, 
so wie im Urteil, und doch ist sie im Ernst nicht 
Urteil, es fehlt ihr das Moment des Überzeugtseins, 
sie ist ein geltungsloses Spiegelbild des Urteils in der 
Phantasie, ein psychischer Akt von eigener Art, der 
vieles mit dem Urteil gemeinsam hat und vielfach stell- 
vertretend für das Urteil stehen kann und doch in 
Wkklichkeit kein Urteil ist, ähnlich wie die Phantasie- 
vorstellung im Vergleich zur Wahmehmungsvorstellung. 
Und ähnlich wäre auch ein solches Annahmegefühl 
seinem Gefühlsmomente nach als ein emotionaler psy- 
chischer Akt von eigener Art aufzufassen, als ein emotio- 
naler Akt, der etwas andersartig ist als das Gefühlsmoment 
des Urteils- oder des Vorstellungsgefühles, und der sich 
zu diesem ähnlich verhielte wie Annahme zu Urteil, so- 
nach ein Phantasiegefühlsmoment im Gegensatz zum 
Ernstgefühlsmoment» (Meinong, 1902.) Vielleicht aber 
lassen sich die erfahrungsgemäß vorliegenden Unter- 
schiede zwischen solchen Annahme- und den Urteilsge- 
fühlen — oder (die allgemeineren Termini sind so be- 
zeichnend, daß sie auf alle Fälle beibehalten werden mögen) 
zwischen Phantasie- und Emstgefühl nur lediglich dar- 
auf zurückzuführen, daß *jenes Annahmen und dieses 
Urteile zur Voraussetzung hat und daher jenes um eben- 
soviel weniger tief und nachhaltig in das Gemütsleben 
eingreift, wie die Annahme — die Phantasie — beweg- 
licher und will&hriger ist als das Urteil, der unbeweglich 
feste Zwang des Glaubens und der Tatsachen ; das eigent- 
liche Gefühlsmoment wäre dann in beiden Fällen das 
gleiche. (Witasek, 1904.) 

Nun aber dürfte endlich die Gesamtheit aller in 
der Erfahrung nachzuweisenden Gefühle überblickt und 
geordnet, und zwar nach einem natürlichen, in den psy- 
chischen Gebilden selbst liegenden Einteilungsgrunde ge- 
ordnet sein, 80 daß wir allgemeinste A^^ii erhellten haben, 
in denen dem psychischen Aufbaue, der psychologischen 
Natur nach Gleichartiges zusammengenommen erscheint 
und nicht, wie etwa bei der Aufstellung von „religiösen", 



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332 II' Teil. Spezielle Psychologie. 

„patriotischen", „sozialen", „Familien"- „Person"gefühlen 
ein ganz äußerliches Moment, nämlich das des jeweiligen 
zu&Uigen Gegenstandes das Unterscheidungsmerkmal ab- 
gibt, eine Einteilungsweise, die den natürlichen psychi- 
schen Verwandtschaften des Einzuteilenden ebensowenig 
Eechnung trägt, wie wenn man die Vorstellungen in 
Vorstellungen von Pflanzen, von Tieren, von Menschen 
und von Häusern einteilen wollte. 

Anderseits muß allerdings zugegeben werden, daß 
sich die Einteilung, wie sie nun vorliegt, im Vergleich 
zum ungeheuren Reichtum der verschiedenen lebendigen 
Oefühlsformen etwas abstrakt und kahl ausnimmt und 
daß die bloß auf die Gefühlsvoraussetzung gegründete 
Charakteristik nicht dazu imstande ist, den mannigfaltigen 
Eigentümlichkeiten verschiedener Gefühle gerecht zu 
werden und ein analytisch anschauliches Bild von ihnen 
zu entwerfen. Der Stolz ist ein lustvolles Wertgefühl, 
Freude gleichfalls; Ärger und Trauer sind beide .Wert- 
Unlust. Man sieht, es liegen in der Erfahrung noch 
überaus wesentliche und charakteristische Unterschiede 
vor, die in unserer bisherigen Einteilung völlig verloren 
gehen. 

Dazu ist folgendes zu sagen. Vor allem ist unsere 
Einteilung nur als Aufstellung der obersten und allge- 
meinsten Klassen der Gefühle anzusehen; daß es noch 
innerhalb jeder dieser Klassen weitere, untergeordnetere 
Verschiedenheiten gibt, ist durchaus vorgesehen, und prin- 
zipiell hindert nichts daran, denselben etwa durch weitere 
Einteilung in Unterarten gerecht zu werden. An der 
Geltung unserer obersten Klassen würde dadurch nicht 
gerüttelt, zumal wohl angenommen werden darf, daß auch 
jene untergeordneteren Verschiedenheiten nicht «twa auf 
unzurückführbaren qualitativen Verschiedenheiten des 
eigentlichen Gefühlsmomentes beruhen, sondern gleich- 
falls auf Neben- und Begleitumständen. 

Als solche sind zunächst zwei zu nennen. Je nach 
dem Inhalt der Gefühlsvoraussetzung werden verschie- 
dene Vorstellungs- und Gedankengebiete im Bewußtsein 
des Subj^es angeregt, die, in größerer oder geringerer 
Menge und Mannigfaltigkeit und in den verschiedensten 
Graden der Reproduktion, von ausdrücklicher Bewußtheit 



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2. Hälfte: Fbychologie des Gemfitslebeiu. 333 

bis zum kaum vorhandenen Vorstellungsrudiment (S. 254), 
anklingen, zum Teil die ihnen selbst eigene Gefühls- 
betonung mitbringen, und so als ganz eigenartig gefärbter 
psychischer Hintergrund dem Gesamtgefühlszustende be- 
sondere Charakteristik g^en. Dieser psychische Gesamt- 
bestand eines Gefühls, diese seine psychische Umwelt an 
leise und laut anklingenden Vorstellungen und Gedanken 
mit ihren eigenen Gefühlscharakteren aufzudecken und 
auseinanderziüegen, diese Spezialanalyse der konkretesten 
Gefühlsformen ist eine der feinsten und heikelsten Auf- 
gaben der introspektiven und zergliedernden Seelenkunde, 
eine Aufgabe, der unsere heutigen Mittel, will man die 
Pfade wissenschaftlicher Methode nicht verlassen, kaum 
noch gewachsen sind, und die deshalb bis heute auch 
nur selten, an wenigen Gefühlen (Mitgefühl, Scham) und 
mit nur vorläufigem Erfolge in Angriff genommen 
worden ist. (GroeÖiuysen, 1904; Hohenemser, 1904.) 

Ein zweites hierhergehöriges Moment ist folgendes. 
Das Gefühl ist an seine Voraussetzung angeschlossen und 
macht mit ihr ein Ganzes aus. So ist es natürlich, daß für 
dieses Ganze auch die Eigentümlichkeiten der Voraus- 
setzung charakteristisch sind. Solche Eigentümlichkeiten 
braucht aber nicht gerade nur die endgültig fertige Vor- 
aussetzung, z. B. das fertige Urteil, aufzuweisen. Auch im 
Prozeß des Zustandekommens des Urteils etwa können 
sie begründet sein, und sofern sich dieser Prozeß im 
Bewußtsein abspielt, werden sie den Aspekt beeinflussen. 
So liegt die Eigentümlichkeit des Gefühls angenehmer, 
unangenehmer Überraschung sowie auch des Gefühls der 
Komik ganz gewiß in speziellen Besonderheiten, die sich 
im Prozesse der Auslösung und des endlichen Zustande- 
kommens des Voraussetzungsurteiles geltend machen. 

h) [Körperliche Begleittatsachen.] Außerdem 
kommt zur Erzeugung des eigenartigen Charakters der 
verschiedenen speziellen Gefühlszustände noch ein mehr 
indirekter Faktor in Betracht, der aber an Bedeutung die 
bisher genannten vielleicht noch übertrifft. 

Jedermann weiß, daß sich der jeweilige Gemüts- 
zustand des Menschen normalerweise in seinen Gesichts- 
zügen und seiner Körperhaltung mehr oder minder deut- 

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334 It- '^^T^ Spezielle Psychologie. 

lieh ausprägt. Die Muskeln, besonders die des G^ichtes, 
stehen eben in unwillkürlich wirksamem Zusammenhange 
mit dem emotionalen Zustande des Subjektes; vermöge 
dieses Zusammenhanges kommt es bei rerschiedenartigen 
Gefühlen zu innerhalb gewisser Grenzen auch verschiedenen 
Muskelinnervationen, die mit steigender Gefühlsintensität 
bekanntlich zu heftigen Gesichtsverzerrungen und aus- 
giebigen Bewegungen des ganzen Körpers führen können. 
Wir dürfen nun aber keineswegs glauben, daß sich 
diese die Gefühlserregung begleitenden Bewegungen auf 
das beschränken, was wir davon unter den gewöhnlichen 
Verhältnissen mit dem Auge wahrzunehmen pflegen und 
was deshalb so ziemlich allgemein bekannt ist. Damit ist 
nur der äußerlich auffallendste Teil gegeben, und zwar 
gerade der, der für den psychischen Sachverhalt vielleicht 
am wenigsten belangreich ist. Wesentlich charakteristischer 
für den jeweiligen Gesamtbewußtseinszustand sind andere, 
viel verstecktere Bewegungen. Hierher gehören — von 
äußerlich kaum merkbaren, minimalen imd unwillkür- 
lichen Zuckungen mancher Skelettmuskel, z. B. derer 
des Unterarms, abgesehen — vor allem Schwankungen 
in der regelmäßigen Innervation des Herzeüs und des At- 
mungsmechanismus, die sich in Störungen des Puls- und des 
Atmungsrhythmus äußern. Zu bemerken oder gar in ihrem 
qualitativen und quantitativen Verlaufe genauer zu unter- 
suchen sind sie nur mit Hilfe eigens dazu konstruierter 
Apparate, etwa des sogenannten Plethysmographen, der 
die mit der Herzbewegung periodisch wechselnde Füllung 
der Arterien eines Körperteiles, z. B. des Unterarmes, auto- 
matisch in Kurven aufschreibt, oder des Sphygmographen, 
der in gleicher Weise Tempo, Anstieg und Höhe des Pulses, 
oder des Pneumographen, der den Verlauf der Atmung 
notiert. Technik und Methodik dieser Untersuchungen 
sind nun freilich ganz außerordentlich viel verwickelter, 
als man anfangs annahm. Meinte man seinerzeit, eine 
einfache Zuordnung bestimmter Formen der Puls- und 
Atmungsschwankungen zur Lust, und etwa der entgegen- 
gesetzten zur Unlust erwarten und suchen zu können, 
so hat sich nach und nach immer deutlicher gezeigt, daß 
es eine solche einfache Zuordnung in Wirklichkeit nicht 
gibt, daß i» verschiedenen Fällen von Lu9t ein verscbie- 



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2. Hälfte; Psychologie des Gemütslebens« 335 

dener Verlauf der Puls- und A tmungskürven zu beobachten 
ist, von dem man überdies nicht sicher weiß, wie weit und 
worin er wirklich mit dem Gefühlszustande zusammen- 
hängt, da sich herausgestellt hat, daß er auch von andern 
psychischen (der Aufmerksamkeit), von andern physio- 
logischen, ja selbst von rein physikalischen, aus der Funk- 
tionsweise des Apparates stammenden Faktoren beeinflußt 
wird, die Sonderung dieser Faktoren aber nicht leicht 
gelingt. (Martins, 1905; Kelchner, 1905.) Am ehesten 
können vielleicht die bisherigen Ergebnisse für einfache 
Unlust höheren Grades Geltung beanspruchen : Die Blut- 
füUe nimmt stark ab, der Puls wird schwächer und 
schneller, der Atem stockt anfänglich, um dann nach 
einigen tiefen Zügen in einer gewissen Schwäche und 
Unregelmäßigkeit zu verharren. (Lehmann, 1899.) 

Trotz der vorläufigen Unsicherheit dieser Unter- 
suchungen sind sie dennoch auch jetzt schon von hohem 
!Werte, weil sie uns auf alle Fälle ein weitere^ Mittel 
zum Verständnis des Wesens der großen qualitativen 
Mannigfaltigkeit innerhalb des Gefühlslebens an die Hand 
geben. Denn alle diese verschiedenen Bewegungen, die 
gröberen sowohl wie die feineren, kommen ja, wenn auch 
nicht einzeln und als solche, so doch zumeist recht ein- 
drucksvoll in einem mehr oder weniger unanalysierten, 
eigenartigen Empfindungskomplexe dem Subjekte zum Be- 
wußtsein. Es ist nun begreiflich, daß ein solcher mit dem 
Gefühl verbundener Empfindungskomplex dem Gesamt- 
zustande eine eigentümliche Charakteristik zu verleihen 
vermag, und zwar, wie wir gesehen haben, auch eine 
verschiedene bei qualitativ gleichem emotionalem Faktor. 
Eine der gröberen von den herkönmilichen Unterscheidun- 
gen innerhalb des Gefühlslebens können wir sogar jetzt 
schon in der Hauptsache auf dieses Moment zurückführen : 
Es betrifft das die Wesensbestimmung des Affektes. Von 
Affekt pflegen wir nämlich besonders dann zu sprechen, 
wenn sich die körperlichen Begleitvorgänge in auffallend 
hohem Grade einstellen. Natürlich ist dabei in der Eegel 
auch das rein emotionale Moment von besonders hoher 
Intensität, und Störungen im normalen Ablauf der Vor- 
stellungen und der Gedanken sind als Folge davon gleich- 
falls zumeist damit verbunden. Auch noch innerhalb 



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336 n. Teil. Spezielle Ptychologie. 

der Affekte gründet sich eine weitere Unterscheidung 
gleichfalls auf das besprochene physische Begleitmoment: 
Bei den sogenannten sthenischen (ezzitativen) Affekten 
(Zorn) liegt verstärkte Innervation der Muskulatur und 
kräftige Pulsbewegung vor, bei den asthenischen (de- 
pressiven) (Trauer) eine Erschlaffung des Muskeln mit 
Schwächung, oft auch Beschleunigung von Puls und 
Atmung. 

2. Verursachung der Gefühle. 

a) [T^ilursachen innerhalb des Bewußtseins.] 
Nach herkönunlicher Meinung gilt die Vorstellung oder 
der Gedanke, die dem Gefühle den Gegenstand vorhalten, 
auf den es gerichtet ist, durchschnittlich zugleich auch 
als die das Gefühl auslösende Teilursache ; und man wird 
auch von Seiten der Wissenschaft gegen diese Auffassung 
im allgemeinen nichts einzuwenden haben. Nur die eine 
andere Auffassung steht noch zur Diskussion, daß das 
z. B. an eine Empfindung angeschlossene Gefühl eine 
zweite direkte Wirkung des äußeren Eeizes neben der 
Empfindung sei und nicht erst durch diese ausgelöst werde ; 
sofern jedoch nicht prinzipielle Lehren über psychologische 
Kausation in Frage kommen, scheint diese Auffassung 
weniger befriedigend als jene erste, herkömmliche. 

Die Frage nach den speziellen kausalen Zusammen- 
hängen zwischen Qualität sowie Intensität der Voraus- 
setzung einerseits und dem Ausfall des Gefühls anderseits 
ist kurz und allgemein nur für die sinnlichen Gefühle zu 
beantworten. Da gilt das Gesetz, daß die schwächsten 
Intensitätsgrade fast aller Empfindungsarten emotionell 
unbetont, die höchsten Intensitätsgrade dagegen unlust- 
erregend, bisweilen geradezu schmerzhaft sind. Viel mehr 
ist übrigens auch da nicht zu sagen. Die gleiche JFrage 
für Gefühle anderer Art, zunächst für die Vorstellungs- 
inhalts- und für die Wertgefühle, ins einzelne zu ver- 
folgen, ist Sache besonderer Untersuchung, die haupt- 
sächlich im Dienste der Ästhetik und der Ethik steht. 

Eine andere einschlägige Frage soll, weil sie nicht 
unwichtig ist, hier wenigstens kurz berührt werden, ob- 
wohl es weit eingehenderer Erörterung bedürfte, um sie 



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2, Hälfte: Psychologie des Gemutslebeiu. 337 

genügend klarzustellen. Man sagt, nicht die Vorstellung 
dieser oder jener Art, nicht der fertige Gedanke sind 
Gefühls-, z. B. Lusterreger, sondern die psychische Be- 
tätigung ist es, worauf es aukonimt. Dem Schach- 
spieler erregt die geistige Tätigkeit des Spieles selber 
Lustgefühle und nicht die Vorstellungen und Gedanken, 
die er dabei hat, erregen sie ihm, geradeso wie dem Turner 
die Tätigkeit des Turnens und nicht etwa die Wahr- 
nehmung der einzelnen Körperbewegungen, die er aus- 
führt: Die Lust ist Funktionslust, nicht z. B. Vor- 
stellungslust. Besieht man sich jedoch den Zustand des 
Schachspielers, des Turners ganz im einzelnen, so gewahrt 
man, daß er bei seiner Tätigkeit nicht ein einheitlich 
beharrendes, sich über die ganze Tätigkeit erstreckendes 
Lustgefühl erlebt, sondern daß sich viele einzelne ver- 
schiedene Lustakte mit Unterbrechungen aneinanderreihen, 
und diese sind tatsächlich durch die Wahrnehmungen 
und Gedanken, in denen sich die Tätigkeit im Bewußt- 
sein abspielt, angeregt. Nimmt man sie alle zu dem Kom- 
plex zusammen, den sie in gewissem Sinne ja wirklich 
ausmachen, und nennt man diesen Komplex die Funktion, 
so kann man freilich von Funktionslust sprechen; aber 
sie ist dann doch nichts anderes als eine Aneinander- 
reihung von Vorstellungs- und Denkgefühlen, an denen 
die Funktion im eigentidchen Sinn des Wortes, in dem 
es mit „Prozeß'' gleichbedeutend ist, höchstens insofern 
wirksamen Anteil hat, als die Art des Ablaufs des psy- 
chischen Prozesses je nach Umständen das Subjekt für 
Lust oder Unlust emp&ngUcher macht. 

Die Frage, ob es vorkommt, daß Gefühle ohne einen 
im Bewußtsein vorfindlichen Anlaß auftreten, dürfte wohl, 
richtig verstanden, mit Nein zu beantworten sein. Denn 
die Erfahrungen, die zugunsten solcher „grundloser" Ge- 
fühle angeführt zu werden pflegen, sind in Wahrheit 
keine Instanzen dafür. Wenn man in fröhlicher Wein- 
laune alles lustig und freundlich findet und über alles 
lacht, so haben diese Lustgefühle auch ihre bestimmten 
einzelnen Anlässe im Bewußtsein, nur daß diese An- 
lässe an sich vielleicht so gleichgültiger Natur sind, daß 
sie zu anderen, zu normalen Zeiten nicht dazu imstande 
wären, Lustgefühle auszulösen, und dies nur in dem durch 



Witasf})^, Gri}ndl4x4en der Fsychplo^e. 



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338 n. Teil Spmelle F^chologie. 

die leichte Alkoholwirkung augenblicklich etwas ver- 
änderten Individuum vermögen; aber Anlässe, im Be- 
wußtsein vorhandene Teilursachen der Gefühle, sind sie 
dann eben doch. 

Nicht ohne Interesse ist es, daß auch unbemerkte 
Vorstellungen, vor allem uDbemerkte Empfindungen, als 
G^fühlserreger wirksam sein können. Man ist in normaler 
Stimmung und mit konzentrierter Aufmerksamkeit bei 
seiner Arbeit; plötzlich huscht ein Schatten der Unlust 
durch die Seele; man wird darauf aufmerksam und fragt 
sich, warum; und da merkt man, daß die Stimme eines 
verhaßten Menschen aus dem Nebenzimmer zu hören 
war. 

Zum Verständnis des praktischen Lebens bisweilen 
lehrreich ist eine Art von „Gefühlstäuschung''. Sie be- 
steht darin, daß, abweichend von der Norm, nach der eben 
die das Gefühl erregenden Vorstellungen oder Gedanken 
zugleich auch jene reale Verbindung mit dem Gefühle 
eingehen, vermöge welcher sie ihm den Gegenstand, auf 
den es gerichtet ist, vorhalten, sich zu dieser letzteren 
Punktion dem Gefühle andere Vorstellungen oder Ge- 
danken unterschieben, als die sind, die es als Teilursachen 
hervorgerufen haben. Ein einfaches Beispiel dafür gibt 
die Mutter ab, die in heftigen Zorn geraten ist, weil 
ihrem Töchterchen das Mißgeschick passiert, den Sonnen- 
schirm zu zerbrechen, dabei aber doch so tut und sich 
so fühlt, als wäre sie nur durch die Übertretung des Ver- 
botes, den Schirm zu nehmen, erzürnt. 

Von großer Wichtigkeit ist die Erforschung der 
Gesetze, nach denen sich die resultierende Gefühlswirkung 
bestimmt, wenn gleichzeitig in einem und demselben Be- 
wußtsein zwei od^r mehrere Gefühlserreger zur Geltung 
kommen. Schlagen die Erreger alle nach demselben Sinne, 
nach Lust oder nach Unlust aus, so ist die Frage: kommt 
es zu einer Summation ? wenn ja, wie groß ist die Summe ? 
wenn nein, wie beeinflussen einander die einzelnen Gefühls- 
stärken? Wirken die Erreger in entgegengesetztem Sinne, 
so daß der eine für sich allein Lust, der andere Unlust 
herbeiführen würde, so fragt es sich, ob und in welchen 
Fällen es zu einer Kompensation der Gefühle kommt, 
und, wenn nicht, was für ßfifühjs^ebilde isius dem gleich- 



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9. Hüfte: Fiyobologie dei Gemüidebeni. 339 

zeitigen Zusammenbestehen resultieren. Alle diese Fragen 
haben erst nur vorläufige Bearbeitung erfahren, und es 
empfiehlt üch daher nicht, an dieser Stelle näher auf 
sie einzugehen. (Lehmann, 1892.) 

ß) [Teilursachen außerhalb des Bewußtseins.] 
Daß die eben besprochenen, innerhalb des Bewußtseins 
liegenden Teilursachen der Oefühle nur Teilursachen 
und nichts weniger als die Oesamtursachen sind, geht mit 
größter Deutlichkeit daraus hervor, daß sie erfahrungs- 
gemäß für sich allein den Ausfall des Gefühles keines- 
wegs eindeutig bestimmen. Ein und derselbe Bewußt- 
seinsanlaß kann bei verschiedenen Individuen, ja selbst 
bei ein und demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten 
ganz verschiedene Gefühlswirkung haben. Es folgt dar- 
aus, daß auch noch außerhalb des Bewußtseins liegende 
Teilursachen im Subjekt vorhanden sein müssen, die wir, 
sofern sie von relativer Dauer sind, als G^fühlsdisposi- 
tionen, genauer Dispositionsgrundlagen, in Anspruch 
nehmen können. Die unterschiede im Gefühlsverhalten 
verschiedener Jndividuen, die wir als Unterschiede des 
Temperamentes und des Charakters, als Unterschiede von 
Geschmack und Neigungen kennen, ferner die zeitlichen 
Schwankungen und Veränderung^ im Gefühlsverhalten 
eines und desselben Individuums, die wir als Gemüts- 
stimmung bezeichnen, sind auf Bechnung der Beschaffen- 
heit dieser Dispositionen zu setzen. Auch was wir unter 
Leidenschaft zu verstehen pflegen, ist im Grunde nichts 
anderes als eine solche Disposition, nämlich eine Dis- 
position zu besonders intensiven, nachhaltigen und leicht 
anzuregenden Affekten, die sich auf einen bestinmiten 
Gegenstandskreis beziehen — nur daß auch noch Be- 
gehrungsdispositionen mit hinzugehören. 

Natur und Wesen der Gefühlsdispositionsgrundlagen 
zu bestimmen, wird vom Standpunkte der psychophysischen 
Wechselwirkungslehre wiederum auf die Suche nach ent- 
sprechenden Beschaffenheiten des Zentralnervensystemes 
führen ; über das Wenige, was hier beizubringen ist, wird 
unter dem Titel Theorie berichtet werden. Für den 
Parallelismus bietet diese Theorie die physischen Parallel- 
tatsachen zum Gefühl, während sich die Dispositionsgrund- 

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840 n« ^^* Spesielle Pfeyoliologie. 

lagen unter diesem Oesichtsponkte nicht näher bestimmen 

la^en. 

Über Ursprung und Erwerbung der Gefühlsdisposi- 
tionen ist zunächst zu sagen» daß sie, soiem es sich 
zunächst nur um die allgemeine Fähigkeit, überhaupt 
fühlen zu können, handelt, natürlich angeboren sind ; eine 
Differenzierung dieser allgemeinen Fähigkeit auf be- 
stimmte Gegenstände (Erreger) ist dagegen von Geburt 
an, wie es scheint, nur in geringem Ma£e, nämlich nur 
für einen kleinen Kreis von sinnUchen, hauptsächlich mit 
der Ernährung zusammenhängenden Gefühlen gegeben. 
Der vielfach zu beobachtenden Vererbung von speziellen 
Gemütsanlagen, Neigungen und Charaktereigentümlich- 
keiten liegt, sofern diese überhaupt als angeboren zu gelten 
haben, ursprünglich ein tieferer und allgemeinerer dis- 
positioneller Faktor zugrunde. 

Die weitere Differenzierung der allgemeinen Gefühls- 
disposition, mit andern Worten die Erwerbung von be- 
stimmten Gegenständen zugeordneten speziellen Gefühls- 
dispositionen, wie sie sich im individuellen Leben so 
tausendfältig vollzieht, ist Sache der Erziehung, der ethi- 
schen sowohl wie der ästhetischen, die durch die Menschen 
und durch die umgebenden Verhältnisse teils willkürlich, 
teils unwillkürlich zur Geltung kommt. 

Der psychologischen Wege, auf denen sich dieser 
Vorgang vollzieht, sind hauptsächlich drei zu nennen; 
es sind dies die drei wichtigsten Entstehungsmechanis- 
men von speziellen Gefühlsdispositionen. Der eine ist 
der Mechanismus der durch Assoziation oder sonstigen Zu- 
sammenhang der Gefühlsvoraussetzungen vermittelten Ge- 
fühlsübertragung. Ein Gegenstand, der mich an eine 
mir teuere Person erinnert, vielleicht weil ich ihn von ihr 
zum Andenken erhalten habe, wird mir gleichfalls lieb 
und wert, so wertlos er an sich auch sein mag. An einem 
Orte, an dem ich einmal eine recht widerwärtige Szene 
erlebt habe, beschleicht mich, wenn ich ihn wieder einmal 
betrete, sofort wieder ein leichtes Unbehagen, auch wenn 
ich mich jener Szene gar nicht ausdrücklich erinnere, 
hervorgerufen rein nur durch den Anblick des Ortes selbst 

Ein zweiter Mechanismus, der zur Entstehung spe- 
zieller Gefühlsdispositionen führt, ist die Gewohnheit, 



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2. Hälfte: Psychologie des GemütslebenB. 341 

Man gewöhnt sich im Laufe der Zeit an eine anfänglich 
ganz gleichgültige Tätigkeit, an im Anfang vielleicht sogar 
teilweise unerwünschte Verhältnisse in dem Grade, daß 
man sich nach und nach, wenn keine weitere Störung 
hinzukommt, in ihnen ganz behaglich fühlt, daß sie einem 
bis zu gewissem Grade lieb und wert werden, oder daß 
man zum mindesten ihr Aufhören störend und mißvergnüg- 
lich empfindet, so daß man sie dann, wenn es nur möglich 
ist, gern wieder aufsucht. 

Der dritte Mechanismus ist zwar der äußerlichste, 
darum aber nicht auch der unbedeutendste. Er beruht 
auf der unmittelbaren Wirkung des Beispieles, der Sug- 
gestion. Die Wahrnehmung einer Gefühlsäußerung ruft 
oft auch ein gleiches oder ähnliches Gefühl im Wahr- 
nehmenden hervor, und zwar dies um so eher, je deut- 
licher die Wahrnehmung durch das entsprechende Phan- 
tasiegefühl unterstüzt und von ihm begleitet ist ; das Phan- 
tasiegefühl geht leicht in das Emstgefühl über, besonders 
dann, wenn es selbst schon in höherem Maße miti ^^n 
zugehörigen Ausdrucksbewegungen versehen, also mit der 
eigenen physischen Eesonanz ausgestattet war. Lachen 
und Langweile stecken bekanntlich an, und man findet 
leicht auch selbst etwas wohlgefällig, was man einen 
andern ehrlich bewundem sieht. Wiederholen sich solche 
iUlle von suggestiv, durch Ansteckung oder Beispiel er- 
zeugter Gefühlsregung einem und demselben Gegenstande 
gegenüber oft genug, so wird schließlich der Gegenstand 
auch für sich allein, ohne Unterstüzung durch einen ak- 
tuellen Beispielsfall, das Gefühl auszulösen vermögen, und 
eine neue spezielle Gefühlsdisposition ist begründet. — 

Was die allmähliche Veränderung und zeitweilige 
Verschiebung einzelner spezieller Dispositionen anlangt, 
so ist gleichfalls hauptsächlich an drei Punkte zu er- 
innern. 

Der erste ist für das Verständnis des Stimmungs- 
wechsels von Belang und mag seinem Wesen nach zur 
Perseveration der reproduzierten Vorstellungen in Ana- 
logie gesetzt werden. Man beobachtet, daß ein aktuelles 
Gefühl bestimmten Charakters eine Tendenz begründet, 
nachdem es eben verschwunden ist, durch einen bald 
darauf kommenden anderen Anlaß wieder erregt zu werden, 

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342 n. Teil. SpeneHe P^oliologie. 

auch wenn dieser Anlaß sonst an und für sich nicht dazu 
geeignet wäre, eben dieses Gefühl za erregen. Der erste 
Eindbruck, den man in einer Oesellschaft erhält, bestimmt 
oft die Laune für den ganzen Abend; ist es ein jon- 
günstiger, ärgerlicher, so ist die Laune schon verdorben, 
manch anderer, sonst gleichgültiger Anlaß bereitet einem 
dann gleichfalls Mißvergnügen. Durch ein einziges wohl- 
angebrachtes Wort dagegen, das sicher freundlich und 
erheiternd wirkt, kann anderseits die Stimmung mit einem 
Schlag gehoben werden, so daß man freundlichen und 
heiteren Gefühlen besonders leicht zugänglich wird. — 
,Wir verstehen dabei unter „Stimmung'' einen mehr oder 
weniger variablen, dispositionellen Zustand des Subjektes, 
vermöge dessen seine speziellen Gefühlsdispositionen (die 
Dispositionen, mit denen es auf einzelne, bestimmte Er- 
reger emotional reagiert) in der Bichtung gegen ein be- 
stimmtes Gefühl, den Grundton der Stimmung, verschoben 
erscheinen. In heiterer Stinmiung erregen Anlässe, die 
unter sonst gleichen Umständen nur geringe oder vielleicht 
gar keine Lust hervorrufen würden, gesteigerte Heiterkeit 

Ein zweiter Pimkt betrifft (he Umstimmbarkeit 
selbst. Man kann konstatieren, daß sich die Stimmungen, 
genauer die Anlagen zum Erleiden eines Stimmungs- 
wechsels bestimmter Richtung, üben, d. h. daß, wer 
durch sein Schicksal besonders häufig in eine gewisse 
Stimmung gebracht wird, sich eine Prädisposition für 
eben diese Stimmung akquiriert, vermöge welcher er 
häufiger und leichter als sonst und als andere in 
diese Stimmung gerät. Der schwermütige Charakter 
ist nichts weiter als eine hochgradig gesteigerte Anlage 
zu trüben Stimmungen, und diese hochgradige Steigerung 
kann im Laufe des Lebens erworben werden; die Anlage 
zur Auslösung jener Umstimmungen, durch die die vor- 
handenen speziellen Gefühlsdispositionen mehr gegen die 
Seite der Unlust ansprechen, unterliegt der Übung. 

Die speziellen Gefühlsdispositionen selbst aber sind 
nicht der Übung zugänglich, sondern stumpfen sich in 
wiederholter Aktualisierung allmählich ab ; dies gilt sowohl 
für die Lust- wie für die Unlustdispositionen. Stete Ver- 
gnügung^Q und Genüsse derselben Art verlieren ihren 
Reiz, d. h. der gleiche Erreger bringt, wenn er sich ta oft 



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2. £rdlfte: Psychologie des Gemütdebens. 343 

einstellt, niur Lustgefühle in ron Fall zu Fall abnehmender 
Stärke zur Auslösung. Auch das größte Kunstwerk, das 
die ersten Male — nachdem man es ausreichend verstanden 
und in sich aufgenommen hat — das intensivste Oenuß- 
gefühl bereitet, wirkt allmählich schwächer. Dafür ver- 
liert aber auch das bitterste Mißgeschick, wenn es einem 
nur oft genug widerfährt,, zum Schlüsse seinen Stachel; 
der stets sich wiederholende ünlustOTreger löst, wenn er 
sich selbst wirklich genügend gleichbleibt, nach und nach 
immer schwächer und endlich gar nicht mehr Unlust 
aus, die spezielle Gefühlsdisposition hat sich abgestumpft, 
die Sache ist einem gleichgültig geworden: Die „Ge- 
wöhnung" hat ihr wohltätiges [Werk verrichtet. 

3. Theorie des Gefühles. 

Beim heutigen Zustande der Psychologie hat man 
nicht sowohl von der Theorie des Gefühles als vielmehr 
von verschiedenen Gefühlstheorien zu sprechen. Auch 
wenn von historischen Eückblicken Abstand genommen 
wird, bleibt noch eine ganze Reihe miteinander wett- 
eifernder Theorien zur Beachtung übrig. Es können daher 
im folgenden nur die allerwichtigsten, und auch diese nur 
in ihren Grundzügen vorgeführt werden. 

Die einzelnen Theorien gestalten sich hauptsächlich 
deshalb abweichend voneinander, weil sich die eine vor- 
wiegend auf diese, die andere vorwiegend auf jene unter 
den Erfahrungstatsachen gründet. 

Eine solche Tatsache ist es, daß die Gefühle in ^ihrem 
qualitativen und quantitativen Ausfall wesentlich durch 
die eben im Bewußtsein befindlichen. Vorstellungen und 
Gedanken sowie durch die Residuen früher vorhanden ge- 
wesener bestinunt sind. Mit Rücksicht darauf betrachtet 
eine Theorie das Gefühl als die Reaktionsweise des (durch 
Gegenwärtiges und Vergangenes bestimmten) Gesamtbe- 
wußtseins auf die in dasselbe neu eintretenden Empfindun- 
gen, Vorstellungen und Gedanken (Wundt); eine andere 
Theorie als die subjektive Weise, wie wir uns den Emp- 
findungen oder Vorstellungen gegenüber verhalten, kurz 
vielleicht als „Bestimmtheiten des unmittelbar erlebten 
Ich" (Lipps); eine dritte Theorie betrachtet das Gefühl 



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g44 ^' '^^T^ Spezielle Fiyoliologie« 

als die fördernde oder störende Wirkung, welche von den 
neu eintretenden Empfindungen usw. auf den Oesamtzu- 
stand des Bewußtseins ausgeübt wird (Ziegler). Hierzu 
wird die weitere Erfahrungstatsache in Eücksieht gezogen, 
daß die Gefühle durchaus an das Vorhandensein von Emp- 
findungen, Vorstellungen usw. (einer Voraussetzung) ge- 
bunden sind, und für die Theorie daraus der Schluß 
gezogen, daß der dem Gefühl zugeordnete physische Pro- 
^ß im Großhirn nicht etwa von den ^Sinnesorganen aus 
direkt angeregt wird, sondern als Bückwirkung einer durch 
die direkte (der Empfindung zugeordnete) primäre Er- 
regung in den Besiduen früherer Empfindungs- und Vor- 
stellungsprozesse hervorgerufenen sekundären Erregung 
auf diese primäre Erregung selbst angesehen werden muß ; 
gleichwohl sei als Ort der sekundären Erregung im Groß- 
hirn nicht das jeweilige Sinneszentrum, sondern ein ein- 
heitliches Zentralgebiet, wahrscheinlich das Stimhim zu 
denken. 

Von anderer Seite wird hauptsächlich die Tatsache 
der Theoriebildung zugrunde gelegt, daß alles Lust- 
erregende dem Organismus nützlich, alles Unlusterregende 
schädlich sei. Die Tatsache liegt allerdings nicht offen 
zutage und muß erst einerseits aus gewissen Erfahrungen 
und Voraussetzungen herausgelöst, anderseits gegen schein- 
bare Gegeninstanzen verteidigt werden. Jeder Gefühls- 
zustand erzeugt neben andern körperlichen Veränderungen 
auch Trieb- und Instinktbewegungen, und diese haben 
erfahrungsgemäß den Zweck, das Lusterregende festzu- 
halten, das ünlusterregende zu beseitigen; da nun die 
Trieb- und Instinktbewegungen wegen der tatsächlichen 
Erhaltung der Art und des Individuums dem Organismus 
förderlich sein müssen, so folgt, daß das Lustvolle nütz- 
lich, das ünlustvolle schädlich ist — allerdings nur in 
seiner unmittelbarsten, primären, nicht in der weiteren, 
sekundären Wirkung. Das Unlustgefühl, das den Ge- 
schmack einer bitteren Arznei begleitet, hat es lediglich 
mit deren Einwirkung auf das Sinnesorgan zu tun; die 
günstige Wirkung der Arznei auf den übrigen Organismus 
steht damit in gar keinem Zusammenhang. Lust entsteht 
also durch Übereinstimmung, Unlust durch einen Gtegen- 
satz zwischen den durch einen Beiz hervorgerufenen 



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d. Hälfte: Psycliologie des G-emutalebeiis. 346 

körperlichen Wirkungen und den Lebensbedingungen des 
Organismus. 

Wo spielen sich nun diese Prozesse der Uberein- 
stimmung und des Gegensatzes ab? Ein Gefühl ist nur 
dann möglich, wenn ein einem intellektuellen Bewußt- 
seinstatbestand (Vorstellung, Gedanke) zugeordneter phy- 
sischer Prozeß im Großhirn vor sich geht; Vorstellung 
und zugehöriges Gefühl sind durch keine merkbare Zeit 
getrennt, sondern setzen zugleich ein. Die natürliche An- 
nahme, die daraus folgt, ist: Dem Gefühl ist kein neuer, 
eigener physischer Gehimprozeß zugeordnet, sondern es ist 
nur der psychische Ausdruck einer bestimmten Eigenschaft 
des der Gefühlsvoraussetzung (der Vorstellung, dem Ge- 
danken) zugrunde liegenden physischen Gehirnprozesses; 
des näheren sind Lust und Unlust die psychischen Wirkun- 
gen des Verhältnisses zwischen dem von dem jeweils funk- 
tionierenden Großhimzellenkomplex verbrauchten Energie- 
(E[raft-)Quantum zu dem Quantum, das durch den er- 
nährenden Blutstrom zugeführt wird: herrscht Gleich- 
gewicht — der dem Organ nützliche Zustand — , so haben 
wir Lust, ist das Gleichgewicht in der einen oder andern 
Weise gestört, Unlust. (Lehmann, 1892.) 

Auch diese Ableitung erscheint indes nicht zwingend 
genug, daß ihr nicht selbst von dem Boden gleicher 
empirischer Grundüberzeugungen aus eine ihr durch- 
aus widersprechende andere Hypothese entgegengestellt 
worden wäre, die Hypothese eines anatomisch eigenen 
Gefühlszentrums im Großhirn, einer Bindenstelle mit be- 
sonderen Gefühlszellen, deren physiologisch besondere 
Funktion steigend der Lust, abnehmend der Unlust ent- 
spräche. (Thalbitzer, 1904.) 

Ja noch weiter wagt sich die Hypothesenbildung. 
Die Gefühle sind erfahrungsgemäß von Ausdrucksbewe- 
gungen begleitet. Daraus ist zu schließen, daß die durch 
die Sinnestätigkeit dem Gehirn zugeleitete Erregung, die 
zunächst den physiologischen Empfindungsprozeß im Ge- 
hirn einleitet, auch über diesen nächsten Prozeß auf 
andere Teile des Gehirns, vor allem auf die Auslöse- 
zentren der Bewegung hin ausstrahlt. Aber nicht darauf 
allein beschränkt sie sich, sondern die Energie diffundiert 
gleichsam mehr oder weniger durch das ganze Gehirn 

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346 n. Teil Spezi«U» Fiyohologie. 

und versetzt es in einen Zustand der Erschütterung, ähn- 
lich wie auch sonst bei jeder arbeitleistenden Maschine 
ein Teil ihrer Energie darauf verloren geht, daß die 
Maschine selbst in Schwankungen und Erzitterungen ver- 
setzt wird; und die Empfindung dieser Erschütterungen 
des Gehirns, also ein Komplex von aus dem Gehim 
stammenden Organ- oder Oemeinempfindungen sei das 
Gefühl. (SolUer, 1905.) 

Eine so große Mannigfaltigkeit von Meinungen findet 
man also vor — die Aufzählung könnte übrigens noch 
fortgesetzt werden — , wenn man die heutige Psychologie 
nach der Theorie des Gefühls befragt. Und dabei haben 
wir uns bei allem, was bisher vorgebracht worden ist, 
auf dem Boden der Grundüberzeugung gehalten, daß die 
Gefühle tatsächlich eine eigene Klasse eigenartiger psy- 
chischer Grundgebilde vorstellen. Nun müssen wir aber 
auch noch einen Blick werfen auf eine ganze zweite 
Hauptgruppe von Gefühlstheorien, die in der heutigen 
Psychologie eine sehr hervorragende Bolle spielen, jener 
Grundüberzeugung aber diametral entgegengesetzt sind. 
Die oben zuletzt besprochene Theorie bildet übrigens 
bereits einen Übergang zu dieser zweiten Hauptgruppe 
insofern, als Ausdrucksbewegungen und Empfindungen, 
die auch dort schon herangezogen erscheinen, hier zu 
den wesentlichen Grundlagen der theoretischen Auffassung 
des Gefühlstatbestandes erhoben sind. 

Damach liege kein Anlaß dazu vor, den Gefühlen 
eine eigene Grundklasse psychischer Gebilde zu vin- 
dizieren. Wenn man im konkreten Gesamtgefühl die Vor- 
aussetzung (Vorstellung, Gedanke) und das eigentliche 
Gefühlsmoment unterscheidet, so bestehe diese Unterschei- 
dung wohl zu Becht ; aber das Gefühlsmoment sei seiner 
Art nach selbst auch nichts anderes als Vorstellung, ge- 
nauer ein Komplex von Empfindungen. 

Diese Empfindungen näher zu bestimmen, wird an 
verschiedenes erinnert. Zunächst einmal an die mimischen 
und pantomimischen Ausdrucksbewegungen. Die Wahr- 
nehmung der plötzlich auftauchenden Gefahr ruft, indem 
die ihr entsprechende Erregung im Großhirn auf mo- 
torische Zentren überstrahlt, ganz unmittelbar und re- 
flektorisch jene Muskelinnervationen hervor, .welche 2u 



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3. Hüfte: Fiyoliologie des Gemfttdebem. 847 

den Ausdrucksbewegungen des Schrecks führen; diese 
Bewegungen lösen im Bewußtsein einen Komplex von kin- 
ästhetischen Empfindungen (S. 199) aus, und dieser Kom- 
plex ist es, was im psychischen Tatbestande des Schrecks 
als das Gefühl in Anspruch genommen wird. Nicht weil wir 
traurig sind, weinen wir; nicht weil wir uns fürchten, 
zittern wir; sondern umgekehrt: weil und sofern wir 
weinen, fühlen wir Trauer ; sofern wir zittern, fühlen wir 
Furcht. Sehen wir, etwa beim Affekte des Zorns, ab 
von den Empfindungen, die von den Wallungen des 
Blutes in der Brust und im Gesichte, von den Aushol- 
und Angriffsbewegungen der Arme, dem Fauchen der 
Nasenlöcher, dem Bimzeln der Stirne, dem Übereinander- 
beißen d^ Zähne herrühren, so bleibt nichts über als 
die emotional ganz unbetonte und gleichgültig hinge- 
nommene Vorstellung vom Gegenstand des Zornes. (James, 
1884, 1890, 1894.) 

Nach einer anderen speziellen Ausgestaltung dieses 
Grundgedankens sind es weniger die mimischen und panto- 
mimischen Ausdrucksbewegungen, auf die es ankommt, 
als die Störungen in der Innervation der Blutgefäßmus- 
keln. Diese Störungen haben Schwankungen in der Blut- 
versorgung des Gehirns zur Folge, die sich psychisch 
in den Anomalien des Vorstellungsverlaufes, wie er für 
Affekte charakteristisch ist, ausdrücken, aber auch Schwan- 
kungen in der Blutversorgung des ganzen übrigen Or- 
ganismus, so daß sich auch Besonderheiten in der In- 
nervation und Funktion der willkürlichen Muskeln und 
vor allem der Eingeweidemuskeln ergeben. Das Primäre 
sei also die Wirkung auf die vasomotorische (Blutgefäß-) 
Muskulatur ; das Gefühl sei im wesentlichen eine Erregung 
des vasomotorischen Zentrums und bestehe rein psychisch 
in nichts anderem als in Empfindungen, teils kinästheti- 
schen, teils vor allem Organempfindungen, die auf solche 
Weise im ganäsen Körper, hauptsächlich aber in den Brust- 
und Baucheingeweiden zustande kommen. (K. Lange, 
1887.) 

Man hat m jüngster Zeit vielfach versucht, diese 
Theorie durch experimentelle und pathologische Erfahrun- 
gen zu stützen. Am bemerkenswertesten sind davon die 
Beobachtungen über Fälle von sogenannte viszeraler An- 



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348 n. Teil. Spezielle Ftoychologie. 

ästhesie, d. h. Unempfiiidlichkeit der Eingeweide, die 
natürlich den Ausfall des größten Teiles der Organ- 
empfindungen zur Folge hat. Man will gefunden haben, 
daß solche Anästhesie Hand in Hand geht mit dem Verlust 
der Gefühlserregbarkeit, und sieht darin einen Beweis da- 
für, daß die Gefühle nichts anderes seien als derartige 
Organempfindungen. (d'Alonnes, 1905.) 

Übrigens stehen diesen Beobachtungen auch schon 
Gegenezperimente gegenüber. Vivisektorische Eingriffe 
an Hunden sollen ergeben haben, daß die affektive (G^- 
fühls-)Erregbarkeit erhalten bleibt, auch wenn die Nerren- 
Verbindung zwischen Brust-, Bauch- und Beckeneinge- 
weiden und dem Gehirn durchschnitten, die Organempfin- 
dungen von diesen Gegenden also in weitem Umfange aus- 
geschaltet waren. (Sherrington, 1900.) 

Man wird vorläufig weder diesem noch jenem Ex- 
perimente endgültige Stringenz zusprechen können; so- 
wohl die Tatsachen selbst wie auch deren Deutungen 
bedürfen noch weiterer Sicherstellung. Für jetzt ist die 
beste Basis zur Entscheidung des Streites zwischen den 
beiden Hauptfarmen der Gefühlstheorien immer noch die 
direkte Betrachtung der fraglichen psychischen Gebilde 
in der inneren Wahrnehmung. Und diese Betrachtung 
besagt erstens, daß die Gefühle im wesentlichen Gegen- 
satze zu den Empfindungen keine neuen, eigenen Inhalte 
haben, also, wenn sie ins Bewußtsein eintreten, das Be- 
wußtsein nicht auf einen neuen Gegenstand richten, um 
den Kantschen Ausdruck zu gebrauchen, daß sie „gar 
kein Erkenntnisstück werden'' können; und zweitens, daß 
sich die Gefühle nach Lust und Unlust scheiden, einem 
Gegensatze, den zu verstehen alle Möglichkeit benommen 
ist, wenn Lust und Unlust nichts anderes als Empfindun- 
gen sein sollen. 

Mag sein, daß mit diesen Daten der inneren Wahr- 
nehmung noch lange nicht das letzte Wort gesprochen 
ist. Mag sein, daß unserer direkten Betrachtung die Sach- 
lage einfacher erscheint, als sie in Wahrheit ist, und 
daß im Gefühlsmomente kein letztes Element, sondern 
etwas Zusammengesetztes gegeben ist, das seine wirk- 
liche Natur nur weiterer Analyse zu erkennen gibt; 
und daß die direkte innere Betrachtung noch zu stumpf 



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2. Hälfte: Biycholdgie des Gemütslebens. 349 

ist, um diese Analyse vorzunehmen. Dann müfite aber 
doch auf jeden Fall der Schein, in dem sich das 
Gefühlsmoment für unsere direkte Betrachtung dermalen 
darstellt, verständlich bleiben vom Standpunkte jedes hypo- 
thetischen Versuches zu einer solchen Analyse ; und diese 
Forderung erfüllen die Empfindungstheorien nicht. — 
Aber auch die Theorien der au dem, ersten Gruppe geben 
in ihrer hunten Mannigfaltigkeit, in ihren schroffen Gegen- 
sätzen ein Bild der ünzuverlässigkeit. Auch sie ent- 
halten des Problematischen noch so vieles, daß man den 
Eindruck bekommt, es fehle zum ersprießlichen Aufstellen 
einer Theorie derzeit noch allzusehr an sicherer Tatsachen- 
kenntnis, an exakter Empirie. Allererstes Erfordernis ist 
ja doch stets genaueste und vollständige Beschreibung des 
Gegebenen. Solange diese Forderung nicht erfüllt ist, 
bleibt jede Hypothesenbildung im günstigsten Falle un- 
sichere Vorarbeit. 

Diese Einsicht an einem deutlichen Beispiel eindring- 
lich darzustellen und ihre Wichtigkeit für alle Teile der 
psychologischen Forschung zur Einsicht zu bringen, war 
ausdrücklich Zweck unseres etwas ausführlicher gegebenen 
Berichtes über die Gefühlstheorien. 



2. Kapitel. 

Die Begehnmgen. 

Unter der allgemeinen Bezeichnung „Begehrungen" 
meinen wir jene Gruppe von psychischen Gebilden und 
Prozessen, als deren gleichsam vollständigste und ent- 
wickeltste Form der Akt des Wollens gelten kann. Es 
gehört demnach alles Wollen, Wünschen, Verlangen, Ver- 
abscheuen, Streben, Sehnen, Suchen und Fliehen unter 
diesen Titel. 

Die Psychologie der B^ehrungen — sofern sie feste 
Ergebnisse bieten, oder überhaupt nur auf strenge Wissen- 
schaftlichkeit Anspruch erheben will — steckt heute mehr 
noch als die der Gefühle in ihren ersten Anfängen. Sie 
ist kaum erheblich weiter gekommen als zur übersicht- 
lichen Aufstellung der Grundprobleme; denn selbst die 
Hauptfrage, von der in hohem MaUe die Behandlung 



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360 n. Teil Speiiell« B^diologie. 

dw meistm weiteren Fragen abhängt, nämlich die Frage, 
ob wir auch in den Begehrungen ein eig^iartiges, nicht 
weitw analysierbares, unzorückführbares psychisches Ele- 
ment, wie etwa den eigentlichen Gtefühlsfaktor in d^i 
Gefühlen, gegeben haben, ist so strittig, daß es bei der 
kaum übersehbaren Mannigfaltigkeit der Meinungen der- 
malen geradezu unmöglich ist, ihnen allen gerecht zu 
werden und, besonders bei der im Bahmen dieses Buches 
gebotenen Kürze, in kritischer Sichtung die richtige Ent- 
scheidung aus ihnen herauszulösen. Wir müssen uns da- 
her darauf beschränken, gerade nur die Haupttypen von 
den Lösungsversuchen nebeneinander zu yerzeichnen. 
Vorher aber ist es unerläßlich, das Wichtigste von den 
wenigen relativ festen Punkten aus der Beschreibung und 
Analyse der Begehrungen vorzubringen. 

a) [Zur Analyse und Beschreibung.] Wie die 
konkreten Gefühle, so sind auch die konkreten Begehrun- 
gen stets zusammengesetzte psychische Tatbestände, und 
zwar zusammengesetzt aus Grundgebilden verschiedener 
Art. Nehmen wir beliebige Beispiele her, etwa: Ich ent- 
schließe mich, eine Beise zu machen ; oder : Ich wünsche 
bessere Förderung der psychologischen Forschung; oder: 
Ich will schreiben, die Tür schließen — überall finden 
wir das auf den ersten Blick bestätigt. Woraus bestehen 
diese Komplexe? 

Am leichtesten erkennbar ist an ihnen die Beteiligung 
der Vorstellungen; seien sie mehr oder weniger augen- 
scheinlich vorhanden, auf jeden FaU sind sie unerläßlich 
schon zum Erfassen des begehrten Gegenstandes. 

Sie sind aber noch keineswegs alles, was von in- 
tellektuellem Psychischen in den Begehrungen ent- 
halten ist. Denn sie reichen nicht einmal noch dazu aus, 
der Begehrung ihr Ziel, auf das sie gerichtet ist, vorzu- 
halten. Denn geradeso wie jedes Gefühl ist auch jede 
Begehrung normalerweise auf einen Gegenstand, auf etwas 
Begehrtes, gerichtet, und dieses begehrte Etwas muß vom 
Subjekt in angemessener Weise erfaßt, „der Begehrung 
als Ziel vorgehalten" werden. Das aber, was begehrt wird, 
ist niemals eigentlich ein Objekt schlechtweg, sondern stets 
die Tatsächlichkeit, das Sein eines Objektes, also ein Ob- 



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3. HSlfte: Psychologie dei G'omütilebenB. 351 

jektiT (S. 281). Wenn ich sage, ich wünsche Geld, so ist das 
eine verkürzte Ausdrucks weise für: ich wünsche ,,Geld 
zu besitzen", oder für: ich wünsche, „daß ich Geld besitze", 
und der Daß-Satz sowie der Infinitiv bedeuten hier und 
sonst die (angenommene oder geglaubte) Tatsache, das 
Objektiv. Da nun dieses Objektiv, eben weil es erst 
begehrt wird, nicht schon als wirkliche Tatsache gedacht 
sein kann, so ist es, wie ja auch die innere Wahrnehmung 
erkennen läßt, der Begehrung nur annahmeweise vor- 
gehalten ; mit anderen Worten : zu jeder Begehrung gehört 
eine Annahme, in d&: der Begehrungsgegenstand, das 
Ziel der Begehrung erfaßt wird. — Wii^ das Begehren 
erfüllt, erreicht der Wunsch sein Ziel, so geht diese An- 
nahme in das Urteil (die Überzeugung) mit gleichem Ob- 
jektiv über. (Meinong, 1902.) 

Nun ist aber diese Annahme noch in einer zweiten 
Beziehung für den komplexen Tatbestand des Begehrens 
von Belang : Sie ist Voraussetzung für ein Fhantasiegef ühl, 
und zwarPhimtasielustgefühl, das in größerer oder gerin- 
gerer Intensität in jedem Wünschen, Verlangen, kurz jedem 
Begehren enthalten ist. Das Begehrte muß gedacht sein, 
und der Gedanke an das Begehrte, der Gedanke der 
Tatsächlichkeit des Begehrten ist lustvoll; da aber diese 
Lust einstweilen nur Fingiertes, nicht Wirkliches zum 
Gegenstande hat, so ist sie nicht Emstgefühl, sondern nur 
Phantasi^efühl. 

Dieses Phantasiegefühl wandelt sich normalerweise 
sofort in das entsprechende Ernstgefühl, und das Gefühl 
der Befriedigung, die Lust des erreichten Zieles tritt ein, 
sobald dem Begehren Erfüllung wird, die Annahme in 
das Urteil gleichen Objektives übergeht. Freilich kommen 
auch Fälle vor, in denen nach Erfüllung des Begehrens 
das Urteil nicht dazu imstande ist, das in der Phantasie 
gleichsam erwartete Lustgefühl nun ernsthaft auszulösen ; 
man ist enttäuscht, entweder, weil die nunmehr erreichte 
Wirklichkeit der dem Begehren vorgehaltenen Fiktion doch 
nicht so ganz entspricht, oder, weil die eigenen Gefühls- 
dispositionen der Wirklichkeit g^enüber tateächUch anders 
ansprechen, oder schließlich, weil durch das in der Be- 
gehruDg enthaltene Phantasiegefühl die zugehörige Ge- 
fühlsdisposition bereits abgestumpft worden ist. 



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352 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

Neben» oder vielleicht eher alternierend mit dem 
Phantasielastgefühl ist aber auch noch ein Ernstgefühl, 
und zwar der Unlust, an der B^ehrung beteiligt; nur 
wird man nicht sagen können, dkß es in jedem Falle 
gleich intensiv und deutlich hervortritt. Gegenstand der 
Unlust ist irgend etwas aus dem g^enwäxtigen tat- 
sachlichen Zustande; z. B. der Straßenlärm» der störend 
in meine Stube eindringt und mich zu dem Entschloß 
veranlaßt, das Fenster zu schließen. 

Alle diese Gefühlstatbestände nun, die man gewiß in 
irgend einem Sinne als zum Gesamtkomplex der Begehrung 
gehörig ansehen muß, haben selbstverständlich geradeso 
wie die Gefühle auch sonst Ausdrucksbewegungen sowie 
die übrigen körperlichen Begleiterscheinungen im Gefolge ; 
so sind auch die zugehörigen Bewegungs- und Organ- 
empfindungen mit ein Bestandteil der konkreten Be- 
gehrung. Dazu dürften in den meisten Fällen auch noch 
Empfindungen von speziell zur Erreichung des gewollten 
Zweckes geeigneten Muskelanspannungen hinzukommen, 
Empfindungen von vorbereitenden Einstellungen der zur 
Aktion bestimmten willkürlichen Muskeln sowie von der 
Anspannung der im Dienste der Aufmerksamkeit stehenden 
Mimik — Iworauf jener gewisse Charakter der Gespanntheit, 
der den Begehrungen anhaftet, zum Teil zurückzu- 
führen ist. 

Damit ist die Analyse des komplexen Begehrungs- 
tatbestandes in ihren gröbsten Grundzügen — innerhsdb 
gewisser Grenzen der Variabilität allgemein gültig — 
bis an jenen Funkt fortgeführt, an dem, strenge genommen, 
die Hauptfrage wurzelt. Wir haben bis jetzt im Be- 
gehrungstatbestande Vorstellungen aller Art, Gedanken, 
Gefühle enthalten gefunden: Ist er nun lediglich ein 
eigenartiger Komplex aus diesen Elementen und nichts 
weiter, oder sind diese Elemente nur die begleitenden und 
konkret ausgestaltenden Nebenumstände zu einem neuen, 
eigenen, elementaren Grundgebilde, das, wie der eigent- 
liche Gefühlsfaktor in den Gefühlen, seinerseits erst das 
Wesentliche des Begehrens ausmacht und das daher stets 
aktuell — und natürlich in realer Verbindung mit den 
übrigen eben aufgezählten — im Bewußtsein des Subjekte^ 
vorhanden ist, wenn dieses ein Begehrw erlebt? 



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2. Hälfte: Psychologie des Gemutslebens. 353 

Noch muß zur richtigen Würdigung dieser Frage 
jener Varietäten gedacht werden, die einen solchen Kern 
des Begehrungstatbestandes direkt und unmittelbar zu be- 
treffen scheinen. Es sind dies zunächst die Unterschiede 
der Qualität: Verlangen — Verabscheuen, oder auch mit 
andern Worten Streben — Widerstreben, Wollen — Nicht- 
wollen (nolle); Unterschiede, die in einer gewissen Ana- 
logie zur Affirmation und Negation des Urteilens stehen, 
die ein beiderseits aktives und aktuelles psychisches Be- 
gehrungsverhalten des Subjektes dem Gegenstande gegen- 
über bedeuten. Denn das Widerstreben ist keineswegs bloß 
positives Erstreben oder Verlangen der Abwesenheit des 
Gegenstandes oder gar nur völliges Fehlen alles Begehrens. 
— Ferner die Unterschiede der Intensität, die freilich viel 
weniger klar sind als die qualitativen. Hat man den 
Unterschied zwischen Wünschen und aktuellem Wollen 
für einen solchen der Intensität zu nehmen? Oder wider- 
sprechen dem vielleicht schon die unbestreitbaren Intensi- 
tätsgrade, nach denen sich ein leiser Wunsch von einem 
intensiven unterscheidet? Und gehören nicht auch hier- 
her die Gegensätze von starkem, kräftigem, energischem, 
festem Wollen zu schwachem, wankelmütigem, energie- 
losem? Alle diese Fragen harren dermalen noch der 
strengen, allseits befriedigenden Lösung; jedoch wie dem 
auch sei, für alle Fälle deuten sie auf Variationen hin, 
die dem Begehren als solchem zugehören, und nicht einem 
einzelnen der Neben- oder Teilumstände. 

ß) [Hauptfrage.] Was nun die Beantwortung der 
oben formulierten Hauptfrage anlangt, so ist bereits be- 
merkt worden, daß sie eine Erledigung in kurzem Wege 
derzeit nicht zuläßt, und daß selbst eine kritische Würdi- 
gung der zahlreichen Lösung^versuche, die die heutige 
Psychologie aufweist, viel zu weitläufig werden müßte. 
Nur auf folgendes sei ausdrücklich hingewiesen. Das 
Eigenartige und Wesentliche der Begehrungen ist viel- 
leicht am Wünschen leichter zu erkennen als am Wollen, 
weil es dort gleichsam in einen beharrenden Zustand 
auseinandergezogen ist, wätu-end es da, verschiedene 
Stadien der Entwicklung rasch durchlaufend, in wenigen 
Augenblicken vorübergeht. Man vergegenwärtige sich 

Witasek, GruncUinien der Psychologie. 23 

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354 n. Teil. Spezielle Psychologie. 

nun einen solchen Zustand intensiven Wünschens. Ganz 
unverkennbar steckt darin ein wesentlicher Kern, der sich 
kaum restlos, nur schwer und widerstrebend in Empfindun- 
gen, Vorstellungen, Gedanken oder Gefühle auflösen laßt, 
ein Moment, das einer direkten Beschreibung nicht recht 
zugänglich ist, das man daher nur metaphorisch als eine 
Art von Entwicklung gegen den gewünschten Gegenstand 
hin, als ein geistiges sich nach ihm hin Bewegen be- 
zeichnen kann. Dieser eig^itümliche entwicklungs- oder 
bewegungsartige Faktor steht, genau besehen, in "Wider- 
spruch mit dem Charakter der blofien Gefühle ; Lust und 
Unlust sind wohl auch ihrem Gegenstande zugewandt, 
aber sie machen vergleichsweise einen Zustand der Buhe 
aus, einen Zustand des dem Gegenstande bloß Gegenüb^- 
gestelltseins, nicht des sich nach ihm hin Bewegens. Des- 
halb hat man von jenen Theorien des Begehrens, die dieses 
ledigUch als einen Komplex von Gefühlen auffassen, leicht 
den Eindruck, daß sie gerade die Hauptsache schuldig 
bleiben. Dies gilt z. B. vom sogenannten Gesetz der 
„relativen Glücksförderung" (Ehrenfels, 1887), nach 
welchem wir unter "Wunsch nichts weiter zu verstehen 
hätten, als eine glückfördemde (» lustbetonte) Vorstellung 
von der Verwirklichung eines Gegenstandes, die sich eben 
deshalb, weil sie glückfördemd ist, im Kampfe um die 
Enge des Bewußtseins gegen andere Vorstellungen be- 
hauptet; oder auch von der Wundtschen Lehre, daß eine 
"WiUenshandlung nur in einer durch einen Affekt vor- 
bereiteten und ihn plötzlich beendenden Veränderung der 
Vorstellungs- und Gefühlslage bestehe. Das gleiche gilt 
aber auch von jenen Analysenversuchen, nach denen Vor- 
stellungen und Empfindungen eine wesentlichere Bolle 
zukommt. So z. B., wenn das Streben als ein Komplex 
von mehr oder weniger lebhaften Organempfindungen, teils 
peripherisch, teils zentral erregten Spannungs-(Sehnen-) 
und Gelenksempfindungen hingestellt wird, die in ihrer 
Stärke mit der größeren oder geringeren Intensität der 
Strebungen parallel gingen (Külpe, 1893) ; oder auch, wenn 
man zusammen mit den verschiedenen am Wollen be- 
teiligten Gefühlen noch die geistige Vorwegnahme dnes 
Endgliedes der empfundenen Tätigkeiten, also den Ge- 
danken an das Wollungsziel, eine besondere Bolle spielen 



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2* HfOfte: Psychologie des Gemütslebens. 3|}5 

läfit (Ebbinghaus, 1902) ; oder auch, wenn man im rWissen 
um das Bestehen einer das psychische Geschehen determi- 
nierenden Tendenz das Wesen des Begehrens erblickt 
(Ach, 1905). Alle diese Analysenversuche mögen wichtige 
und wesentliche Momente am Tatbestande des Begehrens 
treffend beleuchten. Gerade aber jener wesentlichste Kern, 
jenes geistige sich nach dem Ziele hin Bewegen, scheint 
ihnen allen zu entgehen, gerade dieses wesentlichste Mo- 
ment bleibt aus, wenn man genau nach ihren Angaben 
es unternimmt, sich einen Begehrungsvorgang ün Geiste 
aufzubauen. Es mag immerhin sein, daß der eine oder 
der andere der vorgeführten Versuche am rechten Wege 
zum Ziele strebt; am Ziele selbst ist wohl noch keiner, 
und es wird exakterer Mittel, als gegenwärtig zur Ver- 
fügung stehen, bedürfen, es endgültig zu erreichen, — was 
freilich geradeso gut auch von der Ejritik zu gelten hat. 
Vorläufig aber ist es Tatsache, daß keiner der verschiede- 
nen Zurückführungsversuche deutlich genug an's Wesent- 
liche der Begehrungen faßt, so daß man immerhin sehr 
mit der Möglichkeit zu rechnen hat, daß dieses Wesent- 
liche eben in einem unzurückführbaren Bewußtseins- 
element, einem eigenen psychischen Grundgebilde liegt. 

i) [Ursachen.] Geradeso wie sonst müssen wir auch 
hier, bei der Suche nach den Ursachen der aktuellen Be- 
gehrungen, wieder unterscheiden zwischen Teilursachen, 
die in das Bewußtsein fallen, die also psychische Gebilde 
sind, und solchen, die außerhalb des Bewußtseins bleiben, 
somit am natürlichsten als Dispositionsgrundlagen, vom 
Standpunkte der Wechselwirkungslehre als identisch mit 
Eigenschaften des Zentralnervensystemes angesprochen 
werden können. 

Zu den innerhalb des Bewußtseins liegenden Ur- 
sachen gehört fast alles, was oben gelegentlich der 
Analyse des Begehrungstatbestandes als auch noch in 
diesem selbst enthalten zu konstatieren war. Es braucht 
uns dieser Sachverhalt nicht verwunderlich oder gar 
widersinnig zu erscheinen. Die einzelnen, vorerst außer- 
halb des in der Begehrungstatsache gegebenen Zu- 
sammenhanges stehenden psychischen Gebilde wirken 
als Teilursache dahin, daß sich der entsprechende gegen- 

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856 n. Teil Spezielle Psychologie. 

seitige ZusammenschluB zur Begehrungstatsache ent- 
wickelt, oder, falls wir einen eigenen Begehrungsfaktor 
annehmen wollen, dahin, daß dieser Begehrungsfaktor aus- 
gelöst wird und die entsprechende reale Verbindung mit 
ihnen eingeht. Des näheren ist als derartige bewußte Teil- 
ursache zu nennen vor allem die Vorstellung und Annahme 
des späterhin zum Begehrungsziel werdenden Gegen- 
standes; jene Annahme, von der wir wissen, daß sie 
lustbetont ist, so daß wir das Phantasiegefühl, dem sie 
als Voraussetzung dient, gleichfalls als eine der Teil- 
ursachen ansehen werden müssen. Mit gleichem Becht 
wird aber auch das Unlustgefühl über den tatsächlichen 
g^enwärtigen Zustand (siehe oben) ebenfalls als eine der 
^Wurzeln anzusehen sein, aus denen der fertige Begehrungs- 
akt hervorgeht. Damit sind aber auch schon die wich- 
tigsten der bewußten Teilursachen des Begehrens, oder, 
wie wir den Ausdruck verstehen dürfen, der Motive des 
Begehrens aufgezeigt. 

Formuliert man die Tatsache dieser Motive in ihren 
Beziehungen zueinander und zum Begehrungsgegenstande, 
so erhält man sogenannte Motivationsgesetze, und zwar 
diejenigen allgemeinsten Inhaltes. Es sind dies etwa fol- 
gende vier (Höfler, 1897): 1. Man kann nur begehren, 
was Gegenstand einer Annahme sein kann. (Kausale Ab- 
hängigkeit vom Vorstellen und Annehmen.) 2. Man kann 
nichts wollen (wünschen wohl), dessen Verwirklichung 
durch das Wollen man für unmöglich hält. (Kausale Ab- 
hängigkeit vom Urteilen.) 3. Man kann nur begehren, 
was in der Annahme Gegenstand eines (Phantasie-)"Wert- 
gefühles ist. (Kausale Abhängigkeit vom Fühlen.) 4. Man 
kann nichts wollen (wünschen wohl), was mit dem Gegen- 
stande einer gleichzeitig vorhandenen anderen "Wollung 
in Widerspruch steht, anders ausgedrückt: zwei mitein- 
ander unverträgliche Objektive können nicht gleichzeitig 
Gegenstand des Wollens ein und desselben Subjektes sein. 

So bilden diese Motivationsgesetze einen Teil eines 
allerersten Anfanges zu genauerer, wenn auch noch 
nicht exakter Kenntnis des Kausalzusammenhanges, der 
zwischen den Begehrungen und dem übrigen psychischen 
Leben besteht. — 

Über die außerhalb des Bewußtseins liegenden Teil- 

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2. Hälfte: l^chologie des Gemütalebeiifl. 357 

Ursachen des Begehrens, die Begehrungsdispositionen, ist 
ein gesichertes Wissen von auch nur einigermaßen mehr 
als selbstverständlichem Charakter so lange unerreichbar, 
als nicht die Analyse des aktuellen, bewußten Begehrungs- 
tatbestandes wenigstens in den Grundzügen feststeht. Denn 
vom Ausfall dieser Analyse hängt es natürlich ab, ob über- 
haupt von eigenen Begehrungsdispositionen zu sprechen 
ist oder ob sie nicht vielleicht sämtlich mit Qefühlsdis- 
positionen zusammenfallen. Daß nämlich die Gefühlsdis- 
positionen des Subjektes auf jeden Fall in weitestem Aus- 
maße für die Gestaltung seiner Begehrungen von Belang 
sind, geht schon aus dem verschiedenartigen Anteil, den 
die aU;uellen Gefühle an den Begehrungen haben, un- 
zweifelhaft hervor. Es kommt aber auch darin zum Aus- 
druck, daß sich in unserer Sprache mehrfach zur Be- 
zeichnung von Dispositionen dienwide Wörter finden, die 
ebensowohl auf das Fühlen wie auf das Begehren an- 
wendbar sind. Einer der wichtigsten hierher gehörigen 
Ausdrücke ist das Wort „Charakter". Der Charakter eines 
Menschen äußert sich ebensosehr in seinen Gefühlen als 
auch in seinen Willenshandlungen; er ist ein Komplex 
von Dispositionen, die zur einen sowohl wie zur andern 
Art von psychischen Äußerungen gehören. -Gerade an 
diesem Beispiele wird es uns übrigens zugleich auch klar, 
welch' ernste und für die gesamte Menschheit hoch 
bedeutsame Probleme sich an die psychologische Er- 
forschung der Begehrungsdispositionen knüpfen.. Sind 
doch die Grundfragen der Erziehung, die Fragen über 
Vererbung und Angeborenhftit des Charakters, über Ver- 
änderlichkeit und Bildsamkeit des Charakters und deren 
Grenzen nichts weiter als Fragen nach dem Ursprung, 
der Begründung und Erwerbung, der Übung und Ab- 
stumpfung von Begehrungs- und wohl auch Gefühlsdis- 
positionen. 

b) [Wirkungen.] Wir werden uns auf die Betrach- 
tung der Wirkungen des WoUens, und auch da nur 
auf die der unmittelbaren, beschränken. 

Als solche sind — die Umdeutung im Sinne des 
psychophysichen Parallelismus vorgesehen — ihrer 
zweierlei zu unterscheiden: Unmittelbare Wirkung des 



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358 ^ TeiL Spenelle Psychologie. 

"Willens ist entweder das Auftreten einer physischen oder 
das einer psychischen Tatsache. 

Von den psychischen Wirkungen war b^eits an 
anderer Stelle die Bede. Sie sind gegeben in der 30- 
genannten willkürUchen Vorstellungsverbindung und in 
den Leistungen der willkürlichen Aufmerksamkeit Außer- 
dem ist hier auch noch des Einflusses zu gedenken, den 
der Wille auf Auslösung und Verlauf der Vorstellungs- 
produktion zu nehmen vermag, und es erscheint fra^ch, 
ob damit bereits alles genannt ist, wodurch der Wille 
seine wenn auch nichts weniger als unbeschränkte, so 
doch zweifellos bestehende Herrschaft über den Verlauf 
des Denkens zur Geltung bringt, oder ob ihm nicht neben 
diesen indirekten auch noch eine direkte, unmittelbare Ein- 
fluBnahme auf dasselbe zusteht. Was dagegen die Gefühle 
anlangt, so scheint es wohl sicher, daß sie seiner direkten 
Machtsphäre entzogen sind. 

Die unmittelbaren physischen Wirkungen sind stets 
Bewegungen von Körperteilen, vorwiegend der Extremi- 
täten. Sie stellen sich zunächst als Abschluß von voll- 
entwickelten Willensvorgängen dar, in denen besonders 
die die Bewegung vorwegnehmende reproduzierte Vor- 
stellung ihres kinästhetischen Bewegungseindruckes von 
großer Bedeutung ist ; diese Vorstellung hält dem Willens- 
akte gleichsam das Ziel vor, das er zu verwirklichen hat. 

Aber nicht alle Bewegungen der dem Willen unter 
Umständen zugänglichen sogenannten willkürlichen Mus- 
kulatur sind auch willkürliche Bewegungen, Es vollzieht 
sich hier etwas, das entsprechenden Vorgängen auf dem 
Gebiete des Vorstellungslebens gan^ analog ist und das 
sich unserem mehrfach bereits erprobten Grundgesetze 
unterordnet, demzufolge psychische Tätigkeiten, wenn sie 
sich häufig wiederholen, die Tendenz haben, sich nach 
und nach in psychische Vorgänge zu verwandeln. Gerade- 
so wie der zunächst durch Willensanstrengung herbei- 
geführte Übergang von einer bestimmten Vorstellung auf 
eine bestimmte andere bei wiederholtem Vollzug all* 
mählich eine ganz unwillkürlich wirksame assoziative Ver- 
bindung zwischen ihnen begründet, geradeso wird auch 
aus der oft wiederholten willkürlichen Bewegung nach 
und nach eine unwillkürliche, indem die Wavnehmuag, 



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d. Hälfte: Psychologie dea GemUtdebeni. 3S9 

die etwa anfangs als Motiv des Willens wirksam war 
und nur mit dessen Hilfe die Bewegung herbeigeführt 
hat, schließlich für sich allein genügt, die gleiche — 
dann aber unwillkürliche — Bewegung auszulösen. Wir 
weichen beim Qehen auf der Straße ganz automatisch 
dem auf dem Boden im Wege liegenden Steine mit dem 
Fuße aus — ganz ohne besonderen Willensakt Ursache : 
ein Sinneseindruck, Wirkung: eine — meist zweckmäßig 
abgepaßte — Bewegung. Man nennt solche Bewegungen 
Reflexbewegungen und kennt deren eine große Menge, 
die sich nach allerlei Modifikationen im einzelnen noch 
in verschiedene Arten sondert, darunter ungemein viele, 
die sich ganz stereotyp fast allgemein bei jedem Indivi- 
duum finden. Es ist eine vieldiskutierte Frage der Psycho- 
logie des Willens und der Bewegungen, ob aUe Beflezbewe- 
gungen, die wir kennen, sich aus ursprünglich willkür- 
lichen Bewegungen entwickelt haben, oder ob nicht viel- 
mehr umgekehrt die Reflexbewegungen als das allgemein 
Ursprüngliche anzusehn sind und sich aus ihnen, gleich- 
sam dm:ch eine Art Zerdehnung des Prozesses, die wiU- 
kürlicben Bewegungen, ja gar das Wollen überhaupt ent- 
wickelt haben. Die Walurheit dürfte, was nur andeutungs- 
weise hinzugefügt sein mag, so ziemlich in der Mitte 
liegen, das heißt in diesem Falle weder schlechtweg da 
noch schlechtweg dort. 

e) [Verlauf.] In der konkreten Begehrungstatsache 
sind, wie wir gesehen haben, eine ganze Beihe verschie- 
dener psychischer Teiltatbestände zu einem Ganzen ver- 
einigt. Die Art der Verbindung und Aufeinanderfolge 
dieser Teiltatbestände ist nun nicht immer dieselbe, und 
es ergeben sich daraus mancherlei bemerkenswerte Modi- 
fikationen des Begehrungsverlaufes, deren an dieser Stelle 
kurz gedacht sein mag. 

Die markantesten Teilmomente des Begehrungstat- 
bestandes sind einerseits der Gedanke, der in der fertigen 
Begehrung ihr Ziel, vorher gleichsam das Begehrungs- 
projekt eiSaßt und zu Bewußtsein bringt und im weiteren 
Verlauf zusiunmen mit seiner Gefühlsbetonung als Motiv 
wirksam wird; anderseits der spezifische Begehrungs- 
(Wollungs-)Akt selbst, der sich an jenen Gedanken erst 



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ggÖ tt. I'eil. Spezielle i^syctiologie» 

noch anschließen maß, um die B^elunmg zu konstituieren, 
und von d^n es auch hier wieder dahingestellt bleiben 
kann, ob er ein eigenartiges psychisches Element ist oder 
nicht. '' 

Die Begel ist nun, daß der Projektgedanke Torangeht, 
zum Motiv wird und den Wollungsakt auslöst. Liegen 
ursprünglich zwei oder mehrere miteinander unverträg- 
liche Projekte vor, so kommt es zunächst zur Wahl, das 
heißt, die einander widersprechenden Motive hemmen sich 
gegenseitig in ihrer kausierenden Kraft auf den Be- 
gehrungsakt; je nach den jeweils im Bewußtsein auf- 
suchenden gedanklichen und emotionalen Hilfen bringt 
bald das eine, bald das andere der konkurrierenden Motive 
eine mehr oder weniger intensive, aber immer noch 
unzureichende Begehrung zur Auslösung, bis endlich eines 
unter ihnen genügend Hilfen findet, die von den andern 
ausgehenden Hemmungen überwindet und den vollen Be- 
gehrungsakt kausiert, d. i. die Entscheidung herbeiführt. 

Es kann aber auch zu einer gewissen Umkehrung 
dieser normalen Keihenfolge kommen. Dann wird der 
Wollungszielgedanke erst nachträglich, nachdem der 
Wollungsakt bereits erfolgt ist, zu der erforderlichen all- 
seitigen Bestimmtheit und Vollständigkeit gefördert, wäh- 
rend sich der Wollungsakt selbst mit einer zunächst nur 
allgemeinen oder sonstwie unbestimmten Zielvorstellung 
zu begnügen hat. Dieser Fall ist gegeben, wo ein Ent- 
schluß gefaßt wird, dessen konkrete spezielle Ausgestaltung 
von erst später eintretenden, in ihrer näheren Beschaffen- 
heit noch unbekannten Umständen abhängt. Zum Beispiel : 
Ich nehme mir beim Antritt einer Gletschertour im Hoch- 
gebirge, vielleicht weil ich bei einem ähnlichen Unter- 
nehmen früher einmal durch Unvorsichtigkeit in Lebens- 
gefahr geraten bin, vor, nunmehr die äußerste Vorsicht 
walten zu lassen. Das ist ein Willensakt mit vorläufig 
nur allgemein, unvollständig, noch nicht im einzelnen be- 
stimmtem Gegenstande. Erst später an Ort und Stelle, 
bei Schritt und Tritt können die erforderlichen Bewegun- 
gen vollständig, anschaulich und konkret zur Vorstellung 
kommen und rufen infolge der Nachwirkung jenes 
Wollungsaktes die entsprechenden Innervationen und 
(Jliedbewegungen hervor, Bewegungen, die, obgleich der 



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a. Hälfte: Piycliologie des GemntslebenB. 361 

zugehörige Wollungsakt als solcher längst vorüber ist 
und nur noch nachwirkt, dennoch als durchaus willkürliche 
gelten müssen, und die in ihrer speziellen Bestimmtheit 
den Bahnen folgen, die ihnen von den nachträglich ein- 
tretenden Vorstellungen gewiesen werden. 

Der spezifische Willensakt und die zugehörige all- 
seitig ausgestaltete WoUungszielvorstellung können also 
zeitlich voneinander abliegen. So kommt es, daß viele 
Bewegungen, für sich isoliert betrachtet, als unwillkürliche 
erscheinen, während sie doch in Wahrheit Willens- 
bewegungen sind, nur daß der Willensakt schon weit vor- 
ausgegangen ist und sich vielleicht auch nicht gerade 
nur auf diese einzige Bewegung beziehen mochte. Der 
Musiker setzt ^ich mit der Absicht (dem Entschluß, 
WiUensakt) zu spielen ans Klavier; er beginnt, und die 
Finger folgen nunmehr ganz automatisch den durch den 
Anblick der Noten und die sich daranschließenden kin- 
ästhetischen Vorstellungen vorgezeichneten Bewegungs- 
bahnen. Ist der im Willensakt gesetzte Bewegungsimpuls 
da, so gestaltet sich die zustande kommende Bewegung 
nach der nächsten, genügend kräftigen und womöglich 
anschaulichen Bewegungsvorstellung; kommt diese durch 
äußere Wahrnehmung zustande, etwa beim Anblick einer 
zweiten Person, so werden deren Bewegungen nachgeahmt, 
auch ohne daß der vorausgegangene Willensimpuls gerade 
schon auf diese Bewegung gerichtet gewesen wäre, also 
gewissermaßen unbeabsichtigt. Zu ganz unwillkürlicher 
Nachahmung kommt es auf diesem Wege, wenn der vor- 
ausliegende allgemeine Bewegungsimpuls, wie es im 
frühen kindlichen Lebensalter zu beobachten ist, nicht in 
einem Willensakt, sondern in rein körperlichen Muskel- 
reizungsvorgängen besteht. — Der zeitliche Abstand 
zwischen Willensakt und endgültiger Determination des- 
selben durch die später erst vollständig werdenden, spe- 
zialisierten Bewegungsvorstellungen hat es auch zur Folge, 
daß sich der durch den Willensakt gesetzte Bewegungs- 
impuls unter Umständen auch einmal in andere Be- 
wegungsbahnen ergießt und andere Bewegungen auslöst, 
als die sind, für die er ursprünglich, wenn auch nur in 
allgemeinen Umrissen bestimmt war ; nämlich dann, wenn 
sich in dieser Zwischenzeit eine andere Bewegungsvor- 

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362 n. Teil. l^|»ezieUe Ptychologio. 

Stellung kräftig genug aufdrängt, um den Bewegung 
Impuls von der ursprünglichen abzulenken. Ich erhel 
mich Tom Schreibtisch und trete ans Bücherregal, um mir 
ein Buch herabzunehmen, greife aber mit der empor- 
iangenden Hand unversehens statt nach dem Buche nach 
der daneben befindlichen Gaslampe und verlösche sie — 
weil ich eben den Diener im Nebenzimmer die Lampen ab- 
drehen sehe. Oder ich gehe meinen gewohnten .Weg zum 
Amte und finde mich plötzlich vom Wege ab in eine 
Seitengasse geraten — weil ich in meinen Gedanken leb- 
haft mit einer Szene beschäftigt war, die sich einstmals dort 
abgespielt hat. Das sich Verlesen, Versprechen, Ver- 
schreiben und Vergreifen beruht zum großen Teil auf 
diesem Mechanismus. 

Zu wissenschaftlicher Untersuchung der verschiede- 
nen Formen des Verlaufes der Begehrungsvorgänge ist 
besonders wieder die Anwendung der experimentellen 
Methode erforderlich. Dazu müssen diese Vorgange zu- 
nächst natürlich auf ihre einfachsten Typen reduziert 
werden. Man vereinbart mit der Versuchsperson einen 
bestimmten Sinnesreiz (Ton, Geräusch) derart, daß sie 
ihn, sobald er eintritt, mit einer bestimmten, gleichfalls 
vereinbarten Bewegung, z. B. der Hand, beantwortet. Alle 
wesentlichen Momente einer einfachen Willenshandlung 
sind in diesem Vorgange — dem sogenannten Beaktions- 
versuche — enthalten. Trotz seiner Einfachheit läßt er 
nun mancherlei Variationen zu, die, von der Be- 
schaffenheit des Sinnesreizes und der Bewegung ab- 
gesehen, unter anderem besonders die Art der sub- 
jektiven Vorbereitung und Einstellung der Versuchs- 
person und ihr daraus resultierendes Verhalten be- 
treffen. Markiert man mittelst eines dazu geeigneten 
zeitmessenden Apparates den Moment des Eintrittes 
des Sinnesreizes sowie den der antwortenden Hand- 
bewegung, was mit sehr großer Genauigkeit, bis auf 
wenige Tausendstelsekunden, geschehen kann, so erhalt 
man die sogenannte Beaktionszeit. Dieselbe setzt sich in 
der Hauptsache zusammen aus der Zeit, welche einerseits 
die Leitung der Erregung vom Sinnes- zum Zentralorgan 
und dann von da zum Muskel, sowie die Kontraktion des 
Muskels braucht, und anderseits aus der Zeit der psychi* 



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oogle 



d. HSIfte: Fsjchologie des QemütslebenB. $03 

schea (zentralen) Vorgänge. Sie ist nicht mehr so sehr, 
wie man ursprünglich geglaubt hat, nach ihrem absoluten 
Betrage von Interesse — er variiert von etwa 0,10 bis 0,28 
und mehr Sekunden — als vielmehr dfurch ihre Schwankun- 
gen, in denen sich die verschiedenen Arten des subjektiven 
Verhaltens der Versuchsperson, und somit des Verlaufes 
des Begehrungsvorganges spiegeln. Die Reaktionszeiten 
bieten daher zusammen mit dem sonstigen Ausfall der 
Reaktionsversuche (Fehlreaktion usw.) und der Selbst- 
beobachtung der Versuchsperson eine Handhabe zur Ana- 
lyse dieses Verlaufes, die überdies du^rch entsprechende 
weitere komplizierende Ausgestaltung der Versuche auch 
noch auf die Untersuchung zusammengesetzterer Be- 
gehrungsprozesse anwendbar wird. So hat man hier die 
ersten Anfänge einer exakten experimentellen Erforschung 
des WoUens, ja des Begehrens überhaupt. 

C) [Zur Theorie.] Unter diesem Titel sind nun 
noch zwei Probleme zu erwähnen. 

Das eine betrifft den allfälligen inneren genetischen 
(» Entwicklungs*)Zusammenhang zwischen dem Begehren 
und den anderen psychischen Ftozessen, vor allem dem 
Fühlen. Man hat sich einen ;. olchen Zusammenhang haupt- 
sächlich ungefähr folgendermaßen zurechgelegt 

Die Gefühle, besonders die Affekte, sind in der Begel 
bekanntlich von mehr oder weniger intensiven Bewegungen 
verschiedener Art begleitet: ibxen mimischen und panto- 
mimischen Äußerungen. Die Entstehimg dieser Bewegun- 
gen hat man sich physiologisch einfach so vorzustellen, 
daß die dem Gefühl im physischen Geschehen zugehörige 
Erregung gewisser Partien des Zentralnervensystems auf 
benachbarte andere Partien überstrahlt, in welchen die 
motorischen Zentren liegen, d. h. jene Ganglienzellen, 
von denen die Anregung der motorischen Nerven ihren 
unmittelbaren Ausgang nimmt. Daraus mögen sich zu- 
nächst allerdings nur so zu nennende unbestinmit gerichtete 
Bewegungen ergeben, wie etwa Zittern, Zusammen- 
schrecken und sonstige gänzlich ungeordnete und ziellose 
Muskelkontraktionen. Führen nun solcheBewegungen, indem 
sie mit äußeren Objekten in Beziehung kommen, zufälliger- 
weise einmal den Effekt herbei, daß das eben bestehende 



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364 n. Teil Spezielle PsjcHologie. 

Unlustgefühl in Lust übergeht oder auch nur weicht, 
oder die zu entschwinden drohende Lust zurückgehalten 
wird, 80 assoziiert sich die Vorstellung dieser erfolgreichen 
Bew^ungen und wohl auch die der entsprechenden 
äußeren Objekte mit dem ursprünglichen Unlust- (oder 
Lust-)gefühl, und es wird so eine engere Verbindung 
zwischen diesem Oefühl und jenen bestimmten erfolg- 
reichen Bewegungen gestiftet, vermöge welcher beim 
.Wiederauftreten des Gefühles eine bestimmt gerichtete, 
und zwax auf jenes Objekt gerichtete Bewegung zur Aus- 
lösung gelangt. Die Disposition zu derartigen Bewegungen 
sowohl als auch diese selbst zusammen mit dem zugehörigen 
komplexen Bewußtseinszustande werden Trieb, bzw. Trieb- 
bewegung genannt. (Lehmann, 1892 ; Wundt.) So sprechen 
wir von Ernährungs-, Geschlechts-, Geselligkeits-, Tätig- 
keits-, Spiel-, Wissenstrieb und teilen bisweilen die Triebe 
ganz allgemein in solche ein, die der Selbsterhaltung, 
und in solche, die der Arterhaltung dienen. Nicht alle 
Triebe müssen sich auf dem angegebenen Wege ^rst im 
Laufe des individuellen Lebens herausbilden; sie können 
sich zum Teil auch in der Folge der Generationen nach und 
nach entwickelt haben und sich dem einzelnen Lidividuum 
als fertiges Produkt vererben, so daß sie dann als an- 
geborener Bestand erscheinen. Ist nun aber einmal die 
Triebhandlung erreicht, so führt von da zur vollständigen 
Willenshandlung nur eine natürliche Fortsetzung des 
gleichen Entwicklungsweges. 

Die Ableitung ist vielleicht etwas abstrakter kon- 
struiert, als es für eine nachprüfende Anwendung auf 
den einzelnen Fall des lebendigen psychischen Geschehens 
gut ist; gewiß aber wahrt sie den Zusammenhang mit 
der Erfahrung wenigstens in ihren Grundvoraussetzungen 
und zeigt sich völlig frei von inneren Widersprüchen, 
so daß sie zum mindesten eine Möglichkeit für das Ver- 
ständnis vom Zusammenhang innerhalb des emotionalen 
Lebens eröffnet. Aber selbst wenn man sie ohne Vor- 
behalt gelten läßt, darf man ihre Bedeutung für die Psycho- 
logie des Begehrens nicht überschätzen. Sie gibt besten 
Falles eine Erklärung für das allmähliche Wj&tdea des 
Begehrens aus andern psychischen Prozessen; zur Er- 
kenntnis des Wesens und der Beschaffenheit des fertigen 



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2. Hälfte: Psychologie des Gemütslebeiis. 365 

Begehrungstatbestandes, zur Analyse und Beschreibung 
der fertigen Begehrung, wie sie sich im entwickelten Leben 
abspielt, trägt sie nur höchstens indirekt und andeutungs- 
weise bei. Vollends die Grund&age der heutigen Be- 
gehrungspsychologie, nämlich die Fiage, ob im Begehren 
phänomenologisch ein eigenes psychisches Element ent- 
halten ist oder nicht, bleibt von ihr ziemlich unberührt, 
da sie sich, genau besehen, schließlich mit jeder der beiden 
möglichen Entscheidungen verträgt. — 

Die zweite und letzte Angelegenheit der Theorie hängt 
zwar mit der eben besprochenen innerlich zusammen, ist 
aber doch auch für sich allein zu formulieren : Die Frage 
nach Ort und Beschaffenheit der dem Begehren zugeord- 
neten physiologischen Prozesse im (Gehirn. 

Von positiven Aufstellungen in diesem Punkte sind 
wir für heute vielleicht noch weiter entfernt, als in 
der analogen Frage bei den Gefühlen. Denn man darf 
sich nicht etwa der Täuschung hingeben, daß wir wenig- 
stens die Lokalisation des Begehrens im Gehirn, d. h. 
die genauere Stelle, an der sich die gesuchten physio- 
logischen Prozesse abspielen, sicher gefunden hätten. Die 
motorischen Bindenfelder, das sind jene Teile der Groß- 
hirnrinde, die im Vergleich zu allen übrigen Teilen in 
nächster funktioneller Beziehung zu den Muskelbewegun- 
gen stehen, sind mit erstaunlicher Präzision nach außen 
abgegrenzt und aufgeteilt in partieller Zuordnung zu den 
verschiedenen einzelnen Bewegungen. Sie nehmen beim 
Menschen in der Hauptsache die beiden Zentralwindungen 
ein (ungefähr von der Schläfengegend zum Scheitel), und 
man weiß bis ins Einzelnste genau, welche Gliedbewegung 
auf die elektrische Beizung jeder einzelnen Stelle inner- 
halb dieses Gebietes erfolgt. Aber daraus geht nur hervor, 
daß die motorischen Bindenfelder die Ursprungsorte der 
motorischen Leitungsbahnen zu den Muskeln enthalten, 
oder wenigstens in nächster Verbindung mit ihnen stehen, 
nicht aber, daß die Bewegungen durch ihre Funktion 
allein zur Auslösung gelangen; ja es gibt sogar physio- 
logische Erfahrungen, die direkt dagegen sprechen. Es 
wäre also durchaus voreilig, geradezu in ihnen die Wollun- 
gen zu lokalisieren. Die Lokalisation der Wollungen ist 
vielmehr fast ebensosehr noch eine offene Frage, yne die 

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366 n. Teil Bpenell« Fiyokologit. 

nach der Beschaffenheit der physiologischen [Wolluags* 
funktion im Gehirn. Dies kann jedoch gar nicht anders 
sein, solange die Beschreibung und Analyse der zugehöri- 
gen Bewufitseinstatbestände noch so unvollkommen ist, 
wie wir es eben zu verzeichnen hatten. Und so haben 
wir auch hier wieder ein Beispiel dafür, daß es ver- 
gebliche Mühe bleibt, auf die Suche nach physiologischen 
Theorien des Bewußtseins auszugehen, solange nicht das 
Psychische als solches und aus sich selbst heraus nach 
seinen eigenen Beschaffenheiten erkannt und unserem 
Wissen klar erschlossen ist. 



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ScMusswort. 

Der Weg, den wir uns vorgezeichnet haben, ist durch- 
messen, und doch stehen wir nicht am Ziele. Es kommt 
uns vor, als wären unsere Betrachtungen abgebrochen, 
noch lange bevor sie uns das gezeigt, was eigentlich zu 
sehen unser Verlangen war. 

Was haben wir bekommen? Das herrliche Gebilde 
des vollen Seelenlebens ist uns zersplittert worden in 
tausend einzelne Atome, die als abstrakte Präparate der 
Fühlung mit unsem ursprünglichen ^nteressen verlustig 
gegangen sind; und über diese Atome ist eine krause 
Menge von vielerlei Einzelheiten zusammengesammelt 
worden, die weder untereinander noch mit dem wirklichen 
Leben, das unser Herz bewegt, so recht Berührung haben. 

Wenn schon zerlegt sein muß in Elemente und 
Atome, so hätten wir gewünscht, daB doch zum mindesten 
nach fertiger Zerlegung das lebensvolle Ganze wieder 
zusammengefügt, als ein in seinen Einzelheiten und seinem 
inneren Zusammenhang nunmehr verstandener Aufbau 
wieder errichtet werde. Dazu aber wäre es vor allem er- 
forderlich gewesen, die Frage nach dem allfälligen einen 
Urelement, gleichsam der psychischen Urzelle zu erledigen 
und zu zeigen, wie sich daraus durch Differenzierung 
und Anpassung allmählich die vielgestaltige Mannigfaltig- 
keit der Gebilde des heutigen menschlichen Seelenlebens 
entwickelt haben mag. Ist die einfache Empfindung 
dieses ursprüngliche, erste Psychische? Oder haben wir 
es in der einfachen Lust- und Unlustregung zu sehen, 
so daß sich alles Intellektuelle im Laufe der Generationen 
aus dem Gefühl entwickelt hätte ? Oder ist ein undifferen- 
ziertes psychisches Etwas an den Anfang zu setzen, das 
weder schon das eine noch das andere ist? — Dann käme 

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368 Schlußwort. 

weiterhin die Frage nach den allgemeinsten, das ganze 
Seelenleben umfassenden Gesetzen, nach den Gesetzen, die 
uns das Seelenleben als einen eigenen Typus des Geschehens 
zeigen und es in allen seinen Teilen zu einem einheitlichen 
Ganzen zusammenhalten. Nicht kleine Spezialgesetzchen 
sind's, was wir verlangen, wie das von der Wiederholungs- 
zahl der Silbenreihen; das Urgesetz des psychischen Ge- 
schehens, das überall das eine und dasselbe ist, das alles 
Psychische regiert so wie die Gravitation die Sonnen und 
Moleküle, das wollen wir erkennen. Und da das Leben 
überhaupt ein steter Flu£, Geschehen und nicht Beharren 
ist, so kommt es uns vor allem auf die Prozesse und Ent- 
wicklungen an, nicht auf die isolierten, starren Grund- 
gebilde, von denen hier fast ausschließlich die Bede war. 

Wir fragen weiter. Das Seelische ist doch der Kern 
des ganzen Menschenlebens, die Wurzel all seiner Ge- 
staltungen, fürs Individuum sowohl wie für die soziale 
Gemeinschaft. Wo ist in unserem ganzen Buch der An- 
schluß, der Schlüssel zu allen diesen G^taltungen? Wäre 
nicht die Analyse und Erklärung des einzelnen persön- 
lichen Charakters und seines Werdens ein würdiger, ja 
notwendiger Gegenstand der P^chologie? Und sollte sie 
uns nicht den Seelenzustand des Subjekts für alle Lebens- 
lagen verstehen lehren? Und weiter, die sozialen Bildun- 
gen, wie die Gesellschaftsformen, die Sittlichkeit und Re- 
ligion, die Mythen und der Aberglaube, die Sprache, 
die Kunst und Wissenschaft, das Spiel, sie alle wurzeln 
in d^r Menschenseele und machen ihres Lebens Inhalt 
aus: Ist nicht von einer Seelenkunde zu verlangen, daß 
sie das Werden und das Wesen dieser Geistesmächte 
aufklärt, und beleuchtet, wie und wie sehr sie dann ins 
Seelenleben des Einzelnen und der Massen bestimmend 
wieder eingreifen? Das erst ergäbe eine Psychologie, die 
auch erfüllt, was man von ihr erwartet. — 

Es wird sich wohl ereignen, daß mancher, der sich aus 
psychologischem Interesse an dieses Buch hier wendet, 
es früher oder später mit derartigen Gedanken der Un- 
befriedigung zur Seite legt. Man muß es zugeben, die 
ursprünglichen psychologischen Interessen haften wirk- 
lich zum Tejü gerade an den Fragen, auf die das Buch 
direkte Antwort fast gänzlich schuldig bleibt, Und wer sich 



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Schlußwort. 369 

unbefriedigt fühlt, der zeigt damit nur an, daß er ^mit 
wahrhaft psychologischem Interesse gekommen ist — wohl 
aber auch, daB seinen ungestümen Drang nach Erkenntnis 
noch nicht die unverbrüchliche Erfahrung leitet, die da 
besagt, daß in der Wissenschaft, wenn man nicht straucheln 
noch sich verlieren will, nur Schritt vor Schritt gegangen 
werden darf. Und Wissenschaft sollte es doch sein, was 
wir zu suchen gingen. i 

Die Fragen, die man uns eben vorgehalten hat, ge- 
hören ohne Zweifel zu den vornehmsten IVagen der ganzen 
Psychologie. Wenn wk sie dennoch nicht behandelt haben, 
so liegt das teilweise daran, daß sie wissenschaftlich noch 
gar zu unerledigt sind, und das kann nicht wundernehmen, 
wenn man bedenkt, wie sehr die Psychologie noch in den 
Anfängen steckt. Ersonnen und geschrieben ist freilich 
auch in diesen Dingen schon vieles worden, und vieles 
mag darunter wertvoll sein; doch ist es ganz unmöglich, 
im Stile eines solchen Büchleins wie das unsrige, mit 
wenig knappen Worten also, dies Wertvolle und dabei 
immer noch so sehr Labile als solches darzustellen: es 
brauchte eine unverhältnismäßig weitläufige, kritisch- 
polemische Begründung; da gärt noch alles, und ist 
noch nichts gesichert und geklärt. — Zum andern Teile 
wurden jene Fragen außer acht gelassen, weil sie nicht 
durchaus mehr von rein psychologischem Belange sind. 
Sie knüpfen an objektive Konstellationen des Schicksals 
und der äußeren Dinge an, so daß sie auf zweierlei 
Erfahrung ruhen, auf der von diesen Schicksalen und 
Dingen und auf der psychologischen. Sie sind demnach 
für den rein psychologischen Standpunkt nichts weiter 
als Anwendung des Allgemeinen auf besondere Fälle, 
wobei noch die Erfahrung über dies Besondere von ander- 
wärts zu holen ist. Sie sind deshalb besonders zu be- 
handeln, wie es auch tatsächlich zu geschehen pflegt. 
Dies gilt z. B. für die Psychologie der Kunst, des Mythus, 
der Beligion, der Sittlichkeit, des Aberglaubens usw. Doch 
ist auch dazu zu bemerken, daß alle diese Teüanwendungen 
der allgemeinen Psychologie gerade nur so weit erfolgreich 
und wissenschaftlich wertvoll sind, als sie auf gesicherter, 
exakter Psychologie der Elementarbewußtseinstatsachen 
fußen. 



Witasek, Gnmdlixiien der Psychologie. 

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/AT^OOgk 



S70 Schlußwort. 

Denu wer immer kritisch und gewissenbaft an die 
Behandlung solcher Fragen herangeht, der wird, wenn 
er den ^eg der sicheren und strengen Forschung nicht 
verlassen will, sehr bald gewahr, daß er bei jedem 
Schritte von der genauen Kenntnis der psychischen Grund- 
gebilde und Elementanrorgange abhängig ist; auch diese 
Fragen sind nicht im Flug der Plumtasie zu lösen, auch 
die erhabensten Probleme zerlegen sich dem kritisch-yor- 
sichtigen Blick in ein Grefüge von kleinsten Einzelfragen. 
Und so ist die Psychologie von daher schon, wenn nicht 
auch noch von ianderwärts, vorerst gezwungai, in Elemente 
und Atome zu zerlegen und diese dann, zunächst jedes 
für sich, genauester Erforschung zu unterziehen. 

Mit dieser Arbeit nun ist sie noch lange nicht ,zu 
Ende. Und so kann sie sich heute, sofern sie als ehrliche 
.Wissenschaf t auftreten will, nicht anders präsentieren, denn 
als ein Stückwerk, ein bloßes, zudem noch unfertiges 
Gerüst. 

Aber emsige Kleinarbeit wird unverdrossen Glied 
um Glied zusammentragen und in das Gerüst einfügen, 
es zu vervollständigen und endlitih auszufüllen, wird es 
um seiner Gegenwart und Zukunft willen lieb gewinnen 
und wird sich's nicht versagen, um immer neue Kraft zu 
schöpfen und sich den Blick zu wahren, des Baues einstige 
Vollendung im Phantasiebild zu erschauen. 



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Literaturverzeichnis. 



Das folgende Yerzeichnis ist natürlich nicht als systematischer 
Nachweis der für den gegenwärtigen Stand der Psychologie über- 
haupt in Betracht X kommenden Literatur gemeint. Es bietet 
nur eine durch Zweck und Charakter des vorliegenden Buches 
bestimmte Auswahl und führt ausschließlich jene Publikationen an, 
auf die bereits im Texte, zumeist durch Automamen und Jahres- 
zahl, kurz hingewiesen worden ist. Somit enthalt es vor allem die 
erforderlichen Quellennachweise, femer Hinweise auf die unmittel- 
bar weiterführende und ergänzende Spezialliteratur sowie auf einige 
mehr oder weniger verwandte aber ausführlichere Gesamtdarstel- 
lungen und schließlich einige Titel von besonders hervorragendem 
historischen Interesse. 



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Sachregister. 



A. 

Abklingen der Empfindon^en 
des Dracksinnes 194; des Ge- 
hörssinnes 135; des Gesichts- 
sinnes 168; des Schmerzsinnes 
199. 

absolute Tonhöhe 181. 

abstrakte Vorstellungen 101, 
306. 

Abstraktion 297, 305. 

Abstumpfung 87; — der Ge- 
fühle 342. 

adäquater Reiz 105; des 

Drucksinnes 192; des Gehörs- 
sinnes 129; des Geruchssinnes 
208; des Geschmackssinnes 211 ; 
des Gesichtssinnes 148; des 
Temperatursinnes 196. 

adäquate Vorstellung 240. 

adäquate Vorstellungspro- 
duktion 239. 

Adaptation beim Geruchssinn 
208; — beim Gesichtssinn 161; 

.. — beim Temperatursinn 196. 

4hnlichkeitsyorstellung235. 

Ästhetik 90, 315, 336. 

ästhetische Gefühle 324. 

ästhetischer Genuß 329. 

ä^u£ere Assoziationen 258. 

äußere Wahrnehmung 289. 

Affekt 385. 

Affirmation 79, 283, 306. 

Akkommodation des Auges 
166. 

Akkordyorstellung 235. 

Akt, psychischer 78; — des Ge- 
fühls 76, 318; — der Vorstellung 
75, 252^ — des Urteils 280. 



Aktivität, psychische 81, 84; 
— , des Künstlers 238. 

Algesimetrie 199. 

Allbeseelung 36, 45. 

Allgemeinvorstellungen 102, 
306. 

Amplitude der SchaUschwin- 
gungen 133; — der Lichtschwin- 
gungen 148. 

Anästhesie, viszerale 348 f. 

Analyse, psychische 93. 

Angeborenheit 87. 

Anklingen der Empfindungen: 
siehe Abklingen. 

Annahme 306 ff. 

Annahmegefühle 329. 

anschauliche Vorstellungen 
100. 

Apperzeption 79. 

Arbeit, psychische 85. 

Arten der psychischen Grund- 
gebilde 76. 

Assoziationen 256; — äußere 
258; — innere 258; — fireie 
261^ - in „Aufgabe« 261, 275; 
— Unbestimmtheit der«. 265. 

Assoziative Mischwirkung 
274. 

Assoziationsgesetze 257. 

A880ziationspsychologie259. 

Assoziationsversuche 274. 

Assoziationszeit 273. 

Assoziationszentren 16, 277. 

Asthenischer Affekt 336. 

Auffälligkeit 304. 

Aufgabe beim Assoziationsver- 
lauf 261, 276; — der Psycho- 
logie 88. 

Aufmerken 82. 



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382 



Sachregister. 



Aufmerksamkeit 57, 207; — , 
imwillkarliche 301; — , will- 
kürliche 800, 301, 358. 

Aufmerksamkeitsschwan- 
kungen 805. 

Aufmütksamkeitsspannung 
300. 

Aufmerksamkeitsumfang 

• 803. 

AufmerksamkeitsY^rt eilung 
303. 

Auge 165. 

AuBsageyersuolie 292. 

B. 

Begehren 80. 

Begehrungen 349 ff. 

Begehrungsdispositionen 
357. 

Begehrungsgegenstand 351. 

Begehrungsprojekt 359. 

Begleittatsachen, körper- 
liche, der Gefühle 833. 

Begriff 102. 

Begriffsvorstellung 306. 

Bejahung 79, 283. 

Bekanntheitsqualität 294. 

Bemerken 82, 297. 

Benennungsurteil 292, 294. 

Beobachtung in der Psycho- 
logie 93. 

Beruhigung als Gefühlsqualität 
321. 

Berührungsem^findung 192. 

Beschreibung m der Psycho- 
logie 88. 

Besinnen 82, 261. 

Bestandurteil 295. 

Bestehen im Gegensatz zum 
Existieren 295. 

Bewegung, willkürliche 358. 

Bewegungsempfindungen 
199. 

BewegungSYorstellung, an- 
scha^che (Gestalts-) 285 ; — un- 
anschauliche 236. 

Bewegungszentrum 15, 865. 

Bewußtsein 60 ff.; Enge des — 
302. (Siehe auchUrteil, Wissen.) 

Bewu£tseinslage'254. • 



Bewußtseinsumfang 302. 
Billigung, ethische 828. 
binokulare Parallaxe 191. 
Blickebene 181. 
Blickpunkt beim Sehen 181; 

— des Bewußtseins 299. 
blinder Fleck des Auges 156. 

C. 

Charakt er 889, 357. 
Charakterologie als Aufgabe 
der Psychologie 90. 

D. 

Dämmerungssehen 169. 

Dafürhalten 287. 

Dauerschwelle für Tonreize 
185. 

Deckpunkte der Doppelnetz- 
haut 182. 

Denken eines Gegenstandes 
310. 

Denkgegenstand 281. 

depressiver Affekt 336. 

determinierende Reproduk- 
tionstendenz 261, 275. 

diatonische Tonleiter 125. 

Differenzton 136. 

Dimensionen des räumlichen 
Sehens 172 ff. 

Dioptrik des Auges 165. 

direkte Methoden der Psycho- 
logie 95* 

disparate Netzhautstellen 
185. 

Disposition 55, 85 f.; — spezir 
fische, der Sinnesorgane 105. 

Dispositionsgrundlage 56,86. 

Dispositionskorrelat 86. 

Dispositions Veränderungen 
85. 

Dissonanz 126, 181. 

Distanzvorstellung 286. 

Doppelauge 179. 

Drama 309. 

Drehschwindel 206. 

dritte Dimension beim rilum^ 
liehen Sehen 177. 

Druokempfindungen 191.- 



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SschregiBter. 



383 



Druckpunkte 198. 
Drucks innesorgan 194. 
Dualismus 84/46. 
Dunkeladaptation 161. 
Duplizitätss eh welle desTast- 

raunuinnes 208. 
Duplizitätstheorie des Licht- 

und Farbensehens 169» 
Durtonleiter 126. 

effektuelle Hemmung 274. 

Eigengeräusch des Okres 143. 

Eigenlicht der Netzhaut 151. 

Einauge, imaginäres 190. 

EinbildungSYorstellungen 
249 f. 

einfache Vorstellungen 100. 

Einfachheit des Ich 52, 68. 

Einheit des Bewußtseins 52, 67. 

Einsicht 818. 

Einstellung (zu einer Bewegung) 
862.. 

Einteilung der Vorstellungen 
97ff. 

Elementargefühl 818. 

emotionale Grundgebilde 76. 

I mpfindungenl02ff.; —»exten- 
sive 111; — , kinästhetische 199; 
— , unbewußte 60. 

Empfindungskreis im Tast- 
raum 204. 

Empfindung.smerkliohkeits- 
schwelle 110. 

Empfindungsmessung 112. 

Empfindungsminimum 106. 

empiristische Raumtheorien 
174. 

Empirismus imZeitproblem217. 

Enge des Bewußtseins 802. 

enharmonischeTonleiter 125. 

Entschluß 83. 

Epik 809. 

Erinnerung 290. 

Erinnerung surteil 290; Zuver- 
lässigkeit des — 292. 

Erinnerungsvorstellung 247, 
249. 

Erholung 87. 

erkennen 287» 



Erkenntnistheorie, ihr Ver- 
hältnis, zur Psychologie 5, 90. 

Erklärung als Aufgabe der P^« 
chologie 88. 

Ermüdung 87. 

Ernstgefühl 381. 

Erregung als Gefühlsqualität 
821. 

Erscheinungen, strobosko- 
pische 168. 

Ersparnisverfahren 271. 

Erwartung 817. 

Erziehung 840, 357. 

Ethik, ihr Verhältnis zur Psycho- 
logie 90, 815, 336. 

ethische Billigung 328. 

ethische Gefühle 828. 

ethisches Verhalten 828. 

Evidenz der Annahme 311; 
— der Gewißheit 286; — der 
WahrscheinlichkeitO^ermutung) 
286; — des Urteils 285. 

Existenzurteil 282, 295. 

Experiment in der Psychologie 
94. 

extensiveEmpfindungenlll. 

exzitativer Affekt 886. 

F. 

Falsch als Merkmal des Urteils 

280. 
Familiengefühle 832. 
Farbenblindheit 170. 
Farbenempfindungen 143. 
Farbenffeometrie 147. 
Farbeninduktion 160. 
Farbenmischung 152. 
Farbenoktaeder 146. 
Farbenraum 147. 
Farbenschwelle, spezifische 

151. 
Farbentheorien 168 f. 
Farbenton 146. 
Fechnersche Maßformel 112. 
Fehler, konstante und variable, 

bei paychophysischenMessungen 

118, 119. 
Fehlerinnerungen 292. 
Fehlreaktion 368. 
Fiktion-(Annahme) 808. 



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oogle 



384 



Sachregister. 



Fleck, blinder, des Auges 166. 
Folgerungen 800, 318. 
Frage 809, 812; — , suggestive 

818. 
freier Assoziationsablauf 

261. 
freisteigende Vorstellungen 

262. 
Freude 827, 880. 
Fühlen 80 (siehe auch Geffihl). 
Funktionslust 887. 
Furcht 827. 

O. 

Gedächtnis 62, 818; — halluzi- 
nation294; — typen, individuelle 
254; —Untersuchungen, experi- 
mentelle 270; — Vorstellung 99, 
247, 249. (Siehe auch Asso- 
ziation, Erinnerung.) 

Gedanken 79, 279. 

Gefühle 816 ff.; — , ästhetische 
824; — , ethische 828; — , logi- 
sche 328; — , patriotische 382; 
— , religiöse 881; — , sinnliche 
324, 886; — , soziale 332; — , 
körperliche Begleittatsachen 
ders. 333; — , Kompensation 
ders. 338. 

Gefühlsabstumpfung 342. 

Gefühlsakt 76, 318. 

Gefühlsdispositionen 839. 

Gefühlsgegenstand 818. 

Gefühlsinhalt 318. 

Gefühlsmoment, reines 318. 

Gefühlssuggestion 341. 

Gefühlssummation 888. 

Gefühlstäuschung 838. 

Gefühlston 318. 

Gefühlsübertragung 340. 

Gefühlsvoraussetzung 322. 

Gegenstände, fundierte 232; 
— , ideale 296; — , komplexe 
232; —, reale 296; — , höherer 
Ordnung 232. 

Gegenstand des Begehrens 351; 
— des Denkens 281, 310; — des 
Fühlens 318; — des ürteilens 
281; — des Yorstellens 9, 73, 
281, 810; — des Psychischen 3. 



Ge&^enstandsgebiete der Psy- 
chologie 1. 

Gefirenwartszeit 221. 

Gehirnfnnktion und Bewußt- 
sein 16. 

Gehörorgan 188. 

Gehorsempfindungen 122 ff. 

Geist 813. 

Geistesleben 76. 

Geiz 827. 

Gelenkempfindnngen 199. 

Gemeinempfindungen 213. 

Gemeingefühl 213. 

Gemütsleben 76, 316 ff. 

Gemütsstimmung 389. 

Generative Hemmun|^ 272. 

geneti8cheFsychologie89,96. 

genetische Raumtheorien 
174. 

Genuß, ästhetischer 329. 

geometrisch-optische Täu- 
schunffen 241. 

Geräusch 128. 

Gerichtetsein des Yorstellens 
und Denkens auf einen Gegen- 
stand 310; — des Psychischen 
auf einen Gegenstand 4 (siehe 
auch Gegenstand). 

Geruchsempfindungen 206; 
Kompensation ders. 209; Mi- 
schung ders. 209. 

Geschmacksempfindungen 
209; Kompensation ders. 213; 
Kontraste ders. 212; Mischung 
ders. 212. 

Gesellschaftsordnung 90. 

Gesetz der spezifischen Sinnes- 
energien 105. 

Gesetz von der Erhaltung der 
Energie 24 ff. 

Gesichtsfeld 172. 

Gesichtslinie 181. 

Ge Sichtsraum empfindungen 
171. 

Gesichtswinkel 190. 

Gestalten, zeitlose und zeÜTer- 
teilte 226. 

Gestaltvorstellungen 238. 

Gewichtsempfindung 200. 

Gewichts vergleichnngen 
246. 



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Sachregister. 



385 



Gewöhnung 57, 848* 

Oewohnheit 840» 

Ghlätte, Empfindung der 191. 

fflauben 287. 

G-leichgewichtsempfindung 
205. 

GleichheitsvorBtellun^ 285. 

gleiohschwebende Stim- 
mung 125. . 

Grenzmethode 121. 

Grundgebilde, psychische 71, 

78; ihre Arten 76; — 

emotionale 76; — intellektuelle 
76. 



Halluzinationen 108, 252. 
Harmonie, prästabilierte 20, 36. 
harmonische Tonleiter 125. 
Hauptfarben 145. 
Hauptwert 110. 
hei£ (Enpfindung) 195. 
Helligkeit 147; — , spezifische 

169. 
Helmholtz' Farbentheorie 168. 
Helmholtz' Resonanzhypothese 

141. 
Hemmung, effektuelle 274; ge- 

neratiye 272. 
Herings Farbentheorie 169. 
Hirnfunktion und BewuJßtsein 

16. 
Hitzeempfindung 195. 
Hörgrenzen 184. 
Hörzentrum 15, 
Hoffnung 827. 
Horopter 188. 



I(J). 

Ich 47 ff.; als Träger der Disposi- 
tionen 68; Eii&chheit des — 
52, 68; Unyeranderlichkeit des 
— 68. 

Ich-Bewu£tsein 51 ff, 

ideale Gegenstände 295. 

identische ITetahautpunkte 
182. 

identische Sehrichtungen 
190. 



Identität zwischen Physi- 
schem und Psychischem 
21, 85. 

imaginäres Einauge 190. 

inadäquate Beize 105. 

inadäquateVorstellungspro- 
duktion 289. 

Indifferenztemperatur 196. 

Indifferenzzeit 221. 

indirekte Methode der Psy- 
chologie 96. 

indirektes Sehen 158. 

Individualpsychologie 255. 

IndiridualyorstellungenlOS. 

individuelle Typen 254. 

Inhalt, psychischer 78; — des 
Gefühls 76, 816; — der Yorstel- 
Imig 74; — des Urteils 280. 

innere Assoziationen 258. 

innere Wahrnehmung 98, 289. 

Innervationsempfindungen 
200. 

Instinktbewegungen 844. 

intellektuelle Grundgebilde 
76. 

Intensität der licht- und Far- 
benranpfindungen 143. 

Intervalle, musikalische 124, 
131. 

Jucken der Haut 191. 



Kälteempfindung 195 ff.; para- 
doxe — 196. 

Kältepunkte 197. 

Kammerton 181. 

kategorische Urteile 282. 

Kausalität, psychische 88. 

Kausalitätstneorien über das 
Verhältnis von Physischem zu 
Psychischem 17, 21, 64 ; — , ein- 
seitige 82. 

Kernpunkt des Sehraumes 185. 

kinästhetische Empfindun- 
pren 199. 

Kitzelempfindung 191. 

Klang 122, 128. 

Klanganalyse 127, 141. 

Klangcharakter 128. 

Klangfarbe 122, 127, 182. 



Witasek, GrandHiuen der Psychologie. 



S5 , 

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386 



Sachregister. 



Knochenleitung 141. 

Knotenpunkt des Auges 167. 

körperliche Beffleittat- 
sachen der Geiühle 833. 

Koexistenztheorien des Yet» 
hältnisses iwischen Physischem 
und Psychischem 19, 85 E 

Kombinationstöne 136. 

Komik 833. 

Kompensation der Gefühle 338. 

Ko m p e nsationserscheinung 
beim Geruchssinn 200; — beim 
Geschmackssinn 213. 

Komplementärfarbe 158. 

Komplexe 232; zeitlose — 284. 

Komplikationsversuche 221. 

konkrete Vorstellungen 101. 

Konsonanz 125, 181; 

konstanter Fehler 110. 

Konstanzmethode 121. 

Kontrast der licht- und Farben- 
empfindungen, simultaner 150; 
BTÜaessiYer 161. 

Kontrasterscheinungen beim 
Geschmackssinn 212. 

Kontrastfarbe 150. 

Konyergenzwinkel 181. 

Korrelate der Dispositionen 86. 

Korrelation der mtellektuellen 
Dispositionen 818. 

korrespondierende Punkte 
182. 

Kraft, psychische 81, 85. 

Kriebelempfindung 191. 

Kriminalpsychologie 00. 

künstlerische Schöpfertätig- 
keit 288. 

Kummer 327, 880. 

Kunstgenuß 820. 

Leichtgläubigkeit 818. 
Leidenschaft 830. 
Lernen 87, 268. 
Lichtempfindunge.n 148 ff. 
Lichtinduktion 160. 
Lösung (Gefühlsqualiüit) 821. 
Logik in ihrem Verhältnis zur 

Psychologie 00. 
logische Gefühle 828. 



Lokalisation psychischer Funk- 
tionen im Gehirn 15; — der 
reproduzierten Vorstellung'en 
277 ; — der Gefühle 344 ; — des 
Begehrens 865; — des Urteilen« 
814. 

Lokalzeichen der Gesichtsexn- 
pfindung 202; — der fiautem- 
pfindungen 175. 

Lüge 809. 

Lustperspektive 178. 

Lust und Unlust 80. 

Lustmoment, elementares 816. 



Massenerscheinungen, psy- 
chische 00. 

Ma£formel, Fechnersche 112. 

Ma£methoden, psy chophysische 
118 ff. 

Materialismus 34, 86. 

meinen 287. 

Melodietaubheit 224. 

Melodieyorstellungen 285. 

Menschenkenntnis 00. 

Merklichkeit von Empfindun- 
gen 60; — von Verschieden- 
heiten 100. 

Messung in der Psychologie 
05. 

Metamorphopsie 176. 

Methaphysik und Psychologie 
00. 

Methode der Psychologie Ol ff.; 
direkte — 05; indirel^ — 06; 
objektive — 06; subjektive — 
05. 

Methode der Herstellung 121 

— der Minimaländerungen 121 

— der mittleren Fehler 121 

— der Beizfindunff 121 ; — der 
richtigen und falschen Fälle 121 ; 

— der Urteilsfindung 121. 
Metronom 808. 
mimisches Zentrum 302. 
Mischgerüche 200. 
Mischgeschmäcke 212. 

Mi seh Wirkung, assoziative 274. 
Mißbilligung, ethische 828* 
Mitgefühl 833. 



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Sachregister. 



387 



Mitleid 327, 330. 
Mitübnng 272. 
Möglichkeit 295. 
Molltonleiter 125. 
Monismus 46. 
Motiystionsgesetze 856. 
Motive des Begehrens 356. 
motorische Rindenielder 

865. 
Müller-Lyersche Figur 241. 
Muskelempfindung 200. 



Nachahmung 361. 

Nachahmungsspiele 829. 

Nachbilder, negative 161; — , 
positive 162. 

Nativismus im Zeitproblem 
217. 

nativistische Baumtheorien 
187. 

natürliche Septime 132. 

Nässeempfindung 191. 

Nebenvergleichungen 246. 

Negation 79, 283. 

negatives Nachbild 161. 

Neid 327. 

Nervenfunktion 16. 

Netzhaut 167. 

Netzhautdisparation 185. 

Netzhautgrube 158. 

Netzhautpunkte, korrespon- 
dierende 182. 

Neuerwerbung von Disposi- 
tionen 87. 

Nichtwollen 858. 



obere Hörgrenze 184. 
Obertöne 127, 182. 
Objekt 9, 281. 
Objektiv 281. 

objektive Methode der Psy- 
chologie 96. 
Okkasionalismui 20. 
Oktave 124, 181. 
Olfaktometer 208. 
Organempfindungen 218. 



P. 

Pädagogik in ihrem Verhältnis 
zur Psychologie 90. 

paradoxe Kälteempfindung 
195. 

Parallaxe, binokulare 191. 

Paramnesien 294. 

partielle Taubheit 141. 

Passivität der psychischen Vor- 
gänge 81, 84. 

patriotische Gefühle 882. 

Perimeter 172. 

Perseveration der Vorstellun- 
gen 263 ü; — der Gefühle 341 ; 

— und Aufmerksamkeit 301; 

— und innere Wahrnehmung 
290. 

Perseverationstendenz der 
Vorstellungen 263 £; — bei Ge- 
fühlen 341. 

Persongefühle 382. 

Phantasie 249, 812; — , ihre 
Spontangität 265, 268. 

Phantasiegedanke 308. 

Phantasiegefühl 831. 

Phantasievorstellungen 99, 
248 f. 

Phantasieurteile 312. 

Phantasmen 252. 

Phasenverschiebung 188. 

physiologische Psychologie 
89. 

physiologischer Nullpunkt 
des Temperaturreizes 196. 

Plethysmograph 834. 

Pneumograph 884. 

Position im Urteilen 288. 

positive Nachbilder 162. 

rräsenzzeit, psychische 221. 

prästabilierte Harmonie 20, 
86. 

Primartöne 136. 

Produktion von Vorstellun- 
gen 100, 222, 801. 

produzierte Vorstellungen 
222 ff.; — Arten den. 238 ff. 

ProJektionstheorie desBaum- 
sehens 189. 

Prozesse, psychische 71, 78, 81. 

Psychiatrie und Psychologie 90. 

26^* 

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888 



I' 



Psychische, das, im Gegensatz 
zam Physischen 2. 

psychische Akte 78, 75. 

psychische Aktivität 81, 64. 

psychische Analyse 98w 

psychische Arbeit 85. 

psychische Grandgebilde 71, 
73; Arten dem 76. 

psychische Kausalität 88. 

psychische Kraft 81, 65. 

psychische Müssenerschei- 
nungen 90. 

psychische Passivität 81, 84. 

psychische Präsenzz^it 221. 

psychische Prozesse 71, 78, 81. 

psychische Tätigkeiten 85. 

psychische Tataachen 2; — als 
Eigenschaften 49; — als Vor- 
gänge 50. 

sychische Yorc^änge 85. 
s y c h 1 o g i e , Aulgabe derselben 
88; Gegenstand— 1; MethcMle 

— 95, 96; genetische •— 69, 96; 
physiologische — 89; rationale 

— 91 ; — der individuellen Diffe- 
renzen 255; spekulative — 91. 

Psychophysik 116. 

Psychophysiologie 89. 

psychophysische Maßmetho- 
den 118 ff. 

psychophysischer Paralle- 
lismuB 19, 37, €4. 

pythagoreische Tonleiter 
125. 



Quarte 124, 181. 
Quint« 124, 181. 

B. 

rationale Psychologie 91. 
RauhigkeitsempfiAdizitg 191. 
Baumempfindung 171. 
Raumgestalten 187, 233 f. 
Eaumla^ge 120. 
Baum schwelle der Hautsüme 

208. 
Baumtheorien 174; — empiri- 

istische 174; — gemetkohe 174; 

— nativietiBche 187. 



Baumvorstellung 172. 

Beaktionsversuche 862. 

Beaktionszeit 862. 

reale Gegenstände 296. 

Bechtspflege 90. 

Beflezbewegungen 869. 

Beiz, a^iqnater 105; des 

Brucksinnes 192; — des Ge- 
hörssinnes 129; — des Geruchs- 
sinnes 208; — des Geschmacka 
211; — desGesiditsBbiiieslitö; 

— des Temperatursinnes 196; 

— inadäquater 105. 
Beizschwelle 106; — des Druck- 
sinnes 193; — für Geräusche 
133; — des Geruchssinnes 208; 

— des Geschmackssinnes 211 ; 
des Gesichtssinnes 150; — für 
Töne 138; — des Temperatur- 
sinnes 197. 

relative Glücksförderung 

354. 
relative Tonhöhe 131. 
religiöse Gefühle 331. 
Beproduktion 99, 246 ff. 
Beproduktionsdisposition 

266 ff. 
Beproduktionszeit 273. 
reproduzierteVorsfellungen 

99, 246 ff: 
Besonatoren 127. 
Betina 167. 
Bhythmus 234. 

Bichtungslinie des Sehens 167. 
Biechwindungen 15. 
Bindenfelder, motorische 15, 

365. 
Boman 309. 

Sage als Gegenstand der Psycho- 
logie 90. 

Sättigungsgrad derEaib0iil46. 

Scham 333. 

Scheingefühle 329. 

Scheinurteil« 312. 

Schlaf 305. 

Schliefen als pstychisehe Tätig- 
keit 83. 

Schlußfolgerun«en309> 318. 

Schmerzeropfinalichkeitl99. 



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Sacbiwgister. 



389 



Schmerzempfindungen 197. 
Schmerzpunkte 198. 
Sehm«rztch welle 199. 
schöpferische Phantasie 

2S6. 
Schwankungen der Aufmerk- 

»amkeit 905. 
Schwebungen 126, 185, 141. 
Schwelle des B ewuBtseins 54, 

299. 
Schwereempfindung 200« 
Schwerpunkts-konstruktion 

(bei Faotbenmischung) 155. 
Schwingungsform 132. 
Sohwingunge^weite 182. 
Schwingungszahl 131. 
Seele 47 ff.; — als Gegenstand 

der Fsydbologie 12 f. 
Sehen, direktes und indirektes, 

168. 
Sehnsucht 349. 
Sehschärfe 191. 
Sehzentrum 15. 
Seinsgedanke 78, 288. 
Sei&surteil 78, 283. 
Sekunde (Jntervall) 125, 181. 
Selbstbeobachtung 96. 
Septime 125, 181; natürliche — 

182. 
Sext 125, 181. 
Sicherheit 286. 
simultaner Kontrast 159. 
Sinnes«n«rgien, spezifische 

105. 
Sinnesfelder der Grofihimrinde 

277. 
Sinnestäuschungen 159, 161, 

245. 
sinnliche Gefilhle 824, 386. 
Sinusschwingungen 180; — , 

Sux>erpo8ition ders. 182. 
Bitte alb Gegenstand der Psycho- 
logie 90. 
soziale Gefühle d82. 
Spannung der Aufinerksamkeit 

800; --beim Wollen imd Wün- 
schen S52; — als GefUhlsquali- 

tät 821. 
spekulative Psychologie 91. 
spesifisebe Disposition des 

Sinnesorganes 10^. 



spezifische Energie für ver- 
ichiedene Qrtsempfindung 176; 

— — für Tersomedene Ton- 
höhen 141. 

spezifische Farbenschwelle 
151. 

spezifische Helligkeit 169. 

spezifische Sinnesenergien 
105. 

Sphygmograph 884. 

Spiel 308, 329, 

Spiritualismus 84. 

Spontaneität der Phaataae 266, 
268. 

Sprache als Gegenstand der Psy- 
chologie 90. 

Sprachzentrum 15. 

Stäbchen der Netzhaut 168. 

Stelle des deutlichsten 
Sehens 158. 

Stereoskop 185. 

sthenischer Affekt 886. 

Stille 143. 

Stimmung, emotionale 889, 841. 

Stimmung (der Tonleitern), 
gleichschwebende 125. 

Streben 849, 358. 

Streokenvorstellung 286. 

Streuungsmaß 119. 

stroboskopische Erschei- 
nungen 163. 

Subjekt 9 f. (siehe auch Ich). 

subjektive Methoden der 
Psychologie 95. 

Subjektivität des Gefühls 
819. 

substantielle Seele 12,84,40, 
47 ff., 64. 

Suggestion von Gefühlen 841; 

— von Urteilen 818. 

suggestive Frage 813. 

sukzessiver Kontrast 161. 

Summati on von Gefühlen 388. 

Summationstöne 137. 

Superposition von Sinusschwin- 
gungen 182. 

Synthetisches Urteil 283. 

T. 

Tachistoskop 308. 
Tätigkeit, psychische 85. 



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890 



Sftobregiftor. 



Tsuichungen, geom.^>ptisohe 

241; Zöllnenche 241. 
Tagesseken 169. 
Tastraumempfindangen 801. 
Tastraumtäuschung 245. 
Tastzentrum 15. 
Tatbestandsdiagnostik 90, 

275. 
Tatsachen, psychisclie 2; — als 

Eigenschaften 49; — als Yor^ 

gange 50. 
Taubheit, partielle 141. 
Temperament 359. 
Temperaturempfindungen 

195. 
Temperaturpunkte 195. 
temperierte Stimmung 125. 
Temporalzeichen 217. 
Tendenz, determinierende 261, 

275. 
Terz 125, 181. 
Thetisches Urteil 283. 
Tiefensehen 183. 
Tiefensehschärfe 191. 
Ton, im Gegensatz zu Klaujp^ 128. 
Tonempfindungen 122 C 
Tonfarbe 123. 
Tonhohe 122; — , absolute, im 

Gegensatz zur relativen 131. 
Tonleitern 125. 
Tonstärke 122, 127, 132. 
Tonyerschmelzung 124. 
Trauer 327, 336. 
Traum 252. 
Transponieren von Gestalten 

(Melodien usw.) 224, 248. 
Transzendieren des Denkens 

310. 
Treffermethode für Gedächt- 

nisversuche 271. 
Trieb 864. 

Triebbewe^unffe'n 344, 864. 
Typen, individuelle, des Gedächt- 
nisses 254. 

U. 

Überraschung 817, 888. 
Überschneiden der Konturen 

178. 
'überzeugt sein 287. 



Überzeugungsmoment am Ur- 
teil 78, 280. 

Übung 87; — des Gedächtnisses 
272. 

Umfang der Aufinerksamkeit 808. 

Umfang des Bewußtseins 303. 

Umstimmunff des Sehorganes 
161; — desTemperaturoiganes 
196; — beim Geschmadosinn 
212; —, emotionale 342. 

unanschauliche Vorstellun- 
gen 100, 310. 

Unbestimmtheit der Assozia- 
tionen 265. 

unbewußte Empfindung 60. 

Unbewußtes im Psychischen 
47flf. 

unbewußte Vorstellung 54, 
58. 

Und-Vorstellung 236. 

Unlust 80. 

Unlustmoment, elementares 
318. 

untere Horffrenze 134. 

Unterscheidungsschwelle 
109. 

Unterschiedsempfindlich- 
keit 107. 

Unterschiedsschwelle 107; 

— für Druckreize 193; — für 
Farben 150; -- für Geräusche 
134; — für Geruchsreize 209 

— für Geschmacksreize 212 

— für Gewichtshebungen 201 
:— für Helligkeiten 151 ; — für 
kinästhetische Empfindungen 
200; — für Tastraum 208; — für 
Temperaturen 197; — für Töne 
184; — des Zeitsinnes 221. 

Unveränderlichkeit des Ich 
68. 

unwillkürliche Aufmerksam- 
keit 301. 

Urteilen 78. 

Urteil 279; — , ezistenziales 282, 
295; kategorisches — 282; syn- 
thetisches — 288; thetisches — 
283. 

Urteilsakt 280 f. 

Urteilsdispositionen 812 f. 

Urteilsgefühl 327. 



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Sachregister. 



391 



ürteÜBgegenstand 281. 
UrteilsBpnäre 812. 
Urteilssuggestion 813. 
Urteilstäuschung 242. 

V. 

y.arial)ler (sufälliger) Fehler 
118. 

Terabscheuen 80, 849, 853. 

Yeränderungsempfindung 
290. 

Yeränderungsvorst eilung 
235. 

YerbindungSYorstellungen 
286. 

Vererbung 87, 840, 857. 

Vergessen 268, 274. 

vergleichen 82, 235. 

Vergleichstäuschungen 245. 

Vergleichungs Vorstellun- 
gen 285. 

Verhältnis zwischen physischen 
und psychischen Tatsachen 14 ff. 

Verlangen 80, 349, 858. 

Verlesen 862. 

Verneinung 79, 288. 

Vernunft 813. 

Verschiedenheitsmerklich- 
keitsschwelle 109. 

Verschiedenheitsvorstel- 
lung 285. 

Verschmelzung von Tönen 124. 

Verschreiben 862. 

Versprechen 862. 

Verstand 313. 

Verstehen 809. 

Verteilungder Aufmerksamkeit 
308. 

Vestibularempfindungen 
205. 

viszerale Anästhesie 848 f. 

Völkerpsychologie 90. 

Vorgänge, psychuche 85. 

Vorstellungen 97 ff.; — , ab- 
strakte 101, 806; — , adäquate 
240; — , allgemeine 102, 806; 
— , anschauhche 100; — , ein- 
fache 100; — , fireisteigende 262; 
— , konkrete 101 ; — , produzierte 
222 ff. ; — , reproduzierte 246 ff. ; 



— , unanschauliche 100, 310; 
— , unbewußte 54, 58; — , zu- 
sammengesetzte 100. 

Vorstellungsadäquatheit 
240. 

Vorstellungsakt 76, 252. 

YorstellungsaktgefühU 324. 

Vorstellungsassoziation 82, 
256, 301. 

Vor Stellungsgefühle 824, 336. 

Vorstellungs^fegenstand 281. 

Vorstellungsinhaltgefühle 
324. 

Vorstellungsproduktion 100, 
222, 301; — , adäquate 239; — , 
inadäquate 239. 

Vorstellungsreproduktion 
99, 246 ff. 

Vorstellungsrudimente 254. 

Vorstellungssphäre 313. 

Vorstellungsverlauf, assozia- 
tiver 256 ff.; — , willkürlicher 
250, 275, 801, 858. 

Vorstellungszeit 218. 

Wahl 360. 

Wahr (als Eigenschaft des Urteils) 
280. 

Wahrnehmung 288; — , äußere 
289; — , innere 93, 289. 

Wahrnehmungsurteil 288. 

Wahrnehm ungs Vorstellun- 
gen 99, 239. 

Wahrscheinlichkeit 284. 

Wahrt cheinlichkeitsurteil 
284. 

Webersches Gesetz 110 (für 
die einzelnen Sinnesffebiete siehe 
Unterschiedsschwelle). 

WechselwirkungzwischenPhy- 
sischem und Psychischem 17 ff., 
21 ff., 64. 

Wertgefühle 328, 336. 

Wettstreit der Sehfelder 188. 

Widerstreben 858. 

Wiedererkennen 292. 

willkürliche Aufmerksam- 
keit 800, 801, 858. 

willkürliche Bewegungen 
858. 



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892 



Sachregister. 



willkürliche YorBtelluiigs- 
¥er)>indung 259,275, 801, 858. 
wirksame DifferenE 1^. 
wissen 287, 818. 
Wissensgefühle 828. 
Wollen 849, 858. 
Wünschen 34», 356. 

Y. 

Toungs Farbentheorie 168. 

Z. 

ZahlTorstellunff 237. 
Zapfen der Netashaut 168. 
Zeit der Yorstellung 218. 
Zeitgeist 90. 
Zeitgestalten 284. 



Zeitlage 120. 

zeitlose Gestalten 926. 

zeitlose Komplexe 284. 

Zeitstrecke 220. 

Zeittäuschungen 245. 

Zeityergleichungen 246. 

zeityerteilte Komplexe 284. 

Zeityorstellungen 215. 

Zentrum, mimisches 802. 

Zögern 88. 

ZöUnersche Master 241. 

Zorn 886. 

Zufriedenheit 827. 

Zusammenfassen 82.- 

zusammengesetzte Vorstel- 
lungen 100. 

Zuverlässigkeit des Erinne- 
rungsurteils 292. 

Zyklopenauge 190. 



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