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Full text of "Die Güldenkammer - norddeutsche Monatshefte 3.1912-13, Hefte 1-6"

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Princeton University Library 


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EL Sftober 1919 


Verlag: Kaſſeehag Bremen 


1 


„Die Güldenkammer‘ 


Inhalts-Verzeichnis des III. Jahrgangs. 


(Oktober 1912 bis September 1913.) 


Aus alten Handschriften: 


Ein unveröffentlichter Brief der Gemahlin 
König Otto I. von Griechenland über die politischen Wirren in Athen 


im Jahre: 1890... y 
Anmerkung zu Durets, NapolenT W qh OLELeL sn 
Charles Baudelaire: Tröstliche Maximen über die Liebe ............ 
Franz Becker: Geistliche Volksliedern rnrIIUn . 
Paula Becker-Modersohn: Briefe und Tagebuchblätter I............. 

— do. 11 
= do. CFF 
— do. T 
= do. N atsna raS 


Dr. E. Benedikt: 
Das türkische Problem 
Neuer Kurs in Italien 


Oscar Bie: Widersprüche der Oper 


Ein Jahrzehnt in der Aviatik 


Hans Bethge: Erinnerungen an Otto Erich Hartleben ................- 
Dr. A. Bettendorff: Die Entwicklung der Schulen in Japan........... 
Henri Beyle (de Stendhal): Der Chevalier von Saint-Ismier......... 


Franz Blei: Scaramuccia auf Naxos. Eine heitere Oper 
Rudolf Borchardt: Auf den Feldern von Marengo (Gedicht).......... 
Bremensis: Politische Rundschau UUů . 
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— dör. VVV æ1.l»ͤ 
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— 99% awImIkW 8 
Lothar Brieger: Von der Notwendigkeit des Uberflüssige nn 
A. E. Brinkwald: Die Mode in der Frauen schönheit 
J. v. Bülow: Elitetrup cen n 
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S 1 N 4) 
O N Nu cr 
` Ea y G 


Seite 


Otto Corbach: Industrielle Reservearmee und innere Kolonisation 254 
— Volksempfinden und auswärtige Politik ..........ceseonesoncrens 353 
— Amerika und die Aslstennnnnn 691 
=> „Rasseschände una mine 564 
== Piomieére dés ec. nn 752 

Willi Dünwald: Der junge Goetnneeeee „ 490 

Hanns Martin Elster: Zwischen zwei Meeren 425 

Otto Flake: :Disharmonlen u. aan a 244 
e ð d 305 

Richard G. B. Förster: Frankreich und die nationalistische Bewegung 

r,, era 558 

Prof. Dr. Ludwig Fränkel: Süddeutschlands geplante Großschiffahrts- 

verbindung und der Anschluß nach Norden.........ceecececeeecee. 315 

S. D. Gallwitz: Musikalische Einaxtenᷣuꝭnn . 59 
=> Plena !,, ara 184 
— Richard Strauß’ Vollendung ͥ 248 
— Wort und Ton und Mozart F öé ꝓ ' 475 

Dr. Alfred Gildemeister: Die Hansestädte und die deutsche Nation 604 
— Die wirtschaftspolitische Stellung der Hansestädte ................ 73 

Dr. Felix Günther: Moderne Orchestertechni k.k.... 72 

Dr. Carl Hagemann: Probleme der Opernleitungn᷑e— ꝛpꝛP . 201 

Félicie Hartlaub: Die Schwester. Novellꝶꝶee i . 409 

G. F. Hartlaub: Das Ende des Impressionismunꝝ . 95 
e rr. 182 

Wilhelm Hausenste in: Lissauenũnrã rr 146 
Derr ðſſ ⁰ 308 
— Neues in der Münchener Kunsꝶũꝶ U . 381 
/ ²˙²n; ²³]˙¹¹ u ³⁰ mw ³ 6 AA 538 

J. J. Hegner: Das Opfergleichnis. Erzahlunggn n . 209 

Dr. Richard Hennig: Die Verkehrswege nach Chinꝶ q 328 

Richard Henning: Remonten und Rennenrnn nnn 172 

Gerhard Hildebrand: Sozialismus und Persönlichkeitskultur.......... 971 

Gustav Hübener: Husserl, Bergson, Georgſeſſꝶꝶ . 212 

Herbert Ihering: Berliner Theater........... C 499 

lpse Peccator: Die Kunst der Gegenwarrꝶ i 695 

Hugo Kloß: Die Finanznöte der Balkanstaateꝶ·nn 256 
Ff. ³ 319 
— Konjunktur oder Krisis FCC 382 
en,, v E AA 505 
— Die neue chinesische Anleignee eee e . 567 

Gerhard Ouckama Knoop: Familienkunxddſeei d-. 336 


Erich Kramer: Die Schneeballhexe. Erzahlunñnnů g. 272 


Joseph Aug. Lux: Reform der Männertracht ..........scsccsocnnooccs 360 
Dr. Frhr. v. Mackay: Das slawische Problem ..........oecs0oonnonen00. 509 
Adolf Mayer: Spiel um Gewinn und Versicherung gegen Schaden. 745 
F.Müller:Lyer: f! u ea 449 
Max Oehler: Soldatenlieder .....,.ue sn. ua 365 
Erich Oesterheld: Die Reklame des Verlegers...........2reeneen00. 633 
Gustav Pauli: Rudolf Alexander Schrödeõ⸗rõrãuꝭʒnrãrr . 578 
H. Prehn- v. Dewitz: Wirtschaftsstudien. lll) ꝑ 385 
= do. | EN EUR ER 467 
— do. CCC 545 
— do. Were sagten 677 
— do. CCC 736 
Ulrich Rauscher: Der gute alte Kitsch . 445 
F.,... A A e aaa 503 
Paul Scheerbart: Marduk. Assyrische Burgnovellette ................ 517 
Oscar A. H. Schmitz: Das werdende Frankreicꝶ-̃ã n . 663 
Dr. Reinhold Schmidt: Die Home Rule- Debatten 495 
Wilhelm von Scholz: Satumusjahre. Terzine n 101 
Dr. med. L. Scholz: Ein Kapitel zur Willenserziehung ................. 686 
Dr. Ernst Schultze: Das Zurückbleiben Englands auf technischem Gebiet. 111 
Willy Seidel: Der Ungeborene. Novellldſuſ·ddſueuei me ãñ 456 
Georg Simmel: Philosophie der Landschaftttzꝝÿaꝛpͤymq.ͥ—w.. 635 
Dr. Conrad Simonsen: Die dänische Seellũ k.k. 33 16 
Dr. H. Smidt: Nochmals der Fall Nogs U U .. 107 
Guy von Soom: Die Blume. Erzählung̃³— P i 609 
H. Steinitzer: Die Schlacht von Comajagua. Er zahlung. 25 
FCCCCCCTCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCVCUVUVUVUVCVVUVUVCVCVCVVVCV 152 
Curt Stoermer: Die Panspiele von Carl Hauptmann 185 
— Paula Becker-Modersonn nnn . 378 
Wilhelm Tideman: Aphorismen . 577 
ieee RS 712 
Trux: Klassenwirtschaft im Heere ·))œn ..... 629 
Alexander Ular: Der Totenkult und die Kultur. (Zum Fall Nogi) 1 
— Szenenwechsel in AmerikayT ae n 162 
— Eine moralische KatastropamMuuk:k u 288 
Hermann Urtel: Wanderungen in Portugal. 1Iilnl .. 155 
== Aus eee, y 669 
Charles: idee ⁵ ↄ ↄ (g y y RA 706 
Emil Waldmann: Römische Kaiserphysiognomie·en 348 
ser her 441 
Dr. Fritz Wertheimer: Chinafahrt. Kuschpaaeeee n 36 
— do. Wollen und Können in China ..... 80 


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Dr. Fritz Wertheimer: Politische Leistungen und Aufgaben in China .. 
Dr. Albrecht Wirth: Am BalʒKkaͤꝶ n.n.n.n.n.ndnnnn . 
— Der Balkan in der Weltgeschicht᷑'ieieieie . Z̃ ꝶv 
Arnold Zweig: Die Passion. Novellll Qu 4ͤ1 
— Die Urgros mutter. Novellllleeeeeeeeeee 


ANREGUNGEN UND AUSBLICKE. 


Preisgericht und Künstler 
Elektrizitätswerte 


feen AANE 
Bemerkungen zur Weltsprachee ! 
Das Liquiditätsproblem bei den Kreditbanken 
Die Bremische Musikalienbibliothek 


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Die 
Güldenkammer 


Herausgeber: 
S. D. Gallwitz - G. F. Hartlaub - Hermann Smidt 


Alexander Ular: Der Totenkult und die Kultur. 
(Zum Fall Nogi.) 


ewaltsamer Tod ist fast immer ein kulturgeschichtliches 
€ Dokument. Wird jemandem mit dem Tomahawk der 
Schädel gespalten; wird ein Körper unter dem Folter- 
rade zermalmt; reißt ein Granatensplitter jemandem den Bauch 
auf; fliegen Gliedmaßen unter einem Automobil auseinander; 
ertrinkt einer, weil sein hohler Baumstamm unter einer winzigen 
Welle kenterte; hängt eine alte Frau sich in leerer Mansarde auf; 
erschießt sich jemand in Monaco in Frack und weißer Binde; 
wird jemand geköpit: stets läßt sich aus den Umständen und den 
Motiven des Todes ein zwingender Schluß auf das Gepräge des 
Milieus, auf die sozialen und, unerbittlicher noch, auf die seelischen 
Zustände der Umwelt ziehen. In den meisten Fällen ist den ins 
Totenreich Wallenden mutmaßlicherweise dieser kulturgeschichtliche 
Wert ihres Endes höchst gleichgültig; sie hätten im Gegenteil in 
der Mehrzahl gern auf solches posthumes Interesse verzichtet, 
wäre ihnen nur im Leben ein winziger Bruchteil derselben Auf- 
merksamkeit zuteil geworden. Aber manchmal ist gewaltsamer 
Tod doch eine politische, soziale oder psychische Kundgebung 
des Sterbenden gegen seine Umwelt oder zum mindesten gegen 
die Umformung seiner Umwelt, die er nicht mitmachen konnte 
oder wollte. Und dann wird der selbstbeschlossene gewaltsame 
Tod zum Symbol einer Weltanschauung und die Auffassung der 
Uberlebenden von diesem Tode ein sicheres Kennzeichen des 
seelischen Zustandes, der Kultur der Menschengruppe, zu der der 
Tote gehörte. 
Selten wurde sensationeller ein ganzer Kulturzustand durch 
das Handeln eines einzelnen beleuchtet, als der gegenwärtige 


2 Alexander Ular: 


seelische Habitus der Japaner durch den Selbstmord des Generals 
Nogi. Vor fünfzig Jahren noch alltägliches Vorkommnis, das in 
Zeitungen unter den „Vermischten Nachrichten“ in zwei Zeilen ab- 
gefertigt worden wäre, gewinnt dieser Akt unter den jetzigen Ver- 
hältnissen den Wert einer wahren kulturgeschichtlichen Enthüllung, 
des Durchreißens einer trügerischen Oberfläche, hinter der die 
Kenner zwar das Wirkliche sahen, die aber den Europäern im 
allgemeinen etwas vortäuschte, das niemals existiert hat, nämlich 
die ungefähr gleiche Höhe japanischer Kultur mit europäischer. 

Die Begeisterung, die Bewunderung, der Stolz, mit dem ganz 
Japan diesen „patriotischen“ Akt begrüßt hat, scheint in Europa 
im allgemeinen das Gefühl einer beinahe respektvollen Scheu aus 
zulösen. Die „Liebe“ zum Kaiser, die „Ireue“ zum angestammten 
Herrscher, der „Heroismus“ und das „Pflichtgefühl“, die den alten 
Heerführer in der Minute zum Tode trieben, als sein Herrscher 
zu Grabe getragen wurde, geben hübsche Motive zur Rührung, 
zur Ehrfurcht und womöglich zu moralischer Erhebung. Sicherlich 
aber nur, weil der Sinn dieses blödsinnigen, geradezu kindischen 
Selbstmordes und der peinliche Charakter der japanischen Gemüts- 
erregung dieser Tragikomödie gegenüber nur den wenigsten 
Europäern hat zum Bewußtsein kommen können. 

Nogi verdiente im Leben den größten Respekt, und niemand 
versagte ihn ihm. Denn er war ein Stratege ersten Ranges. Man 
konnte ihn mit Moltke vergleichen. Er beherrschte mit stupendem 
Geschick die modernste Technik. Er benutzte Telegraphen und 
Telephone; die Chemie der Sprengstoffe hatte für ihn keine Ge 
heimnisse; er integrierte Gleichungen von balistischen Kurven. 
seine hygienischen Maßnahmen vor Port Arthur waren muster- 
gültig. Er schien ein durch und durch moderner Mensch. Und 
das verdiente um so höhere Achtung, als er schon fast erwachsen 
war zur Zeit, da die europäisierende Umwälzung die alte Barbarei 
Japans im innersten umzugestalten schien (in Wirklichkeit aller- 
dings sie nur mit einem klebrigen Firnis europäischer Äußerlich- 
keiten umgab). Alles, was diesem Manne Respekt und Bewunderung 
eingetragen hat, war letzten Endes die Anpassung an moderne 
Kultur. Diesen Respekt aber hat er durch sein schmähliches Ende 
zerstört. Denn in diesem zeigte er, demonstrierte er absichtlich, 
daß alles, wasihn groß gemacht, nur äußerlich, nur Nachahmung 
gewesen, und daß auf dem Grunde, im Mittelpunkt seines geistigen 
Lebens, keine menschenwürdigen Ideen lagen, sondern die wüsten 
Vorstellungen wilder Urmenschen, die primitiven Regungen von 
Papuas und Eskimos, roher als die Gedanken uralter Ägypter 
und Sumerer: dieselben Gedanken, die seit Jahrtausenden, allen 


| 
| 


Der Totenkult und die Kultur. 3 


kulturbringenden Mühen von Buddhisten, Christen, Chinesen und 
Europäern zum Trotz, sein Volk in skandalöser Sklaverei halten. 

Wer im Selbstmorde Nogis die sentimentalen Motive sucht, 
und über sie in Rührung gerät, begeht den verzeihlichen Irrtum, 
ein wildes Menschenopfer in eine Linie zu stellen mit dem frei- 
willigen Tode des Mannes, dem das Leben ohne seine Geliebte 
zur Last wird, oder der sich in der Extase des Kriegs dem 
Uberleben der Gemeinschaft opfert. Nogi hat sich in Beobachtung 
alter japanischer Feudaltradition getötet, und das ist ganz etwas 
anderes. 

Er. hat zwar nicht das klassische Harakiri begangen; er hat 
nicht von links nach rechts seinen Bauch samt sämtlichen Ein- 
geweiden zerschnitten. Er hat vorgezogen, sich den Hals abzu- 
schneiden. Aber er wußte ganz genau, daß dies ein grober Ver- 
stoß gegen Anstand und Etikette war. Und damit nur ja kein 
Zweifel darüber entstehen könnte, daß er sich nicht aus irgend- 
welchen modern riechenden Gründen umbrachte, sondern in Be- 
obachtung des ältesten barbarischen Aberglaubens, zum Zweck, 
seinem Herrn im Gespensterreiche Gefolgschaft als Flügeladjutant 
zu leisten, wie er es hier getan, deutete er zuvor wenigstens an, 
daß er das echte alte Harakiri zu vollführen im Sinne hatte: er 
führte zwei oberflächliche Schnitte über seinen Bauch. 

Das weiß jeder Japaner, und gerade das gibt dem Fall seinen 
kulturgeschichtlichen Wert. Nogi hat sich nicht getötet, wie ein 
Europäer sich töten würde: er hat seinem Herrn Gefolgschaft ge- 
leistet, um in den seligen Gefilden seinen Dienst fortzuführen, 
seinen amtlichen Pflichten weiter zu genügen. Das Motiv seines 
Todes ist nicht Moralisches oder Sentimentales; es ist noch weniger 
etwas Intellektuelles; es ist vielmehr die Negation aller Vernunft 
und aller einigermaßen plausiblen Moral; es ist die totale Unter- 
werfung unter die Wahnvorstellungen primitivsten Aberglaubens, 
die absolute Herrschaft animistischer und dämonistischer Ur- 
menschtheorien, die Herrschaft der Toten. 

Bei keinem Volke der Welt hat sich ja diese Herrschaft des- 
potischer, härter, zwingender gezeigt als bei den Japanern. 

Ganz zweifellos waren samtliche anderen Völker zu irgendeiner 
Zeit bei jenem Standpunkte der Weltauffassung angelangt, der 
menschliche Seelen in jedes Ding setzt und zugleich das unver- 
standene dinglose Schalten, das außerhalb des Menschen und über 
den Menschen hinweg Agierende, den Seelen der Toten zuschrieb. 
Entwicklung des Verstandes ist doch nichts als immer feineres 
Differenzieren der Dinge. Im primitiven Zustande setzt der Mensch 
alles mit sich selbst gleich. Er legt allem seine eigenen Fähigkeiten, 


* 


4 Alexander Ular: 


Gefühle und Kräfte bei. Da er sie, sobald sie außerhalb eines 
menschlichen Körpers wirken, nicht mehr versteht, sucht er nach 
Mitteln, sie sich günstig zu stimmen, und findet dazu natürlich 
keine anderen als die, die auf Menschen Einfluß haben: er bringt 
einem Steine Essen und Trinken, unterhält sich mit ihm, führt 
ihm Tänze vor und bittet ihn, betet zu ihm, wie er es mit einem 
mächtigen Menschen tun würde. War und ist aber der primitive 
Mensch unfähig, selbst nichtorganische Dinge von sich zu diffe- 
renzieren, so war er in weit höherem Grade in der Unmöglich- 
keit, den Lebenden von dem Toten zu unterscheiden. Er sah zwar 
einen Unterschied: daß nämlich das Handelnde den Körper ver- 
lassen hatte. Aber er hatte keinen Grund zur Annahme, daß dies 
Handelnde nunmehr vernichtet sei. Im Gegenteil, er benötigte 
nicht einmal Traumerscheinungen oder sonstiger ungewöhnlicher 
Vorfälle, um vom Weiterhandeln des Toten überzeugt zu sein. Es 
genügte ja das bloße Gedächtnis, die Erinnerung an die Lehren 
der Eltern, das fortwährende, meist kaum bewußt werdende Profi- 
tieren von der Erfahrung der Verstorbenen: denn diese Erinnerung 
konnte er ja nicht von dem Gegen wärtigen differenzieren; erinnerte 
er sich, sein Vater habe dies oder jenes auf eine gewisse Weise 
ausgeführt und ahmte er demgemäß diese Weise nach, so schien 
es ihm, als machte ihn der Verstorbene erst in diesem Augenblick 
auf die Sache aufmerksam und befehle ihm, so zu handeln. Machte 
er etwas verkehrt, d. h. mit Mißerfolg, und erinnerte er sich darauf 
an die überkommene Erfahrung, so hatte er nicht das Bewußtsein 
von dem schon recht komplizierten Prozessus, daß er etwas aus 
der Vergangenheit Stammendes vergessen hatte, sondern er 
empfand, daß der Verstorbene ihn mit Mißerfolg dafür bestrafte, 
daß er nicht so gehandelt hatte wie jener: folglich leben die 
Toten mit all ihren Eigenschaften weiter und nehmen an dem 
Leben der Nachkommen teil; und da sie dies tun können ohne 
sichtbar zu werden, verfügen sie über Mächte, die der Mensch 
nicht hat. Weiter ergibt sich aus diesen Umständen, daß der 
Tote wie im Leben unglücklich ist, wenn er nicht dieselben Be- 
dürfnisse weiter, befriedigen kann, wenn ihn die Lebenden nicht 
bedienen; daß der Tote sich wie im Leben bei Vernachlässigung 
ungehalten zeigt und straft; daß also das Glück der Lebenden 
von der aufmerksamen Bedienung der Toten abhängt; daß folglich 
alles, was im Leben den Menschen zustößt, das Werk der Toten 
ist, und daß natürlich die Toten alles und jedes, was die Lebenden 
tun, beobachten, überwachen und beurteilen, um darnach je nach 
dem Verhalten der Lebenden in gutem oder bösem Sinne in ihr 
Dasein einzugreifen. Ä 


Der Totenkult und die Kultur. 5 


Diese Grundzüge des Ahnen- oder Totenglaubens sind aus- 
nahmslos allen Völkern gemein, und auf ihnen beruhen geschicht- 
lich ausnahmslos sämtliche Religionen, selbst die raffiniertesten, wie 
der Buddhismus und dasChristentum. Und der Ausgangspunkt jeden 
Kultes, selbst des üppigsten und kompliziertesten, hat sich lang- 
sam aus dem Totenkult entwickelt, aus den praktischen Maß- 
nahmen, die man traf, um für das Wohlergehen der Dämon ge- 
wordenen Toten zu sorgen und dadurch ihre tatkräftige Unter- 
stützung im Leben zu verdienen. 

Alle Kulturvölker haben dieses primitive Stadium überwunden, 
aber nicht ein einziges ganz. Fast alle haben von ihm zum min- 
desten in ihren außerpraktischen, metaphysischen Theorien und 
Gepflogenheiten reiche Reste bewahrt, oft ohne sich ihrer Herkunft 
bewußt zu sein: man denke nur an den Ällerseelentag der Katho- 
liken und an die Gewohnheit, Gräber mit Blumen zu schmücken, 
ja, überhaupt Grabsteine zu setzen, letzte Andeutung des Erbauens 
des „Geisterhauses“, wo der Tote wohnt. Aber je höher ein Volk 
sich entwickelte, um so weiter wurde der Totenglaube und der 
Totenkult aus dem praktischen, dem sozialen Leben zurückgedrängt 
und ins Sentimentale oder Metaphysische verwiesen. Ein Medizin- 
kandidat, der etwa heute seinem verstorbenen Vater (einem Ärzte) 
eine Schüssel voll seines Lieblingsgerichtes auf das Grab stellt, 
damit er ihm morgen unsichtbar beim Staatsexamen zu Hilfe 
kommt, würde wahrscheinlich als toll eingesperrt werden; und 
ein Geschäftsmann, der sich vor einer Börsenoperation überlegt, ob 
wohl sein Urgroßvater mütterlicherseits an die Hausse der A. E. G. 
glaubt, macht sicher bankrott. Mit anderen Worten: Totenglaube 
und Totenkult sind an und für sich kulturwidrig, da sie den 
Menschen nicht von sich selbst und den tatsächlichen Umständen 
abhängig machen, sondern von einer Unzahl unheimlicher Mächte, 
deren Beruhigung ihm seine beste Zeit und Kraft wegnimmt. 

Allerdings kommt es bei Beurteilung dieser Dinge recht sehr 
darauf an, was man denn eigentlich unter Kultur versteht. Daß, 
an und für sich Lokomotiven, Mitrailleusen, elektrische Bahnen 
und Flugmaschinen noch nicht Kultur ausmachen, darüber ist 
man wohl einig: denn sonst hätten ja sogar die Amerikaner wirk- 
liche Kultur, und zu solchem Wahnsinn versteigt sich doch wohl 
kein vernünftiger Mensch (obwohl man die Tollheit begangen 
hat, den Japanern europäische Kulturhöhe zuzuschreiben, weil sie 
mit europäischen Mitteln besser zu morden wußten als die 
Russen). Kultur wird doch wohl immer mehr als etwas In- 
dividuelles angesehen; zum mindesten in dem Sinne, daß ein Volk 
nicht ein Kulturvolk ist, wenn nicht seine Mitglieder durch- 


6 Alexander Ular: 


schnittlich eine gewisse Verfeinerung des geistigen Lebens auf- 
weisen. Diese Verfeinerung aber ist nichts anderes, als ein immer 
präziseres und energischeres Aufsichselbststellen des Individuums 
gegenüber der lebenden und toten Umwelt, eine Bereicherung der 
Persönlichkeit auf Kosten der Umwelt, die Differenzierung der 
Persönlichkeit von dem, was um ihn ist. Wer sich im Dasein so 
zu orientieren weiß, daß seine Persönlichkeit dabei wächst, wer 
das Universum kraft seiner geistigen Interpretationsfähigkeit sozu- 
sagen beherrscht, der hat Kultur. Es gehört dazu Wissen um 
Tatsachen und vor allem Ausschaltung der Vorstellungen, die ab- 
solut sicher Irrtümer sind. Es gehört dazu also persönliche 
Auseinandersetzung mit den Problemen der Existenz. Und das 
höchst entwickelte Kulturvolk ist nicht etwa das zahlreichste, oder 
das, welches die schönste Handelsbilanz oder die größten Panzer- 
schiffe hat, sondern das, in welchem die verhältnismäßig größte 
Anzahl von Individuen sich durch eigene Energie und eigene 
Überlegung, unter dem Minimum schlechtweg hingenommener 
Grundsätze und Dogmen aller Art, eine Weltanschauung gebildet 
hat. Hierin allein liegt die europäische Kultur und jeder andere 
Maßstab würde sie unter die mohammedanische oder indische 
stellen. 

Wie aber wäre solche Kultur, die wir Europäer nicht anders 
als die wahre ansehen können, möglich bei Völkern, deren jedes 
einzelne Mitglied niemals auf sich selbst, ja nicht einmal auf der 
gegebenen Kollektivität der Mitglieder steht, sondern jeden Ortes 
und jeder Zeit in jeder Tätigkeit der absolute Sklave der Toten 
ist, von den Toten beherrscht und gelenkt wird, seine Hauptkraft 
auf die Auseinandersetzung mit den Toten zu verwenden hat, 
kurz, nicht selbst lebt, sondern nur insofern Tote vor ihm gelebt 
haben? 

Die Macht der Toten ist ja noch bei uns furchtbar. Irgend- 
einer hat einmal geschrieben, wir regierten uns nur zu höchstens 
einem Zehntel selbst, aber neun Zehntel aller Macht bei uns läge 
bei den Toten, die wir fortgesetzt anrufen, von deren Ansichten 
und Handlungen wir uns fortwährend beeinflussen lassen, obwohl 
sie wahrhaftig schon reichlich genug damit getan haben, daß sie 
uns das Gehirn vererben, dessen wir uns freuen oder schämen, 
und das man sehr wohl nun selbständig weiterwirtschaften lassen 
könnte. Und doch haben wir als Kulturmenschen bereits in 
hohem Grade das Bewußtsein und den Stolz, unser eigenes Urteil 
über alles frühere zu stellen. Wie ungeheuer die Macht der Toten 
bei unseren Voreltern gewesen sein muß, wie furchtbar die Toten 
alles Neue, allen Fortschritt bekämpft haben müssen, davon können 


Der Totenkult und die Kultur. 7 


wir uns kaum eine Vorstellung machen, aber wir können es ahnen, 
wenn wir die noch heute bestehende Riesenmacht aller abge- 
schwächtesten Totenglaubens, wenn wir die Macht der Tradition 
abwägen. 

Wir sind, wie gesagt, in unserer rein geistigen Tätigkeit 
noch lange nicht von den Toten befreit, und die relativ 
enorme Kulturhöhe, die wir erreicht haben, beruht einzig und 
allein darauf, daß wir wenigstens aus dem praktischen, dem mate- 
riellen, dem utilitaristischen, dem wirtschaftlichen, dem sozialen 
Leben die Toten schon weit hinausgedrängt haben. Alle Völker 
haben diesen Riesenkampf gegen die Toten begonnen, alle soge- 
nannten oder angeblichen Kulturvölker wenigstens. Aber — und 
dies ist die Tatsache, die augenblicklich interessant erscheinen 
dürfte — von allen großen Völkern ist das japanische das, welches 
in diesem Kampfe am kümmerlichsten abgeschnitten hat; denn es 
ist noch jetzt dort, wo die Griechen vor Homer, die Inder vor den 
Veden, die Ägypter vor dreißig Jahrhunderten waren. 


Die ganze japanische Geschichte ist nichts als die Geschichte 
des Totenglaubens und des Totenkultus. Die ganze japanische 
Gesellschaft ist nichts als eine Menschengruppe, die sich ohn- 
mächtig gegen ihre Toten wehrt. Die ganze angebliche japanische 
Kultur ist nichts als die fortgesetzte Unterdrückung der Lebenden 
durch die Toten und der hahnebüchene Versuch, ein erträgliches 
Zusammenleben unter der Herrschaft der Toten mit der Preisgabe 
alles dessen zu erkaufen, was wir individuell nennen, und was 
dem Europäer, auch wenn er es nicht weiß oder sogar leugnet, 
tatsächlich das Wesentliche ist. 


In Japan ist noch heute Familie, Stamm und Staat nichts als 
Totenkult. Die ganze anscheinend so erhabene japanische Moral, 
der berühmte oder besser berüchtigte alberne Bushido, der „Ehr- 
begriff“, das „Ritterliche“ des Japaners, die vermeintliche Höflich- 
keit, der Stoizismus, der angebliche „Patriotismus“, der von 
unserem so verschieden ist wie das Funktionieren einer Dampf- 
maschine von der Pflichttreue eines Kassenbeamten, alles das ist 
ja nichts als die notwendige Erscheinungsform der absoluten 
Knebelung des Individuums durch den Aberglauben an die Toten, 
der sich als Familie, Clan und Staat organisiert hat. 


In Japan gibt es bekanntlich keine Kirschen, obwohl im 
Frühling das ganze Land, zur Extase der Snobs, unter zarten 
Blüten ruht. Die Bäume geben Blumen, aber keine Früchte. Sie 
sind sinnlos. Es sieht fast wie ein Symbol aus. Denn: die japa- 
nische Gesellschaft ist ebenso. Sie kann gar nichts hervorbringen; 


E 


8 Alexander Ular: 


sie kann bloß scheinen. Ihr Ziel ist sozusagen, nicht weiterzu- 
kommen, sondern fortwährend zum selben zurückzukehren, zu 
den Toten, zu dem, was die Toten taten, zur Tradition, zu einer 
Tradition, die das uralte Gewesene zur Richtschnur, zum Henker- 
beil des Neuen nimmt. 

Anderthalb Jahrtausende Buddhismus, moderne Technik, euro- 
päische Wissenschaft, gewaltige Anläufe des Christentums haben 
nicht vermocht, in diese härtesten Hirne der Welt befreiende Ideen 
zu hämmern. Und schließlich wird sie wohl nur der Magen, der 
leere Magen, das Problem des früher unbekannten Proletariats 
notgedrungen etwas zugänglicher machen. Heute ist der Ja- 
paner hinter uns noch ebenso weit zurück wie der älteste Assyrier. 
Und hätte es eines Beweises bedurft, so würde der General Nogı 
ihn uns mit aller wünschenswerten Klarheit liefern. 

Dieser Mann war stets als einer der wenigen angeblich Auf- 
geklärten bekannt, die mit Stolz sich als echte Vertreter des wirk- 
lichen Japans brüsteten. Er dachte, wie früher der Adel dachte 
und wie das ganze Volk noch heute denkt. Das heißt, er dachte 
überhaupt nicht, sondern war in jener „schlechthinnigen Abhängig- 
keit von einer höheren Macht“, die Schleiermacher als das Wesen 
der Religion bezeichnet hat; bloß war diese höhere Macht die 
albernste von allen, nämlich der uralte nie ausgerottete Volksaber- 
glaube, die absolute Herrschaft der Toten: nicht der Toten, die 
wie bei uns durch Erinnerung an ihre Taten und Werke wirken, 
sondern der Toten, die im Gespensterreiche wie Menschen weiter- 
leben und handeln, menschliche Leidenschaften und Velleitäten 
aufzeigen, sich persönlich ins Dasein der Lebenden mischen, und 
deren Bedürfnisse und Launen (wenn sie mächtig sind) befriedigt 
werden müssen, wie die eines perversen Neuropathen. Deshalb 
und nur deshalb ging er in den Tod. Seine Andeutung des 
klassischen Feudalselbstmordes und die religiöse Gehobenheit, die 
sich im Volke geltend machte, beweisen es schlagend. 

Und nun noch das Typischste, das Unheimlichste, das Frag- 
würdigste. Der Mann stand im tiefsten Tiefstande alles dessen, 
was wir religiöses Leben nennen, er handelte als Urmensch, als 
Wilder, und um diesem seinem primitiven seelischen Bedürfnisse 
zu folgen, übertrat er die schärfsten Gesetze der Herren, denen er 
Gefolgschaft in den Tod leistete, um ihnen weiter zu dienen. 

Die jämmerlichste soziale Folgeerscheinung des absoluten 
Totenglaubens nämlich stellt zweifellos der Mord der Überlebenden 
dar: das Menschenopfer, das die Juden bereits in grauer Vorzeit 
verpönten (Geschichte Abrahams). Was bedeuten diese Menschen- 
opfer, die noch jetzt bei ganz primitiven Völkern vorkommen? 


Der Totenkult und die Kultur. 9 


Genau dasselbe wie der Selbstmord des Strategen Nogi. Sie be- 
deuteten, daß, wenn doch der Tote weiterlebt und dieselben Be- 
dürfnisse weiterbesitzt, alle diese Bedürfnisse befriedigt werden 
müssen, soll nicht Unheil über die Lebenden kommen; hat einer 
zu Lebzeiten Reis gegessen, so braucht er Reis unter den Ge- 
spenstern; war einer Krieger, so braucht er weiter seine Waffen 
(manche feine Leute lassen sich noch jetzt mit einem Säbel be- 
graben und elegante Damen mit ihren Perlenhalsbändern); war 
einer an zahlreiche Dienerschaft und persönlich an gewisse Diener 
gewöhnt, so mußten diese eben mit ins Jenseits wandern; war 
einer gar Kaiser oder ähnliches, so brauchte er selbstverständlich 
einen ganzen Hofstaat, Frauen, Kinder, Gefolge, Minister, Gene- 
räle usw. Man mußte all diese Utensilien also mit begraben. 
Und das geschah tatsächlich in Japan. In langen Reihen grub 
man zahllose Angehörige, Hörige, Diener und Gefolgsleute, 
Männer, Weiber und Kinder lebendig bis an den Hals rings um 
das Mausoleum des Toten in die Erde ein und ließ sie dort 
qualvoll langsam sterben. Diese erhebende Zeremonie hieß 
Menschenhecke, Chto-gaki. Ihre Opfer waren wahrscheinlich 
weniger gläubig als General Nogi. Sie unterwarfen sich der Pro- 
zedur durchaus nicht freiwillig. Das Jammern und Heulen ;hres 
Todeskampfes muß furchtbar gewesen sein. Denn schon im 
7. Jahrhundert verbot ein etwas nervöser Kaiser unter greulichen 
Strafen diese barbarischen Gepflogenheiten mit der Begründung, 
er habe das grauenhafte Jammern der riesigen Menschenhecke 
seines verstorbenen Bruders nicht ertragen können und es sei daher 
unmöglich, daß derartige Bräuche gut seien. Zu diesem ethischen 
Motiv, das der Kaiser als Abkömmling der Sonne (er heißt ja 
noch jetzt offiziell Ten-no, „der des Himmels“, und durchaus nicht 
Mikado, was „hoher Weg“ bedeutet, ähnlich wie die „Hohe Pforte“ 
in der Türkei oder das altägyptische Pharao „doppelt großer 
Palast“) — das der Kaiser mit Berechtigung zum Gesetz erheben 
konnte, da er ja selbst als Produkt seiner gottgewordenen Vor- 
fahren Gott ist, kam in Wirklichkeit natürlich ein politisches staats- 
moralisches Motiv, nämlich die Verhinderung von Menschenver- 
lusten bei jedem sensationellen Todesfall, die zweifellos die Ver- 
luste damaliger Schlachten weit überstiegen. Aber was kann ein 
Kaiser, und sei er zehnmal ein Gott, gegen die Harthirnigkeit 
seiner Untertanen, gegen altüberkommene Wahnvorstellungen, in 
Hinsicht auf welche das ganze Leben eingerichtet ist? Völker mit 
weniger kümıneriich organisiertem Gehirn hätten, wenn nicht von 
selbst, so doch unter dem Zwange eines solchen drakonischen 
Gesetzes mit der absolutem Totenherrschaft aufgeräumt, wie 


10 Alexander Ular: 


Griechen, Römer, Germanen, Semiten und Ägypter es getan haben, 
um ihre Weltanschauung und ihre Moral auf weniger bornierte 
Vorstellungen zu gründen und dadurch einige Kultur zu ge- 
winnen. Die Japaner waren dazu unfähig. 


Zwar hörten natürlich die erzwungenen Menschenopfer auf, 
da die Mörder grausam zur Rechenschaft gezogen wurden. Aber 
die Sitte wurde dadurch nicht etwa ausgerottet, sondern sozusagen 
verinnerlicht, wie es ja mit allen Überzeugungen geht, die ver- 
boten werden. Die Menschenopfer wurden ganz einfach freiwillig. 
Der Selbstmord zum Zweck der „Gefolgschaft in den Tod“ kam 
auf. Und diese offenbare Umgehung des Staatsgesetzes brachte 
den Schuldigen natürlich nicht etwa Schande, sondern Ansehen 
und Ruhm: sie bewiesen, daß in ihnen der „wahre Glaube“ noch 
stark war. Es wurde also eine „Ehre“, verstorbenen Herren in den 
Tod zu folgen. Die speziellen Begriffe von Ehre aber machen 
recht eigentlich den Unterschied der sozialen Kasten aus (wenig- 
stens von den höheren Klassen aus betrachtet, und zwar meistens 
derart, daß die höchsten Kasten oder die sich als solche betrachten, 
die lächerlichsten Ehrbegriffe besitzen). So wurde die „Ehre“ der 
Gefolgschaft in den Tod fast zum unterscheidenden Merkmal der 
höheren Gesellschaftskreise. Es kam damals in Japan der mili- 
tärische Feudaladel auf, der um so leichter die Gefolgschaft in den 
Tod zu seinem Kastendogma erheben konnte, als sein Handwerk 
ohnehin grausamen Mut, Todesverachtung, Gefühllosigkeit gegen- 
über physischem Schmerz und jene falsche „Ritterlichkeit“ verlangte, 
die die Standesetikette über das Leben wertet. 


Daß derartige gesetzwidrige Ehrbegriffe in Japan vom ganzen 
Volke als berechtigt und lobenswert angenommen werden konnte, 
rührt daher, daß damals schon längst, wie noch jetzt, alles und jedes 
im Leben bis ins Kleinlichste absolut fest geregelt war, und zwar 
nicht auf sozialer Basis, sondern durch den Totenglauben. Ein 
Zimmermannssohn hätte ja den Zimmermannskult aufgegeben, 
also seine Toten beleidigt, wäre also unglücklich geworden, hätte 
alle Moral über den Haufen geworfen, wenn er nicht Zimmermann 
geworden wäre; er wäre Verbrecher geworden, hätte er kostbarere 
Gewänder getragen als die verflossenen Zimmerleute, oder hätte 
er üppiger geschmaust. 


Der Totenglaube hatte Kasten geschaffen, und in jeder Kaste 
wieder zahllose unübertretbare Gesetze, die in sich selbst ihre 
Macht trugen, da sie religiös waren und der Glaube, der ihnen 
zu Grunde lag, gerade durch die Wechselwirkung zwischen den 
gegebenen Lebensverhältnissen und den religiösen Gesetzen, anstatt 


Der Totenkult und die Kultur. 11 


sich abzuschwächen, geradezu zum Instinkt wurde. Mit einem 
Worte: es gab überhaupt keine individuellen Japaner mehr; jeder 
hatte nur die Gedanken, Gewohnheiten und Tätigkeiten der Gruppe, 
in die er zufällig hineingeboren war. 

Die herrschenden Kasten hätten toll sein müssen, wenn sie, 
die schon längst durch die buddhistischen Lehren und das Ein- 
dringen chinesischer Kultur aufgeklärt waren oder aufgeklärt 
hätten sein müssen, diesen für sie so außerordentlich bequemen 
sozialen Habitus des Volkes hätten ändern wollen. Sie sank- 
tionierten daher diese ganze seelische und soziale Erstarrung des 
Volkes noch durch besondere drakonische Gesetze, die kaum nötig 
gewesen wären, aber jedenfalls alle Velleitäten individuellen Tuns 
unmöglich machten. 


Das Volk seinerseits gab sich natürlich mit seinem nunmehr ganz 
und gar zu bloßem Rituell gewordenen Leben (selbst das Ein- 
schlagen eines Nagels ist ja ein religiöser Akt, der auf besondere 
fest bestimmte Weise vollzogen werden muß) durchaus zufrieden. 
Denn seine Toten waren ja im Gespensterreiche den Toten der 
Herrschenden unterworfen, wie sie es im Leben gewesen waren; 
sie hatten also die Satzungen der höheren Toten, die drüben über 
ihre Toten herrschten, gehorsam zu beobachten, und auch diese 
höheren Toten je nach Rang zu verehren, am höchsten, am abso- 
lutesten also die Toten des Herrschers und ihre unmittelbare Er- 
scheinung auf Erden, den Kaiser, der somit selbst zum Gott wurde. 
Alles, was der Kaiser tat oder geschehen ließ, war also gut. Und 
der Kaiser ließ — sicherlich aus denselben politischen Gründen, 
die noch jetzt in Preußen die gesetzwidrigen Ehrbegriffe einer der 
Dynastie besonders nützlichen Kaste aufrechterhalten — die gesetz- 
widrige „Gefolgschaft in den Tod“ bei seinem militärischen Feudal- 
adel, seinem wesentlichen Herrscherwerkzeuge, zu, weil diese 
Sitte, ganz abgesehen von ihren primitiven psychischen Grund- 
lagen, zweifellos die ihm so nützlichen Begriffe der absoluten 
Treue, des Mutes, der Todesverachtung stärkte. 


Es gehörte somit zum Wesen des Adels, war sozusagen sein 
typisches Vorrecht und Merkmal, im Widerstreit zum Staatsgesetz 
den toten Vorgesetzten freiwillige Menschenopfer zu bringen, dem 
ältesten Volksaberglauben stets neue Kraft zu verleichen, die 
Realität des Gespensterreiches immer aufs neue durch Selbstmorde 
nachzuweisen, dem Volke gegenüber also die Wahrheit jenes 
primitiven Aberglaubens von oben herunter darzutun, der es zum 
absoluten Sklaven der toten Vergangenheit und der lebendigen 
höheren Kaste machten. 


12 Alexander Ular: 


Die Sage, die ja bei uns zu meun Zehnteln und bei den 
Japanern überhaupt das ausmacht, was wir Geschichte nennen, 
nämlich das Interpretieren des Geschehenen je nach den Vor- 
stellungen der Lebenden, pflegt derartige lange und verwickelte 
soziale oder politische Entwicklungen organisch auf ein einziges 
Ursprungsereignis zurückzuführen. So erzählt denn auch die ja- 
panische Geschichte, daß im Jahre 1333 der letzte Hojo-Regent 
durch Selbstmord endete und ihm die Mehrzahl seiner Vasallen 
sofort durch Harakiri in den Tod folgte (da er doch im Jenseits 
derselben Gefolgschaft bedurfte). Hierhin verlegen also die Japaner 
den Ursprung ihres vielgerühmten Bushi-do, des „Weges der 
Ritterlichkeit“, jenes Ehrbegriffes, der zeitweise in Europa blöd- 
sinnig bewundert wurde und sicherlich das Unmoralischste, Un- 
vernünftigste, Unnützeste, Kulturwidrigste, Albernste darstellt, 
was je Menschen als Verhaltungsmaßregel empfohlen wurde. Es 
ist ja nur das absolute Hintansetzen des Individuums ohne Rück- 
sicht auf seinen individuellen Wert, und diese Hintansetzung nicht 
in Beziehung auf einen Zweck oder ein Ziel, das sich irgendwie 
rechtfertigen ließe, sondern in bezug auf den rohesten, primitiv- 
sten Aberglauben, von dem die Ethnologie uns berichtet. 

Der Selbstmord zur Gefolgschaft in den Tod, die praktisch 
und von der im 7. Jahrhundert bereits proklamierten Staatsmoral 
aus als ein wahres Verbrechen gegen die Gemeinschaft, als eine 
unsinnige Verschwendung menschlicher Kraft und Persönlichkeit 
auf Kosten der Gemeinschaft gebrandmarkt war, grassierte als 
moral- und menschentötende Adelsepidemie jahrhundertelang in 
widerwärtigster Weise, aber unter dem begeisterten Beifall des 
ganzen Volkes, das geradezu in der Beobachtung der unsinnigen 
Sitte nicht nur das Kennzeichen höheren gesellschaftlichen Ranges, 
sondern die Erfüllung höchster religiöser Pflicht sah, zu der es 
sich selbst großenteils gern unfähig bekannte, nicht ohne diese 
Unfähigkeit dem Gesetze des Kaisers zuzuschreiben. 

Der Unfug wurde aber so schlimm, das sinnlose Wegsterben 
der nützlichsten Staatsdiener so fatal, daß schließlich im Anfang 
des siebzehnten Jahrhunderts der große Shogun ljejassu, der ein- 
zige einigermaßen vernünftige, übrigens buddhistisch und vor 
allem von chinesischer Kultur angekränkelte Gesetzgeber Japans, 
mit drakonischer Wut in dieses Giftnest patriotischer Unmoral und 
kindischen Aberglaubens fuhr. Er verbot die Gefolgschaft in den 
Tod durch ein Gesetz, nach dem alle Angehörigen des Schwach- 
sinnigen, der dieses Verbrechen begang, aufs strengste zur Ver- 
antwortung gezogen, mit Einziehung ihrer Güter, ja mit dem Tode 
bestraft wurden. 


Der Totenkult und die Kultur. 13 


Natürlich zeigte sich dies Gesetz noch un wirksamer als die 
Bestimmungen des Nippon-dji des 7. Jahrhunderts. Denn damals 
hieß es ja nur einem wüsten Aberglauben entgegentreten, jetzt 
aber, nicht nur demselben immer fester gewordenen Aberglauben, 
sondern auch noch der Tradition, dem Ehrbegriff der mächtigsten 
Kaste den Garaus machen. Die Menschenopfer an die Toten, wie 
sie der Adel beging, wurden vielleicht etwas seltener infolge der 
furchtbaren Strafbeispiele, die an den Überlebenden manchmal 
statuiert wurden. Aber sie blieben zahllos. Ja, mehr noch: da 
jederzeit das Volk schließlich sucht, es den herrschenden Kasten 
nachzutun, und dabei regelmäßig zunächst die Perversitäten, das 
Schlechteste, das Dümmste nachahmt, das die Herrschenden zu 
charakterisieren scheint (man nehme nur die Hüte unserer Arbeiter- 
innen), so empfand man es im Volke als außerordentlich nobel, 
wenn jemand, der gar nichts mit der Adelskaste zu tun hatte, sich 
ihrem mörderischen Unfug ergab. Es kam hierzu natürlich noch 
die Idee, daß ja im Grunde der Adel jene „Moralvorschrift“ be- 
folgte, die der Glaube an die Toten an und für sich verlangt, daß 
man also eigentlich zu einem Grade der „Frömmigkeit“ zurück- 
kehrte, der zwar gesetzlich verboten, aber trotzdem der höchste 
war, den man sich vorstellen konnte. 

Der gute General Nogi — und das ist hier der wesentliche 
Punkt — hat also Selbstmord verübt in Übertretung zweier der 
schärfsten sozialpolitischen Gesetze, die in Japan gegeben wurden, 
und er hat diese Gesetze übertreten, weil in ihm, dem ganz mo- 
dernen Heerführer, dem Mann, der Mathematik, Physik, Chemie, 
ja sogar Geschichte kannte, der allerprimitivste, atavistisch über- 
kommene Aberglaube, der Dämonenglaube der tiefststehenden 
Naturvölker mächtiger war, als alle Logik, als aller Patriotismus, 
als alles auch nur simpelste Verständnis für das Wesen mensch- 
licher Kultur. Und wenn dieser Mann, trotz der Entwicklung 
seiner intellektuellen Fähigkeiten, trotz zahlloser auf seinen 
rudimentären Geist gepfropften tatsächlichen Kenntnisse, trotz der 
scheinbar totalem Anpassung an vernunftgemäßes Denken ohne 
weiteres in den Urzustand zurückfiel, wie muß es dann wohl um 
die ungeheure grauenhaft unwissende und jedenfalls nichts über- 
legende Masse seines Volkes stehen, das in seinem Tode jubelud 
das Wiederaufleben der ihm zu Instinkt gewordenen Wahuvor- 
stellungen begrüßt, die man schon fast unter dem verachteten und 
verhaßten Eindringen moderner Resultate erstickt glaubte? Das 
muß nämlich jeder Europäer endlich einmal trotz aller Lackarbeiten 
und trotz aller minutiösen Malereien der Japanver (die in Wirk- 
lichkeit nur die notgedrungene Spielerei eines Volkes sind, dem 


14 Alexander Ular: 


alles Denken und Tun verboten war) ein für alle mal lernen, daß 
Japan nur von uns erzielte Resultate entlehnt hat, aber bisher 
absolut unfähig geblieben ist, sich das anzueignen, aus dem diese 
Resultate hervorgehen. 

Japaner verstehen wir überhaupt nicht, oder doch nur in- 
sofern wir konstatieren können, daß sie als Individuen noch nicht 
existieren, sondern nur als kollektiver Ausdruck einer ungeheuren 
verwickelten Masse von Toten, die als lebend gedacht werden. 
Wir schreiten vom Lebenden zum Lebenden, und das ist vielleicht 
unser ganzer Ruhm, unsere ganze Überlegenheit, unsere ganze 
Kultur. Wir nehmen die Toten nur als in ihrer Zeit lebend. 
Wir nehmen sie ale Vorstufen. Wir gehen über Goethe wie über 
Aristoteles hinaus; sogar Bismarck, der keinen pommerschen Gre- 
nadiersknochen im Orient opfern wollte, ist in bezug auf Welt- 
politik schon eine abgetane Sache; und wir nehmen von den Toten 
ganz genau nur das, unterwerfen uns ihnen ganz genau nur ın 
dem, was unter den zu unserer Zeit herrschenden Verhältnissen 
nützlich, gemüts- und tätigkeitserregend zu wirken vermag. Die 
Japaner aber nehmen die Toten noch immer als zu jeder Zeit 
lebend, und zwar nicht durch ihre Taten, sondern in ihrer im 
Leben konstatierten Persönlichkeit existierend. Und deshalb gehen 
die Japaner zu den Toten zurück, während wir über sie hinaus- 
gehen. Deshalb können die Japaner tatsächliche Sachen nachahmen, 
aber nichts aus sich selbst schaffen. Deshalb sind sie kein Kultur- 
volk, ist kein Japaner innerlich frei genug, um selbst etwas zu 
schaffen oder auch nur schaffen zu dürfen, was über die unge- 
heure Macht seiner Milliarden Toten hinausgeht, was etwas 
selbständig gefundenes Neues ist. 

Der Riesenkampf gegen die Toten, den wir sieghaft geführt 
haben und weiter führen, der Kampf gegen die Mächte der Ver- 
gangenheit, deren illusorischen Charakter wir immer schärfer, 
immer zwingender nachweisen, der Kampf gegen die eigentliche 
Kinderkrankheit des Menschengeschlechts, gegen den Wahn der 
Anthropomorphisierung, gegen das primitive Bedürfnis alles Ge- 
schehen auf Menschenähnliches zurückzuführen, auf Menschseelen, 
die in den Dingen sitzen, und über die Dinge herrschen, dieser 
Jahrtausende hindurch mit unendlichen Opfern, aber auch wunder- 
vollen Triumphen geführte Kampf: die Japaner haben ihn noch 
nicht einmal begonnen. Sie können wohl Funkenspruchstationen 
ebensogut einrichten wie wir, weil wir es ihnen zeigen, aber sie 
haben keinen Begriff und können keinen Begriff haben von der 
ungeheuren Gedankenreihe, von den fabelhaften Geistesschlachten, 
von der fast unendlichen Reihe von mühsam erkämpften, ver- 


1 TE - 


* 


Der Totenkult und die Kultur. 15 


teidigten und fortgeführten Prämissen, die schließlich jenes Wunder 
möglich machten. Und darin liegt der ganze Unterschied von 
Kultur und Unkultur. $ 

Der Europäer denkt; der Japaner ahmt die Resultate des 
Denkens nach. Der Europäer handelt; der Japaner ist Werkzeug 
der Toten, die handeln. Der Europäer lebt; der Japaner hat den 
Schein des Lebens, aber in Wirklichkeit leben durch ihn nur seine 
Toten. Ein Moltke, seiner Kraft bewußt, lebt der Gemeinschaft, 
der unsterblichen Kollektivität, so lange er kann; ein Nogi stirbt, 
seiner Kraft bewußt, weil die Gemeinschaft der Toten wichtiger 
ist als die Lebenden. Der Japaner hat nur eine Vergangenheit, 
die ihn erdrückt; der Europäer hat eine Zukunft, die ihn erhebt. 
Der Japaner ist nichts als ein beliebiger Ausschnitt aus einer 
Kollektivität; der Europäer aber ist ein Mensch. 

Nogi hätte besser getan, dies nicht so dramatisch zu beweisen, 
und das japanische Volk hätte über diese Demonstration seiner Er- 
starrung im Urmenschentum nicht mit Jubel und Bewunderung, 
sondern mit Entrüstung und Trauer als über eine Beleidigung 
quittieren sollen. Denn solange die Toten eines Volkes wichtiger 
sind als die Lebenden, lebt dieses Volk nicht, sondern vegetiert. 
Und solange der Mensch sich nicht auf sich selbst, sondern als 
willenloser Sklave unter seine Toten stellt, zwingt er sich auf 
niedrigste Stufen seiner möglichen Entwicklung zurück; er entrãt 
dessen, was eigentlich den Menschen erst zum Menschen und 
den Menschen zum Kulturmenschen und den Kulturmenschen zur 
reichen Persönlichkeit macht; der grenzenlosen Freiheit des Wollens, 
die nur die Schranken ihres eigenen Vermögens kennt. 


16 | 


Dr. Conrad Simonsen: Die dänische Seele. 
Deutsch von Richard Guttmann. 


ie seelischen Eigenschaften eines Volks bestimmen im 
wesentlichen drei Faktoren. Am zeitigsten und wohl am 
tiefsten wirken die landschaftlichen Umgebungen ein, 


hiernach die Stellung, die die Menschen in der Gesellschaft ein- 4 
nehmen, die Arbeit, mittelst derer sie sich ernähren. In letzter 
Reihe steht der einzelne unter dem Einfluß der Genies seines + 


Landes, ihrer Erfindungen, Kunstwerke oder Persönlichkeit. 

Die Natur des kleinen dänischen Inselreichs trägt ein ruhiges, 
idyllisches, im ganzen gleichförmiges Antlitz. Wohl spiegeln sich 
in ihm alle Farbem der Jahreszeiten, alle Temperaturnuancen, aber 
keine gewaltsamen Ausbrüche der Erde haben hier große Unter- 
schiede der Landschaft, Disharmonien geschaffen. Wo die sanft 
geschwungenen Linien des Landes enden, lächelt der Fjord, setzt 
das eigensinnig rollende Meer ein. Die Kontraste sind nie allzu- 
groß, groß dagegen ist der Reichtum der Abtönungen. Ebenso- 
wenig zu Extremen neigend, doch im kleinen von einander ab- 
weichend sind die Seelen, die in dieser Landschaft heimisch 
sind, sei es auf westjütischer Heide, im Wald, auf dem Ackerland, 
auf den vielen windumbrausten Inseln oder in den Häusern 
der Großstadt. 

Auf dem Weg von der Natur zur Kultur, vom Einfachen zum 
Zusammengesetzten reißt sich der Menschensinn nicht von der 
Landschaft los, in der schon die Altvordern wurzelten. Wenn 
die Entwicklung das Individuum zum Wortausdruck heranreifen 
läßt, vermag es doch höchstens nur das eigne Wesen zu enthüllen. 

Ob auch die Geschichte des dänischen Stamms von der des | 
gesamten Nordens nicht zu trennen ist, und die Stämme der ja 
geographisch weiter verbreiteten Nordgermanen das Enge des | 
geistigen Horizonts, das Fehlen freier Vorstellungen gemeinsam 
haben, so tragen die Bewohner Dänemarks doch ein besonderes 
geistiges Gepräge. Unser Land, das weder Einöden noch Berge 
besitzt, dafür aber fruchtbarer als Schweden und Norwegen ist 
und einer beständig wechselnden Witterung unterliegt, hat ein 
materialistisches, ruhig dahinlebendes, idyllisch-lyrisches Volk aus 
uns gemacht, das hauptsächlich auf ein wenig dem Wechsel unter- 
worfenes Wohlleben abzielt, unter Bevorzugung des traulichen 
Elements, das sehr reflektierend, ein wenig träumerisch ist, aber 
einen feinen Schönheitssinn in vielen kleinen Dingen offenbart. 
Gleichzeitig sind wir jedoch sorglos und kurzsichtig. 


— —— — — — — — 


— —— — T = 


Die dänische Seele. 17 


Der Durchschnittsdäne hat viele gute, stets bürgerliche Eigen- 
schaften, der Westjüte ist starrsinnig und schwerfällig, im Gegen- 
satz zum Bewohner Kopenhagens, der spielerisch und schlagfertig 
ist. Fast stets ist der Däne ehrlich, solid, vernünftelnd, behilflich 
und rechtschaffen. Diese gesunden Eigenschaften bewahrt er, so- 
lange er sich innerhalb des engen Horizonts der Heimat bewegt, 
solange er nicht an der höheren Kultur teilnimmt. Und darunter 
versteht eine Agrar- und Handwerkerbevölkerung zumeist Falsch- 
heit, Raffiniertheit und Degeneration. Im allgemeinen wirkt die Kultur 
ja auch zerstörend, wenn nämlich der Versuch gemacht wird, sie 
einer Mehrzahl einzuimpfen, was zu Verkehrtheiten und Äußer- 
lichkeiten führt. Die genannten guten Eigenschaften des Volks 
würden in diesem Fall ja auch verschwinden, denn ein Volk wird, 
wie Göthe Egmont sagen läßt, in seinem Denken stets kindlich 
bleiben, und Intelligenz wird nie populär werden können. 

Wenn mit dem neuen Jahrhundert in Dänemark die Demo- 
kratie sowohl politisch wie geistig ans Staatsruder gelangt ist, so 
ist einer der wichtigsten äußeren Gründe hierfür im Wirken 
Georg Brandes’ zu suchen. Die inneren Gründe sind aus dem 
Volkscharakter erklärlich. Denn teils ist unsere allgemeine Volks- 
aufklärung größer als in anderen Ländern, teils haben uns Denker 
gefehlt. Schließlich haben wir uns nie tiefere Kulturwerte an- 
eignen können. Denn wie haben wir auf sie reagiert? Hier ist an 
erster Stelle ans Christentum zu denken. 

Sicherlich ist es bei allen Völkern, wo es Eingang fand, dem 
Charakter des Landes — je nach Notwendigkeit — angepaßt 
worden. Doch in keinem Kulturstaat ist es mehr in der Theologie 
und in Äußerlichkeiten erstarrt, verflacht, bequem gemacht worden 
und unkenntlich geworden wie in Dänemark. Jesu extremes Gebot, 
das Zeitliche zugunsten ewigen Lebens zu verleugnen, liegt der 
an die Scholle gebundenen Fühl- und Denkweise des Dänen: gänz- 
lich fern. Nachdem wir im Protestantismus zum glücklichen Kom- 
promiß mit dem Königshaus und unserem alten gesunden: heid- 
nischen Naturell gelangt waren, hatten wir für den Versuch Sören 
Kierkegaards, das Christentum zur Lebenssache zu erheben, 
kein Verständnis. 

So wenig Empfänglichkeit wir für eine Religion bewiesen, die 
an unserer materiellen Sicherheit rütteln wollte, so ablehnend ver- 
hielten wir uns einer Lehre gegenüber, die sich zum Christentum 
im Gegensatz befindet. Nietzsches harte Theorie vom Über- 
menschen ging an uns eindrucksios vorüber, wiewohl Dänemark 
das erste Land war, in dem diese Anschauungen verkündet wurden. 
Während Deutschlands Geistesleben unter der Einwirkung von 


18 Dr. Conrad Simonsen: 


Nietzsches Postulaten fast gelähmt worden zu sein scheint und sich 
auch Schwedens, Frankreichs und Englands Literaten von seiner Größe 
haben hypnotisieren lassen, spielt er in Dänemarks Kultur keine 
Rolle. Nur Johannes V. Jensen scheint ihn gelesen zu haben, 
auf unsere übrigen zeitgenössischen Schriftsteller scheint er einfluß- 
los geblieben zu sein. Erst im letzten Jahre erschien „Zarathustra“ 
ins Dänische übersetzt im Kommissionsverlag. Sicherlich sind 
Nietzsches Werke nur von wenigen studiert worden. 

Haben wir ein Verhältnis zur Mystik? Nein. Ebensowenig 
wie Dänemark je ein religiöses Genie geboren wurde, das nicht 
auch dogmatischer Natur war, hat es unter dem Einfluß eines der- 
artigen Geistes gestanden. Wir haben in dieser Hinsicht nichts 
mit Deutschland gemein, noch weniger mit Schweden, dessen Be- 
wohner stark zur Mystik neigen. 

Es dient nicht zu unserer Ehre, daß wir unsere Seele nie in 
starke Schwingungen zu setzen vermögen, weil wir als schlichte, 
nüchterne Bürger vor allem Großen und Ungewöhnlichen panische 
Angst empfinden, die Furcht, uns lächerlich zu machen, des bürger- 
lichen Ansehens verlustig zu gehen. Wird doch auch in Dänemark 
Armut oft Armseligkeit gleichgesetzt, und intellektuelle Arbeit, die 
nicht zu Amt und Würden führt, für unpassend angesehen. 

Der Däne, insbesondere der Kopenhagener, will für kritisch 
gehalten werden, weil er sich nicht begeistern läßt. Aber unserer 
Vernunft fehlt die Tiefe, unsere Kritik erstreckt sich auf Kleinig- 
keiten. Wir lachen über alles, was aufzufassen wir nicht imstande 
sind, und werden von der komischen Angst verfolgt, Ausländern 
mißfallen zu können. Auch darin verraten wir, daß unsere ver- 
suche einer kühlen, ironischen Lebensauffassung nicht in wirklicher 
Überlegenheit wurzeln, sondern in Bescheidenheit und dem Idyll, 
das uns die Natur in die Wiege gelegt hat. Ja, wir sind Europas 
provinziellste Nation. Überall erkennt man den Dänen am gut- 
mütigen, bürgerlichen Auftreten, selbst ob er bartlos und zurück- 
haltend wie ein englischer Weltmann erscheint. Und da er als 
| Angehöriger eines kleinen, ungefährlichen Staats in der Regel 
| wohlwollend aufgenommen wird, ein liebenswürdiges Wesen zur 


® 


| Schau trägt und die Größe anderer willig anerkennt, wenn sie 
ausländischen Ursprungs ist, sichert er sich meist eine freundliche 
4 Erinnerung. Aber in der Heimat, unter den Seinigen, verhält er 
sich anders. Jede Ecke soll hier gerundet, jede Tiefe verdeckt 
werden. Und wir lassen uns daher gern von einer Mehrheit re- 
gieren — oder in geistiger Beziehung von einer Rasse wie den 
Juden, die die Härte, den Witz, die Initiative besitzt, die uns 


| l fehlt. — | 
1 | 

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Die dänische Seele. 19 


An Schilderungen des Volkes ist in der dänischen Literatur 
doch kein Mangel, ob auch die Behandlung stets nachsichtig 
ist und nur wenige Typen umfaßt. Wenn auch die dänische Kultur 
derjenigen Norwegens ähnlich — von gestern ist und das gesell- 
schaftliche Leben Stil vermissen läßt, so haben wir — im 
Gegensatz zu Deutschland — größere Fähigkeiten für dem wirk- 
lichen Lebensgenuß, weniger die, zu grübeln, zu moralisieren. 
Unser Charakter enthält also ein bedeutendes ästhetisches Element, 
und im Verhältnis zur geringen Volksmenge ist Dänemark — 
gleich Island, Norwegen und Schweden — reich an Künstlern, die 
teilweise Weltruf besitzen würden, wenn ihre Begabung nicht 
wesentlich lyrischer Art, und die Nation, die sie schildern, nicht 
so klein wäre. 

Bereits zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts schuf der 
Vater unserer nationalen Dichtung, der Norweger Ludwig 
Holberg ein treffliches Bild des damaligen engen und einfältigen 
Kopenhagen und in „Jeppe auf dem Berg“ das des tyramnisierten 
und verachteten Bauern, dessen Geistesbildung heute noch viel zu 
wünschen läßt, trotz des materiellen Aufschwungs und der großen 
Macht, zu der er gelangt ist. 

Während der Periode der Romantik gab Friedrich Paludan- 
Möller in der epischen Dichtung „Adam Homo“ eine Schil- 
derung des charakterschwachen, liebenswürdigen Bourgeois seines 
Landes. Dieses Werk bleibt jedoch an der Oberfläche haften, ist 
wenig konzentriert und läßt die Knappheit vermissen. Der Typ 
ist zwar germanisch, aber nicht ausgeprägt dänisch. Erst 
J. P. Jacobsen ift den gebildeten Dänen seiner Zeit im Roman 
„Niels Lyhne“ (1881), Leben gewinnen. Niels ist eine poetische, 
stille, träumerische, schwermütige, weil in der Provinz heimische 
Natur, die Georg Brandes’ Vorträge in der Hauptstadt zum Frei- 
denker wandeln und mehr und mehr zum Pessimisten machen, der 
der Wirklichkeit ehrlich ins Auge blicken zu können glaubt. Niels’ 
Wesen eignet auch der Held des 15 Jahre später erschienenen 
Henrik Pontoppidauschen Romans „Hans im Glück“, der 
unter den Einflüssen des modernen Lebens steht. Auch „Hans“ ist 
ein. Gottsuchender, ein biegsamer Mensch und Träumer, dessen 
Pessimismus sich aber zum Zynismus, zur Härte, zum Galgen- 
humor entwickelt hat. Er ist jener Typ, den die Brüder Georg 
und Edvard Brandes vom Kopenhagener entworfen haben, 
den der ebenfalls jüdische Journalist Gustav Eßmann in seinen 
Novellen — doch ohne Überlegenheit — geschildert hat. Ober- 
flächlich betrachtet, erscheint der gebildete Däne der 90er Jahre als 
Europäer voller Skepsis, Nervosität, Blasiertheit und Frivolität, 


GETA EE 


20 Dr. Conrad Simonsen: 


den im Grunde jedoch die Schlichtheit, das Phlegma und die Senti- 
mentalität nie im Stich lassen. Im Roman „Danskere“ („Dänen“) 
hat Johannes V. Jensen die Jugend seiner Zeit gezeichnet, wie 
sie, ohne jede Ideale, noch nicht an sich selbst zu glauben vermag. 
„Wer in einer christlichen Erziehung aufgewachsen ist, dem sitzt 
— unbewußt — gar vieles fest. Ich glaube, daß diese Leute sowohl 
aufbauen wie einreißen müssen. Daher bleibt ihnen im Leben fast 
keine Zeit mehr zu anderen Dingen. Vieles Denken tut weh. Da- 
her wurden sie Pessimisten.“ 

Aber auch aus einem anderen Grunde wurden sie in den 
80er und 90er Jahren Pessimisten. Ein Mann zwang uns in seine 
Macht. In dieser Periode wurden wir unserer Religion, unseres 
Nationalitätsbewußtseins beraubt, aller unserer dänischen Eigen 
tümlichkeiten wegen verhöhnt. Der Mann, dem wir uns beugten, 
war Georg Brandes. Brandes behauptet, er sei Däne, weil seine 
Wiege in Kopenhagen gestanden habe. Brandes besitzt jedoch 
keine einzige der dänischen Eigenheiten. Unsere Genies waren alle 
kindlich, mild, phlegmatisch, bescheiden, bisweilen auch schwer- 
mütig, reflektionskrank oder gar kindisch. Nichts hiervon finden 
wir bei Brandes wieder. Ist er naiv, liebte er je die Bauernerde 
seiner Heimat? Fühlte er sich in Dänemark je heimisch? 

Eine ganz oberflächliche Kenntnis seiner Werke genügt, um 
zu erkennen, daß Brandes weder ein dänischer, noch nordischer 
Geist ist. Hätte er jedoch die Zugehörigkeit zur semitischen Rasse 
offen eingeräumt, die sowohl seine Stärke wie Begrenzung be- 
dingen, so würde seine Stellung klarer, sein Einfluß nicht so ver- 
wirrend gewesen sein. Sind wir doch alle Schuldner von Persön- 
lichkeiten, die nicht Landsleute von uns sind. Aber Brandes hat 
es stets als Kränkung empfunden, für einen Juden gehalten werden 
zu müssen, und die Zugehörigkeit zu seiner Rasse geleugnet. Er 
hat sich als Atheist bezeichnet und nicht verstehen wollen, daß, 
Rassen — und nicht das Christentum — ein Volk charakterisieren, 
daß niemand sich von seiner Nationalität losreißt, ob er auch 
Bürger eines anderen Landes wird und religiös ungläubig ist. 
Dennoch hat Brandes gemeint, uns unserer Naivität wegen 
schelten zu müssen, deren er ja bedurfte, um sich zur Macht auf- 
zuschwingen. Dafür hat er jüdische Geister zweiten und dritten 
Ranges, wie Disraeli, Lassalle, Börne, Wassermann und Bernstein 
in die Wolken gehoben, ihnen literarisch eine Stellung zugewiesen, 
die ihnen nicht zukommt. Schließlich hat er Dänemarks Gut- 
mütigkeit auf die Probe stellen zu müssen geglaubt dadurch, daß, 
er rief, man hindere sein Vorwärtskommen, weil er Jude sei. Ein 
eingebildetes Martyrium diente ihm als Reklame. 


Die dänische Seele. 21 


Welche Gefühle sind bei Brandes durch das dänische Volk 
verletzt? Die einzige Enttäuschung, die er hier erlebte, war, daß 
ihm keine Professur zuteil wurde. Schade, daß dem nicht so war. 
Wir hätten nicht zu befürchten brauchen, daß er gleich Nietzsche 
eine derartige Stellung als ein Hindernis zur Entwicklung eigner Ge- 
danken empfinden würde. Denn Brandes hat nichts Positives ge- 
schaffen, nichts Selbständiges. Das Wirken vieler Universitäts- 
professoren ist ebenso reich gewesen, ohne daß sie versucht hätten, 
ihre Werke an denen anderer „Berühmtheiten“ des Kontinents zu 
messen. 

Einige seiner Gegner waren unkultiviert genug, in seiner Rasse 
und seinem Unglauben eine Gefahr zu erblicken. Aber sie ermü- 
deten rasch, verstummten bald. In dem verzagten Land begegnete 
ihm keine ernste Kritik, und so wuchs eine Generation heran, die 
ihn vorübergehend vergötterte. Jetzt sind auch diejenigen, die 
seine Schuldner zu sein glauben, alt geworden. Und Brandes’ 
Wirken schließt um das Jahr 1910. Damals lenkte er die Aufmerk- 
samkeit auf Nietzsche hin, glaubte er doch, daß es seine Pflicht 
sei, das Volk entchristlichen, als Prophet der Gottlosigkeit auf- 
treten zu müssen. Er suchte zu beweisen, daß Dänemarks Kultur 
rückständig sei, und agitierte für Begriffe wie „Gedankenfreiheit“, 
„den Sieg der Wahrheit“, „Fäulnis der Ehe“, Ideen, die er vom 
Ausland, von Voltaire übernommen hatte, die nur bei Philosophen 
auf Zustimmung zu rechnen haben, die den Rassen- und Nationa- 
litätsgedanken, eine Evolution leugnen. Die Propagierung der 
Voltaireschen Ideen jedoch, die vor 200 Jahren eine Kulturtat dar- 
stellen mochten, kann heute Barbarei sein. — Nur bei einem so 
kleinstädtischen Publikum wie dem dänischen konnten die Brandes- 
schen Anschauungen Eingang finden. Die Brandesschen Schriften 
sind aus diesem Grunde unzeitgemäß und verfehlt; denn wer nicht 
die Bedeutung der Rasse, Religion und Nation anerkennt, dem 
fehlt der Blick für Kulturwerte. Daher blieb auch Brandes unter 
uns ein Fremder. Er entdeckte unseren hervorragenden Dichter 
J. P. Jacobsen nicht, als dieser sich jung und unbekannt mit seinen 
Gedichten an ihn wandte, die ihn später berühmt machen sollten. 
Er tat sein mögliches, um unseren nächstbedeutenden, modernen 
Dichter, den unglücklichen Herman Bang, durch Schweigen zu 
unterdrücken; dem jüngsten, stark nationalen Talent eines 
Johannes V. Jensen gegenüber verhält er sich durchaus verachtend 
und feindlich. 

Brandes geringes psychologisches Verständnis ist z. T. dem 
Umstand zuzuschreiben, daß er nicht darwinistisch zu denken ver- 
mag. Er glaubte, daß der Ungleichheiten nicht so viele seien, wie 


22 Dr. Conrad Simonsen: 


sie in Wirklichkeit sind, daß Aufklärung und Atheismus überall 
zu helfen vermöchten. Daraus erklären sich seine Rufe von „der 
Dummheit der Menschen“, die im der veralteten Voltaireschen 
Lebensauffassung ihren Grund haben. So erklärt sich sein Mangel 
an Verständnis für eigenartig fühlende Dichter wie Kleist, Platen, 
Wilde und Walt Whitman oder Herman Bang, deren er entweder 
keine Erwähnung tut oder deren Werke er falsch aufgefaßt hat. 
Hierin liegt auch der Grund des Verkennens der dänischen Nation, 
ihres Phlegmas, Idylis, Starrsinns. Wenn er verstanden hätte, daß, 
eine Literatur stets an den Boden der Heimat gebunden ist, 80 
würde er nicht mit seiner leichtfüßigen Begeisterung Mißtrauen 
zur religiösen Uberzeugung ins Gemüt des Bauern gelegt und 
Tausenden geschadet haben. 

Vorzüglich hat Jacob Knudsen, der die Sinnesart des ge- 
meinen Mannes besser als andere zu kennen scheint, im Roman 
„Lehrer Urup“, dargetan, welchen Schaden der Freidenker durch 
eine Überschätzung des Schlagworts „Gedankenfreiheit“ verursacht, 
um die politische Mehrheit zu gewinnen. So kommt es, daß 
Georg Brandes ein ganz anderes Resultat seines Wirkens erlebt, 
als er geträumt hat. Gewiß — er ist zwischen die nordische und aus- 
ländische Literatur als Mittler getreten. Aber durch seinen Haß 
zur Religion und Illusion, der ein mangelndes Verständnis für die 
Kunst offenbart, in der sich Glaube immer richtiger als Unglaube 
erwiesen hat, durch einen anmaßenden Spott, der auf einen Mangel 
an Genialität hindeuten dürfte, durch Agitieren für Anschauungen, 
die seine Eitelkeit befriedigten, hat er eine pessimistische 
Stimmung geschaffen. Er hat in unsere Sprache einen Journalisten- 
jargon eingeführt, mehr als das; der gebildete Däne ist so frei- 
sinnig geworden, wie es ihm seine Intelligenz erlaubt, er ist ent- 
christlicht, unsicher in seinem Lebensgefühl geworden, hat jede 
elementare Freude am Dasein verloren und sucht gierig gemeine 
Genüsse zu befriedigen. Der Materialismus, die niedrige Dernkart 
und Verkommenheit so vieler leitender, smarter Männer unserer 
Gesellschaft ist in zwei vorzüglichen Zeitromanen beleuchtet 
worden, in Wilhelm Thamigs „Der große Appetit“ (1906) und 
Paul Levins „Die dänische Familie“. Die nervöse Literatur da- 
gegen, deren Pflegstätte Kopenhagen ist, ist rein subjektiv ge- 
worden. Die z. T. alten Beamtenfamilien entstammenden Schrift- 
steller sind resigniert und traurig gestimmt worden und ver- 
künden die Wollust der bitteren Erkenntnis des Schmerzes und der 
kurzen Dauer aller Freuden. 

Es würde um Dänemarks augenblickliche Kultur und die Zu- 
kunft des Volks trübe aussehen, wenn die Resignation, die Kopen- 


Die dänische Seele. 23 


hagen beherrscht, auch andere Teile des Landes ergriffen hätte. — 
Beim national gesinnten und religiös ernsteren Landbewohner jedoch, 
wo Brandes keinen Einfluß gewann, haben sich die spezifisch 
dänischen Eigenschaften wie nie früher entfaltet. Hier ist der 
materielle Aufschwung so groß gewesen, daß unsere Meiereien, 
unsere Landwirtschaft als in erster Reihe stehend und vorbildlich 
gerühmt werden. Und dieser wirtschaftliche Hochstand der Nation hat 
eine kräftige geistige Bewegung im Gefolge gehabt. Vor allem in der 
engeren, volkstümlich-nationalen, grundvigianischen Hochschul- 
bildung, in der das typisch Dänische so stark hervortritt, als 
Hintergrund jener Geistesrichtung gesehen, die durch Georg! 
Brandes repräsentiert sind und Stadt und Bourgeoisie erobert 
hatte. — Die das Land beherrschende Bewegung, der soviel Affek- 
tation, Chauvinismus und Eigenliebe beigemischt ist, hat eine 
Generation hochgetragen, die das Glück in der Scholle findet, 
ohne sich dabei den Einflüssen des Auslandes entziehen zu wollen. 
Eine Reihe der Bauernerde entstammender Dichter hat das Un- 
typische des Nationalcharakters aufgezeigt. In Knudsen und 
Johannes V. Jensen hat das Naturell der Bauern geniale Schilderer 
gefunden. Diese beiden Dichter haben — wie nie zuvor — das 
Urtypische der dänischen Seele erfaßt, das Entscheidende unseres 
Charakters zu beschreiben gewußt, wie er sich als mysteriöser Starr- 
und Eigensinn, Beigemische der in der Seele des Bauern lebendigen 
Urinstinkte, äußert. Sogar die Darstellung der Knudsenschen 
Romane „Der alte Pfarrer“, „Gemüt“, „Fortschritt“ trägt den 
schweratmenden, unbewußt dämonisch handelnden Charakter der 
Personen, deren Geist man mit dem des Verfassers identi- 
fizieren zu können glaubt. Mit nicht so breiten Pinselstrichen, 
nicht so heimatlichen Worten gezeichnet, dafür artistisch überlegen 
gesehen, stehen Johannes V. Jensens Bauerngestalten der 
„Himmerlandsgeschichten“ vor uns. 

Unabhängig von diesen künstlerisch-revolutionären Dichtern 
hat eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten den Stand und die 
Landschaft behandelt, der sie entsprossen sind. Gustav Wied 
hat in Roman- und Dramenform vornehmlich die tierische Erotik. 
des Bauern und Gutsbesitzers, das Plumpe unseres Volks in der 
Liebe sich spiegeln lassen, während Harald Kiddes’ schwer- 
mütige Phantasie sich in das treue, ernsthafte Naturell des Ost- 
jüten vertiefte, der dem raschen Wechsel der Gefühle und An- 
schauungen des Kopenhageners nicht zu folgen vermag. Jeppe 
Aakjaer ist unser volkstümlichster Lyriker, dessen Fähigkeiten im 
Finden des Ausdrucks für einfache Gefühle ebensogroß sind, wie 
er als Denker im Hervortretenlassen sozialdemokratischer Ideen 


24 Dr. Conrad Simonsen: Die dänische Seele. 


wenig sympathisch wirkt. Schließlich finden wir in Marie 
Bregendahls Roman „Heinrich auf dem Hügel“ die in einer 
Erdgeruch tragenden Sprache erzählte und mit ganz seltener Ob- 
jektivität wiedergegebene Schilderung von Bauerntrotz und Hart- 
näckigkeit. a 

Es ist also möglich, daß die uns nachgerühmte hohe materielle 
Kultur die Basis einer geistigen Kultur bilden kann. Die Ge- 
schichte zeigt ja, daß der wirtschaftliche Wohlstand, das politische 
Selbstgefühl einer Nation Bedingungen einer reichen geistigen 
Blüte sind. Der jetzt in Dänemark wiedererwachten nationalen 
Kunst, die heute doch bewußter wie früher auftritt, gehört vielleicht 
die Zukunft, wenn die demokratischen Regierungsformen sie nicht 
einschnüren werden. Denn diese sind dem Genie so ungünstig wie 
möglich. Wohl gehen die Genies aus dem Volk hervor, aber sie 
sind doch nicht das Volk selbst, und hat dieses die Macht in 
Händen, so glaubt es auch über die geistig hervorstechenden Er- 
scheinungen zu Gericht sitzen zu müssen, weil es allem, was nicht 
popularisiert werden kann, nur geringen Wert beimißt, während 
der entgegengesetzte Gedanke der richtige sein dürfte. Die Dänen 
sind ein so schlichtes Volk, daß sie bisher gewiß an der Spitze 
der Nation marschiert sind, die ihren Genies Hindernisse in den 
Weg legten. Ein Tycho Brahe wurde vertrieben, Holberg verkannt, 
Kierkegaard mißwerstanden. H. C. Andersen und Thorwaldsen 
erlangten im Ausland Berühmtheit, ehe sie das Vaterland aner- 
kannte, und J. P. Jacobsen starb, nur von wenigen gekannt, in 
Armut. Diese geringe Sehergabe deutet nicht auf eine Dämonie 
der dänischen Volksseele hin, sondern eher auf Ne und 
schlichte Denkart. | ag s | 


Innen und außen. 


Ein denkender Mensch ist fast immer ein unangenehmer Mensch. Darum 
berührt auch jeden Mann von Geschmack das moderne Bemühen so unsympathisch, 
welches die Frauen zum Selbstdenken erziehen will. 

* * 
® 

Ein gewisser Gelehrtentypus kommt allen Dingen einzig darum so schnell 
auf den Grund, weil er sie alle nur flach sieht. 

* * 
* 

Ich halte nichts vom Rechte der „neuen Frau“, sich den ihr Gefallenden 

in freier Liebe selbst zu küren. Es ist unsozial. Es schaltet die hauptsächlich 


geistig produktiven Männer aus. . 


% 
Die Seele eines Menschen ist nichts anderes als eine letzte, teuerste, allen 
anderen unzugängliche Einsamkeit. Darum offerieren uns ihre Seele auch nur 
Leute, die keine haben. 


Lothar Brieger-Wasservogel. 


25 


H. Steinitzer: Die Schlacht von Comajagua. 


uf welche Weise Sebastian Dürrmoser in jenes ferne, heiße 
Land der neuen Welt verschlagen worden war, wo jeder 
Landedelmann General genannt wird und man den Titel 
Oberst schon beinahe als Beleidigung empfindet, wird kaum 
jemals mit Genauigkeit festzustellen sein. Tatsache jedoch und 
durch einwandfreie Zeugen zu beweisen ist, daß er im Sommer 
des Jahres 1906, abgerissen und zerlumpt, jedoch mit einem ziem- 
lich dicken Bündel auf dem Rücken, auf der Hazienda des Generals 
Don Jeronimo Velladores erschien und den dringenden Wunsch 
aussprach, dort bleiben zu dürfen. Don Jeronimo verachtete alle 
Ausländer aus Gewohnheit und Uberzeugung, und er würde 
zweifellos auch Sebastian Dürrmoser ohne Bedenken wieder fort- 
geschickt haben, wenn er nicht gerade eines Lehrers für seinen 
jugendlichen Sohn Innocente bedurft hätte. Und da er der Ansicht 
war, alle Deutschen wären entweder Soldaten oder Gelehrte, und 
Dirrmosso, wie er ihn nannte, seines verwahrlosten Zustandes 
wegen für einen der letzteren hielt, beauftragte er ihn kurzer 
Hand mit dem Unterricht seines Sohnes in der deutschen und 
französischen Sprache, ohne sich weiter zu erkundigen, ob er 
dazu auch imstande wäre. Sebastian war ein schüchterner Ge- 
selle und viel zu froh, endlich einen Unterschlupf gefunden zu 
haben, um Bedenken zu äußern. Ein paar französische Brocken 
hatte er auf seinen Wanderungen aufgeschnappt, ein Roman von 
Eugene Sue, den ein Durchreisender auf der Hazienda vergessen 
hatte, fand sich vor — und so begann der Unterricht, der nach 
dem Ausspruche Don Jeronimos seinen Sohn einmal in den 
Stand setzen sollte, die Dichter Schaksperano und Dante in der 
Ursprache zu lesen. 

Sebastian gab sich seinen neuen Pflichten mit Eifer und Ge- 
wissenhaftigkeit hin, und weiß Gott, welche Höhen der Bildung 
Lehrer und Schüler erklommen haben würden, wenn nicht nach 
einiger Zeit noch Donna Transita an der Stunde teilgenommen 
hätte, ein junges Mädchen, das zum Haushalte oder auch zur 
Familie gehörte, ohne daß man Genaueres darüber zu wissen 
schien. Die beiden verliebten sich bald ineinander, was Innocente 
mit großer Freude bemerkte, da er nun nichts mehr zu lernen 
brauchte. Denn Sebastian war als echtem Deutschen die Liebe 
aufs Gemüt geschlagen und hatte ihn für grammatikalische Fehler 
unempfindlich gemacht. Wenn er bedachte, daß er jeden Augen- 
blick wieder fortgeschickt werden konnte, wollte er fast ver- 


26 H. Steinitzer: 


zweifeln. Donna Transita hatte dann alle Mühe, ihn zu trösten 
und ihm Hoffnung einzusprechen. 


„Habt Geduld und wartet, Don Sebastiano,“ pflegte sie zu 
sagen. „In zwei Jahren wird Don Jeronimo Minister sein, dann 
wird alles gut gehen.“ 

Dürrmoser sperrte Mund und Augen auf. 

„Minister!“ rief er. „Das ist doch unmöglich.“ 

„Gewiß,“ meinte Transita gleichmütig. „In zwei Jahren. 
Dann machen wir Revolution und Don Jeronimo wird Minister 
oder vielleicht sogar Präsident.“ 

Sebastian dachte lange nach. 

„Warum macht ihr dann nicht gleich Revolution?“ fragte er 
endlich. 

„Aber Don Sebastiano,“ sagte Transita vorwurfsvoll. „Das 
wäre doch nicht anständig. Die andern haben uns auch sechs 
Jahre in Ruhe gelassen; und sie sind erst vier Jahre oben. Zwei 
Jahre müssen wir schon noch Geduld haben.“ 

„Schade!“ sagte Dürrmoser und seufzte. „Bei uns weiß man 
nie, wann eine Revolution angeht. — Aber dafür gibt es auch 
keine,“ setzte er nach einer Weile nicht ohne Stolz hinzu. 

Notgedrungen faßte er sich also in Geduld, gab seine deut- 
schen Stunden und half bei der Bananenernte mit, um für die er- 
träumte Zukunft einige landwirtschaftliche Kenntnisse zu erwerben. 
Haufenweise lagen leicht in Bast verpackt die riesigen Frucht- 
büschel vor dem kleinen Bahnhofsgebäude aufgespeichert, um zur 
Hafenstation befördert zu werden. Aber gerade an diesem Tage 
blieb der einzige tägliche Zug aus. 

„So machen sie’s immer!“ sagte Donna Transita zu ihrem 
Freunde, „weil wir doch Opposition sind.“ 

Am nächsten Tage fuhr der Zug durch, ohne anzuhalten. 

Don Jeronimo war wütend. „Das ist dieser General Delgado,“ 
rief er, „der mich ruinieren will. Aber, ich lasse es mir nicht ge- 
fallen.“ Und er schickte eine lange Depesche in die Hauptstadt. 

Tags drauf kam der Zug pünktlich zu der im Fahrplan ver- 
zeichneten Zeit an. Um diese Stunde war natürlich niemand auf 
dem Bahnhofe und der Zug fuhr wieder ab, ohne die Bananen mit- 
zunehmen. 

Am darauffolgenden Tage fuhr der Zug wieder durch und 
der General erhielt eine Depesche aus der Hauptstadt des Inhalts: 
daß gestern auf seine Reklamation hin einige leere Wagen dem 
Zuge beigegeben worden wären, die er nicht bemützt habe und 
für die er Frachtgeld zu zahlen hätte. 


Die Schlacht von Comajagua. 27 


Der General wurde täglich wütender und die Bananen wurden 
täglich gelber. 

Am nächsten Tage hatte Dürrmoser einen genialen Einfall, 
mit dem er die bleibende Gunst des Generals zu erringen hoffte. 
Er verfertigte aus einem rotseidenen Unterrocke eine Fahne, um 
den Zug zum Halten zu bringen. Aber der Lokomotivführer 
durchschaute den Trick, ließ Dampf aus der Maschine strömen, 
daß Dürrmoser eilig fliehen mußte, und fuhr weiter. 

Einen Tag später hielt endlich der Zug, und die Bananen 
konnten verladen werden. Aber mitten auf der Strecke nach 
der Hafenstation gab es Maschinendefekt, und der Zug mußte 
48 Stunden liegen bleiben. 

Nach fünf Tagen kamen die Bananen wieder zurück. Sie 
waren schon zu reif und die Annahme von der Schiffsgesellschaft war 
verweigert worden; dagegen mußte Hin- und Rückfracht auf der 
Eisenbahn gezahlt werden. 

Don Jeronimo schwur einen fürchterlichen Eid. Er rief alle 
seine Leute zusammen und hielt eine zündende Ansprache. „Sie 
wollen une vorzeitig zur Revolution zwingen,“ schloß er. „Sie 
sollen sie haben!“ 

„Und ihr, Don Dirrmosso,“ fuhr er zu Sebastian gewendet 
forli „Ihr seid ein Deutscher, ein Held, der die Franzosen ver- 
nichtet hat, wollt ihr uns beistehen gegen diesen Schuft, den Ge- 
meral Delgado?“ 

Dürrmoser wurde bleich und wieder rot und versprach mit 
fester Stimme seine Hilfe. 

Dann ging er in seine Kammer und breitete den Inhalt des 
Bündels:auf’dem Bette aus. Der war eine deutsche Infanterieuniform. 

Lange betrachtete sie Dürrmoser. Und Tränen traten ihm 
in die Augen, als er daran dachte, daß er einmal in einem Augen- 
blicke von Kleinmut und Freiheitssehnsucht die Fahne verlassen 
hatte und geflohen war. Jetzt schwor er sich zu, die Uniform 
wieder zu Ehren zu bringen und den Flecken in seinem Leben 
durch unerhörte Taten auszulöschen. 

Transita brachte ihm eine Flinte, die sie auf dem Dachboden 
gefunden hatte, und die er mit unsäglicher Mühe wieder so weit 
in stand setzte, daß man damit schießen konnte. Die Freundin 
half ian, so gut sie konnte. Als sie aber die einfache deutsche 
Uniform sah; war sie sehr enttäuscht. „So habt ihr die Franzosen 
besiegt?“ fragte sie ungläubig. 

Und Sebastian vergaß in der Begeisterung des Moments, daß 
er erst ein Dezenniom nach dem Kriegsjahre geboren worden war, 
tmd: sagte stolz und feierlich: „Ja! so haben wir sie besiegt!“ 


28 H. Steinitzer: 


Die Revolution war nun in vollem Gange. Von allen Seiten 
kamen Freiwillige zu Pferd und Fuß herbeigezogen. Auch die 
Regierung rüstete, und man wußte, daß General Delgado an der 
Spitze der Regierungstruppen im Anmarsch begriffen sei. 

„Wir wollen ihnen entgegenziehen und sie vernichten,“ rief 
Don Jeronimo. 

Als Sebastian Abschied von Donna Transita nahm, wunderte 
er sich im stillen über ihre Heiterkeit und Ruhe. Sie schien Re- 
volution und Kampf und Krieg als etwas ganz Ungelährliches zu 
betrachten, etwa wie einen Vergnügungsausflug. „In acht Tagen 
seid ihr in der Hauptstadt,“ sagte sie. „Und dann, wenn Don 
Jeronimo Minister ist, sehen wir uns dort wieder.“ 

„Leb’ wohl!“ sagte Dürrmoser, „du sollst von mir hören!“ 

Und stolzer Träume voll zog er mit den andern in den Krieg. 

Am nächsten Tage erreichten sie eine weite Ebene, das Feld 
von Comajagua, Quer hindurch zog sich ein halb ausgetrocknetes 
Flußbett, und am jenseitigen Ufer stand die feind’iche Armee. 

Hier begann allsogleich die Schlacht. 

Aus einer Entfernung, die jedes Treffen unmöglich machte, 
schossen die beiden Heere mit Ausdauer aufeinander. Aber 
diese Art der Kriegführung genügte dem Heldendurst Dürrmosers 
nicht. Er sah auf einem felsigen Vorsprunge einen goldstrotzenden 
Reiter halten. Dies war, wie er auf Befragen erfahren hatte, Ge- 
neral Delgado, der Schuft, der Tyrann, der Anführer der Feinde. 
Wenn er fiel, dann war der Sieg so gut wie gewonnen, und un- 
sterblicher Ruhm mußte an dem Namen dessen haften, der ihn 
getötet. 

Erst lief Sebastian, wie er es zu Hause gelernt hatte, einige 
hundert Schritte vor, dann warf er sich hinter einem Felsblocke 
zur Erde nieder und wiederholte dies Manöver so oft, bis er nahe 
genug an den Feind herangekommen war. Niemand beachtete ihn. 
Alle waren damit beschäftigt, zu schießen, zu laden und wieder zu 
schießen. Wer aus Mangel an Pulver zuerst aufhören mußte, war 
der Unterlegene. So wurde es seit alters her gehalten, und das 
Schlachtfeld von Comajagua sollte keine Neuerung in dieser un- 
blutigen Kriegsführung sehen. 

Da geschah etwas Unfaßliches, Unerhörtes. 

Man sah plötzlich den General Delgado einige unerklärliche 
Bewegungen mit den Händen machen, als ob er sich in der Luft 
irgendwo festhalten wolle. Dann glitt er langsam vom Pferde 
herunter und fiel gerade auf den Bauch. Erst bewegte er sich 
noch etwas, dann rührte er sich nicht mehr und lag nun wie ein 
riesiger Goldkäfer auf dem Felsen vorsprunge. Nahe bei dem 


Die Schlacht von Comajagua. 29 


Flußbette aber, auf dem freien Platze zwischen den beiden 
Heeren, stand jemand, schwang eine Flinte und schrie immer 
wieder: „Hurra, hurra“ 

Einen Augenblick war alles wie erstarrt, und Freund und 
Feind hielt mit dem Schießen ein. Dann richteten sich wie auf 
Kommando sämtliche Flintenläufe auf den Hurraschreier, und der 
Donner einer gemeinschaitlichen Salve rollte über die Ebene. 

Zwar waren die meisten Gewehre nur mit Pulver geladen, 
trugen auch nicht bis zu dem Platze, wo Dürrmoser stand, aber 
einige Kugeln verirrten sich doch bis zu ihm. 

So wurde er, ohne recht zu wissen, was mit ihm geschah, 
mitten aus seinem Triumph und aus diesem Leben abgerufen. 

Don Jeronimo gab Befehl, die Schlacht sofort abzubrechen. 
Er ritt persönlich zum Feinde hinüber, um seinem Bedauern über 
das Vorkommnis Ausdruck zu geben. „Nur ein Fremder,“ sagte 
er, „konnte die Gesetze unserer glorreichen Kriegsführung so 
gröblich verletzen.“ Dann erklärte er unter dem Beifalle der beiden 
Heere, daß er unter diesen Umständen die Revolution verschiebe, 
bis ein neuer feindlicher Feldherr gewählt worden sei. 

Das war das Ende der Schlacht von Comajagua, von der 
einige amerikanische Blätter behaupteten, sie wäre die blutigste in 
der Geschichte des Landes gewesen und es sei endlich Zeit, solchen 
unhaltbaren Zuständen gewaltsam ein Ende zu machen. 

Die Leiche Sebastian Dürrmosers aber wurde auf ein Pferd 
gebunden und nach der Hazienda Don Jeronimos zurückgebracht, 
um ein christliches Begräbnis zu erhalten. 

Als Donna Transita die Geschichte seiner Tat und seines 
Endes erfuhr, da weinte sie wohl, aber sie betrachtete ihrem toten 
Geliebten in seiner schlichten Uniform mit aus Grauen und Angst 
gemischten Gefühlen. 

„Tiger sind diese Deutschen,“ sagte sie zu Innocente. „Tiger. 
Auf diese Weise mag es allerdings keine Kunst gewesen sein, die 
Franzosen zu besiegen.“ 


30 


A. E. Brinkwald: Die Mode in der Frauenschönheit. 


Das schönste Mädchen (tugendhaften Wandels) sollte einen 

Preis bekommen, Künstler, Schriftsteller, Journalisten und 
Damen der Aristokratie bildeten die Jury. Den Preis bekam ein 
Mädchen aus Trastevere, mit wundervollen Zügen, strahlend von 
Heiterkeit im Antlitz. Es war ein armes Mädchen und die 
Juroren kamen überein, ihr außer dem Preise auch noch eine 
große Geldsumme zu stiften, als Mitgift, damit sie heiraten könne. 

Das ist sehr merkwürdig. Das schönste Mädchen in Rom 
muß eine Mitgift haben, um sich verheiraten zu können! So 
niedrig steht heute die Schönheit im Kurse, nicht nur innerhalb 
der Gesellschaft, sondern in den Kreisen von Trastevere, wo das 
arme römische, vom Großstadtleben nocht nicht berührte einfache 
Volk wohnt. 

Natürlich sind Schönheitskonkurrenzen an sich ein Unding. 
Auch wenn man davon absieht, daß die Forderung des tugend- 
haften Wandels die Sache sehr unglücklich beeinflußt — weil 
die Schönheit leichter vom Tugendwege abbiegt als die Häß- 
lichkeit und weil außerdem die Untugend bisweilen die Ent- 
wicklung der Schönheit fördert — es kann bei der Abstimmung 
einer Jury doch immer nur das gute Niveau und die akademisch 
festgelegte Vollkommenheit den Preis bekommen: Die Juroren 
einigen sich auf die Hälfte. Aber es ist nicht zu leugnen, daß heute 
selbst die wirklich große Schönheit nicht so geschätzt wird wie 
früher. Als Madame Recamier nach London kam, da spannte ihr 
der Mob an dem Hafen die Pferde aus und zog sie im Triumph 
durch die Stadt. Das wäre heute unmöglich. Eine so be- 
rühmte Schönheit wie die russische Tänzerin Ida Rubinstein muß 
sich scharfe Kritik gefallen lassen, jene Dame, die bei einer 
Vorstellung der „Kleopatra“ in Berlin enttäuscht äußerte: „Sie kann 
ja gar nicht tanzen, sie ist ja nur schön“ — hatte weitgehendste Zu- 
stimmung auf ihrer Seite. „Nur“ schön, das ist nicht viel, denn die 
Schönheit ist nun einmal nicht Mode. Wenn heute ein Geschöpf von 
jener wunderbaren Vollendung aufträte, wie sie Feuerbachs Nana 
hatte, so hätte es einen schweren Stand, um sich im Leben siegreich 
zu behaupten, und brauchte jedenfalls ein beträchtliches Kapital 
für Toiletten und „Aufmachung“, um sich entsprechend in Szene zu 
setzen. Schönheit ohne kostbaren Rahmen fällt kaum auf, oder 
wenn die Schönheit derart ist, daß sie unbedingte Beachtung er- 
zwingt, so ist den meisten nicht ganz geheuer dabei: sie macht 
weder glücklich noch unglücklich. Für letzteres Bedürfnis hat man 


F vorigen Jahre fand in Rom eine Schönheitskonkurrenz statt: 


EEE — 


Die Mode in der Frauenschönheit. 31 


dafür das Dämonische erfunden, wie die großen bekannten Liebes- 
tragödien des letzten Jahrzehnts zeigen, deren Heldinnen ins- 
gesamt keine Schönheiten waren. 

An die Stelle der Schönheit ist im modernen Leben der 
Charme und die Eleganz getreten, an Stelle der Bewunderung von 
seiten der Männer ihr Wunsch, sich zu amüsieren, oder der Flirt. 
Man kann das Anwachsen dieser Bewegung im Laufe des 19. Jahr- 
hunderts verfolgen, bei den Romanschriftstellern so gut wie bei 
den Modemalern. je näher man der Jahrhundertwende kommt, 
um so mehr verschwindet aus den Salonromanen die Beschreibung 
einer schönen Frau, und wenn man irgendwo noch eine solche 
Beschreibung findet, so überschlägt man sie wie früher die Land- 
schaftsschilderungen bei Gustav Freytag. Es interessiert niemand 
mehr zu lesen, wie die Heldin eigentlich ausgesehen habe. Das 
weiß man ja ohnehin: wenn ihre Bekanntschaft wirklich lohnt, 
dann war sie eben die Modeschönheit, und wie die aussieht, weiß 
jeder. Man braucht nur in die Annoncenteile der illustrierten Zeit- 
schriften einen Blick zu werfen, so sieht man das schlanke Wesen 
mit der sorgsam gepflegten „Linie“, möglichst zierlich, möglichst 
kapriziös, auf künstliche Weise kindlich, klein — und schlank, 
schlank, schlank. Das ist die Hauptsache. Große Form, aus- 
drucksvolle, edie Linie, klare Flächen und entwickelte Details sind 
nicht modern. Wir im Norden sind so daran gewöhnt, daß dies 
uns kaum noch als etwas Besonderes auffällt. Erst wenn man in 
den Süden kommt, nach Italien und weiter, so merkt man, daß die 
alte Schönheit immer noch existiert und daß die Partei der Besiegten 
innerlich hier nicht geschwächt ist. 

Wie es möglich gewesen ist, daß in den nordischen Ländern 
die Mode tatsächlich die Rasse etwas verändert hat, ist schwer zu 
sagen. Zunächst wird die gegen früher gänzlich veränderte Er- 
nährungsweise hierbei bestimmend mitgewirkt haben. Achtet man 
einmal in einem modernen Restaurant darauf, was an den Tischen 
um einen herum getrunken wird, so wird man die Beobachtung 
machen, daß auf zwei Flaschen Sauerbrunnen durchschnittlich eine 
halbe Flasche Wein kommt. Die Damen trinken so gut wie gar 
nichts. Fragt man dann aber einmal den Direktor des Etablisse- 
ments, ob ihm die Antialkoholbewegung nicht ungeheuren Schaden 
zufüge, so verneint er es und meint, das sei gar nicht so schlimm. 
Was er an geringerem Weinverbrauch'an Einnahme verliere, werde 
fast ausgeglichen durch den geringeren Speisenverbrauch. Die Anti- 
alkoholbewegung sei nur im Zusammenhange mit der allgemeinen 
größeren Mäßigkeit zu verstehen, seit fünfzehn Jahren komme er 
bei allen Diners und Soupers, die serviert würden, mit halben 


32 A. E. Brinkwald: 


Portionen gegen früher aus. Die Damen seien ungeheuer mäßig, 
und da die Damen den Ton der Geselligkeit angäben, seien es die 
Herren auch. Wirklich essen täten nur noch alte Junggesellen. — Es 
ist nun natürlich nicht so, daß auf einmal aus hygienischen 
Gründen eine weitgreifende Mäßigkeitstendenz über die Damen- 
welt gekommen wäre und daß infolge dieser knappen Ernährung 
die Töchter dieser Mütter kleiner und zierlicher würden, sondern 
die Mäßigkeit ist Mittel zum Zweck, nicht anders als der Sport 
der Französin, der für seine Anhängerinnen auch zunächst ein 
großes Opfer und eine Anstrengung bedeutete. 


Also Antialkohol und Antifleischbewegung sind nicht Ursache 
der Rasseveränderung, sondern Mittel zum Zweck. Die Ursache 
dieser Mode muß tiefer liegen. Ich glaube, es ist die Anglomanie 
und der Amerikanismus, die sich in den letzten Jahrzehnten in 
Europa in allen Fragen der äußeren Kultur geltend gemacht 
haben, ja sogar in erschreckender Weise in der Sprache, der 
deutschen so schlimm wie der französischen. Die Engländerinnen 
mit ihrer durch wahren gesunden Sport seit Generationen ge- 
züchteten Schlankheit und die Amerikanerin oder vielmehr die 
Newyorkerin mit ihrer Fragilität und ihrer raffinierten Art sich 
auf „Linie“ anzuziehen, haben Paris, die Heimat und den Parole- 
ort der europäischen Mode, überschwemmt, und Paris ist dieser 
Bewegung erlegen, dem rücksichtslosen Sichdurchsetzen der angel- 
sächsischen Rassen hat die französische Skepsis um so weniger 
widerstehen können, als innerhalb der modernen Pariser Kultur 
mit all ihrer psychologischen Differenziertheit und ihrer Nervosität 
eigentlich ohnehin kein Platz mehr war für die alte formale, ein- 
fache und, wie man sagte, ein wenig geistlose Frauenschönheit 
alten Schlages, die im wesentlichen nur aufs Auge wirkt. Von 
Paris aus ist die Parole dann weitergegeben worden an die 
anderen Großstädte. Berlin steht, wie man weiß, ganz unter ihrem 
Einfluß, neben dem Typus der Berliner Dame bildet das zeitweise 
in der Kunststadt München proklamierte Ideal der „modernen 
Frau“ nur eine uninteressante lokale Spezialität. 

Man darf sich in diesen Beobachtungen nicht irremachen 


lassen durch die widersprechende Aussage der großen französi- 


schen Maler, die gerade in jener kritischen Übergangszeit in Paris 
wirkten und mit Vorliebe das moderne Gesellschaftsleben dar- 
stellten. Manet und besonders Renoir standen immer abseits, sie 
hatten nie etwas mit der Mode zu tun und blieben ohne jeden 
Einfluß auf die Gestaltung des Schönheitsideals. Sie malten, was 
sie sahen, was sie noch sahen. Inzwischen ging die Mode weiter, 
ohne sich um sie zu kümmern, und der einzig Überlebende aus 


Die Mode in der Frauenschönheit. 33 


dieser Generation, Renoir, wirkt nicht nur heute in dieser Be- 
ziehung vollkommen unmodern. Als Renoir seine gesunden, 
blühenden Frauen malte, hatte Whistler mit seinem versteckten 
Praeraffaelismus sich längst die Herzen aller Damen, aller kleinen 
Mädchen und aller Schneider erobert. Wenn es auch nicht gut 
anging, sich die Augen türkisblau zu färben, so konnte man 
wenigstens die Haare goldig machen und puritanisch mager 
werden, und John Sargent wurde dann maßgebend für die ganze 
Generation der Pariser Porträtisten, von Blanche bis Caro Delvaille 
und so weiter. Die Farbe wechselt, aber die Linie bleibt. Die 
Kleidermode, scheinbar so selbstherrlich, macht mechanisch mit 
und so weiter. Die Farbe wechselt, aber die Linie bleibt. Auch die 
Frau ist, architektonisch gesprochen, unverkröpft, unmalerisch wie 
eine Florentiner Häuserfiront, senkrecht wie Giovanna Tornabuoni 
bei Ghirlandajo. Das Korsett mit der geraden Front geht 
immer gleich durch drei Etagen, und der weibliche Körper ist ge- 
duldig. Da nicht nur die gerade Linie gewünscht wird, sondern 
auch der zierliche kleine Wuchs, hilft auch hier die Mode nach, 
man trägt verkürzte Röcke und tut überhaupt in der ganzen Tracht 
möglichst kindlich, halb amerikanisches college girl, halb gut- 
bescheiden angezogene Kammerjungfer. Zeitweise sah es so aus, 
als wollte die Mode gänzlich umschlagen und als sollte die Run- 
dung wieder zur Geltung kommen, anstatt der Vertikale. Man 
drohte mit der Krinoline, um gleich mit dem Extrem zu kommen. 
Aber vielleicht wäre das auch nur eine Maskerade gewesen, um 
in den Krinolinenkleidern die Frauen noch puppiger wirken zu 
lassen. Immerhin ist es möglich, daß der Umschlag bald kommt. 
Da auf anderem Gebiete der florentinische Primitivismus abgelöst 
wurde durch eine neue Begeisterung für den römischen Barock, 
so wäre es immerhin denkbar, daß demnächst auch römische 
Schultern und was sonst dazu gehört wieder Mode wird. 
Natürlich ist es zwecklos und lächerlich, über irgendein Mode- 
ideal der Schönheit zu jammern, da ja jeder doch sein persön- 
liches Ideal hat und da die Mode nicht von Schneidern oder Salon- 
malern gemacht wird. Es fragt sich aber doch, ob der Typus, der 
uns nun seit einem Jahrzehnt und länger als vorbildlich hingestellt 
wird, rein körperlich genommen dauerhaft sein kann oder nicht, 
ob Whistlers „Belle Américaine“ vorhält. Diese „Belle Américaine“ 
ist das Erzeugnis dieser einer bestimmten, nicht amerikanischen, 
sondern New Yorker Kultur. New York ist ein Schmelztiegel. Alle 
die vielen verschiedenen Rassen, die dort jährlich einströmen, 
werden amalgamiert und die Menschen sehen schon nach Verlauf 
einer Generation ganz newyorkisch aus, mit einem orientalischen 


34 A. E. Brinkwald: 


Einschlag, als Konkurrenz gegen die englische Blondheit. Das 
ist doch ein merkwürdiges Symptom und diese Erscheinung kann 
doch nur auf Kosten anderer Dinge möglich sein. Tatsächlich ist 
es auch so: vor einigen Jahren hat man einmal in einem New 
Yorker Miethause, in einer Gegend, in der der wohlhabende Mittel- 
stand wohnt, dieZahl der Familien im Verhältnis zu ihrem Kinder- 
reichtum festgestellt. Das Ergebnis war, daß die in diesem Hause 
wohnenden 22 Familien im ganzen zusammen drei Kinder be- 
saßen. Das ist viel schlimmer als in Frankreich. Und für unsere 
Frage, die Frage nach der Schönheit, bedeutet dies doch soviel, 
daß die Entwicklung eines schönen Menschenschlages auf die 
Dauer ganz ausgeschlossen ist. Eine wirklich schöne Rasse braucht 
Tradition des Blutes. Wo die Familien so schnell aussterben, daß 
sich keine Blutsaristokratie bilden kann, wird diese sogenannte 
Schönheit immer nur eine Treibhauspflanze bleiben. Man nennt 
die langstieligen, märchenhaft feinen Rosen, die man in den New 
Yorker Blumenläden kauft, „New York Beauties“. Es sind Rosen 
ohne Duft. 


So arg, wie in jenem zufällig gefundenen New Yorker Beispiel 
ist die Kinderlosigkeit der Ehen ja anderswo nicht, auch nicht in 
Paris. Aber wenn für Frauen in dem für Eleganzentfaltung be 
sonders geeigneten Alter zwischen 20 und 38 Jahren dauernd das 
Ideal der mädchenhaften Zartheit immer weiterdominieren soll, 
dann ist am Ende doch eine wenn auch nur vorübergehende Un- 
fruchtbarkeit auch bei uns die Folge. Ob das den Gewinn lohnt? 
Denn noch eine andere Erscheinung gibt in diesem Zusammen- 
hange zu denken: die Tatsache, daß bei nordischen Völkern sich 
Schönheit moderner oder unmoderner Art fast nie in den unteren 
Schichten des Volkes findet, sondern fast ausschließlich in jenen 
Kreisen, bei denen das Zusammenwirken von Blutstradition, Er- 
ziehung und äußeren Mitteln besonders günstigen Boden bereitet 
haben. Die nordischen Rassen können sich also den Luxus des Mode- 
schönheitsideals viel weniger leisten als die südlichen Völker, die 
Italiener zum Beispiel. Diese aber leisten ihn sich tatsächlich nicht 
oder nur ganz selten. Sollte der Grund dafür nicht der sein, daß 
der Schönheitsreichtum eben dort eine Ursache der natürlicheren 
Empfindungsweise ist? Eine Frau von hinreißender Grazie oder 
gar Schönheit inkleinen, armen Städten Deutschlands, Englands 
oder Frankreichs zu finden, ist sehr schwer. In Italien dagegen 
ist die Schönheit aus dem Volke durchaus keine seltene Erscheinung. 
Wenn sich das Modeideal aus den natürlichen Gegebenheiten einer 
Rasse entwickelt, — gut, oder um so besser. Wenn nicht, so geht 


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Die Mode in der Frauenschönheit. 35 


es nie ganz ohne bedenkliche Gewaltsamkeiten ab. Aus diesem 
natürlichen Grunde wird sich auch diese Mode wieder ändern. — 

Es sind nicht immer die schönsten Frauen, denen die größten 
Leidenschaften verdankt werden, und für eine Frau ist Schönheit, 
die alte formale Schönheit, an der sich die Künstler begeistern, 
durchaus nicht immer das wünschbarste Gut. Grazie, Charme, 
Esprit, ja bisweilen die bloße Eleganz der äußeren Erscheinung 
sind imstande, ihr den Rang abzulaufen — wenn die Schönheit 
nicht klug oder reich genug ist, einige dieser anderen Eigen- 
schaften rechtzeitig zu erwerben. Im Zweifelsfalle wird heute 
immer Grazie und Charme vorgezogen werden. Seit wann, läßt 
sich schwer feststellen, da das Beispiel der großen historischen 
Amoureusen trügt, denn die wirken durch andere Qualitäten, noch 
über den Charme hinaus. Sicher ist es so schon im galanten Jahr- 
hundert gewesen. Casanova, von Geburt und Empfindung Italiener, 
aber von Kultur Franzose, in Frauenfragen der aufrichtigste Be- 
urteiler, schreibt unter dem Jahre 1759 in sein Tagebuch das Er- 
lebnis mit einer Frau „plus belle que jolie“, aber dennoch unend- 
lich faszinierend. Das ist der ewige Unterschied — die Schönheit 
gilt als selbstverständlich weniger anziehend als die „Hübschheit“. 
Auch Stendhal, der, umgekehrt, von Geburt Franzose, aber von 
Kultur Italiener war, erzählt in seinem Tagebuch, daß man (im 
zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts) in Rom anfing, die voll- 
endete Schönheit griechischer Frauenköpfe langweilig und geistlos 
zu finden. Und er selbst, der doch durch viele Jahre hindurch 
die pompöse Schönheit der etwas dicken Signora Pietragrua aus 
Mailand anbetete, ist trotzdem in Gedanken sein Lebtag nicht los- 
gekommen von der Erinnerung am den Charme der hübschen 
Sängerin, seiner Mozartschen Geliebten Angela Bereyter, die ihn 
in Paris jeden Abend besuchte. Die heutigen Franzosen haben 
das resignierte ironische Wort geprägt: „Pas belle, mais pire que 
cela“, um auszudrücken, daß eine Frau, um einen unglücklich zu 
machen, nicht schön zu sein braucht; daß es mit der Schönheit 
eigentlich noch gar nicht anfängt. 

Doch, wie dem auch sei, wer sich dazu entschließen kann, 
die Schönheit der Frau nur mit den Augen zu genießen, der wird 
immer wieder zu der unvergleichlichen formalen Vollendung be- 
wundernd aufblicken, wie sie gelegentlich Orientalinnen, Sizilianer- 
innen und Italienerinnen besitzen, und die einen wenn auch nicht 
gerade unglücklich, so doch für ein paar Augenblicke glücklich 
machen können. Aus diesem Grunde sollten wir diese unmoderne 
Art von Schönheit nicht allzusehr unterschätzen — schon um 
uns für unser Alter einen ehrenvollen Rückzug zu sichern. 


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36 


Dr. Fritz Wertheimer: Chinafahrt. 


IV. Kuschan. 


Tre heiß und schwül lastet die Nacht über der kleinen 
Insel Nantai, auf der sich das Geschäftsviertel und die 
Wohnungen der Fremden in Futschau befinden. Noch 
stehen die Sterne in ungebleichter Kraft am Himmel, ganz in der 
Ferne beginnt erst ein Hahn zu krähen, die Grillen und Zikaden, 
die am Tage ihr ohrbetäubendes Konzert in den Bäumen er- 
schallen lassen, schlafen noch. Da brechen wir zum Ausfluge auf, 
der uns aus der unerträglichen Hitze des flachen Landes hinauf in 
das buddhistische Kloster führen soll, das in einer Bergschlucht 
unter schattigen Bäumen kühles Quellwasser und frischen Gebirgs- 
wind hat. Hohl schallt unser Tritt zwischen den Mauern der 
Häuser. Vor den Türen liegen die Chinesen auf Rohrstühlen, auf 
alten Strohmatten, auf Kisten und Brettern in jeder erdenklichen 
Lage; sie retten sich ins Freie, weil in der dumpfen Luft ihrer 
übervölkerten Räume des Nachts gar kein Schlaf zu finden ist. 
Süßlich berauschender Duft liegt über der Straße. Irgendwo 
trocknet man hier Jasminblüten, die mit dem Tee gemischt und ge- 
trocknet werden, um ihm Aroma und Geruch zu verleihen, den 
die Chinesen und auch manche Europäer so sehr lieben. Ein paar 
Frösche hüpfen über den Weg, ein paar Ratten huschen durchs 
Gestrüpp, flackernd tanzt das Licht unserer Laternen an den 
Häusern empor, wie ein gespenstischer Schatten schreitet der 
Kuliträger voran. So geht’s die wenigen Schritte hinab zum 
Ankerplatz des Hausbootes, das eben die Anker lichtet. Grau- 
schwarz scheinen noch von jenseits des schlafenden Flusses die 
Berge herüber, aber kaum sind wir abgefahren, da dämmert auch 
bereits der Morgen, und mit tropischer Schnelligkeit wandelt sich 
die Nacht in Tag. Ein frischer Flußwind schwellt uns die Segel, 
und da die Flut jetzt heraufgekommen ist, gehen wir in rascher 
Fahrt über den Fluß. Ein japanisches kleines Kriegsschiff liegt da 
im Wege — die Japaner hängen ja überall wie die Kletten an 
dieser Fukien-Provinz, die sie als Nachbarland ihrer Formosa- 
Kolonie gar zu gerne besitzen möchten —, ein paar Mannschaften, 
die auf Deck geschlafen haben, sind gerade aufgewacht und recken 
und dehnen die Arme, als ob sie den Himmel anflehen wollten: 
„Herr Gott, gib uns ein anderes Kommando, als dieses heiße, 
langweilige Futschau!“ Surrend und murmelnd rauschen die 
Wellen um unser Boot, eine kleine halbe Stunde, und wir landen 
drüben am Ufer, um hier den Aufstieg zu beginner und das 
Hausboot vor Anker gehen zu lassen. 


P Chinafahrt. 37 


Drüben sind die fleißigen Chinesen schon aufgestanden. In 
den schmutzigen und winkligen Gassen des kleinen Dörfchens eilen 
schon Kinder, Hunde und Schweine in lieblichem Durcheinander 
umher, Männer und Frauen gehen an die Arbeit. In den Reis- 
feldern stehen die Frauen und schneiden den reifen Reis von den 
Büscheln, und jetzt sieht man, daß zwischen den reifen Büscheln 
schon wieder neue Reisstauden angepflanzt sind, die jetzt, nach- 
dem das reife Korn weggenommen ist, Luft und Licht zur weiteren 
Entwicklung haben und bald die zweite Ernte bringen werden. 
Die Männer stehen auf den Tennen an den Bergabhängen und 
schlagen die Reisähren über ein paar Latten, so daß die Körner 
abfallen und gesammelt werden können; das Reisstroh wird zum 
Trocknen an Schnüren und über Boote aufgehängt. Ein altes 
Drachenboot, das man beim Drachenfest kürzlich gebraucht hat, 
liegt da in seiner schmalen Schlankheit und dient gleichfalls als 
Reisstroh-Trocknungsplatz. Bald haben wir das Dorf durch- 
schritten, und schon beginnen die ersten Stufen des Weges, der 
uns nun langsam bergan führt. Jetzt ist es schon ganz hell, aber 
die Sonne wird uns noch eine Weile mit ihrem Glanz verschonen, 
denn wir sind am Fuße eines hohen Berges, und bis sie den er- 
klettert hat, hoffen wir auch unter dem schützenden Laubdache der 
Klosterbäume zu sitzen. Die Mönche haben da einen prachtvollen 
Weg bergan gebaut. Sorgsam sind Platten an’ Platten gelegt, be- 
queme Treppenstufen führen hinauf, schattige Zypressen und 
Kiefern sind überall angepflanzt. Alles ist mit einer grünen Patina 
von altem Moos und Schlinggewächsen überzogen, über glatte 
Felsen stürzen kleine Bächlein zu Tal, die Vögel beginnen ihr 
Morgenlied und putzen sich die Schnäbelchen am Rande der Berg- 
bäche. An vier oder fünf Stellen des Weges sind Rasthäuser gebaut, 
unter deren vorspringendem, von Pfeilern getragenem Dache der 
Weg durchführt. Eifrige Wärter bringen uns dort den heißen Tee 
und die weißliche, duftende Frucht der Leitschis, die hier heimisch 
ist. Prächtige, weite Blicke eröffnen sich hinunter auf den Fluß, der 
wie ein silbergraues Band immer tiefer unten liegt. Kleinen Spielzeugen 
gleich sieht man Dschunken und Sampans auf ihm hinabrauschen. 
So geht es zwei Stunden bergan; zwar drückt uns keine Sonne, 
nur unten ist die Luft doch dick und feucht und zwingt zu vieler 
Rast. Aber schon schimmern zwischen den Bäumen die Dächer 
des Klosters, die dumpfen Schläge der Glocken, die zum Gebet 
rufen, erklingen, noch eine letzte Anstrengung, und wir sind da. 

Durch ein paar sauber gemauerte Torpforten geht es Stufen 
hinauf und Stufen hinab in eine tiefe Felsschlucht, die in das Ge- 
birge eingeschnitten ist; brausend stürzen kleine Bäche über die 


38 Dr. Fritz Wertheimer: 


Felsen. Hier sind einige Häuschen errichtet, die sozusagen Vor- 
posten des eigentlichen Klosters sind. Da fließt die Quelle, die 
von den Mönchen kunstvoll gefaßt ist, durch einen Löwenkopf in 
ein Schaufelrad. Sobald eine Kammer gefüllt ist, dreht sich das 
Rad und bewegt automatisch einen Klöppel in Gestalt eines Holz- 
fisches, der an die eherne Glocke schlägt. Dort haben die guten 
Mönche unsere Flaschen, die wir mit einem Tragkuli bergauf ge- 
schickt hatten, gekühlt, und zeigen sie uns nun stolz vor, da das 
so gut wie Eis sei. Und wirklich sind sie famos gekühlt, und das 
Frühstück da oben in luftiger Höhe, vielleicht 800 m hoch, unter 
dem Schatten uralter Koniferen und Zypressen mit dem Blick 
hinab zum Flusse, der im goldenen Glanze der Morgensonne 
schimmert und leuchtet, ein solches Frühstück mundet famos. 
Dann führt man uns zu den paar Aussichtshäuschen, tiefer hinunter 
in die Schlucht, wo man die Quelle wiederum gefaßt und zu 
Springbrunnen benutzt hat, zu kleinen Miniaturhäusern, die direkt 
über der Felsschlucht auf ein paar mächtigen Felsblöcken schweben. 
Endlich aber kommen wir zum wirklichen Kloster durch einen kleinen 
Bambushain. Da ist ein großer grüner Teich zunächst, in dem 
die Mönche ihre Karpfen füttern, oder besser füttern lassen. Denn 
sie verkaufen den Pilgern für wenige Kupfermünzen Kakes, die man 
zur Fütterung ins Wasser wirft, um das Schauspiel zu genießen, 
wie die großen, schweren, fetten Fische kämpfen und um sich beißen, 
um die Bissen zu erhaschen. Von dort hat man einen hübschen 
Ausblick auf das Klosler, das jenseits des Teiches liegt; es beher- 
bergt nahezu 300 buddhistische Mönche aus allen Provinzen und 
Gegenden Chinas, und so sind die Tempel von entsprechender 
Größe. Etwas Besonderes an Ausstattung zeigen sie nicht. Frei- 
lich ist das Kloster reich. Die Figur des Fo, des Buddha, im 
Haupttempel ist recht groß, und der Altar vor ihm weist reichen 
Schmuck auf, auch eine Menge EBSchũsselchen mit seltenen Lecker- 
bissen, Schwalbennestersuppe und Haifischflossen unter anderem, 
die dem Gotte als Nahrung dargebracht worden sind. Rechts und 
links die Seitengötter, deren Schar sich an der Wand noch fortsetzt, 
sie alle sind sauber vergoldet und reich mit Gaben versehen. Aber 
all diese Obergötter und Untergötter schauen genau so aus, wie 
in anderen Tempeln auch, und wenn man eine Anzahl von ihnen 
gesehen hat, so hat man bald genug. Viel interessanter ist ja 
auch das weltlichere Leben und Treiben der Mönche. Da ist zum 
Beispiel eine Schule, ein ordentliches Zimmer mit einer Schiefer- 
tafel, und fremde Zeichen auf ihr deuten an, daß man hier auch 
die englische Sprache lehrt und lernt. Draußen vor den heiligen 
Hallen aber gibt es fruchtbare Felder, die von Kulis unter der 


Chinafahrt. 39 


Aufsicht der Mönche bestellt werden und auf denen das Gemüse 
gezogen wird. Mit Glockengeläute zog eben dort drüben eine 
große Herde auf die Weide, die gleichfalls dem Kloster gehört. 
Zwar muß man den Reis von Tragkulis aus der Ebene herauf- 
bringen lassen, aber er wird in einer eigenen, riesengroßen Mühle 
zerkleinert und zu Mehl verarbeitet. Ein großer Wasserbüffel 
dreht das Mühlrad, das in einer Rinne eines Mühlsteines läuft und 
so die Körner zu Mehl zerkleinert. Eine Schreinerei schließt sich 
an, zu der man das Rohmaterial aus den Waldungen des Klosters 
bekommt. Hier werden auch die Bambusrohrleitungen für die 
eigene Wasserleitung des Klosters geschnitten. Diese Wasser- 
leitung, die in alle einzelnen Klosterabteilungen geht und überall 
frisches, klares Quellwasser direkt vom Berge her vermittelt, ist 
das Erstaunlichste an dem Kloster. Sie läuft auch in die Küche, 
die mit ihrer ganzen Einrichtung eine wahre Sehenswürdigkeit ist. 
Was wir heutzutage in großen Betrieben mit kupfernen Kesseln 
und Dampfheizungen machen, das haben die Mönche dort weit 
einfacher, aber praktisch mit groben Steintrögen geschaffen. Über 
diesen Steintrögen schließt ein Deckel aus schwerem, dickem Holze 
ziemlich luftdicht. Er kann nur an einem Seile und oft nur von 
zwei Männern aufgezogen werden, so daß wenig Dampf entweicht. 
Unter dem Steintrog aber wird direkt das Feuer angemacht, so 
daß der Kupferkessel von allen Seiten Feuerung erhält. Sinnige 
Vorrichtungen erleichtern das Ausheben und Reinigen der Kessel, 
Wasser kann ihnen dadurch zugeführt werden, daß man das 
Bambusrohr der Wasserleitung einfach verschiebt. An der Wand 
hängt eine große Tafel, die den heutigen Küchenzettel angibt, und 
fünf oder sechs Köche sind eifrig tätig, schon jetzt in der Morgen- 
frühe das Gemüse zu reinigen und den Reis zu waschen, die 
Fische zu säubern und die Saucen zurechtzumischen. Dicht neben 
der Küche liegt der große Speisesaal, eine einfache, offene, luftige 
Halle mit roh gezimmerten Bänken und Tischen. Auf den ein- 
zelnen Plätzen sind schon jetzt die Reisschüsselchen aufgestellt, in 
die zur Mittagszeit jedem Bruder seine Reisportion zugeteilt wird. 
All das sieht so sauber und lecker aus, der weiße Käsekuchen, 
den der eine Koch eben aus dem Backofen geholt hat und jetzt 
vorüberträgt, blickt so einladend, daß man es wohl verstehen kann, 
wenn Europäer, die die chinesische Küche gewöhnt sind und die 
sie sogar ausgezeichnet fanden, in diesem Kloster gern weilten. 
Denn das Kloster, das vom den Futschau-Fremden alljährlich eine 
kleine freiwillige Gabe erhebt, gewissermaßen als Entgelt dessen, 
daß es für Fremde einige Zimmer zum Übernachten bereithält, ist 
ein gastfreundliches Haus. Die Mönche sind liebenswürdig und 


5 — — 
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40 Dr. Fritz Wertheimer: Chinafahrt. 


zuvorkommend, sie nehmen ihr Führertrinkgeld mit Würde und 
Anstand, ja, sie haben sogar ein Fremdenbuch für diesen Zweck, 
in das man sich einträgt, um bei dieser Gelegenheit seinen Obulus 
schweigend und dankbar zu entrichten. Es herrscht sogar eine 
ganz gute Freundschaft zwischen diesem Buddhakloster und den 
fremden Missionaren, die droben auf der Höhe des Kuschanberges 
im schattigen Hochwald von Kuliang sich ihre Bungalows er- 
richtet haben. Etwa 250 Missionare aus der Fukien-Provinz 
suchen dort neben etwa 50 Angehörigen der handeltreibenden 
Europäer von Futschau sommerliche Kühle und Erholung. 

Die Sonne steigt am Himmel, wir müssen scheiden, wollen 
wir sie nicht mit Nachmittagsgluten auf dem Buckel brennen 
haben. Tragkörbe, aus gespaltenem Bambus geflochten und an 
den zwei Tragstangen schwankend, wie die schwebenden Brücken 
Formosas, bringen uns auf starken Kulischultern rasch zu Tal. 
Drunten wartet das Hausboot, eine ganz ansehnliche Dschunke, 
die man sich des Sonntags mietet, mit zwei großen Segeln, zwei 
Schlafkabinen und einem großen Eßraum, in dem wohl acht Per- 
sonen sitzen können. Hier haben uns die Kulis das Tiffin be- 
reitet, und mit frischem Winde segeln wir hinab zwischen den 
grünen Hügeln des Minstromes, den man den chinesischen Rhein 
nennt, weil er so malerische Ufer hat. Drunten bei der Pagoda 
werfen wir Anker bis zum späten Abend, wo die Flut wieder ein- 
läuft und wir zurückfahren können. Blitze und Wetterleuchten 
zucken da auf allen Seiten, und es dauert lange, bis sich eine 
frische Seebrise erhebt, um uns hinabzutreiben. Spät in der Nacht 
landen wir dann wieder vor dem Zollhause. Ein schöner Sonntags- 
ausflug in Futschaus hübsche Umgebung liegt hinter uns. 


41 


Franz Blei: 
Für 


Scaramuccia auf Naxos. Aana Bahe Mildenbäre: 
Eine heitere Oper. 


Die Personen: 


Dionysos Scaramuccia 

Ariadne Grazioso 

Silen Colombina 
Glaukos 


Satyrn, Choribanten und Mänaden. 


Die Szene: Eine Waldlichtung auf der Insel. Der gegen das Meer abfallende 
Hintergrund läßt durch die Baumwipfel die blaue Wand des Meeres sehen. 


Es ist gegen Mittag. 


(Scaramuccia, Colombina, Grazioso 
kommen von links, sehr erschöpft) 


Scaramuccia (rult) 
Ariadne! ... Ariadne! 
So ruf doch, Grazioso, Schelm! 


Grazioso 
Ariadne. Ari... Ich kann 
Nicht mehr, 's geht über meine Kraft. 


Colombina (sinkt ins Gras) 
Hier bleib ich. Rühr mich nicht vom Fleck. 
Der zweite Tag! Ich hab es satt! 


Scaramuccia 
Ihr steht in meinem Dienst und Lohn, 
Und für die Reise zahlt’ ich zweifach. 


Colombina 
Das — Reise? Plage ist's und Narrheit! 
Frech angelogen hast du uns 
Mit deiner Dame! Stand sie denn 
Am Ufer? Wartete auf uns, 
Wie du uns sagtest? Wo ist der 
Kontrakt, den sie schon unterschrieben ? 


Grazioso 
Ein Schwindel! 


Colombina 
Spitzbub! 
Grazioso 
Lump! 


Colombina 
Betrüger! 


A 
8 
—— 2 772 


— —— — 


42 Franz Blei: 


Scaramuccia 
Auf einmal habt ihr wieder Stimme! 
Ich bitt euch, schont sie, spart sie auf, 
Spart den Tenor und den Soprano, 
Ariadne zu rufen, nicht 
Mich, euern Brotherrn, zu beschimpfen! 
Was habt ihr denn davon, wenn ihr 


Mich jetzt im Stich laßt?! Ich schließ die Bude! 


Tanzt, singt und spielt, wo ihr dann wollt! 
Ich schwör es euch, ich sperre zul 
Ariadne ist unsere Rettung. 


Grazioso 
Wo ist sie denn? Was kann sie denn, 
Das Wunderwesen sondergleichen ? 


Scaramuccia 

Sie ist — der Star. Ich sage nichts 
Als das: sie ist der Star! Der Star! 
Man spricht von ihr. Sie hat etwas 
Erlebt, was braucht sie da zu können? 
Sie hat die Hauptsach: den Skandal! 
Die Zeitungen sind voll von ihr! 

Man will sie sehn! Man soll sie sehn! 


Grazioso 
Als was denn? Etwas muß sie doch. 


Scaramuccia 
Wozu denn hab ich meine Dichter? 
Die machen ihr ein Stück, in dem 
Sie mitten unter Flammen tanzt, 
Mit Tigern, Leoparden kämpft, 
Vergiftet mit dem Blick der Augen, 
Blumen zum Blühen bringt mit nichts 
Als ihrer kleinen Hände Fächeln. 
Ich zeig sie nackt, halbnackt und angezogen, 
Von hinten, vorne, auf den Kopf 
Gestellt, als Unschuld und als Laster. 
Greise und Kinder soll sie närrisch 
Mit nichts als ihrem Lächeln machen, 
Und Männer rasend und die Weiber 
Vergehn vor Lust. . . Ist das ein Star? 
Hat so was irgendein Theater ? 
Grazioso 
Verdammt! Ich will ihr Diener sein, 
Ihr Schleppenträger, was sie will! 
Scaramuccia 
Ja, alles was du willst, Grazioso! 
Ariadne! 
Grazioso 
Ariadne! 
Colombina (zu Grazioso) 
Du dummer Geck! Kein Wort ist wahr. 


Scaramuccia auf Naxos. 43 


Scaramuccia 
So wahr es in der Zeitung stand! 


Colombina 
In die du's selber drucken ließest. 
(weinend) 
Was fang ich Ärmste dann nur an, 
Wenn diese Neue alles kann 
Und alle Herren so betört, 
Daß keiner Colombina hört. 
Sie auslachen, wenn sie steht in Tränen, 
Und lacht sie, vor Langweile gähnen. 


Grazioso 
Laß nur, wir spielen immer doch 
Für Liebesleute, du und ich. 
Der Mond versilbert immer noch 
Die Liebesnacht, für dich und mich. 
Das Fenster hast du angelehnt 
Und Pantalon ist ausgegangen, 
Und was den Tag sich hat gesehnt, 
Das treibt nun heißeres Verlangen — 
Das spielen wir den Liebespaaren 
Auch dann wie eh’ mit gleichem Erfolg, 
Mußt um die Neue dich nicht bangen. 


Scaramuccia 
Natürlich! Per Bacchus! Von Zeit zu Zeit 
Liebt’s Publikum immer noch die Kunst, 
Wenn sie so bescheiden sich macht wie die eure, 
Und wenn sie was ist für die heimliche Brunst. 
Drum helft mir weitersuchen und rufen. 
Ich geh zugrund und kann euch nicht zahlen 
Ohne die große Attraktion! 


Ariadne! 
Grazioso 
Ariadne! 
Colombina 
Mir fallen die Füße. 
Grazioso 
Ich trag dich ein Stück. 
(Er nimmt sie auf den Rücken.) 
Alle drei 


Ariadne! Ariadne! 
(Es ist ganz still geworden. Die Bäume rauschen nicht mehr, 
die Vögel singen nicht mehr, und auch das leise anschlagende 
Meer schweigt. Es ist Mittag. Die Musik der Streicher und 
Holzbläser hält einen langen Akkord, auf dem das „Ariadne“ 
wie ein Echo herschwimmt. Die drei rücken ganz nah zuein- 
ander.) 


Colombina 
Was ist? 


44 Franz Blei: 


Grazioso 
Die große Stille tönt 
Die Mittagsstille. Pan steht auf 


Colombina (rutscht vom Rücken, klammert sich an Grazioso und 
Scaramuccia) 
Ich fürcht mich so.. . Was ist das nur? 


Scaramuccia 
Rief ich jetzt, sie müßt es hören, 
Aber aller Mut verließ mich ... 
Ruf Ariadne, Grazioso! 
Grazioso 
Viel zu laut ist diese Stille, 
Keine Stimme übertönt sie. 
Colombina 
Ach, ich fürcht mich! Wär ich fort! 
(In die Musik der lang festgehaltenen Akkorde fallen die leisen 
Akzente eines verschlafenen, komischen Trottes, und aus dem 
Walde kommt Silen auf seinem faulschreitenden Grautier.) 


Grazioso 
Da! Ein Mensch auf einem Esel! 


Scaramuccia 
Das war alles? Dieser Dickbauch ? 


Colombina 
Ist sie das? Ist das der Star? 


Scaramuccia 
Vielleicht der Vater. 
(tritt vor Silen) 
Seid begrüßt, hochberittner, edler Herr. 

(Silen steigt vom Esel, der sich in den Wald verliert. Das Fol- 

gende gesprochen. Die Musiker stimmen währenddem ihre In- 

strumente.) 
Erlaubt, daß ich vorstelle. Ich bin Scaramuccia, von dem ihr bereits 
so viel habt reden hören, in eigener Person. Der berühmteste 
Theaterdirektor Europas, Herr über das größte und kunstreichste 
Personal nicht nur, sondern Befehlshaber über alle Dichter, Musiker, 
Maler und andern Theatermaschinisten, tot oder lebendig. Dies hier 
ist, wenn ich in einem gehörigen Abstand, den ich drängender Ge- 
schäfte halber nur markieren kann, anschließend an mich davon 
sprechen darf, dies ist Colombina, die naivste Naive, die je in die 
Wochen kam. Sie tanzt auf einem Bein so gut wie auf beiden 
Beinen, die wahrhaft die Türpfosten des Himmels genannt zu werden 
verdienen. Dies hier ist der witzige und höchst erfolgreiche Grazioso. 
Seine Rede ist das Entzücken der Weiber, und sie sinken hin, wenn 
er ein Auge verdreht. Tut er's aber mit beiden, so sterben sie. 
Dürfen wir einem hohen Herrn mit einer kleinen Probe unserer 
Kunst aufwarten? Belieben ein Ballett oder eine Commedia, lustig 
oder traurig, mit Prügeln oder mit blutigem Ausgang? Unser Re- 
pertoire kann sich sehen lassen. 

(Die Musiker sind gegen Schluß wieder in Ordnung gekommen.) 


Scaramuccia auf Naxos. 45 


Silen (reicht ihm den Weinschlauch) 
Alles was ich will, ist, daß ihr trinkt. Da! 
Mir ist schon vom Hören trocken meine Kehle. 
Was ein Maulwerk! Scaramuccia, sagt ihr, heißt ihr, 
Colombina ihr mein Kind, und ihr Grazioso — 
Sonderbare Namen, seltsame Gesichter! 
Kommt wohl weit woher? Theater, Spieler, Mimen? 
Sagt mir nur, was wollt ihr hier? Im Dorf die Bauern, 
Ja, die mögen’s lieben, aber hier im Wald 
Ist kein Mensch. Wollt ihr vor Vögeln, Füchsen spielen ? 
Scaramuccia 
Hier lebt Ariadne! Versteckt sich 
Im Wald — so ist die letzte Nachricht. 


Silen 
Letzte? Schlecht berichtet bist du, Scaramuccia. 


Scaramuccia 
Es ist so. Theseus gab sie auf, 
Verließ sie sozusagen schmählich. 
Auf Naxos. Ist das Naxos, Herr? 


Silen (zu sich selber) 
Fand sie einer, der sie suchte durch die Welt, 
Wanderer auf allen Wegen, Sturm und Flamme. 


Scaramuccia 
Ein anderer hat sie engagiert? 


Colombina 
Da hast’s! Scaramuccia kam zu spät! 


Grazioso 
Wie immer! Alle Müh umsonst! 


Scaramuccia 
Ich werd verrückt! Ein andrer hat sie! 
Ich bin verloren! Alles hin! 
Wie heißt der Mann? Das Unternehmen? 
Ich biet ihr mehr! Das Doppelte! 
Das Doppelte vom Doppelten! 
Ich bitt euch, helft mir, guter Herr! 
Wer ist der andere Direktor ? 


Grazioso 
Vielleicht ist er es selber. 


Scaramuccia 
Ha! 
(er läuft zu Orazioso und Colombina, leise zu ihnen) 
Nur Vorsicht jetzt und Schlauheit! 
(wieder vor Silen) 

Herr! 
Ariadne hat sich verpflichtet, 
Auf meiner Bühne aufzutreten. 
Hier schwarz auf weiß steht's im Kontrakt. 
Ein Gastspiel. Der Vertrag ist bindend, 
Klagbar vor den Gerichten, Herr! 


46 Franz Blei: 


Sılen 
Schwer versteh ich euern Mimus, Scaramuccia, 
Närrisch dünkt mich, was ihr redet. Ist’s der Wein? 
Scaramuccia 


Sie spielt bei mir! Ich hab’s kontraktlich! A 
Colombina (macht es sich unter einem Baum bequem und schläft ein) 


Grazioso 
Für meinen Magen such ich was, 
Das besser als Ariadne. 
(Er verschwindet im Wald.) 
Silen 
Einer ruht bei ihr und hält sie in den Armen. 
Braun ist seine Brust, und seine Augen glänzen 
Wie die schwarzen Beeren aus dem dunklen Weinlaub. 
Kennst du den? Der Gott ist's! Ich Silen, sein Diener. 
Dionysos hat sich Ariadne gefunden. 
Scaramuccia 
Wo find ich den Dionysos? 
Er wird schon mit sich reden lassen. 
Und wenn’s ihm paßt und nicht zu hoch 
Sein Fordern, engagier ich ihn 
Mitsamt der Frau Ariadne. 
Ein Gott macht sicher weniger 
Geschichten als heut ein Komödiant. 
Silen 
Habt ihr Sorgen mit dem Spiel! Ihr treibt’s so ernsthaft 
Wie ein häßlich Handwerk voller Müh und Plagen. 
Scaramuccia 
Das Spiel? Was kümmert mich das Spiel! 
Mein Leben ist's! Mein Unterhalt! 
Mein Brot! Mein Schlaf! Mein Haus! Das Spiel. . .! 
Mein Geld hab ich im Spiel! Drum Sorg 
Und Plag und Müh und Ärger! Spiel.. 
Die Kunst .. . Daß Gott erbarm! Die Kunst .. .! 
Geschäft ist Kunst — und keine leichte! 
Silen 
Geht zu, kein Wort versteh ich. Besser schon die Kleine 
Da im Gras. Ein niedlich Frätzchen, süßer Schnabel. 
Bockig wird mir da zumute: das versteh ich, 
Eurer eifervollen Reden nicht ein Wort. 
(lüpft Colombinas Röcke) 
Hat das liebe Mädchen Beine! Süße Sachen! 
Scaramuccia | 
Helft mir zu der Ariadne, 
Ich sprech ein Wort für euch bei der. 
(Grazioso kommt mit dem Schullehrer Glaukos aus dem Wald.) 
Glaukos 
Habt ihr’s kapiert, was Logik ist? 
Der Schluß zuletzt, erst die Behauptung. 
Und jedes Ding hat seine Ursach. 


Scaramuccia auf Naxos. 47 


Grazioso 
Der Narr lief mir im Walde zu. 
Er trägt voll Eiern einen Sack. 
(zu Scaramuccia) 
Ich glaube, ihr versteht mich recht? 
Scaramuccia 
Sehr recht, mein lieber Sohn Grazioso. 


Glaukos (zu den übrigen) 
Ich heiße Glaukos, Philosoph 
Durch Wissen, Einsicht und Geburt. 
(zu Grazioso) 
Wirkung und Ursach, das vergeßt nicht. 
Nur der, der logisch denkt, denkt richtig. 
Grazioso 
So denk ich richtig, daß der Ursach 
Die Wirkung folgt. Die Ursach ist 
Der Sack, die Wirkung ist sein Inhalt. 
(Er nimmt ihm den Sack.) 
Glaukos 
Du Dummkopf! Falsch! 
Grazioso 
Und den Beweis, 
Den kocht uns Colombina. Auf! 
Colombina 
Geschlafen hab ich. Hunger hab ich. 
Scaramuccia 
Mach Eierkuchen, Colombina. 
Silen 
Wein und Eierkuchen, das soll schmecken, Kleine. 
Scaramuccia (zu Glaukos) 
Und ihr seid freundlichst eingeladen. 
Glaukos 
Neugierig bin ich, was die Eier 
Beweisen sollen! Welche Logik! 
(Grazioso macht zwischen Steinen cin Feuer. Colombina schlägt 
die Eier in einen flachen Stein, der als Pfanne dient. Man lagert 
sich darum und trinkt mächtig aus dem kreisenden Schlauch 
Silens.) 
Glaukos (trinkt zwischen jedem Satz) 
Das Trinken ziemt dem Weisen nicht. 
Verdunkelt ihm das klare Licht. 
Ich trinke nur, den Durst zu löschen. 
Silen i 
Ein Wohlerfahrner geb ich dir die Lehre: 
Statt dich auf Studien, auf ernste, schwere 
Und tiefe gründlich zu verlegen, 
Trink und erwarte froh der Götter Segen. 
Flüssige Flammen, flammenhaltende Flut, 
Wein im Schlauche, Wein im Bauche ist Blut. 


48 Franz Blei: 


Glaukos 
Wenn einer mäßig trinkt, 
So soll es ihm gedeihlich sein. 
(Er trinkt.) 


EHRE un 


- 


2 


Scaramuccia 
Wenn ohne Maß er trinkt, so soll’s 
Ihm ohne Maß gedeihlich sein. 


. 


Silen 
42 7 Ganz vortrefflich ist der Kuchen, 
$g Kleine mit den runden Hüften. 


Colombina 
á Alter Herr, Sie werden zärtlich, 
Wollen andres noch versuchen. 
5. Silen 
eir Starker Bock und junges Zickel 
Balgen sich am allerbesten. 


A Grazioso 
* Krieg' ich, Alter, dich am Wickel! 
4 Scaramuccia 
| Achtung, Achtung unsern Gästen! 
; 


Glaukos 
Alles taumelt, alles dreht sich, 
Glaukos, du allein stehst fest, 
Weil du denkst. Doch das versteht sich. 
Aus trink ich den letzten Rest. 
Silen 
Was hast du in deinem Mieder? 


Colombina 
Hände weg, sind meine Sachen! 


Glaukos 
Alles schaukelt auf und nieder. 


Scaramuccia 
Müssen zärtlicher es machen, 
Nicht so grob hineingefahren. 


Grazioso 
Packt’ ich dich bei deinen Haaren, 
Wärest du nicht rundum kahl! 
Silen 
Schau, da ist ein Muttermal ... 
(Glaukos stürzt hin und schläft ein. 
Grazioso reißt Colombina von Silen fort.) 


Silen (erhebt sich) 
Komm’, Dionysos, komm’, wenn stets du die mystische Rebe 


Liebst, und den Efeukranz, der dir die Schläfe bekrönt, 

Nimm den Schmerz von mir, ihn heilend, Vater, denn oft schon 
Sah man von dir besiegt Amor verlassen den Kampf. 

Dieser Gott beseligt das Herz, demütigt den Stolzen 


Scaramuccia auf Naxos. 49 


Und gibt ihn der Gewalt einer Gebieterin preis. 

Falbe Löwinnen bändiget er und armenische Tiger, 

Ungebändigten selbst gibt er ein fühlendes Herz, 

Dies kann Amor, doch mehr kann Dionysos, mein Herr! 
(In die letzte Zeile tönt eine ferne Marschmusik sonderbaren 
Charakters, die sich verstärkend näher kommt und rauschend laut 
wird, da der Zug des Dionysos die Szene erreicht.) 


Scaramuccia 
Was für Getön kommt aus dem Wald? 


Grazioso 
Zimbel und Trommel, helle Hörner 


Scaramuccia 
Die Erde dröhnt 


Colombina 
Die Blumen blühen auf... 
Grazioso 
Ein Sturm fährt her und beugt uns. 
Silen 
Dionysos Zagreus, 
Mein Herr und seine Braut! 


Scaramuccia 
Ariadne? Zu der Musik? 
Die macht der Richard Srauß mir besser. 
Silen 
Er steht auf dem goldenen Wagen, 
Panther und Löwen sind sein Gespann. 
Meine Vettern, die Faune, 
Schlagen die Becken, lassen 
Die Flöten schrillen zum Schrei 
Der Mänaden, die rückworienen 
Hauptes den Herrn begleiten. 
Wie Hunde jagt die Schar 
Den Tag in die Nacht. 
Durch Sumpf und Bruch, 
Durch Heide und Felsgestein 
Rast weglos der Zug, 
Hinauf, hinab, 
In die Lust, in den Tod. 
(Die Szene wird auf einmal ganz dunkel. Die drei Komödianten 
machen sich ganz klein, drücken sich aneinander, in einer fernen 
Ecke. Der trunkene Glaukos schläft kaum sichtbar weiter. Silen 
bleibt inmitten der Szene.) 
Silen 
Jo, Zagreus! 
(Fackeln fallen ins Dunkel. Faune und Fauninnen, nackte Mä- 
naden stürmen auf die Lichtung, dicht drängt sich die ziehende, 
schiebende, jauchzende Schar um den von gelben Tieren gezogenen 
Wagen, auf dem Dionysos steht, Ariadne an ihn gelehnt.) 


50 Franz Blei: 


Dionysos 
Meine Braut für Tag und Nacht, 
Sprich zu mir, wie du zu dem Geliebten 
Sprachst, den du beweintest 
Und nicht mehr beweinst. 
All deine Trauer nahm ich zu mir, 
Trank ich auf 
Aus deinen Küssen. 
Ariadne 
Laß mich dich sehen, dich berühren, 
Dein Haar, den Mund... 
Laß mich liegen in den Armen, 
Fester, näher... Küß mich! Küß mich! 
Wie ein Licht kamst du in meine Dunkelheit, 
Wie ein Feuer kamst du, 
Brenn mich auf, zu Asche brenn mich, 
Lodernder, 
Sterben muß ich vor solcher Liebe! 
Dionysos ' 
Stirb in mir zu deinem Auferstehen, 
Braut meiner Tage, 
Braut meiner Nächte. 
Ariadne 
Wilde Freundinnen, löst mir das Haar, 
Schwestern, löst mir den Gürtel 
Zu meines Herren Lust und meiner. 
Schwestern, reicht mir die Schale mit Blut. 
Schlagt mich, Schwestern, helft mir, 
Schwestern! 
Die Mänaden 
Gott der Flamme, Gott des Sturmes 
Jo Zagreus! Jacchus! 


Scaramuccia (ist inzwischen vorsichtig zu Silen gegangen) 
Soll ich’s wagen? Helit ihr mir? 


Silen (zu Dionysos gewandt) 
Da sind dreie, Herr, mit Reden 
Sonderbar... Ich fand sie hier 
Im Walde verirrt, verwirrt. 


Scaramuccia 
Möchte mir erlauben 
Anzufragen untertänigst, | 
Ich, Scaramuccia, | 
Vieler Theater Besitzer, | 
Ob Ihre hohe Gemahlin 
Ein Gastspiel... in einem Stück, 
Ich miet einen Zirkus, 
Einem Stück, wie ich sagte, 
Mit glänzenden Bedingungen. 
Vielleicht, daß mir’s gelingt, 


Scaramuccia auf Naxos. 51 


Euch selber, Dionysos 

Und die andern Herrschaften alle, 
Ich miet einen Zirkus, 

Den größten... 


(Dionysos, der immer nur Ariadne sah, hebt das Haupt auf den 
winzigen Scaramuccia.) 


Scaramuccia 
Gebt Euern Blick weg, 
Er verbrennt mich! 


Colombina 
Feuer fiel mir ins Herz. 


Ariadne 
Dunkler Gott, Geliebter, 
Welchen Peinen gibst du mich hin... 
Ich sterbe an dir... 

Dionysos 
In der Menschen Träumen und Brüten 
Bin ich gekauert gleich einem Tier 
Und warte die Zeit, da Verlangen 
In ihren Wünschen schreit. 
Das lenk ich zum Schicksal 
Nach meinem Willen, 
Zünde das Feuer in ihrem Herzen, 
Hetze die Flamme, 
Daß blind sie rasen. 


Die Mänaden 
Herr des Blutes, Zagreus! 


Dionysos 
Über die Welt zieh ich, dring 
In der Menschen heimlich Gelaß 
Und hauch sie an, 
Daß Lust sie faßt, wie bloß in Träumen 
Männer und Frauen 
Sie stöhnend kennen. 
Über die Taumelnden 
Eil’ ich Brennender 
Weg im Sturme. 


Die Mänaden 
Herr des Sturmes, Zagreus! 


Dionysos 
Nicht wie die hohen Götter, 
Die sehend, doch ungesehen 
Da oben wohnen, 
Fern der Erde und ihrem Leben, 
Das sie wie eine oft erzählte 
Mär schon kennen — 
Nicht wie die stillen Götter 
Bin ich, Semeles Sohn. 


52 


Franz Blei: 


Der Erde Verlangen ist meines, 

Der Erde Schmerzen 

Bin ich verbunden, 

Die Erde bin ich, ihr Blut, ihr Atem, 
Frühlings Sehnen und Sommers Glühen. 
Herbstes Lust und Winters Härte. 

Bös wie die Erde bin ich 

Der Erde böse Lust. 


Die Mänaden 


Herr der Erde, Zagreus! 
Wir rasen, wir sterben. 


Dionysos (zu Scaramuccia hin) 


Was ein Geschlecht, das auszieht, 
Einen Gott zu fangen! 

Längst Verstorbne seid ihr, 
Asche, die zerfällt, 

Sonst ließet ihr, was euch 

In eine Regel zwingt, 

Und folgtet mir! 


Scaramuccia 


Herr, das Leben ist die Not, 
Wir armen Armen! 


Dionysos 


Geh’, Schatten, hin, der sich 
Das Leben kühnt. 

Nimm du den Narren mit, 
Der schlafend liegt im Gras 
Und zeig ihn auf. 

Vielleicht macht seine Narrheit 
Eure Weisheit klüger. 


(Pause.) 


Ein Satyrspiel zu unsrer Hochzeit, 
Ariadne! 


Auf das Lärmen! 


Fort und weiter! 


(Der Zug bewegt sich über die Szene, verschwindet allmählich im 
Walde und mit ihm das Dunkel. Es ist wieder mittäglich hell.) 


Colombina (reißt sich die Kleider vom Leib, nimmt einer letzten Mänade 


den Thyrusstab und stürzt sich mit ihr dem Zuge nach) 


Jo Zagreus, Herr der Erde! 


Grazioso 


Colombina! ... da rast sie hin 
Und schon entschwand sie... 
Ihr nach! 


(Und stürzt davon.) 


gya, gO 


Scaramuccia auf Naxos. 53 


Scaramuccia 


Auch das noch! Das noch! 

Meine beste Naive — dahin! 

Keine spielte die Jugend wie sie! 

Grazioso fort — keiner war fröhlich wie er! 
Ich alter Possenreißer bleib allein 

Mit meinem Schwert aus Holz — 

Ah, das Theater! Das Theater! 


Silen (hat seinen Esel geholt, stößt mit dem Fuß den Glaukos wach) 
Den hat er Euch geschenkt. 
Packt auf! Wer weiß, 
Taugt er nicht besser Eurer Schau 
Als meines Herren Braut. 


Glaukos 


Schafft mir die Träume ab! 
Kein Sinn ist drin 
Und kein Verstand. 


Scaramuccia 


Ich nehm ihn mit. 

Vielleicht ist’s ein Genie. 

Kommt, werter Herr, 

Mit mir. Wir ziehen in 

Ein Land, das ganz 

Nach Eures Herzens Freude. 

Ist ganz Verstand, ganz Logik, 
Ganz viereckig gescheut ist’s 

Wie eine Schulaufgab im Rechnen. 


Glaukos 
Ein Wunderland! Ein Paradies! 
Wann geht die Reise los? 
Scaramuccia 


Gleich auf der Stelle. Da unten 
Liegt mein Schiff. 
Spukhaft und grausig 
Ist's hier — nur fort. 
(Er zieht nach rückwärts mit Glaukos ab.) 


Silen 
Habt gute Fahrt ins Wunderland. 
(Schwingt sich auf seinen Esel und trabt, die Schilfpfeife blasend, 
dem Dionysoszuge nach.) 


Ende. 


54 


Politische Rundschau. 


politisches Novum, und wenn spätere Historiker dereinst die beliebten 

Zeitgrenzen des Altertums, des Mittelalters und der neuen Zeit zu ver- 
schieben oder zu vermehren gedenken, dann werden sie die Scheide einer 
neuen Zeit in unsere Tage verlegen müssen. 

Denn wir erleben den Beginn der eigentlichen Weltpolitik, nicht der 
Ergreifung der Erde durch die politischen Einflüsse, diese war der eigent- 
liche Inhalt der kolonialen Ara, sondern das Aufeinandereinwirken aller 
Mächte des Erdenrunds, das durch die politischen Bündnisse mit Ostasien, 
vor allem Japan und China, und die gegen diese Mächte gerichteten Aktionen 
so deutlich dargetan wird. 

Wenn Kampf das Erdenschicksal der Menschheit ist, so scheint dieser 
heute auf das wirtschaftliche, das soziale Gebiet verlegt; während in der 
Staatenpolitik die Positionsstrategie früherer Tage eine fröhliche „Urständ“ 
zu erleben scheint. 

Die Diplomatie sucht günstige Gruppierungen und Stellungen zu ge- 
winnen, und wenn man sie eingenommen hat, freut man sich dieses Erfolges 
und damit gut. 

Diese Tendenz der Politik erklärt sich aus einer Mächte- oder besser 
Kräfteverschiebung über den ganzen Erdball hin, sie ist der Ausdruck der 
oben berührten neuartigen Tatsache des Aufeinanderwirkens aller Mächte. 

Es handelt sich um ein Suchen des Gleichgewichts, nicht mehr des 
historischen europäischen Gleichgewichts, sondern eines solchen des Erdenrunds. 

Wer heute etwa die Geschichte der deutschen Staatenpolitik vor 1866 
liest, muß sich in ein fernes, fernes Zeitalter versetzt fühlen; was für Ziele 
des engsten Partikularismus! 

Das Deutsche Reich ist daraus erwachsen, daß Bismarck, der ganz in 
der Richtung preußischer Staatenpolitik angetreten war, seiner Politik nach 
dem Siege des Preußentums 1866 das höhere nationale Ziel gab, mit den 
kampfgestählten Kräften Preußens Deutschland in den Sattel hob, auf daß 
es reite. 

Und kaum sind wir zu Atem gekommen von dem heißen Ritt von 
1870, da finden wir, die wir uns nach der Erlösung aus dem Kleindeutschen- 
tum so groß vorgekommen waren, vor einer neuen Aufgabe: der Behauptung 
und Durchsetzung des neuen Deutschen Reiches nicht in Europa, sondern 
darüber hinausgreifend in der Weltwirtschaft, in der Weltpolitik. 

Auf einmal sind wir wieder ein kleines Land geworden, ein Blick auf 
die Weltkarte bannt jeden Zweifel! 

Die Alteren unter uns, deren Ideale und politische Vorstellungen in 
den Gedankenkreis der großen Zeit um 1870 beschlossen liegen, sehen in der 
Entwicklung unserer Tage oft nur Niedergang und Gefahr. 

Gefahr gewiß — Niedergang nimmermehr! Der deutsche Staat von 
1870 wäre heute eine Macht zweiten Ranges und als Weltmacht glatt er- 
ledigt, wenn unsere wirtschaftliche Entwicklung auch nur in demselben 
Tempo vorwärts geschritten wäre wie etwa die Frankreichs. 

Darin liegt die Rechtfertigung für unsere Zeit des Industrialismus, 
deni man oft zuschaut wie einem Zerstörer, der das Bild der deutschen 
Landschaft verwüstet, die Traulichkeit unserer Städte mit Roheit und Häß- 


I unsere Zeit ein politisches Zeitalter? In einem Punkte ist sie ein 


Politische Rundschau. 55 


lichkeit füllt und keine Gegend überlassen will, wo man mit Eichendorff 
Täler weit und Höhen in Einsamkeit grüßen kann. 

Und weshalb gehen wir in eiserner Wehr, haben das stärkste Heer 
und, wie wir hoffen, die beste Flotte? Weil wir uns durchsetzen müssen oder 
verkümmern! 

Heute gehört Deutschland nicht zu den Weltmächten — das ist eine 
notwendige Erkenntnis! 

Weltmächte sind heute England, Rußland und die Vereinigten Staaten. 

Die Vereinigten Staaten haben auf dem amerikanischen Kontinent für 
ein Jahrhundert hinaus ihre Domäne, die ihnen nur England streitig machen 
könnte und vielleicht einmal streitig machen wird. 

Heute nimmt es freilich von dort jeden Schlag tatenlos und wagt gegen 
die Verletzung seiner Panamaverträge nur den Protest der Machtlosen, die 
Anrufung des Haager Schiedsgerichts — England, das Rom der Neuzeit, und 
wie heute an der Jahrhundertwende bemerkt sein mag, nicht der Sieger, aber 
der Triumphator über Napoleon! 

Der uns zunächst angehende weltpolitische Gegensatz besteht zwischen 
England und Rußland, muß zwischen ihnen bestehen. 

Beide gleichen Lawinen, die in jedem Jahrzehnt neue Länderkomplexe 
sich einverleihen. Immermehr schwindet mit Persien und neuerdings an- 
scheinend mit Tibet die neutrale Zone, die beide voneinander trennt. 

Beide verschlingen mehr, als sie von rechtswegen verdauen können, 
und das hat Politikern hüben und drüben die Idee des Syndikats auf ge- 
meinschaftliche Teilung und endliche Herrschaft eingegeben. 

Diese ist aber wenig erfolgversprechend, weil England vor der Be- 
rührung mit dem russischen Koloß die größte Besorgnis hat. 

Englands Herrschaft beruht auf Geld, Diplomatie und Seebeherrschung, 
diese Mittel versagen Rußland gegenüber, das sich in breiter Front gegen 
seine indischen Besitzungen anwälzt. 

England möchte die Entwicklung Rußlands durch Absperrung von 
der See hindern, ihm gewissermaßen die Luftzufuhr abschneiden. 

Dies Ziel war der Zweck des von England veranlaßten mandschu- 
rischen Krieges und wird von ihm weiter in der Dardanellenfrage verfolgt. 

Hier wäre der Einwand berechtigt, daß diese Gesichtspunkte doch 
keineswegs entscheidend sein könnten, denn beide lebten ja in der Triple- 
Entente in Friede und Freundschaft. 

Richtig ist, daß England sich zu diesem Gegensatz zu Rußland heute 
offiziell nicht bekennt, seine politischen Agenten lungern zurzeit nicht in 
Finland und Sibirien herum, sondern sind am Balkan angesetzt. 

Dort will es Österreich Unannehmlichkeiten machen, um uns zu treffen. 

Weshalb uns? 

England ist nicht das Land politischer Neuerungen. Seine kontinentale 
Politik ist seit den Tagen Cromwells auf ein divide et impera mit der Spitze 
gegen die jeweilig stärkste Kontinentalmacht gerichtet gewesen und hat 
jedesmal diese Vormacht, ob sie nun Spanien oder Holland oder Frankreich 
hieß, bekämpft — und gebrochen. 

Wäre die unionistische Regierung am Ruder, so gäbe es vielleicht eine 
Möglichkeit, die auch von Salisbury und Chamberlain ins Auge gefaßte Ver- 
ständigung mit Deutschland zu verwirklichen. 

Unter der liberalen Regierung, die in der auswärtigen Politik in der- 
selben Richtung laufen möchte, in der die unionistische ging, um .nur dem 


56 Politische Rundschau. 


englischen Spießer zu beweisen, daß Englands Macht und Ehre ebensogut 
bei ihnen aufgehoben sind als bei den Unions, ist keine Anderung zu 
erhoffen. 


Die Verhältnisse liegen hier nicht so sehr verschieden von den fran- 
zösischen, schwache Regierungen müssen den Volksleidenschaften nachgeben 
und die Masse des Volkes ist in beiden Ländern in deutsche Antipathien 
hineingehetzt. 


Frankreichs Haltung können wir gefühlsmäßig verstehen, ihm Ab- 
bruch zu tun, kann aus vielen Gründen nicht unsere Absicht sein, aber 
England müssen wir lehren, daß seine Feindschaft zu uns ihm Nachteil bringt. 

Das kann nur durch Fühlungnahme mit Rußland erreicht werden. 


Vielleicht ist dann der Tag nicht mehr so fern, wo England erkennt, 
daß es sein Weltreich nur mit deutscher Hilfe und unter Einräumung der 
Deutschland gebührenden Entwicklungsfreiheit halten kann; der Tag, da 
Deutschland unter englisch-französisch-russischem Angriff zusammenbräche, 
könnte leicht in seinen Fortwirkungen ein Finis Britanniae sein. 


Vor der Hand droht von England die größte und ernsteste Gefahr. 

Wenn wir dem Gedankengange des wegen seines Tatsachensinnes, wie 
wir anerkennen müssen mit Recht, aus der sozialdemokratischen Partei aus- 
geschlossenen Gerhard Hildebrand im Septemberheſt dieser Zeitschrift folgen, 
so kann nicht zweifelhaft sein, daß die größte Gefahr für unsere, wie über- 
haupt die europäische Weiterentwicklung, in einer Absperrung des britischen 
Weltreiches für unseren Absatz und unseren Rohstoffbezug liegt. 

Diese Gefahr muß rechtzeitig erkannt und vorsorgend die Abwehr be- 
reitet werden. 


Für uns ist der Schutzzoll eine Maßregel zur Aufzucht unserer In- 
dustrie, zur Erhaltung unseres agraren Reservefonds gewesen, auf das bri- 
tische Weltreich dies System übertragen, heißt die wertvollsten Teile des 
Erdballs den 55 Millionen Engländern vorbehalten, uns nicht nur politisch, 
sondern auch wirtschaftlich davon aussperren. 


Das ist für unsere Wirtschaftsmacht eine Existenzfrage und Existenz- 
fragen sind politisch die Fragen, ob Krieg, ob Frieden — England hat 
die Wahl! 

Bei der Erörterung der inneren Politik müssen wir uns bei dem zur 
Verfügung stehenden Raum auf die Stellungnahme zu einer Polemik be- 
schränken, die sich zum Teil im Anschluß an den Schlußsatz unserer Juli- 
Rundschau über Bremen und Emden entsponnen hat. 


Herr Jules C. A. Schröder hatte in einem Artikel im „Tag“ seine Aus- 
führungen in das Zitat dieses Satzes ausklingen lassen und damit die 
nationale Bedeutung des Bundesratsbeschlusses der Ablehnung der Erteilung 
der Auswandererkonzession für die Levantelinie von Emden hervorgehoben. 


Kein Leser unserer Ausführungen im Juliheft wird verkennen können, 
daß darin das Interesse Preußens an der Gewinnung eines ozeanischen Hafens 
als vollauf gerechtfertigt anerkannt worden ist. 

Es sei an dieser Stelle noch betont, daß die überraschenderweise aus 
Hamburg zugunsten Bremens verlautbarten Kundgebungen weder diesem 
Gesichtspunkt noch der Tatsache Rechnung zu tragen schienen, daß jeder 
deutschen Schiffahrtslinie das Maß und die Art ihrer Betätigung freisteht 
und diese im nationalen Interesse stets zu begrüßen ist. 


Politische Rundschau. 57 


Der letztere Hinweis erscheint um so notwendiger, als auch sonst und 
nicht immer für Bremen von Hamburger Interessenten ein abweichender 
Standpunkt vertreten ist! 

In der Abendnummer der „Kreuzzeitung“ vom 22. August ist dann 
ein Eingesandt veröffentlicht worden, das in einer Weise gegen Bremen ge- 
richtet ist, daß man bei uns, wo man gewohnt ist, daß in ganz Deutschland 
ohne Ausnahme das harte Ringen unserer Vaterstadt um die Behauptung 
seiner Stellung als überseeischer Handels- und Hafenplatz großen Stils als 
eine nationale, allgemein deutsche Frage betrachtet wird, von diesem feind- 
seligen Verstoß auf das peinlichste überrascht ist. 

Das ist die Sprache des engherzigsten preußischen Partikularismus, 
von dem selbst Treitschke, der advocatus Borussiae, bei seiner Agitation für 
den Zollanschluß Bremens sich ganz freigehalten hat! 

Da lesen wir, Bremen könne auf die Dauer unmöglich die Konkurrenz 
eines Seehafens wie Emden durchhalten. 

Seit wann werden deutsche Seehäfen angelegt und unterhalten, um 
andere deutsche Häfen niederzukonkurrieren ? 

Ein solches Vorgehen wäre antinational nach der Tendenz und anti- 
national nach dem Erfolg. 

Eine Konkurrenz im Sinn der Bekämpfung darf nur ausländischen 
Häfen gemacht werden, und wir wünschen Emden von Herzen, daß es sich 
als ein wehrhafter Konkurrent für die holländischen Rheinhäfen entwickelt. 

Wir fürchten aber und glauben dazu berechtigt zu sein, daß einer 
Wasserstraße wie dem Rhein, geschützt zudem durch internationale Verträge, 
niemals eine wirksame Konkurrenz durch eine Wasserstraße an der Ems be- 
reitet werden kann. 

Der deutsche Erfolg dieses Vorgehens muß unseres Erachtens außer 
jedem Verhältnis zu den aufgewandten Mitteln stehen, mit denen bei Ausbau 
des Mittellandkanals nach Elbe und Weser Großes geschaffen werden könnte. 

Der Torso des Mittellandkanals ist in erster Linie eine holländische 
Zubringerstraße, und wenn der Einsender der „Kreuzzeitung“ giaubt, daß 
eine mit preußischem Gelde für preußische Interessen erbaute Straße von 
denen mitbezahlt werden soll, die sie mitbenutzen, dann mag Preußen bei 
Holland Deckung für einen großen Teil seiner Auslagen suchen. 

Wir erfahren, „daß es nur eine Frage der Zeit sein kann, daß die be- 
sondere Zuneigung Preußens, die Bremen genießt und der Bremen seine 
Erfolge verdankt, auf das richtige Maß zurückgedämmt wird“. 

Auch die Wege werden gewiesen, Preußen wird das durch eine 
rücksichtslose Eisenbahn- und Kanalpolitik erreichen. 

Mit Verlaub, mit einem derartigen partikularistischen Mißbrauch der 
Wasserstraßen würde vielleicht nur gegen den Geist der Reichsverfassung, 
mit einer gleich „großzügigen Verkehrspolitik“ der Eisenbahnen aber gegen 
den Buchstaben der Reichsverfassung verstoßen, die besagt, daß die Eisen- 
bahnen als ein einheitliches Verkehrsnetz zu verwalten sind. 

Und wozu das alles? Um den zweiten deutschen Seehandelsplatz, die 
älteste Trägerin der ruhmreichen hanseatischen See- und Handelspolitik, zu 
schädigen oder zu zerstören — und das nennt sich deutsch-konservative 
Politik! 

Nun freilich, das Heldenstück wäre möglich. Kein Seehandelsplatz 
kann heute mehr ohne die intensive Förderung seines Hinterlandes existieren, 
die Zeiten des Hochseetauschhandels sind vorüber. 


— nn 


58 Politische Rundschau. 


Preußen kann gewiß die Wasserstraßenanschlüsse der Weser wie 
bisher vernachlässigen, es kann das in Zukunft bewußt tun, es kann eine 
Politik treiben, wobei es um jeden Zoll Vertiefung der Weser, um jeden 
Fußbreit Landes in Bremerhaven marktet, es kann das ganze große nieder- 
deutsche Land von der Elbe bis zur Ems wasserwirtschaftlich vernachlässigen. 

Aber es kann auch — das freie Zitat sei erlaubt — beweisen: daß an 
des Reiches großem Besten ihm mehr liegt, als an ein paar Tonnen, die 
Emden mehr hat oder weniger. 

Die Vernachlässigung der Weser ist eine Schuld Hannovers gewesen. 

Duckwitz erzählt in seinen Denkwürdigkeiten die scherzhafte Geschichte 
von dem Schiffer, der für einige Taler an den Ludener Klippen die Fahr- 
straße freisprengte, nachdem alle feierlichen Staatsverhandlungen gescheitert 
waren. 

Wir denken höher von Preußen und vertrauen, daß der Staat, der 
im Zollverein die wirtschaftliche Grundlage des Reiches schuf, jetzt nicht 
Mücken seien und seinen Scharfsinn dabei verwenden wird, wie man durch 
Verhinderungen einen allgemeinen Nachteil, aber einen relativen Vorteil 
Geestemündes gegenüber Bremerhaven oder Brake oder Gott mag wissen 
was für einem Platz gegenüber erzielt. 

Auch die Verhinderung des Kampe-Dörpenkanals wäre kein Ruhmes- 
blatt neudeutscher und preußischer Wirtschaftsgeschichte. 

Bremen und Oldenburg sind gewiß nicht berufen, Preußen wirtschafts- 
politisch abzulösen, was wir wollen, ist einfach das, was Otto Gildemeister 
im Nekrolog für Smidt so treffend sagte: Wir wollen keine historische Re- 
liguie, sondern ein lebendiges Glied am Leibe der deutschen Nation sein! 

Im englischen Parlament ist einmal das Wort gefallen: Kent fragt 
nicht, ob Surrey rentiert. Bremen und Emden mögen nicht gegeneinander, 
sondern nebeneinander um die Palme, der erste Seeplatz der niedersächsisch- 
friesischen Seeküste zu sein, bei gleicher Unterstützung der preußischen Eisen- 
bahnen und Wasserstraßen im ehrlichen Wetteifer ringen. 

Und wenn wir noch einen Wunsch in das geneigte Ohr unseres großen 
preußischen Nachbarn flüstern dürfen: er möge auch Geestemünde zu einem 
großen Seehafen ausbauen, damit die Hoffnungen, die Goethe im letzten Teil 
des Faust im Hinblick auf die Schaffung Bremerhavens für die Zukunft 
unseres Volkes aussprach, in Erfüllung gehen. 

Bremensis. 


59 


Musikalische Einakter. 


ie Gegenwart ist charakteristisch durch Symptome dramatischer Kurz- 
atmigkeit. Fast alle Bühnendichtungen der Moderne stellen in der 
innerlichen Struktur den gleichen Typus dar: breit und voll angelegte 
Expositionen des ersten Aktes, die den Perspektiven weiteste Spannung geben, 
und eine kränkelnde Weiterentwicklung und schnelles Zusammenfallen in den 
folgenden. Es ist das Fehlen einer starken, vitalen Kraft, das in dem Mangel 
an Festhalten und an Durcharbeitung des künstlerischen Stoffes zum Ausdruck kommt. 

Auf musikdramatischem Gebiete ist es nicht anders. Das deutsche Opern- 
werk der letzten 20 Jahre (sieht man von der im Gegenständlichen begründeten 
Sensation „Tiefland“ ab) gleicht einem Tanz von Schatten. Kaum, daß noch 
Namen übriggeblleben sind. 

Es hängt wohl mit dieser begrenzten schöpferischen Atemkraft zu- 
sammen, daß der Einakter während dieses Zeitlaufes eine so viel angewandte 
Kunstform geworden ist. Daneben spricht noch anderes mit: die monumen- 
tale Ausdehnung des Musikdramas Richard Wagners forderte ihre Reaktion. 
Wenn dort die Tondichtung intensive Seelenanalyse trieb auf Kosten der eigent- 
lichen dramatischen Knappheit, so bewiesen die Neuitallener Mascagni und 
Leoncavallo, daß man außerordentlich erfolgreich in der Oper sein kann, wenn 
man nur das Alleräußerlichste der Handlung faßt und es in einem Akt in die 
musikalisch gedrängteste Form bringt. 

Unter den Werken Deutschlands haben während der letzten Jahre die 
Einakter die bedingungsweise stärksten Spuren hinterlassen (auch wenn man die 
Straußschen interessanten musikalischen Experimente an fertig übernommenen 
wirkungsvollen Schauspielen hors de concours setzt). Es handelt sich dabei durch- 
weg um Komödien. Wir hatten den sehr anregenden Akt Eugen d’Alberts „Die 
Abreise“, dessen Finesse nur leider von der in jener Periode noch stark gewalt- 
tätigen musikdramatisierenden Behandlung des Komponisten erdrückt wurde. 
Eine viel glücklichere, weil leichtere Hand in der Gesaltung des Buffonen 
zeigte der talentvolle und stilistisch sehr geschickte Wolf-Ferrari mit „Susannes 
Geheimnis“, das die Mitte hält zwischen pantomimischer und musikdramatischer 
Anlage. Und endlich waren die beiden Kleinigkeiten von Leo Blech „Das war 
ich“ und „Versiegelt* sehr bemerkenswert. Bemerkenswert vor allem damit, daß 
hier mutvoll eine energische Abkehr vom Musikdrama gewagt und durchgeführt 
wurde. Blech griff wieder zu der Form zurück, von der die musikalische Komödie 
gekommen ist: zum Singspiel; wenn er dabei auch den üblichen gesprochenen 
Dialog in leicht rezitativische Phrasierungen umgewandelt hat. 

Soweit unsere Auffassung vom Bühnenwerk nicht ganz und gar von Zeit- 
strömungen mitgerissen ist, müssen wir in dieser Reaktion den Fortschritt 
erkennen, den so manche Reaktion in sich birgt. 

Eine durchaus buffone Handlung in musikdramatischem Gewande ist ein 
Widerspruch in sich selbst. Beim Scherz, beim bon mot, bei der Situationskomik 
ist stets das Tempo einer der Hauptfaktoren der Wirkung. Wenn die Musik, die 
tetzten Endes immer Lyrik und damit immer stimmungsvoll malend bleibt, — 
gewisse Zentralpunkte der innerlichen Handlung und die Komik mancher Situationen 
auch erheblich zu steigern vermag, so wird sie doch in dem Bestreben, in 
musikdramatischem Sinne jedem Wort und jedem Satz nachzugehen, die 
Komödie um ihrer Wirkungen beste bringen: um die Leichtigkeit des Tem- 
peramentes. 


60 Musikalische Einakter. 


Solcher Art waren die Gedanken, die Max Wolffs Einakter „Das heiße 
Eisen“ (vom Bremer Stadttheater in sehr feiner Durcharbeitung herausgestellt) 
hervorlockte. 

In der Wahl des Stoffes, einem der prächtigsten Fastnachtsspiele Hans 
Sachsens, schien eine Gewähr zu liegen, daß hier etwas künstlerisch Unkompli- 
ziertes, im besten Sinne des Wortes Volkstümliches ans Licht wolle. Man dachte 
sich insgeheim eine sehr ursprüngliche Musik, starke, einfache Linien, sozusagen 
Holzschnittmanier, wozu freilich heutzutage ein tondichterisch formales Genie, 
ein Komponist, der entlegene Stile zu meistern weiß, gehören würde — ein 
Hoffmannstal der Musik, etwa. — 

Der Verfasser des Textbuches vom „Heißen Eisen“ hat es sich angelegen 
sein lassen, die Sachssche Volkspoesie zu vertiefen, d. h. sentimental zu machen. 
Der naive, derbe Schwank, der die Dinge überall bei mittelalterlich rechtem 
Namen nennt, wurde mit psychologischen Erläuterungen und ethischen Hinblicken 
durchsetzt... Merkwürdig. . . damit begann die Handlung gelinde anstößig zu 
werden; gewagt, pikant . . . Die erste Hälfte des Aktes war Schwank geblieben, 
schlecht und recht, mit der ganzen Roheit, die wir heute in der Tatsache 
empfinden, daß eine derb sinnliche und leichtfertige Frau den Mann, den sie der 
Untreue verdächtigt, vor ein barbarisches „Gottesurteil“ stellt... Der Komponist 
Max Wolff gibt dazu ein Drunter und Drüber von orchestralen Apostrophierungen 
dessen, was auf der Bühne an Tollheiten vor sich geht... Aber ein Musiker 
möchte schließlich noch etwas anderes zu Gestalt bringen, und das Textbuch ist 
ihm dabei zu Hilfe gekommen; das Weib verliert im Handumdrehen das Derbe 
sowohl als auch das Naive; es fängt an zu philosophieren und sich seelisch zu er- 
klären und zu begründen und endet als „unverstandene* Frau, die den Mann 
durch Hinweise auf Vater- und Mutterempfindungen schließlich versöhnt. Eine 
Liebesstimmung ist des Werkes Schluß. Hier fand der Komponist Gelegenheit 
zu breiten, harmonisch melodischen Entwicklungen, die nicht nur ein starkes 
instrumentaltechnisches Geschick (das Vokale wurde allenthalben nicht gut 
bedacht), sondern auch eine bemerkenswerte Erfindung dokumentieren. Er 
wird seinem Librettisten dankbar dafür sein, daß er ihm solcherart Musik in die 
Hand gespielt hat. Wir aber folgen ihm darin nicht. Denn was wir als einen 
vollkommenen, einen klassischen Schwank schätzten, ist dadurch etn romantischer 
Zwitterling geworden . Man wurde angesichts dieses talentvollen, aber als 
Kunstwerk nicht hoch einzuschätzenden Einakters einmal wieder von der Er- 
kenntnis überwältigt, daß der Entwicklung unserer Oper in erster Linie ein kühner, 
auf sich selbst Gestellter not ist, der von dem musikdramatischen Prinzip Wagners 
loszukommen vermag. (Was der Komponist Max Wolff nicht tut.) Wagners 
Stil ist unlösbar von Wagners Wortdichtungen, diesen breit angelegten Skizzen 
voll latenter Musik und Hinblicken auf Musik. Er ist auch unlösbar von den 
phylosophisch symbolistischen Unterströmungen dieser Wortdichtungen. Der 
Typus eines rein buffonen Librettos in musikdramatischer Aufmachung zeitigt 
Ergebnisse, die nahezu unerträglich wirken. Leichtes wird schwerfällig, Neben- 
sächliches bekommt Bedeutung und Akzente; die Darsteller werden durch die 
Vorschriften der Musik zu unnatürlicher Gespreiztheit aller Bewegungen verurteilt. 
Max Wolffs musikalischer Akt, in dessen Disposition es keine Größen erster und 
zweiter Ordnung gab, wirkte ohne diese Plastik schaffenden Werte bei aller 
inneren Lebendigkeit raumlos und monoton. 

Wagners Bedeutung für das Musikwerk der Bühne wird unvermindert 
dauern. Um so positiver, wenn solche Jünger ihm erstehen werden, wie Friedrich 
Nietzsche sie sich wünschte: die ihm nachfolgen, weil sie ihn überwinden. 

S. D. Gallwitz. 


61 


ANREGUNGEN UND AUSBLICKE. 


Preisgericht und Künstler. 


Folgende drei Vorkommnisse dürften 
typisch für eine in letzter Zeit eingerissene 
Praxis seln: 

In dem ersten Preisauschreiben für das 
Bismarckdenkmal bei Bingen ($ 1) waren 
Entwürfe für ein „F monumentales“ Wahr- 
zeichen der Dankbarkeit und Verehrung 
für den Fürsten Bismarck gefordert. Mit 
dem ersten Preise ausgezeichnet wurde 
der ursprüngliche Hahnsche Entwurf, der 
gerade nicht monumental, sondern 
idyllisch angelegt ist. 

Die Stadt Oldenburg forderte eine An- 
zahl Gartenarchitekten auf, für die künst- 
lerische Gestaltung des sogen. „Dobben- 
parkes* Entwürfe einzureichen. Von den 
geforderten zwei Entwürfen durfte der 
eine nur das jetzt der Stadt gehörige 
Gelände berücksichtigen; der zweite hatte 
eine von der Stadt vielleicht später an- 
zukaufende Fläche mit in Betracht zu 
ziehen. In beiden Fällen war die Auf- 
gabe sehr schwierig, da es sich um 
schmale Uferstreifen handelte, die die An- 
legung von Gebäuden und Spielplätzen 
fast unmöglich machten. Den Preis erhielt 
ein Bewerber, der für seinen zweiten 
(größeren) Entwurf außer jener ver- 
größerten Fläche noch ein Gelände von 
zwei Morgen Größe heranzog und da- 
durch günstige Wirkungen ermöglichte. 
Der Preis wurde für beide Entwürfe — 
also auch für den zweiten — zuerkannt. 
Proteste der Mitbewerber wurden als „un- 
begründet" zurückgewiesen. 

Die Stadt Pforzheim veranstaltete einen 
Wettbewerb von Entwürfen für einen 
Friedhof. Im Ausschreiben war den Künst- 
lern freie Bestimmung der Lage der er- 
forderlichen Gebäude überlassen worden. 
Das Protokoll des Preisgerichts aber ent- 
hielt folgende Stelle: „Bei der Beurteilung 
der in die engere Wahl gestellten Ent- 
würfe machte das Preisgericht keinen 
Unterschied, ob die Gebäude an der Süd- 
seite oder an der Südwestseite placiert 
waren; dagegen wurde die Situlerung an 
allen übrigen Stellen als ungeeignet an- 
gesehen.“ Nach einer Mitteilung der 


„Deutschen Bauzeitung“ wurden laut Pro- 
tokoll sämtliche Entwürfe, die die Ge- 
bäulichkeiten an anderen Stellen vorsahen, 
belm ersten und zweiten Rundgange aus- 
geschieden. 

Diese drei Fälle sind nicht die einzigen 
der Art; sie und ihresgleichen haben 
vielfach Verstimmung erregt. Der Grund 
hierfür ist der, daß für die Entscheidung 
über die Preiserteilung andere oder 
neue Gesichtspunkte maßgebend ge- 
wesen sind, also solche, die vor Ein- 
reichung der Entwürfe nicht bekannt- 
gegeben waren. Beim Bismarckdenkmal 
hat man einen Entwurf gekrönt, obwohl 
er nicht monumental war. In Oldenburg 
hat man den Preis einem Künstler ge- 
geben, der über dle ausdrücklich gesteck- 
ten Grenzen hinausging. In Pforzheim 
sind alle diejenigen nicht berücksichtigt 
worden, die nicht zufällig dieselbe 
Himmelsrichtung für ihre Gebäude 
wählten, die das Preisgericht zu bevor- 
zugen für gut fand. 


Nach den gesetzlichen Bestimmungen 
können die Künstler hiergegen nicht ge- 
schützt werden. Der maßgebende $ 661 
des Bürgerlichen Gesetzbuchs sagt aus- 
drücklich, daß die Entscheidung des Preis- 
richters, Preisgerichts oder des den Wett- 
bewerb Veranstaltenden für die Beteiligten 
verbindlich sei. Im Prinzip kann hier- 
gegen nichts eingewendet werden. Der 
Auslobende soll nicht gezwungen werden 
können, eine Sache zu billigen, die ihm 
nicht paßt. Gegen dies Prinzip wird 
auch niemand etwas einwenden. Die 
Künstler jedenfalls nicht. 

Es könnte aber wohl verlangt werden, 
daß auch der Auslobende oder das Preis- 
gericht sich an die Bedingungen des Aus- 
schreibens hält. Wir haben so viele Wett- 
bewerbe, daß sie ein bedeutender Faktor 
im Leben weiter Künstlerkreise geworden 
sind. Viele Existenzen sind geradezu auf 
den Einnahmen, die sie aus der Aus- 
führung preisgekrönter Entwürfe ziehen, 
aufgebaut. Ein Sieg in einer Konkurrenz 
ist vielfach die Vorbedingung weiterer 
Aufträge. — Die Sitte, für jede nur er- 


62 


denkliche Anlage einen — oft recht über- 
flüssigen — Wettbewerb auszuschreiben, 
hat anscheinend zu einer gewissen Flüch- 
tigkeit bei Aufstellung der Bedingungen 
geführt, so daß wichtige Punkte den 
Preisrichtern erst nachher „einfallen“. 
Man wende nicht ein, daß Auslobender 
und Preisrichter meist nicht dieselben 
Personen sind. Denn erstens müßten dann 
diese beiden Faktoren zum mindesten 
eine so enge Fühlung miteinander haben, 
daß das Preisgericht dem Auslobenden 
die Gründe mitteilt, warum es die Be- 
dingungen verändern oder ergänzen will; 
und zweitens pflegt jede auslobende Kor- 
poration — mag nun eine Stadt ein Senats- 
haus oder Stollwerck ein Reklameinserat 
ausschreiben — ein stimmberechtigtes 
Mitglied zu delegieren, dessen Stimme 
aus wirtschaftlichen Gründen besonders 
schwer wiegen dürfte. — Das mindeste, 
was man verlangen könnte, ist, daß man 
die Künstler auf die veränderten Gesichts- 
punkte aufmerksam macht und ihnen Ge- 
legenheit zur Korrektur ihrer Entwürfe 
gibt. Dagegen würden wohl nicht viele 
etwas einwenden. In Fällen wie den vor- 
liegenden sind die Bewerber in einer 
Weise benachteiligt die, wenn böser Wille 
dahinter steckte, geradezu unfair wäre. 
So schmeckt die Sache stark nach Ge- 
dankenlosigkeit. 

Schutz hiergegen könnte in erster Linie 
nur die stärkere Ausbildung des Verant- 
wortlichkeitsgefühls bei den Preisrichtern 
bieten. Sie müßten nicht nur darauf 
achten, daß die Künstler sich an die 
Bedingungen halten, sondern auch sie 
selbst; und ein Preisrichter, der eine 
Abweichung bemerkte, müßte seine ganze 
Autorität dafür einsetzen, daß entweder 
auf die Änderung verzichtet oder diese 
allgemein bekanntgegeben wird, so daß 
die Künstler dazu Stellung nehmen können. 
Schwieriger, aber nicht unmöglich wäre 
das zweite Erfordernis: Weckung des 
Solidaritätsgefühls unter den Künstlern. 
Dies müßte alle, also auch die unter 
den veränderten Bedingungen siegenden 
Künstler veranlassen, dem Auslobenden 
gegenüber sich das Eigentum an ihrem 
Werke vorzubehalten und die Aus- 
führung zu verhindern. Der Ausschrei- 


bende kann nämlich in dem Ausschreiben 
bestimmen, daß die Übertragung des 
Eigentums an dem Entwurfe an ihn er- 
folgen soll. Die Übertragung geschieht 
nichtsdestoweniger durch Vertrag, bei 
dem auf die Zustimmung des Künstlers 
aus der stillschweigende Einsendung des 
Entwurfs geschlossen wird. Der Künstler 
kann diese natürlich ausdrücklich 
aufheben und sich seine Entscheidung 
vorbehalten. Solange dies freilich nur 
einzelne Künstler tun, werden sie ihre 
Entwürfe unbesehen zurückerhalten. 
Wenn aber jeder Künstler diesen 
Vorbehalt bei Einsendung seines 
Entwurfes ausspricht und sich keiner 
findet, der diesen Vorbehalt unterläßt, 
dann wird der Ausschreibende sich, um 
den Zweck des Wettbewerbes nicht zu 
gefährden, mit diesen Vorbehalten zu- 
friedengeben müssen. — Gesetzliche 
Maßnahmen sind undenkbar, ganz ab- 
gesehen davon, daß dies eine der vielen 
Fragen ist, die nur durch das Rechtsgefühl 
der Beteiligten, nicht aber durch Para- 
graphen gelöst werden können. Ein Hilfs- 
mittel ist die Flucht in die Offentlichkeit; 
die Preisausschreiben sind im Laufe der 
Zeit eine so gewohnte Erscheinung ge- 
worden, daß auch Unbeteiligte sich dafür 
interessieren. Wenn die Künstlerver- 
einigungen zum Schutze ihrer Mitglieder 
Beschlüsse fassen und durchführen könn- 
ten, die den oben dargelegten Vorschlägen 
entsprechen, so würden sie ein zweifel- 


los nützliches Werk tun. 
Julius. 


Elektrizitätswerte. 


Noch nicht zwei Jahre sind ins Land 
gegangen, seit die Allgemeine Elektrizi- 
tätsgesellschaft ihr Aktienkapital um 
30 Millionen Mark erhöhte. Damals galt 
es, die Frankfurter Felten & Guilleaume- 
Lahmeyer-Werke in den Konzern der 
A.E.G. einzuverleiben, die damit festen 
Fuß in der alten Kaiserstadt am Main 
faßte und sich eines lästigen Konkurrenten 
entledigte. — Jetzt beabsichtigt die Direk- 
tion derselben Gesellschaft, das Betriebs- 
kapital abermals — um 25 Millionen — 


zu vergrößern. Eine Fusion mit einer . 


Í- T {a y O: p. 


anderen Gesellschaft ist diesmal nicht be- 
absichtigt, die neuen Millionen sollen nur 
der Verstärkung der Betriebsmittel dienen. 
Den Aktionären werden die neuen Stücke 
zum Bezug in der Weise angeboten, daß 
auf je sieben alte Aktien eine junge zum 
Kurse von 210% entfällt. Das fette Be- 
zugsrecht lockt, obschon die Börse die 
Kapitalserhöhung nur mit gemischten Ge- 
fühlen begrüßte. 

Wenn, wie zu erwarten ist, die An- 
fang November tagende Generalversamm- 
lung ihre Zustimmung zu dieser Trans- 
aktion gibt, wird das Aktienkapital der 
A.E.G. auf 155 Millionen angeschwollen 
sein. Eine hübsche Summe, zu deren 
Verzinsung, soll die Dividende auf der 
bisherigen Höhe bleiben, allein beinahe 
21°/, Millionen erforderlich sind. 

Selbst bei dem kolossalen Umfang, 
den der Geschäftsbereich der Gesellschaft 
mit der Zeit angenommen hat, können 
einem Zweifel aufsteigen, ob ein der- 
artiger Betrag auch regelmäßig ver- 
dient werden kann, wenn dem Elek- 
trizitätsmarkt nicht mehr die Sonne der 
Sonne der Konjunktur lächelt. Bisher 
allerdings haben die Dividenden unter 
den Kapitalsvermehrungen noch nicht ge- 
litten, ein glänzendes Zeugnis für die 
Tüchtigkeit der Geschäftsführung. Aber 
man darf nicht vergessen, daß alles eine 
Grenze hat. 

Der Aktienkurs ist bereits so hoch, 
daß er dem Kauflustigen kaum noch An- 
reiz biete. Noch höher kann er nur 
steigen, wenn unvorhergesehene Ereig- 
nisse die Lage der Gesellschaft unerwartet 
glänzend gestalten. Eine Kapitalserhöhung 
aber ist gerade das Gegenteil eines solchen 
Ereignisses, und alle günstigen Zukunits- 
chancen hat die Börse zum großen Teil 
schon im Kurse eskomptiert. Mit den 
Gerüchten von gewinnbringenden Auf- 
trägen, welche der Elektrizitätsindustrie 
durch die Elektrifizierung der Staatsbahnen 
zufliessen sollen, ist von den Drahtziehern 
an der Börse bereits ausgiebig jongliert 
worden. Bisher ist jedoch von größeren 
Projekten im Inland nur die Elektrisierung 


63 


der Berliner Stadtbahn in absehbarer Zeit 
zu erwarten, und auch diese Gesetzes- 
vorlage muß erst noch das Fegefeuer 
des Abgeordnetenhauses passieren. Wer 
weiß, wie sie da zugerichtet wird. Besser 
— im Sinne der Elektrizitätskonzerne — 
wird sie jedenfalls nicht, denn die Zahl 
ihrer Freunde im Landtag ist nicht ge- 
rade übermäßig groß. 

Alles in allem kann man die Aussichten 
für die Zukunft, wenn auch nicht direkt 
ungünstig, so doch auch nicht übermäßig 
glänzend nennen. Der scharfe Konkurrenz- 
kampf, den die rivalisierenden Gesell- 
schaften um die Gunst des Publikums 
führen müssen, drückt die Preise für die 
Fabrikate, so daß der Gewinn bel stei- 
genden Arbeitslöhnen immer geringer 
wird. Eine neue Erfindung jagt die andere 
und verschlingt Geld und wieder Geld. 
Aber doch muß jede Gesellschaft bereit 
sein, sie auszunutzen, womöglich die Kon- 
kurrenz in Neuigkeiten zu übertreffen. 

Bei diesem Wettrennen ist vor nicht 
zu langer Zeit der kleinsten von den Mam- 
mutgesellschaften des Elektromarktes — 
der Bergmann-Gesellschaft— der Atem aus- 
gegangen. Sie hätte liquidieren müssen, 
wenn sie nicht der Siemens-Schuckert- 
Konzern in seine Mutterarme aufgenom- 
men hätte. Mit ihrer Selbständigkeit ist 
es jetzt allerdings für alle Zeiten vorbei. 

Nun stehen sich nur noch zwei große 
Konzerne gegenüber, die einander eben- 
bürtig sind: die Allgemeine Elektrizitäts- 
Gesellschaft und die Siemens-Schuckert- 
Werke. Vorläufig bekämpfen sich beide 
noch, aber es kann keinem Zweifel unter- 
liegen, daß die Verhältnisse in der Elek- 
trizitätsindustrie zur Trustbildung drängen. 
Vorläufig macht man noch der öffent- 
lichen Meinung, die zurzeit Vertrustungs- 
bestrebungen nicht gern sieht, Kon- 
zessionen. Aber der Trust wird schließ- 
lich doch kommen, und den Banken, 
welche hinter den beiden Gesellschaften 
stehen, wird wohl die Vermittlerrolle zu- 
fallen. 

Hugo Kloß. 


64 


Moderne Buchkunst. 


Was man unumgänglich notwendig besitzen muß, verlangt — so will es 
der Kunst- und Spieltrieb des Menschen — nach höherer Gestaltung. Diese ge- 
bieterische Forderung ist es, die dem modernen Möbel und allen den unzähligen 
Gebrauchsgegenständen des kultivierten Lebens der Gegenwart ihre ästhetisch 
wertvolle Form gegeben hat. 

Mit der großen Mehrzahl der Bücher ist es weniger gut bestellt. Es wäre 
aber verkehrt, daraus schlußfolgern zu wollen, daß das Buch unserer Zeit kein 
Gebrauchsgegenstand mehr ist. Die Gründe dafür sind andere. Die Verbilligung 
der technischen Betriebe hat uns mit einem Wust von unnützen und unwertigen 
Geschmacklosigkeiten umgeben und die Möglichkeit der Beschränkung der Aus- 
wahl ist dabei abhanden gekommen. 

Wie herrlich wenige Dinge umgaben einen Menschen der Renaissance! 
(um die Blütezeit der Bucheinbände zu nennen). Und unter diesen wenigen 
Stücken, von denen ein jedes in hundertfachem Sinne teuer war — alle guten 
Dinge sind stets teuer! — befand sich auch das Buch. Das Wenige, was man 
hatte, sollte in köstlichstem Gewande prangen. 

Nicht der Handwerker ist dafür verantwortlich zu machen, daß das Buch- 
gewerbe zurückging — an der Interesselosigkeit der Käufer liegt die Schuld 
der Geschmacklosigkeiten. 

Was Solidität der Herstellungsart, Geschmack in Auswahl der Stempel 
und Exaktheit in der Anbringung derselben betrifft, kann eine Besichtigung der 
Ausstellung von neuzeitlichen Erzeugnissen im Bremer Gewerbe-Museum 
durchaus befriedigen. Es sollte da vor allem die Technik des einwandfreien 
Bucheinbandes — als Liebhaberstück — illustriert werden. 

Die ausstellenden Firmen sind unter Gruppen vereint, sodaß ihre Sonder- 
heiten vollauf deutlich werden. Die „Bremer Buchwerkstätten“, ein neues, 
auf rein künstlerischer Basis errichtetes Unternehmen, von dem wir uns das beste 
und anregendste erwarten können, haben ihre vorzüglichsten Bände Entwürfen 
P. A. Demeters und Fräulein A. Wildemanns zu danken. M. Lehmann-Bremen 
bringt Bände nach Entwürfen von R. A. Schröder, C. Weidemeyer, Th. Dahle 
und W. Magnussen. Sehr geschmackvolle Einbände von C. Sonntag jr. und 
solche der Leipziger Buchbinderei (vorm. S. Fritzsche) meist nach Entwürfen 
von Professor Steiner-Prag; solide Bände der Bremer Buchbinder Hurrelmeyer 
und Düdden, sowie Vorsatzpapiere von P. A. Demeter und Fräulein A. Plate 
runden das Ganze zu einem Bilde von moderner Buchbindekunst, die zur 
Steigerung ihrer Leistungen nichts als der Nachfrage und des Interesses bedarf. 

X. 

Die „Güldenkammer“ lädt ihren Bremer Leserkreis ein zu einer Führung 
durch die Rembrandt-Ausstellung in der Kunsthalle am Mittwoch, 
den 16. Oktober, vormittags um 12½ Uhr. 

Vortragender: Dr. Hartlaub. 

Eintritt zu der Ausstellung für Nichtmitglieder des Kunstvereins 50 Pfg. 


Schluß des redaktionellen Teils! 


Verantwortlich für die Redaktion: S. D. Gallwitz, Bremen. 
Einsendungen von Manuskripten (unter Beifügung von Rückporto) 
an die Redaktion Bremen, Am Wall 163. Tel. 6945. 
Sprechstunden der Redaktion: Dienstag und Freitag von 1—2 Uhr. 
Verlag: Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft in Bremen. 
Druck: H. M. Hauschild, Hofbuchdruckerei, Bremen. 


— — 


Die Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen. 
Koffeinfreier „Kaffeehag“. 


nter den vielen Genußmitteln, die sich die Menschheit 
U in ihrer kulturellen Entwicklung allmählich schuf, spielt 

der Kaffee eine hervorragende Rolle. Die Entdeckung 
des Kaffees greift in sagenhafte Morgendlandgeschichten zurück. 
In Persien soll er schon im 9. Jahrhundert gebraut worden 
sein und in Abessinien vielleicht noch früher. Unter Soliman 11. 
kam der Kaffee 1634 nach Konstantinopel, und die Venezianer 
brachten ihn 1624 in größeren Mengen aus dem Orient nach 
Europa. Nachdem in Konstantinopel, Venedig, Amsterdam, 
London, Marseille, Paris und Wien (1683) Kaffeehäuser er- 
richtet waren, wurden solche auch in Hamburg (1697), in 
Nürnberg, Regensburg, Leipzig, Stuttgart, Berlin (1721) 
eröffnet. 

Es ist uns aus dem 17. Jahrhundert eine spaßhafte 
Korrespondenz erhalten zwischen einem Amsterdamer und 
einem Merseburger Handelshaus. Ersteres schickte dem Merse- 
burger Geschäftsfreunde eine Probe des „in Amsterdam so 
schnell berühmt gewordenen Koffey“ mit der Bitte, er möge 
seiner wohl ehrbaren Hausfrau anbefehlen, diese Körner zu 
zerstoßen und dann in Wasser zu kochen. Die brave Merse- 
burgerin war aber nicht armer Leute Kind, und sie war ge- 
wöhnt, mit kräftiger Fleischbrühe zu kochen. Sie braute also 
einen kräftigen Bouillonkaffee, von welchem Prinzipal, Laden- 
diener und Hausgesinde mit Todesverachtung ein Quantum 
schluckten. Seekrankheitliche Erscheinungen waren die Folge, 
und die Korrespondenz zwischen den beiden Handelshäusern 
hörte kurz danach für immer auf! 

In welchem Umfange der Kaffee schließlich Allgemein- 
gut des Volkes wurde, geht daraus hervor, daß in Deutsch- 
land allein, welches in der relativen Vebrauchsstatistik hinter 
Holland und Amerika rangiert, uber 200 Millionen Pfd. Kaffee 
konsumiert werden. Bei einer solchen Verbreitung ist es für 
das Volkswohl nicht gleichgültig, ob der Kaffee gesundheits- 
schädlich ist. Schon recht früh wurden Stimmen laut, die im 
Kaffee einen gemeingefährlichen Feind entdeckten und zufolge- 
dessen seinen Genuß als nicht unbedenklich hinstellten. 

In der Tat enthält der Kaffee ein giftiges Alkaloid, das 
Koffein (im Jahre 1820 von Runge entdeckt), welches stark 
auf Herz, Nerven, Nieren und Verdauungsorgane einwirkt. 


Beim Rösten erleidet das Koffein keine Veränderung und geht 
unzersetzt in den Kaffeeaufguß über. In einer mittleren Tasse 
normalen Kaffeeaufgusses sind 0,15 g Koffern enthalten. Und 
ı/a g ist die Maximaldosis, die ein Arzt verschreiben darf! Da 
lediglich das Koffern den schädlichen Bestandteil des Kaffees 
darstellt, und dieses Koffein geschmack- und geruchlos ist, so 
ist es einleuchtend, daß ein vom Koffein befreiter Kaffee einer- 
seits vollkommen unschädlich und andererseits an Geschmack 
und Aroma dem unbearbeiteten Kaffee gleichwertig sein muß. 
Die Herstellung eines solchen Kaffees, der unter dem Namen 
»Kaffeehag« in den Handel gelangt, ist nach langwierigen Ver- 
suchen mittels der patentierten Verfahren der Kaffee-Handels- 
Aktiengesellschaft gelungen. In welcher Weise, möge ein 
Rundgang durch die Fabrik schildern: 

Bei der Erbauung der Fabrik, die im Herbst 1907 in 
Betrieb genommen wurde, sind alle Mittel zur Anwendung 
gelangt, welche die moderne Technik und die Hygiene bieten. 
Die ganze Anlage ist aus Eisenbeton in eigenartigem Stil aus- 
geführt, der in Fachkreisen als musterhaft gilt für den modernen, 
praktischen und ästhetischen Fabrikbau. Die Fabrik besteht 
aus sechs einzelnen Gebäuden, von denen jedes für sich ab- 
geschlossen und von dem Nachbargebäude durch Brandmauern 
getrennt ist. Dennoch ist ein äußerst praktischer Personen- und 
Wagenverkehr zwischen den Gebäuden ermöglicht, da diese 
sämtlich mit der Stirnwand an einen Transportkanal ange- 
schlossen sind, der Kellerräume und Erdgeschoß der Gebäude 
korridorartig verbindet. 

Zunächst der Wasserseite, direkt am Holzhafen, befindet 
sich das Lager mit elektrisch betriebenen Winden, Entstaubungs- 
und Sortiermaschinen. Da die Fabrik für eine tägliche Arbeits- 
leistung von so000 kg eingerichtet ist, haben auch die in den 
drei Etagen befindlichen sechs Lagerräume eine entsprechende 
Ausdehnung. 

Neben dem Lagergebäude liegt das Verwaltungsgebäude. 
Es besteht aus Kellergeschoß und zwei Stockwerken. Im 
Parterre liegen Telephonzentrale, Empfangszimmer und Kontor- 
räume für Zentralbuchhaltung, Reklame und literarische Ab- 
teilung (Verlag der »Güldenkammer«), Einkauf und die Hälfte 
der Verkaufsabteilung; hieran anschließend Schreibmaschinen- 
zimmer, Diktierzellen und Probierstube, in der sowohl die 
einzukaufenden Sorten als auch die zum Verkauf bestimmten 
Kaffees eingehend geprüft werden. Darüber befindet sich die 
andere Hälfte der Verkaufsabteilung nebst Schreibmaschinen- 


zimmer und Diktierzellen, die Direktorenzimmer, das chemische 
Laboratorium und ein Stock höher die Privatwohnung des 
Hausmeisters und das Reklame-Museum. Sämtliche Räume 
sind elektrisch beleuchtet, mit Zentralheizung versehen und 
gentigen in jeder Hinsicht den hygienischen Anforderungen. 

An das Verwaltungsgebäude schließt sich rechts die 
Rösterei an, die in einem 6 Stock hohen Gebäude unterge- 
bracht ist. Der extrahierte Kaffee gelangt unmittelbar vom 
Kellergeschoß in das 6. Stockwerk mittels eines Preßgebläses, 
durch das je nach Bedarf die 8 großen Röster gespeist 
werden. In diesen Röstapparaten modernster Konstruktion 
vollzieht sich die Röstung in ca. 6 Minuten. Ist der Kaffee 
fertig und gut geröstet, so fällt er ein Stockwerk tiefer auf 
große Kühlsiebe; durch Mitwirkung der durch Exhaustoren 
zugeführten kalten Luftströme wird der Kaffee in wenigen 
Minuten abgekühlt, so daß er sofort in den Voratssilos Auf- 
nahme finden kann. Aus diesen Silos wird der Kaffee nach 
Bedarf zur Verpackung entnommen, die in äußerst sinnreicher 
Weise auf automatischem Wege erfolgt; die neuesten Modelle 
der Wiege- und Verpackungsmaschinen sind hier in Tätigkeit. 

In der dritten Etage sind die vier Tüten-Fabrikations- 
maschinen aufgestellt, die den gesamten komplizierten Hand- 
betrieb ersetzen und mit einer Präzision arbeiten, als ob in 
ihnen eine hohe menschliche Intelligenz jede Funktion regulierte. 
Die unterste Station bildet der Pack- und Versandraum mit 
einer eigenen Post- und Zollstelle. 

Der gewaltige Eisenbeton-Schornstein des nächsten Ge- 
bäudes verrät die Maschinenhalle und das Kesselhaus mit der 
automatischen Feuerung. Mittels der in der Nähe aufgestellten 
Enteisungsanlage wird dem für die Speisung der Heizkessel 
nötigen Wasser der Gehalt an Eisen und Kesselsteinbildnern 
entzogen. Hinter der Fabrik ist durch den Bau eines Pumpen- 
hauses für die Gewinnung von Grundwasser vorgesorgt. 

Das 6. Gebäude enthält die wichtigsten Teile der Anlage, 
nämlich die Maschinen und Apparate zur Koffeinentziehung. 
Auch hier sind 6 Stockwerke vorhanden; in ihnen macht der 
Kaffee die verschiedenen Stadien des Extraktionsverfahrens durch. 
Der Vorgang bei der Extraktion ist kurz der folgende: 

Aus dem Vorratshause gelangen die Kaffeesäcke auf ein 
Transportband, welches sie durch den eingangs erwähnten 
Transporttunnel in die untere Etage der Extraktionsanlage be- 
fördert. Hier werden die Säcke in den Trichter eines Ge- 
bläses entleert, durch das die Kaffeebohnen in die sechste Etage 


in die dort aufgestellten Reinigungsmaschinen geschafft werden. 
Nachdem der Kaffee hier von etwaigen Verunreinigungen, 
namentlich von den dem Rohkaffee anhaftenden Häutchen 
mittels Dämpfe befreit worden ist (einleuchtend ist es, daß 
der so energisch gereinigte und entfettete Kaffee bekömmlicher 
sein muß als jeder andere Kaffee, der eine solche Bearbeitung 
nicht durchmachte), gelangt er in die Aufschließungsgefäße, in 
denen er für die Entziehung des Koffeins vorbereitet wird. 
‚Automatisch wandert der Kaffee in die Diffusionsbatterie, wird 
durch flüchtige Lösungsmittel von seinem Koffeingehalt befreit 
und einer Nachbehandlung unterworfen, durch die das Lösungs- 
mittel, soweit es sich nicht selbst verflüchtigte, bis auf die 
letzten Spuren entfernt wird. Schließlich fällt der bearbeitete 
Kaffee in die großen Trockenapparate, aus denen er zur 
Lagerung bezw. zur anschließenden Röstung entnommen 
wird. — Ein vor kurzem errichteter Erweiterungsbau birgt 
das Reklamelager, die Tischlerei, eine Reserve-Extraktion und 
die Kartonagefabrik, in der die Wellpappe und sämtliche 
Versand-Kartons hergestellt werden. 

Die ganze Fabrikation ist, wie schon aus der kurzen Be- 
schreibung hervorgeht, recht kompliziert, umsomehr verdient 
es hervorgehoben zu werden, daß der Kaffee nirgends in direkte 
Berührung mit Menschenhänden kommt. Von dem Augenblick 
an, wo der Sack mit dem Rohkaffee aufgeschnitten und sein 
Inhalt der Fabrikation anvertraut wird, bis zur Ablieferung 
der fertig verpackten und verschlossenen Tüten mit koffeinfreiem 
Kaffee arbeiten Maschinen und selbsttätig wirkende Apparate, 
die nur verhältnismäßig wenig Beaufsichtigung und Be- 
dienung erfordern. 

Die Anlagen der Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen, 
bilden sowohl durch die technische Einrichtung als auch durch 
die kaufmännische Organisation eine Sehenswürdigkeit der 
Handelsstadt Bremen. Die Gesellschaft gestattet gern den 
Interessenten die Besichtigung der Fabrik. Jedem Besucher 
Bremens, der für Handel und Industrie Interesse hat, sei des- 
halb ein Besuch der Herstellungsanlagen des koffeinfreien 
»Kaffeehaga empfohlen. 


Aus der Besuchsliste der Kaffeehag. 


Am 12. September besichtigte Prinz Carol von Rumänien mit seinem 
Adjutanten, General Perticare, dem rumänischen Generalkonsul und einem 
Senats-Vertreter die Herstellungsanlagen des coffeinfreien „Kaffeehag“. Der 
Prinz hielt sich etwa zwei Stunden in der Fabrik auf und äußerte sich sehr 
lobend über sämtliche Einrichtungen. 


5 
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1 


Nenere Äusserungen über das „Glldenkammer“-Unternehmen. 


Frankfurter Zeitung: Aus der gehaltvollen Monatsschrift „Die Güldenkammer“ (folgt 
Abdruck eines Artikels der „Güldenkammer‘). 

Tägliche Rundschau. Wir haben schon wiederholt unter Wiedergabe von Proben ihres 
gehaltvollen und anregenden Inhalts auf die im Verlag „Kaffeehag“ erscheinende 
Monatsschrift „Die Güldenkammer“ hingewiesen. 

Nachrichten für Stadt und Land, Oldenburg: Die Aufsätze legen Zeugnis für die vor- 
nehme Haltung der Zeitschrift ab, die auf diese Weise wirklich einer wertvollen 
Reklame dient. | 

Deutsche Zeitung, Amsterdam: Besonders inhaltsvoll ist das eben erschienene Juliheft 
dieser vornehmen Zeitschrift, anregend zur Zustimmung und Widerrede. Uns dünkt, 
daß gerade der Anreiz zu letzterer ein Prüfstein für den Inhalt einer Zeitschrift ist. 


Neues Tagblatt, Winterthur: .. Eine Monatsschrift, deren Inhalt unbedingt alle Aner- 
kennung verdient. 


Mercure de France: La „Güldenkammer" éditée à Brême par une entreprise de café 
sans cafeine, produit connu en France sous le nom de Sanka, est toujours des plus 
interessante. Elle se distingue par son attitude sympatique aux choses de France. 


Gr. N. & Co.-Monatsschrift, Braunschweig: Das Schöne an dieser Zeitschrift ist, daß sie 
tatsächlich für jeden etwas bringt. Schöne Literatur, Kunst, Musik, Politik, Religion, 
alles kommt zur Besprechung, und zwar durchaus alles in objektiver, offener Art und 
Weise. Die Zeitschrift ist daher als dauernd Wert behaltende Lektüre zu empfehlen. 


Sozialwissenschaftlich akademischer Verein: Daß Ihr Blatt heute unter den führenden 
rangiert, braucht Ihnen nicht versichert zu werden. Wir möchten es in der Reihe der 
Zeitschriften unserer Lesehallen nicht missen. 


Chefredakteur Keil, Stuttgart, Neues Tagblatt: Die „Güldenkammer* finde ich als 
Kulturzeitschrift trefflich redigiert. 

Cäsar Flaischlen: .. Man sollte den Aufsatz für literarische Moden im Märzheft der 
„Güldenkammer“ in Lapidarschrift an sämtliche Litfaßsäulen anschlagen lassen. 


Herbert Eulenberg: .. . mit der größten Zuneigung für Ihr schönes Unternehmen. 


Dr. H. Stegemann: Die Mischung hanseatisch aristokratischen Wesens mit der ganzen 
ästhetischen Kultur unseres modernen Lebens ist um so verdienstlicher, als diese 
beiden Gegenpole in der Gegenwart leider meistens weit voneinander entfernt liegen, 
und doch kann uns nur eine Verschmelzung auf die Dauer befriedigen. Die Idee 
eines Verlages auf einem kommerziellen Unternehmen ist völlig neu und jedenfalls 
sehr originell. Im Grunde ist es eine sehr gescheite Idee: Denn die Literatur ist nur 
ein Zweig der Kultur, und wenn sie wirken soll, muß sie mit dem Leben inniger und 
fester verbunden werden als bisher. 

G. O. Knoop: ... An Journalen von ernsthafter und doch auch leichtflüssiger Art wie 
die „Güldenkammer“ ist in Deutschland kein Überfluß. 

Dr. Benedict, Rom: Für die „Güldenkammer* würde ich gern arbeiten, da ich aus der 
mir zugänglich gewordenen Nummer den Eindruck gewonnen habe, daß hier ein von 
der Masse der banalen Zeitschriften verschiedenes, Eigencharakter besitzendes Organ 
vorliegt. 

Dr. Hegner, Herausgeber der „Neue Blätter“: Vor längerer Zeit sah ich in Florenz 
einige Ihrer Hefte und freute mich, daß wir in Deutschland endlich eine Zeitschrift 
haben, die der gang und gäben Unterhaltungsliteratur abgeneigt und einer geistig 
künstlerischen Bestrebung nicht verschlossen ist. 

Emile Verhaeren: Les numéros de votre revue m'ont vivement interesse ... Vous ne 
pourriez me faire plus de plaisir qu'en m’envoyant régulièrement votre, Güldenkammer“. 


.— 


Der mißverstandene Kaffee. 
Der bekannte Berliner Humorist Robert Steid! erzählt in der Jubiläums- 
nummer 200 des „Organs der Variétéwelt“ sein jüngstes Erlebnis: 
Ich tingelte jüngst in Marienbad — 
Es war ziemlich kühl, zirka 4, 5 Grad — 
Und klingle dem böhmischen Stubenmäd!l, 
Sie kam, und ich sagte: „Geliebte Gred'l, 
„Das Wetter ist heute ja wieder zum Schreien, 
‚Ich möcht' einen Kaffee, aber coffeinfreien!“ 


Fort eilt sie, kommt wieder und sagt mit Geplärr: 
„Der Ober läßt bitten den gnädige Herr, 

‚Daß mit den Kaffee ieberlegen sich sollen, 

„Ob lieber auf Veranda trinken ihn wollen, 
„Oder in Speisesaal, werden verzeihen, 

‚Ist haite zu kolt fler Koffee in Freien!“ 


Ägypten-Schnelldienst des Norddeutschen Lloyd. 


Mehr und mehr hat in den letzten Jahren der Touristenverkehr nach 
Ägypten zugenommen. Der Norddeutsche Lloyd unterhält bisher außer den Fahrten 
seiner Reichspostdampfer, die auf ihrer Reise nach Ostasien bezw. Australien 
Genua und Port Said anlaufen, zwei Mittelmeerlinien. Von Marseille fahren die 
Dampfer „Prinzregent Luitpold“ und „Prinz Heinrich“ direkt oder auch über 
Neapel nach Alexandrien. Um nun dem ständig sich steigernden Verkehr nach 
Ägypten nachzukommen und auch den Reisenden, die auf der Hin- und Rückreise 
nach Ägypten Venedig und die Adria besuchen möchten, eine gute Fahrgelegen- 
heit zu bieten, hat der Norddeutsche Lloyd in dieser Saison eine neue Linie 
zwischen Venedig und Alexandrien eingerichtet. Der Dampfer „Schleswig“ des 
Norddeutschen Lloyd fährt alle 14 Tage Sonntags 11 Uhr morgens von Venedig 
und Sonnabend nachmittag 2 Uhr von Alexandrien nach Venedig zurück. 
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Herausgeber: 
S. D. Gallwitz - G. F. Hartlaub - Hermann Smidt 


Arnold Zweig: Die Passion. 


enschenstimmen machten den Saal erbrausen, geübte 
M und klare, ein lobsingender Strom. Weißgekleidete 

Frauen standen in tiefen Reihen und sangen mit weitem 
Mund, über ihnen türmten sich die Plätze der Tenöre und der 
Bässe, und das Orchester schnitt den ganzen Chor in Hälften und 
schob sich dazwischen bis hinauf zu den blauen Fenstern, die die 
rote Wand des Halbrunds teilten — ein breiter, schwarzer Streifen, 
über dem die Bogen der Streicher rhythmisch stiegen und der vom 
Metall der Hörner blitzte. Aber zwischen den hohen, hellen 
Mauern, tief unter der braunen Decke, von der summende Lampen 
milchig leuchteten, saßen geduckt die Hörer, und über ihre Köpfe 
hin tobte die Wucht des Gesanges, schlug schäumend an den 
Wänden empor, schien das Licht zu verdunkeln und schüttelte, in 
die Körper aller der Menschen dringend, ihre Herzen wie ein 
einziges großes Herz. Sie klangen wie Chaos, diese Chöre, sie 
riefen in Verwirrung nach Donnern und Blitzen — waren sie in 
den Wolken verschwunden, daß. solches geschah —? und sie 
schrieen nach den Pforten der Hölle, damit sie sich öffne, den 
Stifter des Unheils zermalmend, zu verschlingen; Jesus war ge- 
fangen worden, Judas hatte ihn verraten — und der Chor empörte 
sich selbst, statt dieses allzulangmütigen Donnerers, er selbst raste 


. wie Flammen in den Höllentoren, Blitzen gleich gellten die Flöten 


und der Aufschrei der Tenöre, und das rastlose Brausen der 


D Stimmen, die einander forttrieben, ihre kunstvolle Wildheit und die 


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düstere Szene um den gefangenen Heiland, welche die Worte 
malten, gaben die chaotische Verzweiflung selbst, in der jedes Gesetz 
erloschen schien und jeder menschliche Trost. Aber dies Chaos 
war von genauen Regeln erzeugt, dieses Durcheinander von ge- 
führten Stimmen und tönenden Instrumenten ordnete sich nach 


66 Arnold Zweig: 


wenigen Gesetzen zu einem übersichtlichen Gebilde, und die 
Rhythmen, die sich verwirrten und kreuzten, die Harmonien, die 
sich bedrängten und auswichen, unterlagen dem unerbittlichen 
Maße eines frommen Meisters und seiner andächtigen Kunst. Dort 
regte sich der Dirigent: aus dem kleinen Herrn im Frack und mit 
dreieckiger Glatze hatte sich das hundertjährige Werk ein Werk- 
zeug geschaffen um wieder einmal zu entstehen, hatte einen 
Menschen aus Enge und Einzelsein in die weiteste und leiden- 
schaftlichste Hingabe entrückt, und leitete sich selbst mit dessen be- 
wegten Armen, zuckendem Körper und dem Geiste, der ganz in 
Musik gelöst war; und durch ihn ließ es die Solisten, die vorn 
auf ihren Stühlen saßen, aufstehen und singen mit dem Ganzen 
ihrer erlernten Kunst, ließ es die Chöre zu einem metallenen 
Gusse zusammenschmelzen, der aus jeder Kehle gespeist wurde, 
ließ es die Geigen saugend singen und die Bässe tönen, tief und 
gesägt, und wirbelte die Hörenden, all die ungezählten Einzelnen, 
in eine tief horchende, in Reihen geordnete und namenlose Menge. 
Vor ihr erbaute sich die Matthäuspassion; eben ging der erste 
Teil zu Ende. 

Walter Rohme und Claudia saßen unter ihnen, auf Stühlen, 
die in einem Gange standen, außer der Reihe, denn sie waren zu- 
fällig und spät hierhergeraten und fremd in fremder Stadt; aber 
sie unterlagen dem gleichen Banne. Claudias Kinn war auf die 
Brust geneigt, die sich unter schillernder Seide langsam hob, grün 
und blau zerrinnend wie eines Pfauen Brust; ihre Hände ruhten 
zusammengelegt im Schoße, und die Wimpern der festgeschlossenen 
Augen breiteten sich auf der Haut der Wangen wie elfische Fächer. 
Walters Ellbogen stützte sich auf den Schenkel, und das Gesicht 
des Gebeugten lag in der flachgerundeten Hand. So saß er und 
lauschte. Sein Wesen war vom Hören schwer wie Metall und 
ganz an das Werk weggegeben. Das letzte Gefühl seiner bewußten 
Person war jenes erlösende Danken gewesen, das er empfand, 
als Claudia bei den Einsetzungsworten des Abendmahls endlich 
ihre unfruchtbare kritische Haltung aufgegeben hatte und die 
Musik einfach hinnahm, tief in sich geschmiegt, wie sie noch jetzt 
schien. Seither hatte er nichts Deutliches mehr gedacht. Hin und 
wieder tauchten Gesichte auf und zergingen, Bilder, die aus dem 
Inhalt des Werkes erwuchsen: als der Evangelist vom Ölberg er- 
zählte, lag auf einen Augenblick in Finsternis und unter rauschen- 
den Bäumen ein Mensch auf der Erde, hingeworfen wie ein weiß- 
licher Sack, und krümmte sich vor dem Schicksal, und seine Helfer 
schliefen und hörten nicht auf zu schlafen. Auch sprach es in ihm 
einmal den Namen Klaus Manths mit einem tief verächtlichen 


Die Passion. 67 


Ausdruck, und als beim letzten Nachtmahl die Stimme des Sängers 
und der schwebende Gesang der Geigen zu einer unbegreiflichen 
Einheit und unirdischen Herrlichkeit zusammenbrannte, hatten 
seine Lippen den Namen des Meisters geflüstert: „Bach, o Bach!“ 
weil er das Glück nicht ertragen konnte. Aber sonst war der 
Mensch, der erzählte Vorgang und die Musik im lodernden Er- 
leben zu einem formlosen Ding eingeschmolzen. Es war sein 
Geschick, dem all das Klingen vorne galt, und er selbst war dar- 
ein verflochten und nicht verwandelter als in einem Traum. Er 
hatte die unvergängliche Schwermut gefühlt, mit der diese Worte 
gesprochen wurden: „Wahrlich, ich sage euch, einer unter euch 
wird mich verraten,“ und sogleich war er vertauscht in einen 
derer, die in Verstörung fragten: „Herr, bin ich's?“ — und einer 
der Ratlosesten, entsetzt, daß. in ihm vielleicht dennoch ein Dämon 
hauste, der den Geliebten verriet — denselben, um den seine Seele 
vor Erbarmen schauderte, als er klagend ausrief: „Ach, wollt ihr 
nun schlafen und ruhen? .. . Siehe, er ist da, der mich verrät.“ 
Dann hielt ihm die Angst den Atem an, wie der Jünger den 
Meister küßte, und jener, der alles Zukünftige von Anfang schaute, 
ihn traurig fragte: „Mein Freund, warum bist du kommen?“ und 
auch von dieser geisterhaften Gelassenheit und Güte eines schon 
Abgeschiedenen zu wissen, war ihm gewährt, nach dem Grauen 
der Verzweiflung von Gethsemane. Er hatte sein Ich im Zauber 
der Klänge, die durch alle Poren in ihn eindrangen, ausgestreut 
wie in Wind und erntete dafür die beengende Seligkeit, in der er 
dumpf ruhte. Alles, was er fühlte, jeder Augenblick der Stunde 
war mit schwer tropfendem Glück getränkt, das wie Honig duftete 
— wäre er je dafür offen gewesen, wenn nicht Claudia neben ihm 
gesessen hätte unter all den fremden Leuten? Einmal, als vorhii 
in Gethsemane die Stimme des ganz einsam Leidenden seinem 
Herzen allzu nahe tat, wandte er einen hilflos greifenden Blick 
beiseite, völlig ohne es zu merken, und verspürte tiefe Beruhigung, 
als er die ganz in sich versenkte Frau reglos neben sich gewahrte. 
Getragen vom Wissen, um die Verbundenheit mit ihr und um die 
Gemeinsamkeit dieses Fluges hatte er sich glücklich lachend in 
das Werk geworfen wie ein Habicht in den Wind, der ihm unter 
den Flügeln steht, und die brausendsten Fittiche sollten sie beide 
hineintragen, miteinander und einander grüßend, zum ersten Male 
als Mann und Frau in die Erhobenheit der letzten Größe 
und Kunst. 

Musik band ihn ganz — hatte er doch das Glas abgelegt, um 
nur zu hören — und so entging ihm, daß er sich täuschte. Claudia 
war nicht in Lauschen versunken, sondern in Schlaf; sie 


68 Arnold Zweig: 


schlummerte inmitten allen lauten und bewegten Singens wie ein 
Schiffsjunge im Mastkorb, wenn es stürmt. An ihr rächte sich die 
Anstrengung des Tages. Trotz mehrerer Reisestunden folgten die 
Heimkehrenden einem froh aufspringenden Verlangen, die Matthäus- 
passion zu hören, die nach Aussagen Mitreisender am Abend in 
einer der nächsten Städte ausgeführt wurde. Sie stiegen aus, ließen 
ihren Zug unbekümmert weiterfahren und verwanderten die beiden 
freien Stunden in dem alten Städtchen, übermütig in ihrer Fremd- 
heit und Ungebundenheit und spitzbübisch entzückt von dem 
Abenteuer, das sie sich bereiteten. Aber kaum in dem warmen 
Saale und unter allzu vielen Menschen, fiel Claudia so jäh in 
Müdigkeit, daß nicht einmal der starke Kaffee, den sie getrunken 
hatten, den Schlaf vertrieb; zumal sie noch mancherlei besondere 
Gründe hatte, sich schwer zu fühlen. So hatte sie anfangs ohne 
jede Freude vor der Aufführung gesessen, hatte kritisch und 
kundig alle ihre Unvollkommenheiten ausgespürt — fehlte doch 
selbst die Orgel im häßlichen Saale, während drei oder vier alte 
Kirchen wundervollen Raum und sicherlich große Orgeln boten! 
— war endlich eingeschlafen und schlief noch. So hatte sie geruht 
und hastig fliehende Träume gehabt, während um sie Choräle ge- 
sungen wurden, in denen eine ganze Gemeinde ihre Sünden büßte 
oder sich dem Heiland weihte, während Arien von Frauenstimmen 
klangen, begleitet von zwei Flöten, zwei Oboen oder Geigen, 
gleich und verschieden wie die nebeneinander ausgestreckten Arme 
eines Mädchens, das sie sang, und so kunstvoll und rein wie alte 
kristallene Becher; Frauenstimmen hatten sich vermählt, Männer- 
stimmen sie getrennt; der Heiland sagte mild und wie fernglänzend 
seine Worte, und Chöre waren darauf erschallt, denen wie dem 
letzten der strenge Kanon von acht verschobenen oder gemeinsam 
brausenden Stimmen eine Größe und Wucht lieh, die sich nur in 
Shakespeareschen Versen sagen läßt. Selbst als die stille Stimme 
des Evangelisten nach der lauten Erregung zu berichten fortfuhr, 
mit maßvoller Melodik und in epischer Schlichtheit, wie der ge- 
fangene Jesus dem schwertfrohen Jünger wehrte, regte sie nur 
leise die eine Hand und erwachte nicht. Und der Herr redete. 
Walter Rohme hob den Kopf, atmete tief und trank die Stimme 
des Sängers, aus dem der Heiland sprach. Sie war mild und süß 
und hatte einen Ton von unbefleckbarer Hoheit und Reinheit, als 
käme sie von weither, wo Menschen ihr nichts mehr antun konnten. 
Er genoß sie mit inbrünstigem Entzücken; im zweiten Teil würde 
sie wenig mehr erklingen, sie und die langgedehnten hellen Har- 
monien, die sie umgaben, so unbeweglich und leuchtend wie ein 
leiligenschein um den Kopf seines Trägers schwebt. Er wünschte 


Die Passion. 69 


dringlich, daß der Herr die Legionen Engel riefe, von denen er 
sprach, denn es war schwer erträglich, soviel Güte und Adel in 
den Händen eines Volkes zu wissen, das nach Kreuzen schreien 
würde. Und er begriff, daß die Jünger flohen vor dieser nicht 
mehr menschlichen Fremdheit gegen eigenes Leid. Die Stimme 
schwieg und der Evangelist; und die tändelnden und dennoch 
leidvollen Seufzer von Oboe und Flöte stiegen auf, die den 
Schlußchoral des ersten Teils einleiteten. Er hörte, wie sie neben- 
einander in kleinen Schritten aufstiegen, jah um ganze Oktaven 
fielen und von neuem beginnen mußten, um jäh zu fallen oder 
mählich abzusteigen mit kurzem Hinundher und Trillern auf 
manchem Ton; dann begann der Sopran langsam den altertüm- 
lichen Choral, in langen gleichen Noten eine Melodie, die sich 
kaum hob und senkte: „O Mensch, bewein dein Sünde groß...“ 
Walter Rohme war damit vom genauen Studieren des Werkes ver- 
traut und hörte den Anfang mit großem Genuß, aber die tiefe 
Befangenheit und Verzauberung war verschwunden. Die rauhe 
und simple Theologie des Textes hallte in ihm nicht wider, wenn 
er auch die alten Zeilen und ihr barsches Deutsch sehr liebte: 
„den’n Toten er das Leben gab und legt dabei all Krankheit ab, 
bis sich die Zeit herdrange. ..“ Die drei anderen Stimmen 
drängten sich ineinander und spielten beweglich und ernst um den 
langsamen Sopran und seine von der Last der Sünde schweren 
Schritte. Vor allem aber war das Ende zu fürchten. Nach dem 
letzten Tone würde der Beifall losbrechen, ein wohlverdienter 
Beifall zweifellos, der aber alles Zarte und Nachhallende, die 
schwebende, undeutliche Süßigkeit der ersten Minuten nach dem 
Werk ohne Gnade zerschlug — das Feinste des Genusses und das 
Ehrfürchtigste der Stimmung. Walter Rohme haßte ihn sehr; er 
litt körperlich unter dem tierischen Knallen der aufeinanderge- 
schlagenen Barbarenhände. Welchen Tumult würde man nachher 
feiern! und was zu ertragen war, näherte sich jeden. Augenblick: 
‚daß er für uns geopfert würd, 
trüg unsrer Sünden schwere Bürd® ... 
Es war widerwärtig, daß ein ganzer Reichtum von Verschiebungen 
der Rhythmen, von Harmonien, die sich flüchtig berührten, schnitten 
und durchdrangen, von kontrapunktischem Gegenströmen und In- 
einanderfließen ungenossen bleiben mußte. Doch je näher der 
Choral dem Ende zustrebte, desto quälender war die Angst. Seine 
Seele krümmte sich frierend ein: der tobende Lärm würde sie wie 
Hagel treffen. Er wünschte inständig, das, was jetzt gesungen 
wurde, möge nicht die vorletzte Zeile sein. Aber sie war's, und 
unabwendbar schloß sich die letzte an: „wohl an dem Kreuze 


70 Arnold Zweig: 


lange.“ Der Dirigent nahm den Stab zu den hingedehnten Noten 
des Schlusses hoch: der Sopran hielt mit schwellendem Atem den 
Schlußton lang, lange, während der Baß sich zu einer auf- und 
absteigenden Figur rüstete — dann winkte die linke Hand und 
die Stimmen schwiegen wie abgeschnitten. Walter Rohme verhielt 
die Luft in der Brust und machte sich stark, indem er sich von 
dem Gedanken an das nahe Getöse abhärten ließ; die Bläser liefen 
in Sechzehnteln aufwärts, setzten noch einmal tief ein, stiegen 
schräg auf in den endenden Akkord — und der Dirigent ließ 
Stab und Hand müde fallen. 

Ein Augenblick lautlosen Schweigens trat ein. 

Jetzt, sagte Walter Rohme zitternd. 

Die Leute erhoben sich und verließen stumm den Saal. Sie 
gaben sich Mühe, geräuschlos zu gehen. 

Er begriff erst nicht; dann wurden seine Augen weit in 
fassungsloser Überraschung, die wie ein stürmisches Glück in ihm 
aufsprang, und ein Schauer von Erlösung erkältete ihn, während 
sein Herz schwer pochte. Sie hatten Ehrfurcht. Ihre Seelen waren 
erhoben und wollten es bleiben. Ihr Gefühl verbot ihnen die 
billige Erleichterung, mit der sie sonst jede Erhebung in Geräusch 
umsetzten. Sie waren edler und zarter, als er gedacht hatte. Und 
er bat sie inbrünstig um Verzeihung wie für eine Kränkung. Man 
strebte stumm nach den Türen; in allen Augen hing noch der 
Glanz des klingenden Traumes und schloß alle Lippen. Nur vom 
Gerüst des Chores herab schallte das unbekümmerte Schwatzen 
der abgehärtetsten Sängerinnen und die vielen Schritte der Er- 
müdeten dröhnten auf dem hohlen Holze. Walter verzieh ihnen. 
Er fühlte sich wie jung vor Dankbarkeit gegen diese Unbekannten, 
daß sie sich gutgesittet zeigten und vor dem großen Werke sich 
beherrschten, und wandte sich stürmisch zu Claudia, damit sie 
seine Freude teile. Sie saß noch immer reglos wie vorhin. Um 
sie her stand alles auf und begann halblaut zu reden, eine Frau 
drehte sich um und streifte ihre Schulter mit der Robe. Darauf 
bewegte sie leicht den Kopf und die eine Hand: von einem brüsken 
Verdachte geschleudert warf er sich vorwärts, ihr ins Gesicht zu 
blicken — und in dem Augenblicke ihres Erwachens merkte er, 
daß sie geschlafen hatte. 

Er empfing einen Hieb quer übers Herz. Er richtete sich auf, 
er lächelte noch, aber starr und mit leerer Miene, aus der Sinn 
und Leben entwichen war. Sie hatte geschlafen. Sie hatte die 
ganze Zeit geschlafen. Während er sie an seiner Seite spürte und 
glücklich war, weil sie sein Glück teilte, flog ihre Seele abseits 
und lautlos umher, fledermausbeschwingt, taumelte durch dunkle 


Die Passion. 71 


Atmosphären und vermummte sich in Gestalten von Träumen. 
Und doch war ihre Freude, neben ihm diese Musik zu hören, ein 
Versprechen gewesen. Sie hatte es nicht gehalten — sollte er 
nicht unglücklich sein über diesen Betrug und entdeckten Verrat? 
Aber er war es; Trauer erfüllte ihn, die schon beschattet war von 
noch fernem Zorn. Er wußte nicht, was in ihm von dieser Über- 
raschung verletzt war, und nun litt: Leid um die aufgehobene Ge- 
meinsamkeit, nach der seine Liebe strebte, aber auch Eitelkeit des 
Mannes, dessen Botmäßigkeit jemand unversehens entschlüpfte, 
Enttäuschung, als hätte er sie überschätzt — und auch hierin der 
Stachel: du konntest überschätzen! und selbst die Pedanterie, die 
sich sagte: man hört in Konzerten zu und schläft im Bette 
er überließ sich seinem Gefühl mit gutem Gewissen, wies es ganz 
seiner Liebe zu und saß ohne Fassung, ohnmächtig, sich zu er- 
heben oder sie ganz zu wecken, fühlte sein Herz schwer schlagen 
und blickte vor sich hin. Sie hatte diese Stunde Seligkeit dumpf- 
schlafend verwehen lassen. Sie öffnete die Augen, blinzelte 
vor dem Licht, lächelte wie ein müdes Kind und sagte mit hellem, 
verwundertem Stimmchen: „Ich habe geschlafen!“ Er antwortete 
nicht und besah den Fußboden. Sie entdeckte, daß die Leute 
hinausgingen und schrak auf: „Es ist doch nicht schon aus?“ 
Sie zog schnell die kleine Uhr: „Nein,“ antwortete sie sich; „der 
erste Teil.“ Und dann strengte sie sich an, ein Gähnen zu ver- 
stecken. 

„Allerdings,“ sagte er mit abwesender Stimme, „du hast ge- 
schlafen.“ Darauf hob er endlich die Augen und erschrak über 
ihr von Müdigkeit zerstörtes Gesicht: es schien ganz verfallen, 
gelblich und farblos, und um die Augen wanden sich tiefe braune 
Schatten. Er begriff erbleichend, daß sie nicht hier bleiben durfte; 
die Erkenntnis hob sich zwar erst in äußere Schichten seines 
Wissens, aber sie war unabweislich und drang mit jedem Herz- 
schlag tiefer in ihn ein. Er wußte: wenn sie nicht verlangte, weg- 
zugehen, mußte er sie dazu auffordern; das war seine klar da- 
stehende Pflicht. 

„Ich wurde plötzlich müde, Liebster,“ sagte sie mit schul- 
digem Gesicht, „ich bin's noch immer, das ist doch erst die Pause, 
nicht wahr?“ 

Er überhörte die Hoffnung in ihrer Stimme nicht, das Gegen- 
teil zu vernehmen, auch bemerkte er flüchtig, wie rührend ihre 
Hallung eigentlich war, aber jetzt schüttelte und verhärtete ihn 
der jäh genahte Zorn. Er mußte den zweiten, den schönsten Teil 
der Passion opfern, der die gewaltigsten Chöre und seine liebsten 
Arien enthielt, mußte alle Erwartung, alle Erhobenheit und Ent— 


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72 Arnold Zweig: 


zückung glatt streichen und weggehen, weil sie müde war. Er 
rollte ihr dafür und gab sich diesem Grolle rücksichtslos hin, 
kaum, daß er versuchte, ihn nicht in den Ton fließen zu lassen, 
mit dem er aufstehend sagte: 

„Für uns ist's der Schluß.“ Und nach einer winzigen Pause 
— es war gar zu schwer: „Du mußt zu Bett.“ Das war gesagt. 
Nun würde sie sich sträuben, und auch das durfte er nicht gelten 
lassen. Sie tat es: „Aber du? Nein, bleiben wir. Ich verderbe 
dir den Abend.“ Da konnte er sich nicht enthalten, zu erwidern 
— und er war nicht stark genug, einen freundlicheren Klang zu 
erzwingen: „Glaubst du, daß ich zu irgendeinem Genusse komme, 
wenn du dich nebenan quälst und einschläfst?“ Er wußte, das 
war eine Anklage, so wie er gesprochen hatte, und sie würde es 
fühlen. Aber er bereute es nicht, noch kam er sich niedrig vor. 
Sie stand schweigend auf und ging gesenkten Kopfes hinter ihm 
hinaus. Sie wollte nicht weinen, und es gelang ihr. Er sah das 
nicht; ihr Schuldgefühl konnte ihn nicht versöhnen. Er war ganz 
bitter vor zielloser Wut; er verließ sie, drängte ohne Rücksicht, 
denn alle Vorräume waren voller Menschen, die sich unterhielten, 
zur Garderobe — irgendwie mußte er sich entladen —, warf der 
zedienung unfreundlich die Nummer hin und beschwerte sich in 
ausdrücklicher Mühsal mit den Überkleidern. Ach was, Manieren, 
dachte er. Sie war ihm entgegengekommen, damit er Weg spare, 
nahm ihm eilig den kleinen Hut ab, schlüpfte in die lange Jacke 
aus Pelz und wartete, bis er angezogen war, während jedermann 
sie erstaunt anblickte. 

Im äußersten Eingang stand ein junger Mensch ohne Hut im 
Gespräch mit einem Mädchen. „Jawohl,“ sagte er, während er 
ihnen Raum gab, „aber die größten kommen erst.“ Nein, Sie Esel, 
sagte Walter in sich zornig, für mich kommen sie nicht! Er 
erriet, es war von Chören die Rede oder von Arien. Und während 
Claudia schwer an seinem Arme ging, quer über die Straße und 
unter Bäumen fort, hielt er sich vor, was er alles versäumte: da 
waren die Chöre, in denen das Volk nach Barrabas schrie und 
„kreuzige“, wie aus Urgründen des Irrsinns heraus; die Chöre 
des Hohns unterm Kreuz und die harten Choräle der verlassenen 
Gläubigen, da waren Duette von Frauenstimmen und die ergreifend 
!eidvolle Gefaßtheit des erzählenden Evangelisten; da waren vor 
allen anderen Arien, die nach den Worten „Am Abend, da es 
kühle war“, und jene beiden von einer Sologeige begleiteten. Er 
hätte sie, vom Schlafe geweckt, spielen können, die für Alt rhyth- 
misch verschmitzt und sanft, die Baßarie heiter über die Reue des 
Sünders und bei aller Einfachheit viel Einsicht erfordernd. . . Er 


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Die Passion. 73 


hörte nie oft genug ihren triumphierenden Gang: „Gebt mir 
meinen Jesum wieder“... Und heute stand er auf und mußte 
vor ihr davon gehen. 

Claudia schmiegte sich bittend an ihn und atmete gierig 
von der reinen, feuchten Nachtluft, während sie noch immer unter 
Bäumen hingingen: „Wie wundervoll!“ sagte sie, „atme doch, 
Walter. Ich glaube, nur die Luft war schuld da drinnen. Die 
vielen Menschen!“ und nach einigen Schritten fügte sie hinzu: 
„Ich werde ganz munter, wirklich, Lieber. Wollen wir zurück- 
gehen? Wenn wir schon Zimmer hätten, müßtest du bleiben, ich 
bestände darauf. Aber ich traue mich nicht allein in ein fremdes 
Hotel.“ 

Diesmal fühlte er stark, wie rührend und demütig sich ihr 
Wesen gab; aber was sie anbot, nahm er nicht an — außer allen 
anderen Gründen hätte die Wollust des opfernd Leidenden das 
nicht gestattet. Aber er sagte nur, und er sagte es sanft: „Und 
drinnen hättest du wieder die Luft und die vielen Menschen.“ Sie 
neigte sich im Gehen vor, um ihm dankbar ins Gesicht zu lächeln 
und fügte sich: „Sie haben mich eigentlich gräßlich gestört und 
sind an allem schuld,“ meinte sie nachdenklich. „Sie und... 
und noch anderes. Dich nicht auch?“ „Nein,“ antwortete er. 
„Was anderes?“ Sie schwieg und er fragte nicht weiter. Er hatte 
ihren Blick bis tief im Herzen gespürt und fühlte wieder, wie sehr 
er sie liebte. Er schämte sich seiner Unbeherrschtheit, schämte 
sich allen Grolls und selbst des Bedauerns um die verlorene Musik. 
Er hatte nicht einmal den Willen geregt, diese fremden, häßlichen 
Gefühle gegen sie aus seiner Seele zu schaffen, gegen sie, die er 
zu innerst zu lieben glaubte, und hatte sich vom Ärger vergiften 
und erniedrigen lassen! -Er hatte sie mißhandelt. Er war sich 
verächtlich geworden und bereute sehr. Er schuldete ihr Abbitte 
und noch viel mehr, er mußte irgend etwas in sich finden, das er 
ihr anvertraute, etwas Zartes und ihm Zugehöriges, damit er in 
seinem Urteil wieder ein wenig gerechtfertigter dastand. Sein 
ganzer Geist erglühte in Scham, Reue und Liebe; er drückte ihren 
Arm eng, ganz eng an seine Brust, und machte vor Erregung 
größere Schritte. „Nicht so schnell, Lieber,“ bat sie sanft. 

Sie wanderten schon auf der Straße im grünen Lichte des 
Gases; das Pflaster war feucht von Regen und ein bißchen 
schlüpfrig; dahin deutete er ihre Worte. „Gehen wir denn richtig?“ 
fragte sie. „Ich denke, Liebling. Wir sind bald da; jetzt ganz 
gerade aus, und das letzte Haus auf der rechten Seite sei das 
Hotel. Sagte der Schutzmann nicht so?“ „Ja. Ich will nicht 
schlafen, ich möchte nur ein bißchen liegen.“ 


74 Arnold Zweig: 


Er hielt an und hob ihr beschattetes Gesicht in die Helle der 
Laterne: „Du siehst so müde aus, Liebste“ .. . Zärtlichkeit 
drängte ihr entgegen und erstickte seine Stimme; er küßte den 
Handschuh über ihre Hand und nahm ihren Arm; sie schmiegte 
die Schulter ein wenig an die seine und so gingen sie schweigend 
verade aus. Er dachte nur an sie und fühlte, wie schmerzlich er 
sie liebte und wie er bereute. 

Sie überschritten die Hauptstraße der engen Stadt, über der 
rötliche Bogenlampen in langer Schnur wie aufgereihte Sönnchen 
schwebten, und setzten ihren Weg fort. Die Töne einer leisen 
Drehorgel wehten ihnen plötzlich beginnend entgegen; sie spielte 
den Hohenfriedeberger Marsch ein bißchen verstimmt und näselnd, 
aber gar nicht widerwärtig. Walter summte mit: „Auf, Ansbach- 
Bayreuth, nimm um deinen Degen und rüste dich zum Streit“... 
Der sanfte Klang gab der kriegerisch schreitenden Musik eine 
zierliche Farbe. Claudia lachte plötzlich: „Und vorhin hat uns 
die Orgel gefehlt!“ Er belachte ihren Einfall befreit und selig und 
mit seinem ganzen Herzen. Er war glücklich über ihre Heiterkeit, 
sehr glücklich: sie schien nicht mehr betrübt. Er suchte in seiner 
Börse, und als sie an dem Leiermann vorübergingen, der sich, 
ein dunkler Umriß vor Dunkelheit, sitzend ans Geländer einer 
kleinen Brücke lehnte, warf er ihm ein Geldstück in den Hut, das 
auf die andern fallend nach Silber klang. Claudia freute sich, daß 
er nicht kleinlich gab, sah ihn aber dennoch fragend an. „Ein 
Opfer,“ sagte er froh, „ein Sühnopfer. Und ist der Hohenfriede- 
berger nicht Gold wert?“ „Du brauchst nicht zu opfern,“ lächelte 
nun sie, und er meinte ernsthaft: „Doch“. Sie näherten sich dem 
Hotel; vor der steinernen Treppe flüsterte sie hastig: „Nimm bitte 
zwei Zimmer, ja, Walter? Ich sage nachher, warum.“ Er er- 
staunte: „Selbstverständlich“ .. . Und indem eine bange Frage 
in ihm aufging, traten sie ein. Vielleicht war sie dennoch nicht 
versöhnt? Aber er hatte mit dem Portier zu verhandeln, und als 
er sie die Treppe hinaufbegleiten wollte, wehrte sie ab: „Bleib 
unten, Lieber, und iß. Nimm dir Zeit, denn ich kann dich jetzt 
nicht brauchen,“ und sie lächelte dazu. 

Walter Rohme saß noch einen Augenblick müßig im Speise- 
zimmer; Claudia hatte sich eine Kleinigkeit in ihrem Zimmer ser- 
vieren lassen. Er sog an seiner Zigarre; wenn eine der vielen 
Fragen, die ihn nicht verließen, einen Augenblick schwieg, ver— 
nahm er in der Stille ein Konzert von bruchstückhaften Melodien: 
die fröhliche Geigenstimme der Baßarie begann und brach nach 
einem Triller ab, der Hohenfriedeberger schob seinen Marschtakt 
ein, und immer wieder sank die Stimme Christi klagend und fern: 


Die Passion. 75 


Ach, wollt ihr nun schlafen und ruh’n? Er schmeckte den süßen 
Rauch mit dem Gaumen und entließ ihn durch die Nase, als 
dampfte der Atem eines großen Tieres; aber weder die Fragen 
noch die Melodien vermochte er fortzublasen wie ihn. Er wußte 
nicht, ob Claudia etwa krank war oder ob sie ihm zürnte; er 
begriff nicht, wieso er sich hatte so gehen lassen können und was 
in dem stummen Sicherheben der Menge so tiefe Wirkung auf 
ihn geübt hatte, daß er sie alle sah, wenn er die Augen schloß, 
immer nur diese lautlose Geste des Sicherhebens. Wenn das aber 
nur die Kraft des Stoffes war, der biblischen und heiligen Ge- 
stalten, denen von Jugend auf Ehrfurcht geboten wurde? Und 
wenn es so war: änderte das den Wert jener großen Gebärde? 
Und wie? 

Er fand, daß er hier keine Ruhe zum Antworten habe, es 
gab Abendgäste und der Kellner lief frackwedelnd hin und her; 
vor allem aber vibrierte in ihm die angstvolle Ungewißheit um 
Claudia, schrill und quälend wie eine dünne Saite. Er beschloß, 
oben zu Ende zu rauchen, fragte nach der Nummer seines Zimmers: 
neun, im ersten Stock, und erstieg die mit grauen, rotgekanteten 
Läufern belegte Treppe so abwesend, daß er, oben angelangt, das 
Bein allzuhoch hob, als sei da noch eine Stufe, und heftig auf- 
stoßend niedersetzte. War Claudia wirklich krank oder nur 
zornig? Er trat in sein Zimmer; hinter den offenen Fenstern 
blaute tief der nächtliche Himmel; aber halb mechanisch schaltete 
er das Licht ein, und es fiel von der Decke wie ein weißer Block, 
der den Raum ganz füllte. Er musterte ihn, indem er wünschte, 
endlich daheim zu sein, der Gasthäuser ledig; nahe an einem 
Fenster stand der Tisch vor einem halbrunden Sofa, ihm gegen- 
über ging die Tür zu Claudia, die er hatte aufschließen lassen, 
und sein Bett erstreckte sich weiß an der dritten Wand nahe den 
Birnen, man sparte das Nachtlicht. Er ließ sich schwer in das 
Sofa sinken, so daß es klang, und blinzelte dem Rauche nach, 
der im jetzt dunklen Blau verströmte. Jetzt, wo er der Geliebten 
ganz nahe war und die Antwort jeden Augenblick holen konnte, 
ward die gellende Saite langsam schlaff, wie wenn eine Hand sie 
abspannte, und die Ungeduld verstummte. Er wollte ihr ein 
Zeichen geben: er weile nebenan, und pfiff die ersten Takte des 
Hiohenfriedebergers; dann wartete er, daß sie ihn rufe. Die Stille 
sickerte in ihn ein, die allenthalben schwebte wie draußen die 
leuchtende Farbe, die nirgends haftete und dennoch da war. Und 
kaum wartete er so einige Minuten und lauschte sich, da vernahm 
er auch leise Antworten, erst halbklar, dann ganz verstanden: 
und sie lauteten so überraschend, daß er in Staunen aufstand und 


76 Arnold Zweig: 


vor sich hinsah, und ein seltsames Glück darüber verspürte: Ehr- 
furcht war es und Sehnsucht. . . 

Claudia rief durch die Tür gedämpft: „Walter?“ Endlich! 
Er legte schnell die Zigarre hin. Sie lag zu Bett und lächelte 
ihm zu, in der Helligkeit, die das Licht in breiten Streifen ein- 
brechend auch dort verbreitete, wo es nicht hinreichte. Er zog 
einen Stuhl heran und saß, halb über ihr Gesicht gebeugt, und 
besorgt blickend. „Du rauchst,“ sagte sie, „und ich störe dich.“ 
Die innigste Zärtlichkeit stieg auf: „Bist du noch böse, kleines 
Mädchen? Ich war sehr unartig, es ist wahr. . .“ 

„Aber ich verdarb dir den Abend! Du hattest Recht auf Wut. 
Und schließlich hast du mich ja nicht geprügelt. .“ Er neigte sich 
über ihren Kopf, sie lag verhüllt bis ans Kinn, und küßte die 
lachenden Lippen und die Augen, die ihn grüßten. Nein, das 
klang nicht nach Groll, sie hatte ihm verziehen, diese Gütige, und 
blickte ihn klaren Herzens an: welches Glück! Und ihre Stimme 
klang weder müde noch krank. .. 

„Gib mir die Hände,“ bat er, „ich muß sie ohne Handschuh 
küssen.“ 

„Laß, sie fühlen sich schlecht an.“ 

„Unwohl, Liebling?“ fragte er sofort, „bist du etwa krank?“ 

„Krank? bewahre; nicht einmal mehr müde. Ich will nur 
liegen.“ Sie sah im Halbdunkel, wie er ratlos die Arme hob, 
lachte ganz übermütig und rief: „O Walter, nun hast du eine 
Frau, und man merkt, du hattest keine Schwester.“ Endlich be- 
griff er; es traf ihn wie ein weicher Schlag, und dann dankte er, 
daß es dunkel war, denn er errötete bis in die Stirn. Er be- 
wunderte sie; wie ganz und frei sie war, und wie einfach sie 
heimlichen Dingen jede Schwere nehmen konnte! Er küßte be- 
hutsam ihre Stirn. Er wollte ihr seine Entdeckung sagen, damit 
auch er vor ihr nichts verberge; wenn es stimmte, daß der Mann 
seine Seele so schamhaft behütete wie die Frau ihren Leib, so gab 
er gleiches für gleiches; aber er gab es schwerer. 

„Dann kann ich also noch bleiben und ein wenig reden?“ 

„Ich bitte dich darum. Es ist so langweilig, gleich zu schlafen. 
Vorhin habe ich lauter dumme Sachen geträumt, du weißt schon, 
wann. Eine fällt mir ein, die ganz besonders weise ist: du legtest 
einen kleinen schwarzen Birnenkern in die Kiste, wo ich meine 
Puppen aufbewahrte, und wolltest zaubern, zähltest dreimal bıs 
drei, und wie Mama die Kiste aufmachte, lag eine große Birne 
drin, und ich klatschte in die Hände.“ Er lächelte, aber nur leer, 
weil er schon mit seinem Erlebnis beschäftigt war: „Ist das kein 
netter Traum? Übrigens — ich blieb dir vorhin eine Antwort 


Die Passion. jr 77 


schuldig, oder gab sie nur flüchtig, das heißt falsch. Du fragtest, 
ob mich die Leute nicht gestört hätten; erinnerst du dich? und 
ich sagte nein.“ 

Der fast befangene Ton, in dem er sprach, machte, daß sie 
ihn erwartungsvoll ansah: „Ich erinnere mich, es war noch vor 
der Laterne. Nun?“ 


Er stand auf und begann hin und her zu gehen; wenn er die 
Lichtbahn durchschritt, glänzte sein Haar rötlich und sein Schatten- 
riß mit dem dicken Schnurrbart schnitt sich scharf in die weiße 
Helle. Er sagte zögernd und halblaut: „Nein, sie störten mich 
nicht nur nicht, sondern in einem bestimmten Augenblick erhöhten 
sie sogar mein Erlebnis. Das war, als sie so still aufstanden und 
ohne Applaus hinausgingen. Da fühlte ich irgendeine tiefe Ge- 
meinschaft mit diesen fremden Leuten. Oder besser, ich sehnte 
mich, eine tiefe Gemeinschaft mit ihnen zu haben; so etwa. Ich 
hatte Ehrfurcht vor ihnen, weißt du.“ Ob sie durch die tastenden 
Worte das Gemeinte zu fassen vermochte? Was würde sie ent- 
gegnen? Sie schwieg einen Augenblick lang, dann kam es staunend: 
„Du scherzest nicht, das ist klar. Du sehntest dich? Du hattest 
Ehrfurcht vor diesen Menschen und ihrer mangelhaften Auf- 
führung?“ 

Sie verstand nichts. 

„Du verstehst mich nicht,“ meinte er tief atmend. „Ich sehnte 
mich nicht gerade nach diesen Leuten, sondern nach Leuten über- 
haupt, nach dem Volk, kann man sagen. Die Aufführung war 
mangelhaft, ganz sicher. Aber war sie nicht auch rührend in dem 
kahlen Saale? So wie Kinder oder Bauern Gott loben, in einem 
Hofe oder einer leeren Dorfkirche? Aber ich meinte gar nicht die 
Aufführung oder dergleichen. Ich könnte auch sagen: ich hatte 
Ehrfurcht vor Gott, oder eher, sehnte mich, vor ihm Ehrfurcht zu 
haben, ihn zu fühlen wie diese da. Weißt du, was ich meine?“ 

Vielleicht war es ganz aussichtslos, sich verständlich zu 
machen? Ihn befiel eine körperliche Angst davor. Wenn sie ihn 
auch hier allein ließ? 


„Du drückst dich ein bißchen sibyllinisch aus. Ich glaube, 
ich weiß jetzt, was du meinst. Aber wie es zu dir kommt, und 
gerade heut, das ist mir, ich gestehe, schleierhaft.“ Er versuchte 
es noch einmal — weil der Mensch ein hoffendes Tier war. 


„Wenn es klar zu sagen wäre, wäre es dir auch leichter zu 
empfinden. Ich will es erst negativ abgrenzen: ich sehne mich 
natürlich nicht nach ihrer Art zu fühlen oder nach ihrem Glück 
und Leben, ich danke nicht ab. Aber wiederum sind sie in einer 


78 Arnold Zweig: 


Schicht reicher als ich, und davor habe ich Ehrfurcht. Sie sind 
miteinander in einem gewissen Gefühl verbunden, in dem Gefühl 
zu Gott; und darin wachsen sie zu einem Wesen zusammen mit 
einem Pulse. Diese ganze gemeinsame Erlebnisquelle ist uns ver- 
schlossen, die wir immer einer sind und bestenfalls zwei — wie 
wir beide.“ Er zögerte vor den letzten Worten, denn sie logen 
jetzt. „Ein Mann, siehst du, erhält sein letztes Leben erst dadurch, 
daß er mit einem Volke fühlt, wie ihr Frauen erst, wenn ihr mit 
einem Kinde fühlt. Das geht vielen von uns ab, und darum sind 
wir ärmer. Das Gegenteil davon, so kam mir vor, machte alle 
diese Menschen still aufstehen, ohne den gewohnten Lärm. Als 
einzelne sind sie vielleicht Barbaren, zusammen aber handelten sie 
vornehm, als Gemeinde, als Volk. Und nun habe ich dir ge- 
predigt und dich müde gemacht.“ Er fühlte, noch nicht fertig, schon 
die Unmöglichkeit eines Widerhalls, und alsbald lehnte sie kopt- 
schüttelnd ab: 

„Politik, soviel ich verstehe. Ich habe das alles nicht in mir. 
Müde? Es geht. Ich werde sehn, daß ich schlafe. Wir fahren 
doch morgen früh?“ 

„Gegen elf. Gute Nacht, Liebling, schlaf wohl.“ Er trat an 
ihr Bett und neigte sich, sie zu küssen. Sie holte die Arme hervor, 
schlang sie um seinen Hals und hielt ihn eine Weile auf ihren 
Lippen fest. Dann ließ sie ihn halb frei und sagte, dicht an 
seinem Gesicht: „Wir sind heute nicht ganz beieinander, wie? 
Aber ich lerne schon noch. Gute Nacht;“ küßte ihn nochmals 
und ließ ihn von sich. Er strich über ihre Stirn und ging. 

Auf seinem Tische fand er die Zigarre zu zwei Dritteln un- 
verbrannt; er entzündete sie und prüfte sich. Er fühlte eine Weite 
und Kühle in sich wie eine Wiese nach Regen, aber er war weder 
sehr betrübt noch etwa hoffnungslos. Nein, sie waren nicht bei- 
einander; nun, so würden sie zu tun haben. Diese Art Ehe ist 
ein Anfang und noch nichts mehr, urteilte er tapfer; Gemeinsam- 
keit war zu erkämpfen, sie wurde nicht geschenkt. Er hatte an 
sich zu feilen und genug Brutales noch auszumerzen, und sie 
würde auch Arbeit finden.. . Das ist ein weites Feld, sagte er 
sich halb heiter. Nun, man hatte Jahre vor sich, vorausgesetzt, 
daß man nicht bald starb. Und wie eine zuversichtlich heitere 
Marschmusik in diese Weite hinein klang ihm plötzlich wieder 
der friederizianische Marsch in den Ohren, ganz fein und leise, 
aber so, als spielte ihn eine große, sehr ferne Regimentsmusik: er 
hörte das Glockenspiel klingen, die Trommeln tobten kriegerisch 
und am Ton der Trompeten hörte man, daß sie in der Sonne 
blitzten. . . 


Die Passion. 79 


Von einer fernen Kirche schwebten runde Töne herüber: er 
zählte, die Uhr schlug neun. Er wunderte sich, daß es noch so 
früh war, aber das Konzert hatte um halb sieben begonnen, es 
stimmte. Andere Uhren antworteten, er trat ans Fenster, sie zu 
hören, und sah die Sterne im tiefen Blau des Märzabends; schon 
hob sich Orions funkelnde Gestalt aus dem letzten Licht. Es wird 
alles gehen, dachte er aufatmend, hilf mir. Seine Augen hingen 
lange an dem großen Gestirn. Er fühlte sich wach und nach Tätig- 
keit verlangend; es gab viele Gedanken festzuhalten, zu ordnen 
und dann zu prüfen. Er beschloß, noch einen nötigen Brief ab- 
zufassen, und verließ das Fenster. Aber zum Schreiben genügte 
die Lampe an der Decke nicht. Nach kurzem Zögern ging er 
hinaus und kam bald mit Briefpapier und mit einer golden 
brennenden Petroleumlampe zurück, mit einem Bassin aus grünem 
Glase und einer weißen Glocke, die im Tragen leise klirrte. Als 
er das elektrische Licht löschte, blieb ein warmer Kreis um den 
Tisch hell, und das fremde Zimmer zog sich zurück. 

Er saß auf dem Sofa und schrieb. Der Zigarrenrauch schickte 
bläuliche Fäden in die Höhe, die sich zu Bändern verbreiterten. 
Sie hielten etliche große Stechmücken ab, die von einem nahen 
Wasser dem Scheine nachgingen. 

Aber er war froh, als er den Halter weglegen und nachdenk- 
lich leer auf das weiße Blatt schauen durfte. Das unzugängliche 
Geheimnis war ihm in den Sinn gekommen, das sich in der 
schlafenden Frau da drüben vollzog; und die Stirn auf die Hand 
gelehnt, mit ehrfürchtig schlagendem Herzen sann er ihm nach. 
Sie empfand nicht mehr, wie fremdartig pflanzenhaft und entrückt 
sie dadurch wurde, denn ihr war eine Gewohnheit, was ihn scheu 
und ernst stocken ließ. Hier war ihm eine heilige Grenze gesetzt, 
die er ehrte. 

Sein Blick haftete auf dem grünen Glasbassin der Lampe, erst 
abwesend, dann aufmerksamer; einige Mücken lagen darauf. Der 

Tanz um den heißen Brenner hatte sie betäubt dorthin geworfen, 
aber sie konnten, obwohl unversehrt, nicht mehr aufstehen. Die 
ganz winzige Schicht Ol, die sich beim Füllen darüber ausbreitete, 
genügte, um ihre zarten Organe zu durchtränken. Eine klebte tot 
mit dem Kopfe darauf, eine andere zitterte wie trunken auf den 
Füßen; eine dritte aber, die rücklings gefallen war, haftete mit 
beiden schmalen Flügeln ausgebreitet auf dem gefetteten Glase. Ihr 
schlanker Leib krümmte sich in fruchtlosem Mühen aus und ein — 
vielleicht litt sie wenig Schmerz, aber der Anblick ihres schlagenden 
Körpers gab die Gewißheit grausamer Qual. Und mit einem 
durchzuckenden Schreck erkannte Walter Rohme: hier krümmte 


— 


—— 


Im 
f 
f 


80 Dr. Fritz Wertheimer: 


sich ein Wesen am Kreuz. Der Anblick war ganz unerträglich, 
und mit zitternden Fingern entfernte er sie mit einem Streichholz 
und tötete sie. Er wußte nicht, ob er Gott lästerte oder ihm 
diente. Er löschte die Lampe aus und ging zu Bett, noch lange 
wach und von vielen huschenden Einfällen bestürmt, zwischen 
deren bruchstückhaftem Lautwerden schwarze Pausen zum Aus 
füllen Zeit schufen: ein ununterbrochenes Auseinander dieser 
ganze Abend . . sie schläft und er genießt — er zürnt ihr, während 
sie bereut — sie fühlt nicht mit seinem Erlebnis — und er, der 
nicht errät, nicht erraten kann, was sie ermüdet, entfremdet — 
der weibliche Leib, der an eine andere Welt grenzt... Man war 
trotz allem ziemlich allein — und wenn einer alle Mücken kreuzigte, 
wie ungeheuer wäre das Leid der Welt vermehrt . . Das verständ- 
liche Denken verfiel in ein Vernehmen undeutlich geredeter Worte, 
Melodien schalteten sich ein, und im Einschlafen noch hörte er eine 
Stimme, mild und aus menschenferner Verlassenheit: Ach, wollt 
ihr nun schlafen und ruh'n? . . . Siehe, er ist da, der mich verrät. 
Nebenan lächelte Claudia im Schlummer. 


Dr. Fritz Wertheimer: Chinafahrt. 


V. Wollen und Können in China. 


en Lesern dieser Zeilen sollte und wollte ich ein paar Ein- 
D drücke von einer Studienreise nach China in den voran- 
gegangenen Artikeln schildern. Ich glaubte das bei der 
Kürze des Raumes in einer Arbeit über das von der Revolution 
noch ziemlich unberührte, aber in seinem Charakter als chinesische 
Provinz von der Expansionssucht der Japaner stark bedrohte 
mandschurische Land, in einer Arbeit über die Bildungsbe- 
strebungen des jungen China, in einer weiteren über die 
kulturellen und politischen Unterschiede des Südens vom Norden 
und schließlich in dem letzten Artikel über eine von der Um- 
wälzung völlig übergangene Idylle, das Kloster Kuschan, als ein 
Beispiel nur für Hunderte von ähnlichen Plätzen in China, getan 
zu haben. Freilich kann man über China nicht in fünf Zeitungs- 
artikeln, mögen sie selbst noch so groß sein, ein abschließendes 
Urteil fällen. Es wird sich ja im Laufe der Jahre noch Gelegen- 
heit genug ergeben, einzelnes an dieser Stelle zu begründen und 
zu vertiefen. Vorderhand sollen nur ein paar abschließende Be- 
ungen hier folgen. 


Chinafahrt. 81 


Es ist eine alte Geschichte, die Erzählung von dem Vater, 
der seinem Sohne wünschte, „alles zu können, was er wolle, und 
alles zu wollen, was er könne“. Nichts kennzeichnet die Lage 
Chinas besser, als wenn man das Land auf kurze Zeit einmal in 
die Zwangsjacke dieser Begriffe vom Wollen und Können preßt. 
Was will China und was kann China? Der alte Vater würde die 
Hände über dem Kopf zusammenschlagen über die Differenz in 
dieser Hinsicht beim Sohne China. Jung China will zur Zeit nicht 
weniger als alles. Es war der Fehler der alten Mandschu- 
regierung, daß sie im Wollen keine Führerin war. Sie ließ sich 
stets treiben und anspornen, anstatt eine begeisterte Lenkerin der 
Geschicke des ihr anvertrauten Volkes zu sein. Alle neuen Ideen 
und Gedanken gingen ausnahmslos von Nichtregierenden aus, und 
als die Mandschudynastie wirklich Ernst machte und, der Not 
gehorchend, nachgab, um sich an die Spitze des Willens der Na- 
tion zu stellen, da war es zu spät, da besiegelte gerade diese 
Absicht ihr Geschick. Die Nachfolger verfielen im ungestümen 
Drängen aufs direkte Gegenteil: die Revolutionäre wollen alles. 
Es gab nichts, was sie dem Volke nicht versprochen hätten; keine 
Schwierigkeit auf irgendeinem Gebiete existierte, kein Zweifel an 
der Leistungsfähigkeit des Volkes; alles war eitel Freude und 
Hoffnung. Auch heute noch erfolgt von Peking aus Edikt über 
Edikt, kommen Pläne über Pläne, ginge es nach den Wünschen 
der Jungchinesen, so wäre ihr Vaterland von heute auf morgen 
der modernste Staat der Erde. 

Aber was können die beiden genannten Faktoren, und was 
kann China leisten? Eine Frage, die man sich recht selten vorlegt 
und die allen chinesischen Führern, mit denen man im Laufe der 
Monate zur politischen Unterhaltung zusammengekommen ist, aufs 
äußerste peinlich ist. Denn hier gilt es vom Luftschlosse der 
Ideale abzulassen und sich auf realen Boden zu stellen. Da geben 
dann die meisten auch zu, daß das Können der Mandschudynastie 
größer war als das der Jungchinesen, soweit es sich zunächst 
um die effektive Macht handelt. Die Mandschudynastie verfügte 
über ein gut ausgebildetes Heer, das die Revolutionäre überall ge- 
schlagen hat und nur auf politische Intrigen hin seinen Siegeslauf 
unterbrechen mußte; die Revolutionäre verfügten über Haufen zu- 
sammengelaufener Kulis, die sich tapfer und verzweifelt schlugen, 
aber dem Drill und der Disziplin der Gegner gegenüber nicht 
standhalten konnten. Die Mandschudynastie aber hatte auch für 
sich den uralten Zusammenhalt des Reiches, das Prestige der sagen- 
umwobenen Dynastie, den Glauben des Volkes an das Prädikat 
des Kaisers als eines Sohnes des Himmels. Das ganze Ansehen, 


b- 
— — 


i 


82 Dr. Erit Weriheimer: 


das allein den chinesischen Provinzialismus in Reichsbande schmie- 
dete, ist geschwunden. Jetzt werden die Provinzen durch das 
Band der Eifersucht und der lokalen Vorteile aneinander gekettei 
und dieses Band ist so schwach, daß es jederzeit zerreißen kann. 

Wir sprachen hier nur von der verflossenen und der jetzigen 
Regierung, und nur von wenigen Dingen, die für beide in Betracht 


kamen. Viel wichtiger ist für uns aber jetzt die zweite Frage nach 


dem China, dessen interne Regierung uns schließlich egal sein 
kann, um dessen heimische Angelegenheiten wir uns nicht kümmern 
wollen, wenn die Handelsfreiheit und Handelsmöglichkeit nur ge- 
wahrt bleiben. Und hier wird die Frage viel mehr zu einem: 
„Was wollen die Europäer und was kann China?“ Darüber 
besteht kein Zweifel: von einer kleinen Oberschicht abgesehen, ist 
das chinesische Volk in seinem Herzen absolut neuerungsfeindlich. 
Das ist auch gar kein Wunder. Jede Neuerung, bestehe sie in 
einem Übergehen von der Heimarbeit zur Industrie, oder in der 
Ablösung des alten Karrentransportes oder Dschunkenverkehrs durch 
moderne Eisenbahnen und Dampfschiffe, jede solche Neuerung 
vernichtet zunächst Tausende von Existenzen. Sie gibt Aber- 
tausenden neue Nahrung und neue Lebensmöglichkeit, aber bei 
dem starren Konservativismus des Chinesen dauert es lange, bis 
er das Neue begreift und sieht, daß es ihn sogar besser ernährt 
wie die alte Tätigkeit. China wird langsam nervös gemacht, wie 
es alle westlichen Großmächte schon sind. Eisenbahnen und Autos, 
Bergwerke und Fabrikschlote, elektrische Straßenbahnen und draht- 
lose Telegraphie sind alles Dinge, die zum eigentlichen Glück der 
alten Chinesen nicht gehörten. Die lebten glücklich und zufrieden, 
bis die fremden Nationen an ihre Türe pochten, ihnen den Opium- 
genuß aufzwangen und ihnen die Öffnung von Häfen abnötigten, 
Zipfel des Reiches wegrissen und dort Kolonien anlegten. China 
selbst hat in allen Verträgen mit den Fremden stets den Kürzeren 
gezogen, und das nannten die Fremden dann kultivieren und 
modernisieren. Vom chinesischen Standpunkte aus ist also eine 
innere Fremdenfeindlichkeit durchaus zu begreifen, wenn wir sie 
auch in den Folgen der Boxerunruhen u. s. f. noch so entsetzlich 
zu spüren bekommen. Wir Fremden sind es, die China erschließen 
wollen, und wir decken uns da mit dem Wunsche einer kleinen 
dünnen Oberschicht von Chinesen, die die Modernisierung und 
Erschließung wünschen, um China selbständig zu machen und 
letzten Endes dann die Fremden ebenso höflich hinauszukompli- 
mentieren, wie es die japanischen Nachbarn so hübsch und 
schmerzlos vollbrachten. Gewiß wächst in China die Einsicht, 
daß ein altes und zurückgebliebenes Land rettungslos den Aus- 


bo S 5 — 


Chinafahrt. 83 


ländern verfallen müsse, daß man nur mit den Mitteln der Fremden 
die fremden Einflüsse besiegen könne. Das Wollen in China selbst 
wächst damit, das heute nur eine Sache konzessionslustiger und 
geschäftssüchtiger Fremder ist. Und wie steht es mit dem heutigen 
Können des Landes? Bare Geldmittel zur Realisierung all der 
Wünsche sind nicht vorhanden, und wenn sie in kleinem Maß- 
stab vorhanden sind, hält der reiche und ängstliche Chinese sie 
gerade in den unruhigen Zeiten ängstlich zurück. Wollte China 
heute nur das, was es in Wirklichkeit selbst kann, dann müßte es 
raschestens auf die Verwirklichung aller neuen republikanischen 
Ideen verzichten, den Kaiser wieder einsetzen und in lethargischer 
Ruhe die Dinge mit einer Langsamkeit weiter entwickeln, die Ver- 
schleppung bedeutete und neuem Grenzraub durch die Fremden 
Tür und Tor öffnete. Nun bieten die Fremden China die Hand, 
um durch ihr Können sein (und ihr) Wollen zu realisieren. Aber 
nun will wieder ein großer Teil Chinas nicht, weil die Menge 
noch nicht so wirtschaftlich denken kann, um einzusehen, daß An- 
leihen unter Umständen dem Schuldner viel mehr Nutzen bringen 
können als dem Gläubiger. Das wäre hier in China der Fall. 
Der ungehobenen Bodenschätze gibt es eine Legion, Kohlen- und 
Erzlager gilt es zu öffnen, die Millionen in das arme Land 
werden bringen können, der Weltmarkt würde sich gewaltig ver- 
ändern, ermöglichten es die Eisenbahnen, alle inländischen Pro- 
dukte der Landwirtschaft und in späteren Jahren auch der chine- 
sischen Industrie dem Auslande zu übermitteln. In überraschend 
kurzer Zeit könnte China weit über dıe prompte Deckung seiner 
Zinsenlast hinaus ans Rückzahlen der Schulden denken, und wenn 
freie Bahn für allen Fortschritt wäre, erlebte die Welt ein Beispiel 
finanzieller Erstarkung, das die Zahlung der 5 Milliarden Kriegs- 
entschädigung von Frankreich an. Deutschland in den Schatten 
stellte. Denn das „Können“ Chinas ist in Wirklichkeit unbegrenzt. 
Dem Lande stehen in seiner riesenhaften Ausdehnung Hilfsmittel 
und Schätze zur Verfügung, die nach all den wissenschaftlichen 
Erforschungen und all den Beispielen, die wir jetzt schon haben, 
ins Unendliche gehen. Das wirkliche Können der chinesischen 
Nation also wird durch die Ohnmacht und Schwäche des heutigen 
China gar nicht tangiert. Nur fehlt es an gar mancherlei. Es 
fehlt, wie gesagt, zunächst am Willen bei den 400 Millionen 
selbst. Ist es schon verfehlt, zu sagen, dieses 400-Millionen- 
volk wünsche eine Republik, wo 396 Millionen noch keine 
Ahnung haben, was überhaupt eine Republik bedeutet, und daß 
sie seit einem halben Jahre eine haben, so ist es noch ver- 
fehlter, zu behaupten, diese 400 oder auch nur diese 4 Millionen 


wünschten eine Erschließung Chinas in unserm Sinne. Was hier 
von den Fremden zu leisten ist, um alte Hindernisse aus dem 
Wege zu räumen, ist in erster Linie Aufklärungs- und Schularbeit. 
Naturgemäß kann der Handel, der sich mit Naturnotwendigkeit 
Í ausbreitet, unbekümmert um ästhetische oder ethische Schmerzen 
i der davon Betroffenen, nicht warten, bis alle 400 Millionen die 
Überzeugung von der Notwendigkeit der Erschließung Chinas be- 
| sitzen werden. Aber wenn es nur wirkliche 4 Millionen sind, die 
| wirklich wollen in China, dann ist es genug. Wenn erst der Wille 
da ist, dann wird es am Erschließen des wirklichen Könnens in 


| 84 Dr. Fritz Wertheimer: Chinafahrt. 


China auch nicht fehlen. Aber hier liegt der eigentliche Schlüssel, 
der tiefere Grund für alle Schulunternehmungen in China. Denn 
wer diesen Willen und sein Wachsen beeinflussen kann, der wird 
auch seinen Anteil am Können haben. Es handelt sich äußerlich 
um ideale Schulbestrebungen, aber ob sie unter neutraler Flagge 
segeln oder unter Missionarszeichen stehen, sie haben alle zum 
Untergrunde geschäftliche Interessen. Nur sollen die Fremden den 
Bogen nicht überspannen und langsam in China vorgehen. Das 
Tempo verstehen, das ist alles in der jetzigen Lage, es mäßigen, 
solange dieser Zustand des Ungewissen und Unsicheren in China 
herrscht, es forcieren, wenn die geeigneten Leute zur Stelle sind, 
aber es weise regulieren nach dem Stand der Dinge, das ist die 
politische und wirtschaftliche Aufgabe der Fremden. An diesem 
Ausgleich ist von seiten der Fremden zu wenig gearbeitet worden, 
und aus diesem Mangel resultieren wieder alle geschäftlichen 
Schläge, die jetzt der fremde Handel erleidet. China dazu zu 
bringen, daß es mehr will, weil es in Wirklichkeit viel mehr kann 
und es ferner dazu zu bringen und in den Stand zu setzen, daß 
es alles kann, was es will, das ist über die jetzige schwere Krise 
des Reiches der Mitte hinaus die Aufgabe und das Ziel. Gerade 
jetzt, wo allerhand Ereignisse den Blick aufs Ganze trüben, scheint 
es angebracht, dieses Endziel wieder in den Vordergrund zu rücken 


und an ihm die ganze Entwickelung der Politik und Wirtschaft 
in China zu messen. 


85 


G. F. Hartlaub: Das Ende des Impressionismus. 


hunderts wird den Impressionismus wahrscheinlich mehr 

nach seinem verneinenden als nach seinem schöpferischen 
Verdienst bewerten. Er wird dem Programm, das hier schulbildend 
gewirkt hat, sehr wohl eine erzieherische, weniger aber eine vor- 
bildliche Bedeutung zuerkennen. Gerade diejenigen Werke der 
sog. Impressionisten, die sich am strengsten an das Prinzipielle 
ihrer Lehre gebunden zeigen, werden einmal als bloße Schulwerke 
von ziemlich gleicher Form betrachtet werden, Zeugnisse einer 
glänzenden Disziplin des Sehens und des Geschmacks, die jedoch 
ein starkes, persönliches Gepräge vermissen lassen. 

Bereits heute darf man sagen, daß die Rolle der einst so viel 
umstrittenen Bewegung historisch geworden ist. Das zeigt sich 
schon an Äußerlichkeiten. Unter dem Begriff des „Impressionismus“ 
können sich gegenwärtig viele Leute kaum noch etwas vorstellen, 
jedenfalls nichts Wesentliches. Denn gewisse äußere Eigenschaften 
des impressionistischen Malens und Sehens sind heute so sehr 
Allgemeingut geworden, daß sie kaum noch zum Bewußtsein 
kommen. Die innere seelische Einstellung dagegen, die das Pro- 
gramm voraussetzte, scheint bereits veraltet. Sie sagt einer Gene- 
ration wenig mehr, deren radikaler Vortrupp sogar nicht ohne 
das paradoxe Schlagwort „Expressionismus“ auskommen zu 
können glaubt, um das ganz Veränderte seiner Absichten gebührend 
zu kennzeichnen. 

Gerade auf das „Impressionistische“ legen wir angesichts der 
vollkommensten Schöpfungen von Manet bis Cézanne am wenigsten 
Wert. Renoirs „Lise“, Monets „Camille“ gegenüber scheint es einfach 
belanglos und banal, auf die Schulrichtung ihrer Meister hinzu- 
weisen. Was an ihnen groß ist, teilen sie mit den Gipfeln der 
Malerei aller Zeiten und Schulen. — 

Mit dem Wort „Impressionismus“ wissen wir heute wenig 
mehr anzufangen. Aber es gab eine Generation, die mit dem noch 
unverbrauchten Begriff lebhafte, ja leidenschaftliche Gefühle verband. 
Es wird nötig sein, einigen Abstand von uns selbst zu nehmen, 
um solches Bewußtsein in ganzer Frische auch in uns wieder auf- 
zuwecken. 

Was „wollte“ der Impressionismus? 

Wenn wir es recht betrachten, waren seine Zwecke ganz ele- 
mentar, grundsätzlich, ja eigentlich selbstverständlich und vor 
allem bis zu einem gewissen Grade rein pädagogischer Natur. 


EE späterer Geschichtsschreiber der Kunst des 19. Jahr- 


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86 G. F. Hartlaub: 


Im Grunde wollte er nichts anderes, als Künstler und Publikum 
dazu erziehen, sich wiedenreine richtige Vorstellung von dem zu machen, 
was die Malerei leisten kann. Um gleich zu Anfang die häufigsten 
Fehlerquellen in der Beurteilung von Kunstwerken zu ver- 
stopfen, zog er die Grenzen des künstlerisch Erlaubten zunächst 
außerordentlich eng. Mit einer heilsamen Pedanterie reinigte er 
die Aufgabe der Malerei von allen gleichsam sekundären Zwecken, 
und brachte in aller Schärfe wieder die einfache und doch so oft 
mißachtete Tatsache zum Bewußtsein, daß der Gegenstand der 
Malerei das Sichtbare sei, nicht das Denkbare, und daß sie den 
Schönheitssinn des Auges erfreuen solle, nicht etwa die Phantasie, 
die sich anläßlich des Gesehenen allerlei Assoziationen hingibt. 


Aber auch den Begriff des Sichtbaren glaubte die Theorie des 


Impressionismus genauer einschränken, resp. präzisieren zu müssen. 
Was sehen wir eigentlich, und was fügt nur die Gewohnheit des 
Denkens, die reflektierende Erfahrung hinzu? Denn allein auf das 
erstere kommt es an, nämlich auf den ungetrübten, reinen Eindruck, 
den man naturwissenschaftlich als das „optische Netzhautbild“ 
definieren könnte; folglich nicht — und hier wurde die Theorie 
im höchsten Grade praktisch anwendbar — auf den sogenannten 
„Umriß“, der ja nur eine Abstraktion unseres Verstandes ist, nicht 
auf das Körperliche, Raumerfüllende der Erscheinung, über die 
uns weniger das Auge als unsere Erinnerung belehrt. 

So etwa war das kritische Rüstzeug beschaffen, mit dem die 
Künstler und Kunstschriftsteller für ihr neues Evangelium ins 
Feld zogen. — 

Ohne Zweifel hat die Lehre Manets und Zolas in diesem ihrem 
gewissermaßen „intellektuellen Antiintellektualismus“ wesentliche er- 
zieherische Absichten verwirklicht. Das geschah nach mehreren 
Seiten hin. Sie bildete den Geschmack des Publikums; denn, um 
überhaupt ein impressionistisches Bild auffassen zu können, ist es 
notwendig, selbst bis zu einem gewissen Grade wie ein Maler 
sehen zu lernen, und die dazu erforderliche Arbeitsleistung hält 
davon ab, in einem Gemälde nach Dingen zu suchen, die mit der 
Kunst nichts zu tun haben. 

Sie erzog aber auch die Künstler. Es war heilsam, daß sie deren 
Idealismus auf eine gewisse Nüchternheit herabstimmte und ihnen 
dafür gesunde Hochachtung einprägte vor den handwerklichen 
Grundlagen ihres Berufs. Und indem sie den Maler dazu anzielt, 
sich statt aller möglichen „idealen“ Nebenabsichten zunächst einmal 
streng auf den empfangenen Eindruck einzustellen, weckte sie eine 
langentbehrte allerursprünglichste Malerfreude wieder in ihm auf: 
die Liebe zu aller sichtbaren Erscheinung und zugleich die frische 


Das Ende des Impressionismus. 87 


Einsicht, wie unerschöpflich sich die Natur im Wandel von Luft 
und Licht zu immer neuen, künstlerisch anregenden Impressionen 
gestaltet. 


Die Erfolge dieser Belehrungen waren reich und blendend: 
eine erstaunliche Auffrischung und Erweiterung der Palette zu 
teilweise ganz neuartigen Farbstellungen, ein frisch geweckter Sinn 
für das Bezaubernde jenes freien, offenen Vortrags, der mit Unrecht 
„skizzenhaft“ genannt wird, und vielmehr einzig dem flüchtigen Reiz 
des Erscheinenden gerecht zu werden vermag, endlich ganz unge- 
wohnte dekorative Wirkungen, die sich zunächst aus der unkörper- 
lichen Art des Sehens beinahe von selbst ergaben, und welche 
dann mit Bewußtsein und unter dem Einfluß des neuen japanischen 
Geschmacks fortgebildet wurden. Alles in allem: man entdeckte 
zahlreiche Schönheiten wieder, die in der akademischen Malerei 
gründlich verloren gegangen waren, ja, man fügte ihnen in jenen 
dekorativen Wirkungen noch neue \Verte hinzu, die man mit Recht 
als die eigentlich modernen ansprechen darf. 


Die meisten Ergebnisse des Impressionismus frei- 
lich — das müssen wir, die am Ende der Bewegung das 
Ganze rückblickend überschauen können, heute ohne Um- 
stände zugeben — haben die großen Zeiten der Kunst 
von jeher besessen, ohne doch das Lehrbare, Prinzipielle 
daran überhaupt erkannt zu haben. Sie wandten eine solche 
Malweise gelegentlich, als unmittelbarste Wiedergabe ihrer Kon- 
zeption und als höchste Steigerung des Ausdrucks an, bewahrten 
aber freilich dabei alle Mittel zeichnerischer und plastischer 
Komposition. Offenbar hatten sie das gesunde Gefühl, daß 
eine große Tafelmalerei solcher Faktoren keineswegs entraten 
kann, wenn sie ihren Beruf in ganzem Umfange erfüllen will. Ja, 
auch darin sahen sie keine Gefahr, daß ihre Malkunst zugleich 
auch äußerer Würdenträger des übrigen geistigen Inhaltes ihrer 
Zeit sein wollte. Soviel „literarische Anregungen“, — lägen sie nun 
nur in tief dichterischer, psychologisch-dramatischer Charakteristik, 
wie bei Rembrandt, oder seien sie geradezu dogmatisch-alle- 
gorischer, mythologischer, geschichtlicher oder selbst anekdotischer 
Natur — die Werke der Malerei bis auf Delacroixs Zeiten auch, 
gleichsam in aller Unschuld, an den Betrachter abzugeben ver- 
mochten, so wuchs doch aus der Tatsache solcher Anregungen 
clurchaus kein Problem. Die Güte der Malerei litt nicht nur dar- 
unter keinen Schaden, sondern — und hierin liegt das Geheimnis 
des goldenen Kunstzeitalters — sie gewann aus ihnen vielmehr 
sıoch besondere Schwungkraft für ihren eigensten Ausdruck. 


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88 G. F. Hartlaub: 


Die Notwendigkeit, theoretisch und praktisch strenger die 
Vorbedingung der künstlerischen Wirkung von dem bloß Beiläufigen 
zu trennen, trat erst in dem Augenblicke ein, als die Oberherrschaft 
nicht mehr unzweifelhaft erschien. Es hängt das mit der beson- 
deren, den bildenden Künsten höchst ungünstigen Konstellation 
des 19. Jahrhunderts zusammen. Angesichts der immer größeren 
Weltfremdheit der akademisch altmeisterlichen Atelier- und Rezept- 
malerei mit ihrer hochmütigen Vernachlässigung des „Technischen“ 


zugunsten eines falschverstandenen sogenannten „Inhalts“, — gegen- 


über einer so bedenklich gewordenen Verschiebung in den Grund- 
lagen natürlichen Kunstschaffens war nun der Impressionismus 
Manets in der Tat eine geschichtsnotwendige Abwehr. 

Dieser mehr negative Charakter als Abwehr, als Reinigung, 
als Reaktion tritt in jedem seiner Wesenszüge deutlich hervor. 
Vor allem in der streng antiromantischen Haltung, welche 
die neue Lehre einnahm, indem sie sich im Gegensatz zu allerlei 
vagen Weltbeglückungsidealen zu einer Spezialsache, zu einer 
Fachangelegenheit für Maler machte. Das war nötig, um eine 
vorzugsweise erzieherische Aufgabe erfüllen zu können, und zeigte 
zugleich, daß der Impressionismus Ausdruck, notwendige Er- 
scheinung des modernen Lebens sein wollte, was ja Manet ge- 
radezu in dem bekannten Schlagwort: „il faut être de son temps“ 
formuliert hat. | 

Immerhin enthüllte sich zuerst an diesem Punkte ein eigentüm- 
licher Zwiespalt, eine innere Unzulänglichkeit des Programms. In 
der Tat steckt ja die impressionistische Form voll von innerer 
Analogie mit allen modernen Lebensgestaltungen. Diese „Contem- 
poraneite“ durfte aber für die Dogmatiker des Impressionismus 
nur im „Wie“, nicht im „Was“ des künstlerischen Ausdrucks 
liegen. Sie konnte auf keinen Fall durch die Wahl der Gegen- 
stände und irgendwelche ideelle Beziehungen zum Inhalt der 
Gegenwart bestimmt sein. Das war erzieherisch heilsam und 
doch: indem das „lart pour l’art“-Prinzip solche äußere Brücken 
zum Verständnis abbrach, wurde es sich selbst verhängnisvoll und 
besiegelte die kurze Lebensdauer der ganzen Bewegung. Der Im- 
pressionismus blieb Atelier- und Sammlerangelegenheit, weil er 
in keiner Weise eine äußere, den sozialen, religiösen, politischen 
Inhalt der Zeit darstellende Funktion übernehmen konnte, wollte, 
durfte. Denn so sicher jene inneren Analogien auch bestehen 
mochten, so setzte ihre Erkenntnis doch eine Abstraktion voraus, 
die nur die Maler und Kunstkenner in ihrer streng formalen Ein- 
stellung zu vollziehen imstande waren. Die breitere Masse des 
Publikums wird niemals fähig sein, zur Erkenntnis malerischer 


Das Ende des Impressionismus. 89 


Werte ohne die Brücke gegenständlicher Teilnahme aufzusteigen. 
Von jeher geht naiver Kunstgenuß von gewissermaßen neben- 
sächlichen Teilen der künstlerischen Wirkung aus und pflegt erst 
über sie zur Hauptsache zu gelangen. Bewußtes Kunstschaffen 
macht dagegen den umgekehrten Weg. Notwendig ist nur, daß 
sich beide Wege treffen, und dieser Ausgleich ist so vollkommen, 
daß er sich nicht ungestraft verschieben läßt. 


Der Impressionismus berief sich zum Verständnis nicht mehr 
auf das Ganze der menschlichen Natur, der ja alle ästhetischen 
Abstraktionen fremd sind und die in jedem Kunstwerk mit allen 
Kunstsinnen und -Bedürfnissen befriedigt sein will. Hier lag seine 
Schwäche. Zugleich erwies sich aber eine solche abstrakte Zu- 
spitzung auch vom Malerstandpunkt aus als dine ziemlich beträcht- 
liche Verarmung der Tradition. Freilich stand dieser eine ebenso 
qualitative Verfeinerung gegenüber, aber es fragt sich doch, ob die 
spezifische Schönheit gewisser Bilder Monets den Verlust aller 
jener Wirkungsmittel aufwiegt, deren sich die alten Meister in 
vollem rhythmischem Zusammenklang bedienten, ohne dabei des 
impressionistisch abgekürzten Ausdrucks ganz zu entraten. 


Der berüchtigte Satz: „Eine gut gemalte Rübe hat künstlerisch 
nicht geringeren Wert als eine gut gemalte Himmelfahrt,“ hat 
zweifellos logisch zwingende Kraft und in unserer Zeit hohen er- 
zieherischen Nutzen. Aber eine solche Radikaltheorie wäre in 
jedem Jahrhundert mit gesundem Kunstwuchs überflüssig, ja 
lächerlich gewesen. Jedes Jahrhundert hat eben die Ästhetik, deren 
es wert ist. 


Mit dem Impressionismus schien die bisher von der Geschichte 
gleichsam „praestabilierte Harmonie“ zwischen Kunstgeber und Kunst- 
nehmer endgültig aufgehoben. Eine sehr beklagenswerte Tatsache 
folgte alsbald daraus: die Vereinsamung der Künstler. Sie 
sahen sich jetzt statt vom „Volk“ von einem Stabe von Kritikern, 
Historikern und Ästhetikern umgeben, Leuten, die sich erboten, durch 
literarische Fürsprache die Kluft zwischen Künstler und Publikum 
wieder zu überbrücken. Das moderne Kunstschriftstellertum 
ist insofern gewiß mit geschichtlicher Notwendigkeit aus dem Im- 
pressionismus hervorgegangen, und rechtfertigt sich damit bis zu 
einem gewissen Grade. Ob es aber die Brücke geschlagen und 
nicht vielmehr den Zwiespalt verstärkt, die Isolierung des Künstlers 
durch lebensfeindliches Philosophieren noch vertieft hat? sei hier 
nur in Parenthese gefragt. Auch vom Kunstschriftstellertum gilt 
wohl, was von so manchen neuesten Kulturformen zu sagen ist, 
daß sie zwar notwendig sind, aber doch vom Übel. 


90 G. F. Hartlaub: 


Mit allen seinen Begleiterscheinungen steht der Impressionis- 
mus geschichtlich durchaus neben den anderen großen kulturellen 
Reaktionen des Jahrhunderts, z. B. dem literarischen Naturalismus 
von Zola bis Verhaeren und dem neukantischen Kritizismus. Alle 
drei richteten sich gegen eine zu ihrer Zeit verhängnisvoll 
grassierende Romantik und Metaphysik. Hier wie dort handelte 
es sich um Grenz- und Zuständigkeitsfragen des künstlerischen und 
philosophischen Ausdrucks, hier wie dort ward durch den Hinweis 
auf die Erfahrung — die Sichtbarkeit, die Natur, das Leben, — 
der Weg gezeigt, wie sich die durch andauernde Grenzübertretung 
und Fremdvermischung geschwächte Fähigkeit wieder ihre volle 
Eigenkraft zurückerobern könne. 

Und auch dies hatte die große künstlerische Bewegung mit 
ihren Nachbarn auf philosophischem und dichterischem Gebiet 
gemein, daß sie alle schon im Keime die Neigung zeigten, 
eines schönen Tages in ihr Gegenteil umzuschlagen. 
Hier bewährt sich nur ein ewiges Gesetz der Geistesgeschichte. 
Alle Abstraktionen, formalistische, spezialistische Zuspitzungen 
duldet das Leben nicht lange. 

Daß man so stark die Art der Beobachtung betonte, das 
„Wie“ des Sehens gegenüber dem „Was“, das „Temperament“ 
gegenüber der „Natur“, die wissenschaftliche „Methode“ gegen- 
über dem Erkenntnisinhalt, bedeutete nicht immer bloß eine strengere 
Betonung der Form, sondern brachte die kühle Objektivität plötzlich 
in eine bedenkliche Nachbarschaft mit ihrem Antipoden, einer 
schroffen Betonung des „wie ich es sehe“, einem Individualismus, 
um nicht zu sagen Subjektivismus, wie ihn der Geist des Jahr- 
hunderts gleichzeitig in allerlei ebenso lebenskräftigen Ideenkom- 
plexen hervorgebracht hatte. Ähnlich barg ja auch die natura- 
listische Dichtung Keime von Symbolismus und Neuromantik in sich, 
— mit welchen sie ja in der barocken Gesamtkunst Wagners bereits 
von vornherein vermengt gewesen war. So konnte auch die kriti— 
zistische Erkenntnistheorie wieder in eine neue idealistische Meta— 
physik umschlagen und stand endlich der imperativischen Ethik 
von Kant bis Hartmann die Lehre Nietzsches gegenüber, die man 
mit einem philosophischen Fachausdruck als „egozentrischen Rela- 
tivismus“ bezeichnen könnte. Dieses eigentümliche Schweben 
zwischen äußerster subjektiver und äußerster objektiver 
Weltansicht kennzeichnet die Geistesgeschichte des 19. Jahr— 
hunderts wie nichts anderes. Es erklärt sich im allgemeinen 
aus jener gefährlichen Zersplitterung ins Spezialfachliche, 
die alle festen allgemeinen Maßstäbe verloren gehen ließ und 
nirgends auf die Dauer so verhängnisvoll sein mußte als in der 
Kunst. 


Das Ende des Impressionismus. 91 


Hier lag wohl der äußere Anlaß, sich von dem kühlen Ver- 
halten dem eigenen Eindruck gegenüber zu befreien, in der Ver- 
lockung begründet, die von den bereits erwähnten neuartigen, aus- 
gesprochen dekorativen Wirkungen und Farbstellungen ausging. 
Daß man diese künstlerischen Möglichkeiten immer stärker im 
Sinne eines schöpferischen, freien Ausdrucks nützte, daß man 
schließlich die Farbe nicht mehr nach ihrer objektiven „Wahrheit“, 
ja nicht einmal nur in ihrer äußeren sinnlichen Schönheit, sondern 
sogar in ihrer ursprünglichen, primitiven Gefühlssymbolik ver- 
stehen lernte, hat freilich in manchen und gerade den besten Lei- 
stungen der großen Impressionisten zu einem glücklichen Ausgleich 
geführt. In der Hauptsache jedoch mußte die neue Abkehr vom 
Objekt geschichtlich viel folgenschwerer sein, als die Künstler 
ahnen konnten. Das geschah aus folgendem Grunde: 


Die neuen Vorstellungen von dekorativer Form 
ließen sich auf die Dauer nicht mehr im Rahmen der her- 
gebrachten Tafelmalerei lösen. Damit war aber der Schwer- 
punkt des ganzen Problems verschoben. Es liegt schon im 
Wesen eines Bildes vom rein impressionistischen Typ, daß es viel 
stärker von der Farbstellung seiner Umgebung abhängig ist, als 
ein Tafelgemälde hergebrachten Stils. Es schließt sich nicht mit 
seinem Rahmen zu einer eigenständigen illusionären Welt ab, 
belebt keinen Raum für sich, sondern scheint darauf berechnet, 
einem größeren Raumgebilde schmückend anzugehören. Nachdem 
die impressionistische Malerei auf vielerlei überlieferte Werte frei- 
willig verzichtet, begab sie sich hiermit wider Willen 
ihrer Selbständigkeit als einer freien und unabhängigen Kunst 
und drohte sie nicht nur sich selbst aufzuheben, sondern 
zugleich alle die hergebrachten Vorstellungen von bildhafter Wirkung 
überhaupt, wie sie sich seit dem 17. Jahrhundert an dem realisti- 
schen Stil des freien, beweglichen, gerahmten Tafelbildes entwickelt 
hatten. Am sichtbarsten wird das eben dort, wo sich der im- 
pressionistische Gedanke am schärfsten ausprägt, in dem sogenannten 
Neo-Impressionismus Signacs, Seurats usw. 

Man erinnere sich, daß diese Maler die wissenschaftliche 
Analyse des Eindrucks auf die Spitze trieben, indem sie ihre 
Ergebnisse, die reinen komplementären Farbelemente, deren 
Mischung im Auge des .Beschauers die natürliche Farbwirkung 
ergibt, auch auf der Leinwand unvermischt nebeneinander setzten. 
Schon dadurch, daß man zu diesem Zwecke die freie Pinsel- 
schrift aufhob und statt dessen ein mechanisches Nebeneinander- 
setzen der reinen Farbpigmente forderte, entfernte man sich weit von 
den Traditionen und Möglichkeiten der Tafelmalerei überhaupt. 


92 G. F. Hartlaub: 


Das unpersönliche Mosaik der neoimpressionistischen Malweise 
tut in seiner riesigen Leuchtkraft nur dann noch eine Wirkung, 
wenn das Auge Abstand genug nehmen kann, um die Mischung 
vollziehen zu können: also bei einer Anwendung als Decken- oder 
Wandmalerei in gegebenen Räumen mit bestimmten Verhältnissen. 
Erfüllt die Kunst aber dergestalt erst rein dekorative Aufgaben, so 
gibt sie ihre ursprüngliche Begründung als Wirklichkeitsdarstellung 
auf und unterliegt neuen, rein idealen Stilgesetzen. 

Der Realismus der Malerei seit dem 17. Jahrhundert führt 
sich hier in seinem extremsten Ausläufer selbst ad absurdum und 
schlägt in sein Gegenteil um. Ein historischer Kreislauf ist voll- 
endet. Ohne Frage lief die Malerei jetzt Gefahr, auf die Stufe der 
angewandten Kunst zu sinken, Teppich, Tapete, freies musikalisches 
Farbenarrangement zu werden. Um dagegen die Würde einer 
freien Kunst zu behalten und in dem architektonischen Raumgebilde 
selbständige Bedeutung zu wahren, hätte das zerflossene Farben- 
gewoge der Bindung bedurft. Aber für den zeichnerischen Umriß, 
für räumlich- plastische Komposition, für alle Elemente direkter 
geistiger Umformung der Eindrücke war in der Lehre des Im- 
pressionismus kein Platz. 


Wieder zeigte sich die eigentümliche geschichtliche Unproduk- 
tivität des impressionistischen Gedankens. — ' 

Aber in dem wunderbaren Dualismus seines geistigen Schaffens 
hatte das Jahrhundert eine künstlerische Gegenbewegung hervor- 
gebracht, die gerade das enthielt, wessen die sublime Eindrucks- 
malerei so sehr benötigte, um mit ihren Ergebnissen fruchtbar in 
der Entwicklung aufgehen zu können. Es gab einen Anti- 
impressionismus, eine Kunst, die ihre Kräfte nicht aus der Sinn- 
lichkeit, sondern aus dem Geiste, nicht aus der Analyse, sondern 
aus der Formung, nicht aus der flüchtigen Erscheinung, sondern 
aus der unvergänglichen „Idee“ zu ziehen wußte. 


Wer die Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts kennt, 
weiß, daß das „Problem der Form“ von Kant bis Cohen, von 
Hölderlin bis Hofmannsthal, von Mozart bis Reger, von Ingres 
bis Hodler nicht eingeschlafen ist. Er weiß Marees’ Ringen um 
eine monumentale Stilkunst im Zeitalter der Monet, Seurat usw. 
in seiner ganzen menschlichen und geschichtlichen Bedeutung zu 
würdigen. 

Freilich, so verschieden uns auch der Ausgangspunkt eines 
Monet und eines Marees erscheinen wird, noch wichtiger ist es, 
sich vorher klarzumachen, was diese beiden stärksten Kunstbe- 
strebungen des letzten Jahrhunderts bei aller Gegensätzlichkeit 


Das Ende des Impressionismus, 93 


innerlich miteinander verband. Denn erst damit, daß wir ihre 
innerste Einheit begreifen, wird es uns möglich, zu glauben, daß 
sie beide dauernd wertvoll sein konnten. Indem wir den gemein- 
samen Adel aller Kunstabsichten, die in unserem so verworrenen 
kunstfeindlichen Zeitalter ernst genommen werden müssen, fühlen, 
verstehen wir aber zugleich auch ihre innerste Tragik. 


Der Antiimpressionismus als geschichtliche Gesamterscheinung 
stellt sich viel zerfahrener, weniger streng und rein dar als seine 
große Gegenbewegung. In seinen wertvollsten Ausprägungen 
aber — freilich auch nur in diesen! — ist er eine ebenso schroffe 
Reaktion gegen die falsche Kunstvermischung, ebenso unroman- 
tisch, ebenso abstrakt, und schreibt ebenso hochmütig das Kenn- 
wort l’art pour l’art auf seine Fahnen, wie jener. 


Er ist auch ebenso folgerichtig in der Ablehnung äußerer 
gegenständlicher Beziehungen wie sein Widerpart. Er ist nicht 
weniger streng auf das „Problem der Form“ bedacht, als jener 
auf das der Erfahrung. 


Weil aber die Erfahrung jung und ewig neu ist, war nur der 
Impressionismus berufen, den eigentlich modernen, zeitge- 
mäßen Kunststil abzugeben. Seine Gegenrichtung befand sich 
hingegen von vornherein in einem gewissen Kontrast zum Zeit- 
inhalt. Wer sich angesichts der abgestorbenen Rezepte akademi- 
scher „Zeichnung“ und „Komposition“ wieder auf die einfachen 
Bestandteile geistiger Formung und Bindung besinnen wollte, 
mußte weit zurückgreifen auf die großen und schlichten Abstrak- 
tionen strengerer und primitiverer Stile. Die Geschichte des Anti- 
impressionismus im neunzehnten Jahrhundert ist zugleich der 
Fortschritt einer neuen Primitivität. Seit Ingres und Cornelius ist 
man von Rafael über Botticelli zur Gotik, ja noch weiter bis zur 
griechisch-ägyptischen Frühzeit, zum Orient, ja neuerdings selbst 
zu den Naturvölkern zurückgegangen. 


Der Impressionismus ließ sich — zu seinem Vorteil und 
Nachteil — von der Naturwissenschaft seines Zeitalters befruchten. 


Der Antiimpressionismus mußte durchaus zu seinen Ungunsten 
— in eine bedenkliche Nachbarschaft zu altertümelnder Romantik ver- 
schiedenster Färbung geraten. Wir haben die warnenden Beispiele 
der „Linienkunst“ der Nazarener und Präraffaeliten und allen 
möglichen neuesten „Stilismus“. Nur in den besten Fällen — wie 
bei Hans von Marces — sprach keine romantische Sentimentalität, 
sondern rein formale Überlegung. Aber eben auf diese kommt es 
uns an. 


94 G. F. Hartlaub: 


Wir dürfen also sagen, daß die beiden großen Kunstbewe- 
gungen bei aller Verschiedenheit zunächst einmal den strengen 
Formalismus gemein hatten. Aber diese künstlerische Tugend ist 
größer im Verneinen als im Bejahen. Darum mußte nicht nur 
dieser, sondern auch jener Wille zur Kunst an dem Verhängnis 
seiner allzu strengen Tugend scheitern. 

An beiden rächt sich das unheimliche Auseinanderklaffen von 
Sinnlichkeit und Geistigkeit in unserer Kultur. Müssen wir sagen, 
daß es im goldenen Zeitalter der Malerei, von Giorgione bis 
Delacroix, keinen solchen Dualismus, keine Einheit von Eindruck 
und Ausdruck, ganz oberflächlich gesagt von Linie und Farbe 
gegeben hat? Der Historiker weiß, daß die noch früheren Jahr- 
hunderte, daß die ganze Kunst des Mittelalters dualistisch ist; wir 
müssen uns bewußt machen, daß sich die Erscheinungen jener 
Epoche in den Krisen unseres Zeitalters wiederholen, und daß 
unsere Kunst darum nicht ohne tiefen Instinkt gerade von der des 
Mittelalters Anregung empfängt. Nur die glücklichsten Naturen 
des Jahrhunderts haben den Zwiespalt nicht empfunden: ein Leibl, 
Renoir, Menzel, Liebermann und noch manche andere — aber 
auch diese nur in ihren allerbesten Stunden. 

Die historische Unzulänglichkeit des modernen Kultur- 
Dualismus zeigte sich in der Kunst sogleich, als sie über ihre fach- 
mäßige Beschränkung hinaus zu eigentlich positiven neuen Lebens- 
Werten schreiten wollte. Wir sahen, wie die impressionistische 
Malerei nach der neuen Architektur begehrte, um fruchtbar werden 
zu können. Jetzt erkennen wir, daß sie auch dieses Verlangen 
mit ihrer geschichtlichen Gegnerin gemein hatte. Denn 
die Kunst eines Hans von Marees bedarf wie keine einer neuen Bau- 
kunst, sie träumt von einer zugleich dekorativen und doch be- 
deutungsvollen Anwendung in großen monumentalen Architekturen. 
Das bedarf heute keiner Worte mehr. Auch der Antiimpressionis- 
mus will über das Tafelbild hinaus. 

Er konnte also seinen Ruf mit dem des Gegners vereinigen. 
Alle Zeichen deuteten auf die Notwendigkeit einer Verbindung der 
beiden Strömungen in dem großen Flußbett der neuen Architektur. 
Sie hätten beide ihre prinzipielle Einseitigkeit überwunden, sich 
gegenseitig zu höchster Leistung beiruchten können. 

Aber jene erträumte Monumentalarchitektur existierte nicht. 
Sie konnte nicht existieren. 

Hier lag das Verhängnis. 


Das Ende des Impressionismus. 95 


Freilich hat es nicht an Ansätzen gefehlt. 

Man wird nicht leugnen können, daß gerade der Antiimpres- 
sionismus, daß eben der strenge Reliefstil eines Hans von Marées 
gewisse Keime enthält, die im geeigneten Boden zum Wuchs einer 
modernen Architektur beitragen könnten. Indem die Lehre des 
Malers eine Bildhauerschule befruchtete, wies sie die Bahn des 
Aufstiegs von einer gesetzmäßigen Malerei über eine tektonische 
Plastik zur Baukunst. Wenn trotzdem alle diese Bestrebungen 
Fragment bleiben mußten und selbst ein Adolf Hildebrand nur 
eine Schule neben anderen Schulen von noch dazu direkt entgegen- 
gesetzten Intentionen zu bilden vermocht hat, wenn aus dem 
Präraffaelismus des Malers van de Velde schließlich doch nur 
ein völlig willkürliches Architekturornament entstehen konnte, — 
so liegt das eben an der unumstößlichen Tatsache, daß sich noch 
keine Baukunst von der Malerei hat Gesetze diktieren lassen, und 
daß es vielmehr zu allen Zeiten organischen Kunstwuchses um- 
gekehrt gewesen ist. Denn ein Baustil ist eben keine rein ästhetische, 
sondern eine praktische, wirtschaftliche, soziale, religiöse Be- 
dürfnisfrage. 

Die unselige Verworrenheit der modernen Kunstzustände 
kommt hier verhängnisvoll zutage. 

Freilich bekamen wir moderne Bauten, öffentliche und noch 
mehr private. Sie waren sozusagen um die Bilder der Impres- 
sionisten und die Reliefs Adolf Hildebrands herumkomponiert. 
Und doch: man merkt ihnen an, daß sie Geschöpfe einer Sehn- 
sucht sind, die auf einen weit höheren Gegenstand abzielte, als 
den, welchen das Leben schließlich gestattete. Daher das eigen- 
tümlich Abstrakte, Kalte, übermäßig Repräsentative vieler moderner 
Privatbauten, und der Mangel eines wirklichen Ornamentes. Was 
wir besitzen, ist letzten Grundes — von rein hygienisch praktischen 
Maßnahmen abgesehen — wohl ein Ausfluß, doch kein Ausdruck 
unseres modernen Lebensinhaltes. Der unleugbare Geschmack 
unserer Wohnkultur liegt wohl mehr im Vermeiden des Häßlichen, 
als im Neuschaffen des Schönen. Er ist bezeichnenderweise am 
vollkommensten dort, wo er am wenigsten „modern“ sein will 
und streng konservativ die vor 100 Jahren abgerissene Tradition 
wieder aufnimmt. 

Der moderne Baustil in Deutschland entstand als eine Hilfs- 
konstruktion der Malerei und Plastik. Er ist bis heute noch 
Privatsache einzelner Besteller oder einer Behörde, die ge- 
legentlich auch einmal einem Architekten der „modernen Richtung“ 
einen Auftrag gibt. Es scheint wie eine Ironie des Schicksals, 
daß gerade bei denjenigen Aufgaben, für die unsere Gegenwart 


96 G. F. Hartlaub; 


typische Lösungen herangebildet hat, dem Bahnhof, dem Waren- 
haus, eine Mitwirkung der übrigen Künste kaum nötig scheint. 


Am Warenhaus wird kein neues Mosaik, kein junger Fresko- 
stil heranreifen. 


Die neue Architektur ist auf keinen Fall selbständig genug, die 
anderen Künste von sich abhängig zu machen, und Träger einer 
künstlerischen Synthese zu sein, wie derjenigen, deren Möglichkeit 
wir heraufdämmern sahen. Hier liegt der große Unterschied zum 
Mittelalter. 


Man muß den ganzen Anspruch der erträumten Synthese be- 
greifen, muß verstehen, welche Voraussetzungen sie im Umfang 
des menschlichen Lebens vorfinden müßte, um nicht nur eine 
äußerliche Kombination, ein Atelierexperiment zu sein, sondern 
innerliches, organisches Wachstum zu entwickeln. Es handelt sich 
ja nicht um die Verschmelzung zweier beliebiger Maltechniken, 
sondern um eine Vereinigung von Weltanschauungen, die in Parallele 
mit den Absichten des religiösen Monismus steht. Der Sensualismus 
soll in Mystik, der Naturalismus in Symbolik übergehen. Der 
Farbensinn, und zwar ein durch lange Übung äußerst empfind- 
lich gemachter, überkuftivierter, der nur noch auf stärkste Reiz- 
mittel antwortet, stellt sich freischöpierisch neben den Formsinn. 
In seiner Ermüdung verlangt das Kunstgefühl nach strengster Ver- 
einfachung, hat Lust an stärksten Gegensätzen. Reiner Umriß, 
edelste Reliefkomposition und ungeheure Farbenpracht. Denn die 
starke, einfache Form verträgt sich nur mit reiner, komplementärer 
Farbe. 


Aus einer solchen Synthese könnte nur eine Art von neuer 
Primitivität hervorgehen. Die Kunst der Zukunft müßte eine ideale 
Ausdruckskunst, müßte eine bis zu einem gewissen Grade un- 
persönliche und in ihrer Gesamtwirkung ekstatische Kunst dar- 
stellen! 


Von alledem kann nun nicht die Rede sein. Für Bauten, an 
denen eine Malerei von so unerhörtem Anspruch Sinn haben 
könnte, fehlt es vorläufig in unserer Kultur durchaus an Platz. 
Die Sehnsucht unserer Maler und Bildhauer ist dem übrigen Zeit- 
inhalt weit vorausgeeilt. Der Abstand von Kunst und Leben ist 
zu gewaltig geworden. Erst wenn es wieder ein soziales oder 
religiöses Bedürfnis gibt, das nach großen Räumen für irgendeine 
Art von geistiger Gemeinsamkeit verlangt, erst wenn umfassende 
menschliche Gefühlskomplexe vorhanden sind, die nach sichtbaren 
Symbolen begehren, wird eine solche Architektur Sinn haben, wie 
sie die Künstler sich gern erträumen. 


Das Ende des Impressionismus. 97 


Was heute in diesem Sinne geschaffen wird, rechnet zu den 
vielen künstlichen Neubildungsversuchen unserer Kultur, die nur 
bestimmt sind, fruchtlos im Sande zu verlaufen. Es muß ganz not- 
wendig Fragment bleiben. 


O — 


Die kölnische Sonderbund-Ausstellung, die soeben 
ihre Pforten geschlossen hat, gab uns das traurige Schauspiel dieses 
modernen Kunstidealismus. 

Als der Held in der Schicksalstragödie des neuen Wollens 
zeigte sich hier van Gogh. Von ihm muß nun vor allen Dingen 
die Rede sein. 

Nach dem biogenetischen Grundgesetz genialer Geistesent- 
wicklung durchläuft er noch einmal alle wichtigen Phasen der 
Vergangenheit. Er beginnt bei den alten Meistern. Er malt in 
Paris nach der streng analytischen Art der Impressionisten. In 
der Einsamkeit von Arles aber bricht durch, was unsern Künstler 
zum Märtyrer unserer Kultur erhoben hat. 

Die Entwicklung drängt ihn mit Naturnotwendigkeit zu jener 
Wiedervereinigung, deren Sinn wir zu erkennen suchten, alle die 
Eigentümlichkeiten, besonderen Absichten einer solchen Synthese 
reifen in ihm zum Bewußtsein. Er muß den Schritt tun, obgleich 
aller Boden dazu fehlt, mußte alle Konsequenzen ziehen, für die 
das Leben doch keinen Platz hatte. 

Niemals hat das Innen und Außen des Daseins einen so 
klaffenden Abstand gezeigt. 

Van Gogh mußte also fortfahren, Tafelbilder zu malen, Einzel- 
werte für Galerien, Private, Ausstellungen und Kunsthandlungen, 
obgleich alles in ihm von einem solchen Zufallsbetrieb zur Not- 
wendigkeit, vom Mobiliar zur Immobiliarkunst drängte. 

Alles Herrlichste, was er schuf, mußte so Fragment bleiben, 
Fragment zu der heimlichen Kathedrale des kommenden Geistes 
und der zukünftigen Gemeinsamkeit. Nicht ohne tiefen Grund 
war van Gogh Sozialist und träumte von zyklischem Schaffen einer 
anonymen Produktionsgenossenschaft von Künstlern. Nichts wehrte 
sich in ihm gegen sog. inhaltliche, allgemein menschliche, ja lite- 
rarische Bedeutungen der sichtbaren Kunst, ja er wollte nicht nur 
dekorativ, sondern auch symbolisch sein. Und wenn dennoch an 
manchen seiner Werke das Ornament beinahe als Selbstzweck 
erscheint, so geschah das wider Willen und aus dem Grunde, weil 
uns jene geistigen Inhalte, neue Religion, Mythos und Heilslehre 
fehlen. 

Zur Kathedrale von Stein gehört die Kathedrale des Geistes. 


98 G. F. Hartlaub: 


Van Gogh hat keinerlei Konzessionen gemacht. Er hat sich 
nicht in dieser Umwelt eingerichtet. Viele seiner Bilder werden 
nach einem Jahrhundert zerstört sein, weil sie nicht solid genug 
gemalt sind. Das übermäßig Starke, Hemmungslose seiner Kunst, 
die beinahe pathologische Ekstase, die nicht eben dauerhafte Mal- 
weise — alles das sind die Folgen einer unendlichen Einsamkeit 
des Willens. Es ist die Stimme des Predigers in der Wüste, die 
schließlich unkontrolliert klingt, weil sie nicht Echo und Antwort 
findet, und an Intensität verdoppelt, was sie an äußerer Wirkung 
vermißt. | 

Keine Kunst ist prophetischer als die van Goghs. 

Was an ihr vollkommen, ist sein eigenstes Verdienst, was 
aber unvollkommen scheint, daran ist nicht er, sondern sind 
wir schuld. 


Es sollnun eine neueste Kunst-Donquijoterie geben, 
die da beansprucht, van Goghs Prophezeiungen zu er- 
füllen. Wenn man ihn in der Sonderbund-Ausstellung inmitten 
dieser seiner „Jünger“ erblickte, dann wußte man erst, wie ein- 
sam er war und noch lange bleiben wird. Man erkannte auch, 
daß er ein Verhängnis und ein Verführer wider Willen ist. 

Die neue Malerei hat viele Namen. Die heillos überspannte 
Überbewußtheit unseres allzu nepotischen Zeitgeistes erfindet deren 
zu Dutzenden. Die Künstler von heute sind ihre eigenen 
Kunsthistoriker. Für keine Zunft ist die Konstellation heute 
so günstig wie für den Kunsthistoriker. 

Wir müssen also den Kubismus, den Futurismus, Ex- 
pressionismus über uns ergehen lassen und mit dem blauen 
Reiter ins allzu Blaue galoppieren. 


Alle diese Richtungen mögen im Atelier sehr interessant sein. 
Aber was diese Leute dort tun, geht uns andere gar nichts an. 

Freilich, so bedeutungslos dies Treiben im menschlichen Sinne 
sein mag, so symptomatisch ist es doch für unsere Zeit, wenn wir 
sie als Psychologe, Pathologe und Historiker betrachten. 

Das einzig Erfreuliche unter allem, was uns die kölnische Aus- 
stellung an Neuestem zu bieten hatte, war dort zu finden, wo sich 
Künstler vom Tafelbilde loslösten und auch äußerlich den Schritt in 
die angewandte Kunst taten, — die wenigen Möglichkeiten höherer 
„Anwendung“ ergreifend, welche die Zeit bietet. So groß die Hoch- 
achtung vor einem Thorn-Prikker sein muß, der diesen Schritt 
gewagt hat, so gering ist andererseits das Verdienst zu werten, 
das in dem unleugbar dekorativen Geschmack fast aller unserer 


Das Ende des Impressionismus. 99 


Jüngsten gefunden werden könnte, in ihrem Sinn für Flächen- 
wirkung, Farbverteilung und dergleichen. Man muß heute schon 
beträchtlich talentlos sein, um für solche Effekte keine Handfertig- 
keit zu besitzen. 

Gegenüber dem zweifellosen Gelingen grobdekorativer Wirkung, 
die im, faustsicheren, radikalen Hinhauen von Farbe und Form 
sich Genüge tut, muß immer wieder die ungeheure Verarmung an- 
gestaunt werden, der hier die Kunst der Tafelmalerei anheim- 
gefallen ist. 

Bei solcher Nacktheit und Kahlheit ist selbst jene neueste 
Romantik, die wieder nach Inhalten, Beziehungen, „Titeln“ ruft, 
als eine Reaktion immerhin zu begrüßen. Leider fehlt es ihr nur 
zu einer wirksamen Reaktion an allem und jedem Rüstzeug. Denn 
um wieder „Perseus und Andromeda“ und „Kreuzabnahme“ zu 
malen, reichen die primitiven Waffen unserer blauen Ritter am 
wenigsten aus. 

Man sieht keinen rechten Sinn in einer Wendung ins Ex- 
pressionistische, ohne doch Expression, ins Dekorative, ohne doch 
Dekoration, ins Primitive, ohne doch primitiv sein zu können. 

Machte van Gogh die quantitative Armut seiner Mittel 
zehnmal durch die ungeheure Intensität seines Ausdrucks wett, so 
tritt bei den Jüngsten einfach nur der bare Mangel zutage. 

Von Cezanne, dem letzten, freiesten, geistigsten, ausdrucks- 
vollsten „Impressionisten“, fand noch mancher den Weg zum „Bilde“, 
zur Tradition zurück, von van Gogh keiner, weil dieser Maler viel ver- 
hängnisvoller ist. Aber auch die glücklicheren Bestrebungen jener 
Jünger Cézannes werden bedroht durch die grau-leibhaftige Gegenwart 
gewisser gespenstisch kalter Intellektualismen. Gerade die Me- 
thode, die in dem Unsinn des „Kubismus“ steckt, ist so 
unkünstlerisch und unfruchtbar. 

Der Impressionismus hatte von gegenständlichen Beziehungen 
abstrahiert. Er abstrahierte weiter vom Gegenstande selbst und 
beschränkte sich auf dessen Eindruck. Schon hier lag für die- 
jenigen, welche den quantitativen Mangel nicht qualitativ wettzu- 
machen wußten, eine gewisse Verarmung. Blieb nun noch das sub- 
jektive Eindrucksbild als Gegenstand der Malerei übrig, so war es 
beim Hereinbrechen der expressionistisch- romantischen Absichten 
gar kein großer Einfall, auch davon noch zu „abstrahieren“. Dieser 
Witz ist ebenso absurd wie konsequent. Noch besser allerdings 
wäre es, auch von dem übrigbleibenden Farbenspiel zu „abstra- 
hieren“, und dann angesichts der leeren Leinwand dem Betrachter 
faustisch einzuflüstern: „In deinem Nichts hoff ich das All zu 
linden.“ | ä 


100 G. F. Hartlaub: 


Das letzte Band zwischen Schaffendem und Genießendem ist 
endgültig zerrissen. Subjektive und objektive Notwendigkeit der 
Kunst stehen in gar keiner Beziehung mehr. Kandinsky mag noch 
so notwendig und logisch „schaffen“, aber die menschliche Natur 
bietet keinerlei Möglichkeit, dieses Schaffen zu „verstehen“. 


Es muß gesagt werden, daß sich die bildende Kunst in dem 
Augenblicke, da sie sich jeder objektiven Grundlage begibt, theo- 
retisch auf die Stufe der Musik stellt. Die Malerei will jetzt 
so unabhängig mit Formen und Farben schalten, wie die Musik mit 
ihren Tönen. Die Musik ist die reinste, abstrakteste, geistigste 
aller Künste. Gewiß ist aus ihrem Geiste jede Schöpferkraft der 
Phantasie geboren. Rückkehr zum Geiste der Musik heißt also 
das Chaos aufsuchen, in dem noch alle Künste ungeschieden bei- 
einander wohnen, heißt untertauchen in den dionysischen Gesamt- 
willen zur Kunst. Diese Absicht klingt beinahe erhaben, sie ist 
aber nichts anderes als schlimmste Schwächeerscheinung, als krank- 
haftester Atavismus. 


Allen Abstraktionen gegenüber behält das Leben in seinen 
natürlichen Mischformen recht. Man lasse den Philosophen diesen 
Mischcharakter übersehen, weit schlimmer ist es, daß die Künstler 
ihn nicht mehr fühlen und gerade in seiner rätselhaften Unauflös- 
barkeit lieben. 


Wir sind von einem Extrem in das andere gefallen. Hatten 
wir eben die Herrschaft der Literatur abgeschüttelt, so erfreuen 
wir uns heute einer Tyrannei der Musik, die noch viel ärger 
ist als jene. Dieser neue Bund von Malerei und Musik muß als 
pervers bezeichnet werden. Die Musiker haben gewisse Konse- 
quenzen daraus gezogen, die die Grundlagen ihrer Kunst vom 
Seelischen ins Neurotische verschieben. Mit gewissen halbpatho- 
logischen Tatsachen des Farbenhörens, Tonsehens etc. — Vor- 
stellungen, mit denen jede Romantik und jedes Barock noch gern 
gespielt haben, — wird jetzt blutiger Ernst gemacht. 

Auch Neurosen sind naturgesetzmäßig und darum ist sicher 
auch die Musik Skriabines nicht ohne Gesetz, aber der Ablauf 
der Krankheit ist nicht die Regel der Kunst. 


Es muß erst ein neuer Lessing auferstehen, der die 
Untersuchungen über die Grenzen der bildenden Künste 
vor allem auf das Verhältnis von Musik und Malerei aus- 
zudehnen hätte. 


Aber besser als die Überlegungen der Gelehrten werden der 
kranken Kunst die Künstler selber helfen können. Und besser 
noch als diese: wir alle. 


101 


Wilhelm von Scholz: Saturnusjahre. Terzinen. 


Gib drei Saturnusjahre mir, drei Leben, ' 
statt dieser hastig schnellen Erdenjahre, 
in denen Monde kurz wie Stunden schweben, 


rasch wechselnd, wiederkehrend — statt daß wunderbare 
Unendlichkeit die Jahreszeiten sind, 
raumhaft gewaltig, jede Wieg’ und Bahre 


für einen Lebenstraum, der spät zerrinnt 
und neuer Weisheit weicht im Ring der Zeiten, 
die uns dann Altern und Erkennen sind, 


die sich mit stiller Dauer um uns breiten, 
daß wir drin wachsend alle Hast verlernen 
und durch ein weithin ruhendes Werden schreiten. 


Gesegnet von den eilelosen Sternen, 
die jede Nacht am gleichen Himmel steh’n, 
geht unser Schritt in lang verhüllte Fernen. 


Die Jahresmonde, die uns wachsen seh’n, 
sind weit entwichen, wenn wir Männer sind 
und steil auf schattenloser Höhe steh’n. 


Sie kehren wieder, spät, kühl und gelind 
und bringen Liebe, Jugend, Traum herauf, 
die dann der Geist zum erstenmal durchsinnt. 


Blühender geh’n sie vor der Seele auf, 
die nichts mehr flüchtig wähnt, was ihr entschwindet, 
weil einem ruhevollen Zeitenlauf 


102 


Wilhelm von Scholz: Saturnusjahre. 


sie alles einmal und für immer bindet. 
Wir sind zu groß für die so hastige Zeit, 
die an der Blüte schon den Herbst entzündet. 


Wir wollen Dauer! Laß das braune Kleid 
des Laubs ohn’ Ende an den Bäumen hangen, 
daß in den Herbst wir wandern mondenweit. 


Durch Jahre laß für uns die abendlangen 
Dämmerungen tief und immer tiefer reichen, 
daß die Gesichte, die uns weit umfangen, 


nicht, kaum uns wandelnd, neuem Tage weichen. 


Dann werden unsere Stunden dunkelgroß 
und schweigend jede tief der andern gleichen; 


wir aber ringen aus der Zeit uns los, 
die wir vergessen, in ein Jetzt getaucht, 
ein Gegenwärtigbleiben wandellos, 


das uns wie ruhender Seelenraum umhaucht. 
Gib drei Saturnusjahre mir, drei Leben, 
wie sie mein Geist zu seinem Werke braucht, 


dem Erdenjahre allzu rasch entschweben .. 


103 
Aus alten Handschriften. 


Ein unveröffentlichter Brief der Gemahlin König Otto I. 
von Griechenland über die politischen Wirren in Athen. 


Athen, den 9. Jan. 1850. 


ein lieber, guter, süsser, engels Papa! Mit der Franz. Post schrieb ich 
M Dir und ich fahre fort Dich au courant von dem Unerhörten zu halten; 

wer nicht gegenwärtig ist, glaubt es nicht. Gott sei gelobt, der auch 
in dieser Zeit uns nicht verlässt und da, wo unsere Feinde uns schaden wollten, Alles 
zum Besten leitet; die Haltung des Volkes, der Kammer ist herrlicher und inniger 
denn je, das Band zwischen König und Volk, wovon wir die rührendsten 
Beweise hatten, jede Parteileidenschaft hat vor der Gefahr des Vaterlandes 
aufgehört, Feinde umarmen sich, — es lebe der König, das Vaterland, unsere 
Nationalität, das ist der 1000stimmige Ruf. Doch ich will chronologisch 
erzählen und schicke Dir auch die Hauptpiècen. Als ich meinen Brief am 
Freitag, d. 18. schloss, schrieb ich, dass unser Ministerium, gestützt auf 
sein Recht, das Schiedsgericht der beiden andern. Schutzmächte angerufen 
hatte. Als wir hinab ritten zur Musik erfuhren wir schon, dass Wyse der 
Regierung kund that, das unsere Kriegsschiffe nicht mehr die Häfen ver- 
lassen dürften, sonst würden sie zurückgeführt werden mit Gewalt. Unser 
Dampfschiff hatte schon vor dieser Mittheilung den Hafen verlassen, mit Be- 
fehlen nach Syra, aber ein englisches Dampfschiff folgte ihm. Um es zu be- 
nachrichtigen schickte man ein französisches Dampfschiff nach, das es aber 
nicht traf, und am 19. Morgens hatten es die Engländer gezwungen umzu- 
kehren und brachten es nach dem Pyräus zurück. Unser Kapitän protestierte 
feierlichst. Der Admiral hatte noch ein Dampfschiff nachgeschickt. Ein kl. 
Kutter, der den Dienst zwischen hier und Paros thut, ward auch eingeholt; 
da er nicht wenden wollte (er hatte 6 Mann an Bord) stiegen die Engländer 
hinein und wendeten ihn selbst und brachten ihn auf den alten Ankerplatz. 
Um Mittag den 19. begab sich der Wyse mit dem Admiral und der Gesandt- 
schaft hinab; sie durchfuhren die belebteste Strasse, hoffend insultiert zu 
werden; die Menschenmenge drehte ihnen den Rücken zu und schwieg trotz 
der furchtbaren Wuth, aber sie haben politischen Takt und wissen was nichts 
hilft und schadet. Wyse liess Londos avertieren, er gingen für 6 Tage auf 
die Flotte zum Besuch —, nimmt seine Pässe nicht, erklärt nicht den Krieg 
und handelt wie ein Pirat; denn denke Dir, auf einmal kommt die Nachricht 
dass die Engländer unser Dampfschiff und Kutter genommen haben und nach 
Ambelacki, den Hafen von Salamis gebracht haben, und der Wyse aveitiert 
immer unsere Minister hernach, dass der Admiral sich genöthigt sah, unsere 
Schiffe zu nehmen und nach Salamis zu bringen, weil sie gestern versuchten, 
auszulaufen, notabene das Dampfschiff vor der Erklärung, — und er würde 
sie behalten, bis wir die Verlangen erfüllt hätten. Andere Dampfschiffe wurden 
ausgeschickt, unsere übrigen Schiffe zu holen. Die Piraten stiegen an Bord 
des Dampfschiffes, lichteten die Anker und nahmen es ins Schlepptau, weil 
unsere Leute sich nicht ergeben wollten. Einstweilen hatten beide Kammern 
sich für die Haltung unseres Gouvernements einstimmig ausgesprochen; im 
Senat ergriff Tocknyis, der Engländer, das Wort, billigte die Handlungsweise 
des Ministeriums und ermahnte es auf dem Wege des Rechtes, der Ehre des 
Throns und der Unabhängigkeit des Landes zu verharren. Frankreich und 


104 Aus alten Handschriften. 


Russland protestirten offiziell als garants unserer Unabhängigkeit gegen diese 
Gewaltakte. Frankreich süperbe; unsere Protestation wird Dir auch ge- 
fallen. Im Volke ein Zähneknirschen der Wuth, aber auch der fest ausge- 
sprochene Wille, lieber Haus und Hof verlieren, als den jonischen Inseln 
gleich zu werden. Gestern Morgen wie ich aufstand und zum Fenster hinaus- 
sah, und der Gedanke mich erfasste, das Meer sei nicht mehr unser, und 
die englischen Dampfschiffe darauf herumwogten, oh! da kochte mein Blut, 
ich ward wüthend, und als ich in die Kirche ging, kämpfte ich einen schweren 
Kampf, zum ersten Mal wurde mir die Bitte schwer, vergieb mir meine 
Schuld, wie ich vergebe meinen Schuldigern. Es war ja unser Land, das 
beschimpft, gekränkt, mit Füssen getreten wird. In der Epistel hiess es: 
segnet, die euch verfolgen, segnet und fluchet nicht. Ich ward ruhiger, aber 
zornig war ich, da sah ich die Piraten wieder mit einem kleinen Kanonen- 
boote ankommen, das sie wahrscheinlich in Paros raubten, Gottlob ist die 
Amalie in der Reparatur und ihr wird der Schimpf erspart. Wir ritten als 
am Sonntag hinab zur Musik, mit welcher unendlichen Liebe grüssten uns 
die Leute, als wir durch die Stadt ritten, wie sahen sie uns an, als das Pala- 
dium ihrer Unabhängigkeit, und wie wir zur Musik kamen, wo viele 1000 
versammelt waren, da ertönte ein donnerndes Hoch, und immer wieder, es 
lebe der König, die Königin, das Vaterland, unsere Nationalität; und wie 
das Stück aus war und wir herumritten wieder, da ertönten griechische 
Weisen, und das Rufen war donnerähnlich, und die russischen, französischen, 
österreichischen Oifiziere, Alles war hingerissen von der Macht des Augenblicks und 
Alle riefen und schwenkten ihre Kappen und wie wir fortritten und jeder Einzelne, 
dem wir begegneten von den Leuten, rief noch sein, es lebe unser König und unsere 
Königin, und die italienischen Flüchtlinge und die Polen sogar riefen, dem Volke 
erzälllend, wie die Engländer sie hineingebracht ins Unglück und sie hätten 
hernach sitzen lassen. Es war ein grossartiger Moment, ganz Europa mit 
seinen verschiedenen Nationalitäten Griechenlands Könige zurufend, ihm, dem 
Bedrängten, dem Gekränkten diese Sympathie zeigend. Europas allgemeine 
Meinung brandmarkte England. Wir ritten spazieren, als wir durch die 
Stadt abends 6 Uhr nach Hause ritten, fanden wir auf dem Kreuzwege bei 
der Bella greccia 1000 versammelt und das Rufen ging wieder los, mit welcher 
Liebe umdrängten sie uns, vom General zum Soldaten, vom Senator und 
Deputierten, bis zum einfachen Bürger, und so geleiteten sie uns, König, 
Vaterland und Nationalität leben lassend, ins Schloss. Unsere Pferde konnten 
garnicht gehen, so stark war das Gedränge. Als der Otto abstieg, stürzten 
sie sich über ihn, küssten ihm die Hände, die Fusstannelle (Offiziere, Bürger); 
es war rührend, man sah, wie klar das Volk die Gefahr sah, die es läuft, 
wie es die Nation hasst, die seine Unabhängigkeit angreift. Wir traten noch 
auf den Balkon und aufs neue donnerte es „Hoch“. So etwas habe ich nie 
erlebt und ich kenne doch des Südens Enthusiasmus, aber dieses war ein 
Ernst, eine Festigkeit in den Leuten, dass ich Gott nur danken konnte, der 
uns würdigte über ein solches Volk zu herrschen und ihn bitten, uns immer 
mehr unseres grossen Berufs würdig werden zu lassen. Ich sagte auch, wir 
können die Engländer nur segnen, die das Band zwischen König und Volk 
noch inniger knüpften, gegenseitig noch mehr lernten, was sie aneinander 
haben. Vom Schlosse zogen sie zum französischen und russischen Gesandten 
und dem Minister des Auswärtigen und brachten den drei auch ein Hoch. 
Wem sie auf der Strasse begegneten, musste den König leben lassen. Dabei 
keine Unordnung, keine missliebige Demonstration gegen das englische Hotel 


Aus alten Handschriften. 105 


oder Maurocordatos, dazu sind sie zu stolz; man soll sehen, was wir sind. 
Es ist eine edle Nation. Die Engländer waren besoffen, Offiziere boxten sich 
auf den Strassen, die beiden Tage der Unterhandlung; jedermann wusste 
Alles, die Engländer schlugen, pufften, die Griechen zogen sich zurück und 
ermalınten sich gegenseitig zur Vernunft, in der guten Sache nicht zu schaden. 
Alle Zeitungen schreiben gegen die englischen Piraten Massregeln. Gestern 
waren wieder Sitzungen in beiden Kammern und beide waren ganz einver- 
standen mit dem Gouvernement. Man erwartet die französische Flotte, der 
russische Geschäftsträger war so gut, das österreichische Kriegs-Dampfschiff 
kommen zu lassen, das gerade hier in den Gewässern war, und es der grie- 
chischen Regierung zur Disposition zu stellen im Nothfalle. Die russischen 
Offiziere sind so ausser sich, was unter ihren Augen geschieht, das sie fort 
wollten, mit Mühe hielt sie Persianny, dem Wyse immer Zufriedenheit aus- 
drückte. Ich glaube Folgendes: Lyons hat in London fort gearbeitet und 
Lord Palmerstone weiss garnichts; wenn die Flotte erscheint, wird ganz 
Griechenland aufstehen, Maurocordatos verlangen und der König, von der 
öffentlichen Meinung bezwungen, ihn nehmen müssen und dann mit ihm die 
Sache à l’amiable arrangieren. Oder es ist ein inniges Einverständnis mit der 
Türkei. Sie glaubten hier ein verhasstes Ministerium zu finden und fanden 
ein gutes, starkes, aus Leuten, die ehemals der englischen Parthei angehörten 
und mit dem sogar die Opposition zufrieden war, aber das war in London 
nicht bekannt, anders glaubten sie den Geist, anders zeigte er sich ilınen; 
sie hatten auch noch auf die Flüchtlinge gehofft als Ruhestörer und niemand 
erzählt lebhafter die Perfidie der Engländer, als diese ihre Opfer, die Sache 
schien fein angelegt, ist aber nicht geglückt. Dabei haben sie vergessen, dass 
die beiden anderen Mächte mitzureden haben, haben vergessen, dass Frank- 
reich, mit denen sie gestern in der türkischen Frage noch Hand in Hand 
gingen, sich einen solchen Betrug unmöglich, schon seiner Ehre halber, ge- 
fallen lassen wird. Unsere Haltung muss folgende sein, Ruhe, Festigkeit, 
keine Fanfaronaden, passiver Widerstand solange wie möglich. Greifen sie 
unse e Festungen oder die Hauptstadt an, so schlugen wir uns, und Ruhe im 
Lande erhalten, glückt uns das mit Gottes Hilfe, und können wir die sechs 
Wochen überleben, die vergehen, bis Europa handeln kann, so sind wir 
Sieger. Die Gefahr sind die Rebellen, die England uns bringen wird aus 
der Türkei, darum alle Massregeln nehmen, ehe sie einfallen, denn das ist, 
was sie tun werden, da das Volk fühlt, mit Türken werden die Rebellen 
kommen. Gott ist mit Griechenland, er wird es stärker aus dieser Krisis 
hervorgehen lassen und Europa beweisen, dass es einer schönen Zukunft wert 
ist, wir, Griechenland, sind jung, wir werden leben, wenn England nicht 
mehr ist. Aber lieber untergehen, als den Piraten Vasallen sein. Kaphalonien 
schwebt auch den Griechen als Beispiel vor. Unsere Berge sind Festungen, 
wo sie sobald nicht hinkönnen, wir werden uns zu halten wissen, bis ein 
Schrei der Indignation Europa zwingt, den Schwachen zu stützen. Europa 
soll sehen, dass Deutsches Fürstenblut in unseren Adern fliesst, das wir 
keine indischen Fürsten sind, Europa soll sehen, das wir ein stolzes - und 
edles Volk beherrschen und wir lieber Brot essen unabhängig, als unter 
englischen Kanonen uns in Samt und Seide hüllen. Glücklich, der in seiner 
Jugend geprüft wird und seine Kräfte übt, er wird zu einem kräftigen 
Mannesalter heranreiſen und im Alter die Früchte seiner Kämpfe geniessen; 
glücklich Griechenland, das da lernt seine Kräfte brauchen, sich fühlen, da 
es im Recht ist, Gott wird den Schwachen beistehen. England hat uns nach 


106 Aus alten Handschriften. 


und nach vorbereitet und durch die Uebung im Widerstande gestärkt. So 
ohne Recht gegen jeden Brauch und alles Völkerrecht handelnd, das ist 
scheusslich. Nur einige characteristische Züge aus dem Volk lasse Dir er- 
zählen. Kein Lastträger bringt ihnen Kohlen, sie mussten Maltheser kommen 
lassen, die Fuhrleute wollten sie nicht herabfahren, der gemeine Mann urteilt 
so richtig und sagt, geben wir diesesmal nach, so sind wir verloren. — 
Eben erfahre ich die Fortsetzung der Gewalttaten der Piraten. Nach Paros 
kommen sie und ohne die Sanitätsgesetze des Landes nur im Geringsten zu 
beachten, raubten sie alles in Paros, was sie fanden, bis zur Barke, und 
heute lassen sie kein Handelsschiff mehr ein und aus dem Pyräus, lassen 
nicht mehr einladen, und wer ausladet, muss an einem anderen Platz als 
die Douane ausladen und das alles ohne Kriegserklärung, ohne Alles. 
ER den 22. Sie blockieren auch Syra und Patras ohne Erklärung. 
Thouvenel, der vertraulich sich bei Wyse erkundigte, ob Krieg oder Friede 
sein, und ernstlich aufmerksam machte, erhielt eine ausweichende Antwort, 
wie England nur seine Untertanen schütze usw. Wie ungeschickt, gerade 
einen Juden gewählt zu haben, um ihren Hass durchzuführen, hier, wo man 


noch nicht so civiliert ist und — nun das gehört nicht hierher, ungläubig 
wollte ich sagen, Juden zu emanzipieren, dafür zu schwärmen. — Nun muss 


ich Dir noch etwas eigenes erzählen; als ich neulich Elimars Brief bekam, 
war darauf eine Oblate, ein Kind auf dem Steckenpferde mit der Umschrift, 
Krieg oder Friede, in demselben Augenblick war dieser Scherz bittrer Ernst 
bei uns; das mächtige England stellte die Frage dem kleinen schwachen 
Griechenland. Es machte mir einen eigenen Eindruck, wie jedes Kind seinen 
Schutzengel hat, so steht auch uns der Glaube, das Gottvertrauen und die 
Gnade Gottes zur Seite. — Seit gestern nach den Frühlingslüften, Kälte, 
Schnee, da freuen wir uns boshaft, dass die Engländer frieren werden auf 
ihren Schiffen. — Ich vermute, Otto wird Gesandte nach Paris und Peters- 
burg schicken, es ist höchst notwendig. Mein Otto ist wohl und wie immer 
wenn es gilt ein rechter Fürst, ritterlich und ohne Furcht, aber zornig mit- 
unter, gewöhnlich aber Ruhe, Würde und Heiterkeit zeigend. Wenn es so 
recht bunt hergeht, ist Otto immer heiter. Ich ende diese lange Epistel, 
mein Papa. Durch Wiwis Brief erfuhrst Du schon, warum dieser etwas 
später kommt, durch sie wirst Du aber schon alle Papiere bekommen haben. 
Die Engländer geben zu verstehen, dass es sich nicht um die Unabhängig- 
keit des Landes handle, sondern der Grund ein anderer sei, sie zeigen auf 
den König, der sei Schuld an Allem. Lebe wohl, mein engels Papa, segne 
Deine Kinder, bete für uns, das Gott uns Kraft gebe, das Rechte zu erkennen, 
zu tun, und uns Schwachen beistehe, dass er dieses Land, das er durch 
Wunder werden liess, bewahren wolle und seine Hand nicht von ihm ab- 
ziehe. Gott bewahre meinen Engelspapa vor Unangenchmlichkeiten, erhalte Dich 
gesund und frisch. 
Deine Dich ewig liebende Tochter 


Amalie. 


* 


Soeben teilt der englische Consul mit, dass, da das bisherige Ver- 
fahren nichts genützt, strengere Massregeln genommen werden sollen. 


107 
Dr. H. Smidt: Nochmals der Fall Nogi. 


nter dem frischen Eindrucke der Nachricht vom Selbstmorde General 

Nogis schrieb Ular seinen Artikel in der vorigen Nummer unserer 

Zeitschrift. Inzwischen sind wir in die Lage gekommen, die Motive, 
die den alten Helden in den Tod trieben, kennen zu lernen. Vor mir liegt die 
„Deutsche Japan-Post“ vom 21. September mit einer authentischen Über- 
setzung seines Testamentes. Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, an der 
Hand dieses Dokumentes zu prüfen, ob die Voraussetzungen zutreffen, auf 
deren Grund Ular zu einem absprechenden Urteile über die Tat und weiter 
über Japans Kultur kam. 

Aus dem ersten Artikel des Testamentes, dessen Inhalt seither aus 
russischen Zeitungen, zum besseren Verständnis für europäische Leser über- 
redigiert aber nicht entstellt, auch in die heimische Presse ger eh geht 
nun folgendes hervor. 

Durch Nogis Schuld ging in dem Kriege gegen den großen Rebellen Saigo 
Takamori 1877 die Fahne seines Regimentes verloren. Nach altjapanischen 
Anschauungen hätte nun Nogi diesen Flecken auf seiner Ehre nur durch 
Selbstmord abwaschen können. Aber sein Kaiser wollte den tüchtigen Mann 
nicht fallen lassen. Er berief ihn auf immer wichtigere Posten, und Nogi 
dachte modern genug, um das kaiserliche Vertrauen und die ihm daraus er- 
wachsenden Pflichten höher zu stellen als die Befriedigung des traditionellen 
Ehrenkodexes. Nunmehr hat aber der Schmerz über den Tod seines Herrn 
die alte Wunde wieder aufgerissen. Er erinnert wieder an jenes unglückliche 
Ereignis und fährt dann fort: „Ich folge jetzt Seiner Majestät auf dem 
Wege des Todes durch Selbstentleibung. Ich bitte um Verzeihung, denn ich 
begehe damit ein schweres Verbrechen. Nach und nach werde ich alt 
und schwach, und die Zeit, wo ich etwas leisten kann, ist zur Neige ge- 
gangen.. Jetzt habe ich daher den festen Entschluß gefaßt, zu sterben.“ 

Hält man sich vor Augen, daß der Selbstmord an sich für den Japaner 
von heute zwar verboten, aber nicht entehrend ist, so machen uns die ange- 
gebenen Motive die Tat Nogis durchaus verständlich. Ein sehr feines Ehr- 
gefühl, das die längst gesühnte Verfehlung nicht vergessen kann, heiße Liebe 
zum Herrscher, dessen Tod aufs tiefste erschüttert, wer von uns wagt das 
rückständig zu nennen? Von einer abergläubischen Idee der persönlichen 
Gefolgschaft im Jenseits finde ich hier nichts. Daß dergleichen einmal in 
Japan bestand, soll gar nicht geleugnet werden. Aber das Verbot der 
Menschenop’er am Grabe des Herrschers datiert aus dem Jahre 2 vor Christus. 
Das ist etwas lange her. Und wenn Jeyasu im Anfange des 17. Jahrhunderts 
noch gegen den Junshi (freiwilligen Vasallentod) mit seinem 76. Artikel vor- 
gehen mußte, so mag uns das nicht weiter überraschen von einem Zeitalter, 
in dem in Europa der Duellunfug derartig blühte, daß sich, in Hamburg 
zum Beispiele, sogar die Nachtwächter kommentmäßig auf Leben und Tod 
schlugen. Die dem Junshi zu Grunde liegende Idee dürfte aber im heutigen 
Japan kaum noch irgendeine Bedeutung als Selbstmordmotiv haben. Weder 
Chamberlain noch Mitford, noch Papinot, lauter Autoritäten hohen Ranges, 
noch ganz neuerdings Nemosuke Fujisawa erwähnen in ihren Artikeln über 
Harakiri etwas davon. 

Man kann ja nun schon die stark betonte Liebe zum Verstorbenen als 
„Totenkult“ bezeichnen. Aber Ular hält doch kaum den Totenkult als solchen 


108 Dr. H. Smidt: 


für eine rückständige Sache. Es kommt auf die Motive an. Nun entspringt 
die ethische Kultur Japans drei Hauptquellen. Die uralte nationale Natur- 
religion Japans, der Shinto, ist selbstverständlich voll „abergläubischer“ 
Momente, und der orthodoxe Shintopriester dürfte nicht viel aufgeklärter sein als 
ein Tiroler Kurat. Ganz anders liegt die Sache aber beim Buddhismus und 
der Lehre des Konfuzius, die beide den höchsten Einfluß auf die Gestaltung 
der japanischen Psyche gehabt haben; deren Auffassung der Pflichten gegen 
die Toten vertragen sehr wohl eine moderne Kritik. 

Die buddhistischen Anschauungen über Totenehrung beruhen auf der 
Lehre von der Seelenwanderung und vom Karman: „Das Los des Menschen 
hängt von den guten und schlechten Taten ab, die seine Seele in früheren 
Inkarnationen angesammelt hat.“ Das ist uralte indische Weisheit, die sich 
mit unserem Entwicklungsgedanken sogar besser verträgt als unsere christ- 
liche Vergeltungslehre. Sie lehrt den Buddhisten gleicherweise die Ehrung 
der Vorfahren und die Sorge um Reinhaltung des eigenen Tugendschildes. 

Konfuzius und andere chinesische Weise machten die Liebe zu den 
Eltern, die Grundlage des Ahnenkultes, auch zur Grundlage ihrer Ethik, weil 
sie in ihr die festeste Stütze der menschlichen Gesellschaft sahen. Wenn wir 
den Juden ihre kindliche Pietät auf ihr Pluskonto schreiben, so haben wir 
eigentlich keine Veranlassung, den fernen Osten deshalb zu tadeln. 

Aber das Kleben an der Tradition ist ein Hemmnis für die Kultur, 
das scheint mir Ulars leitender Gedanke zu sein. Und nun kommen wii 
eigentlich an den Kernpunkt des Artikels und, gestehe ich es gleich, an die 
größte Meinungsdifferenz, die mich von seinem Autor trennt. Er schreibt 
dem Volke die höchstentwickelte Kultur zu, „in welchem die verhältnismäßig 
größte Anzahl von Individuen sich durch eigene Energie und eigene Über- 
legung... eine Weltanschauung gewonnen hat.“ 

Wir wollen hier nicht darauf eingehen, daß ein solcher Kulturmaßstab 
nirgends anlegbar ist, und daß mich infolgedessen niemand Lügen strafen 
könnte, wenn ich behaupten wollte, die Japaner hätten sich seit dem Ein- 
dringen europäischer Philosophie und Theologie eifriger, erfolgreicher und 
in größerer Anzahl mit Weltanschauungsfragen beschäftigt als die Europäer. 
Wir wollen nur konstatieren, daß eine solche Definition allen Begriffen 
widerspricht, die man bisher mit dem Worte „Kultur“ verband. 

„Kultur“ ohne einschränkende Beiworte bedeutet im volkspsycholo- 
gischen Sinne selbstverständlich nicht das Pflegen oder den Zustand eines 
einzelnen Seelen vermögens, sondern aller psychischen Eigenschaften. Niemand 
kann dekretieren, daß nur die Pflege des Intellektes ein Volk zum Kultur— 
volke mache. Wollen wir die Kulturhöhe zweier Völker vergleichen, so 
müssen wir nicht nur ihre intellektuellen Leistungen, sondern auch die Fein- 
heit ihres ästhetischen und ethischen Fühlens abzumessen suchen. Das ver— 
meidet aber Ular. Sich auf seine oben mitgeteilte Definition beziehend, sagt 
er: „Hierin allein liegt die europäische Kultur, und jeder andere Maßstab 
würde sie unter die mohammedanische oder indische stellen.“ Er gibt damit 
zu, daß Europa mit seiner ethischen und ästhetischen Kultur keinen Staat 
machen kann, und will doch um alles nicht darauf verzichten, ihm die Palme 
zu reichen. 

Nun ist aber die intellektuelle Kultur die labilste, sie kann am leich— 
testen entstehen, am leichtesten vergehen, am leichtesten übertragen werden. 
Wie der Einzelne bei uns sich in plus minus einem Dutzend Schuljahren aus 
dem Wissensschatze Europas das ihm Nötige aneignet, so hat Japan die ge- 


Nochmals der Fall Nogi. 109 


samte intellektuelle Kultur Europas in wenig mehr als einem Menschenalter 
mit Sack und Pack übernommen, beiläufig gesagt, ein starkes Stück für ein 
Volk, das unrettbar unter der Macht der Toten stehen soll. Es baut seine 
Dreadnaughts ohne frenide Hilfe, es nimmt nicht nur Europas Weisheit auf, 
es mehrt sie auch trotz gegenteiliger Behauptungen selbständig. Um nur 
Einiges herauszugreifen: die Leistungen seiner Mediziner auf dem Gebiete 
der Bakteriologie sind weltbekannt und seine Denker machen uns die steilen 
Pfade nordbuddhistischer Philosophie erst gangbar und erölinen uns damit 
eines der interessantesten Gebiete menschlicher Geistesarbeit. 

Alles ganz schön und gut, mag der Autor sagen, aber die Wissenschaft 
wurzelt in Japan doch nicht fest genug, um die Tradition zu verjagen. Ich 
kann die Tatsache weder bejahen noch verneinen, wir kommen da auf in- 
commensurable Dinge. Aber warum sollen wir uns eigentlich absolut „von 
den Toten befreien?“ Die Toten haben doch gelebt, gefühlt, geschaffen, 
gelernt wie wir, und ein Volk verarmt doch innerlich rettungslos, wenn es 
all' die geistigen Schätze, die seine Vorfahren angehäuft haben, verschleudert. 
Es muß alle Arbeit von vorn anfangen und entbehrt jeden Maßstabes, um 
den Wert des Neuen abzuschätzen. Dem marchand de nouveautés mag es 
allerdings ganz recht sein, wenn wir seine neueste Mode stets für die aller- 
schönste halten. Wer den „Fortschritt“ aber so kritiklos auffaßt, endet un- 
fehlbar im geistigen „Kitsch“. Gerade der Totenkult wirkt dem entgegen. 
Doch genug davon. Eine einigermaßen erschöpfende Auseinandersetzung 
hierüber würde Bände füllen. 

Wie uns das Beispiel Japans zeigt, läßt sich die Summe menschlichen 
Wissens auch einem Volke überliefern, das nicht schon seit Jahrhunderten die 
Wissenschaften auf europäische Art betreibt. Ethischen und ästhetischen 
Hochstand kann aber ein Volk nicht importieren. Daran müssen viele Gene- 
rationen züchten. Räumt ein Volk mit seinen Traditionen auf, so müssen 
Ethik und Ästhetik zuerst daran glauben. So auch in Japan, wo europäische 
Einflüsse vielfach zerstörend und verzerrend gewirkt haben. Immerhin ist 
noch genug des Guten übrig geblieben. | 

Die Japaner sind gewiß keine Engel. Die Unzuverlässigkeit ihrer 
Kaufleute schreit zum Himmel, und die unter der Maske der Höflichkeit ver- 
steckte Oeringschätzung der „westlichen Barbaren“ macht sie uns nicht 
sympathischer. Aber sie haben im russischen Kriege glänzend abgeschnitten. 
Nicht daß sie die Russen besiegten, sondern wie sie sie besiegten, ist maß- 
gebend. Alle Beobachter aller Nationen sind darin einig, daß die Freudig- 
keit, mit der jeder einzelne Not und Tod fürs Vaterland ertrug, vorbildlich 
war, und ebenso die Milde und Menschlichkeit, mit der der geschlagene 
Gegner behandelt wurde. Und jeder, der mit Japanern verkehrt, die noch 
nicht allzu intim mit Europäern in Berührung gekommen sind, rühmt ihre 
Alltagsethik: Höflichkeit, Güte, Rücksicht, lauter Eigenschaften, die wir mit 
mäßigem Erfolge durch Polizeiverordnungen zu ersetzen suchen. Das sind 
Dinge, die wir ihnen ruhig gutschreiben dürfen. 

Daß der Durchschnitts-Japaner ästhetisch erheblich feinfühliger ist als 
der Durchschnitts-Europäer, das ist gar keinem Zweifel unterworfen. Jedes 
Objekt, das nicht für den europäischen Bedarf gearbeitet ist, lehrt es, jede 
nationale Festlichkeit. Wer von chinesisch-japanischer Kunst geringschätzig 
spricht, kennt sie nicht oder ist überhaupt nicht in der Lage, sich in eine 
fremdartige Kunst einzufühlen. Noch immer ist der ästhetisch empfängliche 
Mensch, der Gelegenheit hatte, klassische fernöstliche Kunst zu studieren 


110 Dr. H. Smidt: Nochmals der Fall Nogi. 


(nicht nur die spielerische Kunst der Tokugawazeit, die etwa unserem Rokoko 
entspricht), vom Saulus zum Paulus geworden. 

Und nun noch eins: Seit Percival Lowell beruhigt sich der ängstliche 
Europäer damit, der Japaner, überhaupt der Asiate sei kein Individualist 
und darum minderwertig. Ich rate dringend, ehe man sich in Ruhe wiegt, 
diese Lehre noch einmal zu revidieren. 

Die Annalen der japanischen Geschichte des Mittelalters strotzen von 
eigenwilligen Charakteren, die ihr Leben furchtlos einsetzten, um ihre Ideale 
zu behaupten. Wenn es auch den Tokugawa-Shogunen gelang, durch eiserne 
Faust und eine raffinierte Gesetzgebung die Unbändigen im Zaume zu halten, 
so spielte sich unter unseren Augen während und nach ihrem Sturze das 
Schauspiel des Zusammenprallens scharf geprägter Individuen in großartiger 
Weise ab. Der milde Buddhismus wird in Japan der Anlaß zu heißen 
geistigen und physischen Kämpfen. Und der friedliche Wettkampf eigenartiger 
Talente und Genies auf dem Gebiete der bildenden Künste tritt zwar in 
anderen Formen auf, ist aber durchaus nicht weniger lebhaft als in Europa. 
Man muß nur nahe genug stehen, um das zu erkennen. Von der Spitze des 
Montblanc aus ist allerdings die ganze Menschheit nur ein wimmelnder 
Ameisenhaufen. 

Wir Deutsche sehen die Welt gern durch eine enge Röhre an. Was 
in ihren Gesichtskreis fällt, sehen wir besonders scharf. Was aber jenseits 
unserer klassisch- orientierten Bildungssphäre liegt, existiert für die meisten 
von uns nicht. Wer mehr vom fernen Osten wissen will, als er aus per- 
sönlicher Anschauung oder aus oberflächlichen Reiseberichten lernen kann, 
muß sich leider zumeist an englische und französische Quellen wenden. Das 
sollte anders werden. Auch wer keine besondere Sympathie für die gelbe 
Rasse hegt, sollte sich nicht abhalten lassen, sie aufs eingehendste zu stu- 
dieren. Wenn wir einmal an dem großen Ringen um die Weltvormacht, dessen 
Anfänge wir schon erleben, teilnehmen wollen, dürfen wir die Gegner nicht 
unterschätzen. Sonst machen wir ihnen den Sieg allzu leicht. 


111 


Dr. Ernst Schultze: Das Zurückbleiben Englands 
auf technischem Gebiet. 

eitblickende Engländer klagen wieder und wieder darüber, daß die 

Vernachlässigung der technischen Wissenschaften 

dem Wirtschaftsleben ihres Landes schwere Niederlagen ver- 
ursacht habe. Welche Schwierigkeiten sich für die Fortentwicklung des 
Wirtschaftslebens und der Technik in England ergeben haben, weil man die 
Theorie auf Kosten der Praxis unterschätzte, zeigt sich klar an dem Beispiel 
der Teerfarben- Industrie, die — ursprünglich eine englische Erfindung — 
in wenigen Jahrzehnten in Deutschland ihre höchste Ausbildung erhielt, 
so daß die Engländer nicht nur ihren Vorrang darin einbüßten, sondern 
daß auch der innere englische Markt in stärkstem Maße von der deutschen 
Produktion abhängig geworden ist. 

1856 hatte W. H. Perkin den Farbstoff Mauvein (Malvenfarbe) entdeckt 
und damit die Grundlage zu der Teerfarbenindustrie gelegt. Der Farb- 
stoff färbt die tierischen Fasern sowie Jute ohne Beizen, die übrigen Pflanzen- 
fasern unter Anwendung von Gerbstoffbeize violett. Schon zwei Jahre 
später gelang es fast gleichzeitig zwei anderen Chemikern, Nathanson 
und A. W. Hofmann, einen roten Teerfarbstoff, das Fuchsin, herzustellen. 
Das Mauv£in ist im Laufe der Zeit fast ganz aus dem Gebrauch verschwunden, 
während das Fuchsin seine Bedeutung behalten hat. An seine Seite trat im 
Laufe der Jahre eine lange Reihe anderer Teerfarbstoffe, um deren Her- 
stellung sich insbesondere der Berliner Chemieprofessor A. W. v. Hofmann 
verdient machte. Die erste technische Herstellung von Teerfarben gelang im 
Jahre 1862. Mehr und mehr haben dann neben Hofmann auch andere 
deutsche Chemiker eine ganze Kette von Teerfarben entdeckt und die tech- 
nischen Verfahren zu ihrer Herstellung und Anwendung so verbessert, daß 
die Teerfarbenindustrie heute in keinem Lande der Welt so entwickelt ist wie 
in Deutschland. 

Großbritannien ist, da es in der wissenschaftlich-theoretischen Weiter- 
bildung dieses Gebietes völlig zurückgeblieben ist, auch in dessen wirtschaft- 
licher Ausnutzung in den Hintergrund gedrängt worden. So liefert denn 
Deutschland heute von der Weltproduktion an Farben etwa drei Viertel, und 
selbst auf dem englischen Markte hat es die Cberhand gewonnen. Während 
vor einem Jahrzehnt eine einzige große chemische Fabrik in Deutschland 
(etwa die Badische Anilinfabrik) außer ihren Arbeitern, Ingenieuren und 
Bureaubeamten 500 wissenschaftlich durchgebildete Chemiker beschäftigte, 
betrug die Gesamtzahl aller in England in der Teerfarbenindustrie beschäf- 
tigten Chemiker nur 30 oder 40. Die Ausfuhr von Teerfarben aus England 
fiel von 530 000 Pfund Sterling im Jahre 1890 auf 360 000 Pfund 1900; die 
Einfuhr dagegen, die 1886 erst 509000 Piund Sterling betragen hatte, hob 
sich 1900 auf 720 000 Pfund. Und um ein Beispiel aus der britischen Färbe- 
industrie zu geben, verwendete im Jahre 1901 die „Bradford Dyer’s Asso- 
ciation“ nur noch 10 % englischer Farben, 4% französischer, 6% schwei- 
zerischer — dagegen 80 % deutscher.*) 


) Zitiert nach einem Vortrage von Dr. A. G. Green in der Sektion für Chemie der Jahres - 
versammlung der „British Association“ im Jahre 1901, 


112 Dr. Ernst Schultze: 


Dennoch ist die öffentliche Meinung in England noch heute nicht von der 
Überzeugung des inneren Wertes, des Wesens und der Notwendigkeit einer 
voraussetzungslosen Wissenschaft durchdrungen. Man sucht die Nutz- 
losigkeit des Buchwissens etwa dadurch zu beweisen, daß man an 
Jakob I. erinnert, der als „the wisest fool in Christendom“ bezeichnet wird, 
und an Karl II., der „niemals etwas Törichtes sagte und niemals etwas Kluges 
tat (never said a foolish thing, and never did a wise one).“ Mit solchen 
Erinnerungen ist natürlich gar nichts bewiesen. 

Wie tief sich die Geringschätzung des Wissens in dem eng- 
lischen Geist eingenistet hat, hat ein Vorkommnis der letzten Zeit erneut be- 
wiesen. Die „Westminster Gazette“ berichtete am 24. April 1911, daß die 
verlagsbuchhandlung R. Oldenbourg in München ein internationales tech- 
nisches Lexikon herausgegeben habe, ein Werk von etwa 30 Bänden, das 
alle Gebiete des technischen Wissens berücksichtigt und jeden Gegenstand in 
deutscher, englischer, französischer, spanischer, italienischer und russischer 
Sprache behandelt. Dieses Werk werde in Deutschland, Frankreich und 
Rußland in Zehntausenden von Exemplaren verkauft — in England seien die 
Buchhändler kaum imstande, einige hundert Exemplare abzunehmen, und 
die meisten davon blieben auf ihren Regalen liegen, ohne daß sie sie ver- 
kaufen könnten. Wenn England daher im internationalen Wettbewerb zurück- 
gedrängt werde, so sei dies nicht zu verwundern. 

Die gleiche Beobachtung kann man von zahlreichen anderen Seiten 
bestätigt hören. Der Schwede Steffen schreibt darüber: „Die wirtschaftliche 
Kraft zu handeln ist bei dem Engländer wahrhaft großartig, aber nicht hin- 
länglich unter die Botmäßigkeit der Intellektualität gebracht. Es ist eine 
mehr tierische als geistige Tatkraft, die sich von Einzelfall zu 
Einzelfall weitertastet, von der Hand in den Mund lebt und sich für den 
Tag zweckentsprechend einzurichten sucht, ohne darüber zu grübeln, ob da- 
durch Zweckmäßigkeit für die lange Zukunft, die unfehlbar mit heute anfängt, 
zu erzielen ist.“*) 


Auch Shadwell äußert sich im selben Sinne. Er meint, daß sich in 
Deutschland und in den Vereinigten Staaten weit mehr Verlangen nach posi- 
tivem Wissen zeige als in England; er setzt Deutschland in dieser Beziehung 
an die erste, Amerika an die zweite Stelle.**) 


An der Spitze aller Mängel, die unter den kulturpsychologischen 
Eigentümlichkeiten des englischen Geistes zu beobachten sind, steht das 
starre Festhalten an der Gewohnheit. Wie unpraktisch diese auch 
sein, wie sehr sie mit den Bedürfnissen der Gegenwart im Widerspruch 
stehen mag — ganz gleichgültig, der Engländer klammert sich mit aller Kraft 
daran fest. Er liebt über alles die Beständigkeit. Im Grunde seiner Seele 
ist er durchaus konservativ, wie demokratisch er sich auch in mancherlei 
Dingen gebärden mag. Er wünscht, daß das Altgewohnte beibehalten werde, 
so wenig es sich auch für unsere Zeit eigne. Deshalb sitzt der Sprecher des 
Unterhauses noch immer auf seinem Wollsack und schwitzt unter seiner Pe- 
rücke; deshalb ist das gesamte politische und juristische Leben der Nation 


) Gustaf F. Steffen: England als Weltmacht und Kulturstaat. Studien über politische, 
intellektuelle und ästhetische Erscheinungen im britischen Reiche. Deutsch von Dr. Oskar Reyher. 
2. Auflage. (Stuttgart: Hobbing & Büchle, 1902.) 2. Band: Der Kulturstaat, Seite 197. 

*) Arthur Shadwell: England, Deutschland und Amerika. Eine vergleichende Studie 
ihrer industriellen Leistungsfähigkeit (Industrial Efficiency). Deutsch von Felicitas Leo. (Berlin, 
Carl Heymanns Verlag, 1908.) Seite 30. 


Das Zurückbleiben Englands auf technischem Gebiet. 113 


mit tausend alten Bräuchen und Gewohnheiten durchsetzt. Sie wirken male- 
risch, erhalten den Zusammenhang mit der Vergangenheit und verbrauchen 
Zeit und Kraft, sind aber dem Fortschritt nicht unter allen Umständen 
hinderlich. Wo jedoch die Vorliebe für das Altgewohnte mit dringenden Be- 
dürfnissen der Gegenwart in Widerstreit kommt — da erweist sich der Sieg 
des ersteren für den Fortschritt der Kultur als ein Heminnis, das vielleicht 
erst nach Jahrzehnten überwunden werden kann. Fast alle Einrichtungen 
und Zustände im großbritannischen Inselreiche sind durchsetzt mit einer 
Menge von störendem Formelkram und zeitraubenden Gebräuchen, während die 
neuhinzugekommenen Bestandteile mit den alten zum Teil in scharfem Wider- 
spruch stehen, so daß zuweilen ein heilloser Wirrwar die Folge ist. Alles 
dies stört den Engländer nicht, er baut ruhig auf der Vergangenheit weiter, 
ohne sich dazu aufzuraffen, solche Überbleibsel aus früheren Jahrhunderten, 
die in unser Leben nicht mehr hineinpassen, kurzerhand zu beseitigen. 


Oder die zutage getretenen Übel müssen erst so unheilvolle Wirkungen 
ausgeübt haben, daß nun eben etwas anderes als ihre Beseitigung überhaupt 
nicht mehr möglich bleibt. Dann wirft er endlich alle Rücksicht auf die 
Vergangenheit über Bord und schafft neue Zustände, die — im Vergleich zu 
seinen sonstigen konservativen Gewohnheiten — durch ihren Radikalismus 
überraschen können. 

Im allgemeinen aber bewundert der Engländer, welcher Partei er auch 
angehört, die Einrichtungen seines Landes ganz ohne Rücksicht darauf, ob 
sie praktisch sind und ihren Zweck erfüllen. Ihm genügt es, daß es seine 
eigenen Einrichtungen sind, und er fühlt sich mit tausend Banden an sie 
geschmiedet, weil er an sie gewöhnt ist. Er würde es für unrichtig halten 
oder würde doch die Mühe scheuen, diese Ketten zu zerreißen. Deshalb 
gibt er zuweilen ungemein schlechten und unpraktischen Einrichtungen oder 
Verhältnissen den Vorzug vor besseren, weit zweckmäßigeren, die bei anderen 
Völkern schon längst ausgeprobt wurden und sich als sehr segensvoll er- 
wiesen haben. Es müssen sich schon die verderblichsten Folgeerscheinungen 
eingestellt haben, wenn er mit dem Wust der Vergangenheit aufräumen soll. 
Versucht irgendeine Bewegung, von den Zuständen auf einem bestimmten 
Kulturgebiet ein Idealbild zu zeichnen und die Verhältnisse der Gegenwart 
daran zu messen, um ihre Reformbedürftigkeit zu zeigen, so kann es sich er- 
eignen, daß der Engländer sich mit Seelenruhe davon abwendet und an seinen 
alten Einrichtungen festhält, obwohl er überzeugt ist, daß sie schlecht sind 
— nur weil die Konstruierung neuer Zustände aus einem Ideal heraus ihm 
nicht zusagt. „Den nahezu schlechtesten, ererbten Verhältnissen gibt er den 
Vorzug vor Änderungen auf der Grundlage bloßer Idealgestaltung, denn er 
weiß, daß die ersten wenigstens einigermaßen Resultate geliefert haben — 
they work, you know! — er argwöhnt aber mit seinem tiefsten Instinkte, 
daß die anderen überhaupt gar nichts taugen möchten. Das Ideal wird 
in England wie gemeinhin der Angeklagte vor dem Richter- 
stuhl behandelt — es gilt so lange als verbrecherisch, bis es seine Un- 
schuld bewiesen hat.“) C 

Die überwiegende Macht der Gewohnheit, die hier zutage tritt, äußert 
sich in den verschiedensten Erscheinungen des englischen Kulturlebens. Ins- 
besondere sei auf die unpraktischen Steuersysteme hingewiesen, die 
sich immer noch im wesentlichen auf dem Immobilienbesitz aufbauen, was 


) Steffen a. a. O. Band 1, Seite 66. 


114 Dr. Ernst Schultze: 


für die Wirtschaftsverhältnisse des Mittelalters passen mochte, heute aber 
ganz unbrauchbar ist; nun wird infolgedessen für jeden einzelnen Kultur- 
zweig eine besondere Steuer auf Grund dieses Immobilienbesitzes erhoben, 
die nach oben hin begrenzt ist, so daß auch solche Städte, die für einen be- 
stimmten Zweck mehr ausgeben möchten, dazu nur dann in der Lage sınd, 
wenn sie sich die Mühe machen, im Parlament in Westminster ein besonderes 
Gesetz darüber durchbringen zu lassen. Also Schematismus in seiner 
schlimmsten Form — genau das, was man in England häufig dem 
deutschen Staatsleben vorwirft. 

Das gesamte Maß- und Gewichtswesen Englands sowie die Einteilung 
der Münzen (des Pfundes in 20 Shillinge, des Shillings in 12 Pence, also 
nach zwei verschiedenen Systemen, die beide nicht mit dem Dezimalsystem 
zusammenfallen) ist bekanntermaßen überaus unpraktisch. 


In letzter Zeit hat insbesondere Lord Haldane darauf aufmerksam 
gemacht, wie schwer sich England selbst zurückgebracht habe, weil auf den 
verschiedensten Gebieten seines Kulturlebens dasjenige in 
allzu hohem Maße fehle, was man in Deutschland „Geist“ 
nenne. Matthew Arnold, auf den sich Haldane vielfach stützt, hat seinen 
Landsleuten einige Jahrzehnte früher dasselbe gepredigt. Haldane weist auf 
einen Ausspruch Goethes hin, der ebenfalls von Matthew Arnold zitiert 
wurde: „Der Engländer ist eigentlich ohne Intelligenz.“ So scharf diese 
Kritik klingt, — sollte sie ganz unberechtigt sein? 


Einen Kern von Wahrheit enthält sie sicherlich. Denn zweifellos ist 
es eine der hervortretendsten Schattenseiten des englischen Lebens, daß man 
zufrieden damit ist, ohne begriffliche Klarheit dahinzuleben. Man 
ist geneigt, in allen Dingen das Überkommene ohne weiteres zu übernehmen. 
Die Tatsache, daß es besteht, ist vielen Engländern Beweis genug dafür, 
daß es gut ist, oder daß es wenigstens unter allen möglichen Lösungen die 
am wenigsten schlechte darstellt. Mancherlei Mißstände, die sich verhältnis- 
mäßig leicht beseitigen ließen, werden daher von den Engländern mit rühren- 
der Geduld ertragen — nur weil sie alt sind. Überall dort, wo es auf 
Schärfe und Genauigkeit des Denkens ankommt, wo die begriffliche Durch- 
arbeitung bestimmter Fragen die Grundlage weiterer Fortschritte ist. treten 
sie hinter denjenigen Völkern zurück, die eine größere Begriffsschärfe ent- 
wickeln. 

So war schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts Frankreich als 
das Land der Theorie England als dem Lande der Praxis überlegen. Zwar hatte 
ein Engländer die Dampfmaschine erfunden, ebenso waren die Spinnmaschine 
und manche andere Erfindungen, die den Anstoß zu der gewaltigen maschinen- 
technischen Entwickelung der Neuzeit gaben, in dem Geiste von Engländern 
geboren worden — und dennoch stand Frankreich in theoretischer Beziehung 
voran. Sowohl im Maschinenbaufach wie im Bauwesen und in der tech- 
nischen Chemie, die gerade damals im Entstehen begriffen war, nahm die 
französische Wissenschaft die führende Stellung in der Kulturwelt ein. 
Selbst auf dem Gebiete des Schiffbaus waren die Franzosen den Engländern 
in kühnen Konstruktionen und überraschenden Problemlösungen überlegen. 
Sie übertrafen sie daher in der Eleganz wie in der Schnelligkeit der gebauten 
Fahrzeuge, so daß es in den Seekriegen jener Zeit von den englischen 
Flottenführern nicht sowohl als Aufgabe betrachtet wurde, die französischen 
Schiffe zu rammen oder in Grund und Boden zu schießen, als sie zu entern, 


Das Zurückbleiben Englands auf technischem Gebiet. 115 


um so die Geheimnisse ihrer Konstruktion für den Bau eigener Schiffe 
nutzbar machen zu können. 

Ebenso ist wohl die Tatsache, daß England sich in den letzten Jahr- 
zehnten auf manchen Gebieten der Technik von Deutschland hat über- 
flügeln lassen, auf ähnliche Gründe zurückzuführen. Lord Haldane hat 
in seiner Oxforder Rede 1911 auf die außerordentliche begriffliche Klarheit 
hingewiesen, die in Deutschland und ganz besonders in Berlin allenthalben 
zu beobachten sei. Wir verdanken diese Eigenschaft der Hochschätzung von 
Wissen und Bildung, dem leidenschaftlichen Verlangen nach diesen beiden 
Kulturgütern, sowie dem unablässigen Streben nach der Fortentwickelung 
des Einzelnen und des ganzen Volkes, die in Deutschland seit langer Zeit 
heimisch sind. Nur auf einem solchen Boden können sich für den gesamten 
Umkreis des technischen und wirtschaftlichen Lebens so günstige Folge- 
erscheinungen ergeben, wie sie uns zuteil geworden sind. Infolgedessen ist 
die Technik in Deutschland seit Jahrzehnten mit der Wissenschaft eng ver- 
knüpft. Losgelöst von ihr ist sie bei uns überhaupt nicht mehr denkbar, und 
einer ihrer wichtigsten Charakterzüge ist der geworden, daß jedes Abirren 
von dem Wege scharfer begrifismäßiger Durcharbeitung des Inhalts und der 
Formen technischer Arbeit heutzutage als verderblich empfunden wird. 

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war England unstreitig 
das Land der Erfindungen. Leider ist jene wichtige Epoche in der Ge- 
schichte des Erfindungswesens psychologisch noch nicht genauer untersucht 
worden. Einstweilen stehen wir daher wie vor einem Rätsel, wenn wir 
hören, daß die hochbedeutenden Erfindungen jener Zeit, die eine ungeahnte 
Tragweite besaßen, zum Teil Männern zuzuschreiben waren, die keinerlei 
Schulbildung besaßen. So stammte Brindley, der Erfinder der neuen 
Seidenspinnmaschine, aus der Hügelgegend von Derbyshire; von niedriger 
bäurischer Herkunft, später Fabriklehrling, zeigte er schon als Knabe eine 
umfassende, wahrhaft geniale Begabung für Mechanik und Maschinenbau. 
Hargreaves, der die epochemachenden Erfindungen auf dem Gebiete der 
Textilindustrie einleitete, stammte aus Lancashire und war Weber; er konnte 
weder lesen noch schreiben. Seine 1761 erfundene Kardiermaschine und die 
1767 von ihm ersonnene Feinspinnmaschine bilden die Grundlagen aller 
späteren maschinellen Verbesserungen auf dem Gebiete der Textilindustrie. 
Arkwright, der den Garnspinnstuhl wohl nicht erfunden, ihm aber doch 
zunächst die brauchbarste Form gegeben hat (1769), war ebenfalls von ge- 
ringer Herkunft. Crompton, der 1779 den Mulespinnstuhl erfand, war der 
Sohn eines ganz kleinen Bauern. Cartwright, der Erfinder des mechanischen 
Webstuhls (1785), war einer der wenigen englischen Erfinder jener Zeit, 
die einem höheren Stande angehörten: er war Geistlicher. Dagegen war 
wieder Henry Cort, der in jener Zeit den Puddelofen und das Walzverfahren 
erfand, ein ungelehrter Arbeiter. 

Ein Rückblick auf diese Blüteperiode des Erfindergenies in einer 
Zeit, in welcher der Volksschulunterricht erst in den allerkleinsten, noch 
kaum bemerkbaren Anfängen bestand, könnte zu der Ansicht verleiten — 
und zuweilen ist in England eine solche Behauptung aufgestellt worden —, 
daß die Volksbildung mit der Erfindergabe wie überhaupt mit technischem 
Geschick und technischer Fähigkeit nichts zu tun habe. Indessen liegt auf 
der Hand, daß dies ein Trugschluß schwerster Art ist. Denn jene Männer 
machten ihre Erfindung nicht deshalb, weil sie keinen Schulunterricht ge- 
nossen hatten, sondern obwohl ihnen ein solcher nicht zuteil geworden 


116 Dr. Ernst Schultze: 


war. Wie gesagt, entbehrt die Erfindungsgeschichte jener Zeit noch einer 
tieferen psychologischen Durchforschung. Aber gibt es nicht zu denken, 
daß die bedeutendsten Erfinder jener Epoche fast ohne Ausnahme dem 
Norden Englands entstammten? Hargreaves, Arkwright, Crompton und 
Henry Cort waren sämtlich in Lancashire geboren. In diesem selben Landes- 
teil haben die Bildungseinrichtungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts ge- 
schaffen wurden, die stärkste Benutzung und die begeistertste Aufnahme ge- 
funden. Zum mindesten sind doch also wohl geistige Regsamkeit und gei- 
stiger Trieb erforderlich als Vorbedingungen für die Ausbildung der Er- 
findungsgabe. Und daß die Durchbildung des Geistes mit Hilfe der im 
letzten Jahrhundert geschaffenen Bildungseinrichtungen nicht etwa überflüssig 
ist, sondern die Erfindungsgabe nähren und verstärken kann, liegt auf 
der Hand. 

Insbesondere nun, seitdem die anderen Völker Westeuropas alle Kräfte 
angespannt haben, um ihren Arbeiterklassen möglichst gute Bildungseinrich- 
tungen zur Verfügung zu stellen, ist es für England — wenn nicht in Rück- 
sicht auf sein inneres Geistesleben, so doch aus Gründen des inter- 
nationalen Wettbewerbs — eine unabweisbare Notwendigkeit ge- 
worden, auf demselben Wege zu folgen. Insbesondere Deutschland hat Groß- 
britannien auf technischem Gebiet in ungeahnter Weise überholt. Die Vor— 
herrschaft Englands auf diesem Felde beruhte größtenteils auf der Textil- 
und auf der Maschinenindustrie. Für die erstere Hietet das feuchte englische 
Klima, welches ermöglicht, feinere Garnnummern zu spinnen als etwa in 
Deutschland, erhebliche Vorteile dar; auch verfügte man über eine Arbeiter- 
schaft, die gewissermaßen schon seil Generationen für diesen besonderen 
Zweig der Technik angelernt war. Für die Maschinenindustrie galt der 
letztere Grund ebenfalls. Als nun aber ein neues Gebiet innerhalb der Technik 
schnell zu großer Bedeutung emporstieg — die Elektrotechnik , als alle 
modernen Einrichtungen, die mit ihr zusammenhingen, wie die Telegraphie, 
das Fernsprechwesen, die elektrischen Bahnen, die elektrischen Förderma- 
schinen usw., im Wirtschaftsleben schnell steigende Bedeutung gewannen, da 
konnte England plötzlich nicht rasch genug mit. Es besitzt eben nicht 
die Fähigkeit, sich schnell veränderten geistigen Bedin- 
gungen anzupassen. Infolgedessen ging die Führung auf dem Gebiete 
der Elektrotechnik an Deutschland und die Vereinigten Staaten über, während 
England auf diesem Gebiete, das von Jahr zu Jahr an Bedeutung zunimmt, 
noch keine nennenswerten Erfolge erzielt hat. 

Vor einigen Jahren wurde auf der Bahn von London nach Brighton 
elektrischer Betrieb eingerichtet. Indessen war keine englische Firma im- 
stande, diese Umwandlung vorzunehmen, so daß die Berliner Allgemeine 
Elektrizitäts-Aktien-Gesellschaft den Auftrag dafür erhielt. Dieselbe Firma 
hatte die zahlreichen Anlagen für den elektrischen Betrieb der Randminen in 
Transvaal herzustellen. Auch sonst haben deutsche Elektrizitätsgesellschaften 
in England und seinen Kolonien festen Boden gewonnen. 

Ähnliche Verhältnisse ergaben sich, als die Technik der Gasver- 
wertung schnelle Fortschritte machte. Auch hier führte die englische Schwer- 
fälligkeit dazu, daß man fremde Länder das Übergewicht gewinnen ließ. Von 
Deutschland übernahm man das Acetylengas und die Gasmaschinen (insbe- 
sondere die vortrefflichen Oechelhäuserschen Maschinen); auch französische 
und italienische Patente benutzte man dafür. Von dem Gebiete der Luft- 
schiffahrt sei nur andeutungsweise die Rede. 


Das Zurückbleiben Englands auf technischem Gebiet, 117 


Daß in Deutschland mehr Patente angemeldet werden als in England, 
würde an sich nicht beweiskräftig für einen Vergleich des Erfindungsgeistes 
in beiden Ländern sein, da ihre Patentgesetze voneinander abweichen. Aber 
man behauptet — und wohl mit Recht — daß der englische Erfindungsgeist 
stark nachgelassen habe und daß die englischen Patente heute meist Neben- 
sächlichkeiten betreffen, während in Deutschland die Zahl der Patentanmel- 
dungen, die grundlegende Dinge betreffen, weit größer sei. In den tiefer- 
blickenden Kreisen Englands ist man nicht im Zweifel darüber, daß der 
Grund aller dieser Erscheinungen in der starken Vernachlässigung der Wissen- 
schaft durch die Großindustrie zu suchen ist. Als ein Mitglied der Royal 
Society gefragt wurde, welcher Zusammenhang in England zwischen der 
Wissenschaft und der Industrie bestehe, lautete die Erwiderung: „Gar 
keiner.“ — 

In letzter Zeit hat sich in den denkenden Kreisen Englands ein größeres 
Interesse für alle solche Fragen geltend gemacht. Insbesondere wünscht man 
alles, was das technische Bildungswesen entwickeln könnte, zu fördern und 
zu heben. Bei der Zähigkeit des englischen Geistes, der an seinen Fehlern 
ebenso starr festhält wie an seinen Vorzügen, wird es aber sicherlich der 
größten Anstrengungen bedürfen, um hier durchgreifenden Wandel zu schaffen. 

Allerdings wird man nicht allzu schnelle Resultate erwarten dürfen. 
Wer von der Wissenschaft verlangt, daß sie das ihr entgegengebrachte Inter- 
esse allsogleich durch praktische Ergebnisse bezahlt mache, der kann sich 
recht sehr täuschen. Die Beziehungen der verschiedenen Gebiete unseres 
Geisteslebens sind zu fein, als daß ein so rohes Verfahren Erfolg verspräche. 
Wenn die Wissenschaft nicht um ihrer selbst willen in groß- 
herzigster Weise gepflegt wird, so wird sie auf die Dauer auch keine großen 
praktischen Ergebnisse, keine epochemachenden technischen Entdeckungen zu- 
tage fördern. Das hat der bisherige Verlauf deutlich genug gezeigt. Denn 
sicherlich ist es kein Zufall, daß gerade in Deutschland, wo man die Wissen- 
schaft als Selbstzweck, ganz losgelöst von allen praktischen Forderungen, zu 
betrachten gewohnt war, die überraschendsten technischen Erfolge dieser 
Pflege der Wissenschaft zutage getreten sind. 

Ganz das gleiche gilt von der Gestaltung des Bildungswesens. 
Der Führer des englischen Bildungswesens, Professor Michael Sadler, jetzt 
Rektor der Universität Leeds, früher vortragender Rat im Unterrichtsministerium, 
hat darüber schon vor zwei Jahrzehnten die ungemein wahren und tief- 
blickenden Worte geschrieben: „Eine engherzige Auffassung von technischer 
Erziehung, die nicht durch große Gesichtspunkte inbezug auf die allgemeinen 
Prinzipien, auf denen Wissenschaft und Kunst beruhen, geleitet wird, würde 
dahin führen, daß die Fähigkeit der Nation, ihre Industrie den wechselnden 
Bedürfnissen anzupassen, eher brachgelegt als vermehrt würde.“ 


118 


Politische Rundschau. 


noch nicht über unserm Lande entlud sich die wetterschwere Wolke, 
aber am Balkan hat es gezündet, und auf allen Gesichtern steht die 
Sorge, ob der Brand nicht auf unsere Häuser übergreift. 

Alle Fäden der internationalen Politik laufen verborgen, von wenigen 
Machtzentren werden sie gelenkt; aber vor der Bühne dieser Geschehnisse 
sammelt sich das Volk mit Anteilnahme und dem Glauben, die Aktoren seien 
in ihren Entschlüssen abhängig, beeinflußbar von der Stimme des Publikums, 
der öffentlichen Meinung. Wie die Zuschauer des italienischen oder spanischen 
Volkstheaters durch Drohungen und Apfelsinenwürfe den großen Bösewicht 
da oben hindern wollen, seine bösen Anschläge gegen die reine Unschuld 
auszuführen! 

Die Lenker der hohen Politik, die angelsächsischen, in der Schule des 
Geschäftslebens gehärteten Rechner, die in Gewaltausübung und Menschen- 
verachtung großgewordenen Machthaber der russischen Bureaukratie — sie 
alle haben es längst gelernt, auch diese Bedürfnisse des großen Publikums 
einzukalkulieren. 

In England ist die „maschinelle Bearbeitung“ der public opinion, rich- 
tiger die Schaffung der englischen Beurteilung durch die großen Preßtrusts 
zu einem System gediehen, dem gegenüber die Zensurkunststücke anderer 
Zeiten und Länder höchst unmodern wirken. Die übrigbleibende, „unab- 
hängige Provinzpresse“ erhöht den Reiz der Sache und gibt den Besonnenen 
und Biederleuten aller Zonen die Gewähr, daß die Freiheit, die sie meinen, 
ihren Reigen nicht nur am Himmelszelt führe, sondern in den ungemein 
freien englischen Häusern eine dauernde Wohnstätte habe. 

Bismarck, der verschlossen in seiner innersten Seele das große Be- 
dürfnis nach Wahrhaftigkeit trug, das dem germanischen Genius eigen ist, 
aber so vielen guten, so vielen besten Deutschen zur Verwirrung auch das 
Wort der Edda wußte: Gegen den Trug setze den Trug, hat solchen Illu- 
sionen gegenüber gesagt: Nur die Dummen wissen nicht, wie es ge- 
macht wird. 

Dem politischen Beobachter muß die internationale Meinungsmacherei 
als wertvoller Fingerzeig dafür dienen, was eigentlich beabsichtigt wurde. 

Der politische Bilderbogen, der ausgegeben wird, zeigt das Bild, daß 
die vier an die europäische Türkei angrenzenden Volksmächte übereinge- 
kommen seien, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen und ohne jede 
Rücksicht auf die als Einheit gedachten Großmächte Europas, die das gerne 
verhindern möchten, aber aus irgendwelchen geheimen Lähmungsursachen 
nicht könnten, mit den Waffen in der Hand die Türkei zu reformieren ge- 
dächten. 

Europa wird dies Schauspiel überwachen und für den moralischen 
Feingehalt der Aktion Sorge tragen; es wird keine Gebietsveränderungen 
dulden; Rußland und Österreich sind durch das Gebot der Stände berufen, 
Heger des Kampfplatzes zu sein, sie werden selbst auf jeden eigenen Vorteil 
selbstverständlich verzichten, weder die Dardanellenfreiheit, noch etwa das 
Sandschak begehren. 

Honni soit qui mal y pense! 


025 ist der Schatten des Krieges über Deutschland dahingehuscht, 


Politische Rundschau. 119 


An diesem schlecht inszenierten Rührstück ist nur die Unverfrorenheit 
verblüffend, mit der einem angesonnen wird, die Darstellung für Wirklich- 
keit zu nehmen. — 

Das türkische Erbe wird von Rußland und England umschlichen; 
ersteres hat seine Zarbefreierpolitik auf dem Balkan — wie gern anerkannt 
werden mag — aus geschichtlicher Notwendigkeit, aber mit der bestimmten 
Absicht eingeleitet, in das türkische Massiv Bresche zu legen. Wie Rußland 
auf das Erbe der europäischen Türkei spekuliert, so gelüstet es England nach 
dem der asiatischen Türkei. 

Seine Balkankomitees, seine Besuche der Balkanstaaten durch Agenten 
und wie kürzlich Serbiens — vor dem Kriegsausbruch! — durch einen hohen 
englischen Generalstabsoffizer sollen die Schwierigkeiten der Türkei am 
Balkan häufen, um Arabien unter ein protegiertes Kalifat nach ägyptischem 
Muster zu bringen. Große Ziele, deren Zweck die Mittel heiligen mag, bei 
denen ınan uns nur mit dem Gemeinplatzschwall von Hochgefühlen vom Halse 
bleiben soll. 

Ssasanoffs Besprechungen mit Grey müssen sehr weittragende Bedeutung 
gehabt haben, daß man sich genötigt fühlte, sich auch des Beistandes der unio- 
nistischen Opposition im Unterhaus zu versichern und ihren Führer Bonar Law 
hinzuzog. 

Sollte man bei dem großen Lobe, das für Österreich von Anfang der 
Bewegung an verschwendet wurde, nicht vor einem Plane stehen, der sich 
etwa folgendermaßen skizzieren ließe: 

Jede Erschwerung der Lage der Türkei, jede Schwächung ihrer Macht- 
mittel rückt den Augenblick der Liquidation ihres Besitzes näher und er- 
leichtert das Abreißen weiterer Gehietsteile. Für Rußland und England ist 
ferner Gewinn, daß man sich die Balkanmächte verpflichtet. Werden sie ge- 
schlagen, so wird man doch ihre Grenzen von heute erhalten können; sind 
sie aber siegreich, wie wird man sie dann vor dem Vorstoß Osterreichs be- 
wahren können? Nur dadurch, daß man Osterreich selbst etwas gönnt, das 
Sandschak, Novibazar und die ÄAusfuhrstraße nach Saloniki. 

Dieser Gedanke ist nicht einmal neu: mit welchen anderen Ver- 
suchungen ist denn der gerissene König Eduard der Bündnitreue des greisen 
Kaisers Franz Josef in Marienbad genaht? Der in seiner vornehmen Schlicht- 
heit nachher sagte: Ich habe mir da einen Feind gemacht, aber ich konnte 
nicht anders. Und wie groß muß die Enttäuschung eines so sehr auf an- 
ständige Formen haltenden Volkes gewesen sein, daß die großen englischen 
illustrierten Blätter das schandbar entstellte Bild des alten kaiserlichen Herrn 
mit der Unterschrift “the man who tricked Europe” bringen konnten! 

Der Plan ist deshalb auch gar nicht so übel, weil Deutschland — um 
den englischen Ausdruck zu gebrauchen — „ausmanövriert“, beiseite ge- 
schoben, als Schutzmacht der Türkei bloßgestellt wäre. 

Deutschland ist aber niemals ausgeschaltet, wenn es sich nicht selbst 
ausschaltet. 

Kann es nicht nach berühmten Mustern der ehrliche Makler zwischen 
der Türkei und den Balkanstaaten sein, sollte ihm das Maß des Vertrauens, 
das ihm Marschalls Tätigkeit geworben hat, nicht ermöglichen, ein ruchlos 
von den jetzt sich zurückziehenden Mäcliten angezetteltes Gemetzel zu ver- 
hindern? Würde es nicht jetzt für diesen Zweck wenigstens selbst Frank- 
reichs Unterstützung gewinnen können, das 4½ Milliarden im Balkan ange- 
legt hat und gefährdet sieht? 


120 Politische Rundschau. 


Frankreich erlebt in diesem Augenblick das historische Schicksal der 
kontinentalen Verbündeten Englands: daß es zu dienen bestimmt ist und seine 
Interessen die Kreise der großen englischen Politik nicht stören dürfen. Wie 
die Engländer im persönlichen Verkehr sich alle Welt zum Feinde machen 
müssen, so schließlich auch in der Politik. Sie machen wahrscheinlich wider 

| Willen auch da die größten Mißgriffe, weil der foreigner mit dem native, 
dem coloured gentleman doch so ziemlich zusammengehört, mit einer ge- 
wissen Unterschiedlichkeit des Grades, aber nicht eigentlich des Ranges, den 
Gott zwischen sein erwähltes Volk und die übrige Umwelt gesetzt hat. 

Schon die Mittelmeerentente hat man dadurch verpatzt, daß man dem 
sensiblen, innerlich so nervös empfindenden Volk wie den Italienern als Droh- 
und Druckmittel die französischen Geschwader in die Heimatsgewässer sandte 
und dadurch Italien an den Dreibund heranpreßte, von dem man es abziehen 
wollte. 

Wenn jetzt namhafte Liberale in England die abgeschlossene englische 
Marokkopolitik „illiberal, ruchlos und gefährlich“ nennen, so haben wir 
daran an sich nichts auszusetzen, interessieren uns aber für das Weshalb, 
weil man nämlich einem so inferioren, von den Engländern so tief verachteten 
Volk wie den Franzosen ein solches wirtschaftliches 'Machtgebiet wie Marokko 
eingeräumt hat. 

Täuschen wir uns auch nicht zu unserm Nachteil. Die tapfere Ruhe 
unseres Volkes den ungeheuerlichsten. Bedrohungen gegenüber, die unbeirrte 
Anständigkeit unserer Politik, die nur durch Unterlassungen gesündigt hat, 
hat uns im Auslande uneingestanden doch eine große Achtung erworben. 
Das Wort, das vor kurzem von Kiderlen-Wächter durch die Blätter ging 
„von der Halbierung zur Organisation Europas,“ das wäre kein frommer 
Wunsch, sondern ein politisches Programm, wenn sich Deutschland in den 
Mittelpunkt aller Bestrebungen stellte, alle Mitglieder der europäischen Staaten- 
gemeinschaft, die Türkei eingeschlossen, davor zu bewahren, ein Ball in 
dem Spiel der nach Beherrschung und Unterwerfung fremder Länder und 
Völker lüsternen Mächte England und Rußland zu werden. 

Wenn aus der Schweiz doch ein wärmeres Gefühl beim Kaiserbesuch 
entgegengeschlagen hat, so war es gewiß aus dem Bewußtsein geboren, in 
Deutschland doch den ehrlichen und starken Nachbarn zu wissen, und wenn 
in Schweden eine Bewegung zum Anschluß an den Dreibund lebendig ge- 
worden ist, so regt sich auch dort der Wille, die Rolle eines Halbvasallen 
nicht spielen zu wollen und einen Garanten der Unabhängigkeit nur in 
Deutschland finden zu können. — 

In der äußeren wie in der inneren Politik Deutschlands ist das alles 
andere in den Hintergrund stellende Ereignis die Ernennung des Fürsten 
Lichnowsky zum Botschafter in London. 

Man sagt gewiß nicht zu viel, wenn man die Ernennung dieses outsiders 
auf die Erkenntnis zurückführt, in der eigentlichen diplomatischen Hierarchie 
keine einzige Kraft zu wissen, die nach Marschalls Tode auch nur einiger- 
maßen den Aufgaben dieses wichtigsten diplomatischen Postens gewachsen 

| wäre. Ein wunderliches Ergebnis der Auslese bei dem begabtesten, viel- 
seitigsten Volk der Erde, dessen Kenntnisse die wissenschaftliche, die wirt- 
schaftliche und die technische Welt unausgesetzt revolutionieren. 

Bekanntlich ist die immer schmerzlich leidende Biederkeit unseres 
Reichskanzlers bei der Wahlbewegung besonders tief verletzt worden, daß 
man die Fähigkeiten unserer diplomatischen Vertreter vor den großen Wähler- 


Politische Rundschau. 121 


massen kritisiert nabe. Daß in den Wählerversammlungen auch über diese 
Frage sehr viel dummes Zeug geredet wird, daran ist kein Zweifel, nicht 
weniger aber daran, daß das Volk ein verdammt feines Gefühl dafür hat, von 
wem es gefährdet wird. 

Unter einem Diplomaten kann man sich zur Zeit in Deutschland nur 
etwas extrem Konventionelles vorstellen, ihre Lebensgewohnten werden in 
dem Buch des ewig Gestrigen, „der Woche“, mit einer wunderbaren, un- 
freiwilligen Ironie dargestellt. 

Für den Engländer ist es selbstverständlich, daß in der Diplomatie 
die feinste Blüte angelsächsischer Männlichkeit vertreten ist, für den 
Franzosen ist die Diplomatie ein besonders geachteter Zweig des politischen 
Bankiersgewerbes; beiden wie dem Russen ist die Leistung des Diplomaten 
. das, was sie allein interessiert, und der bunte Takel, in dem diese Welt der 
traditionellen Remiszenzen lebt, eine höchst uninteressante Beigabe, nicht aber 
wie in Deutschland ein völkerrechtlicher Prüfungsgegenstand juristischer 
Examina. 

Ihrer Herkunft nach ist unsere Diplomatie ein merkwürdiges Mittel- 
ding zwischen der Bourgeoisie und dem meistens von der Frauenseite finan- 
ziell gestützten Feudaladel; immer seltener findet sich darunter ein Vertreter 
des besten deutschen Adels und des besten deutschen Bürgertums. Dem 
letzteren fehlt Neigung und Gelegenheit, dem ersteren der Respekt vor der 
rein diplomatischen Leistung; das Gewerbe soll ja nach Bismarck nichts für 
einen preußischen Landedelmann sein, und in seinem rührenden Dankesbrief 
von Weihnachten 1872 mußte sich der größte deutsche Diplomat vor seinem 
kaiserlichen Herrn damit trösten, „daß er sonst vielleicht ein unbrauchbarer 
General geworden wäre.“ 

Wir geben nicht umsonst den Gothaer Almanach heraus, wir haben 
den verbreitetsten hohen Adel und räumen ihm willig die Sitze unserer Herren- 
häuser ein; wir haben auch sehr oft uneingestanden ein lebhaftes Gefühl 
für fürstlich-vornehme Lebenshaltung, und Thomas Mann hat für seine 
Blitzlichtbeleuchtung dieser hohen Idylle nirgends in Deutschland Dank 
geerntet. 

Dieser hohe Adel aber bleibt der Nation zumeist die Gegenleistung 
schuldig. Er ist nicht wie der österreichische Hochadel Förderer und Schützer 
der Kunst, und noch viel weniger politisch wie der bis in die Fingerspitzen 
machtdurstige, leidenschaftlich politische, englische regierende Adel, der da- 
durch das Königtum trägt, aber fast überschattet. 

Die Nation aber hat ein Recht, von seinem hohen Adel diese politische 
Führerleistung gerade im internationalen Verkehr zu fordern, weil der Hoch- 
adel dafür Bedingungen mitbringt, die anderen Berufsständen nicht in dem 
Maße eigen sein können. Die arbeitenden Stände können nur in Ausnahme- 
fällen die Leichtigkeit im Überblicken der wirklichen Kräfte unter den un- 
geheuren Zurüstungen der Äußerlichkeiten in London, Washington, Paris 
und Petersburg gewinnen und solche Meister ihrer Gefühle werden, daß sie 
durch die tiefe, zur Schau getragene Devotion sich nicht den kecken Blick 
trüben lassen, mit dem Bismarck bei der ersten Vorstellung im Elysee 
Napoleon III. betrachtete, „ob der wohl bei uns das Referendarexamen be- 
standen hätte.“ Fürst Chlodwig Hohenlohe war gewiß kein Großer, aber 
erstaunlich ist an seinen Memoiren, wie er das regierende Europa wie einen 
einfachen bürgerlichen Verkehrskreis in seinen Schwächen und in seinen Vor- 
zügen mühelos übersieht. 


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122 Politische Rundschau. 


Fürst Lichnowsky hat die merkwürdige Fähigkeit besessen, ohne 
eigentlich sichtbar hervorzutreten, den Ruf ungewöhnlicher Fähigkeiten zu 
erwecken. Schon vor mehr als zehn Jahren konnte man im preußischen 
Osten, wo unsere Politik ja eigentlich gemacht wird, ihn sogar als Reichs- 
kanzlerkandidaten trotz seiner wohlerworbenen Unbeliebtheit bei Hofe nennen 
hören. Damals war er ein Vierziger, und heute müssen die Blätter die 
schweren Bedenken äußern, daß ein Mann von fünfzig Jahren einen solchen 
Posten erhält. Politik darf anscheinend — frei nach Wilh. Busch — bei uns 
nur im „Kreise der Männer und der Mümmelgreise“ getrieben werden, und 
wir haben nicht gehört, daß man mit Bedauern feststellte, daß unser bester 
Mann, Marschall, zu der Erfüllung seiner Lebensaufgabe nicht mehr kommen 
konnte, weil er im biblischen Alter dahingerafft wurde. 

Mit dem Fürsten Lichnowsky gehen große Hoffnungen. Nur ein Hoch- 
feudaler kann in dem durch und durch feudal regierten England wirklichen 
Einfluß auf vertraulichem Fuße gewinnen, wie ihn Fürst Münster besaß. 
Und dieser Fürst hat durch Haltung und Äußerungen bewiesen, daß er 
kein Krautjunker und ebensowenig ein Bureaukrat ist, der gesonnen wäre, 
im Schmieren von Berichten und Erweisen von Liebenswürdigkeiten den 
Zweck seines Daseins zu erblicken. 

Vor allem aber — und das ist das Allerwichtigste: die Engländer im- 
ponieren ihm nicht. 

Er hat der englischen Politik gegenüber in Wort und Schrift eine 
Sprache geführt, die an Deutlichkeit nichts vermissen läßt, und die das ein- 
zigste Mittel ist, um bei diesem Herrschervolk Respekt und im kaufmännisch- 
politischem Sinn Vertrauen zu erwerben. Die anderen Botschafterkandidaten 
wären wohl zumeist zu weich, zu herzlich entgegenkommend gewesen. 

Eure Politik gegen Deutschland ist unmännlich und schädlich — das 
ist aus jeder Zeile der Lichhowskyschen Veröffentlichungen herauszulesen; 
das aber sind zwei, vielleicht die einzigsten Momente, für die der Engländer 
höllisch hellhörig ist. 

England ist zudem in diesem Augenblick nachdenklich; sein Impres- 
sionalismus auf Italien hat böses Fiasko gemacht, und jetzt hat er eine 
Deutschland näher als seit Jahren verbündete europäische Militärmacht in 
der Flanke Ägyptens. Dahin hat es Italien nur gelangen lassen, weil es zur 
Entente hinübergezogen werden sollte, — und nun? 

Ein glücklicher Zufall hat es gefügt, daß die beraubte Türkei es Italien 
zu danken hat, daß sie ihre ganze Militärmacht auch unter Heranziehung 
der kleinasiatischen Reserven gegen die Balkanmächte einsetzen kann. 

Beide Mächte in Zukunft einander politisch zu nähern, bei der bevor- 
stehenden Erneuerung des Dreibundes eine Ausdehnung auf die östliche 
Hälfte des Mittelmeers herbeizuführen, darin liegen Ziele für eine erneuerte 
Levante- und nordafrikanische Politik, die nicht auf Ausbeutung und Unter- 
jochung, sondern Kräftigung und Erhaltung gerichtet wäre. 

Bremensis. 


123 


ANREGUNGEN UND AUSBLICKE. 


Die Heeresvermehrung. 


Kaum ist die Heeresvermehrung in 
Kraft getreten, da werden in den nationalen 
Zeitungen im Drange der Kriegsgefahr 
Stimmen laut, die weitere Verstärkungen 
verlangen. Merkwürdig, daß seinerzeit 
nicht mehr gefordert wurde; der Reichs- 
tag hätte — darüber hatte und hat nie- 
mand (außer dem Kriegsminister) einen 
Zweifel — damals alles bewilligt, ganz 
sicher jedenfalls die fehlenden dritten 
Bataillone. Noch immer gibt es 14 In- 
fanterieregimenter zu 2 Bataillonen. Un- 
verständlich aber ist es, daß am 1. Oktober 
noch nicht einmal das Bewilligte im 
vollen Umfang zur Durchführung ge- 
kommen ist: die 106 bewilligten Ma- 
schinengewehr-Kompagnien wer- 
den vorerst noch nicht aufgestellt! 
Warum in aller Welt? Sie sind doch 
dringend nötig. Wir sind mit dieser wich- 
tigen Waffe doch lange genug anderen 
Staaten gegenuber erheblich im Rück- 
stand geblieben. Das Fehlen der Unter- 
kunftsräume kann nicht der Grund des 
Zögerns sein, denn eine ganze Anzahl 
der neu aufgestellten Formationen ist zu- 
nächst auf längere Zeit, zum Teil auf 


mehrere Jahre, auf Truppenübungsplätzen 


untergebracht; da hätte sich für die Ma- 
schinengewehr-Kompagnien mit ihrem ge- 
ringen Bestand an Mannschaften und 
Pferden wohl auch noch Platz gefunden. 
Die Behauptung, es sei nicht möglich, in 
so kurzer Zeit so viele Maschinengewehre 
fertigzustellen, würde die deutsche In- 
dustrie wohl mit einer Beleidigungsklage 
beantworten. Also Gründe „finanztech- 
nischer“ Art? Nun, die , altpreußische“ 
Sparsamkeit wird uns noch einen ver- 
lorenen Krieg kosten. Jetzt endlich hat 
man bei uns angefangen, einige neue 
Stellen über den Etat zu schaffen, deren 
Inhaber im Mobilmachungsfall bei Re- 
serve- usw. Formationen Verwendung 
finden. Aber noch immer wird im Kriegs- 
fall fast der ganze Bestand anaktivenälteren 
Kompagnie-Offizieren und Unteroffizieren 
der Truppe, der sie im Frieden angehörten, 
entzogen, weil sie anderswo noch nötiger 


gebraucht werden. Der Truppenorganis- 
mus ist ein künstliches und damit recht 
empfindliches Gebilde; man kann ihm 
nicht das Gerippe, das, was eigentlich 
dem Gefüge den festen Zusammenhalt 
gibt, plötzlich entziehen, ohne ihn — 
mindestens auf geraume Zeit — gründ- 
lich zu schädigen. Auch die Mannschaften 
der auf Kriegsstärke gebrachten aktiven 
Truppenkörper sind ja doch zu mehr als 
der Hälfte Reservisten, die dem Dienst 
entwöhnt und sicherer, geschulter Leiter 
doppelt bedürftig sind. Frankreich ist in 
dem Bereithalten aktiver Vorgesetzter 
über den Friedensetat für die im Krieg 
neu aufzustellenden Formationen längst 
viel weiter gegangen als wir. Es gab 
eine Zeit, da marschierte Deutschland 
wenigstens mit seinen Heereseinrichtungen 
an der Spitze der Nationen. 


Ja, um alles in der Welt, wohinaus 
soll denn das noch mit diesen ewigen 
Rüstungen und Verstärkungen? fragt der 
besorgte Staatsbürger und Steuerzahler. 
Als Antwort eine Gegenfrage: Wohinaus 
soll es denn ohne die Rüstungen? Un- 
fehlbar dahin, wo die anderen (einstigen) 
Konkurrenten Englands (Portugal, Holland, 
Dänemark) heute stehen. Es kann doch 
keinem Zweifel unterliegen, daß man uns 
ans Leder will, daß man uns zu einer 
Macht zweiten Ranges in Europa herab- 
drücken möchte, daß wir außer Öster- 
reich keinen Freund haben, aber zahl- 
reiche mächtige Gegner; daß wir uns 
eines Tages werden wehren müssen und 
daß wir dazu eines starken, schlagfertigen 
Heeres und kampikräfliger Schiffe be- 
dürfen. Man braucht sich noch nicht „be- 
rulsmäßiger Kriegshetzer“ oder „Panzer- 
platteninteressent“ schimpfen zu lassen, 
wenn man diesen Tatsachen offen ins 
Gesicht sieht. Dagegen kann man füg- 
lich den Leuten, die das Zucken und 
Züngeln am politischen Himmel für harm- 
loses Wetterleuchten erklären, weil ihm 
der prasselnde Donner noch nicht folgte, 
vorwerfen, sie trieben eine unverantwort- 
liche Vogelstraußpolitik und eine Politik 
kleinlich-krämerhafter Eigensucht dazu. 


124 


Dadurch, daß man den Krieg nicht wünscht, 
sich mit friedlichem Gesäusel über jede 
Gefahr hinwegzutäuschen sucht, ist diese 
doch nicht beseitigt. An Wirklichkeits— 
sinn, der Fähigkeit, das Tatsächliche alles 
Wünschbaren entkleidet zu sehen, daran 
fehlt es diesen Lammseelen; denn dazu 
gehört vor allem Mut. Selig mögen sie 
sein, die Sanftmütigen und Friedfertigen, 
auch auf das Himmelreich mögen sie 
nahe Anwartschaft haben, — das Erd- 
reich werden sie nicht besitzen. 


Ist es nicht eine Schande, daß der 
große Scharnhorstsche Gedanke der all- 
gemeinen Wehrpflicht heute nicht in 
Deutschland, sondern in Frankreich am 
folgerichtigsten durchgeführt ist, daß wir 
schon längst einen namhaften Prozent- 
satz unserer wehrfähigen jungen Männer 
nicht mehr in das Heer einstellen können, 
weil einfach die Räume dazu, die Regi- 
menter, fehlen; daß wir somit gar keine 
allgemeine Wehrpficht mehr haben? 
Wie darf man sich bei uns über zu hohe 
Militärlasten beklagen angesichts der Tat- 
sache, daß die auf den Kopf berechnete 
pekuniäre Anspannung für die Wehrmacht 
in Deutschland weit geringer ist als in 
den anderen europäischen Großstaaten 
und daß — gemessen an der Bevölkerungs- 
zahl — die persönliche Anspannung 
im Kriegsfall in Frankreich fast doppelt 
so groß ist wie in Deutschland? 


Noch immer gibt es ehrenwerte Leute, 
die da meinen, es könne niemand Arges 
gegen uns im Schilde (sit venia dem 
nicht mehr ganz zeitgemäßen Worte) 
führen, wenn wir uns nur selbst aller 
agressiven Politik enthielten und ein ge- 
ruhliges und stilles Leben führten in aller 
Gottseligkeit und Ehrbarkeit; und sollten 
tückische Feinde doch etwas gegen unsere 
gute und gerechte Sache unternehmen, 
so müsse nach den Gesetzen der sitt- 
lichen Weltordnung ihr politisches Ränke- 
spiel nicht uns, sondern ihnen selbst zum 
Schaden gereichen. Werden sie denn nie 
alle werden, diese — Guten, die es nicht 
lassen können, mit der unzulänglichen 
Elle ihres posemukelhaften Rechtsbe- 
wußtseins Geschichte und Politik zu 
messen; die nicht begreifen wollen, daß es 


eine von allem menschlichen Fühlen un— 
abhängige geschichtliche Rechtsprechung 
gibt, die ausnahmslos schließlich die Partei 
des Stärkeren nimmt? Die Geschichte 
der Menschheit lehrt das doch auf jedem 
Blatt, und noch niemals ist von einem 
der vielen Völker, die im Laufe der Jahr- 
tausende „aufeinanderschlugen“, eine 
Sache vertreten worden, die nicht „die 
gute und gerechte“ gewesen wäre; auch 
daß der liebe Gott vorzugsweise mit den 
besseren Bataillonen sei, ist schon vor 
geraumer Zeit von kompetenter Stelle 
ausgeplaudert worden, — aber immer 
wieder sträubt sich gegen die Anerkennung 
solch brutaler Wirklichkeit die Ehrbarkeit 
rechtlichen Bürgersinns. Die Kriege sind 
seltener geworden, aber doch nicht, weil 
der Sinn für Rechtlichkeit und die Achtung 
vor dem guten Recht des Nachbarn unter 
den Völkern gewachsen wären, sondern 
wegen der ungeheuren Folgewirkungen 
des modernen Massenkrieges. Die Träger 
der kriegerischen Handlung sind ja nicht 
mehr die gewerbsmäßig um Sold und 
Kriegsbeute dienenden Haufen, auch nicht 
die kleinen, gut geschulten Heere der 
Fürsten, sondern die zu einheitlichem 
Wirken zusammengefaßten Gesamtkräfte 
der Völker. Ein heutiger Krieg, der die 
ganze wehr- (d. h. arbeits-) fähige männ- 
liche Bevölkerung unter die Fahnen ruft, 
zieht alle Lebensäußerungen des Volks- 
körpers stark in Mitleidenschaft und muß 
eine Lähmung, stellenweise einen Still- 
stand des wirtschaftlichen Lebens zur 
Folge haben. Nicht jeder unbedeutende 
Völkerstreit wird daher mit den Waffen 
ausgetragen. Der Kampfeinsatz ist zu 
hoch; er rechtfertigt sich nur, wenn es 
sich um eine Lebensfrage oder die Ehre 
der Nation handelt. Bis zu dieser Grenz- 
linie — aber auch nicht weiter — reicht 
die Wirkungsmöglichkeit von Kongressen, 
Konferenzen, Schiedsgerichten und dergl. 
Hinter dem Spruch des Richters darf die 
vollstreckende Gewalt nicht fehlen, soll 
er nicht Gefahr laufen, zur Farce zu 
werden. 

Man soll es sich heute dreimal über- 
legen, das Schwert zu ziehen, man darf 
aber keinen Augenblick in dem Eifer 
nachlassen, es zu schärfen. 


Es hilft also nichts: wir müssen, — 
oder noch besser: wir wollen — sagten 
die gut, das heißt heute: national Ge- 
sinnten aller Parteischattierungen und ver- 
blüfften In- und Ausland durch eine en- 
bloc-Annahme der Regierungsforderungen;; 
— da müssen sie alsbald zu ihrem Staunen 
erfahren, daß gerade die wichtigsten der 
als so dringend nötig bezeichneten Neu- 
formationen vorerst noch gar nicht auf- 
gestellt werden. Es ist 10 gegen 1 zu 
wetten, daß sich die Volksvertretung das 
nächste Mal von der „Dringlichkeit“ der 
Forderungen nicht so ganz rasch wird 
überzeugen lassen. Man kann es ihr 
nicht verdenken. 

M. O. 


Bemerkungen zur Weltsprache. 


Es ist ja gut, daß man eine Welt- 
sprache schafſt, die ganz nach einfachen 
Regeln gebildet ist, und die man in ein 
paar Wochen erlernen kann. Eine solche 
wird ihre guten Dienste leisten zur inter- 
nationalen Verständigung in Gasthöfen 
und im Handel, bei Angelegenheiten ein- 
facher Art und bei denen der thetorische 
oder gar künstlerische Wert der Sprache 
ganz in den Hintergrund tritt. 

Aber man schmähe deshalb nicht die 
Unregelmäßigkeiten der vorhandenen 
Sprache. Es ist dies gerade so, als wollte 
man die Kompliziertheit einer viel ge- 
brauchten Gerätschaft tadeln, z. B. daß 
ein Löffel, der ja wesentlich nur aus Napf 
und Stiel, oder eines Messers, das ja 
wesentlich nur aus Klinge und Heft zu 
bestehen braucht und nun doch eine sehr 
viel verwickeltere Form, die sich dem 
Gebrauche in allen Einzelheiten angepaßt 
hat, aufweist. Es kommt eben bei so 
einer Gerätschaft gar nicht darauf an, ob 
seine Darstellung die doppelte oder drei- 
fache Zeit kostet, da ja bei der zweck- 
mäßigsten Form diese Zeit im Gebrauch 
wieder hundert- und tausendfach gespart 
wird. ° 

Gerade so ist es aber mit der Unregei- 
mäßigkeit des Wortes z. B. in der starken 
gegenüber der schwachen Konjugation. 
„Ich log“ macht sehr viel mehr Eindruck 
als „ich lügte“, und deshalb sind solche 


125 


auffallende Formen gerade bei den viel- 
gebrauchten Zeitwörtern (bei den Hilfs- 
zeitwörteın am allermeisten) im Gebrauch. 
Da die ausdrucksvolle Rede wichtiger ist 
als die bequeme Erlernung der Sprache 
durch Ausländer. Die eigenen Sprach- 
angehörigen aber erlernen das Unregel- 
mäßigste ohne Mühe. 

Auch die Kunstsprache, das Esperanto, 
zeigt ein Bestreben sich zu entwickeln, 
welches, da man ihm nicht nachgeben 
wollte, zur Schöpfung des Ido führte, 
und auch dieses wird neue Sprossen 
treiben, wie sich alles Lebende und mit 
dem Leben in Berührung Stehende immer 
entwickeln muß. 

Man nehme z. B. das Wort „Mensch“ 
mit dem sächlichen Artikel. Im Ido, wo 
jeglicher Artikel wegfällt, werden wir ein 
Wort für Mensch im Sinn von homo und 
ein anderes im Sinne von unmoralischem 
Frauenzimmer haben. Nun liegt aber in 
dem Ausdruck Mensch mit dem säch- 
lichen Artikel nicht bloß der Begriff des 
unmoralischen Frauenzimmers, sondern er 
ist deutlich nuanciert durch seine etymo- 
logische Herleitung von Mensch mit dem 
männlichen Artikel, und zwar so, daß die 
Bedeutung des letzteren noch nachklingt, 
indem man sich von einem Mensch mit 
der Mehrzahl Menscher die Vorstellung 
eines weiblichen Individuums macht, dem 
nichts Menschliches in der schlechten Be- 
deutung (schade, daß man dafür des üblen 
Wohllautes wegen nicht „menschisch“ 
sagen kann) fremd ist. 

So ist es mit dem Ausdruck Gentleman, 
den wir aus dem Englischen herüber- 
genommen haben, und mit tausend 
andern. In seinem Laute klingt die Ab- 
stammung nach, die die feine Nuance 
bestimmt. 

Merkwürdig, daß dieser einfache Zu- 
sammenhang selbst durch Philologen 
nicht immer begriffen wird. Ich kannte 
einen, der sich selbst durch Sophokles- 
Übersetzungen einen Namen gemacht hat 
und der, da er in vorgerückten Jahren 
noch Italienisch lernen wolite, sich furcht- 
bar ärgerte über die Unregelmäßigkeiten 
der italienischen Zeitwörter und gerade 
solcher, die im Lateinischen noch regel- 
mäßig gewesen waren. Trotz aller philo- 


126 


logischer Gelehrtheit begriff er eben nicht, 
daß die Sprache nicht stillstehen konnte, 
sondern notwendig die bleibenden Ein- 
drücke der weiteren Entwicklung des 
Volkes in sich aufnehmen mußte. 

Das Ido wird darum den Natursprachen 
gegenüber nicht sein wie ein „wohlge- 
zimmertes Haus einer natürlichen Höhle“ 
gegenüber,*) sondern eher wie ein billiges 
Universalwerkzeug, das Hammer, Meißel 
Beißzange, Maßstab und noch einiges 
andere sein will und doch keines recht 
ist, das man freilich gebrauchen wird, 
wenn der Raum in der Reisetasche man- 
gelt, alle Einzelwerkzeuge mitzunehmen, 
aber das, wenn es sich um hervorragende 
Leistungen der Handwerkskunst handelt, 
doch immer durch jene einzelnen und oft 
noch ganz besonders als Tapezierhammer, 
Klavierhammer, Steinhammer usw. indi- 
vidualisierten Instrumente ersetzt werden 
muß. 


) Der Ausdruck Ostwalds. 


Oder man könnte eine solche einfache 
Weltsprache auch vergleichen mit jener 
Musik, die durch einen einzelnen, der 
gleichzeitig mit Armen, Beinen, Kopf und 
Mund tätig ist, hervorgebracht, und die 
vielleicht von einem ganz Unmusikalischen 
auch mit einer Orchestermusik verwechselt 
wird. Auch hier erspart man Arbeit (und 
nach Ostwald ist ja Kultur die Ökonomie 
der Energien), aber nur unter unendlicher 
Einbuße der beabsichtigten Wirkung. 

Der letztere Vergleich ist vielleicht der 
allerbeste, denn in der Tat ist ja die 
Sprache in ihrer feinen Ausbildung eine 
Kunst und der echte Philologe halb 
und halb eine Künstlernatur. Nur wenn 
die Adepten dieser Wissenschaft selber 
Banausen sind und sie das Mittel zum 
Zweck als Selbstzweck betreiben, dann 
verdienen sie die Kritik und die Ver- 
achtung, die sie sich von Seiten Ostwalds 
in so teichem Maße zugezogen haben. 

Adolf Mayer. 


Schluß des redaktionellen Teils! 


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„Jj73J 0 %⅛ꝛ ⅛˙⅛ͤ1i¹b1 7²˙ ¹.. ¾—xN. 7 ½ 2s. 
Verantwortlich für die Redaktion: S. D. Gallwitz, Bremen. 


Einsendungen von Manuskripten (unter Beifügung von Ruckporto) 
an die Redaktion Bremen, Am Wall 163. Tel. 6945. 


Sprechstunden der Redaktion: Dienstag und Freitag von 1—2 Uhr. 
Verlag: Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft in Bremen. 
Druck: H. M. Hauschild, Hofbuchdruckerei, Bremen. 


Neue Bücher. 


Der Insel-Almanach auf das Jahr 1913. 
Insel-Verlag zu Leipzig. 

Wilhelm Mießner: Der Mann im Spiegel. 
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig. 

Woltgang Burghauser: 

Philuzius Süßmeyrs alltägliche Geschichte. 

Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig. 

Rolf Hjorth-Schoyen: Der Herrscher. 
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig. 

Curt Moreck: Jokaste die Mutter. 
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig. 

Max von Mallinckrodt: Mären und Märchen. 
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig. 

Henriette Riemann: Pierrot im Schnee. 
Erich Reiß Verlag, Berlin. 

M. van Borst: Die Bekenntnisse einer glücklichen Frau. 
Erich Reiß Verlag, Berlin. 

Dr. Wilhelm Kosch: Menschen und Bücher. 
Verlag der Dykschen Buchhandlung, Leipzig. 


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Jedem Besucher BREMENS sei die Besichtigung 


der Herstellungsanlagen des coffeinfreien 


„Kaffeehag“ 


empfohlen. 


Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft 


Bremen-Holzhafen 


Koffein und Kaffeol im Kaffee. 


Von Universitätsdozent Dr. Viktor Grafe-Wien. 


ie alle Genußmittel, deren der Kulturmensch zur Nerven- 
anregung bedarf, und die ihre Wirksamkeit alle einem 
mehr oder weniger giftigen Inhaltsstoff verdanken, 
enthält auch die Kaffeebohne einen solchen. Alle Gifte haben 
bekanntlich die Eigenschaft, in kleinen oder kleinsten Gaben 
die Lebenskräfte zu höheren Leistungen anzuspornen, in größeren 
sie zu hemmen und schließlich ganz zu vernichten. Das Koffein 
der Kaffeebohnen freilich gehört zu den vergleichsweise harm- 
losen, zu jenen, von denen erst größere Dosen schädlich wirken, 
und doch kommen, besonders für den kranken Organismus, 
jene Quantitäten, wie sie in starken Kaffeeaufgüissen vorliegen, 
wegen ihrer Wirkung auf Herz und Nerven in Betracht. 
Nicht die Nervenanregung aber ist es, wegen welcher die 
große Masse gesunder Menschen ihren Morgenkaffee trinkt, 
sondern die Geschmacks- und Aromastoffe, welche in der Kaffee- 
bohne beim Rösten entstehen. Als deshalb die zunehmende 
Nervosität des Jahrhunderts auch die »Entgiftung« dieses relativ 
harmlosen Genußmittels verlangte, war es ein Problem, mit 
dem Koffein nicht auch jene Stoffe der Bohne zu entziehen, 
aus denen später beim Rösten Aroma und Geschmack hervor- 
geht. Das Koffein ist nämlich an diese Substanzen chemisch 
so fest gebunden, daß es erst durch einen von K. Wimmer 
ersonnenen »Äufschließprozeß« gelang, diese Bindung zu lösen, 
worauf das Koffein durch reinstes Benzol fast vollständig 
herausgezogen werden konnte, ohne daß jene Stoffe Schaden 
litten; das Benzol seinerseits wird durch nachfolgende Be- 
handlung mit Wasserdampf vollkommen weggeblasen. Dieser 
koffeinfreie Kaffee ist bekanntlich schon seit längerer Zeit unter 
dem Namen »Kaffeehag« im Handel. 

Nun ergab sich aber die merkwürdige Tatsache, daß der 
Tee, obgleich er viel mehr Koffein enthält als der Kaffee (Tein 
und Koffein sind identisch), wenn beide in gleicher Menge 
aufgegossen werden, doch erfahrungsgemäß viel schwächer wirkt 
als Kaffee. Die Antwort, welche die Wissenschaft auf diese 
Frage gab, lautete dahin, daß eben im Kaffee nicht nur das 
Koffein, sondern auch die Röststoffe, deren Gesamtheit man 
»Kaffeola nennt, maßgebend sind; diese Antwort ist freilich 
noch nicht endgültig, sondern wird von mancher Seite be- 
stritten. Immerhin ist es nicht uninteressant zu sehen, woher 


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Kurhaus und Pension Monte Brè 
bugano-Ruvigliana Sve 


mit Villa Ida und Villa Quisisana. 


Anstalt für physikalisch-diätetische Therapie 
zugleich größtes und schönstes Erholungsheim der Schweiz. 


Infolge seines herrlichen Klimas hervorragende Erfolge bei fast allen 
Krankheiten. Im Winter Riviera-Klima. Wegen seiner Höhenlage 
(Seeklima) auch vorzüglich zu Sommer-Kuren geeignet. Laut 
Statistik der meteorologischen Station die meisten Sonnenstunden 
in Europa. Den ganzen Winter Sonnen- und Luftbäder. Modern 
eingerichtet. 120 Betten. Zentral-Heizung. Anerkannt vorzügl. Diät. 
Aerztl. Leiter: Dr.med. Oswald, Spezialarzt für phys.-diätet. Therapie. 


Einer der bekanntesten Aerzte schreibt: Ein Eldorado 
für Kranke, Nervöse und Erholungsbedürftige. 


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Konkurrenzlos betreffs Lage und Klima. Aufenthalt gut mit Schweizer- 
oder Italien-Reise zu verbinden. Altbewährte Leitung. Vorherige 
Anmeldung nötig, da stets stark besucht. Man verlange illustrierte 
Prospekte und Heilberichte vom Direktor MAX PFENNING. 


1908 1909 1910 191 
Besuch der Anstalt im Jahre: D ee 


Für Passanten und Nichtkurbedürftige: 
Dependance Hotel Casa Rossa. 


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Lage und Einrichtung der Anstalt in Ruvigliana. el 
liegt die Vorstadt Ruvigliana-Castagnola, welche durch den Monte Br& im Rücken 


von Norden vollständig gedeckt ist und dadurch im Winter noch einige Wärme- 
grade mehr aufweist als Lugano. 

Ruvigliana hat infolge seiner günstigen Lage am südlichen Bergabhang noch 
einige hundert Sonnenstunden im ar mehr als Lugano; während dort im Winter 
die Sonne bald verschwindet, ist Ruvigliana noch stundenlang den Sonnenstrahlen 
ausgesetzt. Die Sonne scheint im Winter ebenso warm wie an der Riviera, 
Ruvigliana hat aber vor der letzteren den Vorteil, daß es von Deutschland nicht 
so weit entfernt ist und das Klima hier nicht so verweichlicht. Im Sommer da- 
gegen ist Ruvigliana durch seine Höhenlage (zirka 200 m über Lugano) kühler 
und frischer als Lugano und eignet sich daher auch speziell für Sommerkuren. 
Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß im Sommer hier italienische Hitze herrsche. 


Einzig in ihrer Art ist die Lage der Anstalt mit dem Blick auf den wunder- 
vollen See, in dem sich das Blau des ewig lachenden Himmels abgrundtief wieder- 
spiegelt. „Man muß es gesehen haben vor dem Sterben, wenn man eine goldene 

rinnerung mitnehmen will an die Herrlichkeit dieser Erde“, schreibt ein annter 
Literat, der krank und müde des Großstadttreibens in Monte Br& Ruhe suchte 
und seine volle Schaffensfreudigkeit wiederfand. Ein anderer schrieb: „Lugano 
ist ein vom Himmel gefallenes Stückchen Erde.“ — Einer der hervorragendsten 
Spezialärzte der phys.-diätet. Therapie, der wiederholt im Kurhaus Monte Bre 
Erholung suchte, nennt die Anstalt „Ein Eldorado für Kranke, Nervöse und 
Erholungsbedürftige“. ö | | AG; 

Mit der elektrischen Straßenbahn von Lugano in 15 Minuten erreichbar, liegt 
die Anstalt in halber Höhe des Monte Brè, zirka 200 m über Lugano, einen herr- 
lichen Ausblick auf die Stadt, den See und den San Salvatore bietend. 

Die Anstalt ist modern nach dem Muster der besten deutschen Sanatorien 
eingerichtet, mit elektrischem Licht und Zentralheizung in allen Räumen, Korridoren 
usw., ebenso wie mit Wasserleitung, Wasserspülung usw. versehen. Die Zimmer 
sind geräumig, hoch, komfortabel und gemütlich eingerichtet: Die meisten Zimmer 
haben Doppeltüren, sind gut isoliert und die Fußböden mit Linoleum belegt; 
sämtliche Jud und Ostzimmer haben schöne Balkons, alle Zimmer Reformbetten. 
Jeder Gast erhält sein eigenes Zimmer, nur auf besonderen Wunsch werden Gäste 
gemeinsam einlogiert. Nervöse und empfindliche Patienten empfinden es angenehm. 
daß der Schritt der an den Zimmern Vorübergehenden durch Korridor- und 
Treppenläufer gedämpft wird. In jedem Stockwerk ist ständig warmes Wasser | 
vorhanden. Zahlreiche Lufthütten am Bergesrand mit prachtvoller Aussicht auf 
den See stehen den Kurgästen ebenso wie eine Liegehalle (80 m? groß) zur | 
Verfügung. Gut gepflegte Promenaden bieten Gelegenheit zu Spaziergängen. | 
Die Anstalt liegt etwas seitwärts vom Dorfe Ruvigliana, so daß kein Lärm oder | 
Geräusch die Gäste stört. Straßen und Umgebung des villenreichen Ruvigliana 
sind trocken, fest und nachts elektrisch beleuchtet. Großstädtische Bequemlich- | 


keit 17 5 hier demnach im Gegensatz zu andern italienischen Städten nirgends 
vermibt. l 


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In den ersten Jahren wurde die Anstalt durch- 
Besuch der Anstalt. schnittlich von zirka 200—3800 Gästen jährlich be- 
sucht. Die Frequenz nahm aber durch die Erbauung des Hauptgebäudes einen 
riesigen Aufschwung, so daß im Jahre 1910 über 700 Gäste hier weilten. Von 
diesen machten zirka 60% Kuranwendungen und 40% waren als Erholungs- 
bedürftige und Pensionäre da. Von den Kranken, die die Anstalt aufsuchten, | 
wurden laut ärztlicher Statistik 80% als geheilt, 15% als gebessert und 5% als 
nicht gebessert entlassen. Vertreten waren folgende Nationen: 60% Deutsche 
20% Schweizer und 20 °/, Oesterreicher, Italiener, Russen, Holländer, Franzosen. 
Finnen, Amerikaner und Afrikaner. Die Anstalt war wie folgt besucht: im Januar 


rr 


täglich von zirka 50, Februar zirka 75, März zirka 90, April zirka 90, Mai zirka S8 \ 
Juni zirka 75, Juli zirka 70, August-September zirka 75, Oktober zirka 80, November 
zirka 80 und Dezember zirka 65 Gästen. 


| Zur Anwendung kommt in der 
Kurmittel und Anwendungsformen. Zur Anwend a 


kalisch-diätetische Heilverfahren nach den Grundsätzen von Prof. Winternitz, 
Prießnitz, Dr. Lahmann, e Hahn, Schroth, Rikli, Dr. Bircher-Benner (Haigs 
Harnsäure-Theorie), Platen und Pastor Felke in streng individueller Weise. Milde 
Kurformen werden durchaus bevorzugt. Es gehört zum Grundsatz der phys. -diätet. 
Therapie, den ta allmählich einzuleiten und durchzuführen. Sogenannte 
Kaltwasserkuren, durch die mehr Schaden als Nutzen gestiftet wird und die in, nach 
wissenschaftlichen Grundsätzen geleiteten Anstalten längst der Wärmekultur ge- 
wichen sind, werden in der Anstalt nicht vorgenommen. Mit Recht fürchten sich be- 
sonders die Nervösen vor solchen Parforcekuren, die wohl vorübergehende Erfolge 
zeitigen, weil sie das Nervensystem gleichsam anpeitschen, hinterher aber den 
Zusammenbruch beschleunigen. Grundsatz der Anstaltsleitung ist das hygienische 
Prinzip: „Was vom Patienten besonders unangenehm em funden wird, das schadet 
ihm.“ Das Wasser kommt zur Anwendung in Voll-, Halb-, Rumpf-, Sitz- oder 
Fußbädern, kühlen und warmen Douchen, Wechseldouchen, Kohlensäurebädern, 
ferner in feuchten und trockenen Ganz- und Teilpackungen, in Umschlägen, Ab- 
reibungen, Bett-, Rumpf-, Fuß-, Arm-, Dampf-, elektrischen Lohtanninbädern, 
Kohlensäurebädern, Kneippgüssen usw. — Die Massage wird von geschultem 
Personal, in schweren Fällen von der Anstaltsleitung selbst ausgeführt. Zur An- 
| wendung kommt Hand-, Vibrations- und Thure-Brandt-Massage, sowie schwedische: 
18 Heilgymnastik. Ferner elektrische Lichtbäder in weiß-blau-rot, Bestrahlung mit 
I elektrischen und Sonnenlichtapparaten. In reichstem Maße werden den Gästen 
I ferner Licht, Luft und Sonne zugänglich U Die herrlich eigenen Luft- 
t und Sonnenbäder (je eins für Damen und Herren) können hier das ganze Jahr 
l über genommen werden. Im Winter dienen dazu die in jedem Luftbade vor- 
l handenen Glashallen, in denen selbst im Dezember und Januar die Temperatur 
bis 45° ist. Direkt an die Anstalt schließt sich ein Kastanienwäldchen an, das den 
w Gästen im Sommer er" Bir schattigen Aufenthalt bietet. In demselben ist 
jetzt auch ein Waldluftbad eingerichtet. 


Krankheiten, die im Kurhaus mit Erfolg behandelt 


wurden: Krankheiten des Nervensystems, der Atmungsorgane, Erkrank- 
I —— ungen des Gefäß-Systems, Herzfehler und reislaufstörungen, 
konstitutionelle Leiden aller Art, wie Bleichsucht, Gicht, Rheumatismus, 
Zuckerkranlcheit, Sexualerkrankungen usw., Erkrankungen der Unterleibs- 
organe, chronische Vergiftungen und Frauenkrankheiten. — Geisteskranke 
und Kranke mit ansteckenden Leiden werden nicht aufgenommen. 


: „ An Ausflügen, Bergpartien und Spaziergängen bietet wohl selten 
Ausflüge. eine Gegend so viel Abwechslung wie Lugano. 


Nach Lugano ist die denkbar beste Verbindung. Fast 
Af Verkehrswesen. von allen Gegenden Europas gehen direkte Wagen. Von 
ii Ruvigliana nach Lugano ist alle 10 Minuten Tramverbindung. Man fährt von der 
Anstalt in 15 Minuten nach Zentrum Lugano. — Postverkehr: Täglich dreimal. 
1  Telegrammadresse: Pfenning, Ruvigliana-Lugano. 


Der Pensionspreis beträgt für Kost (4 Mahlzeiten), 
Tarif und Pension. Wohnung, Heizung, Luft- und Sonnenbäder mitDouchen, 
‚Beleuchtung pro Tag Fr. 6.—, 6.50, 7.—, 7.50, 8.—, 8.50 und 9.—, je nach Wahl 
des Zimmers und der Jahreszeit. Familien erhalten Extrapreise nach Vereinbarung. 
— Bäder werden extra berechnet, doch werden auch Pauschalpreise vereinbart. 
— Passanten erhalten ein Mittagsmahl (vegetarisch oder Fleischtisch) für Fr. 2.50, 
Kaffee komplett Fr. 1.—, Abendessen Fr. 2.—, Logis Fr. 2.— bis 8.—, Frühstück 
Fr. 1.—. Die Mahlzeiten sind reichlich und ist unsere Küche als vorzüglich be- 
kannt. Dieselben sind nach den Grundsätzen von Dr. Lahmann geführt, doch 
wird auf Wunsch auch Hotelkost verabreicht. 


Die Anstalt ist von vielen Aerzten empfohlen und besucht. 


Großer illustrierter Prospekt mit Dankschreiben und Heilberichten 
2% gratis und franko. 


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— —— — 


Dankschreiben und Heilberichte. 


Wir haben seit einer längeren Zeit von Jahren zahlreiche Reform- Sanatorien und vegetarische 
Pensionen aufgesucht zu unserer Erholung und für unsere eigene Lebensreform Anregung und 
Belehrung zu empfangen. — Unser Aufenthalt hierselbst am Monte Brè konnte leider nur en 
kurzer sein, doch reichte er zur Erkenr*tnis aus, daß die Pfenningsche Anstalt nach Einrichtung 
und Leitung der besten ihresgleichen willig * ist, sie durch Gunst des Klimas und der 
Lage aber noch übertrifft. ir scheiden mit den besten Zukunftswünschen für Herrn und Frau 
Direktor Pfenning! Medizinalrat Dr. B. aus Harburg a. E. nebst Gemahlin und 2 Kindern. 


Gerne teile ich Ihnen mit, daß wir mit Vergnügen und Befriedigung an unsern Aufenthalt in 
Lugano-Ruvigliana zurückdenken. Die e der Anstalt ist wunderschön, sonnig, frei unå mit 
herrlichem Blick, die Zimmer sind freundlich und behaglich, die Kost der sehr gut und 
sehr reichlich, so daß nichts zu wünschen übrig bleibt ir werden gerne einmal wiederkommen 

Eisenach. Frau J. V., Oberstengattin- 


Mir geht es sehr gut. Ich denke noch oft an Lugano und die Villa Ida zurück. Eine schönere 

Lage mit so vorzüglicher Höhenluft läßt sich auch wohl kaum finden. Das habe ich so recht 

eingesehen, W am Lago die Le mma am 12 o 1 lare — * N 2 keinen On 

ugano gleich, wie es am Eingang des Prospektes hei ch ha ei Ihnen zugenommen. 
Währscheinlich werde ich nn einmal einige Zeit in der Villa Ida verleben. 


Stettin. Frl. E. G. 


Hinsichtlich meines Kuraufenthaltes von Anfang Oktober bis Mitte Februar in der unver- 
eichlich schon genen Anstalt Villa Ida in Ruvigliana-Lugano kann ich Ihnen der vollen Wahr- 
eit entsprechend mitteilen, daß der Erfolg ausgezeichnet, ja die Nachwirkung der Kur 

überraschend sich bemerkbar machte. Ich fühle mich so gesund, ohne die ngste 
und ohne irgend welche Beschwerden, so daß ich sagen kann, die Kur war wohl angebracht unter 
Ihrer streng individualisierenden Leitung. 

Wiesbaden. Sekretär G. G. 

Gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen herzlichen Dank ausspreche für die freundliche Be 
handlung während meines Aufenthaltes in Ihrer Anstalt. Ich werde die schöne Zeit, die ich bei 
Ihnen verlebte, in meinem Leben nie vergessen, werde Ihre Anstalt jedem Leidenden empfehlen 
Indem ich nochmals meinen verbindlichsten Dank ausspreche zeichne 

Eggenbühl. K. S., Kaufmann. 

In Ruvigliana am schützenden Monte Br& hat es uns sehr gut gefallen und wir fühlten uns 
äußerst wohl. Wenn es unsere Zeit erlauben würde, würden wir sehr e unsere November- 
Nebeltage mit Ihrem sonnigen Klima dort vertauschen. Mit en Grüßen 

Kiel, Ihr St. und Frau, Architekt. 

Wir haben bei Ihnen eine sp nette Stätte gefunden, die durch Ihre und Ihrer Frau Gemahlin 
n . 7 uns unvergeßlich bleiben wird. 

Berlin, 6. Dezember. Frau A. M., Rentiere. 


Sehr geehrter Herr Direktor! Es drängt mich, Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin, sowie Her 
Dr. Oswald meinen aufrichtigsten Dank zu sagen. Als ich Mitte Mai nach dort kam, war mem 
schweres Leiden, die Erkrankung des Zentralnervensystems, soweit vorgeschritten, daß ich zB 
die Treppen hinauf und hinab immer nur unter Zuhilfenahme des Geländers gehen konnte. Nach acht 
wöchentlicher Kur konnte ich ohne jede Hilfe und ohne Stock gehen. Wie ich ns in allen 
Bewegungen jetzt eine größere Sicherheit besitze und hiermit auch wieder das 
zurückgewonnen habe. Mit bestem Dank und freundlichen Grüßen 

Berlin. Ihr ergebener Th. A. 


Während meines zehnwöchentlichen Aufenthaltes in hiesiger Anstalt wurde ich von meiner 
e schweren Neurasthenie vollständig befreit. Die vorzügliche Lage die klimatischen 
Verhältnisse spielten bei der Heilung eine nicht zu unterschätzende Rolle. In sehr wohlwollender 
Weise haben sich die Herren Direktor Pfenning und Dr. Oswald meiner stets — — um 
mich wieder gesund zu machen, damit ich in meinem schweren Beruf als P noch 
manche Jahre tätig bleiben werde. Mit gutem Gewissen kann ich daher die hiesige Anstalt allen 
warm empfehlen, 

Osnabrück. H. D., Sekretär. 

Des Wassers heilige Kraft, des Lichtes belebende Wirkung, der Reiz fröhlicher 
der vorzügliche Tisch und gewissenhafte Behandlung in Verbindung mit göttlichem F 
haben mir in 5 Wochen die Gesundheit (Neurasthenie) wiedergegeben. Den Leitern des 
Sanatoriums dafür aufrichtigen Dank! Möge die Anstalt gedeihen, möge sie vielen Leidenden 
gleiche Dienste wie mir tun. 

Barby. G., Lehrer. 

Ganz wunderbar zu Ihrem Vorteil verändert, kam meine Nichte aus Ihrem Sanatorium zurück 
und beeile ich mich, Ihnen und Herrn Dr. Oswald meinen und meiner Schwester Dank zu übermitteln. 

Bayreuth. Th. v. T., Freifrau. 

Unterzeichneter bestätigt hiermit, daß er von seiner schweren Krankheit (Nervenschwäche) 
im Sanatorium Monte Br& vollständig geheilt wurde, nachdem er von mehreren Aerzten als un- 
heilbar erklärt wurde. Herzlicher Dank. 

Wien, 2 August 1911. K. B. 


Nach einem fünf wöchentlichen Aufenthalte konnte ich diese nach meiner Ansicht erstklassige 
Anstalt auf eigenen Füßen gehend verlassen, obwohl ich bei meiner Ankunft hineingetragen werden 
mußte, weil mein Bein gelähmt war. Für gute Pflege und aufmerksame Bedienung danke ich 
hiermit der Direktion und dem leitenden Arzt. 

R., 19. Januar 1911. A. H., Ingenieur. 

Habe mich nach vierwöchentlichem Aufenthalte hier wie noch in keinem anderen Sanatorium 
aa. 4 1 2 wohlbefunden und gut erholt. Dem Herrn Direktor und seiner Frau meinen 

ichsten Dank. 


Mühlhausen i. E. P. L., Zahnarztgattin. 


bruck von Wılneim Mösier, Uranienburg, 


u ee Google 


die Röststoffe stammen. Erdmann-Halle hat zunächst gezeigt, 
daß man unter den Röststoffen die eigentlichen Aromasub- 
stanzen von den physiologisch wirksamen unterscheiden kann; 
die Hälfte dieser letzteren besteht aus einem Stoff, der Furfur- 
alkohol genannt wird; er ist gleichzeitig der hauptsächlichste 
Übeltäter unter ihnen, denn die Valeriansäure, die noch in 
nennenswerter Menge vorhanden ist, übt kaum eine Wirkung 
auf den Organismus aus. Bei der Vorbereitung zur Koffein- 
entziehung wird der Rohkaffee mit gespanntem Wasserdampf 
behandelt. Dieses Verfahren und die nachfolgende Anwendung 
von Benzol bewirkt, daß große Klumpen einer schwarzen Sub- 
stanz dabei abfallen, die hauptsächlich aus Staub, Schmutz, 
Faserteilchen, Fett und Wachs aus der Kaffeebohne besteht 
und die das entzogene Koffein einschließt. 

In neuester Zeit hat man nun versucht, den Kaffee durch 
Waschen und Bürsten mit lauem Wasser von den Muttersub- 
stanzen der Röststoffe zu befreien; tatsächlich ist man erstaunt 
zu sehen, daß auch schon dabei das Waschwasser trübe, fettig 
und schließlich förmlich dick von abfallendem Kaffeewachs, 
die Bohnen aber schön hell und glänzendrein werden. Aber 
selbst wenn durch nachfolgendes Ausziehen mit Benzol jede 
Spur von Verunreinigung entfernt ist, hat die Bohne wohl an 
Appetitlichkeit gewonnen, die Muttersubstanzen der Röststoffe 
aber nicht verloren. Diese sitzen eben nicht an der Ober- 
fläche, zu ihrer Entfernung ist ein tiefer eingreifendes Ver- 
fahren notwendig. Schon vor Jahren habe ich den Furfur- 
alkohol als nie fehlenden Bestandteil der Holzsubstanz nach- 
gewiesen und meine mit Kaffee angestellten Versuche haben 
ergeben, daß er hier aus dem Zellstoff, der sogenannten Roh- 
faser der Kaffeebohne, hervorgeht. Die Rohfaser beim Kaffee 
ist nämlich besonders leicht veränderlich, dient sie doch dem 
aus dem Samen sich entwickelnden Keimling der Kaffeepflanze 
als Reserve-Nahrungsstoff. Beim Rösten entsteht zum größten 
Teil aus ihr der Furfuralkohol. Wenn man Kaffeebohnen 
einer Behandlung mit gespanntem Wasserdampf unterzieht, wie 
das beim Aufschließprozeß des Koffein-Entziehungsverfahrens 
der Fall ist, kann man eine starke Verminderung der Rohfaser 
feststellen, und tatsächlich zeigt ein solcher Kaffee beim Brennen 
auch parallelgehend eine starke Verminderung des Furfurols 
unter den Röststoffen. Die Valeriansäure aber hat mit der 
Rohfaser nichts zu tun, ihre Muttersubstanz wird auch durch 
die Wasserdampfbehandlung nicht verringert, es hat sich viel- 
mehr herausgestellt, daß sie aus dem Kaffeewachs entsteht, das 


durch Waschen oder Benzolextraktion entfernt werden kann, 
Der gewöhnliche Kaffee des Handels unterscheidet sich daher 
betreffs seiner Extraktbestandteile und seines wirksamen Röst- 
stoffgehaltes kaum von dem gründlich gewaschenen und ge- 
bürsteten, selbstredend gar nicht betreffs seines Koffeingehaltes, 
denn dieses kann erst recht nicht durch bloßes Waschen her- 
ausgelöst werden. Die aus Fett und Wachs entstehenden 
Röstbestandteile sind überdies flüchtig, gelangen also nur zum 
geringsten Teil in den Aufguß, können schon aus diesem 
Grunde kaum als wesentlich angesehen werden. Es ist gar 
nicht sichergestellt, daß die Röstprodukte es sind, welche eine 
Wirkung auf den Organismus üben oder die Wirkung des 
Koffein unterstützen, aber wenn das der Fall ist, genügt es 
nicht, daß ein Kaffee den Gesetzen der Reinlichkeit oder 
Ästhetik Genüge leiste, um diese Wirkungen vermissen zu 
Jassen, sondern Muttersubstanzen chemischer Stoffe können 
auch nur durch chemisehe Operationen entfernt werden, wie 
es beim Entkoffeinisieren und dem dabei geübten »Auf- 
schließen« durch einen glücklichen Zufall oder einen glücklichen 
Griff verwirklicht ist. 


Lebensreize. 


Die ersten Aufzeichnungen über einige unserer heutigen wichtigsten Ge- 
nußmittel wissen deren Wert nicht hoch genug einzuschätzen. Tabak sowohl 
wie Kaffee wurden als wahre Lebenselixiere gepriesen. Jahrhunderte hindurch 
ward dieser Ruf nur wenig angefochten. Erst die letzten Jahrzehnte haben den 
Glauben an die Zuträglichkeit von Nikotin und Koffein, wie auch von Alkohol 
erschüttert. Eine Erklärung für diese merkwürdige Tatsache, daß so spät erst 
die Schäden dieser Genußmittel auffallend genug hervortraten, um bemerkt zu 
werden, ist wohl darin zu suchen, daß die früheren Geschlechter einesteils sich 
durch eine robustere Gesundheit auszeichneten, anderenteils weniger Angriffen 
auf ihr gemütliches und nervöses Gleichgewicht als die heutige Generation aus- 
gesetzt waren. Nicht nur im Leben des einzelnen, sondern auch im Leben der 
Allgemeinheit bewährt sich das Wort, daß erst Schaden klug macht. Erst der 
Rückgang der Gesundheit und Widerstandskraft unseres Volkes im allgemeinen 
hat die Frage nach seiner Ursache und das Bestreben nach seiner Abwehr wach- 
gerufen. 

Es sind etwa 20 Jahre her, daß man anfing, an die Stelle der künstlichen 
Reizmittel zielbewußt die natürlichen zu setzen. Die Gerechtigkeit verlangt ein- 
zugestehen, daß diese Bestrebungen anknüpfen an den Namen Lahmann. Et 
war derjenige, der die da und dort sich hervorwagenden Reformversuche zu- 
sammenfaßte und zeigte, daß man in Luft und Wasser, in naturgemäßer Ernährung 
und Kleidung dem erschöpften Körper hinreichend Reize zur Erholung, Kräftigung 
und Genesung zuführen und künstliche, besonders chemische Reize, die doch 
nur wie eine Peitsche wirken, für gewöhnlich entbehren könne. Seit jener Zeit 


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traten neben die Badeorte, die dem Hilfesuchenden nur einen Heilfaktor dar- 
bieten, die Sanatorien, die sich von jenen dadurch unterscheiden, daß sie die 
Heilung von den verschiedensten Seiten aus fördern wollen, und es entwickelte 
sich eine vielseitige Industrie zur Herstellung zweckmäßiger und gesunder 


Nahrungs- und Genußmittel, sowie eine riesenhafte Literatur, unter deren Einfluß 


heute schon ganz andere Anschauungen über das, was dem Leib frommt, in die 
breitesten Schichten eingezogen sind. 

Unter diesem Gesichtspunkt eines in seinem bescheidenen Teil mitwirkenden 
Faktors bei der Regeneration des deutschen Volkes möchten die nachfolgenden 
Zeilen die Bestrebungen der Kolonie Südstrand auf Föhr und ihres Sanatoriums 
würdigen. Bei ihrer Gründung vor 14 Jahren wurde Dr. Gmelin von dem Ge- 
danken geleitet, daß die von der Natur im Nordseeklima in so reichem Maße 
dargebotenen Heilkràfte bisher weder in richtiger Art noch in genügendem Um- 
fange ausgenützt worden seien. Er hatte gesehen, welch verblüffende Erfolge 
die Lahmann-Kuren im Binnenlande erzielten. Er sagte sich, daß durch sie noch 
mehr zu erreichen sein müsse im Nordseeklima, das an sich schon unbezweifelte 
Wirkungen hervorrufe. Er ging ferner auf Benecke zurück, der durch die Ver- 
suche einer Überwinterung Kranker an der Nordsee bewiesen hatte, daß das 
Seeklima nicht nur im Sommer, sondern auch im Herbst und Winter heilsam 
sei. Die Richtigkeit dieser Voraussetzung hat inzwischen die Entwicklung des 
Unternehmens bewiesen. Wo ehedem vegetationsarme Heide sich dehnte, steht 
heute ein Park mit weitverschlungenen, windstillen Wegen, die die vielen Häuser 
des Sanatoriums untereinander verbinden oder zum Strand mit seinen Liegehallen 
und Promenaden führen. Wenn im benachbarten Badeort Wyk die Hotels sich 
längst bis auf die Restauratlonsräume geschlossen haben, zeigt der Südstrand 


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noch reges Leben. Nicht nur im Sommer, nicht nur am stillen, sonnigen Herbst- 
tag, wenn der Spiegel der See in friedlichem Glanz sich breitet, sondern auch 
wenn der feuchtwarme Südwest Wolke auf Wolke vorüberjagt, wird man inne, 
daß diese Seeluft einen der mächtigsten Lebensreize darstellt. Mit sanfter, aber 
unwiderstehlicher Gewalt bringt er den vom Großstadtleben verworrenen Stoff- 
wechsel wieder in normalen Gang, regt Verdauung, Blutbildung, Herztätigkeit an 
und beruhigt die Nerven, so daß das Gehirn in tiefem Schlaf und wohltuender 
Apathie neue Kräfte sammeln kann. 

Die Erfahrung, daß besonders dem jugendlichen Organismus das Seeklima 
zuträglich ist, hat dann noch dazu geführt, dem Sanatorium, in welchem vor- 
wiegend Erwachsene und Familien wohnen, Einrichtungen für die Jugend anzu- 
gliedern. Ein Jugendheim ist bestimmt für erholungsbedürftige und kränkliche 
Kinder, denen vergönnt ist, ihren Aufenthalt nur zur Erholung zu benutzen. Das 
Nordseepädagogium dagegen ist eine höhere Schule mit Real- und Gymnasial- 
abteilung bis zum Einjährigen und verbunden mit Internat. Hier arbeiten Arzt, 
Lehrer und Erzieher Hand in Hand an gleichzeitiger geistiger und gesundheit- 
licher Förderung. In Zeit von vier Jahren hat sich das Pädagogium einen Ruf 
in ganz Deutschland und bis hinein nach Österreich und Rußland erworben, so 
daß die Zahl der Schüler auf etwa 100, die der Lehrer auf 16 gestiegen ist. 

Für den Volksfreund ist es eine Freude, hier die Industrie in der Her- 
stellung gesunder Nahrungs- und Genußmittel, wie des koffeinfreien „Kaffehag‘, 
dort die Ärzte in der Schöpfung gesundheitgebender Einrichtungen am Werk zu 
sehen, und es wird eine Zeit kommen, die den Anfang des 20. Jahrhunderts 
nicht nur als die Renaissance der Weltstellung von Deutschlands Handel, Industrie 
und Wissenschaft, sondern auch der Gesundheit und Kraft des deutschen Volkes 
bezeichnet. 


Beilagen. 


Der Tempel-Verlag, Leipzig, bietet unseren Lesern eine reiche Auswahl 
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Prospekt sei daher einer besonderen Beachtung empfohlen. 


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Hefi 4 
Januar 1913 


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Die 
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S. D. Gallwitz - G. F. Hartlaub · Hermann Smidt 


Dr. Albrecht Wirth, Am Balkan. 


s war ein dramatischer Tag in der Weltgeschichte, als ein 

E Krieg, der schon über ein Jahr lang gedauert hatte, be- 

endet, und durch das kleine Montenegro ein anderer Krieg 

eröffnet wurde, von dem es ja allerdings so aussieht, als ob er viel 

weniger lang dauern solle, wenn auch noch niemand künden kann, 

ob nicht doch eine Götterdämmerung das Ende von allem sein 
werde. 

Als Napoleon und Alexander I. nach Tilsit die Erde unter- 
einander verteilten, forderte der Zar den Besitz Konstantinopels. 
„Niemals!“ rief der Korse, „das bedeutet die Herrschaft der Welt!“ 
Darüber kam es zu dem Bruche mit Rußland, zum Brand von 
Moskau und schließlich zum Sturze des ersten Bonaparte. Auch 
heute handelt es sich um den Besitz Konstantinopels, sowie um die 
Eröffnung der Dardanellen. Auch heute handelt es sich um eine 
Weltfrage. 

Dazu ist noch ein anderes Problem gekommen. Der Vor- 
marsch des Deutschtums nach dem Ägäischen Meere, nach Vorder- 
asien, soll verhindert werden. Und an der Adria ringen Italiener, 
Deutsche und Slaven um den Vorrang. 

Die Verhältnisse an den Dardanellen werden keine durch- 
greifende Änderung erfahren; die Türken bleiben dort die Herren. 
Wohl aber geht der Westbalkan einer völlig neuen Zukunft ent- 
gegen. Albanien wird unabhängig. 

Wer sind die Albaner? Sie haben mit allen sie umgebenden 
Nachbarn gar nichts zu tun, haben nichts mit Griechen, Italienern 
und Serben, und am allerwenigsten mit den Türken gemeinsam. 
| Sie sprechen eine indogermanische Sprache, die jedoch ganz ver- 
j einzelt ist, untermischt mit baskischen Urworten. Auch nicht als 


„ | 


194 Dr. Albrecht Wirth: 


Nachfahren der Illyrier können die Albaner gelten, höchstens als 
deren Neffen, denn die Lautung des heutigen Schkip ist von der 
Gebahrung des Illyrischen, das wir durch Inschriften und viele 
Ortsnamen kennen, verschieden. Das Schkip ist ziemlich einheitlich; 
die Hauptmundarten, das Toskische im Süden und das Geghische 
im Norden, weichen weniger von einander ab, als Platt- und Hoch- 
deutsch. Dagegen wird sonst das albanische Volk durch die mannig- 
faltigsten Gegensätze des Glaubens und der Bildung zerklüftet. An 
der Küste die alte Kultur Venedigs; im Hochgebirge Zustände ur- 
tümlicher wie bei den Germanen des Tacitus; der Osten von Serben 
und Türken beeinflußt. In einem Tagesritte kommt man aus dem 
Gebiete höchster neuzeitlicher Zivilisation in das Land der Blut- 
rache und der finsteren Kulas. Selbst Innerafrika ist geographisch 
besser erkundet, als manche Striche Inneralbaniens. Dazu Gegen- 
sätze der Religion. Im Süden griechisch-uniert, im Norden römisch- 
katholisch, im Osten moslimisch. Freilich sind es schlechte Mo- 
hammedaner, Anhänger des pantheistischen Ordens der Bektaschi, 
und auch die Christen sind zwar sehr kirchlich, aber tyrannisieren 
vielfach ihre Priester. In neuester Zeit werden jedoch die Klüfte 
überbrückt, der albanische Gedanke erhebt sich mit siegreicher 
Kraft. Zunächst sollte die Einheit des Volkstums in einem einheit- 
lichen Alphabete zum Ausdruck kommen. Bisher gab es nämlich 
drei verschiedene Systeme von Schriftzeichen, dazu wollten die 
Jungtürken noch die arabischen Buchstaben einführen, womit sie 
allerdings gescheitert sind. Bei meiner jüngsten und fünften Reise 
in Albanien wurde ich mit einem Gedichte bekannt, das ganz so 
aussieht, als sollte es einmal zur Nationalhymne der Schkipetaren er- 
wachsen. Darin ist es deutlich gesagt, daß in Zukunft die Gemein- 
bürgschaft des Volkstums höher, heiliger, hehrer sein soll, als die 
trennenden Gegensätze des Glaubens und der Lebensführung. Die 
zwei letzten Strophen lauten: 
Tschonju, djelm, per nder t'atdheut! 
Shjena ma ne koh te flaschk 


Nen beirak te Skenderb&ut. 
Tosk e Gegh mblidhna baschk. 


Brift e hodsch baschku t’uroine 
Krytschali edhe dintar 

Din e fe mos t'na trasoine 
Jemi vlasen Shkypetar. 


Das bedeutet: „Auf, ihr Jungens, zur Ehre des Vaterlandes! Es 
ist keine Zeit mehr, schwach zu sein. Unter dem Banner Skander- 
begs mögen sich Tosken und Geghen vereinen! Gemeinsam sollen 
Priester und Hodschas segnen sowohl Christen als auch Mo- 


— 


Am Balkan. 195 


hammedaner. Kreuz und Islam trennen uns nicht mehr, wir sind 
Brüder, Schkipetaren!“ 


Anfang Dezember wurde durch Ismail Kemal Bey die Un- 
abhängigkeit Albaniens verkündet. Die Grundlagen zu einer solchen 
Unabhängigkeit sind nicht nur in der tiefen Sehnsucht des Volkes, 
sondern auch in der jetzigen militärischen Lage vorhanden, denn 
gerade Albanien hat auf dem ganzen Balkan den erfolgreichsten 
Widerstand geleistet. Zwar sind die Serben bis zur Adria vor- 
gedrungen und haben auch Berat besetzt, allein ihre rückwärtigen 
Verbindungen sind keineswegs sicher; sind im Gegenteil oft unter- 
brochen, und man kann sagen, daß eine zusammenhängende, feste, 
unzerstörte Stellung der türkisch-albanischen Truppen auf eine Ent- 
fernung von acht Tagereisen halbmondförmig sich von Skutari, 
das offenbar mit der Außenwelt noch in Verbindung steht, durch 
die Alpenkette des Schwarzen und des Weißen Drin bis nach Janina 
und den Grenzgebirgen am Busen von Arta erstrecke. Auch ist 
noch nicht das mindeste Anzeichen dafür vorhanden, daß eine von 
cen beiden Festungen an den Enden der Halbmondlinie zu fallen 
drohe. Besonders in Janina sind noch nicht einmal die Lebens- 
mittel knapp, und die Belagerer sind in weit üblerer Lage als die 
Belagerten. Über die Zusammensetzung der Verteidigungstruppen 
ist nichts Zuverlässiges bekannt, jedoch die meisten Nachrichten 
weisen darauf hin, daß die Mehrzahl der Truppen aus Schkipetaren 
bestehe. So wird schon jetzt Albanien von den eigenen Söhnen 
verteidigt und der Freiheit entgegengeführt. 


Während der Anfänge des Friedenskongresses in London sorgten 
die Griechen für die Unterhaltung Europas. Auf dem Schauplatze 
ihrer ältesten und stolzesten Erinnerungen, in der Nähe von Do- 
dona, wo noch jetzt Ruinen stattlicher Tempel ragen, und von 
Korfu, der Heimat der Phäaken, führen sie Krieg zu Wasser und 
zu Lande. Allein das Schicksal ging gegen sie, sowohl in Santi 
Quaranta, der einzigen Stadt Albaniens, die Kaiser Wilhelm be- 
sucht hat, als auch bei Janina. Es gibt höchstens drei Deutsche, 
die Janina besucht haben. Da ich zu diesen dreien gehöre, möchte 
ich mir erlauben, hier ein Bild von der Lage zu entwerfen. Die Stadt, 
die von etwa 40000 Leuten bewohnt ist, sich jedoch, da sehr eng 
gebaut, nur auf etwa zwei Kilometer erstreckt, liegt an einem großen 
See, ungefähr wie der Tegernsee, nur breiter. Hinter dem See er- 
hebt sich die Zagora, ein zerklüftetes, steinernes Meer von hoch- 
alpinem Wurf. Auf drei Seiten ist Janina von einer welligen 
Ebene umgeben. Unmittelbar am Rande der Ebene, im Süden, er- 
heben sich andere Alpen. In der Stadt türmt sich ein sehr steiler, 


196 Dr. Albrecht Wirth: 


aber nur ganz niedriger Hügel auf; er ist von einem ausgedehnten 
Fort bekrönt, das zur Zeit Ali Tepelenlis gewiß sehr stark war, 
jedoch gegen heutige Kanonen keinen Schutz bietet. Die Schwierig- 
keit ist aber gerade die, Kanonen gegen Janina in Aufstellung zu 
bringen; denn das beherrschende Gebirge ist doch recht weit ent- 
fernt, nicht unter sieben bis acht Kilometern, und außerdem ist es 
schier unmöglich, auf dem unwegsamen Gelände große Kanonen 
zu transportieren. So ist die Ebene eigentlich das einzige An- 
griffsfeld für einen Feind, und gerade eine Ebene ist die beste 
Schutzwehr für eine Festung, wie schon Moltke bemerkte, be- 
sonders jedoch eine kahle Ebene, auf der ein Heranrücken außer- 
ordentlich erschwert wird. Das wußten wohl auch schon die 
Gegner von Macbeth, als sie beim Sturm auf dessen Burg Bäume 
vor sich hertrugen. Freilich handelt es sich bei Janina, wie schon 
berührt, nicht um eine tischgleiche Ebene, und ein geschickter 
Gegner könnte die Unebenheiten des Bodens mit Vorteil ausnützen. 
Das haben nun offenbar die Griechen bisher nicht verstanden. Da- 
bei standen und stehen den Griechen nicht weniger als drei Wege 
offen, um Janina zu berennen. Der eine Weg führt über Metsovon 
durch einen äußerst schwierigen Engpaß, der für große Kanonen, 
namentlich zu jetziger Jahreszeit, vollkommen ungangbar ist. Es 
ist die berühmte Straße (ich habe sie auch zurückgelegt), die von 
Thessalien nach Epirus führt und die schon vor zwei Jahrtausenden 
von den Soldaten Cäsars benutzt wurde. Der zweite Weg, den 
kürzlich die Hellenen einzuschlagen versuchten, geht von Santi 
Quaranta über Delvino. Ein dritter Weg kommt von Prevesa her 
und vereinigt sich in ziemlicher Entfernung von der Stadt mit noch 
einem anderen, der das Lurostal quer durch das Hochgebirge mit 
dem Busen von Arda verknüpft. Obwohl zuerst in Athen allerlei 
Vertuschungskünste verübt wurden, kann jetzt kein Zweifel mehr 
darüber sein, daß die Griechen im Vilajet Janina drei mehr oder 
weniger bedeutende Niederlagen erlitten haben. 

Der Umkreis des von den Türken bei Janina besetzten Ge- 
bietes kann noch gut und gern auf zweihundertzwanzig Kilometer ge- 
schätzt werden. Weit geringer ist der Umkreis, den sie bei Skutari 
innehaben, nämlich 25—30 Kilometer, aber er bietet jedenfalls Raum 
genug, um den Vorteil der inneren Linie voll auszunutzen. Ich kenne 
Skutari von mehreren früheren Reisen gut, und hatte bei der 
letzten — es war Anfang November — den Vorteil, vom König 
zu einer Dampferfahrt eingeladen zu werden, die, bei einem strahlenden 
Tage und durchsichtiger Klarheit der Luft es aufs beste ermög- 
lichte, einen Einblick in die Gesamtlage zu erhalten. Auch vor 
Skutari dehnen sich zwei Ebenen, die eine, größere, im Süden, 


Am Balkan. 197 


nach der Richtung von Alessio zu, die andere, kleinere, im Osten 
und Nordosten der Stadt nach den Vorbergen der Malsia zu. Bei 
der Stadt selbst, die sehr weitläufig gebaut ist, und die sich wohl 
auf sechs bis sieben Kilometer erstreckt, erheben sich drei mäßige Hügel 
steil über der Fläche. Der eine Hügel trägt ein altes, venezianisches 
Fort, die anderen sind in neuzeitltcher Art befestigt. Die Ebenen im 
Osten und Süden werden von den Hügeln aus mühelos bestrichen. 
Außerdem wird die Südebene von zwei großen Flüssen durch- 
strömt, von der sehr langsamen, aber sehr breiten Bojanna, die 
den Skutarisee entwässert, und dem schmäleren, jedoch außer- 
ordentlich reißenden Drin. Auf ebenen Flächen gegen eine Festung 
vorzurücken, ist, wie soeben ausgeführt, ungemein mißlich. Die 
Montenegriner, die Meister des Nachtgefechts sind, versuchten dem- 
gemäß verschiedene nächtliche Überrumpelungen, aber derartige 
Überfälle werden durch die Flüsse stark gehemmt. So ist denn 
bisher noch kaum ein nächtlicher Überfall erfolgreich gewesen. 
Unmittelbar am Gegenufer der Bojanna beginnt der Tarabosch, 
dessen Hänge steil in die Wasser des Sees hinabfallen. Bis zu der 
Höhe des Berges sind etwa vier, höchstens fünf Kilometer Luftlinie. 
Der Tarabosch, dessen blutiger Name sicherlich in der Kriegsgeschichte 
in gleicher Furchtbarkeit weiterleben wird, wie der düstere Name 
des Malakoff von Sewastopol, hat nicht weniger als neun Spitzen, 
die indessen an Höhe nicht sehr voneinander abweichen. Als die 
Montenegriner die höchste, die zugleich am weitesten von Skutari 
entfernt liegt, besetzt hatten, sahen sie sich durch das Feuer der 
feindlichen Kanonen von den anderen Spitzen dermaßen be- 
strichen, daß sie es vorzogen, in die steilen Hänge des Tarabosch 
hinabzugleiten und sich dort mit ihren Geschützen einzubauen. 
Die Türken folgten aber nach und gingen sogar noch tiefer, so daß 
sie nach meiner Schätzung auf nur anderthalb oder höchstens zwei 
Kilometer Entfernung ungefähr 120 Meter in die Höhe schossen. Von 
den 40 oder 48 montenegrinischen Geschützen — ganz genau 
konnte man das begreiflicherweise nicht erfahren — sollten nur 
sehr wenige sein, die weiter als vier Kilometer, und nur zwei, die 
weiter als acht schossen. 

Den Skutarisee muß man sich etwa vorstellen, wie den Boden- 
see, nicht so lang, aber in der Nordhälfte breiter, und in jedem 
Falle unvergleichlich viel großartiger. Der kritische Punkt an dem 
See ist bei Kruda, dort wo die montenegrinischen und türkischen 
Stellungen mit dem freien Albanien zusammenstoßen. Zuerst waren 
die Schkipetaren die Freunde Nikitas, seit November jedoch, und in 
steigendem Maße seit der Unabhängigkeitserklärung Anfang De- 
zember, wendeten sie sich von ihm ab und wurden aus Freunden 


198 Dr. Albrecht Wirth: 


zu Feinden. Die Ansprüche der Zrnagorzen auf halb Nordalbanien 
sind eben mit den Hoffnungen der Schkipnia selbst unvereinbar. 


Die Erbfeinde der Albaner sind die Serben. Sie haben die 
Welt durch ihre Siege überrascht. Dazu hat die ungeahnte Größe 
ihres Aufgebotes beigetragen. Unsere Kenner sagten: 90 000 Ge- 
fechtsstärke, 120 000 Mann Verpflegungsstärke. Die Serben brachten 
jedoch 300 000 Mann auf die Beine. Verpflegung? Die Herren 
Serben lösten das Problem auf die eleganteste Weise von der Welt, 
indem sie einfach nicht verpflegten. Hungernd und bettelnd sah 
man schon während der Mobilisation, also noch vor dem Kriege, 
die Rekruten des dritten Aufgebotes durch die Mauern Belgrads 
schweifen. Der Gedanke der Regierung war ungefähr der, der 
auch die Franzosen vor 1792 und 1796, vor der Schlacht bei 
Valmy und den Siegen in Oberitalien beseelte; die zerlumpten, bar- 
fußen und verhungerten Rekruten der Levee en masse Carnots 
sollten alles Nötige aus Feindesland nehmen. Auch die Serben 
setzten alles auf eine Karte und spielten va banque. Auch sie 
hofften, daß ihre Soldaten Nahrung und Kleidung im Feindes- 
lande finden würde, und die Hoffnung hat nicht getrogen. Dazu 
erbeutete man noch unermeßliche Munition, genug, um ein ganzes 
Armeekorps ein Vierteljahr lang damit auszustatten. Auch die 
Pferde der Serben, sowohl bei der Reiterei als auch bei der Be- 
spannung der Batterien war weit besser, als erwartet. Tatsächlich 
ist die serbische Kavallerie die einzige, die während des ganzen 
Balkanfeldzuges etwas geleistet hat, und von ihrem schönen Ge— 
schützparke konnten die Serben mehrfach an ihre Verbündeten ab- 
geben, die sofort diese Hilfe wohltätig empfanden. Man braucht 
deshalb die Errungenschaften der Serben nicht zu überschätzen, 
denn schließlich eroberten sie so manche Städte, die gar nicht 
verteidigt wurden, und hatten fast überall mit einem von vorn- 
herein weichenden Feinde zu tun. 


Auch von den Staatsmännern Belgrads hatte ich keinen 
schlechten Eindruck. Die Ruhe eines Lazar Patschu und eines 
Draschkowitsch fiel angenehm auf. Am bedeutendsten ist jedenfalls 
Wladan Georgiewitsch, der es vortrefflich versteht, eine patri- 
archalische Würde mit südlicher Lebendigkeit zu vereinen. Freilich 
stimmt die Rechnung in einem nicht: Georgiewitsch, den man „Das 
Orakel Serbiens“ nennt, ist gar kein Vertreter des echten Serben- 
tums, sondern ein Zinzare, d.h. Zigeuner. Weniger Gutes kann 
man von Paschitsch sagen. Er ist ein Mann der schleichenden 
Umtriebe auf der einen Seite und plumper Offenherzigkeit auf der 
anderen Seite. Einst tat er sich heimlich mit Kapitalisten zusammen, 


Am Balkan. 199 


um einen Corner in Brot zu bilden. Als das gelungen und der 
Mehlpreis schon um 80 % gestiegen war, ließ er sich zum Mi- 
nister des Innern machen, und siehe da! in einer Woche war die 
Teuerung beseitigt und Paschitsch war der große Mann. 

Von den Eigenschaften der Türken jetzt, so halb und halb 
post festum, zu reden, ist ja billig, immerhin glaube ich es mir 
noch eher als andere herausnehmen zu dürfen, da ich in einer 
Broschüre schon vor einem halben Jahre den Zusammenbruch 
des osmanischen Reiches vorausgesagt habe. Uber die kriegerischen 
Fähigkeiten der Türken waren zwei Meinungen verbreitet. Die 
eine, die vor dem Sturze Abdul Hamids im Schwange war, be- 
sagte: Die Türken haben ein recht gutes Heer, ihre Soldaten sind 
so ziemlich jedem anderen Soldaten der Erde gewachsen. Die 
andere Meinung wurde nach dem Sturze des alten Sultans verlaut- 
bart: Die türkische Armee ist bis ins Mark verrottet und bedarf 
dringend der Reformen. Es liegt auf der Hand, daß eine dieser 
beiden Ansichten falsch sein mußte. Vor dem gemeldeten Sturze 
konnte man ein Regiment sehen, das fünfundzwanzig Obersten, 
lauter Günstlinge des Padischah, hatte, da konnte man einen blut- 
jungen General sehen von vielleicht nur 26 Jahren, die Brust mit 
Orden geschmückt, und daneben einen Oberleutnant von 60 Jahren, 
der nicht avancierte, weil er es nicht verstand oder sich nicht 
dazu verstehen wollte, sich bei den Günstlingen des Großherrn 
zu schustern und seine Kameraden zu denunzieren. Weder rich- 
tige Manöver, noch Scharfschießübungen wurden abgehalten. 
Warum kein scharfes Schießen? Weil der Padischah argwöhnte, 
das Scharischießen könnte sich einmal gegen ihn selber richten. 
Daß der Argwohn nicht so ungerechtfertigt war, haben die Ereig- 
nisse 1908 und 1909 gezeigt. Von neuzeitlicher Taktik und Strategie 
war keine Spur. Vollends im argen lag die Marine, die mehr als 
andere Waffen von der Korruption angefressen war. Ein einziger 
Marineminister soll 32 Millionen Mark für seine eigene Tasche 
gespart haben. Sehr schlimm war und ist ferner das Sanitätswesen. 
Es ist trotz der Anstrengungen so mancher hochverdienter Aus- 
länder noch immer unter Null. Die Ausbildung der Ärzte ist 
höchst mangelhaft, und dann fehlt es an den nötigen Anschalfungen. 
Einige glänzende Ausnahmen bestätigen die Regel. Nicht minder 
vernachlässigt ist seit Jahrhunderten die Reiterei, was bei dem 
einstigen Steppen- und Reitervolke besonders auffallen muß. Da- 
gegen zeigt das Steppenvolk, ebenfalls schon seit Jahrhunderten, 
eine merkwürdige Begabung für Artillerie. Schon die Schlacht von 
Chaldiran, durch die Nordwestpersien an Selim den Grimmen ge- 
fallen ist, wurde lediglich und allein durch die Artillerie gewonnen. 


200 Dr. Albrecht Wirth: Am Balkan. 


Das war vor vierhundert Jahren, und auch heute ist die Artillerie 
die wirksamste Waffe der Osmanen. 

Nach dem mehrfach erwähnten Sturze Abdul Hamids hat sich 
mancherlei gebessert. Richtige Manöver und scharfes Schießen 
wurden eingeführt, das Offizierkorps wurde gereinigt und verjüngt. 
Die Flotte wurde ganz beträchtlich gehoben. Durch starke An- 
käufe bei Krupp wurde die Artillerie vermehrt. In steigendem 
Maße gingen osmanische Offiziere ins Ausland, fremde Instruk 
teure wurden eingestellt. Und trotzdem dann der Mißerfolg! Wi: 
kam das? Die Hauptschulc trägt das jungtürkische Komitee mit 
seiner unaufhörlichen Verhetzung, deren Folgen auch heute noch 
nachwirken, eine andere Schuld die Untätigkeit und Sorglosigkeit 
der Türken, die an keinen Krieg glaubten und in dieser Ansicht 
von befreundeten, besonders auch deutschen Diplomaten bestärkt 
wurden. Viel Panik und Verwirrung stiftete das Uberlaufen Tau- 
sender von Christen. Gerade in den ersten Kämpfen wurden viel- 
fach Reserven verwandt, die neuzeitlichen Geistes und moderner 
Taktik keinen Hauch verspürt hatten. 

Ein eigenes Wort wird über die vielberufenen Instrukteure am 
Platz sein. Die deutschen Instrukteure haben schon seit 1883 ge- 
wirkt. Sie haben zweifellos darin gefehlt, daß sie von der Tüch— 
tigkeit des osmanischen Heeres ganz falsche Anschauungen er- 
warben und weiter verbreiteten; da hilft keine Beschönigung. Zu 
gute halten kann man ihnen jedoch ihre geringe Zahl, und die 
Tatsache, daß man sie nur als Theoretiker, nicht als Praktiker ver- 
wertete. Als die Zahl unserer Instrukteure am höchsten stieg, da 
betrug sie 28; das ist ein viel zu geringer Sauerteig, um eine ganze 
Armee zu durchsäuern; ein einziges Regiment hat ja mehr als 
sechzig Offiziere. Dann hatten unsere Offiziere gar keine Kommando- 
gewalt; noch nicht einmal zwanzig Mann durften sie über den 
Rinnstein führen. Ein Tschausch (Feldwebel) hatte mehr Autorität 
als sie. Auch unter dem neuen Regime ist es in der Hauptsache 
dabei geblieben; erst in allerneuster Zeit ist es besser geworden 
dergestalt, daß ganze Regimenter deutschen Offizieren anvertraut 
wurden. 

Das Bild wäre unvollständig, wenn wir nicht noch über die 
Rumänen etwas sagten. Sie sind eines der zähesten, unverwüst— 
lichsten Völker der ganzen Erde. Nichts anderem kann man sie 
vergleichen, als einem Flusse des Karst, der eine ganze Zeit unter- 
irdisch fließt, um dann mit vermehrter Kraft ans Licht der Sonne 
wieder hervorzubrechen. Ein halbes Jahrtausend waren die Ru- 
mänen vollständig verschollen. Dann aber tauchten sie auf einmal 
auf und überfluteten gleich alle sie umgebenden Völker. Auch im 


Dr. Carl Hagemann: Probleme der Opernleitung. 201 


jüngsten Menschenalter sind sie fortwährend noch im Wachsen be- 
griffen. Die Zahl der Rumänen dürfte zusammen mit der ihrer 
Verwandten, der Kutzowalachen, 101, Millionen betragen. 

Der Hauptkampf aber ist zwischen Deutschen und Slaven. 
Die Serben stellen lediglich die vorderste Welle der allgemeinen 
großen Slavenflut dar. Es handelt sich hier um eine weltgeschicht- 
liche Entscheidung. Österreich, das in diesem Falle die Wünsche 
und Hoffnungen der Deutschen vertritt, würde sich selbst aufgeben, 
würde seine ganze Zukunft als Großmacht in Frage stellen, wenn 
es hier nachgäbe. Denn auf den Hochstraßen des Weltverkehrs, 
die von dem Schwarzen Meere zur Adria und von dem Ärmel- 
kanale bis zum Persischen Goife gehen, treffen sich die Vorkämpfer 
des Deutschtums und des Slaventums, und es fragt sich in Zu- 
kunft: wer wem weiche! 


Dr. Carl Hagemann: Probleme der Opernleitung. 


I 


s war bisher Brauch, als Direktor der Wiener Hofoper einen 
E ausübenden Musiker, und zwar einen Kapellmeister anzu- 
stellen. Und dieser Brauch war gut. Er hatte theoretisch 
und praktisch durchaus seine Berechtigung. Der Theater-Direktor 
muß gleichzeitig der erste, das heißt im besten Sinne dirigierende 
Künstler seines Instituts sein — muß von Zeit zu Zeit an der Spitze 
seines Ensembles fühlbar werden. Und da liegt wohl nichts näher, 
als daß der Leiter eines Operntheaters imstande ist, selbst ans Pult 
zu treten und die vereinigten Scharen seiner Sänger und Musiker 
zur vollendeten Kunsttat hinanzuführen. 
Ein Theater kann nicht allein vom Büro aus geleitet werden. 
So etwas behaupten immer nur die Direktoren, denen künstlerische 
Talente oder Lust und Fleiß zu ihrer Betätigung fehlen. Sie machen 
dann gewöhnlich aus ihrer Not eine Tugend und sagen, daß man 
sich ja seine ausübenden Künstler, also auch die sogenannten Vor- 
stände engagieren könne — selbst aber in einer Art von Halbgott- 
Ähnlichkeit unentwegt auf dem Direktionssessel thronen solle, um 
in jedem Augenblick mit möglichst großer Gelassenheit die oft alizu 
erregten Wogen des praktischen Theaterbetriebes zu glätten und 


202 Dr. Carl Hagemann: 


auch sonst die vielen Entscheidungen aus der unentwegten Ruhe 
des im Grunde Unbeteiligten heraus zu treffen. Aber gerade das 
Umgekehrte ist richtig. Ich kann mir als Theaterleiter die nötigen 
Verwaltungs- und Kassen-Beamten, wenn es sein muß, sogar einen 
kaufmännischen Direktor halten. Nur der führende Künstler muß 
ich selbst sein. Die Praxis der Geschäfts-Theaterdirektoren hat 
noch nie zu großen Gesamtleistungen und zu neuen künstlerischen 
Werten geführt. Was dabei heraus kam, war immer nur der Be- 
trieb eines gutgehenden Kunst-Warenhauses. 

Pollini in Hamburg und Hofmann in Köln beschäftigten zu 
Zeiten gewiß sehr gute Star-Ensembles, hielten in ihrem trefflich 
organisierten Gemeinwesen auf Ordnung und machten vor allem 
glänzende Geschäfte. Die Theaterkultur weitergebracht aber haben 
sie nicht. Nicht im mindesten. Im Gegenteil. Das Bayreuther Bei- 
spiel wäre in den deutschen Provinzen viel früher durchgedrungen, 
wenn nicht in den achtziger und neunziger Jahren grade an der 
Spitze der großen Stadttheater Leute gestanden hätten, die aus 
ihrem Geschäftsinteresse heraus das Gegenteil von dem anstrebten, 
was Richard Wagner für die deutsche Bühne fordern zu müssen 
glaubte. Die Direktoren von der Art Pollinis wollten ja gar- 
keine Ensemblekunst, denn die kosteten Proben, und wollten gar- 
keine stilvolle Ausstattung, denn die kostete Geld. Und wozu das 
alles auch. Ihre Theater waren ja ohnehin voll. Die Leute gingen 
der paar schönen Stimmen wegen hinein. Das Ganze: das Zu- 
sammenwirken alles Einzelnen zum Ganzen, war ihnen im Grunde 
einerlei. ee te 

Solche Zustände sind nun gar nicht denkbar, wenn der Leiter 
einer Bühne gleichzeitig als sein erster Regisseur wirkt. Ein echter 
Künstler kann es ja garnicht mit ansehen, daß das Niveau seines 
Theaters unter einen bestimmten Gradstrich sinkt. Vor allem wird 
er zunächst einmal seine eigenen Aufführungen mit der größten 
Sorgfalt herauszubringen suchen und damit einen Stamm erfolg- 
reicher Abende schaffen, weil er in diesem Falle nicht nur als 
Direktor, sondern auch als ausübender Künstler seine Haut zu 
Markte trägt. Aber auch sonst ist es unbedingt nötig, daß der 
Direktor von Zeit zu Zeit selbst vor und unter seine Mitglieder 
tritt und mit ihnen, gleichsam als primus inter pares, für irgend- 
eine Gesamtleistung der Bühne zusammenwirkt, also seine eigene 
Künstlerschaft in die Wagschale legt. Ein Theaterleiter kann letzten 
Sinnes nur auf diese Weise seine künstlerischen Persönlichkeits- 
werte auf sein Ensemble übertragen — nur durch gemeinsames 
Arbeiten, durch gemeinsames Ringen um den Preis einer ganz und 
gar stilvollen und geschlossenen Kunstleitung das menschliche und 


Probleme der Opernleitung. 203 


künstlerische Vertrauen des gesamten Personals erringen und da- 
mit den ganzen Betrieb des Instituts fest in die Hand bekommen. 
Mit Anschlägen am schwarzen Brett und Verfügungen durch Rund- 
schreiben an die Regisseure und Kapellmeister ist ein Theater, über- 
haupt ein Kunstinstitut nicht zu leiten. Hier gilt allein das Bei- 
spiel. Der Chef muß zeigen können, wie es gemacht wird und 
wie es nicht gemacht werden soll. Er muß Mensch zu Menschen 
und Künstler zu Künstlern sein. Das einzelne Mitglied muß seinen 
Direktor vor allem auch künstlerisch spüren. Sein Wesen, sein 
Wollen muß gleichsam im Theater umgehen. Der Künstler ordnet 
sich im Grunde nur unter seinesgleichen. Vor allem der Bühnen- 
künstler, der dem Laien und besonders dem nüchternen Geschäfts- 
mann gegenüber immer sehr mißtrauisch ist. 

Ich könnte da allerlei aus der ersten Zeit meiner Mannheimer 
Intendanten-Tätigkeit erzählen, die ich damals als vollständiger 
Neuling im Theaterwesen ganz plötzlich und ohne jede künst- 
lerische Vorbereitung anzutreten hatte. Schon nach wenigen Tagen 
fühlte ich, daß es meine erste Sorge sein müßte, mich Hals über 
Kopf in praktische Inszenierungen zu stürzen, um dem Personal 
zunächst einmal zu zeigen, daß ich das Theater wesentlich vom 
Regietisch und nicht vom Direktionssessel aus zu leiten beabsichtigte. 

So hätte also für ein Schauspielhaus der Direktor unbedingt 
auch sein eigener erster Regiekünstler zu sein. Alles andere ist 
Notbehelf. Der Kaufmann — der mit einer gewissen Kunst- 
begeisterung und praktischen Kenntnissen des äußeren Theater- 
betriebes ausgestattete Verwaltungsbeamte — der dilettierende 
Hofmann oder der aus einer kunstbeflissenen Familie stammende 
ehemalige Kavallerieoffizier — der allgemein beliebte, das Fach 
der guten Rollen spielende Darsteller und dergleichen Anwärter 
mehr taugen nicht in dem Maße für den schwierigsten Posten der 
öffentlichen Kunstübung. Besteht schon einmal die Forderung, daß 
ein Direktor sein Theater tatsächlich auch zu dirigieren, das heißt 
fach- und sachgemäß aus eigenster Initiative heraus kunstfördernd 
und -schaffend zu leiten hat, so muß er selbst ein, und zwar aus- 
gezeichneter Bühnenkünstler sein — wenn die Aufgabe eines 
Kulturtheaters, nämlich Kunst um der Kunst willen zu bieten, 
erfüllt werden soll. 

Deshalb ist auch für die Oper zunächst der wirklich musika- 
lische Opernregisseur der gegebene Theaterleiter — immer natürlich, 
und das versteht sich ja von selbst, wenn er die vielen übrigen 
Eigenschaften für das Amt eines Theaterdirektors hat. Ich hebe es 
ausdrücklich hervor: der wirklich musikalische Opernregisseur. 
Denn die meisten unserer Opernregisseure sind nicht musikalisch 


204 Dr. Carl Hagemann: 


oder doch nicht musikalisch genug. Die Musik ist aber nun ein- 
mal für die Oper die Hauptsache. Und deshalb kann zum zweiten 
auch der Kapellmeister zum Operntheaterleiter berufen sein, wenn 
er nicht nur ein universell-gebildeter, also höchst kultivierter Zeit- 
mensch, nicht nur ein geschmack- und taktvoller Kunstfreund, nicht 
nur ein tüchtiger Musiker mit ausgesprochener Dirigierbegabung, 
sondern ein wirklicher Theaterfachmann und Theater-Kapellmeister 
ist. Für diesen Fall scheint mir sogar der geborene Bühnenkapell- 
meister noch geeigneter für den Posten eines Operndirektors zu 
sein als der Regisseur. Denn das Grundwesen seiner Persönlich- 
keit ist das Musikalische, wie eben das Musikalische auch das 
Grundwesen der Opernkunst ist. Außerdem kann er als Kapell- 
meister gelegentlich des Abends selbst die sichtbare persönliche 
Führung des ganzen künstlerischen Apparates übernehmen, während 
der Regisseur die einzelne Vorstellung ja immer nur vorzubereiten, 
niemals aber selbst zu dirigieren vermag. 


II 


Richard Wagner empfand, dachte und schuf so ganz und gar 
für das Theater, daß ihm die bühnenmäßige Erscheinungsform 
seiner Werke einziger und letzter Zweck alles künstlerischen 
Trachtens und Dichtens war. Das einzelne musikalisch- dramatische 
Werk galt ihm keineswegs mit dem Abschluß der bis ins kleinste 
durchgearbeiteten Partitur als vollendet oder auch nur als vor— 
läufig vollendet. Mit nervöser Hast und großer Ungeduld suchte 
er vielmehr alles daran zu setzen, um das innerlich Geschaute und 
Gehörte möglichst bald in einer möglichst adäquaten Weise zur 
Bühnendarstellung zu bringen und damit erst die ästhetische Total- 
leistung in ihrer ganzen Fülle und Wirkungskraft zu liefern. Und 
so rief er allsogleich nach den Bühnenkünstlern, die ihm dies 
leisten konnten und wollten: nach dramatischen Sängern, nach 
Regisseuren und Theaterkapellmeistern. Aber er fand sie nicht — 
zunächst nicht und lange nicht. Und den Regisseur hat er nie 
gefunden. p -4 

Das deutsche Theater, dessen Betätigung sich damals (um die 
Mitte des 19. Jahrhunderts also) in anderer Richtung und nach 
anderen Grundsätzen bewegte, als es die von Wagner neu for- 
mulierten und in seinem dramatischen Schaffen befolgten Grund- 
sätze verlangten, lieferte ihm zunächst nicht einmal das Künstler- 
material, aus dem er selbst den Leiter der szenischen Darstellung 
hätte bilden können, wie er das ja bekanntlich in der Kapell- 
meisterfrage mit so großem Erfolg getan hat. Und so blieb ihm 


Probleme der Opernleitung. 205 


nichts weiter übrig, als die sehr wichtige Aufgabe der Umsetzung 
der Partitur in die Erscheinungsform der Szene ebenfalls selbst 
in die Hand zu nehmen und sich selbst zum Theaterschöpfer, 
Theaterleiter und Regisseur zu bestellen, wozu er um so mehr 
das Recht hatte, als er auch für diese Funktionen hervorragend 
begabt war. 


Wir kennen seine Erfolge. Der mit einem Theatersinn sonder- 
gleichen begabte Meister hat mit der Darstellungsart seiner Bühnen- 
werke im Gegensatz zum damals Bestehenden zweifellos etwas 
durchaus Anerkennenswertes geschaffen. Niemand kann bestreiten, 
daß die Bayreuther Bühnenleistungen der Jahre 1876—1882 eine 
bedeutsame Epoche in der Entwicklungsgeschichte der modernen 
Inszenierungskunst darstellen, die nie und nimmer unterschätzt 
werden darf. Die weitere Frage ist dabei nur, ob Richard Wagner 
damals gleich die allerletzte und damit allerbeste Bühnen-Dar- 
stellungsiorm seiner Werke gefunden — ob er, der das Kunst- und 
Kulturprinzip des deutschen Worttondramas erdacht und durch 
bedeutende Schöpfungen ein für allemal mit der letzten überhaupt 
möglichen Konsequenz demonstriert hat, die Universalität seines 
Kunstfühlens und Kunstkönnens so weit zu treiben vermochte, 
daß die Anweisungen der Regie-Partitur damals schon ohne Rest 
in die Darstellungsformen der Bühne aufgingen. Und diese Frage 
muß wohl verneint werden und darf verneint werden, ohne daß 
dem Schöpfer und Meister der tragischen Bühne in Bayreuth seine 
ungeheuren Verdienste um die Kultur unseres Volkes und Landes 
dadurch irgendwie geschmälert werden. 


Es ist Wagner und seinen Mitarbeitern in der Tat nicht 
geglückt, den musikalisch-malerischen Stil der bühnenmäßigen 
Gesamtdarstellung seiner Worttondramen zu finden. Was wir 
Bayreuther Stil nennen, ist die nach Maßgabe der musikalischen 
Phrasenwerte angelegte Durchbildung des einzelnen Sängers und 
der Ensemble- und Chorgruppen, wobei mehr die musikalisch-for- 
male Struktur der einzelnen Phrasen, als ihr intensiver Stimmungs- 
gehalt und ihr inneres Verhältnis zum dramaturgischen Verlauf des 
Ganzen maßgebend war. Diese Stilprinzipien, die sich gewiß aus 
der Art und Anlage der neuen Werke ergeben, wurden in den 
Bayreuther Probesälen nun allerdings mit so viel Eıfer und Ge- 
schmack, mit solcher Liebe und vor allem mit so absolut verläß- 
licher Kenntnis der logischen und psychologischen Zusammenhänge 
betrieben, daß der künstlerische Wille des Dichter-Komponisten in 
verhältnismäßig hohem Grade zum Ausdruck kam und eine große 
Wirkung nicht ausbleiben konnte. 


206 Dr. Carl Hagemann: 


Die Bayreuther Leistung also in Ehren. Es ist aber falsch, 
sich dabei zu bescheiden und bedauerlich, daß dıes mit der im 
Theaterleben nun einmal typischen Lässigkeit und Schwerfälligkeit 
bis heute geschehen ist und immer noch geschieht — durchaus im 
Gegensatz zum Meister selbst, der sowohl mit der Art, Form und 
dramatischer Intensität der Darstellung im einzelnen, als auch mit 
der Durchbilcdung des dekorativen Rahmens und der Kostüme 
durchaus nicht so zufrieden gewesen ist, wie man häufig glaubt, 
ohne daß er damals allerdings recht wußte, wie man das alles 
hätte anders machen können. Hier zeigte eben auch dies phäno- 
menale Genie seine Grenze. 

Wir dürfen uns also heute nicht mehr verhehlen, daß Richard 
Wagner weder die künstlerisch adäquaten Schauplätze für die Ge- 
schehnisse seiner Dramen nach Maßgabe ihrer letzten musikalisch- 
malerischen Werte gefunden, noch die Kostümfrage nach denselben 
Grundsätzen zur endgültigen Lösung gebracht hat — daß also 
die Ausschöpfung des dramatisch- musikalischen Gehaltes der 
einzelnen Szenen mit allen der Bühne zur Verfügung stehenden 
Mitteln und gleichsam ihre letzte Verschmelzung zu einer schlechter- 
dings überwältigenden Totalwertung nicht erzielt worden ist, um 
so weniger, als auch die zur Charakter- Darstellung berufenen 
Opernsänger, zum größten Teil wenigstens, den rein schauspiele- 
rischen Anforderungen der neuen Stilprinzipien nicht gewachsen 
waren. Wenn wir es einmal ganz schroff ausdrücken wollen, so 
hat Wagner seine Worttondramen schließlich doch einfach mit den 
derzeit üblichen Mitteln der Opernbühne inszeniert — nur daß er 
einige allzugrobe Geschmacklosigkeiten der damaligen Praxis ver- 
mieden und auch sonst mannigfache Besserungen angebracht hat, 
deren Bedeutung wir, wie gesagt, durchaus nicht schmälern dürfen. 
Das System aber blieb, im Kern wenigstens, das alte, und streng 
genommen ist zwischen dem Aufführungsverfahren der großen 
Pariser Oper und des Festspielhauses auf dem Bayreuther Hügel 
kein fundamentaler Unterschied. Brückner malte mit noch größerer 
Sorgfalt wie sonst, aber im übrigen ganz wie immer, die ver- 
schiedenen Bögen und Prospekte, in denen man auch ebensogut 
jedes andere, gerade passende Stück hätte spielen lassen können. 
Und die ersten „Ring“ Kostüme sind so verfehlt, daß ihre Figurinen 
heute geradezu komisch wirken. 

Ich will dabei allerdings nicht verkennen, daß es in den letzten 
Jahren manchmal so scheinen wollte, als ob Siegfried Wagner sich 
in diesem Sinne strebend bemüht hätte. Irgendeinen entscheidenden 
Wurf hat man aber in Bayreuth bis heute nicht gewagt. Die Auf- 
gabe, den Aufführungsstil für die ästhetische Totalität des Wort: 


Probleme der Opernleitung. 207 


tondramas zu finden, ist dort jedenfalls bis heute nicht gelöst. Und 
wieviel wir alle Bayreuth auch verdanken — ich habe hier nicht 
von den wundervollen Orchester-, Chor- und Einzelleistungen unc. 
von den technisch ausgezeichnet vorbereiteten Aufführungen zu 
reden — so dürfen wir uns doch nicht länger gegen die gewiß 
sehr bedauerliche Erkenntnis sträuben, daß sich Bayreuth in dem 
Kampf um den Fortschritt der modernen Bühnendarstellungskunst 
selbst ausgeschaltet, also seine Mission nicht erfüllt hat. 

Es muß also über Bayreuth hinausgeschritten werden, und es 
ist schon einmal darüber hinausgeschritten worden. Allerdings nur 
vorübergehend, zum größten Schaden der Kulturmenschheit nicht 
nachhaltig, nicht dauernd, genug: durch Gustav Mahler, den 
Direktor der Kaiserlichen Hofoper in Wien — in zehnjährigem, 
unheimlich intensivem Ringen und (trotz aller Schmähungen) mit 
beispiellosem Erfolg. 

Die Freunde und Kenner der modernen Schaubühne wissen, 
daß die sogenannten Bayreuther Festspiele als moderne Bühnen- 
kunstleistungen von manchen unter Mahler in Wien veranstalteten 
Opernaufführungen weit übertroffen worden sind und daß uns von 
eben diesem Mahler, im Verein mit Roller und dem selbstbestellten 
und eingeschulten Personal, sicher der Operndarstellungs-Stil unserer 
Zeit geschaffen worden wäre, wenn er nicht frühzeitig seine Arbeit 
an dieser eminenten Kulturtat hätte abbrechen müssen. Gustav 
Mahler war durchaus der Mann, das Lebenswerk eines Richard 
Wagner zu erfüllen: das heißt nicht nur den Stıl für das deutsche 
Worttondrama zu finden, sondern die vielseitigen Opernaufgaben 
der modernen Bühne, jede einzelne für sich, stilistisch zu fundieren, _ 
nach den verschiedenen, in ihnen ruhenden ästhetischen Gesetz- 
mäßigkeiten verschieden anzufassen und zu inszenieren. Richard 
Wagner hat ja darin viel weiter, tiefer und freier gedacht und ge- 
fühlt als die, die sich heute seine Jünger nennen und zum Teil 
sein Erbe verwalten. Mahler hätte es leisten können — der Theo- 
retiker und Kapellmeister-Regisseur: der durch und durch gebildete 
Kulturmensch und der feingeistige Künstler — der Organisator, 
Lehrer und Führer, der, selbst begeistert, auch Andere zu be- 
geistern vermag, der, selbst dem Kunstwerk dienend, leicht auch 
die Anderen in dies allein richtige Verhältnis zu zwingen versteht 
— der geniale Musiker und Operndramaturg, der Mann mit den 
Bildneraugen — der Kunstjünger und Bühnenherrscher. Er war 
berufen und auserwählt, wie wenige in der Kunst überhaupt, wie 
keiner auf dem Gebiete des Opernwesens. Daß Mahler seine 
Mission nicht fortführen konnte, ist eine Kulturtragödie. Ich wüßte 
heute augenblicklich keinen, der ihm nachfolgen und uns in diesem 
Sinne helfen könnte. | 


208 Dr. Carl Hagemann: Probleme der Opernleitung. 


III 

Mahler hatte sich als Direktor die Aufgabe gestellt, die klassischen 
Werke unserer Opern-Literatur szenisch und musikalisch von Grund 
aus zu erneuern. Er war eben von der Erkenntnis durchdrungen, 
daß für die großen Kunstwerke auch des musikalischen Dramas 
eine neue Form, nämlich die Bühnenform unserer Zeit und unseres 
Empfindens geschaffen werden müßte. Er begann bei älteren 
Werken in jedem einzelnen Fall zielbewußt mit einer dramaturgischen 
Bearbeitung der Oper — wich bei der Besetzung, seiner ehrlichen 
Überzeugung nach, meist von der konventionellen Verteilung der 
Rollen auf die Vertreter der üblichen Hauptfächer ab — studierte 
den Einzelnen, auch dem letzten Darsteller, seinen Part mit einer 
nie erlahmenden Gründlichkeit selbst ein und legte schon dabei den 
Grund zu der eigentlichen dramatischen Stilleistung, die dann 
später in ihrer Geschlossenheit als Ganzes auf der Bühne erstand. 
Inzwischen hatte der ihm geistes- und kunstverwandte Roller nach 
den gleichen stilistischen Grundanschauungen die Bühne herge- 
richtet, sodaß Mahler dann für die szenischen Proben einen Rahmen 
vorfand, in den er seine Menschen entsprechend bewegen und 
singen lassen konnte. 

Was Mahler in den zehn Jahren seiner Wirksamkeit in dieser 
Hinsicht erreicht hat, ist ja als Ganzes unvollendet geblieben. Die 
Zeit reichte dazu nicht aus. Im einzelnen aber haben die Wiener 
Theaterfreunde Aufführungen erleben dürfen, die als durch und 
durch moderne und dabei höchst persönliche Kunstwerke weder 
vorher noch bis heute nachher in der ganzen Kulturwelt wieder 
erreicht worden sind. Schon weil Mahler — ganz abgesehen von 
seiner eigenen überragenden Persönlichkeit und seinem ebenso 
genialen wie im Grunde folgsamen Mitarbeiter — über das erste 
Orchester der Welt, einen großen Stamm hervorragender Gesangs- 
und Darstellungskünstler und vor alleın über die reichlichsten Geld- 
mittel verfügen konnte. Gebändigt und dann wieder beflügelt von 
der hinreißenden Gewalt des Mahlerschen Willens, gelang es 
auf diese Weise, dem gesamten künstlerischen Organismus des 
Wiener Hofoperntheaters trotz des fortlaufenden Repertoirbetriebes 
eine epochemachende Inszenierung nach der andern abzuringen. 
Bei seinem Abgang lag der ganze Mozart, etwa die Hälfte der 
Wagnerschen Dramen, vor allem der Tristan und die ersten drei 
Abende der Nibelungen, die Aulische Iphigenie, der Fidelio und 
dazu noch eine ganze Anzahl anderer deutscher und französischer 
Opern in durchweg vollendeten und eigenartigen Neuschöpfungen vor. 

Und eines Tages ging Mahler. Er mußte gehen wie in solchen 
Fällen immer. Irgendeine belanglose Streitsache fegte ihn hinweg. 


Hegner: Das Opfergleichnis. 209 


Damit nur ja ein großes Kunstwerk nicht vollendet würde. So 
scheint es fast. Die Menschheit verträgt eben ihre Genies nicht. 
Und Wien schon gar nicht. Und ein Anderer kam und ging bald 
wieder, nachdem er sich herostratisch an den Werken Mahlers ver- 
gangen hatte. Und der Nächste ist noch an der Arbeit, das heißt 
er inszeniert mit Bienenfleiß und großem Theatergeschick mondäne 
französische Opern und macht Kasse. Daß das wundervolle Re- 
pertoir des ersten deutschen Operntheaters dabei ganz und gar ver- 
kümmert, stört ihn nicht. Und daß er im Grunde nicht aus dem 
Geiste der Musik heraus, sondern geradezu gegen die Musik in- 
szeniert, hat auch nichts zu sagen. Es ist, als ob Mahler nie ge- 
lebt und gewirkt hätte. 


J. J. Hegner: Das Opfergleichnis. Eine Negersage. 


Barunganeger. Unter den Söhnen der Nacht war eine Frau, 

die hieß Tschigujane. 

Mit verschränkten Händen stand sie vor ihrer Hütte. Ihre 
Wangen glänzten verzwickt, und ihr getupftes Scheiteltuch über— 
schnitt genau den Dachrand. Sie war etwas größer als die Tür 
zu ihrer Behausung, doch auch viel schmäler als diese schmale 
Tür. Aber kein Mund war weiter als der ihre. Die Lippenwülste, 
rote Feuer, brannten, selbst wenn sie lächelte, weit hinaus, und 
sie lächelte immer. Sie freute sich über den buntgewürfelten Kattun 
ihres Rockes. Ihr schwarzer Kopf, ihre überkreuzten schwarzen 
Arme, ihre nackten schwarzen Füße — wie Steinkohlenilöze ragten 
sie aus dem bedruckten Linnen: und wie ihre Füße, wie ihre 
Hände, reichte ihr Gedächtnis in die schwarze Vorzeit. Sie wußte 
alle Sagen, und manche Sage wußte von ihr. 

Am Abend, nach Sonnenuntergang, wenn die Feldarbeit ruhte 
und das Vieh in der Hürde, wurce sie von Männern und Frauen 
umringt. Sie baten: Beginne, Tschigujane. 

Sie setzten sich um sie herum, klatschten in die Hände; immer 
leiser, immer gedämpfter perlten ganz leichte Gaumengeräusche 
und entlockten durch diesen seltsamen Urlärm gesprochne Menschen, 
gesprochne Bäume, gesprochne Tiere: denn ihre Geschichten waren 
sehr neugierig. Sie erzählte jede immer wieder anders. Wenn die 


1 Süden Afrikas, gegenüber Madagaskar, liegt das Land der 


210 J. J. Hegner: 


Lachenden vermeinten, sie zu kennen, merkten sie am Ende, dab 
sie die Mutter dieser Geschichte gekannt hatten oder die Groß- 
mutter, aber nicht diese neue. 

Einmal in ihrem Leben, einmal und nicht wieder, erzählte sie 
die Sage Likanga: 

Es war einst ein wunderbar gestalteter Jüngling. Er war schöner 
als die andern jungen Leute im Land. Er besaß, viele Rinder und un- 
geheure Reichtümer. Alle Mädchen wollten ihn heiraten. Er war 
ohne Vater und Mutter, ein Waisenkind. 

Seine Schönheit riß ein junges Mädchen hin, und sie verließ 
ihr Haus. Sie hatte sich aufs prächtigste geschmückt. Sie wollte 
seine Frau werden. Als sie in die Nähe seines Dorfes kam, war 
da auf dem Weg ein Bretterverschlag. Ein altes Weib winkte und 
machte das Zeichen: Tritt ein. Es war eine häßliche Alte, schmutzig 
und voll Ungeziefer. Die hinzog, grüßte nicht und blieb nicht 
stehn. Stolz ging sie vorüber. Sie verachtete das alte Weib. 

Als sie bei dem Schönen eintrat, empfing er sie mit großer 
Wärme und fragte, warum sie zu ihm käme. „Ich bin gekommen,“ 
sagte sie, „um deine Frau zu werden.“ „Gut,“ gab er zur Ant— 
wort, „und Recht so, meine Gefährtin!“ Er zeigte ihr seine Schätze, 
seine vielen Lebensmittel, seinen Reis und das Übrige. 

Sie ging ans Kochen. Sie fand alles, was sie brauchte, und 
alles in Überfluß. Sie schälte und schnitt und hackte. Sie blies 
und rührte um und schöpite ab. Während die Speise gar sott, 
ließ, er sie nicht aus den Augen. Er überwachte sie heimlich. Sie 
wollte sich einen Löffel voll nehmen und ein wenig kosten. Da 
hielt er ihr den Arm zurück und sagte: „Nein! Deine Aufgabe 
ist, Nahrung zu bereiten; sie zu essen, ist nicht deine Aufgabe.“ 
Dann ergriff er den Topf und verschlang die ganze Brühe. Kein 
Bissen, kein Tropfen blieb dem jungen Mädchen. Zu Mittag ge- 
schah das gleiche und am Abend auch. Da mußte sie also ver- 
hungern. Ein paar Schritte von ihm war ein unermeßlicher Ab- 
grund. Dorthin schleppte er sie an ihren Füßen und stürzte sie 
hinab. 

Nach ihr erschienen andre junge Mädchen und begehrten ihn 
zu heiraten. Sie alle scheuten sich, bei der Alten zu verweilen, 
und wenn sie den Jüngling erreicht hatten, starben sie wie die 
erste. Ihre Eltern beunruhigten sich nicht. Sie sagten: „Nun sind 
sie seine Frauen. Ein Wunder, wenn sie sich wieder blicken 
ließen: sie leben ja mit ihm! Sie vergessen uns, weil sie glücklich 
sind, oder sie wollen nicht an die Zeit gemahnt sein, an die Jahre, 
wo er ihnen noch unbekannt war.“ Auf diese Art verschwanden 
die Mädchen des Landes eine nach der andern, und die von weit- 


Das Opfergleichnis. 211 


her anlangten, erlitten dasselbe Schicksal. Der bodenlose Ab- 
grund begann sich zu füllen. 

Eines Tags kam aus einem fernen Land ein junges Mädchen, 
auch sie, um sich mit dem Jüngling zu verbinden. Die Alte rief 
ihr. Die Junge wandte den Kopf, folgte dem Wink und lief hin 
zu der Alten. „Ah,“ sagte die Greisin, „du bist ein wahres Glücks- 
kind! Du wenigstens wirst entrinnen. Alle die feinen Dinger, die 
bis jetzt die Straße lang trabten, haben mir steinerne Gesichter ge- 
schnitten, weil ich uralt, zerlumpt und von Ungezieſer geplagt 
bin, und nun sind sie tot. Du aber, meine schwarze Taube, bist 
nicht an mir vorbei geflogen. Dafür sollst du wissen, wie du dich 
zu verhalten hast. Dieser Mann hat sie durch Hunger getötet. 
Wenn sie die Nahrung anrühren wollten, hat er sie daran ge- 
hindert. Doch wenn er dich vom Essen wird abhalten wollen, 
dann sprich zu ihm bloß die Worte: „Warum verwehrst du mir 
das, mein Gatte Likanga?“ Du wirst sehn, was sich danach er- 
eignet.“ 

Das junge Mäcchen fürchtete sich. Sie sagte: „Wenn mir aber 
der Name entfällt?“ 

„So sing ihn unterwegs,“ riet die Alte. 

Sie verbrachten die Nacht miteinander, und am Morgen reiste 
das Mädchen weiter. Sie wurde von dem schönen Jüngling sehr 
freundlich aufgenommen, er gab ihr gute Worte und sagte: „Gern, 
meine Frau! blick auf meine Reichtümer! sieh meine Kochtöpfe! 
und sie gehören dir, meiner Gattin.“ Er befahl ihr, für das Mahl 
zu sorgen. Als sie es aber kosten wollte, stieß er sie zurück. „Das 
Essen,“ sprach er, „ist nicht deines Amtes; du hast nur zu kochen.“ 
Sie erwiderte: „Lasse doch! Ich bitte dich darum, mein Gatte! 
Warum verbietest du mir das Essen, mein Gätte Likanga?“ Sowie 
er seinen Namen nennen hörte, überfiel ihn ein heftiges Zittern, 
er rannte in seine Hütte, hüllte sich in seine schmucksten Gewänder, 
tanzte hervor, um sie herum, und spielte dazu auf seiner einzig- 
saitigen Bogenharfe. „Wer hat,“ sang er: „Wer hat es dir ver- 
raten, meinen Namen dir verraten, o du meine Gattin?“ 

Sie antwortete: „Was treibst du da? Hast du den Verstand 
verloren, mein Gatte Likanga?“ Bei der Wiederholung dieses 
Namens geriet er noch mehr außer sich, sang immerfort und riß 
dazu die begleitenden Töne auf seiner Harfe, seiner einzigssaitigen 
Bogenharfe: „Wer hat es dir verraten, diesen Namen dir verraten, 
o du meine Gattin? lch geh mich töten, ich stürz mich hinunter, 
ich steig in den Fluß!“ 

Er sprang fort über die Wiesen ins Röhricht. Sie folgte ihm 
mit den Worten: „So laß doch! Aber laß doch! Ich bitte dich 


212 Gustav Hübener: 


darum, mein Gatte Likanga!“ Er eilte ins Wasser. Sie hängte sich 
an ihn und sagte: „Warum willst du dich umbringen, mein Gatte 
Likanga?“ Von neuem, sowie er das Wort vernahm, drang er 
vor, in das Stillströmende, fast Stillstehende, und weiter zur sanften 
Tiefe. Im Wasser noch hörte man ihn auf seiner Harfe spielen, 
und aus dem Wasser noch seinen Gesang erstickt aufrauschen: 

ERE | TTET 3 N N 3 g 

Sie ließ nicht von ihm, sie erfaßte ihn an seinem Kleider- 
saum, wollte ihn retten und bat: „Mein Gatte Likanga! mein Gatte 
Likanga!“ Aber er war schon tot. 

Da ging sie nach Haus. Das Dorf war verlassen. Sie suchte 
sich einen großen Sack, tat alles hinein, was ihr gefiel, und kehrte 
heim zu den Ihren. „Es ist nicht schad um ihn,“ meinte sie, „nicht 
schad, daß er gestorben ist. Denn wie viele sind durch ihn um ihr 
Leben gekommen!“ 

Das ist die Geschichte Likangas, des Schönen. 

Eine häßliche Negerin hat sie häßlichen Negern erzählt. 

Und was aber wäre geschehn, wenn die Letzte, Bescheidne, 
Vorsichtige, Feige nicht auf die gewitzte Alte geachtet hätte und 
die folgende auch nicht und keine von denen, die noch hätten 
kommen können, und wenn sich der unermeßliche Abgrund gefüllt 
hätte und kein Abgrund mehr dagewesen wäre? Wie hätte Likanga 
dann geheißen? Was hätte Likanga dann getan? 

Längst vielleicht gäb es keine Neger mehr. 


Gustav Hübener: Husserl, Bergson, George. 


geworden, als ein tiefgehendes Mißtrauen gegen unsere 

Erlebnisse selbst. Argwöhnisch betrachtet unsere Zeit alle 
Erkenntnisse und Einsichten, die sich als endgültig und absolut 
ausgeben. Diese Vorsicht ist ihre Klugheit. Aber das eine scheint 
ihr gewiß trotz der Fragwürdigkeit, dem Problematischen aller 
Fundamente des Wissens und Glaubens — welche Zeit hatte mehr 
Probleme? — das eine nämlich, daß alles anders ist als — nun 
eben — als wir es erleben. Bei aller Skepsis bleibt ihr das sichere 
Bewußtsein, daß unsere Erlebnisse gar nichts Letztes sind, das als 
solches unbesehen hinzunehmen ist; nein, sie ist voll kühler Reserve 
ihnen gegenüber und sagt sich, gewissermaßen mit einem höflichen 


N: ist für die ganze Haltung unseres Lebens bezeichnender 


Husserl, Bergson, George. 213 


Achselzucken gegen sie, man könnte nie wissen. .. irgendwie 
wäre alles zu erklären und zu interpretieren. Sicherlich stecke immer 
noch etwas dahinter, und zwar immer ein höchst ernüchternder, 
einfacher Grund, ein sehr irdischer. 


Es ist uns nicht nur die Gabe eines reinen Schauens verloren 
gegangen. Wenn wir fortsehen, vorbeischielen an dem Reichtum 
der Phänomene, wie sie uns im Erlebnis gegeben sind, auf ihre 
Verursachung und Entstehung, so sehen wir nicht mehr einen 
tiefen, göttlich bedeutenden Grund, sondern irgendeine stets sehr 
triviale und enttäuschend einfache Ursache oder Motivation, etwas 
das nicht größer, bedeutungsvoller, gewissermaßen noch wirk- 
licher ist als diese Wirklichkeit, in der wir sind; nein, im Gegen- 
teil, die unendliche Fülle der Welt erscheint als Illusion, als läge 
ihr eigentlich zu Grunde eine geradezu hausbackene Einfachheit. 
Das Wort „eigentlich“, gesprochen mit einem sehr weisen, fast 
blasiertem und etwas traurigen Tone, wäre geeignet, die herrschende 
Denkform unserer Zeit zu bezeichnen. Es ist so weit gekommen, 
daß man nicht mehr nach dem Wesen der Erlebnisse fragt, sondern 
ausschließlich nach ihrer Entstehung. Ja, in der Beantwortung der 
letzten Frage scheint einem die der ersten mitgegeben. 


Eine Betrachtungsweise, die das Wesen von der Genesis der 
Erlebnisse scheidet, die nicht die Inhalte der Welt nach einem ein- 
heitlichen Prinzipe irgendwie deutet, sondern in ihrer qualitativen 
Verschiedenheit intuitiv zu erfassen sucht, birgt heute, ohne es zu 
wollen, eine Kritik der hervorragendsten Erscheinungen des Geistes. 


Darüber nämlich muß man sich klar bleiben, daß dem An- 
spruch der Naturwissenschaft, — um sie zuerst zu betrachten — 
das organische Leben aus dem Mechanismus der anorganischen 
Natur ausschließlich zu erklären, es ganz unter die kausalen Ge- 
setze zu stellen, die im Raume gelten, vorausgesetzt ist, daß die 
Verschiedenheit der Erlebnisse, wenn wir ein Pferd springen oder 
einen Stein fallen sehen, „eigentlich“ nicht besteht, oder daß die 
Welt, die wir mit dem inneren Sinn in uns wahrnehmen, zu Un- 
recht uns eigentümlich erscheint und verschieden von der toten 
Welt, die uns umgibt. Man darf nie vergessen, daß der Anschauung 
cer Naturwissenschaft, die ihrer Einstellung auf die anorganische 
Natur bequem ist, ein eigentümliches Mißtrauen gegen das Be- 
wußtsein zu Grunde liegt, das uns eine vollkommen verschiedene 
Erscheinungsart von den Bewegungen toter Körper oder lebendiger 
Wesen aufweist, von unserem inneren Sein und dem der Steine. 
Denn — um nur das auszuführen — wenn wir nicht „erklären“, 
sondern unser Leben betrachten, so wie es sich einer inneren Ein- 


214 Gustav Hübener: 


sicht gibt, so erkennen wir, daß wir jetzt sind, wozu uns die Ver- 
gangenheit gemacht. In dem zurückliegenden Flusse unseres Be- 
wußtseins durchdringen sich alle Momente, indem die Vergangen- 
heit fortwirkt und färbt in der Gegenwart. Die gesamte Vergangen- 
heit steht immer gegenwärtig hinter uns. In der Geschichte eines 
Steines dagegen findet kein Durchdringen vergangener Momente 
mit späteren statt. Er verharrt für uns im Erlebnis als derselbe. 
Er altert nicht. Wir gehen jeden Tag als andere an ihm, dem 
immer gleichen, vorbei. 


Unsere Seele und der Stein sind uns im Erlebnis als wesent- 
lich verschieden gegeben. Man pflegt heute diese Verschiedenheit 
nach irgendeinem einheitlichen Prinzip zu deuten, sozusagen fort- 
zuinterpretieren. In der Art dieser Interpretation nun liegt das- 
selbe „eigentlich“, wie in dem besonderen Geiste unserer Gelc- 
wirtschaft oder gewisser sozialistischer Ideen. Es ist stets genau 
dieselbe Haltung zur Welt im innersten Wesen, die sich so ver- 
schieden offenbart. Darauf hinzuweisen, scheint nicht überflüssig. 

Wie die mechanische Naturansicht, die die Erlebnisse, in denen 
die tote und lebendige Welt qualitativ verschieden erscheinen, durch 
ihr einheitliches Prinzip dieser verschiedenen Qualitäten beraubt, 
wie überhaupt die mechanische Betrachtungsweise selbst der an- 
organischen Natur wohl eine praktisch wissenschaftliche Methode 
ist, niemals aber mit ihrer kausalen Zerlegung das volle sinnliche 
Anschauungserlebnis zu rekonstruieren vermag, genau so hat die 
Geldwirtschaft, der besondere Geist des Geldes, die Eigentümlich- 
keit, die unendliche Fülle der Werte, die wir erleben, fortzuinter- 
pretieren mit seinem „eigentlich“. Es liegt in seinem Sinne, daß 
alle Werte, selbst die höchsten, nichts an sich sind, sondern „eigent- 
lich“ alle zurückzuführen sind auf den farblosen, abstrakten Mittel- 
wert des Geldes, die Erlebnisse selbst werden nicht mehr rein hin- 
genommen, man schielt hinter sie auf das Mittel ihrer Verwirklichung 
par excellence, auf das Geld: „was hat die Sache eigentlich gekostet?“ 
Die Seele, die von dem Geiste des Geldes besessen ist, zweifelt 
immer an der Realität und der Selbständigkeit der Werte ihrer Er- 
lebnisse, sie sieht immer hinter ihnen den einen Geldpreis, den 
Wert, auf den die höchsten wie niedrigsten Lebenswerte zu redu- 
zieren sind. Georg Simmel*) hat in seiner ausgezeichneten „Philo- 
sophie des Geldes“ nachgewiesen, wie sowohl der Zynismus als 
auch die Blasiertheit unserer Geldkultur entstehen aus demselben 


*) Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Leipzig 1907. Vergl. Max 
Scheler, Über Selbsttäuschungen, Zeitschrift für Pathopsychologie, Jahrgang 1, 
1. Heft. 


Husserl, Bergson, George. 215 


Bewußtsein: „Alles ist für Geld zu haben.“ Und zwar zieht der 
Zyniker daraus die grimmige Freude, daß dem Würdigsten die 
idealsten Güter versagt bleiben, wenn er mittellos ist, dagegen Ehre 
und das Heil der Seele, Tugend und. Schönheit eingesetzt werden 
für Geld. Aus dem objektiven Sachverhalt, daß Werte, die jede 
Schätzung außer an ihren eigenen Idealen ablehnen, dennoch ihren 
Marktpreis in Mark und Pfennig erhalten, nimmt der Zyniker seine 
besondere subjektive perverse Genugtuung. Aus demselben Sach- 
verhalt quillt dem Blasierten der Grund für seine müde, gelang- 
weilte Lebensanschauung. Die Tatsache, daß alles käuflich ist, 
entleert ihm die Welt ihrer qualitativen Fülle, sie erscheint ihm 
yrau in grau, weder zur Bejahung noch zur Verneinung, zu keiner 
Tat mehr reizend. Beiden jedoch, dem Zynismus wie der Blasiert- 
heit, liegt zu Grunde die besondere Einstellung dem Leben gegen- 
über, diese skeptische Distanz zu ihm, dieses Nicht-für-voll-nehmen, 
das wir als den Geist des modernen „eigentlich“ bezeichneten. Denn 
bevor wir dazu kommen, irgendwie unser Leben nach einem so 
abstrakten Wertmaßstab, wie es das Geld ist, zu orientieren, sei es 
mit einer zynischen oder blasierten Antwort, müssen wir abge- 
kommen sein von einem unbesehenen Vertrauen zu den Werten, 
die das Leben selbst in seiner Wirklichkeit in sich schließt. Einem 
gesunden Geiste irrt der Blick nicht ab von der blühenden Wirk- 
lichkeit auf das blasse Wertschemen des Geldes. Muß es nicht 
ein tiefer, dem religiösen direkt konträrer Drang sein, der hinter 
cder sinnlichen Fülle der Welt die mechanische, monistische Einfach- 
heit sieht, ebenso wie hinter allen, mannigfaltigen Werten, des 
Lebens die Trivialität des Geldes? 

Es dünkt uns, wie gesagt, daß. aus ihm, aus derselben Wurzel, 
der die monistische und kapitalistische Rationalisierung und Sim- 
plifizierung des Lebens entspringt, zum dritten jene Tendenz des 
modernen Geistes entstammt, jede Mannigfaltigkeit in den Stellungen 
der Menschen zueinander fortzudenken und auszugleichen, ge- 
wissermaßen durch eine vollendete Mechanisierung des Lebens so- 
wie Herrschen und Dienen auch alles Mitleid und Liebe und sonstige 
Gefühle einfach überflüssig zumachen. Welche Formen auch immer 
dieser Trieb annimmt, der nicht mit berechtigten Motiven, wie Spar- 
samkeit, Ordnungs- und Gerechtigkeitsliebe zu verwechseln ist, 
immer liegt ihm ein Fortsehen von dem Erlebnis einer Macht auf 
irgendein erniedrigendes Moment, das sie „eigentlich“ bedeuten 
soll, zu Grunde. Man vertraut nicht mehr darauf, daß die echte 
Macht stets Ausdruck für: ein Können ist, sondern sieht mißtrauisch 
in ihr nur Gewalt, unrechtmäßige Aneignung. Und doch ist der 
Mächtige gerade der, der keine Gewalt nötig hat. Macht und Herr- 


216 Gustav Hübener: 


schaft gründen sich unmittelbar auf das Bewußtsein des Könnens 
und es ist uns als solches wie eine Gloriole um den Träger stetig in 
ihrem Erlebnis gegeben. Und dieses trügt ebensowenig wie das 
Erlebnis einer sittlichen Autorität. Es ist Unsinn zu sagen, daß 
eine solche überflüssig sei, da jeder sich selber ein Werturteil bilden 
könne. Es liegt hierin eine Überschätzung der individuellen Ein- 
sicht. Alle Urteile über sittliche Tatsachen sind unbeweisbar, und 
da vom Begehren und vom Streben her die Täuschungsquellen fast 
unaufhaltsam die Erkenntnis der objektiven sittlichen Werte trüben, 
ist die Einsicht des sittlichen Genius, der seltener ist als jeder 
andere, maßgebend für die gewöhnlichen Sterblichen. Macht und 
Autorität sind nicht fortzudeuten aus dem Leben, durch kein 
„eigentlich“.*) 

Es ist bei der Verbreitung dieser mißtrauischen Haltung des 
modernen Geistes dem Leben gegenüber nötig, dieses zu betonen. 
Denn wir haben so sehr das Zutrauen und die Kraft zur Wirklich- 
keit verloren, daß, wir jedem, der sie uns durch ein neues „eigent- 
lich“ vereinfachen will, nur zu geneigt sind, Glauben zu schenken. 
Es ist so verkehrt wie möglich, die herrschende Denkrichtung unserer 
Zeit als „wirklichkeitssicher“ und „praktisch“ zu bezeichnen, sie ist 
in ihrer seltsamen mißmutigen Weise phantastischer als alle Romantik. 

Wenn wir die Fülle der Erscheinungen überblicken, in denen 
sich der Geist des modernen „eigentlich“ offenbart, so stellt sich 
seine Herrschaft als ein unrechtmäßiges Übergreifen zweier wissen- 
schaftlicher Einstellungen auf ihnen nicht zugehörige Gebiete 
rein prinzipiell dar, und zwar der kausalen und der histori- 
schen Betrachtungsweise. 

Es ist die Aufgabe der Naturwissenschaft, die auf die phy- 
sische Welt gerichtet ist nach außen, gesetzmäßige Zusammenhänge 
von Ursache und Wirkung zu erforschen. Es wird hierbei von der 
Wirkung, die in der Funktion des Anzeichens zur Ursache steht, 
auf letztere geschlossen, und durch den naturwissenschaftlichen Be- 
weis, das Experiment, wird dieser kausale Zusammenhang selbst zur 
Einsicht gebracht. Dieses ist selbstverständlich. Es ist aber unserer 
Zeit scheinbar in Vergessenheit geraten, daß. dieser Erkenntnisakt, der 
die naturwissenschaftliche Einstellung bestimmt, etwas wesentlich 
Verschiedenes ist von dem Verstehen, durch das wir Einsicht er- 
halten in alles Geistige. Ein Lächeln ist nicht Anzeichen für 
Freude, sondern ihr Ausdruck. Wir schließen nicht aus dem 
Lächeln natürlicherweise umständlich auf die Freude, sondern wir 
erfassen intuitiv direkt in dem Lächeln die Freude. Ebenso sind 


*) Vergl. die demnächst erscheinende Ethik von Max Scheler, München, 


Husserl, Bergson, George. 217 


alle idealen Zusammenhänge (selbst daß zwei mal zwei vier ist) 
nicht zu beweisen, sondern zu verstehen. Es ist eine Uber— 
schätzung des naturwissenschaftlichen theoretischen Beweises und 
des logischen Erkennens, die zu einer Mißachtung alles reinen 
Schauens und intuitiven Verstehens geführt hat. In dem Strom 
des Bewußtseins steht niemals — so viel sei hier angedeutet — 
eines als Anzeichen für ein anderes, die Phänomene des Bewußt- 
seins sind letzte Gegebenheiten, es ist in ihrer Sphäre kein 
Schließen möglich, sondern nur ein geistiges Sehen, kein Beweis, 
sondern nur ein Hinweis. Ein Fortblicken von dem, was seelisch 
präsent ist auf eine Ursache, auf irgendein „eigentlich“ zerstört 
den Charakter des Seelischen sofort. Es sei in Parenthese bemerkt, 
daß dieses zu tun die herrschende „Lehre von der Seele“, die 
experimentelle Assoziationspsychologie, sich eifrig bemüht. 

Zum andern zeigt sich prinzipiell der Geist des „eigentlich“ in 
der verkehrten Verallgemeinerung der geschichtlichen Betrachtungs- 
weise; z. B. besonders auffallend auf dem Gebiete, das jeden am 
nächsten angeht, dem ethischen. In allen Schichten des Volkes 
kann man heute die Ansicht zu hören bekommen, daß es keine 
ſesten, absoluten sittlichen Werte gäbe, mit der Begründung, man 
habe doch in allen Zeiten anders über solche Dinge gedacht. 
Sittlichkeit sei „eigentlich“ Geschmackssache. Die Werte, die uns 
als letztes in den Edebnissen gegeben seien, wären eigentlich sub- 
jektiv, relativ auf alles mögliche, Eigennutz, Herdenbewußtsein 
der Rasse, des Volkes oder, wie die Aufklärung meinte, das 
„Allgemein- menschliche“. Man liebt in folgender Weise zu argu- 
mentieren. Wie könnte noch irgend jemand an objektive Werte 
glauben, wenn man wüßte, daß die Fidschiinsulaner die Tötung 
von Fremden für lobenswert halten und die Spartaner kleine 
Kinder aussetzen? Dennoch liegt in der Anwendung der sitt- 
lichen Werte mit ihrer Verschiedenheit, die die Sittengeschichte 
herausstellt, durchaus nicht die Relativität der Werte schlechthin. 
Die Fidschiinsulaner kennen denselben absoluten negativen Wert 
des Mordes wie wir, nur erscheint er ihnen nicht an denselben 
Handlungen wie uns. Sie verbinden ihn nur mit der Tötung von 
Stammesgenossen. Nicht die \Verte sind relativ, sondern nur ihre 
Anwendung und das Maß der Einsicht in ihre objektive Fülle. 
Immer neue Werte können entdeckt werden oder aus besonderen 
Lebenseinstellungen die Werte falsch gesehen werden; dieses sind 
Momente der Relativität in der sittlichen Einsicht. Doch wer ein- 
mal den objektiven Wert selbst richtig gesehen hat, der weiß, daß 
er auf festem, absolutem Grunde wurzelt und vermag ihm getreu 
zu bleiben, wäre selbst alle Welt gegen ihn. 


218 Gustav Hübener: 


Wir können nicht der relativistischen Richtung des „eigentlich“- 
Geistes in alle Winkelzüge folgen. Es ist bekannt, wie sie sich 
bemüht, alle absoluten Fundamente des Lebens aufzulösen, wie 
dem Pragmatismus nur Wahrheit ist, was sich bewahrheitet hat, 
was auf dem jeweiligen Standpunkte der Entwicklung für das 
Leben von Interesse ist und wie der Psychologismus in der Logik alle 
rein logischen Gesetze relativ auf das Gehirn setzt, so daß bei 
dessen fortschrittlicher Entwicklung es unseren Nachkommen 
vielleicht blüht, daß zwei mal zwei zu fünf wird. Wir haben 
diesen flüchtigen Überblick über den Umfang der Erscheinungen, 
in denen sich das Mißtrauen unserer Zeit gegen das Leben zeigt, 
jetzt so weit geführt, daß wir die Bedeutung der geistigen Be- 
wegung verstehen können, die sich kritisch gegen das moderne 
„eigentlich“ richtend und zugleich neues Vertrauen und Kraft zur 
Wirklichkeit weckend heute beginnt ihre wachsenden Kreise zu 
ziehen. 

Es liegt in der philosophischen Arbeit Henri Bergsons in 
Paris und Edmund Husserls in Göttingen, sowie der Weltan— 
schauung des Kreises, der sich um den Dichter Stefan George in 
München geschlossen, bei völliger Unabhängigkeit voneinander 
eine solche Gemeinsamkeit der Grundrichtung vor, daß man jenen 
tiefsten Zusammenhang zu ahnen und anzudeuten versucht wird, 
den man bei der gleichzeitigen, ganz selbständigen Entstehung be- 
deutsamer Werke mit den Worten zu bezeichnen pflegt: „Die Zeit 
war reif für sie.“ Diese tiefste innere Verwandtschaft zeigte sich, 
rein historisch genommen, in dem frühen Verständnis und den 
Anregungen, die die Bewegungen, die von den drei genannten 
Männern ausgingen, gegenseitig austauschten. So wirkte Bergson, 
der erst heute anfängt in Deutschland bekannter zu werden, schon 
früh durch den Berliner Philosophen Georg Simmel auf den 
Georgeschen Kreis, sein Einfluß zeitigte die prinzipielle Klarheit 
in der geschichtlichen Methode des Buches Friedrich Gundolis: 
„Shakespeare und der deutsche Geist“, und wurde ausdrücklich 
bekannt und offenbart in den drei Jahrbüchern, die bisher von 
Gundolf und Friedrich Wolters herausgegeben sind. Andererseits 
steht dem durch Bergson intutivistisch interessierten philosophischen 
Paris durch Vorträge des Sorbonneprofessors Delbos die Husserl- 
sche Phänomenologie näher als der offiziellen Philosophie Deutsch- 
lands, die Kant nachfolgt oder sich es angelegen sein läßt, die 
monistisch-mechanische Haltung der Naturwissenschaft für sich 
selbst mit dem Anspruch letzter philosophischer Gültigkeit zu 
rechtfertigen. 


Husserl, Bergson, George. 219 


Die gemeinsame Tendenz der Bewegung erhellt allein schon 
aus einem Vergleich der Stellungnahme zu jenem alten tiefen Triebe, 
den wir in seinen neuen Erscheinungen als den Geist des modernen 
„eigentlich“ bezeichneten, einer Stellungnahme, die, wenn auch 
rein negativ bestimmend, sehr charakteristisch für ihre yanze 
Orientierung ist. Nur auf diese gemeinsame Tendenz wollen wil 
hinweisen. 

Nach Bergson ist die Seele vor allem, rein praktisch interessiert, 
gerichtet auf den Raum und den Stoff, der ihn erfüllt. An dem 
Stoff und den ihn beherrschenden mechanischen, kausalen Gesetzen 
hat sich der Verstand, die logische Erkenntniskraft ausgebildet und 
darum gibt die Verstandesanschauung, auch solange sie auf den 
Raum nach außen gerichtet ist, eine richtige Erfassung der ab- 
soluten Wirklichkeit. Wir dürfen uns aber durch die Vorherrschaft 
der Verstandeskraft, die im weitesten Sinne genommen unser prak- 
tisches Handeln ermöglicht und dem Leben den toten Stoff unter- 
wirft, wir dürfen uns durch sie nie dazu verleiten lassen, sie nach 
innen gewandt zur Erkenntnis des Seelischen zu verwenden. Denn 
während im Raume eines dem andern äußerlich ist und ein Zer- 
legen durch den Verstand zuläßt, durchdringt sich alles im Be- 
reiche der Seele. Die Naturwissenschaft also, die von vornherein 
eingestellt ist auf den Stoff, kommt dazu, wenn sie dessen kausale 
Gesetze in die Seele und das Leben hineinsieht, die lebendige 
Einheit in Mechanismen aufzulösen. Das Wesen der Seele 
und alles Lebendigen ist allein in unmittelbarer Intuition zu 
erfassen. Bergson geht soweit, alle Wissenschaft vom Lebendigen 
prinzipiell für unmöglich zu erklären, da sie stets nur einen Aus- 
schnitt, ein pragmatisches Bild ihres Gegenstandes übermittelt. 
Allein im Erlebnis ist der Erkennende eins mit dem Lebendigen. 
Schon die Sprache, die in ihren Bildern und der Auswahl des Be- 
deuteten räumlich und logisch orientiert ist, verfälscht das be- 
sondere Wesen des in der Intuition Gegebenen. Nie müde wird 
der große französische Philosoph, hinzuweisen auf das Erlebnis 
als das Fundament eines rein geschauten Weltbildes, das in steter 
Gefahr ist entstellt zu werden durch eine einseitig verstandsmäßige 
Erklärung, durch das kausale „eigentlich“. 

Ist dem französischen Philosophen der böse Geist des Miß- 
trauens: die „Logik“, die allein den toten Stoff beherrschen sollte, 
in ihrer Anmaßung allgemeiner Geltung, so dem Georgeschen 
Kreise: der „analytische“ Geist, der alle „Substanzen“ Gott, Seele 
den Leib und den toten Körper, die wesentlich verschiedenen Fun- 
damente der Welt wie sie rund als lebendige Wirklichkeit gegeben 
ist, auflösen will in „Beziehung“. Es ist ihm der Geist des Werk- 


220 Gustav Hübener: 


zeugs, das sich verselbständigt hat, das nicht mehr dem Menschen 
dient, sondern ihn beherrscht. Und er sieht ihn darin, daß seit der 
Zeit der Renaissance die intellektuellen Begriffe, die dazu dienen 
sollten die Wirklichkeit zu beherrschen, die überwältigende Masse 
der wissenschaftlichen Erfahrungen zu ordnen, immer mehr für 
Wirklichkeit selbst genommen werden. Allein die Denkbarkeiten, 
die man aus der Wirklichkeit abstrahiert hatte, um diese zu be 
meistern, oder ihre erdrückende Fülle abzurücken von sich, sie 
allein werden als das „eigentliche“ erlebt. Man erlebt nicht mehr 
rein das Wesen der Welt, sondern sieht nur noch versetzbare Ab- 
straktionen; das bedeutet so gut wie in der Wirtschaft die kapita- 
listische Loslösung der Werte von den Dingen, in der sozialistischen 
Ethik die willkürliche Bindung des Menschen auf Grund erdachter 
Prinzipien. Überall tendiert der moderne Geist dahin die Mittel. 
die dem Leben dienen sollten, als wirklicher zu nehmen als das 
Leben selbst, als den „eigentlichen“ Zweck sie auszubilden. Dafür 
ist nichts bezeichnender als die umsichgreifende Knechtung des 
Menschen durch die Technik. Segensreich ist die Technik, solange 
sie dem Menschen wirklich Kräfte erspart, die er zu seiner all- 
seitigen menschlichen Ausbildung verwertet. Jetzt aber scheint die 
Prophezeiung des klugen, alten, englischen Utopisten Samuel Butler 
in Erfüllung zu gehen, daß die ersparten Kräfte nur wieder ver- 
wandt würden zur Konstruktion neuer Maschinen, daß der Mensch 
in seiner Entwicklung aufhören und arbeiten würde allein als Sklave 
in der Fron jener rapide wachsenden, stummen, anspruchsvollen 
Wesen, die er einmal Werkzeuge nannte. Die ganze Idee des Fort- 
schritts als Selbstzweck zeigt unsere Abhängigkeit von der tech- 
nischen Kultur. Denn allein sie schreitet fort. Das neue Stadium 
einer exakten Wissenschaft wirkt entwertend für das frühere, ein 
neuer Lokomotivtypus für den alten. Aber die Werte des Heiligen 
bleiben ewig, die geistige Kultur schreitet nicht fort, sie wächst. 
die klassischen Werke eines Platon oder Aristoteles veralten nie. 
Es ist besonders das Verdienst Friedrich Gundolfs,“) den Maschinen- 
geruch, den die alles beherrschende Idee des Fortschritts trägt, ge- 
spürt zu haben und das Zerstörende, das Lebensfeindliche dieser 
Herrschaft aufzuweisen. Aber gegen den Geist des Werkzeugs zu 
kämpfen auf allen Gebieten, wo das Maß nicht von ihm, sondern 
von dem Leben gegeben werden soll, wieder einmal zu sagen, daß 
die Arbeit um des Menschen willen und nicht der Mensch um der 
Arbeit willen da ist, daß Religion, Kunst, Heldenverehrung und 


*) Friedrich Gundolf: Wesen und Beziehung. Jahrbuch für die geistige 
Bewegung, 1911. 


Husserl, Bergson, George. 221 


Patriotismus nicht „Atavismen“ sind, weil sie nicht mit dem Ver- 
stande zu zerlegen, solches hat seit dem Rembrandtdeutschen Julius 
Langbehn niemals ein einzelner gesagt und seit langem nicht ist 
es die Stimme einer ganzen tiefen Bewegung gewesen, wie es die 
zu sein verspricht, die von George ausgeht. 

Als Ausdruck für eine neue Kraft zur Wirklichkeit, als Streben, 
die Fülle der Erlebnisse nicht zu vereinfachen in eine Rechnung 
mit bekannten, wesensgleichen Faktoren, sondern sie in dem über- 
wältigenden Reichtum zu sehen so wie sie sind und wie sie stets 
zu sehen die großen Dichter die Kraft hatten, ist neben Bergson 
und Georges das Husserlsche Werk zu begrüßen. Während Bergson 
seine Philosophie hinstellte en bloc wie eine fertige Kathedrale und 
wir uns nun durch die einheitliche Bewegung ihrer Strebepfeiler und 
Türme erheben lassen aus den Niederungen einer fortschrittlichen 
und aufklärerischen Zeit, während George durch sein großes Pathos 
uns einen neuen Willen zur Wirklichkeit verspricht, hat Husserl 
in der tiefen, stillen Arbeit, die deutsche Gelehrte auszeichnen kann, 
durch eine systematische Kritik des „eigentlich“- Geistes in dessen 
besprochenen wissenschaftlichen Erscheinungen den Grund gelegt 
zu einem philosophischen Werk, das mit absoluter Forderung den 
Reichtum der Welt wieder zu sehen lehren will. Und ist solches 
nicht, über allen Zweifel, der beste Anfang ihn wieder zu er- 
leben? Denn wenn uns der Weg gewiesen ist, der von den 
Worten und Begriffen, wie sie sich uns in Sprache und Wissen- 
schaft angehäuft haben, hinführt zu dem lebendigen Grunde, aus 
dem sie ihre Bedeutungen empfingen — und die Husserlsche Philo- 
sophie tat schon dieses — wenn uns das Wesen der Phänomene, 
wie sie im Erlebnis gegeben sind, zur intuitiven Einsicht gebracht 
ist, dann ist die Hoffnung gewisser, daß wir den Mut finden werden, 
sie auch in ihrer ganzen Fülle zu erleben, den Mut und die Kraft, 
gie sicherlich einer Zeit fehlen, die wie die unsrige noch mit ihrem 
traurigen „eigentlich“ an cen absoluten Gegebenheiten des Lebens 
vorbei zu sehen bemüht ist. 


222 


Rudolf Borchardt: Auf den Feldern von Marengo. 


Samstag vor Ostern 1175. 


Matt auf Marengos Felder fällt Mondenlicht wie spukend, 

Vom Bormida bis hin zum Tran heult Wald und wirft sich zuckend 
Ein Wald von Hellebarden, von Roß und Mannen stählern, 

Die fliehn von Alessandria fort aus den Unglückstälern. 


aP 


Hoch lohend Alessandria bergab von Apenninen 

Wirft Lichter in die Flucht des goldgekrönten Ghibellinen. 

Die Bundesfeuer antworten von Osten her entiachten | 
Und also schallt das Siegeslied hin durch das stille Nachten. 


Fest sitzt der Leu von Schwabenland in den Lateinerscheren, 
Sagt’s Feuer an den Bergen, den Hügeln, Tälern, Meeren 
Morgen ist Christ erstanden, auf wieviel Ruhmeswonne 

Der Römer Ur-Ur-Enkelschaft herblickst du morgen, Sonne. 


Es hört’s das greise Reckenhaupt am Knauf des Schwerts, des guten, 
Und denkt bei sich der Herrn von Zollern: So verbluten 

Von Hand der Krämersäcke, die gestern erst sich schnallten 

Um ihren feisten Mißwanst den Stahl, den Ritter halten! 


Von Speyer drauf der Bischof, dem hundert sonnige Bühle 
Die Bütten füllen und hundert Dompfaffen das Chorgestühle, 
Knurrt: Ei, ihr schönen Türme ob meinem Münster fern, 

Wer wird dort Messe singen zur Weihnacht unsres Herrn? 


Pfalzgraf Diepold der Junge, dem golden überm schlanken 

Gebräunten Halse jugendhell die schweren Haare schwanken, | 

Denkt still: Nun geht der Elfen Ton rheinaufwärts durch die blaue 

Verwunschne Nacht; was kommt, was schlüpft, was hebt den Fuß 
im Taue? 


Auf den Feldern von Marengo. 223 


Dann spricht Erzbischof Christian: Zur Seiten meiner Wehre, 
Dem guten Morgenstern, trag ich das Öl der heil’gen Zehre. 
Für jeden was. O, wärt nur ihr jenseits der Alpenpässe, 

Saumtiere mein, von welschem Gold beladen bis zur Hesse. 


Und von Tirol der Graf: Mein Sohn, dich morgen noch schlafmüden 
Begrüßen über Alpen die Sonn und meine Rüden: 

Dein beides. Ich, ein edler Hirsch, von feigem Pack gehetzt, 

Soll fallen hier im grauen, im wälschen Sumpf vermetzgt!“ 


Einsam zu Fuß im mitten Feld, am Zügel sein Walleiser 
Streitroß versichernd, blickte gen Himmel noch der Kaiser. 
Er sah die Sterne wandern ob seinem Haupte. Schwarz wie Nacht 
Rauscht hinter ihm das Reichspanier im Winde, der es bauschen macht. 


Von Böheim rechts, von Polen links zwei Könige erhoben 

Des heilgen Reichs Kleinodien, Szepter und Schwert, nach oben, 
Als schwächer das Gestirn verblich und Morgenrot die Zinnen 
Der Alpen nördlich schienen, der Kaiser sprach: „Von hinnen, 


Zu Roß ihr Treuen alle, Ott Wittelsbach laß wehen 

Das heilge Banner ins Gesicht den Städten, daß sie's sehen, 
Nun rufst du Herold: Platz dem Imperator Romanus, 

Des großen Julius Enkelsohn, Kronfolger des Trajanus.“ 


Hei, hell wie hell und nah wie nah erscholl mit Jubilieren 

Durch Troß und Trab Trompetenton vom Strom des Po zum Tran, 
Als angesichts des Kaiseraars mit Herzen und Panieren 

Italia die Kniee bog und Cäsar hatte Bahn. 


(Nach einem Gedicht von Giosué Carducci.) 


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224 


Paula Becker-Modersohn: 
Briefe und Tagebuchblätter. 


I. Berlin, 1896. 

s ist eine riesengroße Neuigkeit, die ich zu melden habe. 

E Ich fange nächste Woche mit Farben an! Ich 

hatte mir bei meinen Maiskolben riesige Mühe gegeben. 

Da kam Dettmann gestern zu mir und sagte: „Gut, gut, sehr gut!“ — 

Dann sagte er, daß ich nächste Woche malen dürfe. Mein Herz 

jubelte! Denkt nur Montag an mich! Hab' ich etwas gut gemacht, 

denk ich an Euch und freue mich für Euch. Geht es schlecht und 

traurig bei mir her, höre ich im Geist Eure ermunternden Trost- 
worte. 

Wie ich mich auf die Ölfarben freue! 

Entschuldigt meine Flüchtigkeit. Ich bin den ganzen Tag bei 
meiner Arbeit so ernst, daß alle meine Flüchtigkeit sich in meine 
Briefe flüchtet. A 

* 

Abends im Akt hatten wir einen famosen Kerl. Zuerst, wie 
er so dastand, bekam ich einen Schrecken vor seiner magern 
Scheußlichkeit. Als er aber eine Stellung einnahm und plötzlich 
alle Muskeln anspannte, daß es nur so auf dem Rücken spielte, 
da ward ich ganz aufgeregt! 

Daß ich das haben darf! Daß ich ganz im Zeichnen leben 
darf! 's ist zu schön! Wenn ich es nur zu etwas bringe! Aber 
daran will ich gar nicht denken, das macht nur unruhig. 

Neulich erlebte ich etwas Spaßiges: Ihr nahmt doch den weib- 
lichen Akt mit dem schönen, schwarzen Haar nach Bremen. Dies 
selbe Wesen zeichnete ich wieder. Sie trug ein schwarzes Kleid 
mit weißem Kragen wie ich, nur war das ihre von schickerem Sitz. 
Ihren hübsch beschuhten Fuß streckte sie kokett heraus, während 
ich meine etwas schrummeligen Untertanen bescheiden einzog. Als 
die junge Dame mit den sanften Taubenaugen zum andernmal er- 


schien, hatte sie sich statt der rabenschwarzen Mähne schönes 
kastanienbraunes Haar zugelegt. Erzählte irgendeine Fabel von 


Haarwaschen und sich in der Flüssigkeit vergriffen zu haben. 


*) Die jung gestorbene Malerin Paula Becker-Modersohn hat ein 
Lebenswerk an Gemälden und Studien hinterlassen, das erst heute, wo man 
die französischen Meister, an denen sie gewachsen war, auch bei uns 
in Deutschland würdigt, in seiner vollen Bedeutung erkannt wird. Eine 
sehr wertvolle Ergänzung zu diesem reichen Nachlaß bilden ihre Briefe 
und Aufzeichnungen, die in der Unmittelbarkeit und Kraft des Empfindens 
ein einzig dastehendes Menschheitsdokument einer starken durch und durch 
weiblichen und geschlossenen Persönlichkeit bilden. Wir bringen eine Auswahl 
derselben aus den verschiedenen Entwicklungsstadien der Künstlerin. 


Briefe und Tagebuchblätter. 225 


Ja, ja, die Welt! die Welt! 

Von Frombergs Ball muß ich noch erzählen: es war einfach 
ideal! Max Grube und die Lindner führten einen Prolog zur Ein- 
weihung des Hauses auf. Wir drei Malerinnen hatten lustige Ge- 
sellschaft an zwei Malern und zwei Bildhauern. Der Maler Müller- 
Kurzwelly forderte mich zur Frangaise auf, aber denkt nur mein 
armes Herze: den ganzen Tanz durch pries er mit strahlendem 
Gesicht die schönen Augen und die fabelhafte Toilette der uns 
gegenübertanzenden jungen Frau Petschnikow. 

Bis drei schwebte man im siebenten Himmel, nahm immer Ab- 
schied, wurde aber nicht fortgelassen. Ich schließe in der Schule. 
Es ist Pause, um mich herum summt und surrt es wie ein Bienen- 
korb. Es wird ein Klassenausflug geplant. Jeder brennt darauf, 
der versammelten Gesellschaft einen besonders schönen Vorschlag 
zu machen. Ich trompete immer Schlachtensee, weil ich dort zu 
Haus bin. 

Aber die Pause ist aus und ich muß zu meinem kleinen Back- 
fischmodell zurückkehren. 

* 5 * 

Am Sonntag ging ich zur Probe des Stückes, in welchem mit- 
zuwirken ich versprochen habe. Jetzt wünschte ich mir aber lieber 
meine freie Zeit zurück, denn ich habe Frau N. nicht gern, das 
Stück nicht gern und den umarmenden Assessor nicht gern. 

Macht Euch keine Sorgen, daß ich so viel Antipathien in einem 
Augenblick hege! Ich gehe groß und heldenhaft dagegen an, in- 
dem ich Frau N. anlächle, das Stück schon gelernt habe und den 
Assessor treulich umarme. Letzteres allerdings mit einem heim- 
lichen Fluch. 

Montag war ich bei Du Bois Reymonds. Lucie sprach über 
ihre Bremer Tätigkeit und zeigte mir einige der dort angefertigten 
stylisierten Muster. Dann gab es ein feines Gespräch über Zeichnen 
und Malen. Sie sind gar nicht modern und verteidigen sehr den 
Kontur. l 

Bei Jeanne Bauck zeichnete ich einen alten Mann. Ihre Methode 
ähnelt der von Albert, doch legt sie das Fundament viel gründ- 
licher. Beide haben in Paris studiert, deshalb vielleicht die Ahn- 
lichkeit. 

Bei Hausmann haben wir jetzt ein drolliges Modell, eine echte 
Berliner Portiersfrau mit den dazu gehörigen Redensarten. Sie hat 
noch nie Modell gesessen, wir haben sie in Ermangelung eines 
Bessern von der Straße aufgegriffen. Als wir sie anredeten, blickte 
sie entsetzt an ihren malerisch verblichenen Kleidern hinunter und 


226 Paula Becker-Modersohn: 


meinte, sie müsse sich doch erst feinmachen. Als sie zum zweiten 
Male kam, hatte sie wirklich eine unausstehlich blanke Schürze um- 
gebunden. 

Es war zu komisch, welch einen Einfluß das Sitzen auf dieses 
cholerische, schnellatmige Weiblein hatte. Nach einer Stunde rief 
sie aus: „Nee! ick hatte immer jedacht, dat Nixduhn wär dat 
Scheenste. Es is ja aber viel, viel schlimmer als arbeeten.“ Am ersten 
Tage verließ sie die Bildfläche mit den großen Worten: „Lieber 
drei Stuben scheuern!“ 

M . * 

Ich freue mich stets auf meine Stunden bei Jeanne Bauck. 
Nachdem ich mich an ihre erste „Wüschtigkeit“ gewöhnt habe, mag 
ich sie gar zu gern anseh’n. Ihre Züge sind gerade so interessant 
wie ihre Malerei, ich kann mir immer wieder den kleinen pikanten 
Bogen ihres Nasenlochs anschau’n. Ihr Mund hört so nett plötz- 
lich auf, als ob der Herrgott mit einem feinen Pinselstrich drüber 
gefahren wäre. 

Es ist Abend. Ich bin allein und habe mich mal wieder ge- 
pinselt. Ich habe einen langen Tag hinter mir und erlaube mir 
von Herzen müde zu sein. Darum verlangt nicht mehr viel von 
meiner Seele, die eigentlich noch ganz in Farben sitzt. Es ist eigen- 
artig; ich lebe so intensiv am Tage, daß ich abends, wenn ich 
schreibe, immer eine Reaktion verspüre. Und eigentlich ist das 
Schönste meines Lebens viel zu fein und zu sensibel, als daß es 
sich aufschreiben ließe. Das, was ich schreibe, ist nur das Gefäß, 
darin der Duft vieler köstlicher Augenblicke ruht. 


** * 
* 


1897. 

Worpswede! Worpswede! Worpswede! Versunkene Glocke- 
Stimmung. Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schönes, 
braunes Moor, köstliches Braun. Die Kanäle mit den schwarzen 
Spiegelungen, asphaltschwarz. Die Hamme mit ihren dunkeln 
Segeln; 's ist ein Wunderland, ein Götterland! 

Ich habe Mitleid mit diesem schönen Stück Erde, seine Be- 
wohner wissen nicht, wie schön es ist. Nein, Paula Becker, hab’ 
es lieber mit Dir, daß Du nicht hier lebst. Und das auch nicht. 
Du lebst ja überhaupt, Du Glückliche, lebst intensiv, das heißt: 
Du malst! Ja, wenn das Malen nicht wäre. 

Und weshalb Mitleid haben mit diesem Land? Es sind ja 
Männer da, die ihm Treue geschworen haben, Maler, die an ihm 
hangen mit unendlicher, fester Mannesliebe. 


Briefe und Tagebuchblätter, 227 


Da ist zuerst Mackensen, der Mann mit den goldenen Me- 
daillen in den Kunstausstellungen. Er malt Charakterbilder von: 
Land und Leuten. Er versteht den Bauern durch und durch, er 
kennt seine guten Seiten und kennt seine Schwächen. 

Mir däucht, er könnte ihn nicht so gut verstehen, wäre er 
nicht selbst in kleinen Verhältnissen aufgewachsen. Daß der Mensch: 
es doch nie ganz verwindet, wenn er einmal um den Groschen: ge: 
kämpft hat, auch später nicht, wenn er im Wohlstand lebt, der edle’ 
Mensch wenigstens nicht. Ihm sind die Flügel beschnitten; ohne 
daß er’s merkte, weil die Schere täglich nur eine Ahnung ab- 
schneidet. Das Große, Unbefangene, das unabhängig Stürmende, 
das Stück Prometheus im Manne ging verloren. So ist’s auch bei 
Mackensen. Er ist ein ganzer Mann, geklärt in jeder Beziehung, 
hart und energisch, zärtlich weich zu seiner Mutter. Doch das 
Große, das unsagbar Große ist seiner Kunst verloren gegangen. 

Der Zweite im Reigen ist Heinrich Vogeler, ein reizender Kerl, 
ein Glückspilz! Das ist mein ganzer Liebling. Er ist kein Wirk- 
lichkeitsmensch wie Mackensen, er lebt ganz und gar imeiner Welt 
für sich. 

Er trägt in seiner Tasche „Walther von der Vogelweide“ und 
„Des Knaben Wunderhorn“. Darin liest er fast täglich. Er träumt 
darin täglich. Im Atelier in der Ecke steht seine Guitarre. Darauf 
spielt er verliebte alte Weisen und träumt mit seinen großen e 
Musik. 

Er hat sich die altdeutschen Meister zum Vorbild genommen. 
Er ist ganz streng, steif streng in der Form. Sein Frühlingsbild: 
Birken, zarte junge Birken mit einem Mädchen dazwischen, die 
Frühling träumt. Es rührt mich zu sehen, wie dieser junge Kerl 
seine drängenden Frühlingsträume in diese gemessene Form kleidet. 

Dann ist noch der Modersohn da. 

Ich habe ihn erst einmal flüchtig gesehen, habe nur die Er- 
innerung an etwas Langes im braunen Anzug und an einen röt- 
lichen Bart. Seine Landschaften, die ich auf Ausstellungen sah, 
haben tiefe Stimmung in sich: heiße, brütende Herbstsonne oder 
geheimnisvoll süßer Abend. 

Ich möchte ihn kennen lernen, diesen Modersohn! Overbecks 
Landschaften sind tollkühn in der Farbe, doch haben sie nicht die 
Modersohnsche Empfindungskraft. 

Hans am Ende zeigte uns viele seiner Skizzen und vorzügliche 
Radierungen. Er ist eine feine Künstlernatur, und die zarte Art, 
wie er mit seiner jungen Frau spricht, hat mich ganz für ihn ein- 
genommen, auch wie er mit wenig Worten einen ganzen Menschen 
beschreiben kann. Ä 


228 Paula Becker-Modersohn: 


An unserm Mittagstisch sehe ich die Malerin Fräulein v. Fink. 
Man hatte mich vorbereitet, ich war also nicht erstaunt, sie in Hosen 
zu Tische kommen zu sehen. Sie hat in Paris studiert, ich möchte 
gern ihre Arbeiten sehen. 

Leben! Leben! Leüen! 


* * 
x 

Bin ich nicht ein Mägdelein, 
Wandelnd hin durch Frühlingswiesen, 
Bin ich nicht ein Mägdelein, 
Die das Glück hat auserkiesen? 
Frew mich, daR die Blumen blühn, 
Daß die weißen Wolken ziehn, 
Bin so durch und durch zufrieden, 
Scheint mir Gutes nur beschieden, 
Weiß ich, komm ich um die Ecke, 
Liegt das Glück mir in der Hecke. 


* x 
* 


Worpswede, August 1897. 
Ihr Lieben! 

Ich bin glücklich, glücklich, glücklich. - Nur ein paar Zeilen, 
Euch dies zu melden, denn es schlägt zehn Uhr. Früher konnte 
ich mich draußen nicht vom Monde trennen. Gestern und heute 
malten wir in Südwede an einem ganz blauen Kanal. 

Am Abend stakten uns die drei Vogelerbrüder auf der Hamme. 
In der Dämmerung leuchteten die saftigen Hammewiesen. Dann 
zogen von Zeit zu Zeit diese ernsten, schwarzen Segel mit ihrem 
unbeweglichen Steuermann vorüber. 

Dann kam ganz leise der Mond. Ich dachte an Euch und 
dann wieder gar nichts, sondern fühlte bloß. 

Ganz Worpswede schlummert schon. Nur auf der gegenüber- 
liegenden Kegelbahn poltern noch einige unruhige Geister. Die 
Nacht ist wundervoll sternklar. 

Heute habe ich mein erstes Pleinairporträt in der Lehmkuhle 
gemalt. Ein kleines, blondes, blauäugiges Dingelchen. 

Es stand zu schön auf dem gelben Sand. Es war ein Leuchten 
und Flimmern. Mir hüpfte das Herz! Menschenmalen geht doch 
schöner als eine Landschaft. | 

Merkt Ihr’s, daß ich nach langem, fleißigem Tage todmüde bin? 

Aber innerlich so friedlich, fröhlich! 


* 


* 


Briefe und Tagebuchblätter. 229 


Mutter, der Fouragezuwachs war himmlisch. 
„Und der leere Kasten schwoll.“ 
Jetzt haben wir genug bis ans Ende unsrer Tage! | 

Und wie verbrachte ich meinen Sonntag? Morgens Modell- 
malen nach meinem lieben Blondköpfchen Anni Brotmann in der 
Lehmkuhle. Hernach Treffen mit den Vettern und gemeinsame Wan- 
derung mit reicher Beute von Brombeeren und Motiven. 

Ein Abendgang durchs Dorf. Bei Welzel ist Tanzmusik. Wir 
blicken hinein. Großer Abtanz der Tanzstundenkinder, reizend an- 
zusehn in weißen Kleidern. 

Der Tanzlehrer, eine urgelungene Fuchsphysiognomie, eröffnet 
zierlich gespreizt den Reigen. 

Wir wandern weiter. Von neuem treffen kräftige Paukentöne 
unser Ohr. Wir gucken zur Tür hinein: es ist Bauernhochzeit. 
Die Braut duselt unter ihrem Kranz ungefähr ein. Er gähnt. Auf 
der andern Seite des Saales Bauernquadrille. Im Hintergrunde 
die fürchterliche Blasmusik, rechts die Ruhköpfe. 

Beim nächsten Walzer mache ich mit dem Brautvater die Runde. 
Er brüllt mir beseligt in die Ohren: „Wir beede könnens fein!“ 
Ich nicke nur zu ihm oben hinauf. 

Hinterher hat man uns ausgelacht, daß wir dort getanzt 
haben. Das Brautpaar sei ein bischen dösig. Sie hätten vorigen 
Winter im Armenhaus gesessen und kämen nächsten Winter auch 
wieder hinein. 

Dann machten wir noch einen Abendbesuch bei meinen Modell- 
kindern in der Hütte uns gegenüber. Es sind ganz arme Leute, 
aber heute wohnte das Glück in aller Augen. Der älteste achtzehn- 
jährige Sohn war von einer Seereise nach Hause gekommen. Ein 
fixer, aufgeweckter Blondling. Der erzählte der staunenden Familie 
von fremden Zonen und Menschen. Alle die blonden blauäugigen 
Geschwister scharten sich dicht um ihn. 


* 
* 


— — — Wieder ist es Nacht, eine schöne, stille, feierliche. 
Ich habe wieder einen Göttertag hinter mir. 

Am Morgen malte ich einen alten Mann aus dem Armen- 
haus. Es ging fein. Er saß wie ein Stock mit dem grauen Himmel 
als Hintergrund. Das Mittagessen an unserm Weibertisch wird 
mit großem Appetit eingenommen. 

Die Hosendamen, es hat sich noch eine zweite hinzugeseltt 
bewiesen ihre Männlichkeit durch jungenshaften Heißhunger. Es 
macht mir großen Spaß, diese Individuen innerlich und äußerlich 
zu betrachten. Ich glaube, sie bilden sich wirklich ein, sie seien 


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230 Paula Becker-Modersohn: 


nicht eitel und gäben nichts auf Äußerlichkeit. Und doch sind sie 
auf ihre Hosen so stolz wie unsereins auf ein neues Kleid. Ich 
muß mit dem alten Weisen sagen: Es ist alles eitel. Ich sonne 


mich in der Welt und Eurer Liebe! 
Euer Kind. 


* * 


x 

Ich zeichne jetzt den alten von Bredow aus dem Worpsweder 
Armenhause. Der hat ein Leben hinter sich! Er hat studiert, ist 
an den Trunk geraten, war Totengräber in Hamburg während der 
Cholera, dann wieder sechs Jahre Seefahrer, hat überhaupt wohl 
doll gelebt. 

Jetzt führt er die Kuh vom Armenhause auf die Weide und 
schafft sich dadurch eine Lebensaufgabe. Sein Bruder wollte ihn 
vor Jahren in die ordentliche gesetzte Welt bringen. Der Alte hat 
aber seine Kuh und sein Träumen so lieb gewonnen, davon läßt 
er gar nicht mehr. 

Er erfreut sich auch eines gewissen Ansehens im Armenhause, 
gilt als eine Art heimlicher Millionär. Die alten Weiblein ver- 
trauen mir heimlich mit scheuer Ehrfurcht: „O Fräulein, de is 
reich!!! De hett hu—u—u—nnert Mark!!! 

* * 


* 

Neulich habe ich Vogelers Martha besucht. Die ist auf allen 
seinen Bildern, er zeichnete sie schon, als sie noch zur Schule ging. 
Jetzt stickt sie mit ihren schönen, schlanken Händen Wandschirme 
und Mappen für ihn und lebt sich tief hinein in den Geist seiner 
Kunst. 

Sie sitzt tagelang in seinem Atelier und er zeichnet sie un- 
aufhörlich oder er sitzt still neben ihr in der Wohnstube ihrer 
Mutter und zeichnet sie. Jetzt geht sie auf die Kunstgewerbeschule 
nach Berlin und was dann wird? Er hat sein Haus vergrößern 
lassen. Für mich ist das Verhältnis zu zart und zu träumerisch, 


als daß es so einen Allerweltsschluß haben sollte. 
En * 


Morgens zeichne ich eine junge Frau aus dem Rusch. Die 
hat vier Wochen gesessen, weil sie und ihr Mann ihr uneheliches 
Kind schlecht behandelt haben. Eine strotzende Blondine, ein 
Prachtstück der Natur. Sie hat einen leuchtenden Hals in der 
Form der Venus von Milo. Sie ist sehr sinnlich. Aber muß natür- 
liche Sinnlichkeit nicht mit dieser zeugenden, strotzenden Kraft 
Hand in Hand gehen. Diese Frau mit den vollen Brüsten scheint 
ein Bild der großen Mutter Natur zu sein. Auch fühle ich, Sinn- 
lichkeit bis in die Fingerspitzen, gepaart mit Keuschheit, ist das 
einzige Wahre, Rechte für den Künstler. 


w 


* 


Briefe und Tagebuchblätter. 231 


Heute kam meine Blondine wieder, diesmal mit dem Jungen 
ander Brust. Die mußte als Mutter gezeichnet werden, das ist ihr 
einziger wahrer Zweck. Köstlich dies Leuchten der weißen Brüste 
in der brennend roten Jacke. Das Ganze hat etwas Großes in 
Form und Farbe. 


* * 


Hier in der Einsamkeit reduziert der Mensch sich auf sich 
selber. 

Es ist ein sonderliches Gefühl, wie all das Bunte, Anerzogene, 
Geschauspielerte, was ich besaß, wegfällt und eine vibrierende Ein- 
fachheit entsteht. 

Ich arbeite an mir. Ich arbeite mich um, halb wissentlich, 
halb unbewußt. Ich werde anders. Ob besser? Jedenfalls vor- 
geschrittener, zielbewußter, selbständiger. 

Ich habe jetzt eine gute Zeit, fühle eine feine, junge Kraft in 
mir, die mich jauchzen und jubeln macht. 

Ich arbeite fleißig, ermüde nicht und habe abends noch einen 
klaren Kopf, der etwas auffassen kann. Ich bin jetzt stolz und 
doch bescheidener als je, wenig eitel, da wenig Zuschauer vor- 
handen sind. Das Leben ist mir gleich einem kräftigen, knusprigen 
Apfel, in welchen die jungen Zähne mit Vergnügen beißen, sich 
ihrer Kraft bewußt und ihrer froh. 

Mackensen sagt: Die Kraft ist das Allerschönste; am Anfang 
war die Kraft. 

Ich denke und erkenne es auch und doch wird in meiner 
Kunst die Kraft nicht Leitton sein. In mir fühle ich es wie ein 
leises Gewebe, ein Vibrieren, ein Flügelschlagen, ein zitterndes 
Ausruhen, ein Atemanhalten. Wenn ich einst malen kann, werde 
ich das malen. 


u 


Schnee und Mondgeschimmer. 
Schlanke Bäume schreiben 
Zitternd, ahnend, suchend 

Hin das Abbild ihrer Seele 
Auf das weiße Winterlaken, 
Legen fromm ihr holdes Wesen 
Nieder auf den keuschen Boden. 
Wann kommt mir der Tag, 
Daß in Demut einen Schatten 
Hin auf reinen, keuschen Boden 
Ich kann werfen, 

Einen Schatten meiner Seele. 


K 


232 Paula Becker-Modersohn: Briefe und Tagebuchblätter. 


Carl Vinnen war auf zwei Tage in Worpswede. Er ist 
Künstler mit Leib und Seele und ein wertvoller Mensch. In Bremen 
hat er eben eine Reihe Bilder ausgestellt, große, schöne Sachen, 
entstanden aus inniger Liebe zur Natur. Und doch fühlt man 
heraus: der Mensch steht über den Dingen, das gibt ihm diese 
große, einfache Anschauung. 

Vinnen gab gestern ein Fest im Atelier von Otto Modersohn. 
Es war mein hübschester Abend hier draußen unter den Künstlern. 
Überall den Blick auf Modersohnsche Birken und Kanäle ruhen 
zu lassen, das ließ, ich mir gefallen. Zudem war der Raum so 
fein gemütlich. Schummerbeleuchtung mit Papierlaternen. Zwei ge- 
deckte Tische, einen für die Erwachsenen und einen Kindertisch. 
An letzterem Clara Westhoff und ich, Heinrich Vogeler, Mackensens 
jüngerer Bruder und Alfred Heymel. Ich habe gerade Heymels 
Gedichte gelesen, die ich als solche nicht so hoch schätze, als daß 
mir der Geist gefällt, der aus ihnen spricht, die junge Kraft, die 
sich selbst spürt und beweisen möchte. 

Jetzt gibt er mit seinem Vetter Rudolf Alexander Schröder eine 
neue Zeitschrift heraus: Die Insel, und sitzt in München zwischen 
unsern feinsten, modernsten Künstlern, die seine Mitarbeiter sind. 

Nach Tische nahm Vogeler seine Guitarre und sang. Dann 
wurden die Tische beiseite geschoben und wir tanzten. 

Heymel hatte eine Idee vom Tanz, dachte sich Ringelreihen 
aus, daß ich nie genug hatte. Dazu das weibliche Gefühl, daß 
mein neues grünes Sammetkleid mir gut stand und daß. sich einige 
an mir freuten. | 

Heute früh besuchte mich Vinnen undd schaute dh meine 
Sachen an. Daß solch ein Künstler mich ernst nimmt, ist mir eine 
Riesenfreude. Er lobte das Malerische, Tonige und war mit vielem 


zufrieden. 
* * 


. 


Im Dezember 1899 die erste Ausstellung meiner Bilder in der 
Bremer Kunsthalle. 
Arthur Fitger donnert alles in Grund und Boden. 


(Fortsetzung folgt.) 


233 
Dr. E. Benedikt: Ein Jahrzehnt in der Aviatik. 


Is zu Anfang: des Jahrhunderts die Gebrüder Wright die ersten 
Ä dürftigen Flugversuche machten und der unglückliche 
Lilienthal seit den Zeiten des Ikarus als erster Pionier fiel, 
da schien es sich um eine interessante und gefährliche Spielerei zu 
handeln, besten Falles schien die Möglichkeit eines neuen Sports 
zu winken. Aber mit einer viel schnellern Entwicklung als seiner- 
zeit das Fahrrad und das Automobil hatten, ist es vorwärts ge- 
gangen. Aus den Schranken des Aerodroms heraus flog die Flug- 
maschine von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von Land zu 
Land, schließlich über Gebirge und Meere. Nach nur zehn Jahren 
ist man heute schon so weit, daß wenigstens in einigen Beziehungen 
schon erreicht ist, was praktisch wünschenswert /und verwendbar ist. 
Angesichts einer so außerordentlich schnellen Entwicklung 
kann man es verstehen, wenn der Vater der neuen Kunst des 
Fliegens, Orville Wright, in die Worte ausbricht: „Als ich vor zehn 
Jahren die ersten Versuche in dem abgelegenen Dayton unternahm, 
dachte ich nicht von ferne an eine so schnelle Entwicklung. Gegen- 
wärtig ist das Fliegen schon sicherer als das Automobilfahren, 
denn was wollen doch die paar Dutzend Opfer bedeuten gegen die 
Tausende und Tausende, die jährlich beim Autofahren verunglücken! 
Das Fliegen hat aber auch eine enorme kommerzielle Zukunft. 
Denn der Transport durch die Luft wird sehr viel billiger zu 
stehen kommen als der auf ebener Erde, und wird sogar sicherer 
sein. -In kurzer Zeit wird man Maschinen haben, die bei einer 
Schnelligkeit von hundert Kilometern ein Dutzend Personen trans- 
portieren. Die Zeit wird kommen, da jedermann seine Flug- 
maschine haben und diese Automobil und Eisenbahn ausgestochen 
haben wird.“ 


* * 
* 


Orville Wrights Prophezeiung wird vielleicht einmal in Er- 
füllung gehen. Aber offenbar sind wir noch weit entfernt von 
diesem Punkte der Entwicklung. Zwar die Skeptiker, die in der 
Erfindung nur eine Spielerei oder höchstens einen neuen Sport 
sahen, dürften heute eine verschwindende Minderheit sein. Sie 
sind schon durch die offenbare militärische Bedeutung der 
neuen Kunst widerlegt. Noch unter Louis Philippe, ein Jahrzehnt 
nachdem der greise Goethe, der die neue Erfindung cer Eisen- 
bahnen noch erlebte, Eckermann gegenüber den merkwürdigen 
Ausspruch getan, die Erfindung werde im Verein mit den andern 
gesteigerten Verkehrsgelegenheiten den Zusammenschluß Deutsch- 
lands zu einem Staatenbund herbeiführen, blamierte sich Monsieur 


234 Dr. E. Benedikt: 


Thiers in der französischen Kammer mit der Bemerkung, die Eisen- 
bahnen seien ganz nutzlos und obendrein „ungesund“, man werde 
bald nichts mehr von ihnen hören. Solche Monsieur Thiers haben 
sich auch der neuen Erfindung gegenüber bloßgestellt; unter den 
Einsichtigen hingegen zweifelt niemand mehr, daß wir mit der 
Flugmaschine wirklich und wahrhaftig ein neues Werkzeug im 
großen Geschichtsstil haben werden, eine von den Erfindungen, 
die den Gesamtaspekt des Lebens verändern. Aber offenbar ist die 
Erfindung noch primitiv und in ihrer heutigen Gestalt so wenig 
geeignet eine neue Furche auf dem Acker der Geschichte zu ziehen 
als einst Fultons Dampfschiff, das mit einem gut bespannten Post- 
wagen gerade noch konkurrieren konnte. 

Vor allem müßte eine viel größere Sicherheit erzielt werden. 
Daß das Fliegen heute schon sicherer sei als das Automobilfahren 
dürfte schwerlich statistisch nachzuweisen sein. Immerhin ist 
richtig, daß die Zahl der Unglücksfälle bei weitem nicht so hoch 
ist wie man nach den Berichten der Presse allgemein glaubt. Die 
Art der Berichterstattung, die sensationelle Behandlung der Fälle 
bringt es mit sich, daß der Eindruck besteht, es sei eine Toll- 
kühnheit überhaupt zu fliegen. Aber die Sicherheit ist viel 
größer als allgemein angenommen wird. Es sind im Jahr 1911 
insgesamt 36 Menschen beim Flugsport ums Leben gekommen, 
und diese Ziffer war nicht halb so groß wie die der Opfer, welche 
alljährlich der Bergsport fordert, hinter dem keine große Kultur- 
hoffnung als weihendes, versöhnendes Moment steht. Und dabei 
ist zu bedenken, daß die Vorführungen vielfach in Akrobatie aus- 
geartet sind; um das Interesse wach zu halten, müssen sich die 
Aviatiker in tollen Wagnissen überbieten. 

Was die neue Kunst für unser Gefühl vorläufig noch etwas 
unheimlich macht, ist weniger die tatsächliche Gefahr, die bei 
richtiger Überlegung sehr zusammenschrumpft, als die Rätselhaftig- 
keit der meisten Unglücksfälle. Der Mensch ist nun einmal ein 
solches Ursachentier, daß er über schlimme Dinge schon halb ge- 
tröstet ist, wenn er nur hinsichtlich des Warum klar sieht. Es 
ist ein Schiff in den Grund gefahren. Nun, es hat eben ein Leck 
bekommen durch Auffahren an einen Eisberg. Damit ist der Fall 
erledigt und man besteigt das nächste Schiff, ohne viel an das 
verunglückte zu denken. Hingegen, wenn eine Flugmaschine ab- 
stürzt, so bringen es in der Regel die berufensten Fachleute nicht 
zu einer Übereinstimmung in der Erklärung. Allein das liebe 
Leben einem Apparat anzuvertrauen, der „seine Tücken hat“, einer 
Maschine, in der man drin sitzt wie in einer Mausefalle, das 
geht gegen allen gesunden menschlichen Instinkt. 


Ein Jahrzehnt in der Aviatik. 235 


Ferner ist beim heutigen Stand der Dinge noch viel zu viel 
auf die Kunst und Besonnenheit des Piloten abgestellt, als daß, 
daran zu denken wäre, die Flugmaschine zu einem allgemeinen Ver- 
kehrsmittel zu machen. Der Italiener Leonino di Zara, der seit 
Jahr und Tag auf seinem eigenen großen Operationsfeld' bei Padua 
fast täglich Übungen macht, berichtet über ein kleines Erlebnis 
beim Abfliegen wie folgt: „Man sinkt beim sog. vol plane sehr 
schnell, man stellt sogar den Motor still, um die Schnelligkeit 
nicht allzusehr zu vergrößern. Bei schiefgestellter Maschine fährt 
man in schiefer Richtung bis nahe an den Erdboden; in einigen 
Metern Entfernung muß man dann schnell die Maschine horizontal 
stellen, denn würde man schief zur Erde fahren, so würde Zer- 
schmetterung eintreten. Ich übte mich nun eines Tages im Ab- 
fliegen, flog sogar mit angezündetem Motor, um Versuche zu 
machen wie man im engsten Raume landen könne. Nun, als ich 
in der Entfernung von etwa zehn Metern von der Erde auf den 
Äqudibrator drückte, versagte er mit einem Male. Es war dies 
einer von den peinlichen Augenblicken, wo der Mensch in einer 
Sekunde sein ganzes Leben nochmals durchlebt. Ich hatte die 
Vorempfindung der Katastrophe und in meinen Adern kreisten die 
Schauer des Todes. Aber ich nahm mich zusammen, drückte mit 
verstärkter Kraft nochmals und die Maschine richtete 
sich auf. Ah, es war wirklich eine starke Emotion!“ Und der 
junge Mann verstummte einen Augenblick, tief Atem holend, um 
cann zu schließen: „Es ist Ruhe nötig, kaltes Blut, vollständige 
Beherrschung der Nerven. Ohne diese Eigenschaften wäre es eine 
Narrheit, fliegen zu wollen.“ So ein anerkannter Meister, der 
übrigens auch wie Wright überzeugt ist, daß die neue Kunst 
über kurz oder lang „jeden Anschein von Sport verlieren“ und 
ins praktische Leben eintreten werde. 

Ein besonderer Übelstand ist noch, daß der angehende Avia- 
tiker nicht die Vorteile genieß, die dem angehenden Automobil- 
fahrer sein Handwerk erleichtern. Dieser übt sich erst auf ebener 
Straße bei geringer Schnelligkeit, um allmählich zu schwierigeren 
Aufgaben überzugehen. Der Flieger hingegen muß gleich die 
ganze Summe von Risiko übernehmen, die das Luftmeer bietet. 
Und das Luftmeer scheint, wie das andere, seine besonderen Tücken 
zu haben, die eben auch nur durch lange Erfahrung und viele 
Opfer gekannt und von den Menschen gebändigt werden können. 
Ist es doch mit der Beherrschung des Ozeans nicht anders ge- 
gangen. Dem antiken Menschen war das Meer, das er ohne 
Kompaß und die modernen Schutzvorrichtungen befahren mußte, 
fürchterlich. „Verräterisch“ und „treulos“ sind bei den antiken 


236 Dr. E. Benedikt: 


Dichtern die beliebtesten Adjektive zur Charakterisierung des 
Meeres, das uns modernen Menschen lieb und vertraut geworden 
ist, weil der Mensch es durch Geist erobert hat und durch Er- 
fahrung meistert. So wird uns wohl auch einmal das Luftmeer, 
das „mare infidum“ des modernen Menschen, lieb und vertraut 


werden. 
** x 


Es müssen wesentliche, fundamentale Verbesserungen kommen, 
wenn die Flugmaschine ein allgemeines Verkehrsmittel mit der Zeit 
werden soll. Übersieht man die heutigen Apparate bloß mit dem 
von keinen technischen Kenntnissen beschwerten simplen Menschen- 
verstand, was eine gute Augenprobe immer ist, so fällt ihre Un- 
fertigkeit, Vorläufigkeit in die Augen. Oder sollte es nicht eine 
sehr vorläufige Lösung des Problems sein, wenn beispielsweise bei 
dem beliebten Eindecker der Pilot und der schwere Motor so 
hoch placiert sind, daß der Schwergewichtspunkt des Ganzen über 
den Flügeln liegt, so daß die Maschine gar kein stabiles Gleich- 
gewicht hat? Auf dem Eindecker fährt der Aviatiker durch das 
Luftmeer ungefähr wie weiland die Galathea auf der Meeresmuschel 
stehend über cie Wogen fuhr! Aber das ist eine Attitüde für 
Götter, solche freie Kühnheit ist sterblichen Menschen nicht er- 
laubt. Der Schwergewichtspunkt müßte sehr viel tiefer zu liegen 
kommen und der ganze Apparat müßte so arrangiert werden, daß 
er beim Fallen der Fallschirm seiner selbst würde. 

Geradezu lächerlich ist es sodann, daß bei vielen Apparaten 
der Chauffeur so placiert ist, daß er zwar cie Sonne oder auch 
die Sterne mit Muße betrachten kann, hingegen nicht bequem neben 
und unter sich sehen kann, so daß er in Gefahr ist Hindernisse 
anzufliegen, am Ende gar einen Kollegen und mit ihm zusammen 
zu stürzen, wie dies bei einem Wettfliegen in Mailand vorgekommen 
ist. Ebenfalls lächerlich ist, wie bei vielen Apparaten der Flieger 
wie in einem Käfig eingesperrt ist, umgeben von Drähten und 
Latten, so daß er beim Landen nicht bequem bei Seite springen 
kann und im Falle eines Unglücks in Gefahr ist vom Motor er- 
drückt zu werden. Oder daß die Luftschraube sich bei der ge- 
ringsten Störung in diese Drähte verfängt und so die Katastrophe 
herbeigezogen wird. Dann gar die Placierung bei den Maschinen 
mit mehreren Personen! Unlängst berichteten die Blätter es sei 
einer aufgeflogen mit vier Personen; davon mußten sich zwei platt 
wagerecht hinlegen und durften auf den Erdboden gucken, einer 
mußte dem Flieger im Rücken stehen und sich an ihm festhalten. 
Das alles ist primitiv und komisch auch für das technische Laien- 
gemüt. | 


Ein Jahrzehnt in der Aviatik. 237 


Ferner fällt dem simplen Menschenverstand das Mißver- 
hältnis zwischen dem zarten, luftigen Apparat und den Kraftmotoreh 
mit ihren riesigen Pferdestärken auf. Einer der ersten Virtuosen 
der neuen Kunst, Farman, hat sich darüber geäußert: „Die 
Schnelligkeit tötet uns. Es sind die großen Motoren, auf so ge- 
brechliche Dinger gesetzt, die die meisten Unglücksfälle herbei- 
ziehen. Und man will auf diesem Wege noch weiter gehen! Das 
würde und müßte die Aviatik diskreditieren.“ Für die Zukunft sei 
die Sicherheit alles, die Schnelligkeit zweiten Ranges; diese werde 
mit der Zeit von selber kommen. Ich denke, daß man sie schon 
hat! Eine italienische Zeitschrift hat ausgerechnet, daß beispiels- 
weise von Rom aus jeder italienische Ort in sieben Stunden schon 
jetzt erreicht werden kann. Von Rom nach Turin könnte man in 
fünf Stunden gelangen, nach Neapel würde es nicht einmal eine 
Stunde brauchen, während die schnellsten Bahnzüge vier Stunden 
nötig haben. Für den praktischen Verkehr würden solche Schnellig- 
keiten genügen. 

Sodann war, wenigstens bis auf die letzte Zeit und in Frank- 
reich, die Ausführung der Apparate vielfach leichtsinnig, so daß 
eine Autorität wie Savorgnan de Braza in einer Studie über die 
Unglücksfälle der letzten Jahre zu dem Schluß kam, daß die Hälfte 
der Unglücksfälle auf schlechte Konstruktion zurückzuführen sei. 
Die Sache muß schlimm gestanden haben, wenn die Luftschiffer- 
brigade des italienischen Heeres bei einer von der berühmten Fabrik 
Farman hergestellten Maschine ohne weiteres alle verbindenden 
Drähte und Seile ausbrechen und durch neue ersetzen ließ. Man 
verwendet noch vielfach Holz, wo Metall angezeigt wäre, Drähte, 
wo Drahtseile nötig wären etc. 

Überhaupt war die bisherige Entwicklung vom Standpunkt 
der Verbesserung der Maschinen nicht vorteilhaft. Die Aviatiker 
ließen sich einseitig leiten von der Ruhmsucht und Gewinnsucht. 
Nach einer Statistik des französischen Aeroklubs wurden im Jahre 
1911 4750000 Fr. Preise gewonnen, wovon ein Paulhan allein 
350 000 Fr. erhielt. Seither ist freilich das Fieber zurückgegangen, 
weil das Interesse an den bloßen Sportflügen immer mehr zurück- 
geht. Aber bis dahin haben doch die Maschinenbauer das Haupt- 
augenmerk auf immer größere Schnelligkeit und längere Flug- 
dauer gelegt statt auf die Sicherheit. Und man kann ihnen kaum 
einen Vorwurf daraus machen, denn sie erfüllen einfach die 
Wünsche ihrer Kunden, der Aviatiker. Besser wird es erst jetzt 
werden, wo die praktische Nützlichkeit der Flugmaschinen vom 
militärischen Standpunkt erwiesen ist und damit die ganze Sache 
in die rechten Hände kommt. 


238 Dr. E. Benedikt: 


Jedenfalls sind die jetzigen Eindecker und Zweidecker nicht 
das letzte Wort der Entwicklung. Man wird sie schon in einem 
Jahrzehnt vielleicht mit der Rührung und dem Spott betrachten, 
mit dem wir in alten Gartenlauben die erste Eisenbahn und das 
erste Dampfschiff ansehen. Auch angenommen, daß man bereits 
prinzipiell auf dem rechten Wege sei, ist eine ungeheure Arbeit 
nötig das Prinzip in alle Verzweigungen auszubauen, eine Arbeit, 
die nur in unserer Zeit so recht gründlich gemacht werden kann, 
wo für eine die Allgemeinheit interessierende Aufgabe die besten 
Köpfe der Kulturwelt zusammenarbeiten können. Allein in den 
Vereinigten Staaten sind viele tausend Patente für die Flugmaschine 
gelöst, die alleangebliche oder wirkliche Verbesserungen beschlagen! 
Auf diesem Wege wird es rasch vorwärts gehen. 


21: x 


Alles wirklich Produktive, Neue, zieht Kreise nach allen Seiten, 
hat unabsehbare Folgen. So auch die neue Errungenschaft des 
Menschengeschlechts, die Eroberung des Luftreiches. Schon heute 
erstrecken sich diese Folgen weit in das Gebiet des praktischen 
Lebens hinein. Die Militärs sind zur Stellungnahme gezwungen, 
ebenso die Juristen, und bald werden es die Volkswirtschafter 
sein. Über kurz oder lang wird fast jedermann direkt oder in- 
direkt ein Verhältnis zu der neuen Erfindung haben. 

Nur flüchtig sei darauf hingewiesen, wie sehr schon jetzt die 
Rechtswissenschaft engagiert ist. Es finden Kongresse über Kon- 
gresse statt, nationale und internationale, zur Regelung des Luft- 
rechtes. Eigentlich müßten die Juristen jetzt endlich einmal die 
seit dem ältesten juristischen Gedcnken pendente Frage lösen, wem 
eigentlich der Raum über einem Grundstück gehöre .... Denn dies 
ist offenbar Fundament einer grundsätzlichen Lösung überhaupt. 
Das römische Recht ging, entsprechend seinem krassen Eigentums- 
begriff, hier sehr weit, sogar so weit als möglich, es vindizierte 
dem Eigentümer eines Grundstückes das Eigentumsrecht „a coelo 
usque ad inferos“. Aber darüber sind wir längst hinaus. Die Be- 
sitzer von Minen z. B. haben ohne weiteres das Recht, auch unter 
dem fremden Grundstück zu bohren; aus Gründen öffentlichen 
Nutzens muß Drahtleitungen über dem Boden Durchlaß gewährt 
werden etc. etc. Nach römischem Recht hingegen hätte der Be- 
sitzer auch das Recht das Überfliegen seines Grundstückes zu ver- 
bieten. Das hat natürlich der Staat an sich gezogen, cer sich ja 
überhaupt jenseits von Gut und Böse des Individuums längst be- 
haglich eingerichtet hat. Der Privatmann kann das Überfliegen 
seines Grundstückes so wenig hindern, wie das Passieren Herzischer 


Ein Jahrzehnt in der Aviatik. 239 


Wellen über seinem Acker. Aber der Staat verlangt die Juris- 
diktion, ja die strenge Herrschaft über den Luftraum. Wie weit 
soll aber diese Jurisdiktion gehen? Auf dem Meere geht sie so weit 
wie ein Kanonenschuß reicht, was wirklich eine symbolische Be- 
deutung hat: das Recht geht so weit, als die Macht reicht! Aber 
in der Luftschicht? Soll man dem unten liegenden Staat zum Ge- 
horsam verpflichtet sein usque ad coelum! Darüber werden die 
Juristen streiten und natürlich alles unerledigt lassen. 

Hingegen müssen wenigstens die drängendsten Fragen des 
praktischen Lebens irgendeine Erledigung in der Gesetzgebung 
und in der Rechtswissenschaft finden. Inwieweit ist der Konstruk- 
teur verantwortlich für nachlässig gebaute Maschinen und daraus 
fließendes Unglück, der Flieger für angerichteten Schaden? Und 
sollen diese Fragen national oder international geregelt werden? 
Vorläufig wird das alles noch „von Fall zu Fall“ erledigt, der „Zu- 
stand“ ist noch nicht da, dem die Rechtswissenschaft „beschreibend“ 
zu folgen hätte. Dringender ist das Militärrecht! Die Notwendig- 
keit fester internationaler Abmachungen für den Gebrauch der neuen 
Erfindung als Waffe im Krieg springt in die Augen. Im öster- 
reichischen Parlament hat ein Abgeordneter jüngst beantragt, es 
sei das Werfen von Explosivstoffen aus der Luft überhaupt zu 
verbieten. Darauf würden die Italiener jedenfalls nicht eingehen. 
Gar die Franzosen! Ein französischer Offizier hat unlängst 
den Bürgermut gefunden, dem jetzigen nicht unbedenklichen 
Flugmaschinen-Taumel mit der Erinnerung entgegenzutreten, daß 
man ähnliches auch schon erlebt habe, daß 1870 die Mi- 
trailleusen und Chassepots nach Berlin hätten führen sollen, und 
zwanzig Jahre später die Torpedos den sicheren Sieg im Seekrieg 
verbürgen sollten, während man jetzt deren 360 in den französischen 
Häfen habe, „die im Kriegsfall an einer Entscheidungsschlacht 
nicht teilnehmen könnten“. Die Franzosen würden offenbar auf 
keine Einschränkung im Gebrauch einer Erfindung eingehen, von 
denen sie sich versprechen, was sie sich 1870 von den Mitrailleusen 
verbürgen ließen... Im deutsch-französischen Krieg, beiläufig be- 
merkt, hatte man schon eine internationale Aviatikerfrage. Als näm- 
lich die Ballons aus Paris aufflogen erhob sich die Frage, ob die 
Luftschiffer als Soldaten oder als Spione anzusehen seien. Trotz 
Bismarcks Widerspruch wurde das erstere angenommen. 

Für den praktischen Transport von Waren und für den Trans- 
port von Touristen ist es bis jetzt zu keiner wesentlichen Ver- 
wendung gekommen. Ein Versuch, eine Luftpost in England ein- 
zurichten, wurde schnell wieder aufgegeben. Auch von dem Plan 
der französischen Regierung, schwierige Punkte in der Sahara 


—— — u 


240 Dr. E. Benedikt: 


und in Madagaskar durch Aviatik zu verbinden, ist es wieder 
still geworden. Das liegt an der Unvollkommenheit und dem teuren 
Preis der Maschinen. Aber berufene Fachmänner verkünden uns, 
daß wir binnen einem Jahrfünft Maschinen von 2000 bis 5000 
Mark haben werden, die sogar sicherer sein werden als die jetzigen, 
weil sie nicht auf das Dahinrasen durch die Lüfte berechnet sein 
werden, sondern auf wirklichen Menschen- und Warenverkehr mit 
leichteren Motoren. Sollte es so kommen und noch gar eine Er- 
findung gemacht werden, welche die Stabilität verbürgen würde, 
so wäre alsdann ein ganz rapider Aufschwung, eine schnelle Aus- 
breitung für den Menschen- und Warenverkehr sicher. Denn es 
ist eben doch prinzipiell richtig, was Orville Wright sagt: ein 
solcher Verkehr müßte schneller und namentlich billiger sein als 
der auf ebener Erde! Denn die Flugmaschine braucht — abgesehen 
vom Tagelohn für den Piloten — nur das bischen Benzin und 
fährt viel schneller als Wagen, Automobil, Velo und selbst Eisen- 
bahn. Auch cie Abnutzung müßte, verhältnismäßig wenigstens, 
nicht größer sein. Luftkutschen, die zehn Personen transportieren 
können, sind seit Jahr und Tag gebaut und werden immer wieder 
verbessert. 

Es wäre aber für die allgemeine Volkswirtschaft ein Novum 
von unberechenbarer Bedeutung, wenn zehn Zentner Waren wesent- 
lich schneller und billiger transportiert werden könnten! Ich nehme 
ein Beispiel. Man hat berechnet, daß der italienischen Volkswirt- 
schaft jahraus jahrein etwa achtzig Millionen Lire verloren gehen, 
weil die in jedem kleinsten Dörfchen der endlos langen Küste emsig 
tätige Fischerbevölkerung das gewonnene Procukt nicht richtig ver- 
werten kann, indem es an den im Norden — aber auch in Spanien — 
schon längst eingeführten Vorrichtungen der Kälteindustrie für 
Konservierung fehlt. Dann auch wegen Mangel an Verkehrs- 
mitteln. Wenn man nun in einer halben Stunde vom Meeresufer 
nach Rom, in einer Stunde von Ancona nach Florenz zehn Zentner 
Fische mit einem einzigen Apparat transportieren könnte, und 
dann auch in alle die kleinen Städtchen des Landes hinein, so käme 
diese Fischerbevölkerung zu einem rechten Verdienst und das 
italienische Volk zu einer starken Verbilligung und zugleich Ver- 
besserung der Ernährung. Aber auch dort, wo die Einrichtungen 
für die Konservierung musterhaft sind, sind sie doch nur ein Not- 
behelf. Durch das Einsalzen, Einpökeln, Einräuchern wird das 
zarte Fleisch doch geschädigt. Die Fische ganz frisch ins Land 
hineinschicken zu können wäre offenbar ein Vorteil, und es könnte 
der unermeßliche, noch kaum recht ausgenutzte Reichtum des Welt- 
meeres an bester, phosphorhaltiger Nahrung erst recht für alle 


| 


Ein Jahrzehnt in der Aviatik. 241 


nutzbar gemacht werden. Dann die Südfrüchte! Wie sind sie doch 
meist ohne Frische, wenn sie im Norden zum Verkauf ausliegen! 
Die Orangen z. B. müssen unreif gebrochen werden für die 
Spedition nach dem Norden. Und mit den Trauben ist es nicht 
anders. Es kann die völlige Ausreifung nicht abgewartet werden. 


0 


x 

Lassen wir einmal — immerhin in den Grenzen der Vernunft 

und kühler Überlegung — dem Aviatikeroptimismus ein wenig 
die Zügel schießen. Nehmen wir einmal an, daß die Männer vom 
Fach recht haben, die uns prophezeien, daß binnen einem Jahr- 
fünft ganz billige Flugmaschinen zu haben sein werden, für 2000 
bis 3000 Mark, Maschinen, die an sich schon sicherer wären als 
die jetzigen, weil sie auf das Dahinrasen durch den Luftraum ver- 
zichten und bloß das praktische Fliegen beabsichtigen. Statten wir 
diese Maschine auch gleich mit dem automatischen Stabilisator aus, 
der schon heute jeden Monat wenigstens einmal erfunden wird. 
Dann würde binnen einem oder zwei Jahrzehnten die Voraus- 
sagung Orville Wrights in Erfüllung gegangen sein, daß jedermann 
seine Flugmaschine habe, wie heute jedermann ein Velo hat. Denn 
die Konkurrenz würde die Preise aufs äußerste herabdrücken, wie 
beim Velo, und andrerseits wäre die Nützlichkeit viel größer, denn 
abgesehen von dem Umstand, daß man mit einer solchen Maschine 
sozusagen gratis immer die herrlichsten Vergnügungsreisen machen 
könnte, die heute jede Familie viel Geld kosten, so würde ein 
solches Verkehrsmittel Unzähligen, die heute in die teuren Stadt- 
wohnungen eingepfercht sind, das Ausfliegen aus der Stadt und 
die Ansiedlung auf dem Lande erlauben. Nehmen wir dann ferner 
an, daß dieser Apparat mit der Zeit das roh Mechanische abstreife, 
daß mindestens die verwegene und bedenkliche Kraitiuhrwerkerei 
in den Lüften mit dem Benzin und der Explosionsmaschine dahin- 
gelallen sei, daß man den so lange gesuchten leichten elektrischen 
Akkumulator endlich doch noch gefunden habe, und also mit der 
Kraft statt mit dem Benzin in die Lüfte gehen könne. Oder, da 
Wünsche als Gedanken Zollfreiheit genießen, nehmen wir lieber 
kurz und gut gleich an, daß der Traum des Menschengeschlechts 
in Erfüllung gegangen sei, den schon Leonardo da Vinci zu ver- 
wirklichen suchte, und nach ihm in neuester Zeit der unglückliche 
Ingenieur Lilienthal, daß man also ohne Motor überhaupt fliegen 
könne, daß die Kraft der Arme und Beine, verbunden mit der 
Kraft des Windes, zum Fliegen genügen, wie beim Segelflug des 
Kondors eine bloße zweckmäßige „Einstellung“ des Vogels auf die 
Luftbewegung genügt ihn fast ohne Flügelschlag stundenlang 


242 Dr. E. Benedikt: 


schwebend zu erhalten. Man hat ja freilich wissenschaftlich be- 
rechnen zu können geglaubt, daß dies ein- für allemal unmöglich 
sei. Aber das streichen wir jetzt vorläufig aus. Für die wissen- 
schaftlichen Menschen ist Irren so menschlich wie für die andern, 
und gerade hinsichtlich des Flugproblems haben sie sogar vom 
allgemeinen Menschenrecht des sich Blamierendürfens reichlich Ge- 
brauch gemacht. Genug, daß Männer wie die Gebrüder Wright, 
die uns die erste brauchbare Flugmaschine geschenkt haben, uns 
noch in der letzten Zeit eine solche Flugmaschine ohne Motor 
positiv versprachen, ja in nahe Aussicht stellten. Es ist bekannt, 
daß die Gebrüder Wright letztes Jahr sich wieder auf die ein- 
samen Felder von Dayton zurückgezogen hatten, wo sie in aller 
Heimlichkeit die erste Flugmaschine ausprobierten zu Anfang des 
Jahrhunderts, und daß sie dort Versuche machten mit einem Flug— 
apparat ohne Motor und ohne Schraube. Nach ihren Erklärungen 
haben sie bereits einen solchen Apparat, der soviel vorläufig leistet, 
daß sie neun Minuten und fünfundvierzig Sekunden damit „ganz 
trefflich“ haben fliegen können. Die „Times“ und nach ihr andere 
Blätter, hat auch die Zeichnung des Apparats gebracht, der in 
Gegenwart vieler amerikanischer Journalisten probiert wurde bei 
einem so starken Wind, daß die Zuschauer sich niederlegen mußten, 
um besser beobachten zu können. Der Apparat erhob sich wie 
ein Adler und blieb mehrere Minuten ganz unbeweglich in der 
kolossalen Luftströmung, um dann ruhig niederzufliegen. Die Er- 
finder versicherten den von dem erstaunlichen Schauspiel begeisterten 
Journalisten, daß sie gute Hoffnung haben das Problem des 
Fliegens völlig lösen zu können mit einem nach ganz neuen Grund- 
sätzen gebauten Apparat. 

Es ist klar, daß bei einer solchen Entwicklung das Fliegen 
nahezu allen andern Sport rein aufzehren würde! Wer würde noch 
Lust haben radelnd oder automobilfahrend den Staub der Land- 
straße zu schlucken, wenn er wie ein antiker Gott durch die Lüfte 
sausen könnte! Oder wer würde seine Körperkräfte und seinen 
Spieltrieb verzetteln wollen in der Fußlümmelei des Football, in 
dem kindischen Golf oder Criquet und in den zwanzig andern 
nutzlosen, rein spielerischen Ubungen des Tätigkeitstriebes, wenn 
eine Leibesübung da wäre, ja sich als soziale Notwendigkeit einem 
jeden aufdrängen würde, die alle Kräfte des Körpers, Muskelstärke, 
Gewandtheit der Arm- und Beinbewegung, Sicherheit des Auges 
und darüber hinaus die moralischen Potenzen, Mut, Willensstärke, 
Selbstbeherrschung, Entschlußfähigkeit in einer vernünftigen und 
zugleich höchst genußreichen Betätigung vereinigen könnte? Wer 
würde Lust haben, auf dem Turnplatz eine abstrakte Bauchwelle 


Ein Jahrzehnt in der Aviatik. 243 


zu schlagen, bloß weil die Schulmeister sich das so ausdachten 
und die Griechen auch geturnt haben, wenn er seinen Körper sinn- 
voll, nützlich und genußreich zugleich üben könnte? Oder den 
Montblanc hinaufpendeln, wenn man hinauffliegen kann! Nicht 
nur der subalterne Sport, sondern auch der größte Teil unseres 
Turnens würde ohne weiteres absorbiert. Es wäre geradezu ein 
neues und ideales Können des Menschen, das alle zu einem ge- 
meinsamen Tun vereinigen und doch einem jeden die größte Frei- 
heit, vom rein praktischen Dilettantismus bis zur höchsten Virtuosi- 
tät, als ein wahres Göttergeschenk darbieten würde. 

Es gibt einen ästhetischen Rausch der Leibesbetätigung, der 
Neger hat ihn, wenn er stundenlang dem Tanze sich hingibt, die 
Schwalbe stellt ihn dar, wenn sie des Abends „tollt“ und sich im 
immer neuen entzückten Dahinschweben nicht genug tun kann. 
Dem modernen Menschen ist dies fast abhanden gekommen! Denn 
auch unser Tanzen, selbst wenn es durch die Musik gesteigert und 
in eine höhere Sphäre transponiert ist, gibt nur einen schwachen 
Abglanz! Denn unser Tanz steht nicht auf dem reinen Natıwboden 
sondern ist, wie das Turnen, intellektuell zurechtgezirkelt. Und 
dann ist es gesellschaftlich und „sittlich“. Das genügt! Sittlich 
statt dionysisch! Sapienti sat! 

Doch genug der Zukunftsmusik! Die wenigen Jahre des neuen 
Jahrhunderts haben uns — neben anderm — dieses Erstaunlichste 
schon geschenkt: daß der Mensch fliegen kann. Was die Jahr- 
tausende ersehnt, wir greifen es mit Händen. Es ist kaum zu 
fassen! Auch das Reich der Lüfte hat der Mensch schließlich er- 
obert, auch dem Vogel hat er seine Kunst abgelistet und einen 
neuen, grandiosen Kommentar gestellt zu dem ewigen Ausspruch 
des Sophocles: „Vieles Mächtige lebt auf Erden, doch nichts ist 
mächtiger als der Mensch!“ Es ist ein Anfang, dem Strampeln 
des Kindes vergleichbar bei den ersten Gehversuchen. Aber die 
prinzipielle Möglichkeit ist bewiesen durch die Tat, und das Ziel 
ist zu verführerisch schön, als daß der Mensch sich Ruhe geben 
könnte, bis die letzte Vollendung erreicht ist. 


244 


Otto Flake: Disharmonien. 


1. Die kleine Engländerin. 


ie Pariser Zeitungen bringen folgenden Bericht: „Ein junges Mädchen 

von 17 Jahren, blond, hübsch, ganz in einen großen, grauen Mantel 

eingehüllt, wurde gestern in der Rue de Constantinople angetrofien, 
wie sie heiße Tränen weinte. Aufs Kommissariat des Invalides geführt, 
weigerte sie sich, sowohl den Grund ihres Kummers als auch ihren Namen 
und ihre Adresse anzugeben. Die Kleider trugen die Marke eines englischen 
Magazins. Sie wurde auf die Permanence du dépôt gebracht, man stellt Nach- 
forschungen an, wer sie sein kann.“ 

Obwohl ich die Notiz zur Seite legte, ließ sie mich kalt; denn wohin 
(erstens) käme man, wenn man sich bei Dingen aufhielte, die so alltäglich 
sind? Wie sentimental ist es (zweitens), mitleidig bei dem kleinen, wenn sicher 
auch schweren Herzenskummer eines Mädchens zu verweilen, wo niemand 
mehr dem anderen in der Großstadt Mitgefühl entgegenbringt und jeder mit 
sich selber genug zu tun hat? Wie unwichtig ist es (drittens), daß ein 
Mädchen bittere Tränen weint, weil es von einem eleganten Pariser Schwätzer 
verführt und sitzen gelassen worden ist — in einem halben Jahre wird sie 
sich getröstet haben und finden, daß das Erlebnis gar nicht so schlimm war, 
weil Erlebnisse, auch wenn man sie nicht alle zuletzt segnet, immer not- 
wendig waren. 

Und doch, eine Woche später passierte es mir, daß ich mitten in der 
Nacht aufwachte und an etwas dachte, dem ich gewiß keinen Gedanken 
während der ganzen Zeit geschenkt hatte, an die kleine arme Engländerin. 

Es ist nicht das erste Mal, daß ich so aufwache und nachträglich da- 
durch, daß ich mir in der Dunkelheit der Nacht Rechenschaft über sie gebe, 
Versäumnisse gutmache, die die Hast des Tages verschuldet hat. Die Nacht 
ist die Wiederkehr des Ewigen und die Hemmnisse sind weggefallen. Auch gut 
sein ist ein Ewiges, und die Seele hilft sich selbst und stellt ein Gleichgewicht 
wieder her, wie die Natur sich selbst hilft und notwendigen Funktionen des 
Moralischen wieder zu ihrem Rechte verschafft. Aber was das Bedenkliche 
ist: warum ist man der Güte nur noch durch Rückschläge fähıg? Warum be- 
stimmt es einen nicht mehr immer, unaufhörlich? Warum ist man so, wie 
hier in dieser Weltstadt voller Vergangenheit und Vererbungen alle Menschen 
sind: gleichgültig, egoistisch, unbereitwillig ? 

Wenn ich in diesem Zwiespalt nicht schon bewandert wäre, hätte ich 
mich am nächsten Morgen mit der Überzeugung erhoben, diese kleine Er- 
schütterung bedeute eine Wendung, einen Durchbruch ursprünglicher Natur, 
eine Mahnung: ich hätte mich in diese neue Herzensregung vertieft und sie 
vielleicht zu einem jener Ausgangspunkte gemacht, die die großen Bekehrungen, 
die großen Erlebnisse der Demut, der Hingabe, der Selbstentäußerung und 
der Religiosität einleiten. Ich sehe wohl den ungeheuren Weg, der hier ge- 
gangen werden könnte und in ferne Ebenen der Erkenntnis führt, aber ich 
schwanke keinen Augenblick, daß ich ihn nicht beschreiten werde, weil ich 
weiß, daß ich ihn wieder zurückgehen würde, denn auch er führt, statt in das 
Leben hinein, nur aus ihm fort, zum mindesten führt auch er nicht in den 
Mittelpunkt des Lebens. 

Kein Weg, der je begangen ist und je begangen wird, führt in den 
Mittelpunkt des Lebens. 


Disharmonien. 245 


Alle führen nur in ein einzelnes Gebiet, wie man in der Großstadt: nur 
in einem Viertel wolınen kann, und verlangen, daß man sich in ihm häus- 
lich niederlasse. Ich weiß, dort in dem neuen Land würde ich Heimweh be- 
kommen nach der Kühle, ja der Kälte, nach der Hartherzigkeit, mit der man 
mitten in dem rücksichtslosen Kampfe, der sich um einen abspielt, alle Ge- 
fühle, alles Leid und alle Freude der anderen betrachtet. 

Keiner dieser beiden Standpunkte ist das Ganze, aber jeder ist die Er- 
gänzung des anderen, und ist es Zerrissenheit, wenn man klar genug sieht, 
um keinen entbehren zu wollen? Doch ich weiß auch, dieser Wunsch, zwei 
Gegensätze zu umfassen, ist nur im Gedanken oder auf dem Papier Lösung 
und Ausweg. In der Wirklichkeit ensteht in der Tat etwas wie Zerrissenheit. 

Wer hat die Formel, wie man aus Hingabe und Ablehnung, aus Liebe und 
Mißachtung eine organische Einheit gewinnen kann? Ich habe noch immer 
gefunden, daß die Menschen von Natur aus oder durch Entschluß sich dem 
einen Extrem zugewandt haben, daß selbst die Harmonischsten Perioden er- 
lebt haben, in denen sie ihrer Auffassung müde und überdrüssig geworden 
waren, daß der Beste oder der Schlimmste vor ein Erlebnis gestellt worden 
ist, in dem er sich für das Extrem entscheiden mußte, daß die Kurve eines 
jeden Lebens noch immer ein Auf und Ab gewesen ist. 

Die gepriesensten Auswege sind problematisch, die konsequentesten 
Naturen zersetzen sich. Flaubert war ein gütiger Mensch und haßte doch 
den Bürger, den er niederträchtig und schmutzig nannte; sein Ausweg, nur 
dem Gedanken zu leben und auf alle Betätigungen zu verzichten, ist eine Flucht, 
denn was wäre aus dem Verfasser von „Bouvard und Pécuchet“, diesem Buche 
trostlosen Jammers über das Suchen und Wollen der Menschheit, geworden, 
wenn er in Paris und den Tagesereignissen hätte leben müssen? Er wäre 
zermalmt worden: das ist die Unfreiheit, die auch bei Flaubert wohl erschließ- 
bar ist. Und machte nicht Maupassant, der bittere, illusionslose Menschen- 
verächter, eine Wandlung, die doch so unerfreulich ist und nicht einmal ver- 
gessen läßt, daß in ihm ein Gran zuviel eines brutalen, ja rohen Zynismus, 
einer Unfähigkeit gelten zu lassen, vorhanden gewesen war? 

Ist nicht in jeder Liebesgeschichte, in jeder Lösung eines Verhältnisses, 
in jedem Auseinandergehen, in jeder Selbstbesinnung ein letzter Kern von 
Egoismus? Es ist Gemeinheit, Gewöhnlichkeit, eine niederziehende und für 
immer vergiftende Lebensgier und Materialität darin. Glauben wir doch 
nicht, daß die großen und verzweiflungsvollen Symbolisierungen, die die 
Menschheit für diesen Zwiespalt gefunden hat — religiöse Inbrunst und Selbst- 
entäußerung einerseits, brutale Vergewaltigung der Menschenrechte durch 
Krieg, Sklaverei, Despotismus und Mißachtung jeder fremden Existenz anderer- 
seits — jemals überlebt sein könnten. Wir greifen nicht mehr so derb und 
deutlich auf sie zurück, weil wir eingesehen haben, daß auch sie versagen, 
aber die Disharmonie der Instinkte bleibt ewig bestehen. 

Es ist schon so: über jede Aufklärung triumphiert zuletzt ein erkennender 
Bkeptizismus. 


2. Die Tote. 
Als sie über die Brücke gingen, sahen sie unten am Ufer Menschen 
einen Kreis um einen Körper schließen, der auf dem gemauerten Bett der 


Seine lag. 
Es war eine tote Frau, die man eben aus dem Wasser gezogen und 
auf den Bauch gelegt hatte. Der Rock, unter dem sie nichts mehr trug, war 


—5—i— 


246 Otto Flake: 


schamlos bis zu den Hüften zurückgeschlagen. Das Wasser hatte die Beine 
aufgequollen, und sie war wie eine riesenhafte Statue, die man herabgenommen 
und umgelegt hat, sie war gigantisch und voll Majestät. Die Schenkel waren 
grün angelaufen, aber von da oben sah es nur wie eine Patina aus, die 
Patina des Todes. 

Es dauerte lange Zeit, bis einer der Agenten kam, deren Amt es ist, 
eine Leiche in die Morgue schaffen zu lassen; er betrachtete sie mit derselben 
Gleichgültigkeit wie die Umstehenden, dann schob er mit seinem Stiefel den 
Rock über die Beine der Toten zurück. 

Sie gingen nach Hause und wandten sich jeder dem zu, was seine 
Arbeit war. Keiner hatte ein Wort über die Tote gesagt, und so taten sie _ 
auch weiterhin, als dächten sie nicht an sie. Aber am Abend, nachdem sie 
sich schweigend lange gegenübergesessen hatten, kam es heraus, daß sie beide 
voll von ihr waren. 

Sie waren ein junges Paar, das sich noch nicht lange gefunden hatte, 
und ihr Gefühl hatte noch nicht den Punkt der Sättigung erreicht. Sie waren 
sich noch neu, und die Liebe war vor allem dem Mädchen neu, das noch 
nichts von den Herzensgeschichten anderer wußte und nur fand, sein Gefühl 


sei unerschöpflich und groß. Und doch war es nun, weil sie fünf Minuten 


auf den Leichnam einer Frau hinabgeschaut hatte, nicht anders, als sei, 
durch ihre oder des Geliebten Schuld, der erste Atem eines jener Stürme 
über sie hinweggegangen, die die Herzen austrocknen und bewirken, daß 
zwei Menschen sich voneinander wie Bretter lösen, aus denen man die 
Nägel gezogen hat. 

Sie war in einem jungen und glühenden, in einem mänadenhaften Da- 
hinstürzen plötzlich angehalten worden, und dieses heftige Stehenbleiben er- 
schütterte und machte elend. Sie sah, daß der Körper verwest, und sie, die 
sich in ihrer Liebe so tief als Körper fühlte, wurde von einem Ekel ergriffen. 

Alles, was zur großen Materialität gehört, war schmutzig und nieder- 
ziehend: Essen, Verdauen, Sichnähren, Säfte haben, und nun — nun gehörte 
auch Sichlieben dazu. Sie lehnte sich gegen ihren Körper auf, sie suchte 
sich von ihm freizumachen und sah, daß sie in ihn eingeschlossen war. 

Nie hatte sie sich klar gemacht, warum sie für einen Augenblick gleich- 
sam die Augen hatte schließen müssen, so oft sie sich hingab; nun ahnte sie, 
daß sie sich über einen Punkt hatte hinwegsetzen müssen, der ein Herab- 
schreiten bedeutete, ein Herabschreiten zur Lust; sie ahnte, daß alle Lust eine 
Lüge enthält, weil man glaubt, sich um eines anderen willen zu überlassen, 
und sie doch um seiner selbst willen sucht. 

Und seltsam mischte sich eine andere Empfindung hinein: ein Respekt 
vor der Toten und eine Billigung, daß sie den Tod gesucht hatte. Vielleicht 
war sie im Leben nur eine elende Kreatur voller Schwäche und Feigheit ge- 
wesen, aber daß sie dann zuletzt sich ausgelöscht, hob alles Schlimme auf. 
Nicht weil sie sich nicht mehr verteidigen konnte, gewann sie Achtung, 
sondern weil sie sich befreit hatte, indem sie — schien es dem Mädchen — 
jeden Widerstand gegen die Materialität aufgab, hinging und zu einer ver- 
wesenden und fürchterlichen Masse wurde. Aber wenn in den Tod gehen 
groß war, dann mußte auch am Ende alles Lebens Qual und Überdruß stehen? 

Ein Grauen erfaßte sie, ihr Blick wandte sich der Ferne des eigenen 
Schicksals zu und wandte sich hilflos zurück zu dem, der ihr doch noch 
gegenübersaß, dem Geliebten. Und der bemerkte, daß etwas Feindseliges in 
ihre Augen kam, eine kalte und verzweifelte Prüfung. 


Disharmonien. 247 


Er stand auf und legte den Arm um sie. Die ganze Nacht hielt er sie 
im Arme und suchte sie fühlen zu lassen, was er fühlte — daß es vor den 
großen Mächten, die keine guten Götter, sondern finstere und alte Gottheiten 
der Materie sind, nur eine Rettung gibt: sich zusammentun und, zwei arme 
Kinder, einander mit einem demütigen Trotz in den Arnıen halten, nicht 
weiterschweifen, sondern ineinander ausruhen und sich helfen, ein Bruder 
und eine kleine Schwester. 


3. Ein verlorenes Idyll. 


Wenn der Abend sich auf die Stadt senkt und der Himmel unsichtbar 
wird, als schlösse er wie ein Laden zur Feierabendstunde seine Fenster, ver- 
lasse ich mein Zimmer und streife durch die Volksquartiere des Temple und 
der Bastille. 

Eine Zeitlang verlockten mich die vornehmen Viertel hinter der Oper, 
aber sie sind nur elegant und langweilig. Das Leben zieht sich in ihnen 
schon hinter die Häuser zurück, in ihnen werde ich nicht mehr an die große 
Materialität des Daseins erinnert, nicht an die Arbeit und den Unterhalt, 
nicht an den harten Zwang des Tages. | 

In den Volksquartieren sind Haus neben Haus Läden. Die Läden 
sind eng, manchmal so eng, daß man sich nicht in ihnen umdrehen kann, 
denn sie sind nur ein Verschlag in einem Hausgang, ein abgezwungenes 
Winkelchen einer Straßenecke, in dem eine Frau, in ihren Schal vermummt, 
auf einem Schemelchen sitzt und den Kartoffeln die Augen aussticht, um sie 
in einem riechenden Fett zu braten und dann für einen Sous in einem 
Zeitungsfetzen an einen hungrigen Lehrbuben, einen rußigen Arbeiter zu ver- 
kaufen. Im Fleischerladen steht der Mann und hackt die Knochen ausein- 
ander, und sein Weib sitzt im Kontor und läßt prüfend die Geldstücke auf 
der Marmorplatte klingen. In den Bäckerläden stehen an allen vier Wänden 
ganz lange und ganz schmale Brote in Reih und Glied; in einer Garküche 
flammt ein mächtiges Feuer und sieben Hühner zischen an einem Spieß; in 
den Charcuterien ringeln sich Bratwürste wie gefleckte Schlangen auf einem 
runden Weidendeckel; in einer muffigen Bude steht ein alter Jude und bietet 
alles feil, was Menschen gebraucht haben; in einem Bücherverschlag verkauft 
ein Bursche Kolportagehefte, die schon durch zehn Hände gegangen sind. 

Alle Läden gehen bis auf den Bürgersteig hinaus; der Fleischstücke, 
der Grünwaren, der getrockneten Fische, die aus Island kommen, der Käse, 
der Stiefel, der Tuchreste sind gigantisch viele und es ist wie im Schlaraffen- 
land, nur mit dem Unterschied, daß für einen Armen nicht ein Bröselchen 
abfällt. 

Die Menschen hasten. Sie fahren in Kutschen, in Omnibussen, in 
Dampfwagen, auf Rädern und Karren; wenn man stehen bleibt, zittert der 
Boden den die Untergrundbahnen durchrasen. Jämmerliche Mütter tragen 
halbtote und kranke Kinder auf den Armen; die Kokotten schreiten gc- 
schminkt, wiegend und &beutelüstern aus den Seitengassen in die Lichter des 
Fahrdamms; ein Stelzfuß späht lange Zeit aus, um die Straße überschreiten 
zu können; der Agent dirigiert mit dem weißen Stab den Verkehr, der sich 
verfilzt und unentwirrbar erscheint. Viele Gesichter sind gemein, gereizt und 
abgespannt, es ist keine Freude in ihnen und das Leben ist hart. Aber einige 
tragen doch Züge, die von Ernst und Menschlichkeit sprechen, und allen 
diesen Leuten gebührt Achtung, denn sie arbeiten. . 


248 Richard Strauß’ Vollendung. 


Vor einer kleinen Druckerei bleibe ich stehen und sehe zu, wie Visiten- 
karten und Geschäftsempfehlungen gedruckt werden. Eine saubere, intelligente 
Maschine, die auch ich verstehe, hat drei Walzen, die über eine Farbfläche 
laufen und die Druckfläche befeuchten; diese senkt sich nach vorne und 
schmiegt sich mit einem sanften Druck für eine Sekunde an ein weißes Stück 
Papier, dann tritt sie zurück, und das Papier ist mit schwarzen Zeilen be- 
deckt. Ein junger Bursche steht vor der Maschine und bedient sie. Es ist 
in seiner Haltung etwas, das mich rührt. Es läßt sich schwer beschreiben, 
es ist etwas Ruhiges und Würdiges, und die Würde ist nicht streng — es 
ist die richtige Haltung, die man bei der Arbeit haben muß. Die Arbeit gibt 
ihm selber Brot und dem, der sie bestellt hat, Nutzen. Es ist eine Auffassung, 
die nicht mehr in die Weltstadt paßt; die Weltstadt hat das Persönliche auf- 
gehoben und kennt nur noch die Bestellung, die durch viele Hände geht: sie 
macht unlustig. 

Er macht eine Wendung, und ich sehe auch sein Gesicht; es ist sanft 
und trotzig. Der Bursche erinnert an einen jungen Meister, wie sie in ver- 
gangenen Jahrhunderten in einer deutschen Reichsstadt lebten und bei der 
Arbeit vor dem Amboß, dem Leisten sich mit einem bescheidenen Selbst- 
gefühl der festen Grenzen ihres Lebensbezirkes bewußt waren. Gewiß sahen 
so die Drucker der Humanistenzeit aus, die wohl fühlten, daß sie mit ihren 
geschwärzten Händen Wissen in die Welt trugen. Aber heute ist das nur 
ein verlorener Posten. 


Richard Strauß’ Vollendung. 


er Tonkünstler Richard Strauß hat es auf eine fast verhängnisvolle 
Weise gut gehabt bei seinem Eintritt in die Welt. Ein Unmaß 
höchsten Zutrauens zu seiner musikalischen Sendung wurde ihm, 
dem genial Begabten, entgegengetragen, als er anfing sich künstlerisch aus 
sich herauszusetzen; und weiterhin wurde die Fortentwicklung der Tonkunst 
und ihrer Möglichkeiten bestimmt und festgelegt je nach den Richtungen, die 
seine Wege nahmen. Nach den ersten Werken für die Bühne („Guntram“ 
und „Feuersnot“) meinte man das Ziel klar zu sehen: der Schritt über 
Richard Wagner hinaus mit Richard Wagners eigenen Mitteln war getan; 
die Welt erlöst von dem lähmenden Gefühl des Zuendegekommenseins mit 
einer Kunstform, von der man sich große Entwicklungen versprochen hatte.. 
Aber Richard Strauß kehrte sich ab vom Dramatischen und der Symphonie 
zu und alsobald wurde ein Programm und eine Ästhetik auf diesen 
Wechsel aufgebaut. Es wurde auseinandergelegt, daß der echte Tonkünstler 
sich nicht mehr mit dem Wort der Bühne verbinden, daß er die Mög- 
lichkeit freien Gestaltens durch die Musik nur aus dem unsichtbaren dichte- 
rischen Gedanken empfangen könne. Doch blieb es in den symphonischen 
Werken Straußens nicht bei dieser Unsichtbarkeit; mächtig trat das Programm 
in den Vordergrund.... Dann wieder eine Wendung, die das Bisherige 
verwarf; Schlag auf Schlag: Salome, Elektra, Rosenkavalier und jetzt die 
Ariadne auf Naxos. 
Heute vermögen wir rückschauend die Wege zu übersehen, die Richard 
Strauß in der Tonkunst gegangen ist; es liegen keine Unklarheiten und 


Richard Strauß’ Vollendung. 249 


keine Nebel mehr über ihnen. Das waren nicht Wege, auf denen es 
galt, in starkem Ringen das Kunstwerk aus sich heraus zu gestalten — es 
waren helle Straßen, die einer dahinschritt, der ein reiches Erbe, einen großen 
Schatz von Fähigkeiten und Gaben in der Sonne glänzen ließ. In einem 
noch besonderen Sinne ist die Kunst diesem Tondichter ein Spiel. Richard 
Strauß ist ein so leicht und sicher Schaffender, ein so unfehlbar Sicherer in 
allen Fragen des Geschmackes und des Stiles, daß er niemals nötig gehabt 
hat, langsam etwas zu einer Reife des Ausdrucks kommen zu lassen. Seine 
Musik wächst nicht schwer und stark aus tief in den Untergründen ruhenden 
Wurzeln in die Höhe — sie gleicht einem reichen Rankengewächs, das mit 
der leuchtenden Uppigkeit seiner Blüten den Stein so dicht überkleidet, daß 
er mit ihm eins geworden zu sein schein. Aber das ist kein innerliches 
Einssein; sehr leicht vermag man das kunstvolle Tongebilde wie eine Decke 
abzulösen. Diesen Komponisten — das ist das sehr Merkwürdige — drängt 
es zu engem stofflichen Anschluß und doch bleibt er dem Stoff gegenüber 
immer der reine Musiker, der darin nur einen Spielball sieht. Stünde 
dieser starken und reichen Begabung des Ausdruckes eine ebenbürtige ton- 
dichterische gegenüber, so würden Wunder der absoluten Musik hervor- 
gehen und wir hätten dann mit Richard Strauß den großen Schritt aus dem 
Epigonentum heraus getan. Aber nun ist er einer, dem die letzte Kraft fehlt, 
um das frei aus sich herausrollende Rad zu sein; er bedarf der Anstöße so- 
wohl wie der Stützen und nicht immer ist er wählerisch, wo er sie her- 
nimmt. f 
Sein Bühnenwerk steht im Gegensatz zu deni tiefsten Ideal wahrhafter 
musikalischer Dramatik (mögen wir diese nun bei Wagner oder bei Mozart 
aufsuchen): daß die Musik uns mehr sagt als die Handlung und mithin 
um so stärker wird, je innerlicher und andeutender die Vorgänge werden. 
Bei Richard Strauß wird die Musik um so interessanter und beredter, 
je erschöpfender es auf der Szene hergeht. Dieser intellektuellste aller Ton- 
künstler von Gottes Gnaden hat nicht das Musikalische schlechthin zum Ziel, 
sondern das äußerliche musikalische Problem. Das Entlegene und scheinbar 
Unvereinbare ineinander zu wirren und wieder zu entwirren ist den Fähig- 
keiten dieses Schaffenden gerade das Rechte. Dieses Prinzip war die Will- 
kür und der Reiz in seinen symphonischen Werken und jetzt hat es sich in 
der Ariadne auf Naxos gleichsam selbst ein synibolisches Denkmal gesetzt. 
Der Künstler, der die eigene Kunst nicht mehr ernst nimmt!..... Wäre es 
der Fall, wäre die Ariadnemusik, die echter Strauß ist (wenn auch mehr 
als sonst das stark Gefällige und leise Banale seiner Melodik in ihr hervor- 
tritt), dem Tondichter aus dem Herzen geflossen, so würde der Ariadneakt 
über die Stilkunst des Tanzspieles den Sieg davongetragen haben missen. 
So aber blieb es hier bei einem leeren Pathos und einiger Sentimentalität; 
die Musik reicht künstlerisch nicht entfernt an die vorhergegangenen archai- 
sierenden und pantomimischen Teile heran. Auch während dieser ernsten 
und tiefen Handlung wurde die Lustspielstimmung nur ganz vorübergehend 
aufgehoben; wir waren und blieben Mitgäste des Molièreschen Herrn Jourdain 
und wir wurden durch diesen Umstand und was damit zusammenhing in 
gehörigem Abstand von der Empfindungswelt der Ariadnedichtung gehalten, 
in der Hofmannsthal so viel auf Musik Wartendes gegeben hat. Es war, als 
sagte der Komponist zu uns: in Wahrheit habe ich mit diesem Teil so wenig 
wie mit den früheren zu tun. 
Eines ist dabei erreicht: das komplizierte Verhältnis der Moliereschen 
Komödie mit dem Ariadneakt und einer witzigen musikalischen Harlekinade 


250 Politische Rundschau. 


ist als Einheit gerettet. Richard Strauß hat mit diesem Werk das geist- 
vollste Stück seines Schaffens gegeben und als Künstler des Stiles seinen 
Höhepunkt erreicht. Immer plastischer arbeitet sich seine Physiognomie 
nach dieser Seite hin aus. Vielerlei Stile beherrschen, vielerlei Töne 
treffen können — dazu gehört die Voraussetzung, daß man mehr ein 
Vielseitiger als ein Einseitiger, mehr ein Differenzierter als ein Ganzer ist. 
Auch daß man kühlen Herzens fernesteht und seine Puppen tanzen läßt... 
Grade hierin ist Richard Strauß der Typus der Kunst unserer gegenwärtigsten 
Zeit und immer wieder blickt diese Zeit mit einem Interesse sondergleichen zu 
ihm hin wie zu ihrem Spiegel. Um dessenwillen aber, weil er dieser Typus 
ist und in seiner Entwicklung immer mehr und mehr die Zeitgemäßheit her- 
vortritt, wird es schwer, die Hoffnung es könne uns das Kunstwerk der 
Zeit von ihm kommen, noch festzuhalten. 

Ä S. D. Gallwitz. 


Politische Rundschau. 


in Monat ungewöhnlicher Spannungen und Ereignisse liegt hinter 
i uns. 


Vor der Größe weltgeschichtlichen Geschehens treten Ereignisse 
in den Hintergrund, die sonst das Interesse der politischen Welt auf lange 
hinaus in Spannung gehalten hätten. Vor seinem Ablauf ist der Dreibund 
überraschend erneuert worden. Damit sind alle Versuche, Italien von seinen 
Verbündeten abzuziehen, die von Barrère so geschickt geleitet wurden, ge- 
scheitert und erledigt. 

Das Mittelmeerproblem hat dadurch eine bedeutsame Klärung erfahren, 
Italien ist eine selbständige Macht geblieben, ist nicht in den britischen 
Mittelmeerkonzern getreten. Wiederum hat sich erwiesen, daß das künstliche 
Gespinst der von England gewobenen Ententen schwächer ıst als das reale 
und heute auch real erfaßte Interesse der europäischen Mächte. 

Italien erkannte, daß es vor allem den russischen Treibereien auf dem 
Balkan sich entgegenstemmen müsse, um die Freiheit des Adriatischen Meeres 
zu erhalten. Die Straße von Otranto, an der sich das Adriatische vom Mittel- 
meer trennt, mißt von Valona herüber, wo die Griechen sich eben häuslich 
niedergelassen haben, 65 Kilometer! 

Italien hat eine schlechte Ostküste, während die Westküste des Kon- 
tinents von Dalmatien bis hinunter nach Griechenland Hafenplätze die Menge 
bietet; vortrefflich in den Händen englischer und russischer Vasallenstaaten! 
Hier lag auf einmal ein gemeinsames greifbares Interesse Italiens und Öster- 
reichs, stark unterstrichen durch die nahen Beziehungen des italienischen 
Stammes zu den Nachbaren über See, den Albanern, und die lebhafte Be- 
sorgnis der österreich- ungarischen Monarchie, durch ein Großserbentum den 
künstlichen Verband seiner Staaten und Völker gesprengt zu sehen und durch dies 
plötzlich wieder in die Tageshelle der Geschichte tretende Volk im Süden be- 
droht zu werden, mehr noch durch diese kleine, aber ehrgeizige Macht vom 
übrigen Balkan und dem Handelswege nach Saloniki abgeriegelt zu werden. 

Ein großer Fehler der österreichischen Politik, dessen Tragweite aller- 
dings wohl weder Freund noch Feind damals im vollen Umfange geahnt 
haben, tritt zu Tage: die Räumung des Sandschaks Novibazar in den Tagen 


Politische Rundschau. 31 


der bosnischen Krise. Eine kleine Schwäche, aus der wie immer ein großer 
Nachteil erwachsen ist. 

Wir haben den Dreibund nicht nur erneuert, wir haben ihn, was kaum 
bemerkt wurde, sehr erheblich erweitert. Nur ein von Rußland angegriffenes 
Österreich hat Anspruch auf unsere Hilfe. Wenn aber Österreich gegen 
Serbien offensiv werden und dadurch den Angriff Rußlands sich zuziehen 
sollte, dann ist es wohl militärisch, aber nicht mehr im Sinne des Völker- 
rechts der angegriffene Teil. Unsere Option aber war richtig. Die größte 
Sorge, und zwar gerade um den Frieden im Augenblick, mehr noch um die 
Zukunft unserer Politik bestand darin, daß wir Österreich nicht hielten und 
es mit zweifelloser Konsequenz erlebt hätten, daß es von uns abgezogen 
und in die Ententegruppe hinübergezogen wurde — dann hätte Grey wie 
Kaunitz vor dem siebenjährigen Krieg jubeln können, daß er uns nun so 
viele Mächte über den Hals gezogen und uns so isoliert hätte, daß wir zu- 
sammenbrechen müßten, wie einst das Reich Henrici leonis. 

Wir sind mit heiler Haut aus der Affäre herausgekommen und haben 
die Front des Dreibundes erhalten, das ist alles, der Bereitschaft zum Fechten 
haben wir die Erhaltung des Friedens zu danken. Zum Jubel liegt kein 
Grund vor. | 

Nur um eine große Erfahrung sind wir reicher. 

Wenn die seit mehr als einem Jahrzehnt gegen uns betriebene englische 
Politik einen Sinn hatte, so doch nur den, uns im Schraubstock zwischen 
Rußland und Frankreich festzuklemmen, um in der Nordsee der englischen 
Seepolitik eine neue Auflage zu geben und wie früher die spanische, nieder- 
ländische, dänische und französische, heute die stahlgraue deutsche Flotte mit 
der für englische Angriffe erforderlichen Übermacht zu zermalmen. 

Anfang November mußte der Krieg gewiß scheinen. Rußland, das 
1906, 1808 und 1911 unschlüssige und zaudernde, hatte nun einmal einen 
Grund zum Kampf, sein Herrenrecht auf dem Balkan zu wahren und seinen 
Balkanrivalen Österreich zu werfen. Frankreich, im Fieber wegen seiner 
fraglosen Erfolge in der Aviatik und — die deutsche Nordseeküste im 
strategischen Ausbau und Umbau, Helgoland so angreifbar wie in Jahren 
nicht! 

In diesem Augenblick wird Mr. Grey zum Hamlet und verliert die 
Farbe der Entschließung. 

Vor aller Welt liegt offen zu Tage, daß der Triple-Entente die 
Aktionskraft fehlt, ohne die sie nichts ist. Für diesen Wandel gibt es keine 
andere Erklärung, als die des Versagens des Willens der Durchführung der 
antideutschen Politik Englands, — ein großer Aufwand schmählich ist vertan. 
Jetzt ist es Zeit, in allen internationalen Kaffeekränzchen den Sieg des 
Friedensgedankens, die machtvolle Kundgebung des internationalen Prole- 
tariats in Basel zu feiern und mit diesen Künsten der politischen Astrologie 
Zusammenhänge außerhalb von Ursache und Wirkung zu finden. 

Unter uns gesagt, die internationale Sozialdemokratie hat nur ihre ab- 
solute Machtlosigkeit bewiesen, soweit ihre Führer nicht wie in Italien und 
Österreich die direkte Unterstützung der Regierung zusagten oder sich nicht 
auf deklamatorische Besonderheiten in der französischen Phraseologie be- 
schränkten, hat sie geschwiegen und dieses Schweigen war in Deutschland 
Gold. 

Man kann bei deutschen Menschen der temperamentlosen, aber so 
ehrenhaften Sorge unseres Reichskanzlers gegenüber, für den Frieden prak- 


252 Politische Rundschau. 


tisch zu wirken und doch nicht untreu zu werden am Geist unserer Bünd- 
nisse, nicht mit der maschinell wiederholten Behauptung durchkommen, wir, 
ausgerechnet wir, seien die Kriegstreiber und wenn man dafür auch die ge- 
samte von England geleitete internationale Presse der letzten zehn Jahre ab- 
schreiben konnte! 

Man darf gespannt sein, welche Erklärung die aus 111 Köpfen be- 
stehende sozialdemokratische Fraktion sich demnächst im Reichstage abringt. 

England, das auszog, um uns das Gruseln zu lehren, zeigt augen- 
blicklich ein nicht sehr geistreiches Gesicht. 

Wieder einmal ist nicht englisches Blut — mit dem man sparsam ge- 
worden ist, aber „die englische Ehre aus allen Poren geflossen.“ 

England, das Rom unserer Tage, das weltumspannende Reich angel- 
sächsischer Weltbeherrschung, die Beherrscherin der Meere, muß hören, daß 
seine Bündnistreue von Herrn Poincaré in Zweifel gezogen, daß sie der 
Kritik des Franzosenparlaments unterworfen wird. 

Eine ungeheuerliche Demütigung des englischen Stolzes! Die auf die 
Einkreisung, Lähmung und Beschneidung Deutschlands gerichtete englische 
Politik zeigt ihren irrealen Charakter auch darin, daß sie Frankreich als 
gleichberechtigte Macht behandeln muß. 

Langsam oder schneller wird in den englischen Köpfen die Erkennt- 
nis aufdämmern, daß es nur eine Macht gibt, die imstande wäre, das bri- 
tische Weltreich zu halten, das Land, das durch die Entwicklung seiner In- 
dustrie, seines Handels, auch in seiner volkswirtschaftlichen Struktur ihm 
immer ähnlicher wird und das nicht zuletzt auf denselben kulturellen Grund- 
lagen des Germanentums aufgebaut ist, mit dem es nur rivalisierende, keine 
entgegengesetzten Interessen hat — Deutschland. 

Wir aber stellen nur eine Bedingung, gleichberechtigt neben das Angel- 
sachsentum zu treten, dem wir nicht in allem gleichartig, aber gleichwertig, 
ja in vielem überlegen sind. 

Wir können warten, früher oder später wird uns England kommen, 
wenn es die gigantische Länge seiner Grenzen nicht mehr zu decken vermag! 

Das zukunitsreichste der lateinischen Völker scheint nicht Frankreich, 
sondern Italien werden zu sollen; seine auswärtige Politik, die aus den ge- 
gebenen Gegensätzen des europäischen Staatensystems die Folgerung zieht, 
sich derjenigen Gruppe anzuschließen, die ihm weniger gefährlich werden 
kann, um von den Seemächten im Mittelmeer, gegen die es seine Küsten aui 
absehbare Zeit nicht wird decken können, um so mehr umworben zu werden, 
verrät die Meisterschaft, für die Rom auf vielen Gebieten berühmt ist. 

Italien ist bei seinem Macchiavellismus in der Geschichte nicht gut 
gefahren, ein neues Moment in seiner auswärtigen Politik ist der Ausweis 
kriegerischer Fähigkeiten, die man ihm nach den Erfahrungen der letzten 
Jahrhunderte nicht mehr zutraute. Es ist verblüffend, mit welcher leichten 
Selbstverständlichkeit es die Blutsteuer des Krieges um Tripolis auf sich ge- 
nommen hat. 

Wo wäre Frankreich wohl, wenn es seine Raubzüge an der nord- 
afrikanischen Küste nicht mit ausländischen Söldnern und mit dem brutali- 
sierten Gesindel aus Algier, vom Senegal und sonst woher führen sollte. 

Die von Frankreich unter dem Decknamen von „kolonisieren“ be- 
triebene Korrumpierung der von ihm besetzten überseeischen Länder wächst 
sich immer mehr zu einem internationalen Skandal aus. Gegen diesen Un- 
fug einzuschreiten, würde wohl die erste Aufgabe eines englisch-deutschen 


Politische Rundschau. 253 


Zusammengehens sein; England fühlt sich doch sonst als internationalen 
Polizisten allen „atrocities“ gegenüber, das heißt, wenn es seiner augenblick- 
lichen Politik paßt, sei es in Armenien, am Kongo oder neuerdings sogar 
in Peru. 

Der lateinischen Rasse wohnt ganz ofienbar eine Schrankenlosigkeit 
inne, sie sind geborene Absolutisten und Imperialisten. Dieser Geist verrät 
sich auch in den uns stets beunruhigenden Tendenzen des römischen Stuhles. 
Die Unfehlbarkeit war nur die Ausprägung dieses Geistes im Dogma, der 
Papst wurde dadurch, was der Cäsar des alten römischen Kaiserreichs stets 
gewesen war: (rouos &uyvyos), das atmende Gesetz. Politisch prägt sich dieser 
Geist in dem hierokratischen System einer Oberherrschaft des Papstes über 
sämtliche Staaten aus. Ein merkwürdiges Beispiel des Herrschaftswillens ! 
Die römische Kirche teilt sich mit der slavischen griechisch-katholischen und 
der fast rein germanischen protestantischen Kirche aller Richtungen in die 
Versorgung der christlichen Welt, nur sie aber wagt den erstaunlichen An- 
spruch, die Stellvertretung Gottes auf Erden zu besitzen und alle Getauften 
sich zuzurechnen. 


Der lateinischen Rasse macht diese Problemstellung nicht viel Kopf- 
zerbrechen, in Frankreich drückt die nicht minder absolutistische Demokratie 
die Kirche gewaltsam nieder, in Italien macht dem Volk ein Parallelismus 
zwischen seinen vaterländisch italienischen Ideen und seiner Ergebenheit für 
die im Kampf mit dem Staat stehenden Kirche gar keine Pein. 


Schwierig aber liegen die Dinge bei uns. Das deutsche Gewissen 
unserer katholischen Mitbürger kommt aus dem Konflikt zwischen seinen 
konfessionell-kirchlichen und national-staatlichen Gefühlen nicht hinaus, wird 
nie hinauskommen, weil ihm die italienische und gallische Oberflächlichkeit, 
die diesen Konflikt gar nicht kennt, fehlt. Deshalb wäre der Kamp'orden des 
lateinischen Absolutismus, der Jesuitenorden, für unsere katholischen Mit- 
bürger eine große Gefahr. 


Nicht minder aber kommt in Frage, daß unser Staat selbstverständlich 
der katholischen Kirche eine Freiheit geben muß, an welche die lateinischen 
länder dem Protestantismus gegenüber niemals auch nur denken würden, 
aber auch für die protestantische Mehrheit kann ein steter Angriff auf den 
ethisch-religiösen Ideeninhalt ihrer Prägung des Christentums unerträglich 
werden. 

Endlich aber droht dem Staat selbst Gefahr, wenn von einer inter— 
nationalen Macht wie dem Jesuitenorden direkt und indirekt das selbständige 
Recht des Staates über oder neben der Kirche als eine Usurpation bekämpft 
wird. 

Eine nationale Politik des Zentrums wäre es, unablässig und nach- 
drücklich Rom gegenüber zu betonen, daß das christliche und nationale In- 
teresse für Deutschland Besonderes erheischt, und wenn es eine politische 
und nicht eine konfessionelle Partei wäre, das Recht des Staates, das Recht 
der Nation gegen den vom Jesuitismus getragenen kirchenpolitischen Ab- 
solutismus zu verfechten. 

Ob damit nicht auch der katholischen Kirche bei uns der beste Dienst 
erwiesen würde, das zu entscheiden ist allerdings Sache der Katholiken. 

Das Schlimme an dem heutigen Geiste des Katholizismus aber ist, daß 
er in seinem absolutistischen Zentralismus jede Diskussion über die Frage 
der Zulassung der Jesuiten ausschließt. 


— > 


254 Industrielle Reservearmee und innere Kolonisation. 


Päpste und Bischöfe, Kleriker und Laien haben sich früher gegen 
diesen Orden, welcher der Verwaltung der Bischöfe ja auch unbequem sein 
muß, ausgesprochen — ein Katholik, der sich heute in diesem Sinne aus - 
spricht, stellt sich fast schon außerhalb seiner Kirche. 

Ob in einer so organisierten und dogmatisierten Kirche das religiöse 
Leben schließlich noch zu atmen vermag, ob dieser Absolutismus mehr Glück 
haben wird, als alle gleichartigen Erscheinungen in der Geschichte, das 
wird die Zukunft lehren. 

Vielleicht bewahrheitet sich an ihr das Wort ihres Lehrmeisters 
Aristoteles, daß alle Herrschaft durch die Übertreibung ihres Prinzips zu 
Grunde gehe. 

In Bremen hat man die Verhandlungen des preußischen Landtages 
über den Emdener Ausgleich mit dem Wunsche verfolgt, daß diese querelles 
allemandes nun endlich ruhen mögen. Daß den Partikularisten unter dem 
Banner eines preußischen Nationalinteresses gegenüber auch die Sprache der 
Billigkeit und der deutschen Wirtschaftsinteressen dort nicht verstummt ist, 
haben wir mit Oenugtuung der Rede des freikonservativen Abgeordneten 
Graf Moltke entnommen. 

Nun aber ist es an der Zeit, auch unsere gravamina zu einer ge- 
rechten Lösung zu bringen. Kann Preußen wirklich den Ruhmestitel: Preußen 
in Deutschland voran, beanspruchen, wenn wie in den trübsten Zeiten des 
Deutschen Bundes die Vertiefung der Weser nicht ein Ziel, sondern ein 
Handelsobjekt der Uferstaaten ist, wenn der Bau eines oldenburgisch-bremi- 

schen Kanals Campe Dörpen von Preußen nicht gefördert, sondern durch 
zehnfache Steigerung der Abgaben auf dem Emskanal verhindert wird ? 


Unser Wahlspruch soll sein: Deutschland in Bremen, in Oldenburg 
und in Preußen voran! 


Bremensis. 


Industrielle Reservearmee und innere Kolonisation. 
er die soziale Frage lösen will, muß ein Mittel finden, die in- 
dustrielle Reservearmee aufzulösen, denn diese allein ist es, die 

die kapitalistische Ausbeutung ermöglicht. Eine Verständigung 

über die soziale Frage hat also unbedingt mit einer Verständigung über die 

Herkunft der industriellen Reservearmee zu beginnen. Marx nahm bekannt- 

lich an, daß das Kapitalverhältnis, wenn es erst einmal durch außerökono- 

mische Gewalt gesetzt sei, sich automatisch in den und durch den kapitalisti- 
schen Produktionsprozeß reproduzieren müsse, und zwar durch einen Mecha- 
nismus, den er genau dargestellt und als das „Gesetz der kapitalistischen 

Akkumulation“ bezeichnet hat. Es sagt folgendes: Das Kapital als „kon- 

stantes Kapital,“ d.h. in seiner Gestaltung als Maschinerie, „setzt in steigendem 

Maße Arbeiter frei,“ wirft sie aus ihrer Beschäftigung; diese Freigesetzten 

bilden die Reservearmee“, die durch ihre Hungerkonkurrenz den Lohn der 

Beschäftigten niederhält und niemals, selbst unter den günstigsten denkbaren 

Umständen, so hoch steigen läßt, daß die Proletarier selbst genügende Er- 

sparnisse machen können, um Produktionsmittel zu erwerben und der Mehr- 


wertpresse zu entrinnen. Dieser Erklärung hat Dr. Franz Oppenheimer eine 
andere entgegengesetzt und durch eine Reihe von Schriften begründet. Sie 


Industrielle Reservearmee und innere Kolonisation. 255 


lautet: Die industrielle Reservearmee stammt vom Lande. Der Lohn des 
Landarbeiters ist gleich dem Ertrage des von ihm bebauten Landes abzüg- 
lich eines Teiles, den er dem Eigentümer seines Produktionsmittels abtreten 
muß, der an den Großgrundeigentümer fallenden Grundrente. Durch seine 
Konkurrenz zerrt er die städtischen Tagelöhner fast auf das gleiche Niveau 
herab, und so bleibt, da alle Arbeit gleicher Art den gleichen Ertragswert 
haben muß, auch dem Eigentümer der städtischen Produktionsmittel an dem 
Lohne jedes Arbeiters ein entsprechender Gewinn, den man Profit nennt. 
Ermöglicht wird die Konkurrenz zwischen ländlichen und städtischen Tage- 
löhnern durch die Freizügigkeit. Da nun die Wanderung vom Lande überall 
um so stärker ist, je mehr in der betreffenden Gegend das große Grund- 
eigentum vorwiegt, so ergibt sich daraus, daß diese Wanderung und die 
Bildung der industriellen Reservearmee nicht die Folge der kapitalistischen 
Bewirtschaftung sein kann, sondern die Folge der Bodenbesitzverteilung 
sein muß. 

Offenbar ist der Oppenheimerschen Erklärung, wenn sie richtig ist, 
eine außerordentliche Bedeutung beizumessen; sie müßte bei ausreichender 
Propaganda in proletarischen Kreisen der Arbeiterbewegung eine ganz neue 
Richtung geben. 

Daß sehr viele offenkundige Tatsachen mit ihr übereinstimmen, kann 
schon jeder Laie erkennen. Die Industrie setzt, als Ganzes genommen, über- 
haupt keine Arbeiter frei, sondern eröffnet im Gegenteil viel mehr neue 
Arbeitsstellen, als dem Wachstum der Gesamtbevölkerung entspricht; während 
z.B. die deutsche Bevölkerung zwischen zwei Zählungen um 14 Prozent 
wuchs, wuchs die städtische Arbeiterschaft um mehr als das Dreifache, näm- 
lich 44 Prozent. Die Zuwanderung war aber noch stärker als die gewaltig 
wachsende Industrie, so daß immer noch eine Reservearmee übrig blieb. Es 
ist jedoch allgemein bekannt, daß die Landflucht als Massenerscheinung be- 
schränkt ist auf die Gebiete mit Großgrundeigentum. In Deutschland z.B. 
nehmen die dichtbesiedelten kleinbäuerlichen und mittelbäuerlichen Bezirke 
des Südens und Westens regelmäßig und zum Teil bedeutend an Bevölkerung 
zu, während die viel schwächer besiedelten großbäuerlichen Bezirke des 
Nordwestens in sehr beträchtlichem, und die äußerst dünn besiedelten Groß- 
gutsbezirke des deutschen Ostens in einem ganz ungeheuerlichen Maße ihren 
Nachwuchs abstoßen, so daß die letztgenannten vielfach, trotz großer Frucht- 
barkeit ihrer Bewohner, absolut an Volkszahl verlieren. Zwischen den Jahren 
1885 und 1890 hat z. B. der Süden und Westen Deutschlands 13 %, der Nord- 
westen 30 %, der Osten 75% seines Geburtenüberschusses in die Industrie- 
bezirke abgegeben. 

Wie die Abwanderung aus europäischen Großgüterdistrikten die Löhne 
in unserm ganzen Kulturkreise herunterzerrt, läßt sich am besten in Amerika 
wahrnehmen. Weniger als 20 Hundertstel aller Arbeitskräfte in Bergwerken 
und Fabriken sind dort geborene Amerikaner. In manchen Industriezweigen 
sind 75 Hundertstel der gesamten Arbeiterschaft Einge wanderte. Von den 
Arbeitern in den Kohlen- und Eisenbergwerken sind sogar nur der zehnte 
Teil geborene Amerikaner. Die Hälfte der Industriearbeiter fremder Her- 
kunft sind Süd- und Osteuropäer, vor allem Nord- und Süditaliener, Polen, 
Kroaten, Griechen, Litauer, Russen, Portugiesen, Slovenen und Juden. Das 
ist das Ergebnis einer Entwickelung von 30 Jahren. 

Man nehme an, in einer belagerten Stadt sei genug Korn und Mehl 
vorhanden, um die Bevölkerung ein Jahrzehnt lang reichlich zu ernähren, 


256 Die Finanznöte der Balkanstaaten. 


und sie habe in spätestens drei Monaten bestimmt Entsatz zu erwarten. Ist 
der Vorrat auf alle Haushaltungen gleichmäßig verteilt, so kann es keine 
Teuerung und Hungersnot geben. Wenn aber der ganze Vorrat in dem Be- 
sitz eines oder weniger Händler ist, so können diese ihn aussperren; sie 
weigern sich, das Korn zum normalen Preise zu verkaufen und geben es 
nur mit einem Extragewinn ab, d.h. sie verwandeln es in ein Monopolgut. 
Ähnlich verhält es sich mit der Bodenbesitzverteilung. Es gibt in Deutsch- 
land 32 Millionen ha landwirtschaftlicher Fläche und nur rund 17 Millionen 
landwirtschaltlicher Bevölkerung. Da durchschnittlich 1 ha pro Kopf und 
5 ha pro Familie unter den Verhältnissen westeuropäischer Kultur hinreichen, 
um den Landwirten eine anständige, mittelständische Existenz zu gewähren, 
so könnten alle diese Menschen als selbständige mittelständisch-gedeihliche 
Bauernfamilien seßhaft sein und fast die Hälfte des gesamten Nutzlandes 
bliebe noch unbesetzt, 15 Millionen ha, eine Fläche, die noch auf überaus 
lange Zeit ausreichen würde, um dem Nachwuchs der Landbevölkerung Raum 
zu geben. In Wirklichkeit nährt das deutsche Nutzland von den 17 Millionen 
landwirtschaftlicher Bevölkerung nur höchstens 7½ Millionen anständig, 
wenn man unterstellt, daß auch die kleinsten Parzellenwirte ohne Neben— 
erwerb schon anständig leben können, was natürlich nur in Ausnahmefällen 
möglich ist. Mindestens 10 Millionen von den 17 leben als Proletarier, weil 
sie entweder zu wenig oder gar kein Land besitzen. Für innere Kolonisa- 
tion gibt es also selbst im dichtbevölkerten Deutschland noch großartige 
Möglichkeiten. Zweifellos kann, wenn auch in andern großen Kulturländern 
großzügige innere Kolonisation betrieben würde, auf solche Weise schließ- 
lich die Boden-Monopolisierung zerbrochen und der Kapitalismus entwurzelt 
werden. 


Otto Corbach. 


Die Finanznöte der Balkanstaaten. 


Über allen Balkangipfeln ist Ruh. — Die Kanonen haben gesprochen, 
und der Kriegstanz wird auf der Londoner Reunion seinen Abschluß finden. 

Allmählich haben sich auch die Rentenkurse der kriegführenden Mächte 
wieder etwas gehoben, nachdem sie beim ersten Aufflammen der Kriegsfackel 
in die tiefsten Tiefen gestürzt waren. Sie teilten dies Schicksal mit den übrigen 
Anlagewerten. Das Publikum, das bei den Hiobsposten vollständig den Kopf 
verloren hatte, erinnerte sich plötzlich wieder, daß alle die Länder auf der 
Balkanhalbinsel bereits eine bedenklich hohe Schuldenlast zu tragen hatten. 
Reminiszenzen aus der Jugendzeit jener Staaten, die sich jetzt unwillkürlich 
aufdrängten, konnten nicht dazu dienen, das gesunkene Vertrauen zu befestigen. 
Dank einer längeren Friedensperiode hatten sich dort unten die finanziellen 
Verhältnisse allmählich etwas konsolidiert. Durch den Ausbruch des Krieges 
wurden alle Erfolge wieder aufs Spiel gesetzt. 

Und wie gering waren diese Erfolge gewesen. Griechenland hat heute 
noch nicht die Coupons der notleidenden Renten voll bezahlt. Selbst daß der 
Schuldendienst unter internationale Finanzkontrolle gestellt wurde, half wenig. 
Wo nichts ist, hat eben der Kaiser sein Recht verloren und die Gläubiger 
ihre Zinsen. Auch die Inhaber serbischer Staatspapiere haben schon trübe 
Erfahrungen hinter sich. Bevor die auswärtige Schuldenverwaltung im Jahre 
1895 unter die Kontrolle der autonomen Monopol-Verwaltung gestellt wurde, 


Die Finanznöte der Balkanstaaten. 257 


mußten sie sich eine Zwangskonversion ihrer Schuldtitres gefallen lassen. 
Seitdem sind allerdings die Zinsen pünktlich bezahlt worden, und Serben- 
renten haben auf den internationalen Märkten an Beliebtheit bedeutend ge- 
wonnen. l 

Verhältnismäßig am widerstandsfähigsten erwiesen sich in der all- 
gemeinen Deroute die Anleihen der Türkei. Auch dieser Staat steht bekannt- 
lich schon seit langem unter internationaler Finanzkontrolle, deren Organ 
— die Dette publique — von den Gesamtschulden in Höhe von 134 Millionen 
türkischen Pfunden, ungefähr 76 Millionen Pfund kontrolliert, für deren 
Zinsendienst die Zoll- und Steuereinkünfte bestimmter Provinzen verpfändet 
sind. Auch der nicht kontrollierte Schuldenrest ist durch Monopole gesichert. 
Die Türkenanleihen haben denn auch die geringsten Einbußen erlitten, zu- 
mal auf diesem Markt die Deutsche Bank, die im Osmanenreich stark engagiert 
ist, durch Interventionen den Kurssturz milderte. 

Nun hat der gegenwärtige Krieg ungeheure Summen gekostet, so daß 
man sich wundern muß, wie die nötigen Geldmittel überhaupt noch beschafft 
werden konnten, nachdem z. B. Bulgarien die Aufnahme einer neuen Anleihe im 
Auslande durch den Ausbruch des Krieges mißlungen war. Jedenfalls sind 
jetzt alle Kassen leer, die der Sieger und die der Besiegten. Die Fortführung 
des Krieges ist zu einer Geldfrage geworden, und der Mangel an dem roten 
Metall dürfte viel dazu beigetragen haben, den Waffenstillstand perfekt zu 
machen. 

Jetzt, da des Krieges Stürme schweigen, ist der weitere Geldbedarf 
besonders der siegreichen Staaten sehr bedeutend. Auf eine Kriegsentschädi- 
gung seitens der Türkei werden sie nicht allzu große Erwartungen setzen 
dürfen. Im Gegenteil, wenn Mazedonien verteilt wird, werden die neuen 
Besitzer auch die Schulden, deren Zinsen aus den Einnahmen dieser Landes- 
teile zu bestreiten sind, mit übernehmen müssen. Die Zölle und Monopole, 
welche der Dette publique verpfändet sind, dürfen ihr nicht entzogen werden, 
wenn auch die europäischen Landesteile, aus denen sie bisher zum größten 
Teil flossen, dem Halbmond verloren gehen. Für eine solche Eventualität ist 
durch den Frieden von Ouchy bereits ein Präzedenzfall geschaffen. Hier 
mußte sich Italien verpflichten, für den Zinsendienst der ottomanischen An- 
leihen einen jährlichen Zuschuß von 2 Millionen Francs an die Dette publique 
zu leisten, weil die tripolitanischen Zölle nicht mehr in die türkische Staats- 
kasse flossen. Zu einer solchen Zahlung werden sich auch die Staaten des 
Balkanbundes verstehen müssen, um so mehr, als ein großer Teil der Gelder, 
welche die ottomanische Regierung durch Ausgabe von Anleihen aufnahm, 
für die eroberten Gebiete Verwendung gefunden hat. 

In finanzieller Hinsicht also werden sich die Balkanstaaten des Krieges 
wohl kaum freuen können. Sie haben bisher nur Opfer gebracht und werden 
weiter welche bringen müssen. Ob der Siegespreis groß genug sein wird, 
um dieselben aufzuwiegen? 

Hugo Kloß. 
Schluß des redaktionellen Teils. 


+ 


Verantwortlich für die Redaktion: S. D. Gallwitz, Bremen. 


Einsendungen von Manuskripten (unter Beifügung von Rückporto) 
an die Redaktion Bremen, Am Wall 163. Tel. 6945. 
Verlag: Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen. 
Druck: H. M. Hauschild, Hofbuchdruckerei, Bremen. 


Entgiftung der Genußmittel.“ 


je Herstellung des koffeinfreien Kaffees und die Er- 
D fahrungen mit ihm in der Praxis haben die Disskusion 

über Ersatzgetränke und Surrogate neu belebt. Der 
Fall des koffeinfreien Kaffees liegt so eigenartig, daß er die 
Frage in eine ganz neue Beleuchtung rückt und einige allge- 
meine Bemerkungen über sie rechtfertigen mag. 

Die Gegner aller Ersatzgetränke gehen von der Voraus- 
setzung aus, daß sämtliche Genußmittel lediglich ihrer physio- 
gischen und psychischen Wirkung wegen genossen werden. 
Deswegen sei es ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen, 
für die alkoholhaltigen Getränke wie für den Kaffee oder die 
Zigarre einen unschädlichen Ersatz schaffen zu wollen. Wenn 
die Voraussetzung richtig ist, ist der Schluß durchaus zwingend. 
Aber ich bestreite die Behauptung der Voraussetzung ganz 
entschieden, selbst für einen großen Teil des täglich vertilgten 
Alkohols und erst recht für den Kaffee und Tee, ja zum Teil 
auch für die Zigarre, und ich behaupte, daß die warm getrun- 
kenen kaffeeartigen Getränke fast ausschließlich ihres Wohl- 
geschmacks und gar nicht der physiologischen Wirkungen 
wegen genossen werden. 

Die Frage der Ersatzgetränke gewinnt von diesem Stand- 
punkt ein ganz anderes Gesicht. Es handelt sich zunächst 
gar nicht darum, dem, der die berauschende Wirkung des 
Alkohols oder die exzitierende des Koffeins sucht, dieses Ver- 
langen damit abzugewöhnen, sondern zunächst ist die Aufgabe, 
der großen Anzahl von Personen, denen die physiologischen 
Wirkungen gleichgültig und zum Teil sogar unerwünscht sind, 
einen Ersatz zu bieten in Gestalt einesebenso wohlschmeckenden, 
aber giftfreien Getränks. 

Nun taucht natürlich die Frage auf, ob der Wohlgeschmack 
an die Giftstoffe gebunden ist. Denn wenn das der Fall ist, 
sind die Bestrebungen natürlich aussichtslos, soweit sie dahin 
gerichtet sind, die Getränke nicht nachzuahmen, sondern sie zu 
entgiften. Das aber ist selbstverständlich der Nachahmung 
vorzuziehen. Einmal wird die Nachahmung wirklich niemals 
vollkommen sein, und dann bringt sie schon der allen Surro- 
gaten anhaftende Geruch des Unechten in Mißkredit und ihre 
Einführung ist erschwert. 


) Der „Zeitschrift für physik. u. diätet. Therapie‘ Bd. XIII entnehmen wir 
diese Ausführungen von Dr. Semi Meyer, Danzig, über das interessante und 
moderne Problem der Genußmittel-Entgiftung. 


Wenn schwacher Kaffee schlechter schmeckt als starker, 
so sind in ihm doch alle andern Bestandteile ebenso stark ver- 
dünnt wie das Koffein, also ist damit doch nicht etwa erwiesen, 
daß der Geschmack auf denselben Stoffen beruht wie die 
Nervenwirkung. Das ist aber die stillschweigende Voraus- 
setzung, wenn man einer Entgiftung zuwider redet. Und 
da lehrt uns nun die vor kurzem gelungene Herstellung des 
koffeinfreien Kaffees ganz unzweideutig, daß der Wohlgeschmack 
durchaus unabhängig vom Gehalt an Alkaloid ist. Der koffein- 
freie Kaffee hat denselben Grundgeschmack wie der koffein- 
haltige und kann am Geschmack nicht erkannt werden. Das 
schmeckende Prinzip des Kaffees kann also das Koffein unmög- 
lich sein, denn es ist mit ihm nicht aus den Bohnen entfernt. 
Die zurückbleibenden Spuren von Koffein können den Ge- 
schmack nicht ausmachen, denn er ist durchaus nicht abge- 
schwächt. Ich habe im Sanatorium sofort den koffeinfreien 
Kaffee eingeführt, es haben ihn viele als gewöhnlichen Kaffee 
getrunken und den Unterschied gar nicht bemerkt. Ich hatte 
schon früher die Überzeugung, daß der Geschmäck nicht auf 
dem Koffein beruhen kann. Daß es aber so völlig gleich- 
gültig für den Geschmack ist, wie sich jetzt erwiesen hat, 
habe ich doch nicht erwartet, und die Tatsache ist auch 
eigentlich überraschend. Sie wirft ein Licht auf die Spezifität 
der Sinnesorgane. Es ist durchaus nicht dasselbe, was auf 
das Zentralnervensystem und was auf bestimmte Sinnesorgane 
einwirkt. 


Die Frage der Entgiftung der Genußmittel aber ist jetzt 
in ein ganz neues Stadium getreten. Die Tatsache der Unab- 
hängigkeit des Geschmacks von der physiologischen Wirkung 
bei diesem wichtigen Genußmittel ist für sie von unüberseh- 
barer Bedeutung. Der Kaffeegeschmack, das wissen wir jetzt 
genau, ist ganz zweifellos vom Koffein ganz unabhängig, er 
beruht höchstwahrscheinlich auf dem Gehalt des fertigen Ge- 
tränks an Röstprodukten und Gerbsäureverbindungen, die 
zusammen Geschmack und Aroma, die ja stets erst in ihrer 
unzertrennlichen Verbindung den Geschmack einer Speise er- 
geben, und damit dem Kaffeegeschmack seinen Charakter 
geben, während das Koffein damit gar nichts zu tun hat, 
während umgekehrt die physiologischen Wirkungen und damit 
die Schädlichkeit des Getränks lediglich auf dem Koffein 
beruhen. 

Ob die Menschen von vornherein auf die Kaffeebohne 
des Wohlgeschmacks wegen oder der Nervenwirkung wegen 


aufmerksam geworden sind, ist eine Frage, die nicht damit 
zusammenhängt, weshalb sie jetzt den Kaffee lieben. Und 
übrigens steht es wohl kaum so sicher fest, wie immer wieder 
behauptet wird, daß sie die Wirkung gelockt habe. Aber mag 
es auch so sein, jedenfalls haben wir gelernt, die Kaffeebohne 
so zuzubereiten, daß sie ein wohlschmeckendes Getränk gibt, 
und die Züchtung der Pflanze, die so viele Spielarten ergeben 
hat, wird sich auch nach dieser Richtung bewegt haben. Und 
nun wird der Kaffee in erster Linie des Wohlgeschmacks 
wegen gesucht und geliebt, und wenn es gelungen ist, die 
physiologischen Wirkungen auszuschalten unter Erhaltung des 
Wohlgeschmacks, so ist das ein Fortschritt der Technik, den 
wir Ärzte gar nicht genug begrüßen können. 

Das Bedürfnis nach einem derartigen Getränk wie der 
Kaffee ist nun einmal geschaffen, und an etwas Gutes gewöhnt 
sich der Mensch so, daß es schwer ist, auf eine andere Weise 
fhn davon zu entwöhnen, als daß man ihm einen vollen Ersatz 
bietet. Das hat ja leider der Kampf gegen die Genußmittel 
immer wieder gezeigt. Wir sind nicht mehr an die Morgen- 
suppe gewöhnt und wir werden sie nie wieder einführen 
können, und wir wollen auch nachmittags ein warmes Getränk, 
das nicht weiter nährt, nachdem wir uns schon mittags satt- 
gegessen haben, sondern das den entstandenen Durst stillt und 
in heißem Zustande gut schmeckt. Der natürliche Kaffee ist 
hier noch von besonders zweifelhaftem Werte wegen seiner 
Einwirkung auf die Magentätigkeit. Bei den meisten Nervösen 
schädigt das Koffein die Magenverdauung so bemerkbar, daß 
wohl auch bei Gesunden eine Hemmung der Magentätigkeit an- 
zunehmen sein wird. Koffeinfreier Kaffee istauch in dieser Be- 
ziehung unschädlich, wie ich mich immer wieder überzeugt habe. 


Für den Sanatoriumsbetrieb ist mit der Herstellung des 
koffeinfreien Kaffees eine schwierige Menufrage glücklich gelöst. 
Die Kurgäste sind an ein heißes Vespergetränk von Hause 
aus gewöhnt, und ich kann es ihnen nicht entziehen. Wo 
Fettansatz erstrebt wird, geben wir natürlich Milch oder Milch- 
kakao, aber wo wir den Ansatz vermeiden wollen, waren wir 
bisher in Verlegenheit. Das Bedürfnis nach einem kaffee- 
artigen Getränk ist nun einmal da, und kein anderes kann 
selbstverständlich das Bedürfnis so gut erfüllen, wie der Kaffee 
selbst, der bei uns so eingebürgert ist wie das tägliche Brot. 
Wo ich den koffeinfreien Kaffee empfohlen habe, ist er fast 
immer gern getrunken worden, und ich glaube, es ist dem 
Getränk eine große Zukunft zu prophezeien. 


Hag-Rundschau. 


Die Leser unserer Zeitschrift und die Freunde unseres Unter- 
nehmens wird es gewiß interessieren, in die Werkstätte einer 
modernen Verkaufs- und Propaganda-Organisation Einblick zu er- 
halten. Wir werden daher für die Folge an dieser Stelle einzelne 
Vorkommnisse erwähnen, die den Erfolg unserer Bemühungen 
erkennen lassen oder sonst geeignet sind, die Anteilnahme weiterer 
Kreise für unser Unternehmen zu wecken. 


Verkaufstag Ihrer Königlichen Hoheit der Großherzogin von Hessen und 
bei Rhein in Worms. 

Unsere Beteiligung mit einem Kaffee-Ausschank an dieser Veranstaltung 
wurde erst durch die ablehnende Haltung des Komitees erschwert, welches 
glaubte, der — in besseren Kreisen leider noch zu wenig verstandenen und ge- 
schätzten — Reklame wegen absagen zu müssen. Ein Hinweis auf die Tatsache, 
daß am großherzoglichen Hof unser Kaffee Hag seit Jahren ständig in Verwen- 
dung ist, und daß beispielsweise Ihre Exzellenz die Frau Reichskanzler in Berlin 
gelegentlich der Wohltätigkeitsfeste im Reichskanzler-Garten nur Kaffee Hag im 
Hag-Porzellan ausschänken läßt, brachte uns auch aus Worms die Zutrittserlaubnis in 
Form eines Telegrammes: „Ihr Anerbieten zum Verkaufstage mit Genehmigung 
der Großherzogin nunmehr angenommen.“ 

Der Verlauf der Festlichkeit war auch für uns ein glänzender. In 
wenigen Stunden wurden 2400 Tassen ausgeschänkt. Die großherzoglichen 
Herrschaften selbst priesen die Erfindung des coffeinfreien Kaffees und lobten 
den vorzüglichen Kaffee Hag. 

Wohltätigkeitsbazar in Dessau, 

Eine ähnliche Veranstaltung fand auf Veranlassung der Herzogin 
von Anhalt in Dessau statt, bei der ca. 800 Tassen verabreicht wurden. Wie 
aus dem Dankschreiben der Palastdame hervorgeht, fand der Kaffee Hag 
nicht nur allgemeinen Beifall, sondern brachte auch dem wohltätigen Unter- 
nehmen eine hübsche Summe ein. 


Organisation. 

Ein Berliner Handelsschullehrer, der zu Studienzwecken alle größeren 
kaufmännischen Unternehmen besichtigt, äußerste sich über unsere Geschäfts- 
organisation, daß er noch nirgends einem so systematisch eingerichteten und 
bis zur Vollendung ausgebauten kaufmännischen Betriebe begegnet sei. Falls 
er Oelegenheit hätte, mit jungen Kaufleuten oder Hochschülern eine Studien- 
reise zu unternehmen, würde er nur die Kaffeehag besichtigen und sich stunden- 
lang in unserem Kontor aufhalten. 


„Die Güldenkammer“. 

In der „Augsburger Abend-Zeitung“ vom 14. Dezember 1912 lesen wir: 

„Unsere Zeit bringt merkwürdige Erscheinungen. Im dritten Jahrgang 
erscheint nun schon diese gehaltvolle und interessante Zeitschrift, deren Ver- 
leger eine Kaffeegesellschaft ist. Aber nicht konsumierende Kaffeemenschen 
haben dies Unternehmen geschaffen, sondern Kaffeeproduzenten, und die 
Zeitschrift entsprang — das wird ganz offen zugestanden — dem Verlangen, 
dem Kaffee eine billige und wertvolle Reklame zu geben. Man bietet für 
billiges Geld gute Literatur, bringt im redaktionellen Teil einen gediegenen 
Stoff, sogar teure Namen, rur um im selben Blatt bei den Annoncen für 
den eigenen Kaffee arbeiten zu können. Dieser Stil ist amerikanisch, aber es 
liegt doch ehrliche Offenheit in dem Anerbieten: Ich gebe dir eine wertvolle 
Zeitschrift, wenn du auch im Reklameteil etwas über unseren Kaffee lesen magst.“ 


Photo-Hilfsmittel. 


Soweit diese Bezeichnung auf chemische Hilfsmittel Anwendung findet, 
darf man wohl mit Recht behaupten, daß sie von der Mehrheit der Photo-Amateure 
nicht in dem Maße gewürdigt und beachtet resp. benutzt werden, wie sie es im 
Interesse der Erzielung vollkommener Bilder verdienen. Auch bei Verarbeitung 
der leistungsfähigsten Negativ-Materiallen, bei sachgemäßer Hervorrufung und bei 
Benutzung einwandfreier Papiere ist nicht immer ein Bild gewährleistet, das bei 
hohen Ansprüchen in jeder Beziehung genügt. 

Schon beim Kapitel „Fixieren“ wird vielfach gesündigt, weil man diesem 
Teil der photographischen Arbeit eine zu geringe Bedeutung beimißt. Verwendung 
ungeeigneter Materialien kann hier sehr viel schaden. Ferner wird häufig eine 
geschickt angewendete teilweise oder allgemeine Verstärkung bezw. Abschwächung 
Wirkungen zu Tage treten lassen, die den Eindruck des Bildes ungemein erhöhen. 
Das Lackieren der Negative trägt außerordentlikh zu deren Konservierung bei. 
Auch die Wahl der Ton-Fixiermittel vermag das Gelingen oder Mißlingen wesent- 
lich zu unterstützen. 
| Es kann deshalb dem fortgeschrittenen Amateur sowohl wie dem Anfänger 
nicht genug ans Herz gelegt werden, diesen Punkten größte Beachtung zu 
schenken und beim Einkauf in der Wahl der Fabrikate recht umsichtig zu sein. 
Die Lektüre des sehr lesenswerten „Agfa*-Handbuches (150 Text-, 8 Bildseiten, 
geschmackvoller Leinenband, Ladenpreis 30 Pfg.) wird vor Enttäuschungen be- 
wahren, wenn sie zur Anwendung der renommierten „Agfa*-Hilfsmittel, wie 
„Agfa“-Fixiersalz, „Agfa*-Schnellfixiersalz, „Agfa“-Tonfixiersalz oder -Bad, „Agfa‘- 
Negativlack, „Agfa“-Verstärker, „Agfa“-Abschwächer führt, die mit wertvollen Ge- 
brauchsvorschriften in den Handel kommen. Da mehr als 20jähriges Bestehen 
der „Agfa“ einwandfreie Produkte verbürgt, so können wir die Benutzung der- 
selben nur angelegentlich empfehlen. 


Das Sprungbrett, Verband deutscher Autoren. 
Berlin W. 35, Am Karlsbad 21. Tel.: Nollendorf, 675. 


„Das Sprungbrett, Verband deutscher Autoren“, ist eine auf genossen- 
schaftlicher Basis begründete Schriftstellervereinigung, deren Reingewinn den 
Mitgliedern zufließt. Sie bezweckt die Förderung schriftstellerischer Talente durch 
Verlag ihrer Werke, durch deren Vertrieb an Zeitungen und Zeitschriften, durch 
Unterstützung junger Autoren bei der Umarbeitung stofilich interessanter, aber 
formal noch unbeholfener Arbeiten, durch Mitarbeit an der Verbandszeitschrift, 
durch Vortragsabende und Vorlesungen vor einem größeren Publikum im Lessing- 
Museum zu Berlin usw. Der Jahresbeitrag für ordentliche Mitglieder beträgt 20 Mk. 

Außerordentliche Mitglieder zahlen einen Beitrag von 5 Mk. Jedes ordent- 
liche und außerordentliche Mitglied erhält jährlich kostenlos nach seiner Wahl 
ein Werk aus den Veröffentlichungen des Verbandsverlages, sowie monatlich die 
Verbandszeitschrift. 

Nähere Auskunft erteilt bereitwilligst schriftlich und mündlich die Geschäfts- 
stelle, von der aus kostenlos Prospekte und Satzungen zu beziehen sind. 


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in das 6. Jahr ihres Erscheinens. Sie versendet aus diesem Anlaß in einer Spezial- 
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Dr. Fritz Wertheimer: 

Politische Leistungen und Aufgaben in China ...... 259 
Erich Kramer: Die Schneeballhexe. Erzählung........... 272 
Lothar Brieger: l 

Von der Notwendigkeit des Uberllüssigen n 
Alexander Ular: Eine moralische Katastrophe ..... — 288 
Paula Becker-Modersohn: Briefe und Tagebuchblätter II. 297 
Otto Flake: Aus vier Wochen „ een 305⁵ 
Wilhelm Hausenstein: Die Puppen . 308 
Bremensis: Politische Rundschau ...:....... “adressen 11 
Prof. Dr. Ludwig Fränkel: Süddeutschlands geplante Groß- 

schiffahrtsverbindung und der Anschluß nach Norden.. 315 
Hugo Kloß: Ein Urteil ............... en A l a 319 


Nachdruck der Belletristik verboten. Nachdruck der übtigen Artikel unter 
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Die 
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Herausgeber: 
S. D. Gallwitz - G. F. Hartlaub - Hermann Smidt 


Dr. Fritz Wertheimer: 
Politische Leistungen und Aufgaben in China.“ 


seki sich einmischte und sich mit den Bedingungen dieser 

Abmachung zwischen Japan und China nicht einverstanden 
erklärte, erfreute es sich des Beistandes von Frankreich und Deutsch- 
land. Im Gefühl seiner Ohnmacht gab Japan nach. Es war da- 
mals nach einem verlustreichen und kostspieligen Krieg, in dem 
die Chinesen trotz unglaublich schlechter Organisation sich recht 
gut geschlagen hatten, nicht imstande, mit den Waffen zu pro- 
testieren; so wurde die Kriegsentschädigung Chinas an Japan um 
30 Millionen auf 230 Millionen Taels erhöht, und die verabredete 
Abtretung der Liaotung-Halbinsel an Japan unterblieb. Japan hat 
diese Einmischung Rußlands längst vergessen. Es hatte ja Ge- 
legenheit, seine Rache an diesem Staate gründlich zu kühlen, und 
der spätere Sieg Japans im Kriege 1904/05 steigerte den Ruhm 
Japans als einer Großmacht mehr, als die Einmischung in den 
Frieden von Schimonoseki imstande gewesen war, das Ansehen 
Japans zu schwächen. Rußland, Japan und China sind die drei 
Machtfaktoren, die um die Vorherrschaft in Ostasien zu ringen 
hatten. Im Jahre 1895 mußte eben Japan trotz allen Stolzes über 
den Sieg im Kriege mit China einsehen, daß es noch hinter Ruß- 
land rangiere. Es nahm diese Tatsache hin, und die folgende zähe 
diplomatische und militärische Arbeit, cie von den Palastkämpfen 
in Seoul zu den Schlachtfeldern der Mandschurei führte, beweist, 
wie jene Erkenntnis aneifernd und belebend auf die Japaner ge- 


N Rußland nach dem Abschluß des Friedens von Schimono- 


) Über „Deutsche Leistungen und Aufgaben in China“ in Politik, Handel 
und Industrie erscheint in diesen Tagen bei Julius Springer in Berlin eine größere 
Studie des Veriassers. 


260 Dr. Fritz Wertheimer: 


wirkt hat. Nach dem Frieden von Portsmouth war das japanische 
Ziel der unbestrittenen Vormacht in Ostasien erreicht. Eine gewisse 
Entspannung des Verhältnisses zu Rußland konnte eintreten. Wie 
schnell ostasiatische Entwicklungen schreiten können, dafür gibt 
das heute fast intime Verhältnis der beiden Kriegsgegner sieben Jahre 
nach blutigen Kämpfen Zeugnis. Gleichwohl weiß die japanische 
Politik, daß Japan zwar gegenwärtig die Vorherrschaft im Osten 
hat, daß aber in diesem Besitze durchaus keine Gewähr für die 
Zukunft liegt. Rußlands Kraft in Ostasien ist durch die letzte 
Niederlage, abgesehen von dem materiellen Verlust der Liaotung- 
Halbinsel und der Anwartschaft auf eine überragende Stellung in 
Korea, eher angeregt als vernichtet worden. Wladiwostok ist als 
Festung an die Stelle Port Arthurs getreten. Die sibirische Bahn 
wird in ihrem zweigleisigen Ausbau in Bälde vollendet sein, die 
vollständig russische Amurbahn wird trotz erheblicher Schwierig- 
keiten energisch gefördert. Die militärische Organisation im Osten 
ist stärker geworden, auch wirtschaftlich hat sich manches gebessert. 
Vor allem aber hat sich die Wirtschaftslage auch des europäischen Ruß- 
land verändert, und der Widerstand Rußlands in einem künftigen 
Kampfe würde erheblich kräftiger und ausdauernder sein als im 
Jahre 1904/05. Man wird auch damit zu rechnen haben, daß mit 
dem Sinken des Einflusses Rußlands auf dem Balkan, mit der poli- 
tischen Selbständigkeitserklärung des Balkanbundes, die notwendiger- 
weise ein Freimachen von der russischen Bevormundung enthält, 
Rußlands Aktivität nach anderer Richtung sich steigern wird, 
da in Armee und Marine ein Gefühl der Beschämung über die 
erlittene Niederlage im russisch- japanischen Kriege und ein Gefühl 
der Rache noch nicht ausgelöscht ist. All das macht die russisch - 
japanische Freundschaft etwas zurückhaltend, wenn auch vor der 
Hand das Interesse beider noch darin konform geht, sich gegen 
ein erwachendes China vorzusehen. In der ungeheuren Kraft des 
Landes und des Volkes China steckt, wenn beide erst einmal richtig 
entwickelt sind, die sicherste Anwartschaft auf die Führerrolle im 
fernen Osten. Es ist ein natürliches Bestreben Rußlands und 
Japans, heute, wo diese Kräfte noch schlummern und unentwickelt 
sind, sich Außenteile des chinesischen Reiches anzugliedern, um 
den späteren Kampf um die ostasiatische Vorherrschaft mit einem 
beträchtlich verkleinerten China, selbst um dessen reiche Außen- 
provinzen aber gestärkt, führen zu können. Da Rußland fürchten 
muß, bei einseitigen Raubversuchen Japan an Chinas Seite zu 
sehen, und da Japan ebenso eine Verstärkung Chinas durch Ruß- 
land zu gewärtigen hat, kam eine gewisse Verabredung der beiden 
Länder gegen China zustande, die eine Verständigung über Mor 


Politische Leistungen und Aufgaben in China. 261 


golei und Mandschurei in sich schließt. Darin liegt die Uber- 
zeugung, daß eine Vergrößerung der Reibungsflächen zwischen 
Rußland und Japan durch Umwandlung der bisherigen Einfluß- 
Sphären in wirklichen Besitz unbedenklicher ist, als ein Erstarken 
Chinas, das beiden Gegnern gefährlich werden kann. Es wäre 
müßig, heute zu untersuchen, wie die drei ostasiatischen Macht- 
faktoren sich entwickeln werden und welchen Krieg gegeneinander 
die Schnelligkeit dieser Entwicklung zur Folge haben wird, oder 
auch die Frage zu stellen, ob ein Ausbalancieren des heutigen 
Gleichgewichts auf die Dauer den Frieden in Ostasien verbürgen 
kann, wofür freilich die Expansionslust unserer Tage in Ostasien 
wenig zu sprechen scheint. 

Wasaber haben in diesem offenen oder versteckten Kampfe um die 
Vorherrschaft im fernen Osten andere Staaten zu tun, wie erklärt 
sich die Einmischung Frankreichs und Deutschlands an der Seite 
Rußlands in die ostasiatischen Händel. Die Engländer führten 
ihren Opiumkrieg der Jahre 1840-42 zu einem wirtschaftlichen, 
wenn auch zu einem unmoralischen Zwecke. Dieser, wie auch der 
Lorchakrieg der Jahre 1856-60 waren außerdem zu dem nationalen 
Zweck der Anerkennung Englands als einer China gleichberechtig- 
ten Macht im Gegensatze zur chinesischen Staatsdoktrin unter- 
nommen. England war zudem der Mandatar Europas, wenn es in 
seinem Friedensschlusse die Öffnung chinesischer Häfen für den 
fremden Handel erzwang, freilich ohne bewußt an diese altruistische 
Arbeit auch für andere Nationalitäten zu denken. Frankreich konnte 
sich auf keine reelle wirtschaftliche Unterlage stützen, als es sich 
an dem zweiten Kriege beteiligte, sein Handel mit China war höchst 
unerheblich, und auch die Ermordung eines französischen Missio- 
nars konnte keinen Grund zu einem derartigen Kriege abgeben, der 
nur des Kriegsruhmes halber geführt wurde. Die Einmischung 
Frankreichs in den Schimonoseki-Frieden erklärt sich wohl auch 
nicht aus dem Verfolg seiner Interessen in Ostasien selbst, sondern 
es ist einer der ersten äußeren historischen Beweise dafür, daß die 
ostasiatische Politik und das ostasiatische Wirtschaftsleben immer 
mehr auch in die europäische Mächtekonstellation eingreifen und 
sie beeinflussen. Es war eine Freundlichkeit und Gefälligkeit, die 
dem Zweibundgedanken entsprang, und die ja im Laufe der Zeit 
auch zu einer Stärkung des Zweibundverhältnisses ihr Teil beige- 
tragen haben mag. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, 
daß Frankreich später für den China erwiesenen Dienst seine Rech- 
nung präsentierte und sich im Jahre 1898 neben Eisenbahnkon- 
zessionen und kleineren Landabtretungen versprechen ließ, daß in 
seiner Interessen-Sphäre keine Landabtretung an andere Nationen 


En 
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* m v- 1 — — — — — 


262 Dr. Fritz Wertheimer: 


erfolgen werde. Japan konnte ja die Einmischung Rußlands im 
Jahre 1895 leicht verstehen, und es war ihm auch einigermaßen be— 
greiflich, daß dessen Verbündeter, Frankreich, sich dem Vorgehen 
anschloß, besonders da man später in Japan an Hand des englisch- 
japanischen Bündnisses ein Idyll der Nibelungentreue propagierte, 
das eine Art von Entschuldigung auch für Frankreich bieten 
konnte, wenn auch Japan selbst von England später darin grausam 
enttäuscht worden ist. 

Nur, was Deutschland bewogen haben könnte, sich an Ruß- 
lands und Frankreichs Seite zu stellen, das ist in Japan nie be— 
griffen worden und wird auch so schnell nicht verstanden werden. 
Wohl hat Fürst Katsura mir vor zwei Jahren einmal erklärt, die 
wirklich politischen Köpfe könnten keine Feindschaft aus diesem 
Grunde gegen Deutschland hegen. Denn rückblickend müsse man 
erkennen, daß der volle Erwerb der Liaotung-Halbinsel durch 
Japan im Jahre 1895 kein Segen gewesen wäre. Es wäre höchst 
wahrscheinlich daraus schon damals ein russisch-japanischer Krieg 
entstanden, den Japan zu jener Zeit noch nicht habe gewinnen 
können. Japan könne also sogar fast dankbar sein, daß man es 
damals zum Aufgeben dieses Landerwerbes gezwungen habe, weil 
nur dadurch ein neues Volk in Waffen habe erstehen können, das 
einen siegreichen Krieg mit Rußland ein Jahrzehnt später führen 
konnte. Und weil, darf man hinzufügen, cie Russen inzwischen 
ein Jahrzehnt lang eine kolonisatorische Arbeit auf der Liaotung- 
Halbinsel vollbringen konnten, wie sie in solcher Großzügigkeit 
Japan niemals hätte schaffen können und die nachher vollkommen 
als Siegespreis den Japanern überliefert wurde. Derartig politische 
Erwägungen aber stellt das japanische Volk als solches nicht an. 
Es sieht in der deutschen Handlung einen willkürlichen Akt, der 
weder durch wirtschaftliche Interessen, noch durch allgemein po- 
litische ostasiatische oder europäische Konstellation bedingt war, 
es versteht ihn auch nicht als das, was er doch in Wirklichkeit 
war, eine theatralisch-heroische Geste, um sagen zu können, wir 
sind auch dabei gewesen, unternommen ohne klare Zielsetzung und 
ohne weitere Überlegung, sondern das japanische Volk sieht immer 
noch in jener Handlung einen mißgünstigen neidvollen Schritt 
gegen ein Deutschland unsympathisches Wachstum Japans, und es 
spricht für die Empfindlichkeit des nationalen Stolzes in Japan, daß 
man das auch nach fast zwei Jahrzehnten nicht vergessen hat 
Unsere Handelsbeziehungen zu Japan sind dadurch zweifellos ge- 
stört, unsere allgemeinen und politischen Beziehungen getrübt 
worden, ohne daß in China auf der anderen Seite ein Aktivum in 
der Bilanz zu ziehen wäre. Wir waren nicht so uneigennützig, die 


Politische Leistungen und Aufgaben in China. 263 


Dienste für China unentgeltlich zu tun, was vielleicht eine starke 
Sympathie in China für Deutschland hätte wachrufen können, eine 
Sympathie, die später in Warenbestellungen und in Bevorzugung 
im Handelsgeschäft ihren Ausdruck hätte finden können. Daß aber 
der Gewinn der Liaotung-Halbinsel durch jene Einmischung ein 
Segen für China gewesen wäre, kann füglich nicht behauptet werden, 
wenn man bedenkt, daß die hilfsbereiten Chinafreunde bald darauf 
nicht nur die gleiche Halbinsel, sondern auch Kiautschou, Kuang- 
schou nebst Eisenbahnkonzessionen und andere Rechte für sich 
beanspruchten und dadurch auch England zur Wegnahme von 
Weihaiwei veranlaßten. Vielleicht wäre das alles auch ohnehin ge- 
kommen, aber daß es im Anschluß an Schimonoseki kam, trug 
sicherlich nicht dazu bei, diesem Schritte ein besonders freundliches 
Gedenken in China zu sichern. Tatsächlich ist die deutsche Hilfe 
für China im Lande so gut wie spurlos vorübergegangen, oder wo 
sie einmal moralisch erobernd gewirkt haben mag, längst wieder 
vergessen. 

Auf der anderen Seite ist hier zu sagen, daß der Erwerb von 
Tsingtau und Umgebung — wie man richtiger sagen sollte, um 
falsche Größenvorstellungen zu vermeiden, die mit der Bezeich- 
nung „Deutsch-Kiautschou-Gebiet“ unwillkürlich verbunden sind — 
dem deutschen Ansehen in China nicht geschadet hat. Wohl ge- 
nießen heute die territorial uninteressiertesten Amerikaner am 
meisten Kredit von allen fremden Nationalitäten, aber es ist doch 
fraglich, ob sie das allein der mehr negativen Tatsache, keinen 
chinesischen Boden unter ihrer Herrschaft zu haben, verdanken, 
oder nicht vielmehr recht positiven Arbeiten, als da sind die Tätig- 
keit ihrer Missionen, der Verzicht des auf Amerika entfallenden Teiles 
der Boxer-Entschädigung zu Gunsten der Entsendung von 80 
Studenten jährlich zum Studium auf amerikanischen Hochschulen, 
der Knox’sche Vorschlag, die Bahnen der von Rußland und Japan 
hart bedrängten Mandschurei zu neutralisieren, um sie dadurch für 
politische Erwerbszwecke der beiden Nationen auszuschalten —, 
ein Vorschlag, dessen Scheitern infolge des Widerspruchs der beiden 
betroffenen Nationen man in Amerika sicherlich voraussah, den 
man aber doch machte, um sich in China Sympathien zu erwerben, 
und den man später durch die große mandschurische Industriali- 
sierungs-Anleihe in anderer Form doch noch zu verwirklichen suchte. 
Machtentfaltung und Machtbenutzung allein schaden in den Augen 
der Chinesen nichts, könnten eher nützen. So hat es den Amerika- 
nern nichts geschadet, daß sie während der verflossenen Revolutions- 
wirren eine übermäßig große Zahl von Truppen auf chinesischem 
Boden stehen hatten, und es hat den Deutschen nichts genutzt, daß, 


264 Dr. Fritz Wertheimer: 


sie etwas eilig ihre frühere Besatzungsbrigade aufgelöst haben und 
während’ der Revolution so gering durch Truppenaufgebot in China 
vertreten waren, daß es im Ernstfalle nicht einmal zum Schutze der 
allerwichtigsten deutschen Interessen ausgereicht hätte. Die Portu- 
giesen macht beispielsweise nicht der Besitz der Kolonie Macao den 
Chinesen verhaßt, sondern die miserable Verwaltung und die Aus- 
gestaltung des Platzes zu einer großen Opium- und Spielhölle, 
während man zu gleicher Zeit in China den beiden Lastern energisch 
zu steuern sucht. Und wenn auch den Chinesen der englische, 
französische, russische, japanische und deutsche Besitz chinesischen 
Bodens nicht erfreulich sein mag, wenn ein künftiger Nationalstolz 
und Chauvinismus auch in Zukunft einmal zur Rückgewinnung 
allen chinesischen Landes für die Chinesen drängen wird, so 
würden wir heute durch ein von uns ausgehendes freiwilliges Vor- 
wegnehmen: solcher künftigen Ereignisse nichts gewinnen, als Spott 
und Hohn, und Alles verlieren. 

Das Eine aber darf hier ausgesprochen werden, daß Tsingtau 
keine territoriale Erwerbung, keine Kolonie im eigentlichen Sinne 
darstellt. Dazu ist es viel zu klein und in sich zu schwach. Es ist 
ein Stützpunkt und eingroßer Ausstellungsraum für unsere Leistungen 
in Städtebau, Anlagen, Schulen, Verwaltung und allgemeiner Kultur, 
nichts weiter. Der Gedanke, Schantung als deutsche Interessen- 
Sphäre zu betrachten, ähnlich wie Japan Korea lange als seine 
Interessen-Sphäre behandelte, um es später zu besitzen, ist immer 
mehr aufgegeben worden, jemehr der Gedanke einer allgemeinen 
Aufteilung Chinas unter die Mächte verschwand. Immerhin ist zu 
sagen, daß ein konzentrierter Angriff Englands, Frankreichs, Ruß- 
lands und Japans gegen chinesischen Boden, ein Zusammengehen, 
für das die Anzeichen sich mehren und das die Lostrennung der 
Außenteile der Mongolei und Tibets, aber auch der Mandschurei 
und Yünnans erstrebt, auch andere Mächte in die Notwendigkeit 
versetzen müßte, zum Schutze ihrer Interessen geeignete'Maßnahmen 
zu ergreifen. Für heute ist festzustellen, daß Deutschland und 
Amerika die beiden einzigen Nationen sind, die China gegenüber 
politisch nur das Interesse gegenseitiger Achtung und Freundschaft 
haben, und deren Politik nicht durch den Wunsch von Landerwerb 
in dieser oder jener Richtung beeinflußt wird. Beiden Nationen 
kann nur an wirtschaftlichem Aufschwung und guten Handels- 
beziehungen liegen, das wird allerdings bedingt durch Ruhe im 
Innern Chinas und auch von außen her, und so sind diese beiden 
Mächte neben China selbst die Hauptinteressenten an einer völligen 
Integrität Chinas, besonders aus der Erwägung heraus, daßin den 
von fremden Mächten okkupierten Teilen chinesischen Bodens das 


Politische Leistungen und Aufgaben in China. 265 


Prinzip der offenen Tür zumeist nur auf dem Papier besteht, da 
nicht überall die deutsch-chinesische Organisation des Seezoll- 
Dienstes, die in Tsingtau besteht — dort befindet sich ein chinesi- 
sches Seezoll-Amt, und alle eingehenden Waren bezahlen Eingangs- 
zoll; für die im Schutzgebiet verbrauchte Ware wird ein bestimmter 
Prozentsatz der reinen Einnahmen des Seezolles der deutschen Ver- 
waltung zurückgezahlt, der Ausgang aus dem Schutzgebiet ins 
chinesische Hinterland ist aber frei und ungestört — akzeptiert 
worden ist. Freilich gibt es neben dem Interesse an Landerwerb 
auch ein allgemeines politisches Interesse des Ansehens und des 
Einflusses, das sich später zu Lieferungsvergebungen und Kon- 
zessionen zu verdichten pflegt. Ein solches allgemeineres Interesse 
hat naturgemäß Deutschland mit allen anderen Mächten, weil es 
seiner Industrie den gebührenden Anteil an der Deckung der 
Riesenzukunftsbedürfnisse eines kommenden China sichern muß. 
Solchen Einfluß und solches Ansehen gewinnt man durch hervor- 
ragende Leistungen, aber auch durch persönliche Beziehungen. 
Niemand kann sagen, daß, was die offizielle diplomatische Ver- 
tretung angeht, Deutschland hier besonders günstig gestellt sei. 
Der deutsche Gesandtschaftsposten in Peking wird als Posten 
zweiter Gattung nach der Anciennität und der Reihenfolge, nicht 
nach der besonderen Eignung der Inhaber vergeben. Nirgends 
aber erfordert die Leitung einer Gesandtschaft einen selbständigeren, 
kenntnisreicheren, gebildeteren und gewandteren Diplomaten als 
gerade in China. Ein Gesandter, der es nicht in seinen wichtigsten 
Provinzen kennt, wird hilflos Situationen gegenüberstehen, deren 
Grundlage die psychologische Einschätzung der Bewohner mancher 
Provinzen bildet. Er wird verständnislos oder doch zum mindesten 
erfolglos arbeiten, wo es sich um wirtschaftliche Verschiedenheiten 
von Nord und Süd, Ost und West handelt und ein Ausgleich selbst 
deutscher weit auseinander gehender Interessen verlangt wird. Er 
wird die größten Schwierigkeiten haben, der rasch wechselnden 
chinesischen hohen Beamtenschaft gegenüber, die sich aus Pro- 
vinzialen aller Schattierungen zusammensetzt, Kenntnisse, Unter- 
scheidungsvermögen und Urteilsfähigkeit zu besitzen. Der aller- 
eründlichste Kenner Chinas wäre gerade gut genug. Es soll 
keine Kritik der Persönlichkeiten damit verbunden sein, wenn 
hier die Tatsache festgestellt wird, daß der gegenwärtige deutsche 
Gesandte, der China vorher nicht kannte, kaum ein halbes Jahr 
auf seinem Posten in Peking war, als die Revolution losbrach, 
daß der erste Attaché dieser Gesandtschaft mitten während 
der Wirren seinen Posten verließ, um auf Urlaub zu gehen und 
später nach Incien versetzt zu werden, daß der erste Dolmetscher 


ee A —— 


266 Dr. Fritz Wertheimer: 


auf Heimatsurlaub war und niemand daran dachte, ihn zurückzu- 
rufen, daß der zweite Attaché Peking in den Anfangsstadien der 
Republik verließ, sodaß die wirkliche Kenntnis von China und 
Land und Leuten in entscheidender Zeit bei zwei Dolmetschern lag. 
Darin und in der Tatsache, daß verschiedene deutsche Konsulate 
während der Hauptereignisse nicht mit ihren Leitern, sondern mit 
Ersatzleuten besetzt waren, daß man nicht wie in Kriegszeiten alle 
Männer auf ihren jetzt besonders verantwortungsvollen Posten be- 
ließ oder sie schleunigst hinberief, liegt aber eine solche Desorgani- 
sation und Gleichgültigkeit, daß man sich nicht wundern darf, 
wenn die hervorragend wichtigen Posten eines Beraters des Präsi- 
denten der Republik, eines Beraters im Finanzministerium, im 
Unterrichts ministerium und in der Militärverwaltung mit Angehörigen 
anderer Nationen besetzt wurden, während Deutschland leer aus- 
ging. Denn daß ein Deutscher die wichtige Stelle eines Reorgani- 
sator% der Salzzölle (auf deren künftigen Einnahmen die Tilgung 
der Boxerentschädigung und des Anleihedienstes für die neue große 
Reformanleihe zumeist beruht) bekommen solle, ist noch nicht be- 
stätigt, und selbst wenn es so sein sollte, so wäre das ein gewisser- 
maßen passiver Posten, während den übrigen Beratern ein direkter 
Einfluß auf Geistesrichtung und auch auf Lieferungsvergebungen zu- 
stände. Es ist erfreulich, festzustellen, daß dieses System bei der 

Marineverwaltung Tsingtaus nicht zu beobachten war. Abgesehen 

davon, daß der neue Gouverneur erst spät ernannt wurde und erst 

zu Beginn des November 1911 auf seinem Posten eintraf, dessen Ob- 

liegenheiten er durch früheren langen Aufenthalt in China kannte, 

waren die verantwortlichen: Leiter der Ressorts alle zur Stelle, und der 
moralische und materielle Erfolg, den das deutsche Schutzgebiet 
während der Revolution zu verzeichnen hat, ist sicherlich mit auf 
die stetige und energische Arbeit aller Beteiligten gerade in der 
für China so schwierigen Übergangszeit zurückzuführen. 

Das, was der Zentralstelle in Peking mangelt, eine enge 
Fühlungnahme mit chinesischen Kreisen, das hat sich nach einigem 
Zögern bei der Verwaltung des Pachtgebietes gerade im Verlaufe 
der Revolution eingestellt. Es ist ja einigermaßen schwer für den 
einzelnen und entsprechend schwerer für eine bureaukratisch or- 
ganisierte Verwaltung, sich in den Umschwung hineinzudenken, 
der in einem Jahrzehnt sich in China vollzogen hat. Die dauernden 
Amputationen am chinesischen Reiche, die gleichmäßig von allen 
Fremden vorgenommen wurden, führten noch im Jahre 1000 zu einem 
leidenschaftlichen Ausbruch der Volksstimmung. Damals gelang es 
ohne Mühe den herrschenden Kreisen, das, was an Dynastie-Feind- 
lichkeit in dieser Bewegung von Anfang an steckte, und was in 


Politische Leistungen und Aufgaben in China. 267 


allen Bewegungen der letzten 200 Jahre steckte, abzulenken auf die 
Fremden, insbesondere auf die Missionare, die man nicht zu un- 
recht an manchen Orten mehr als politisch wirtschaftliche Emissäre 
ihrer Länder, denn als unpolitisch friedliche Verbreiter einer reli- 
giösen Lehre ansah. Die Folge war der Kriegszug gegen die 
Boxer. Wo die Truppen sprechen, hört aber die Diplomatie auf. 
Die kriegerische Behandlung der Chinesen in der Feldzugszeit färbte 
auch auf die später wieder friedlicheren Beziehungen der Fremden 
zu den Chinesen beträchtlich ab. Es herrschte eine Stimmung, die 
einer Ausschließung der Chinesen nicht nur von den Wohnorten 
der Fremden in ihren Niederlassungen, sondern auch von der Ge- 
sellschaft günstig war. Dann kam ein großer wirtschaftlicher Auf- 
schwung, die jungchinesische Strömung wuchs empor, die nur in 
der Übernahme europäischer Machtmittel und technischer Vervoll- 
kommnung einige Aussicht auf Wiedererlangung der chinesischen 
Weltgeltung sah. Der Warenhandel hob sich, die Aussicht auf 
Konzessionen und Eisenbahn- und Militärlieferungen stieg. Im 
gleichen Maße stieg wieder die Achtung vor den Chinesen, und ein 
förmliches Wettrennen um ihre Gunst, nicht immer würdevoll und 
achtungerwerbend, gab den Chinesen in weniger Jahren zurück, 
was ihnen die Boxerunruhen genommen hatten. Die Kaufmann- 
schaft der Fremden machte eine solche rasche Sinnesänderung natür- 
lich aus Geschäftsrücksichten und aus dem täglichen innigeren Ver- 
kehr mit der chinesischen Geschäftswelt leichter mit. als die Ver- 
waltungen. Es erhob sich ein Sturm der Entrüstung in der 
deutschen Kaufmannschaft von Tientsin, als das Auswärtige Amt 
in Berlin noch im Frühjahr 1912 den weiteren Verkauf von Grund 
und Boden und Häusern in der deutschen Niederlassung an Chinesen 
(es handelte sich um mandschurische Prinzen, die sich hier in 
Sicherheit bringen wollten, und zwar um frühere Machthaber, 
deren Persönlichkeit und Vermögen ein wirklicher Gewinn für die 
Niederlassung hätten sein müssen) verbot, nachdem zuerst zwei 
derartige Verkäufe anstandslos gestattet worden waren. Man ent- 
schied eben in Berlin noch auf Grund der aktenmäßigen Kenntnis 
der chinesischen Verhältnisse, und darin war vielleicht von dem 
inneren Umschwung der Dinge wenig zu finden. Der wichtige 
Konsulatsposten von Tientsin war in der entscheidenden Revolu- 
tionszeit, wo es galt, Symptome zu erkennen und weniger nach den 
Ereignissen, als nach den inneren treibenden Kräften, nach den 
Stimmungen zu urteilen, durch einen Verweser besetzt, da der 
Konsul auf Heimatsurlaub war. Zu der gleichen Zeit, da sich dies 
in Tientsin ereignete, geschah in Tsingtau alles, unı möglichst 
schmerzlos und unauffälig mit den veralteten Sitten und Vor- 


268 Dr. Fritz Wertheimer: 


stellungen zu brechen. Man gestattete den Chinesen ohne weiteres, 
wenn sie nur die baupolizeilichen Bestimmungen erfüllten, inmitten 
des ihnen bisher weniger de iure, als de facto verschlossenen Stadt- 
teiles der Deutschen zu wohnen. Man wußte durch eine äußerst 
geschickte Tätigkeit auch wirklich vermögende Chinesen nach der 
Kolonie zu ziehen, obgleich bisher gerade der Widerstand gegen 
die deutsche Kolonie — in Hongkong war das seit Jahrzehnten 
anders gewesen — gute und geachtete Chinesen beseelt hatte und 
darin eine gewisse Gefahr für die Weiterentwicklung des Hafens 
gelegen war. Im April gab es in Tsingtau etwa 10 General- 
gouverneure, Gouverneure und frühere Minister, und einige 20 
höhere Provinzialbeamte, die den Schutz der deutschen Ordnung und 
guten Verwaltung der Unsicherheit der innerpolitischen Entwick- 
lung in ihrer eigenen Heimat vorzogen. Die Grundstücksverkäufe 
an Chinesen mehrten sich, und es war Aussicht, daß diese Chinesen 
nicht nur in Tsingtau Schutz suchten, sondern auch hier neue ge- 
schäftliche Unternehmungen begannen und damit ein wertvolles 
Glied in der Verbindung des Hafens mit dem Hinterlande und 
seinen Hilfsquellen werden würden. 

Es waren aber nicht nur die Deutschen, denen ein solcher 
Unterschied in der Politik zwischen Tsingtau und Tientsin auffiel, 
der nicht zum Heile des Ansehens des gesamten Deutschtums in 
China sein konnte. Es fehlte hier ebenso an einer Einheitlichkeit 
und vorherigen Verständigung über eine großzügige Politik zwischen 
Gesandtschaft, Tsingtau-Verwaltung und Generalkonsulat, wie auch 
in anderen Fällen ein Nebeneinanderarbeiten dieser drei Instanzen 
zu bemerken war. 

Dazu kommt, daß die Organisation des deutschen Konsulats- 
dienstes derjenigen Voraussetzungen entbehrt, die zu einer günstigen 
Betätigung in China unerläßlich sind. Englands Konsulardienst in 
China weist unter 30 Plätzen, an denen England konsularisch ver- 
treten ist, 8 Generalkonsulate auf, von denen Schanghai naturge- 
mäß das größte ist (unter den 13500 Fremden dieser Nieder- 
lassung befanden sich Ende 1910 im ganzen 4500 Engländer), die 
aber in Canton, Tschengtu, Hankau, Kaschgar, Mukden, Tientsin 
und Yünnanfu im Mittelpunkte von Provinzen von solcher Größe 
und Eigenheit liegen, daß die englische Verwaltung mit Recht der 
Ansicht ist: zur Beobachtung des Wirtschaftslebens eines derartigen 
Gebietes ist ein selbständiger, auch äußerlich mit allen Befugnissen 
ausgestatteter Generalkonsul nötig, dem seine Stellung alle Mittel 
an die Hand gibt, entsprechend aufzutreten. Die tatsächlichen Ver- 
hältnisse sind naturgemäß für Deutschland die gleichen, nur daß 
ihnen das Verwaltungssystem nicht Rechnung trägt. Es soll hier 


Politische Leistungen und Aufgaben in China. 269 


weniger Gewicht darauf gelegt werden, daß nach diplomatischem 
Gebrauche überall der Generalkonsul im Range den Vortritt hat 
vor den Vertretern der übrigen Nationen, wenn sie nur Konsuln 
sind. Auch dieser Umstand ist nicht zu unterschätzen. Denn der 
Doyen des konsularischen Korps hat manche Gelegenheit zu be- 
sonderem Verkehr mit den Behörden, und wenn man einem noch 
so dienstalten deutschen Konsul diese Möglichkeit nimmt, nur weil 
ein beträchtlich jüngerer englischer Kollege den Titel Generalkonsul 
führt, so begibt man sich damit mancher kleinen Vorteile, mögen 
sie noch so geringfügig sein, weil ja mehr als das Amt und die 
äußere Stellung die innere Tüchtigkeit des Inhabers wiegt. Wesent- 
licher ist schon, daß an Orten, wo der deutsche Handel überwiegt, 
oder dem englischen ebenbürtig ist, wie in Hankau und Tientsin, 
Mukden und Canton, der deutsche Konsul im Range diese Eben- 
bürtigkeit nicht zum Ausdruck bringt. Endlich ist es das Wich- 
tigste, daß die Stellung der Konsuln selbst durch dieses System un- 
sicher wird. Gerade die letzten politischen Ereignisse haben be- 
wiesen, wie selbständig und selbstverantwortlich ein Konsul in 
China zu manchen Zeiten handeln muß. Hankau war während der 
wichtigsten Revolutionstage von jedem Verkehr mit der Außenwelt 
abgeschnitten. Der Konsul war während dieser Zeit völlig auf sich 
selbst angewiesen, ohne aber doch die innere Selbständigkeit zu 
haben, die ihn von dem Generalkonsulat in Schanghai völlig los- 
löste. Die einzelnen Teile dieses Riesenreiches sind eben wirtschaft- 
lich, klimatisch und psychologisch so verschieden voneinander, daß, 
jeder nur nach sich in erster Linie und erst dann nach der Zu- 
sammengehörigkeit zum großen Ganzen beurteilt werden will. 
Dazu ist die bureaukratische Zentralstelle in Schanghai völlig außer 
Stand. Die Inhaber des unter solchen Umständen doppelt verant- 
wortungsvollen Generalkonsulats kennen aus eigener Anschauung 
zumeist nicht den zehnten Teil des Gebietes, über das sie ihre zu- 
sammenfassenden Berichte nach Deutschland senden sollen, wo man 
an und für sich dem höheren Beamten mehr Glauben schenken 
wird, als dem kenntnisreicheren Unterbeamten. Mit der schon seit 
langer Zeit befürworteten Änderung der Konsulatsorganisation in 
China, die an allen wichtigen Punkten eigene Generalkonsulate er- 
iorderte, zum mindesten überall da, wo der in China vorhandene 
Gegensatz zwischen Nord und Süd und zwischen Provinzen und 
Reich politische und wirtschaftliche Unterschiede allerschärfster Art 
geschaffen hat, soll keineswegs eine weitere Dezentralisation des pe- 
samten Chinadienstes gefordert werden, die ja heute schon in dem 
oft verbindungslosen Nebeneinanderbestehen von Gesandtschaft, 
Generalkonsulat und Pachtgebietsverwaltung keinen wünschens- 


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2. — — — 


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270 Dr. Fritz Wertheimer: 


werten Zustand darstellt. Es soll nur vorhandenen Zuständen besser 
Rechnung getragen werden, wobei als Krönung des ganzen Baues 
eine Zentralstelle gedacht ist. Wir kennen heute in China drei Stellen: 
die Gesandtschaft in Peking, die mehr theoretisch- diplomatischen Wert 
hat, das Generalkonsulat in Schanghai, das als die Vertretung des 
gesamten Konsulatsdienstes gilt, und das Pachtgebiet Tsingtau. 
Von diesen drei Faktoren wird der letzte zweifellos, bei all seinem 
Wert als besonderem Stützpunkt, als Einfalls- und Ausfalls-Pforte 
für Handel und Kultur in seiner Gesamtstellung und Wichtigkeit 
für die deutschen Interessen in China heute etwas überschätzt. Die 
Beliebtheit der Marineverwaltung und die Unbeliebtheit des Aus- 
wärtigen Amtes in der Heimat mag daran eine gewisse Schuld 
tragen. Jedenfalls wird zu oft vergessen, daß in Tsingtau doch nur 
ein bescheidener Teil der deutschen Interessen in China kulminiert. 
Und wenn auch einige Vorrechte für diesen Faktor angemessen sein 
mögen, weil der Wert der ganzen Musterausstellung Tsingtau sicher- 
lich moralisch auch für das Ansehen des Deutschtums und den 
Handel an anderen Plätzen der Küste ins Gewicht fällt, so ent- 
spricht doch die heutige Einschätzung nicht den wirklichen Ver- 
hältnissen. Der Sitz des Generalkonsulats in Schanghai aber 
wiederum verlegt den Schwerpunkt der Handelsinteressenten unbe- 
rechtigterweise ganz nach Schanghai und läßt Schanghai immer 
noch als den allein ausschlaggebenden Hafen für Export und 
Import erscheinen, der er längst nicht mehr ist. Daß dem so ist, 
dafür genügt ein einziges Beispiel: das deutsche Reich unterhält 
beim Generalkonsulat in Schanghai einen „Handelssachverständigen 
für China“, und ohne die Persönlichkeit dieses Herrn irgendwie 
berühren zu wollen, darf darauf hingewiesen werden, daß es ein 
früherer Schanghaier Kaufmann ist, der an diesem Platz groß ge- 
worden ist und die Handelsverhältnisse dort zweifellos kennt, der 
aber während seiner dreijährigen Amtsdauer auch nicht eine ein- 
zige Reise auch nach anderen Hafenplätzen des Riesenreiches oder 
ins Innere unternommen hat. Von den einzelnen Beamten dieses 
Generalkonsulats gar nicht zu reden, die ja natürlich nicht dauernd 
in China herumreisen können, um sich die zu ihrem Urteil uner- 
läßlichen Unterlagen an persönlichen Kenntnissen der Verhältnisse 
zu schaffen. 

Es ist ganz charakteristisch, daß sich Engländer und Fran- 
zosen längst da eine gute Presse geschaffen haben, wo unter 
den heutigen Verhältnissen ein Einfluß auf Regierungs- und Be- 
amtenkreise zu gewinnen ist. Die fremde Kaufmannschaft in 
Schanghai besitzt ihre Zeitungen und Zeitschriften, und Deutschland 
ist da durch eine der besten, wenn nicht die beste Wochenschrift, 


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Politische Leistungen und Aufgaben in China. 271 


den Ostasiatischen Lloyd, vertreten. In Tientsin aber, und insbe- 
sondere in Peking, wo sich die Dinge entscheiden, sind wir gegen- 
über guten und vorzüglich geleiteten englischen und französischen 
Zeitungen nur durch ein völlig bedeutungsloses kleines Tageblättchen 
vertreten, das keine eigene Meinung hat, geschweige denn für deren 
Eindringen in die Köpfe chinesischer Beamten und Regierender 
Sorge tragen kann. Es fehlt auch hier an einer gleichmäßigen 
Kräfteverteilung in China. Wenn freilich die Zeitungspolitik 
erwähnt wird, muß auch eine Unterlassungssünde der deutschen 
Presse berührt werden. Von einer einzigen Ausnahme abgesehen, 
bei der es sich um ein deutsches Blatt handelt, das als politisch 
kaum angesprochen werden kann, hat die deutsche große politische 
Presse keinen selbständigen eigenen Vertreter in Peking, der durch 
das Gewicht seiner Persönlichkeit, durch den Einfluß seines Blattes 
in der Heimat und durch seine umfassende Tätigkeit die Politik 
der offiziellen Vertretung seines Landes so stützen und fördern 
könnte, wie das die außerordentlich hoch bezahlten und zu groß- 
zügiger Repräsentation in Stand gesetzten, auch von den diploma- 
tischen Vertretungen ihrer Länder rein äußerlich sehr hochgestellten 
journalistischen Vertreter großer amerikanischer und englischer 
Zeitungen tun können. 

Politisch ist der weitaus größte Teil unserer Aufgaben in 
China erst noch zu erfüllen. Es ist freilich fast noch wichtiger, 
in der Heimat erst einmal dasjenige Interesse für den fern-Öst- 
lichen Zukunftsmarkt wachzurufen, erst einmal das Interesse von 
den Lieferanten und industriellen Exporteuren und Importeuren 
weg auf die große Masse des Volkes so zu verbreitern, daß Volk 
und Volksvertretung sich um diese Dinge kümmern, ihr Augen- 
merk auf China und die deutsche Arbeit dort lenken, womöglich 
sich persönliche Kenntnisse des Gebietes verschaffen und Vergleiche 
mit fremden Nationen und ihrer Arbeit anstellen, die uns erst zum 
Bewußtsein bringen können, was wir selbst geleistet haben und 
was uns zu tun noch übrig bleibt. 


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272 
Erich Kramer: Die Schneeballhexe. 


anz am letzten Ende der Stadt, wo sich der sandige Fahr- 
weg zwischen Scheunen und Speichern in das flache Land 


hinauswindet, steht auf einem niedrigen Erdwall ein 
schmales, einstöckiges Haus. Man müßte es für einen Gemüse- 
keller oder Holzschuppen halten, den sich ein armer Kätner aus 
Abbruchmaterial dürftig zusammengeleimt hat, wenn nicht hinter 
den dunklen Scheiben des Straßenfensters bunte Kattungardinen 
herabhingen, neben der Tür aber ein rostiger Klingelzug und am 
Schwellenrand ein verbogenes Kratzeisen für die Schuhe angebracht 
wären. 

Fast jeder Ziegel in den schiefen Wänden zeigt eine andere 
Farbe. Einer ist hellrot, einer tabaksbraun, ein dritter schwarz 
wie verkohltes Holz, ein vierter grauweiß wie mit Mehl gepudert 
und wieder ein anderer dunkelgrün, als hätte er im Schlamm eines 
Ententeiches gelegen, bevor man ihn einmauerte. Der Mörtel, der 
zu feinem Sande zerfallen ist, rieselt unaufhörlich aus den Fugen 
und wird vom Wind über den Vorplatz gejagt. Drei Krüppel- 
weiden streuen im Sommer ihren dünnen Schatten, im Spätherbst 
ihr verschrumpftes Laub auf das bucklige Dach. Rechts liegt von 
einem Stacheldraht umzäunt die städtische Müllgrube, mit Haufen 
gelber Asche, mit Lumpen und Scherben gefüllt, und auf der 
anderen Seite dehnen sich unabsehbar weit Kartoffel- und Rübenäcker. 

Aus diesem Hause trat an einem Septembermorgen ein kleiner 
Junge, sprang mit einem Satz den Erdwall hinunter und lief in 
klappernden Holzschuhen auf der Landstraße nach der Stadt zu. 
Seine Augen blinzelten verschlafen und ein wenig ängstlich unter 
der braunen Wollmütze, sein Kopf duckte sich fröstelnd zwischen 
die Schultern. In der einen Hand trug er ein Pack Hefte und 
Bücher, deren Ecken umgebogen und von vielen Fingerabdrücken 
blankgescheuert waren, und aus der Tasche des erdgrauen, ver- 
tragenen Röckchens stak ein Federpennal heraus. 

Er trabte eifrig, ohne sich umzusehen, und die freie Hand 
dicht vor den Mund haltend und mit seinem warmen Atem hinein- 
hauchend, immer geradeaus auf die Stadt zu. Doch bei den ersten 
Häusern verlangsamte er seinen Schritt. Dort war zwischen zwei 
Fachwerkscheunen eine hohe Zaunplanke, ein fauliger Kellergeruch 
strömte durch die Luft, und ein seltsames Knarren und Gemecker 
tönte hinter den moosgrünen Brettern. Der Kleine schlupfte aus 
den Holzschuhen, nahm sie in die Hand und schlich langsam vor- 
über. Er hatte hier einmal ein wildes Schreien und Schimpfen 

gehört, und als er in zaghafter Neugier stehen geblieben, war 


Die Schneeballhexe. 273 


plötzlich ein dicker, blutiger Knochen vor seine Füße herabge- 
flogen. Seit der Zeit glaubte er, hinter dem Zaun müßte etwas 
recht Unheimliches sein. Er fragte einen älteren Jungen um Rat, 
und der erzählte ihm, dort stünden lange Holzkisten voll toter 
Männer, die ein Kerl mit einem Ziegenkopf in lauter kleine Stück- 
chen zersäge. Nun hätte er zu gern durch die Spalten der Planke 
geguckt, wenn er aber vorsichtig näher heranging, tönte das 
Knarren und Gemecker so gräßlich laut, daß er kopfüber fort- 
rannte. Erst hundert Schritte davon wagte er aufatmend stehen 
zu bleiben und seine Holzpantoffeln anzuziehen. 

Dann ging es im Schaukeltrab weiter an den Bäcker- und 
Fleischerläden vorbei. Er machte ein pfiffiges Gesicht, daß er es 
diesmal wieder so gut überstanden hatte, ließ seine Sohlen derb 
aufs Pflaster knallen, schwang das Bücherpaket in der Luft und 
hieb mit der Faust an die Blechröhren, die vom den Häusern in 
den Rinnstein hinunterhingen. Die Kirchenuhr fing eben zu 
schlagen an, da gab er sich einen Ruck und fuhr polternd über 
den Marktplatz mitten in die offene Schultür hinein. 

In dem niedrigen, weißgetünchten Klassenzimmer steuerte er 
sofort auf seinen Platz los, ohne sich um das vielfältige Summen, 
Lachen und Gezeter der anderen zu kümmern, ordnete seine Bücher, 
legte die Hände gefaltet aufs Pult und wartete. 

Plötzlich brach der Lärm jäh ab wie das Froschgequake, 
wenn ein Stein in den Sumpf geworfen wird. Ein dicker, grau- 
bärtiger Mann mit einer spiegelblanken Glatze schritt rasch durch 
das Zimmer. 

„Munter, Kinder,“ sagte er, „munter; den Choral vierund- 
sechzig, Vers drei bis fünf.“ 

Ein älterer Junge strich die Geige, deren Töne scharf und 
hart ins Ohr schnitten, und die Schüler sangen mit weit aufge- 
rissenem Mund und ein wenig schleppend. Der Kleine aus der 
Ziegelkate wunderte sich oft über die seltsamen Worte von de- 
mütigen Göttesknechten, von Not und Trübsalspein, die im Liede 
standen und die ihm so verzwickt und geschnörkelt vorkamen, wie 
das alte Schloß draußen am Schultor. Er dachte, während er ernst- 
haft sang, darüber nach, was sie wohl bedeuten möchten. Einige 
hörten sich sehr komisch an, man mußte sie mit lauter Stimme 
herausschreien, damit nicht das Lachen, das unten den Leib zwickte, 
in die Kehle fahre, andere wieder hatten etwas Unheimliches, 
Drohendes und machten das Herz beklommen, und vor einem 
Verse zitterte er geradezu, denn sobald dieser gesungen wurde, 
konnte er sicher sein, daß er im Laufe des Vormittags ein paar 
Hiebe mit dem flachen Lineal aufgezählt bekam. 


274 Erich Kramer: 


Das Frage- und Antwortspiel begann. Die Finger schnellten 
in die Höhe, schrille Stimmchen leierten hastig ihre Aufgabe oder 
stockten angstvoll, zappelten noch ein wenig, bis sie mutlos in 
einem Tränenerguß und sanften Geheule untergingen. 

Der Kleine hielt den Blick starr auf den blanken Kahlkopf des 
Kantors gerichtet, der wie eine Kugel aus dem spärlichen Haar- 
kranz heraussteckte. Das freundliche, wohlwollende Lachen und 
die aufmunternden Worte, mit denen der dicke Mann ungerührt 
durch Bitten und Klagen das Lineal schwang und die Strafen aus- 
teilte, flößten ihm einen ungeheuren Schrecken ein. Er glaubte, daß 
nun gleich an ihn die Reihe käme und daß er dann alles vergessen 
hätte. Aber es ging meist über Erwarten gut, nur die Stimme 
zitterte etwas. Doch wenn er nach Luft schnappend auf seinen Sitz 
plumpste, konnte er kaum die Tränen hinunterwürgen. 

In den Pausen stand er, die kleinen Arme auf dem Rücken ver- 
schränkt, unter der Schultür und sah ernsthaft und nachdenklich zu, 
wie die anderen sich balgten. 

Endlich schlug die Mittagsstunde. Der Kantor ließ sich seinen 
grauen Pelerinenmantel hereinbringen, und die Jungen stoben 
lärmend nach allen Seiten fort. 

Der Kleine trödelte vergnügt zur Stadt hinaus. Vor jedem 
Ladenfenster blieb er stehn und musterte die roten Zichorienstangen, 
die Kaffee- und Tabakspakete oder die schwarzen Tuchmützen mit 
blanken Lederschirmen. Dann kam wieder die Zaunplanke, aber es 
fiel ihm nicht ein, jetzt Furcht zu haben, die Sonne schien so hell, 
Fuhrwerke rasselten, Leute gingen auf der Straße, und von weiten 
winkte das buntscheckige Ziegelhaus mit den drei Krüppelweiden. 
Er sah etwas Dunkles und darüber einen roten Fleck sich hin und 
her bewegen wie ein Stehaufmännchen; das war seine Mutter, die 
in ihrem kleinen Krautgarten wirtschaftete. Er fand die Tür ange- 
lehnt, sprang über den Flur an der Bodentreppe vorbei in die 
Küche und holte sich sein Schüsselchen mit Kartoffeln und Speck- 
sauce von der Herdplatte herunter. Nach dem Essen, das er lang- 
sam und umständlich zu sich nahm, ging er hinaus, kniete wort- 
los neben der Mutter hin und begann ihr bei der Arbeit zu helfen. 

Die Mutter war eine große, hagere Frau, schon ein wenig ge- 
bückt, schweigsam und unermüdlich schaffend, seit ihr trunksüch- 
tiger Mann bei einer Schlägerei ums Leben gekommen. Während 
der ersten Stunden des Vormittags wusch und scheuerte sie in 
fremden Häusern, und am Nachmittag besorgte sie ihre eigene 
kümmerliche Wirtschaft. Der Junge hatte ein unbegrenztes Zu- 
trauen zu ihr, das sich mit einer leisen Furcht paarte. Sie be- 
handelte ihn weder freundlich noch besonders streng, doch konnte 


Die Schneeballhexe. 275 


es manchmal geschehen, daß sie, von Not und Ärger gepeinigt, in 
stummer, grundloser Wut über ihn herfiel und ihm eine Tracht 
Prügel verabſolgte. Dann duckte er sich, barg den Kopf unter den 
erhobenen Armen und ließ die Schläge ohne einen Schmerzenslaut 
auf seinen Rücken fallen, bis die Mutter endlich innehielt und ihn 
unwillig fortstieß, mehr über sich selber und ihr hartes Lebenslos, 
als über den Kleinen ergrimmt, der kaum je etwas Übles tat. Er 
sah sie verwundert und mit trockenen Augen an und schlich in 
einen Winkel. 

Nachdem draußen die Gartenarbeit unter dem kühlen Wolken- 
himmel bei Wind und Sonnenschein beendet war, bekam er seinen 
Vesperkaffee in einem bestoßenen Emailtöpfchen und eine dicke 
Schnitte rauhrindigen Schwarzbrotes, die er bedächtig bis zum 
letzten Krümchen aufknusperte. Dann stieg er die schmale Boden- 
treppe empor, um oben in der Dachkammer seine Schularbeiten zu 
machen. Diese war eigentlich der Vorratsraum der Witwe, der zu- 
gleich die Bettstati des Jungen enthielt. Auf dem Fenstersims 
reihten sich grüne Steinguttöpfe mit Sauerkraut und Salzgurken ge- 
füllt, in der Ecke lag ein Haufen Kartoffeln, und an der Wand 
hingen unter einem blaugedruckten, zerrissenen Kattunbezug die 
Winterjacken aus Schafsiell. 

Der Kleine setzte sich an den Tisch, der vorne nur durch 
zwei wacklige, dünne Stelzen gehalten mit dem anderen Ende auf 
dem Fensterbrett lag, klappte seine Bücher auf und begann emsig 
zu lernen, den Kopf zwischen beiden Fäusten und halblaut vor 
sich hinmurmelnd. Die schwarzen Schriftzeichen mit den dicken 
Schleifen, den feinen Häkchen und Strichen erschienen ihm wie 
lebende Dinge, die mürrische oder vergnügte Geräusche machten. 
Das hochmütige K knarrte wie ein hölzerner Schraubengang, das 
schöne, vornehme L lispelte sanft und das windige S ringelte sich 
zischend wie eine Peitschenschnur. Bei einer solchen anschau- 
lichen Lernweise konnte es nicht fehlen, daß er bald seine Sprüche 
im Kopfe hatte. 

Nun kam der schwierigste Arbeitsteil: das Schreiben. Zögernd 
klappte er sein Heft auseinander, und beim Erblicken der leeren, 
weißen Seite, die er vollschreiben sollte, faßte ihn ein ängstliches 
Schwindelgefühl. Er tauchte die Feder ein, sah gewissenhaft nach, 
ob auch nicht zuviel Tinte daran hänge, damit es nicht klexe, und 
malte darin, mit gespreizten Ellbogen auf dem Tisch liegend und 
den schräge gehaltenen Kopf dicht über dem Papier, die ersten 
Worte hin. Trotz aller Vorsicht kratzte die alte Feder bisweilen 
boshaft, er fuhr erschrocken in die Höhe, und obgleich ihn für 
diesmal das Unglück eines schwarzen Spritzregens verschont hatte, 


276 Erich Kramer: 


traute er sich doch erst nach einer geraumen Zeit weiter zuschreiben. 
Langsam füllte sich Linie auf Linie mit plumpen, zur Seite kip- 
penden Buchstaben. Endlich, als schon die Dämmerung wie ein 
feiner Aschenregen auf das weiße Papier fiel, endlich war der letzte 
Strich getan. Er drückte behutsam das Löschblatt darüber, schloß 
das Heft und schnürte seine Bücher zusammen. 

Die Mutier war fort, um ein paar Einkäufe zu machen. 

Er ging in die Küche hinunter, setzte sich ans Fenster und 
guckte hinaus. Die Wolken zogen schwer und dunkel, der Wind 
sauste in dem Krüppelweiden, und fern in der Stadt blinkten die 
ersten Lichter auf. Manchmal schob ein Lastwagen seine breiten 
Räder durch den Sand der Straße, die Pferde trotteten müde mit 
hängenden Köpfen und losem Geschirr, und der Fuhrknecht saß 
hoch oben auf dem strohgepolsterten Brett in eine gelbe Decke ge- 
wickelt und hielt die Leine achtlos zwischen den Fäusten, die in 
dicken, grauwollenen Handschuhen staken. 

Der Kleine lehnte die Stirn an das kühle Fensterglas und 
wagte nicht, sich umzusehen. Hinter ihm im Hause war es toten- 
still. Wenn nun plötzlich, dachte er, die Türglocke läutete und 
draußen stünde der Mann mit dem Ziegenkopf und er müßte ihm 
aufmachen. 

Endlich sah er seine Mutter im schwarzen Umschlagetuch, 
einen Korb am Arm die Landstraße herunterkommen. Er hielt sich 
ganz still, denn vielleicht war der Ziegenköpfige schon in der Küche 
hinter dem Spind versteckt und erwischte und zersägte ihn noch 
im letzten Augenblick. Die Mutter bog vom Wege ab und kam 
auf das Haus zu. Er hörte sie die Füße über den Schuhkratzer 
streifen, hörte, wie der Schlüssel hastig ins Schloß fuhr, aber er 
rührte sich nicht. Dann: trat sie herein, stellte den Korb auf den 
Tisch und verwahrte ihr Tuch im Schrank. 

Nun wurde der Kleine lebendig. Er glitt vom Stuhl auf den 
Boden, lief an den Herd und öffnete das eiserne Türchen zum 
Feuerloch. In der Asche glimmten noch ein paar rote Kohlen. Er 
legte Reisig und Späne auf und blies die schwache Glut an. Gelbe 
Flämmchen zuckten empor und sprangen knisternd am Holz ent- 
lang. Jetzt schob er große Torfstücke hinein, und einen Augen- 
blick schien es, als wollten die schwarzen Klumpen das Feuer er- 
sticken. Ein weißer Rauch quoll durch die wacklige Eisentür, aber 
bald fing es drinnen an zu prasseln, der rote Schein flog über die 
Wände, und der dunkle, kantige Schatten des Herdes rückte bis 

zur Decke auf. 

Der Kleine tappte zufrieden mit seinem Werk über den glut- 
bestrahlten Boden nach dem Fensterplatz. Doch jetzt blickte er 


* 
w — — — 


2 — 


Die Schneeballhexe. 277 


nicht mehr hinaus. Der Himmel war düster wie ein Teerbottich 
auf die Welt gestülpt und die Krüppelweiden schwankten un— 
heimlich im Winde wie lange Männer mit plumpen Köpfen. Er 
drehte den Rücken nach dem Fenster und sah seiner Mutter zu, 
die am Herd mit Schüsseln und Pfannen hantierte. Ihre Schürze 
glühte grellrot, während das Gesicht als weißer Fleck im Schatten 
verschwamm. 

„Mach Licht,“ sagte die Mutter. 

Er kletterte auf einen Stuhl, holte das zerbeulte, öltriefende 
Blechlämpchen vom Bordbrett und entzündete den schwarzen, runz- 
ligen Docht. 

Die Mutter stellte den Suppennapf und die Kartoffelschüssel 
auf den Tisch, und beide begannen schweigend zu essen. 

Später nahm jedes eine Arbeit vor; die Mutter flickte Wäsche, 
und der Kleine saß auf einem Fußbänkchen am Herd und schnitzte 
an ein paar Brettchen herum, aus denen ein Wagen werden sollte. 
Doch oft ließ er das Messer sinken und blickte mit hochgezogenen 
Brauen starr durch die Ritzen des eisernen Türchens ins Feuerloch. 
Die Glut war zusammengefallen und beleuchtete nur schwach die 
rußigen Lehmwände. Gelbe Aschenbrocken lagen auf dem Rost, 
von glimmenden Adern durchzogen; hie und da sprang noch ein 
Flämmchen in die Höhe und zuckte und wackelte wie ein neu- 
gieriges Gesicht. Er sah in der sterbenden Glut Straßen und 
Häuser mit Kuppeln und Säulen, eine ganze Stadt aus brennendem 


Gold aufgebaut. Dort wohnten die kleinen Flammenmänner. Aber 


immer mehr losch die Glut dalıin, nur winzige rote Pünktchen 
glimmten noch unter der Asche. Er dachte, nun sind die Flammen- 
männer schlafen gegangen und haben die Lampen in ihren Gold- 
häusern ausgeblasen. 

Die Mutter legte die Näharbeit fort und sagte, daß es Zeit 
sei, ins Bett zu gehn. Sie leuchtete ihm in die Dachkammer hin- 
auf und blieb dort, bis er sich ausgezogen hatte. Sie mochte ihm 
selbst kein Licht anvertrauen aus Angst, er könnte einmal Feuer 
machen. 

Der Kleine deckte sich bis an die Ohren zu und schloß sofort 
die Augen. Er hörte die Mutter die Treppe hinuntergehn und 
unten im Flur den Riegel vorschieben. Dann knarrte noch ein- 
mal die Küchentür, und es wurde still im Hause. Er hätte jetzt 
um alles in der Welt nicht mehr die Augen öffnen mögen. 

Längs der Wand ging ein Rascheln und Kratzen, das waren 
die Äste der Krüppelweiden, die der Wind hin- und hertrieb. Er 
dachte nach, ob wohl noch immer der Kerl mit dem Ziegenkopf 
hinter der Planke die toten Männer in Stücke zersägte. Dann fing 


gruen ve de 


6 — 


2 — * 


278 Erich Kramer: 


er leise an zu zählen. Wenn er bis hundert gekommen wäre, müßte 
er eingeschlafen sein. Doch plötzlich schien es ihm, als nähme er 
die Zahlen aus einem Kasten heraus und reihe sie vor sich an einer 
Schnur auf. Aber die Zahlen wurden so groß und schwer, daß er 
sie kaum halten konnte, und mit einem Mal liefen sie wie Reifen 
davon und er jagte ihnen nach über eine grüne Wiese. Er stol- 
perte, er fiel in ein schwarzes Loch, er hörte neben sich ein 
wunderliches Knarren und Gemecker und wollte mit einem Satz 
wieder herausspringen, da war sein Hemd ringsherum am Boden 
festgenagelt. Plötzlich ergriff ihn ein Zugwind und wirbelte ihn 
in die Höhe, und er saß rittlings auf einer Wolke, die aber eigent- 
lich nichts anderes war, als seiner Mutter großes, schwarzes Um- 
schlagetuch, und segelte durch die Luft. So fuhr er über die Stadt, 
über den Marktplatz und das Dach der Schule hin und sah unten 
den Herrn Kantor im grauen Pelerinenmantel stehn, winzig klein 
wie eine Puppe und mit der Hand heraufwinken. Dann hörte er 
in ganz weiter Ferne die Stimme seiner Mutter, die ihm zuriei. 
Er ging jetzt mit eiligem Schritt über eine breite Hlügelkuppe; die 
Erde war ausgedörrt und zerborsten, und aus den Spalten quoll rotes, 
fließendes Feuer. Ein schwarzer Himmel wölbte sich über ihm, 
doch als er genauer hinsah, waren es nur die rußigen Lehmwände 
des Herdes und der Hügel ein gelber Aschenbrocken. Nun tönte 
die Stimme ganz laut in seiner Nähe. Da fuhr er aus dem Schlaf, 
Gas trübe Morgenlicht schien durchs Fenster, die Mutter stand 
neben seinem Bett und rief ihm zu, daß es Zeit zum Aufstehen sei. 

So gingen die Tage und Nächte hin voller Gefahren, Abenteuer 
und Träume. 

Das welke Laub fiel von den Krüppelweiden, der Spätherbst- 
wind heulte und schwere Wolken und Nebel zogen über das 
flache Land. Die Mutter hängte einen Strohkranz um die Flurtür 
und klebte die Fensterritzen mit Pappstreifen zu. 

Einmal — es war schon Anfang Dezembers — beim Nach- 
mittagsunterricht, der im Sommerhalbjahr wegen der Ernte aus- 
gefallen, nach den Herbstferien aber wieder begonnen hatte, guckte 
der Kleine vom Buch auf. Er wunderte sich, daß es schon so früh 
dunkel würde; man konnte kaum noch die Schrift lesen. Da sah 
er an den Scheiben weiße Flocken immer dichter und dichter her- 
abwirbeln. 

„Kinder, es gibt Schnee,“ sagte der Kantor. Nun drängte sich 
alles an die Fenster und guckte in den Himmel hinauf. Die Abend- 
sonne brach durch die Wolken und warf ihren blassen, gelben 
Schein über die Häuser des Marktplatzes, die dicke Wattehauben 


trugen. 


Die Schneeballhexe. 279 


Es war noch eine Viertelstunde bis Schulschluß, aber keiner 
mochte mehr aufmerken. Da klappte der Kantor sein Buch zu 
und schickte die Jungen nach Hause. 

„Pelzflicker, Pelzflicker.“ 

Fünfzig kleine erstaunte Gesichter streckten die Nasen in die 
Höhe, sperrten ihre Mäuler auf und ließen die Flocken hinein- 
fallen. Dann kam ein großer Bengel auf den Gedanken, den Schnee 
zu probieren, ob er schon klamm sei. Der erste Ball wirbelte 
durch die Luft und zerplatzte an einer Pudelmütze. Gleich darauf 
war die Schlacht in vollem Gange. Der Kantor stand in seinem 
grauen Pelerinenmantel in der Tür und sah lachend zu. 

Die Sonne ging unter, es wurde schon ein wenig dämmerig, 
und ein paar arg zerzauste, weißbeschüttete Duckmäuser schlichen 
sich fort. Aber die meisten blieben noch. 

Der Kleine hatte sich an der Ecke des Schulhauses aufgestellt 
und beobachtete das Treiben. Da sah er plötzlich, wie ein selt- 
sames, gebücktes Wesen in ein großes, schwarzes Fransentuch ge- 
wickelt, das hinten am Boden nachschleppte, und eine feuerrote 
Haube auf dem Kopf mitten durch die balgenden Jungen hum- 
pelte. Keiner schien es zu bemerken, obschon es an seinem Stock 
langsam wie eine Schnecke hinschlich. Nun drehte es sich ein 
wenig, und er sah unter dem Tuch ein verschrumpftes Altweiber- 
gesicht, an dem das dünne Haar grau und zottlig wie Baum- 
flechten herabhing. Die Stirn nahm über die Hälfte des Gesichts 
ein, und Augen, Nase, Mund und Kinn klebten an ihr wie durch 
einen Druck zusammengepreßt. 

Der Kleine wunderte sich, wo das häßliche Wesen herkäme, 
es ärgerte ihn, daß es so langsam und gelassen durch die Schlacht- 
ordnung tappte, da griff er in den Schnee, rollte einen großen 
Ball und warf ihn der Alten mitten ins Gesicht. 

Im selben Augenblick schleuderte ihn ein heftiger Stoß zu 
Boden, er fühlte, wie sich etwas schwer auf ihn setzte und lange 
Finger hart und dürr wie vertrocknete Äste ihn an der Brust 
packten und unbarmherzig kniffen. Er war von dem Stoß ein 
wenig betäubt und glaubte, daß ihm irgendwer von den Schul- 
kameraden ein Bein gestellt habe, doch als er die Augen aufschlug, 
sah er über sich den grinsenden Kopf des alten Weibes. Da fing 
er entsetzlich zu schreien an. ö 

Die Jungen hörten mit der Balgerei auf, liefen herzu und 
drängten sich um ihn. Er lag am Boden, das Gesicht dunkelrot, 
fuchtelte mit den Armen und schrie immerfort in einem hellen, 
langgezogenen Ton, der wie das Pfeifen einer Dampfsirene klang. 
Die Kinder umstanden ihn ratlos und ängstlich, bis einer sich ein 


280 Erich Kramer: 


Herz faßte und ihn an den Schultern aufhob. Er schien aus einem 
Traum zu erwachen, blickte verwirrt umher und atmete hastig, den 
Rücken gegen die Mauer gelehnt. Dann klopfte er den Schnee von 
den Kleidern, nahm sein Bücherpaket und trat wortlos den Heim- 
weg an. 

Ein kaltes Frösteln durchschüttelte ihn. Der Markt, die er- 
leuchteten Schaufenster, die dunklen Vorstadtgassen, die Zaun- 
planke, die Scheunen und Speicher glitten schattenhaft vorbei. 
Aber die Geräusche der Stadt, das Rädergeknarr, das Trappeln der 
Schritte und die Gespräche der Fußgänger drangen von allen 
Seiten scheltend und drohend auf ihn ein, und er ging zwischen 
ihnen hindurch wie von Mauern umstellt, die immer höher 
wuchsen und immer enger heranrückten. Endlich sah er das rote 
Fensterviereck der Ziegelkate aus der Dunkelheit winken. 


Draußen im freien Feld pfiff ein leiser Wind und trieb die 
Aste der Krüppelweiden hin und her. Und der Ton des Windes 
und das Geflüster der Weiden wurden plötzlich zu Stimmen, die 
eindringliche Worte redend auf ihn zu kamen, immer näher, immer 
näher, fühlbar und körperlich wie hohe, weiche Lasten, unter 
denen man ersticken mußte. 


Er trat in die Küche und setzte sich in seine Ecke. Die Mutter 
stand am Herd und kochte den Vesperkaffee. Auch dort war es 
dasselbe. Das Rasseln der Töpfe, das Knattern des Feuers, alle 


Geräusche wurden zu Stimmen, die mit immer lauteren Scheltreden 
auf ihn eindrangen. 


Er ließ sein Essen stehn. Die Mutter fragte, was ihm fehle, 
doch er sah nur ängstlich zu ihr auf, denn ihre Stimme hatte einen 
so drohend harten Klang angenonmen. 


Sie brachte ihn ins Bett, deckte ihn gut zu und ging dann 
wieder an ihre Arbeit. 


Nun lag er allein in der Dachkammer, bald fieberheiß glühend, 
bald von eisigem Frost geschüttelt. Und plötzlich fing die Stille 
um ihn her zu tönen an. Aus dem Dunkel kamen Worte und 
wälzten sich riesengroß und schwer auf seine Brust. Und immer 
neue Worte kamen, häßliche, drohende Worte; die ganze Stube 
war von ihnen erfüllt. Sie rückten die Wände weit auseinander, 
sie hoben das Dach in die Höhe. Der Kleine glaubte, in einem 
meilenlangen Kirchenschiff zu liegen, durch das die Stimmen lang- 
sam zu unerträglicher Stärke anwachsend auf ihn zu rollten. End- 
lich überkam ihn der Schlaf. 

Am nächsten Tage fühlte er sich etwas besser. Die Mutter 
hatte wegen seiner Krankheit ihre Vormittagsgänge unterlassen, 


Die Schneeballhexe. 281 


doch als sie ihn so frisch sah, wollte sie am Nachmittag das Ver- 
säumte einholen. | 

Sie trat, in ihr schwarzes Umschlagetuch gewickelt und die 
rote Wollhaube auf dem Kopf, noch einmal in die Dachkammer 
und sagte mit rauher Freundlichkeit, er möchte nicht bange sein, 
da sie schon beim Dunkelwerden zurückkäme. 

Nun lag er ein wenig müde und still wartend in dem ein- 
samen Haus. Die Wintersonne schien durch die Scheiben, brach 
sich im Spiegel einer Wasserschüssel und warf zitternde Goldringe 
an die Wand, die sich zu einem breiten Teppich verwoben. Draußen 
vor dem Fenster lag ein dicker Schneestreif, und ab und zu kamen 
ein paar graue Sperlinge herangeschwirrt, pickten ans Glas, zwit- 
scherten und stoben wieder davon. Doch die Farben des Gold- 
teppichs verblichen nach und nach, die Dämmerung fiel in Schleiern 
von der Decke herab und aus den Winkeln erhoben sich dunkle 
Schatten und krochen über den Boden, wie Raubtiere, die ihre 
breiten, weichen Tatzen lautlos vorwärtsschieben. 

Der Kleine dachte, daß nun bald seine Mutter kommen müßte. 
Da hörte er plötzlich unten die Flurglocke tönen, ganz leise, als 
hätte sie ein abgebröckeltes Kalkstückchen gestreift. Behutsame 
Schritte gingen die Treppe herauf, die Tür öffnete sich langsam, 
und er sah im dämmrigen Licht über das Fußende des Bettes fort- 
blickend eine dunkle Gestalt mit einer roten Haube im Türrahmen 
stehn. Gott sei Dank, die Mutter war schon zurück. Aber sie 
sprach ja kein Wort, und es dauerte so schrecklich lange, bis sie 
an sein Bett trat. 

Er richtete sich auf. Am Boden kroch ein kleines Wesen auf 
allen Vieren, in ein schwarzes Fransentuch gewickelt, das hinten 
nachschleppte, und auf dem Kopf eine feuerrote Haube. 

Der Kleine fiel steif wie ein Stück Holz in das Bett zurück. 
Er hörte ein hastiges Rascheln und merkte, wie sich etwas schwer 
auf ihn setzte. Er öffnete die Augen und sah ein gelbes Alt- 
weibergesicht, an dem das Haar grau und zottlig wie Baumflechten 
herabhing. Die Stirn nahm fast über die Hälfte des Gesichtes ein, 
und Nase, Mund und Kinn klebten an ihr wie durch einen Druck 
zusammengepreßt. Und dann packten ihn lange Finger hart und 
dürr wie abgestorbene Aste und kniffen ihn unbarmherzig. 

Die Mutter fand bei ihrer Rückkehr den Kleinen in heftigem 
Fieber liegen. Sie erschrak, setzte sich mit der Lampe an sein 
Bett und horchte angstvoll auf jeden Atemzug. Aber bald wurde 
er wieder ruhiger und sank in tiefen Schlaf. 

An einen Schulbesuch war jetzt nicht mehr zu denken. Der 
Kleine wurde von Tag zu Tag immer blasser und abgezehrter. 


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282 Erich Kramer: Die Schneeballhexe. 


Mit dem Hereinbrechen der Dämmerung befiel ihn jedesmal eine 
grenzenlose Furcht, und die Mutter durfte keinen Schritt von seiner 
Seite gehen. Dann fing er plötzlich an, mit den Händen um sich 
zu schlagen, sein Gesicht wurde dunkelrot, und die Augen traten 
aus ihren Höhlen. Aber er schrie niemals, so groß auch die 
Schmerzen sein mochten, die er litt. Allmählich wurde er wieder 
ruhiger und fiel erschöpft in einen tiefen Schlaf. 

Der Armenarzt, ein dicker, eilfertiger Herr, erschien in der 
Dachkammer. Seine hohe, vom Rauhfrost verbrämte Pelzmütze 
stieß, fast an die Decke, und seine kleinen Augen zwinkerten miß- 
vergnügt hinter den beschlagenen Gläsern der Goldbrille. Er 
brummte etwas vor sich hin, verschrieb Medikamente und ging 
wieder. Auch der Kantor kam. Sein Kahlkopf glänzte freundlich 
und spiegelblank, und der graue Pelerinenmantel erfüllte wehend 
die Stube. Der Kleine saß schmal und dünn wie ein Schatten in 
seinem Bett und lächelte teilnahmslos. Man hätte meinen sollen, 
daß. die schwache Wintersonne mit ihrem Licht durch ihn hindurch- 
dringen könnte, wie durch ein trübes, gläsernes Gefäß. Er redete 
iast nie ein Wort und aß nur wenig. Doch, wenn die Däm- 
merung herabsank, überfielen ihn die Krämpfe. 

Einmal stand die Mutter bei einer wichtigen Arbeit in der 
Küche, so daß es unversehens Abend wurde und sie noch immer 
den kurzsichtigen Blick auf ihre Hände geheftet hielt. Da hörte ste 
plötzlich aus der Dachkammer einen langgezogenen, hellen Schrei, 
der wohl drei Minuten ohne Unterbrechung anhielt. Ihr aber 
schien er eine Ewigkeit zu dauern, und sie mußte sich an der 
Tischkante halten, um nicht umzusinken. Dann riß der Schrei mit 
einem Geräusch, als ginge etwas in Scherben, jäh ab. 

Als sie zitternd die Lampe angesteckt hatte und auf den Flur 
gestürzt war, glaubte sie zu bemerken, daß die Bodentür ein wenig 
offen stünde. Aber es war nur Täuschung, sie fand die Tür fest 
eingeklinkt. 

Sie trat in die Kammer, blieb einen Moment stehen und 
lauschte angstvoll. Drinnen rührte sich nichts. 

Da hob sie die Lampe über das Bett. 

Der Kleine lag starr ausgestreckt, ein seltsames Lächeln um 


den Mund und die Augen weit e glanzlos und erloschen 
wie gefrorene Teiche. 


283 


Lothar Brieger: 
Von der Notwendigkeit des Überflüssigen. 


n Berlin hat sich ein neuer Verein gegründet, der eine alte Devise 
I auf seine Fahne schrieb: Die Reform der Herrenkleidung. Der 
Kampf gilt nicht allein dem modernen Beinkleid (das verdrängt 
werden soll, jetzt, da endlich seit ein paar Jahren die Schneider es 
zu machen verstehen), auch der steife Hemdkragen soll mit ihm 
fallen und alles, was, wie die Fanatiker es nennen, zwecklos und 
überflüssig ist. Die Bewegung enthüllt sich als ein Teil der großen 
puritanistischen Ebbe, die gerne wieder die noch kärglichen Welt- 
chen unserer beginnenden Kultur brechen möchte. Von neuem wird 
das Wort „notwendig“ geheiligt und gesalbt. Und seine be- 
geisterten Priester vergessen darüber ganz, daß es für die Kultur 
nur eine Art notwendiger Dinge gibt, die überflüssigen, daß der 
Snob, so karikaturistisch er immer wirken mag, wenigstens schon 
ein Zerrbild der Kultur ist, und daß, hätten ihre Voreltern gedacht 
wie sie, die Menschheit noch heute von Eicheln und rohem Fleisch 
leben würde. In den Augenblicken, da ein verfeinertes Geschöpf 
— heute gerne als psychopathisch bezeichnet — etwas ganz Über- 
flüssiges, im allgemeinen Sinne Zweckloses eben um seiner schein- 
baren Überflüssigkeit halber wollte und erstrebte, ging durch die 
ganze Rasse ein fühlbarer Ruck nach aufwärts. Ich stand einmal 
— in Paris — vor dem Geschäfte Galles und neben mir ein junger 
schäbiger Franzose, der mit einer kleinen prächtigen Vase lieb- 
äugelte..e Die Hand hatte er in die Tasche gesenkt, man sah, wie 
sie Geldmünzen zählte. Dann gab er sich einen Ruck und ging in 
den Laden, eine Minute später verschwand die Vase aus dem Schau- 
fenster. Sicher, sie wird für die nächsten Tage des jungen Narren 
Mittag- und Abendessen gebildet haben. Aber nie fühlte ich so 
sinnlich deutlich, warum die Franzosen uns „über“ sind und warum 
sie, in einer künstlerisch so unfruchtbaren Epoche, einen so großen 
Künstler wie Rodin hervorbringen konnten. 


* ** 
* 


Mustergültig im Notwendigen sind ganz allein die Tiere. Es 
nimmt fürwahr nicht wunder, daß gerade die Apostel der modernen 
Religion des Praktischen und Notwendigen, Darwin und seine 
Jünger alle, immer wieder voll zärtlicher Liebe auf sie zurückgriffen 
und sie uns als Muster hinstellen, so daß man sich in der Tat bald 
mehr als ein entartetes, denn ein entwickeltes Tier erscheint. Sicher 
ist ja auch, wenn die Herren konsequent sein wollen, irgendeines 
Menschen Vorliebe für Dante oder Rembrandt nicht minder psycho- 


284 Lothar Brieger: 


pathisch im Hinblick auf die Notwendigkeit, als etwa Goethe Herrn 
Moebius in bezug auf die übrige Menschheit psychopathisch erschien. 

Das Tier ist darauf gestellt, das Notwendige zu wollen und 
zu erreichen. Sein ganzer Körper ist so gebaut, daß es die not- 
wendige Nahrung erwirbt; es hat den notwendigen Winterpelz 
— den wir so teuer bezahlen — ohne viel Sorgen ganz umsonst, 
seine Gliedmaßen sind für Kampf und Hausbau ohne stehendes 
Heer und Architekten geschaffen. Ja, es besitzt sogar die Schutz- 
färbung und oft für alle Fälle einen Schutzsaft, den es verspritzt, 
wobei es in all diesen Dingen durch die psychopathischen Finessen 
von schön und häßlich, duftend und weniger duftend im Gleich- 
maß seines Wesens nicht gestört wird. 

Dieser materiellen Überlegenheit gegenüber mag denn wohl 
den trockenen Herren der Mensch als ein merkwürdiger Dekadent 
erscheinen. Seine körperliche Kraft und Gewandtheit entsprechen 
nicht seiner eigentlichen Position, was schon bedenklich ist, er hat 
auch. weiche Stellen am Körper und Gemüt da, wo solche keines- 
wegs zweckmäßig, sondern viel eher schädlich sind, seine Waffen 
empfängt er von außen her, und wenn er einen Schutzsaft ver- 
spritzt, über dessen Qualität sich streiten läßt, so halten sich die 
Psychopathen um ihn her die Nase zu. Die Schutzfärbung, die er 
annimmt, betrachtet er doch gerne in einem äußeren oder inner- 
lichen Spiegel auf ihre ästhetische Wirkung hin, auch vererbt er 
dergleichen nicht, woraus sich dann die merkwürdige Tatsache er- 
klärt, daß gerade die bedeutendsten Exemplare des Genus oft ganz 
nackt und schutzlos in die Welt hinausgingen, ja sogar verwunder- 
licherweise die vernünftigsten Mahnungen, an das Notwendige und 
Praktische zu denken, mit Entrüstung zurückwiesen. 

Hingegen läßt sich die Tatsache schwer leugnen, daß gerade 
die auf das Notwendige bedachten Praktischen oft höchst lang- 
weilige und weniger Liebe als Achtung erwerbende Naturen sind, 
immer sich selbst und meist auch anderen ein wenig zur Last, die 
schließlich dahinschwinden, ohne eine Leistung und dementsprechend 
eine Lücke zu hinterlassen. Das Bewußtsein der Erfüllung des 
Notwendigen gewährt ihnen im Grunde nur einen geringen Trost 
für die graue Leere ihres eigenen Daseins, und die Zufriedenheit 
mit der Tugend ist eine schwere Sache, auf die Dauer, wenn man täg- 
lich sehen muß, wie das Laster — in diesem Sinne natürlich — den 
Genuß des Lebens und das lieblichste Lächeln der Frauen für sich hat. 

Es gibt hierfür einen Trost individueller Natur so alt wie die 
Menschheit, Sokrates hielt bereits gerne dem freilich wohl nicht 
immer ganz gassenreinen Alkibiades die gute alte Zeit entgegen 
(und das im Zeitalter des Perikles!). Ebenso alt ist der Brauch, 
die Künstler als interessante Ungesellschaftliche zu betrachten und 


Von der Notwendigkeit des Überflüssigen. 285 


zu behandeln (unterste Klasse in Platos Staat!). Auch dieser 
korrekte Weg verliert aber seine Gangbarkeit, wenn die Kultur 
ausschließlich zu einer Sache des Künstlers wird. Und in 
diesem Stadium stehen wir. 


22 


Des Künstlers Stellung zur Kultur ist eine ganz eigenartige, 
bedingt durch seine sonderbare Natur, nach der er zugleich ein 
Konservativer und ein Anarchist ist. Konservativ, weil er ohne 
gefestigte kulturelle Tradition nicht denkbar ist; Anarchist, weil die 
Stärke seiner Kunst von dem Grade abhängt, in dem er seine 
Persönlichkeit gegen diese Tradition durchzusetzen vermag. Darum 
vermag sich eine Künstlergestaltung ihrer kulturellen Güter nur 
eine kulturell durchaus ausgereifte Zeit zu leisten, da nur sie Gewähr 
für gleichmäßiges Auswiegen der Kräfte bietet. Sie ist ebenso stark 
wie die Kunst, ihr Gehalt ist durch die Form nicht mehr zu unter- 
drücken. Die Kunst ist nur ein Gipfel, kein Weg, noch weniger 
eine Ruhebank auf einem Wege. 

Und wir sehen nun, wenn wir unsere Zeit betrachten, mit 
einigem Erstaunen, daß die Dinge heute ganz anders zu liegen 
scheinen. Nicht mehr der Kulturzustand der Epoche schafft den 
Künstler, sondern es ist die Unmöglichkeit eingetreten, daß der 
Künstler, das individuellste Individuum, eine sogenannte Kultur 
macht, noch mehr: die Rechte der alten Kultur wahrt. Die Künstler 
beginnen über Gesellschaftsformen zu schreiben, sie wollen Regeln 
des Benehmens und der Kleidung diktieren, greifen in die 
Politik über, bestimmen unsere Wohnungen, diktieren den Kunst- 
sammlern Gesetze, bestimmen, was in den künstlerischen Leistungen 
als gut und schlecht zu werten ist (mit all diesen materiell ja ganz 
guten Dingen ist ihnen eine Last aufgelegt, die ihre positive Un- 
fruchtbarkeit und den allgemeinen Journalismus zur Genüge er- 
klärt). Mit anderen Worten: das Individuelle, in guten Zeiten des 
allgemeinen Gesetzes höchstes ausübendes Organ, will plötzlich zu 
diesem Gesetz selber werden. Dieser positiv durchgeführte Wider- 
sinn muß Häuser ohne Fundamente bauen, weil er gar nicht anders 
kann, und führt zu einem verschwommenen Kulturkonglomerat, da 
nun einmal die Kunst immer nur die Konsequenz, nie der agent 
provocateur der Kultur sein kann. Wir haben eine Kultur der 
interessanten Einzelheiten, aber keine Kultur der Allgemeinheit, 
also keine wirkliche Kultur. 

Und unter diesen traurigen Verhältnissen müssen sie beide 
verrohen und sich gegenseitig kulturell vernichten: die Kultur und 
die Künstler. Die Kultur wird zu einer Willkür und der Künstler 
wird zum Journalisten. 


286 | Lothar Brieger: 


Wenn erst die Erkenntnis allgemein würde, daß wir zu solchem 
traurigen Ence lediglich durch unsere verzweifelt praktische Welt- 
anschauung gelangt sind, dann wäre vieles erreicht und immerhin 
wieder die Möglichkeit eines Weges offen, die zu einer Kultur, 
d. h. zu einem schöpferisch fruchtbaren Zustande der Allgemeinheit 
führen könnte. Nicht das Erkläarliche ist das Schöne und Schöpferische, 
es ist vielmehr platt, in dem Unerklärlichen, der sinnlichen Freude 
an der Erscheinung ohne Absicht und Zweck, den Luxusgefühlen, 
die aus mathematisch nicht ausgerechneten Tiefen steigen, ruhen die 
Fundamente aller Kultur. Je praktischer wir werden, desto mehr 
verarmen wir. Die moderne Klugheit ist die größte Gefahr, die der 
Menschheit seit langem drohte, und gescheite Professoren sollen 
nicht sie, sondern gegen sie lehren. Nichts ist uns überflüssiger 
als das Notwendige, nichts notwendiger als das Überflüssige! 

Hat denn nicht die Natur bereits blind den richtigen Weg ge- 
wiesen, den wir in unserer praktischen Beschränktheit nur nicht 
erkennen wollen? Alle die Schutz- und Anpassungsmöglichkeiten 
der Tiere wurden uns genommen, daß wir dennoch an die herrische 
Spitze der Schöpfung gelangten, beweist, wie überflüssig alles Not- 
wendige für uns ist. Alles Stärkste und Fördernste in uns: der 
Ehrgeiz, der Glaube, die Menschheitsliebe, die seelischen Neigungen, 
die Freude an der Schönheit sind Luxusgefühle, Gefühle, die zur 
praktischen Existenz absolut nicht notwendig sind (schädlich oft im 
Gegenteil) und den praktischen Tieren völlig fremd. Aber aus 
ihnen flammte das Dreigestirn des Staates, der Religion und der 
Kunst auf, unter dessen Leuchten aus dem tierischen Urmenschen- 
tum die Kultur wurde. | 

Das neue Bemühen geht dahin, das alles zu zerstören, weil es 
nicht notwendig ist, und an Stelle dessen den Kommunismus (Ur- 
zustand), die materielle Notwendigkeit und die Technik (Biber, 
Ameise etc.) zu setzen. Ein Erfolg dieses Bemühens ist auf die 
Dauer nicht möglich, weil glückhafterweise der Mensch eben Mensch 
ist. Wohl aber ein dauernder Hemmungszustand, unter dessen Er- 
scheinungen wir bereits heute als unter einem Alpzustande 
schwerer atmen. 

Wir müssen uns auf die Notwencigkeit des Überflüssigen be- 
sinnen, mag solches als Evangelium auch immerhin etwas schroff 
erscheinen. Begegnen wir einem Manne, der durch ein widriges 
Geschick mißgünstig abseits der Kultur verschlagen wurde, an der 
er sonst seinen Anteil nahm, so werden seine Klagen immer über 
das Materielle als ein immerhin noch zu Ertragendes hinweggehen, 
um sich schließlich an alles Überflüssige zu hängen: an die Ent- 
behrung von guten Bildern, Büchern und guter Musik, sowie des 
klugen Gesprächs über Weltanschauungsfragen als ein Unentbehr- 


Von der Notwendigkeit des Überflüssigen. 287 


liches. Aus welcher jeglichem bekannten Tatsache wir dann ohne 
weiteres ersehen, daß eben just die überflüssigen Dinge für den 
Menschen seiner ganzen Natur nach die unbedingt notwendigen 
sind, während er in bezug auf des Leibes Notdurft erstaunlicher 
Entsagung ohne Murren fähig ist. Denn eben aus diesem Über- 
flüssigen kristallisiert sich das, was wir Deutschen mit einem über- 
aus prägnanten Ausdrucke „den inneren Halt“ nennen, und diese 
Kultivierung des Uberflüssigen, diese recht eigentliche Zusammen- 
setzung unseres besten Wissens daraus präzisiert den Abgrund 
zwischen Kulturmensch und Tier, während alle Wertungen mit 
dem Maße des Notwendigen das Tier fast gleich, oft genug sogar 
überlegen erscheinen lassen. 

Wenn darum, wie gegenwärtig, eine Strömung durch das 
deutsche Leben geht, die es gerne von allem Überflüssigen und der 
Freude daran losreißen möchte, um es einzig und allein an die 
praktische Durchführung des Notwendigen zu setzen, so erweist 
uns diese im Grunde wenig Freundlichkeit. Sie legt die Axt an 
einige wirkliche Schäden, die altdeutsche Stubengelehrsamkeit und 
Weltfremdheit, aber daneben gedeihen gleich die Volkseigenart, 
seine Ethik und seine Kunst, und wenn der ganze Wald abgeholzt 
wird, wie man das ja beabsichtigt, so werden wohl auch von 
ihnen nur einige historische Stumpfen stehen bleiben. 

Man hat gerade mir einmal den Vorwurf gemacht, ich sei ein 
kritikloser Anglomane, weil ich für das Gute, das wir von England 
lernen, Freude und Gebrauch unseres eigenen Körpers (statt lauter 
Brillenträger), vernünftigen, gemeinnützigen Egoismus, Kultur der 
äußeren Umgangsiormen stets überzeugt eintrat. Es ist auch kein 
Grund einzusehen, warum sich all dies init unserem eigentlichen 
Wesen nicht recht gut vertragen sollte. Wohl aber müssen wir 
uns hüten, die Göttin der Vernunft nun als einzig gesetzgebenden 
Gott zu vergötzen. Und kluge Eltern werden von vornherein dafür 
sorgen, ihren Kindern recht viel Freude am Unpraktischen, Über- 
flüssigen mit auf den Weg zu geben, schon damit ihnen, wie mir 
eine gescheute Mutter einmal sagte, das Leben überhaupt erträg- 
lich wird. 

Denn das Uberflüssige deckt sich im wesentlichen eben mit 
dem Idealen, und nichts ist notwendiger als dieses. Das Leugnen 
seiner Notwendigkeit hat gerade unleugbar unsere Kultur zerstört 
und uns das bedauerliche Surrogat einer Künstlerkultur gebracht, 
die wieder der Kunst hinderlich im Wege steht. Volksprediger 
sollten hinausziehen und das Evangelium von der Notwendigkeit 
des Überflüssigen als neue deutsche Religion verkünden. Erst wenn 
das wieder jedem in Fleisch und Blut sein wird, können wir das 
so viel mißbrauchte Wort „Entwicklung“ auch auf uns anwenden. 


288 


Alexander Ular: Eine moralische Katastrophe. 


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uhige Zeiten sind langweilig für die Handelnden wie für die 

Denkenden. Nicht nur die wüsten Draufgänger wie Ulrich 
von Hutten sollten jenen Zeitläuften „Es ist eine Lust zu 
leben“ zuruſen, in denen alles wankt, wenn nicht gar alles drunter 
und drüber geht. Denn erst bei großen Erschütterungen der Lebens- 
bedingungen kommen die seelischen Wahrheiten zum Vorschein, 
die sich in der Alltäglichkeit unter der Isolierschicht der Heuchelei 
oder, weit öfter noch glücklicherweise, der Interesselosigkeit und 
des Stumpfsinns verstecken. — Ruhige, und viel mehr noch mit 
Mühe und Not beruhigte Zeiten haben nicht nur theoretisch das 
Entsetzliche an sich, daß sie, wie Schopenhauer es so schön be- 
zeichnet, den „verruchten“ Optimismus selbst bei Skeptikern groß. 
züchten, eine Menschheit, eine Menschlichkeit, eine innere Ent- 
wicklungshöhe menschlicher Individuen und Kollektivitäten vor- 
täuschen, die nichts ist als eine Fata morgana über dem Sumpf 
vorzeitlicher Untermenschlichkeiten, der unter der schönen Illusion 
um so prachtvoller weiterstagnierte, als er saniert geglaubt wurde. 
Wenn dann der große Ruck kommt, der das Menschentum in seiner 
jeweilig wirklichen Verfassung zeigt, dann konstatieren natürlich die, 
die an einen inneren Fortschritt glaubten, daß eine 
seelische Kollektivkatastrophe eintritt. Allerdings nur eine Kata- 
strophe ihres Optimismus; eine Katastrophe der Idee, daß doch 
zum mindesten die sogenannte Kulturwelt jene großen Prinzipien, 
die der Menschheit seit Jahrtausenden von Weisen und Religions- 
stiftern als Grundlage jedes vernünitigen und annehmbaren mensch- 
lichen Zusammenlebens gelehrt wurden, allmählich aus dem Stadium 
des Ideals in das realer Wirksamkeit erhebt. 

Wir stehen augenblicklich vor einer solchen Katastrophe. Und 
jeder, der hinter den konkreten Tatsachen das viel wichtigere All- 
gemeine sieht, regt sich darüber auf. Wenn uraltes folk-lore richtige 
Dinge sagte, wäre ich überzeugt, daß gegenwärtig in den Gräbern 
der Philosophen reges Leben herrscht. Die einen nämlich drehen 
sich zweifellos in denselben herum, während die anderen sich die 
Hände reiben. Die einen sind die absoluten, ganz ehrwürdigen, 
allverehrten Weisen von Konfuzius über Sokrates bis Schopenhauer 
und von Gotamo über Jesus bis Tolstoi, die daran glaubten, es 
gäbe etwas Wahres und etwas Gutes an sich, und denen es ge- 
lungen war, Völkern und selbst Denkenden die Idee einzupflanzen, 
daß nichts Festeres und Sicheres und Untrüglicheres im Leben 
existiere als die Moral. Die anderen dagegen sind jene Lästerer, deren 
lachende Skepsis sich nicht entblödete, alles, was dem guten Bürgers- 


Eine moralische Katastrophe. 289 


mann heilig ist, in den Staub zu ziehen, der Moral jeden wirk- 
lichen, geschweige denn absoluten Wert abzusprechen, und sie wo- 
möglich als den jeweils wechselnden Vorwand auszugeben, den 
Herrschende benutzen, um sich möglichst mühelos den Fährnissen 
des Lebens anzupassen. 


Immerhin ist es unter allen Umständen ziemlich blamabel, wenn 
diese Lästerer einmal offenkundig recht behalten, und somit das 
Gebäude unserer angeblichen sittlichen Kultur miserabel ins Wanken 
gerät. Denn wenn ganze Völker und selbst ihre intelligentesten 
und besten Wortführer heute als himmlisches Recht verfechten, was 
sie gestern als infamstes Verbrechen gegen alle göttliche und mensch- 
liche Moral verdammt hatten, so ergreift jeden gesunden Menschen- 
verstand denn doch schließlich ein Gefühl, als seien die heiligsten, 
den Menschen aufgeschwatzten Prinzipien nichts als hinter Auguren- 
lächeln verstecktes Gerede, und als vermöchte die Menschheit sich 
gegen die schlimmsten Attentate auf ihre höchsten Grundsätze, so- 
bald sie nur erfolgreich durchgeführt werden, nicht anders zu 
wehren, als — indem sie diese als ganz besonders moralische 
Heldentaten ausgibt. 


Das Interessanteste und sicherlich für Europa Wichtigste anı 
Balkankrieg ist die plötzliche Zerstörung einer Reihe von Prinzipien 
internationaler und sonstiger Moral, die allmählich, wenigstens 
bei Kulturvölkern, immer festeren Boden zu finden schienen. Wenn 
seit fünfzehn Jahren weder der englisch-französische Afrikazwist, 
noch der furchtbare englisch-russische Kampf um Asien, noch die 
unselige Marokkosache zu einer materiellen Katastrophe für die 
Kulturwelt geführt haben, so war der einzige Grund nicht etwa 
das Gefühl gegenseitiger materieller Schwäche, sondern einzig 
und allein die Furcht vor der moralischen Verantwortung leitender 
Männer; denn — allzumenschlich — : die Völker hätten Siege ver- 
ziehen, weil materieller Vorteil, wenn er nur groß genug ist, alle 
Prinzipien immaterieller Art vernichtet; aber Niederlagen wären 
durch die Immoralität des Konfliktes erklärt, und demgemäß vom 
wütenden Volke gerächt worden, wie das russische versucht hat, 
den mandschurischen Unfug am Zarismus zu rächen. 


Aber Mißverständnis oder Gefühl: soviel ist sicher, daß der 
Balkankrieg und alles, was damit zusammenhängt, nunmehr als 
absoluter Beweis dafür gelten wird, daß ein für allemal die hypo- 
thetische Moral des Menschen etwas ganz anderes zu sein hat, als 
die reale Moral der Völker. Diese Weisheit läuft praktisch ge- 
nommen, darauf hinaus, daß, wenn eine Menge Menschen sich zu- 
sammentun, um etwas zu begehen, was jedereinzeln als Verbrechen 


F 
| 


290 Alexander Ular: 


empfinden würde, dieses vielfache Verbrechen von dem Augenblicke 
an eine bewunderungswürdige Tat wird. 

Am offensten wurde diese plötzlich wieder zu Ehren ge- 
kommene Moral der ruhmreichen Gewalttat vor einiger Zeit von 
einem jener Männer proklamiert, die die verantwortungsvollsten 
Funktionen in Europa ausüben. Der sonst so vorsichtige, richtig 
denkende und an Selbstbeherrschung gewöhnte Poincaré tat unter 
der zwingenden Suggestion des Milieus und der von ihm nicht be— 
herrschten Verhältnisse einer tausendköpfigen jubelnden Menge 
folgende neue moralische Wahrheit kund: „... Aber die glänzenden 
Erfolge der Verbündeten und die schweren Opfer, die sie sich auf- 
erlegt haben, gaben ihnen jeden Tag neue Rechte, die nie- 
mand mehr ihnen streitig zu machen gedachte.“ 

Also: der Erfolg schlechtweg, wie immer er auch erlangt sei, 
und jedenfalls wenn er durch massenhaften Totschlag, Mord- 
brennerei und Hinterlist gesichert wird, gibt neue Rechte. Auch 
die „Opfer“, die man sich freiwillig auferlegt, um eine Gewalttat, 
d. h. etwas gegen das Rechtsempfinden jedes einzelnen Ver- 
stoßendes — durchzuführen, also vor allem der Wille, sein Leben 
zu riskieren, schafft Rechte. Und solche „Rechte“ gedenkt niemand 
streitig zu machen, sei es, daß niemand es wagt, sei es, daß 
jedermann solche „Rechte“ für wohlerworben hält, also den 
Hintergedanken hat, er wolle gelegentlich ähnliche „Rechte“ auf 
ähnliche Weise erwerben. Wäre Poincaré nicht ein Mensch, dessen 
Geistigkeit hoch über der Politik steht, aller der Methoden, die die 
Moral der einzelnen Menschen verdammt, so müßte man sagen, 
daß kein Zyniker jemals zynischere Prinzipien einer angeblichen 
Kulturwelt zugeschrieben hat. 

Es ist in der Anwendung dieser Prinzipien ja alles und jedes 
verlogen: das Rassenprinzip, nach dem die Bulgaren zu Bulgarien, 
die Serben zu Serbien usw. gehören sollen; das Religionsprinzip, 
nach dem Exarchisten zu den Bulgaren, die Patriarchalisten zu den 
Griechen usw. gehören sollen; das Racheprinzip, nach welchem 
die Türkei verdient zerstört zu werden wegen der zahllosen 
Mordtaten — die die „Verbündeten“ fast ausschließlich unter- 
einander begangen haben; das Rechtsprinzip, nach dem jedes Volk 
iiber sich selbst verfügen soll; das Nationalitätsprinzip, nach welchem 
die Nationen, mit ihrer nationalen Regierung identifiziert, einen 
nationalen Interessenprozeß mit Kanone und Bajonett plädieren 
dürfen. 

Denn wer wendet diese Prinzipien an und wie werden sie ge- 
handhabt? Sonderbare „nationale“, mit dem Volke identische Re- 
gierungen! 


N u. u EEE EEE — 


Eine moralische Katastrophe. 291 


Wenn es noch internationale Fürsten gibt und wenn noch mon- 
archisch gesinnte Nationen existieren, die da vermeinen, der Fürst 
müsse um so mehr zur Nation gehören und in ihr ein Würdiger 
sein, als er ihre Spitze sein soll, so muß dieses balkanische vier- 
blättrige Kleeblatt große Illusionen zerstören. Denn diese Fürsten 
sind international und interkonfessionel. Man denke sich einen 
Russen oder einen Mohammedaner auf dem deutschen Kaiserthron, 
einen protestantischen Zaren, einen Engländer in Rom regierend! 
Und doch stand man schon vor dieser Vaudeville-Szene: die Auf- 
erstehung der Bourbonen als Zaren von Byzanz. Und niemand lachte! 

Aber wenn es sich hier um Lustspiele handelt, welche stets 
an Individuen geknüpft sind, so fehlen uns in den sozialen 
Wesenheiten des moralischen Zusammenbruchs am Balkan die Tra- 
gödien nicht. | 

Es ist z. B. gelungen, der ganzen Welt aufzuschwatzen, das 
türkische Regiment sei in Europa so furchtbar gewesen, daß jede 
Missetat sich durch berechtigte Rachsucht entschuldige. Das hat 
die große Presse fertig gebracht. Aber die Presseleute wissen, wie, 
zu welchen Zwecken und aus welchen Motiven, aus dem Nichts, 
wenn nicht direkt aus dem Gegenteil „Öffentliche Meinung“ mit 
durchschlagendem Erfolge fabriziert wird. Schade um die öffent- 
liche Meinung! Schade um die Leser! Und schade für die Presse, 
wenn das Publikum wüßte, wie es gemacht wird! 

Wer hat je vor einigen Jahren von türkischen Metzeleien 
gehört? Und jetzt glaubt jedermann, daß die Türken in Maze- 
donien die Mordbrenner waren und verdienen ausgerottet zu 
werden. Und warum? Weil die Türkei deutscher Hauptposten inı 
Orient war; weil deshalb die Türkei zu Grunde gehen sollte, und 
weil in Rußland durch Gewalt, in Frankreich und England durch 
oft nur zu melodiöse — um nicht zu sagen klingende — Über- 
redung die Presse unter dem Vorwande „right or wrong, my 
country“, Nationalregierungen, dient, während in Deutschland, 
das an journalistischer Geschicklichkeit enorm zurücksteht, kein 
Gegengewicht geschaffen werden kann, erstens weil die Presse nicht 
regieren kann wie in Frankreich und England und deshalb ihre 
Auslassungen nur theoretischen Wert haben, zweistens weil sie 
sich trotz aller scheinbaren Gründlichkeit nur zu oft aus zweiter 
Hand informiert und daher ihr Gewicht im Ausland hundertmal 
geringer ist, als der Einfluß der englischen und französischen Presse 
in Deutschland. Sonst wäre es nicht möglich geworden, daß selbst 
in Deutschland die Verlogenheit hätte triumphieren können, die von 
anderer Seite in der Behandlung des Balkanproblems zum Prinzip 
wurde. | 


292 Alexander Ular: 


Es ist ja ungeheuerlich, zu behaupten, die Türken hätten seit 
Jahrzehnten Mazedonien mit Blut übergossen. Man kann den 
Türken alle möglichen Vorwürſe machen, aber diese Verleumdung 
war längst widerlegt. Man kann ihnen sagen, sie haben zwei- 
hunderttausend Armenier gemordet: und sogar das ist falsch; denn 
nur Abdul-Hamid, der von Verfolgungswahn ergriffen, in den 
Armeniern (mit Recht) die Agenten englischer Zersetzungsarbeit 
und (mit Unrecht) den wesentlichen Kern der Revolution gegen 
seinen Terror sah, hat diese Scheußlichkeiten persönlich ange- 
ordnet und durch persönliche Diener ausführen lassen. Und was 
die Bulgaren, Griechen usw. betrifft, so sei es mir verstattet, zu 
konstatieren, daß ich genau vor vier Jahren in meinem Buche vom 
„Verlöschenden Halbmond“ die nötigen offiziellen Dokumente ver- 
öffentlicht habe, die mir aus griechischen, bulgarischen, russischen 
und türkischen Geheimarchiven zuflossen, um unwiderleglich nach- 
zuweisen, daß nicht die Türken, sondern die Bulgaren und die 
Griechen die Mordbrenner waren — d.h. nicht diese Nationalitäten, 
sondern die Angehörigen der bulgarisch-orthodoxen Exararchats- 
kirche und die der griechisch-orthodoxen Patriarchatsorganisation — 
und auch, daß die Wendung, die das jungtürkische Regime nahm, 
schon vier Monate nach der Revolution unweigerlich binnen vier 
Jahren zur Abtrennung der türkischen Christen und zur Auflösung 
der europäischen Türkei führen mußte. Wesentlich ist, daß doku- 
mentarisch bewiesen wurde, wie nicht die Türken, sondern die tod- 
ſeindlichen Bulgaren und Griechen Organisatoren der Metzeleien 
waren, und daß die Türken, praktisch, wegen der widerstreitenden 
ausländischen Erpressung, Englands für die Griechen, Rußlands 
für die Bulgaren, den Verhältnissen gegenüber ohnmächtig waren 
und nur in den allerschlimmsten Fällen intervenierten. Und wie 
sollten sie dies tun, wenn nicht durch drakonische Repressalien 
wider die Mittäter der schuldigen Banden? — Daß die Verhält- 
nisse jetzt in jedermanns Auge umgekehrt erscheinen, ist ein 
wunderbares Meisterwerk praktischer Journalistik. 

Sicher waren die Jungtürken verbohrt und moralisch zweifel- 
haft. Wenn portemonnaieschmächtige Revolutionshelden plötzlich 
als Inhaber reizender (von Abdul-Hamid gespendeter) Villen und 
Regierungspfründen in die Erscheinung traten und ihre Idee des 
osmanischen, alles vertürkenden Nationalstaates weder unter guten 
Worten, noch unter Schnaps aufgeben wollten, so war eine weitere 
türkische Katastrophe sicher. Aber warum war man damals auch 
in Berlin unwissend und verbohrt? Warum holte man damals 
Marschall von Bieberstein nicht fort, der unter Abdul-Hamid ein 
Genie gewesen war, aber nun das deutsche Prestige nur durch 


Eine moralische Katastrophe. 293 


Unterzeichnung aller jungtürkischen Torheiten retten zu können 
glaubte? Warum schickte man damals nicht v. d. Goltz als Bot- 
schafter hin, den einzigen Menschen der Welt, der den Jungtürken 
hätte plausibel machen können, daß ihr Nationalstaat totgeboren 
sei und daß nur das förderative Prinzip, die autonome Organisation 
aller Nationalitäten unter osmanischer Führung hätte die Türkei 
retten können? Oder wenigstens dann, als man in Paris, London 
und Petersburg bereits wußte, daß die Jungtürken die Türkei 
auflösten. Weshalb wußte man in Berlin davon nichts 
und ließ das wesentliche Element der Hegemonie des 
Dreibundes in den Abgrund rasen....? 

Fast schlimmer noch als in der Frage der türkischen Ver: 
gewaltigungsmoral aber ist die Verlogenheit Europas in der Frage 
der Nationalitäten aufgetreten. Das aus der Verschwörung der vier 
„nationalen“ Balkanfürsten geborene „Recht“ soll das der Na- 
tionalitäten sein. Und alle Welt findet das sehr schön und gerecht. 
Ja, und die Polen in Deutschland, die Finnen, Polen, Kleinrussen, 
Georgier usw. in Rußland, die Ruthenen und Kroaten in Österreich- 
Ungarn? Ist es nicht bezeichnend und furchtbar, daß jeder zu 
sagen scheint: „Ja, Bauer, das ist etwas ganz anderes?“ Noch 
schlimmer aber wird diese moralische Antinomie dadurch, daß 
man wenigstens ganz genau weiß, was ein Pole, ein Finne, ein 
Georgier, ein Kroate oder Ruthene ist und sich nicht entrüstet, 
wenn man von deren nationalen „Rechten“ redet, während man sich 
für das „Recht“ von Bulgaren, Griechen und Serben begeistert, ob- 
wohl niemand, und sogar sie selbst nicht wissen, und nicht wissen 
können, was sie eigentlich sind. 

Man weiß ja absolut nicht, wenn von Bulgaren, Griechen, 
Serben und Albanern die Rede ist, ob es sich um rassische, sprach- 
liche oder nicht einfach kirchliche Zusammengehörigkeit handelt. 
Man frage einmal auf dein Markte von Usküb, der „moralischen 
Hauptstadt Serbiens“, ein paar Dutzend Leute, welcher Nationalität 
sie sind. Man wird staunen. 

Da trifft man offenbare Albaner, die serbisch zur Muttersprache 
haben, und behaupten, sie seien Bulgaren, denn sie sind unter der 
Fuchtel der Popen des Exarchats. Waschechte Bulgaren dagegen 
halten sich für reine Griechen, da sie die patriarchische Kirche 


nicht verlassen haben. Auch findet man massenhaft unzweifelhafte ` 


Serben, die sich für Albaner ausgeben, weil sie nämlich Moslim 
sind. Und so weiter. Die Begriffe der Konfession, der Sprache 
und der Rasse, von Nation ganz zu schweigen, gehen fortwährend 
durcheinander. Und wenn man bedenkt, daß wenigstens bis jetzt 
jedenfalls das Konfessionelle alles andere dominiert hat, daß nicht 


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294 Alexander Ular: 


das bulgarische Volk, sondern die bulgarischen vom Patriarchat 
griechischer Observanz und Kirchensprache abtrünnigen Popen die 
bulgarische Hetze geschaffen, großgezüchtet und durchgeführt haben; 
daß nicht bulgarisches und griechisches Volk, sondern ohne Unter- 
schied der Volkszugehörigkeit die Pfarrkinder exarchischer und 
patriarchischer Pfaffen und Mönche sich gegenseitig umgebracht 
und ein „Nationalbewußtsein“ angelogen haben, so kann man sich 
einen Begriff davon machen, was das Nationalitätsprinzip in diesem 
Wirrwarr zu suchen hat. Es ist ja nur der Deckmantel dynastischer 
und oligarchischer Interessen. Jedermann weiß. daß, wenn es über- 
haupt auf der Welt eine wirklich albanische Stadt gibt, keine andere 
diese Bezeichnung so vollkommen verdient wie Skutari. Und doch 
haben sich die Halbwilden der Schwarzen Berge nicht entblödet, 
diese Stadt für sich zu verlangen — unter dem Vorwande des Na- 
tionalitätsprinzips. Wenn es irgendwo in Europa je eine türkische 
Stadt gegeben hat, so ist es Adrianopel, wo nicht drei Prozent 
Bulgaren leben; und doch war sie von Anfang an das vornehmste 
Objekt bulgarischer Gier. Wenn es je in modernen Zeiten eine 
Judenstadt gegeben hat, eine Mischstadt, in der das jüdisch-rassische 
Element dominiert, so ist es Saloniki, und doch wollen die Griechen 
sie geradezu als Nationalhauptstadt auſputzen. 


Die verschworenen Zauberlehrlinge sind natürlich unfähig ge- 
wesen, die entfesselten Gewaltinstinkte ihrer Massen zu bannen — 
wollten es aber wahrscheinlich auch gar nicht. Jetzt heißt es nicht 
mehr Brüder beireien, sondern andere unterjochen. Und wenn Berg- 
banditen bei Cettinje nicht Skutari rauben, das mehr wert ist, als 
sie alle zusammen, so wird ihr Hauptmann trotz kaiserlicher und 
königlicher Verwandtschaft mit Spott und Hohn davongejagt werden. 
Wenn der französisch katholische Chef des bulgarischen Exarchats 
seinen Leuten nicht die türkische Stadt Adrianopel zur Beruhigung 
in den Rachen werfen kann, riskiert er, wie sein ebenso „bulgarischer“ 
Vorgänger, höflich aber energisch abgeschoben zu werden. Mit 
dem dänischen Protestanten, der die griechisch-orthodoxen Macht- 
gelüste als sein Ideal ausgibt, steht es nicht anders. 

Und Europa, seine Diplomaten, seine Monarchen, und sogar 
seine vergiftete öffentliche Meinung finden es schön und womöglich 


gerecht, daß jetzt die Hauptverschworenen, um sich persönlich der 
Treue ihrer Mittäter und Gefolgsmannschaften zu versichern, die 


hoch und heilig vorgeschützten moralischen Prinzipien in den 
Schmutz werfen, und anstatt Nationen zu befreien, aus purem 
persönlichen Interesse Nationen unter jochen wollen. 

Die namenloseste Schmach aber ist, daß sämtliche Kultur- 
staaten, die vor zwei Monaten schworen, sie würden alles beini 


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Eine moralische Katastrophe. - 295 


Alten lassen, die dann sich ein erstes Mal verleugneten und heuch- 
lerisch das Nationalitätsprinzip als Entschuldigung vorschützten, 
schließlich ein zweites Mal an sich selbst Verrat begingen und ge- 
meinsam mit über den Schwächeren herfielen, um ihn zu zwingen, 
ungeachtet aller Nationalitäten, aller Religionen, aller Sprachen, 
Kulturen und sonstigen Zusammengehörigkeitsprinzipien, alles und 
jedes, noch nicht einmal mit Gewalt genommene, den Angreifern 
bis zur völligen Sättigung ihrer plötzlich entfesselten Gewaltherren- 
instinkte zu überlassen. Es ist als ob Polizisten, die eine Räuber- 
gesellschaft in flagranti ertappen, wütend ihre Revolver herauszögen 
und — auf das Opfer richteten, um es zu zwingen, außer seiner 
Uhr und seinem Gelde auch noch seinen Rock, sein Hemd und 
womöglich seinen Kopf zu lassen. 


Die praktischen Konsequenzen der systematischen Volksver- 
giftung, die dieses neue Evangelium wie eine greuliche Epidemie 
über die Kulturwelt verbreitet, werden furchtbar sein. Was soll 
denn in Zukunft das Volk in Dingen internationaler — und inner- 
halb gemischtrassiger Staaten in Dingen nationaler Moral denken? 
Der Beweis ist ja geliefert, daß auch mitten in der Kulturwelt unter 
allen Umständen Gewalt vor Recht geht, im Erfolgsfalle selbst alle 
Vorwände zur Gewalt über Bord geworfen werden, die bis zum 
Brechen volle Sättigung kollektiver Gier als gerecht betrachtet wird 
und — der Rest der Welt dem eklen Schauspiel Beifall klatscht. 

Wer dürfte es in Zukunft noch wagen, gegen die hinterlistigsten 


Anschläge und die skandalösesten Vergewaltigungen zu pro- 
testieren? Ist es nicht geradezu unglaublich, daß mehrere Groß- 
mächte mit ihrer gegenwärtigen Haltung die Basis ihrer gesamten 
Politik untergraben, die in der Überzeugung und in dem Prinzip 
wurzelt, „Europa werde nicht erlauben“, daß dieser oder jener 
Großstaat zerschmettert werde? Europa erlaubt ja alles, und wenn 
es irgendwie schief geht, sucht jeder noch von dem kannibalischen 
Bankett einige Knochen zu erwischen. 


Und die wirklichen Folgeerscheinungen der moralischen Balkan- 
katastrophe? Steigerung des Militarismus in ganz Europa und 
mithin steigende wirtschaftliche Belastung, steigender innerer Un- 
friede überall; Gemütsverrohung, die das absolute Pochen auf 
rohe Gewalt, die Umwandlung internationaler Politik in fort- 
gesetzte internationale Erpressungsversuche notgedrungen mit sich 
bringt; schließlich womöglich eine Wiederholung im Großen der 
Verschwörung von Sofia. 


Von der moralischen Einbuße, die Europa als Ganzes und 
mehr noch jeder einzelne Staat im Reste der Welt erleidet, kann 


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296 Alexander Ular: Eine moralische Katastrophe. 


man füglich schweigen. In Anıerika, in Indien, China und Japan 
lacht man..... 

Was denn hätte geschehen sollen? — Daß die Bulgaren, 
Griechen und Serben die türkische Verwaltung loswerden wollten, 
war natürlich und fast vernünftig. Aber das Wesentliche in höherem 
Sinne war gar nicht, daß die europäische Türkei zerstört werde, 
sondern wie sie zerstört werde. So hätten, was alles Wichtige be- 
trifft, die Fragen der Verwaltung, des nationalen Selbstbestimmungs- 
rechtes usw. ebensogut unter dem moralischen Druck eines ver- 
einigten Europas aus der Welt geschafft werden können. Und 
wenn den Großmächten etwas an ihrer gegenseitigen Sicher- 
heit läge, so hätten sie dazwischenfahren und unter äußerlich 
ähnlichem Schein, aber innerlich ganz anderen Motiven das Werk 
des Berliner Kongresses wiederholen, den Angreifern ihre Beute 
nötigenfalls mit Gewalt wieder abnehmen, und dann selbst zur 
gründlichen Neuordnung der Dinge schreiten müssen. 

Natürlich ist das eine Utopie. Aber sie ist der unmittelbare 
Ausdruck des moralischen Entwicklungsgrades, den der normale 
moderne Mensch vorgibt zu besitzen, und den er oft aus seinem 
Christentum zu schöpfen behauptet. Hat das Christentum etwa 
gelehrt: Gewalt schafft Recht? Und doch sind alle Regierungen 
und Volksmassen, die heute das Evangelium der Gewalt wieder an- 
beten, Christen und modern. Die einzigen aner, die es von sich 
weisen und ihm zum Opfer fallen, sind Mohamedaner, also un- 
christlich und unmodern. 

Darin liegt der moralische Niederbruch Europas. 


297 


Paula Becker-Modersohn: 
geb. 1876, gest. 197. Briefe und Tagebuchblätter. 


II. 
Paris, Boulevard Raspail, 1900. 


Iso jch sitze am französischen Kamine! Am Montag ging 
A ich etwas eisenbahnmüde zu Bett, um aus süßen Träumen 
von Klara Westhoff herausgeklopft zu werden. Wir redeten 

bis zum Morgen, sie ist so voll von allem! 

Draußen sieht und lernt man bei jedem Schritt. Das braucht 
man auch, man muß immer innerlich arbeiten. Ist man zu müde 
und kann nicht mehr, so empfindet man einen großen Degout. 
Denn die Welt ist hier zu zu zu dreckig. Scheußliche Absinth- 
gerüche und Zwiebelgesichter und eine wüste Sorte von Frauen. 

Ich habe uns noch nie so geschätzt wie in diesen Tagen. Bis- 
her fühlte ich nur unsre Fehler deutlich, und jetzt spüre ich mit 
aller Macht alles, was wir haben, und das macht mich stolz. 

Diese Woche brauche ich zur Orientierung und Sammlung. 
Auf dem Klavier meines Nervenlebens wird fortwährend forte ge- 
trommelt. Daran muß es sich erst gewöhnen. 

Antiquarläden gibt es hier zum Jauchzen. In jedem vierten 
aus ist solch ein Tohuwabohu von interessanten Gegenständen. 
Ich trete mit immer erneutem Staunen davor, innerlich sprechend 
wie jener kleine Knabe: „Wenn i jetzt so a Kettle hätt, da tät i a 
Eichhätzli dran, — wenn i eins hätt.“ 

Der Montag führte mich in meine Akademie. Cola Rossi, die 
Haare ins Gesicht geschnitten, strich das Geld ein und brachte dem 
Akt irgendeine Pose bei. | 

Leider posieren die Modelle hier alle. Ein jeder hat ein halb 
Dutzend Stellungen, die er allmählich an den Mann bringt. Ich 
werde hoffentlich allerhand lernen, namentlich da ein wundervoller 
Anatomieunterricht, der in der Ecole des Beaux Arts unentgeltlich 
erteilt wird, meine mangelhaften Kenntnisse ergänzt. 

An Präparaten und schematischen Tafelzeichnungen wurde uns 
vestern das Knie auf eine lichtvolle Weise erklärt. So etwas wird 
uns Mädeln nirgend geboten wie hier. 

Den Sonntag verbrachte ich mit Klara Westhoff bei Uhlemanns 
in Joinville bei Vincennes. Das ist eine höchst interessante Familie, 
nicht gerade heiter wirkend, mehr wie ein Stück lbsen. 

Die Mutter, Witwe, ist völlig taub. Sie führt auf diese Weise 
ein Leben für sich. In ganz weltliche Gespräche fällt sie dann mit 
ihren kleinen naiven Fragen. Das wirkt rührend. Mit den Augen 
liest sie die Antworten ab, mit Augen, die das Leben ein wenig 


298 Paula Becker-Modersohn: 


traurig ausgelöscht hat. Sie ist den ganzen lieben Tag im Hause 
tätig. Sie kann nicht ruhig sitzen. Dann kommt die Traurigkeit 
über sie, und sie muß weinen. 

Der Mittelpunkt der Familie ist der 23jährige Sohn, ein talent- 
voller Mensch. Er spricht acht Sprachen fließend, ist an einer 
Zeitung tätig und hat sich hier in Paris mit einer vierzigjährigen 
Frau verbunden. Er gehört zu denen, die über alles schelten, 
Menschen und Dingen kein gutes Haar lassen. 

Im Grunde haben sie alle ein kinderweiches Gemüt, dessen sie 
sich fast schämen und das sie selten ans Licht treten lassen. In 
die Augen wagt es sich noch am ersten. 

Eine zwanzigjährige Tochter lernten wir kennen, früh gereift, 
klug, nüchtern, mit grauer Lebensauffassung. Dazu kam diese 
Woche Paula Uhlemann, die bei Frau Erdmannsdörfer in München 
Musik studiert, — sehr sensitiv, fast blutlos. 

Klara Westhoff wirkt dort mit ihrer braunen Gesundheit und 
Riesenhaftigkeit sehr amüsant. Geistig und wirklich warf sie bei 
jeder Bewegung einen kleinen Tisch oder einen Stuhl um. 

Joinville liegt an der Marne, die ihre gelben Wasser durch 
müde, dunkle Wiesen wälzt, an den Ufern strenge Pappeln. Wir 
sahen es bei Regenhimmel. Bei blauer Luft muß es böcklinisch 
wirken. 

Im ganzen stimmt Paris mich ernst. Es gibt hier so viel 
Trauriges. Und was für die Pariser lustig sein soll, das ist das 
Allertraurigste. Ich sehne mich manchmal nach einem Moor- 
spaziergang. Dennoch genieße ich meine Zeit, nehme viel in mich 


auf und komme weiter. 
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* 

Heute hatte ich bei Courteois Coccectur. Er trifft den Nagel 
auf den Kopf, kurz und bündig. Er hat im Auge das, was ich 
will, und reißt mich nicht wieder nach einer andern Seite. Ich 
habe heute viel bei ihm gelernt und bin sehr froh. 

Ich habe in der Akademie vormittags Aktzeichnen belegt. Da 
kommen am Anfang der Woche Girandot oder Collin und korrigieren 
auf die Richtigkeit hin. In der zweiten Hälfte der Woche kommt 
Courteois, der das Malerische hauptsächlich im Auge hat, Ton- 
werte USW. 

Man hat das Doppellehrer-Verfahren hier als gut erprobt, auch 
die Académie Julian hat diese Einrichtung. Mir ist es auch sehr an- 
genehm. Nachmittags ist ein Kursus Croquis, auch Akt, der 
während zwei Stunden in vier verschiedenen Stellungen gezeichnet 
wird. Das ist lehrreich für die Auffassung der Bewegung. 


* 


* 


Briefe und Tagebuchblätter. 299 


Heut will ich Euch von dem Atelier im besonderen erzählen. 
Nicht von der Grundidee, dem Ernst und der Arbeit, sondern vom 
Drum und Dran. Drum und dran ist hier nämlich viel. Vieles 
zum Lachen und zum Verwundern. 

Also die Rue de la Grande Chaumière ist eine kleine Straße 
mit kleinen Häusern. In zweien hat Cola Rossi sein Atelier aufge- 
schlagen, — er ist König in dieser Straße. 

Früher Modell, ist er jetzt ganz Gentleman. Sehr smart an- 
gezogen, sehr ritterlich gegen Damen, versucht er die Miene eines 
grand seigneur zu behaupten. Sein Vater ist ihm ähnlich. Nur 
sieht man es dem an, daß er sich in allerhand Ecken umhergetrieben 
hat, wo es nicht ganz sauber war. Die beiden scheinen sich gut 
zu verstehen, sitzen überhaupt manches miteinander aus. 

Das Faktotum des Hauses, das dafür sorgt, daß cie Ateliers in 
ihrem würdig gewordenen Schmutze beharren und die Ofen schlecht 
brennen, dies besagte selbst verschimmelte, verschmutzte, verbogene, 
verschmitzte Faktotum heißt — Angelo! 

Angelo ist die Fee, die hier waltet. Der hält die erste Zwie- 
sprache mit den Modellen. Ist meist von drei, vier reizenden Däm- 
chen angecirct, damit er ein gutes Wort für sie einlege. Er läßt 
sich alles schmunzelnd gefallen. 

Und nun der ganze Hofstaat von Schülern und Schülerinnen. 
Darunter auch viel merkwürdiger Schwindel. 

Viele Maler sehen hier in Paris aus wie man früher dachte, 
so müßten sie aussehen: mit langen Haaren, braunen Sammet- 
anzügen, mit seltsamer Toga auf der Straße, mit wehenden Shlipsen, 
im ganzen ein wenig wunderlich. 

Unter den Schülerinnen gibt es auch seltsame Gestalten. Die 
meisten machen mit ihrem Haar unglaubliche Sachen und allerlei 
Wippchen mit ihrer Kleidung. Im großen und ganzen wird ziem- 
lich schlecht gearbeitet. 

Mein Haushalt läuft glatt. Am Sonntag schrubbt mir eine 
femme de menage für dreißig Centimes. Meine mädchenhaften und 
häuslichen Tugenden gedeihen mannigfaltig. Ungefähr mein erstes 
Möbel (das erste war mein Bett), also das zweite war ein Besen. 
Hand-, Trocken- und Wischtücher sind schon nach Kräften wirksam. 
Ich habe eine Crömerie entdeckt, wo ich mit allerlei kleinen Leuten 
zu Tisch esse. Pariser kleine Leute sind nun zwar etwas anders 
als bei uns, mehr wie bei uns die großen Leute nach der einen 
Richtung hin. Unter diesen Weltkindern bin ich dann der Waisen- 
knabe. Sie sind aber ganz niedlich mit mir, machen nur manchmal 
aus meinem Französisch etwas zweideutig scheinende Wortspiele. 
Ich verstehe sie aber nicht und lasse mir auch keine grauen I laare 


300 Paula Becker-Modersohn: 


darüber wachsen. Das Grauehaarewachsenlassen muß man hier 
verlernen. Es gibt zu Mannigfaltiges nach jeder Richtung hin, 
bald hört man auf sich zu wundern. 

Ich genieße das Straßenleben ungeheuer. Es gibt im Volke 
viel originelle Typen, die sich um Gott und die Welt nicht kümmern, 
sondern aussehen, wie sie gerade Lust haben. So begegne ich auf 
meinem Schulwege immer einem rührenden Alten, der sich eine 
leuchtend lila Steppdecke umgebunden hat und einen Hund von 
zweifelhafter Rasse führt. 

In der Anatomie werden uns jetzt an zwei lebenden Modellen 
und an einer Leiche die Muskeln erklärt. Äußerst interessant, nur 
macht die Leiche mir leider jedesmal Kopfweh. 

Wie hier alles beieinander liegt. Lachende Gesichter, amour, 
amour, und tiefstes Elend. Manchmal ist es mir ein wenig viel. 
Dann nehme ich meine Guitarre zur Hand. Die ist mein David hier. 


* 


Ich möchte gut Französisch können, denn die Leute sind alle 
so geistreich. Esprit gibt es hier in ungeheuerlichen Quantitäten, 
daß mir armen Bäuerlein oft Sinn und Zunge stille stehen. Auch 
in der Kunst gibt es viel Esprit. Die Art des Farbenauftrages 
ist äußerst geistreich. Das Unterste, Letzte, Feinste, das haben sie 
nicht. Das ist eben dasselbe, was ich instinktiv im Cyrano de 
Bergerac fühlte. 

Mit meiner sogenannten Studentenwirtschaft ist es wirklich 
nicht schlimm. Es ist ganz ordentlich und reinlich. Narzissen unc 
Mimosen stehen auf dem Tisch. Die ganze vorige Woche habe ich 
mich an einem achtköpfigen Rosenbündel gelabt. Man muß ein 
wenig reine Natur sehen, wenn das Komplizierte und der Verfall 
einen schwindlich gemacht haben. Oft erfreut mich schon ein Hund 
oder unser großer, langschwänziger Hauskater. Jetzt schnell mein 
Abendbrot und dann geht es von 7—10 in den Abendakt. 

Anbei ein paar Akte. Es wäre interessant, wenn Ihr Euch als 
Gegenstück die Berliner Akte vom Boden holen wolltet. Ihr werdet 
linden, daß alles mehr an der richtigen Stelle sitzt, überhaupt 
mehr drin ist. 

Hier saß der Frühling schon in jedem Strauch, er lag in der 
Luft und dem Menschen im Herzen. Die Pariser scheinen Auf- 
lassung für den Frühling zu haben. Wenn man mittags aus der 
Schule kam, herrschte allgemeine Freudigkeit auf der Straße. Die 
hat sich nun wieder verzogen und hinter Winterjacken und Pelze 
versteckt. 


Briefe und Tagebuchblätter. 301 


Aber den vorigen sonnigen Sonntag verlebte ich mit Klara 
Westhoff in Joinville. Da lag die Marne breit und groß in ihrem 
Bett und spielte um die Füße der alten ernsten Pappelriesen. Oben 
in den Bäumen aber sang und zwitscherte es. Der Frühling kommt 
hier in einem berauschenden Überfluß. Er nahm uns ganz ge- 
langen und wir sagten und sangen all unsre deutschen lieben 
Frühlingslieder. 

Dicht an dem Fluß hin strecken sich alte verwunschene Gärten, 
über deren graues Gemäuer der blaubeerige Efeu quillt. Drinnen 
im Grün versteckt schimmert es von efeuumrankten Vasen aus der 
Zeit der Ludwige. Es ist ein eigenartiger Eindruck so nahe der 
grogen Stadt diese üppige Wildnis. 

Paris ist seinen Bewohnern gleich. Neben maßloser Ver- 
dorbenheit eine kindliche Freude am Leben, ein Sichgehenlassen, 
wie es die Natur am liebsten hat, ohne viel zu fragen, ob es gut 
oder schlecht ist. Wir Deutschen können schon darum nicht so 
viel aussitzen als die Franzosen, weil wir hinterher an unserm 
moralischen Katzenjammer zu Grunde gehen würden. Den scheinen 
die Leute hier nicht zu kennen. Sie beginnen mit jedem Tag ein 
neues Leben. Das hat natürlich seine Licht- und Schattenseiten. 


* 
x 


Also ich habe eine Medaille und bin in der Schule ein großes 
Tier geworden. Die vier Professoren haben sie mir zugesprochen. 
Zwar damit, was ich hier in der Schule gelernt habe und noch 
lernen werde, damit hat die Medaille nichts zu tun. Das sitzt viel 
tiefer. Innerlich ist mir aber froh. Ich fühle mich erstarken und 
weiß, daß ich durch den Berg hindurchkomme und über ihn hin- 
weg. Und wenn ich ihn erst hinter mir liegen habe, werce ich 
mich einen Augenblick umschauen und sagen: Das war nicht 
leicht. Wohl werden vor mir neue Berge liegen. Aber das ist ja 
verade cas Leben und dazu hat man seine Kräfte. 

Wie sehr ich diesem Pariser Aufenthalte innerlich dankbar bin! 
Eigentlich ist es nur ein fortgesetztes Worpswede: ein stetes Arbeiten 
und Denken an die Kunst. Aber mir haben sich neue Perspektiven 
aufgetan, Ergänzungen und Erläuterungen zu dem Alten, und ich 


fühle, daß es was wird. Es ist eben auch hier bald Frühling. 
x j * 


Osterferien gibt es hier nicht. Die Welt lebt unentwegt weiter, 
und wer des Sonntags arbeiten will, findet auch des Sonntags auf 
den Akademien ein Modell. ich tue das nie, das ist eins der wenigen 
christlichen Dinge, die mir geblieben sind. Mein Brief war Euch 
auf die Nerven gefallen. I. ieben, ich bin ja doch nicht so! Aber 


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302 Paula Becker-Modersohn: 


das ist eine der charakteristischen Seiten von Paris, das ist die 

Mischung. Reines Gold gibts nicht. Und gerade die Mischung 

als solche zu erfassen, das ist fein. Stark genug sein, den Fehlern 
/ eines Freundes, den Fehlern des Weltalls offen ins Auge zu schau’n, 
| ebenso wie den eigenen Fehlern, — das ist Wahrheit. 


Rodin hat eine Bildhauerschule eingerichtet, die Klara Westhoff Ä 
besucht. Zwar hat sie monatlich nur eine oder zwei Korrekturen = 
von ihm, sonst kommen seine Schüler. Aber sie ist eben ein | 
Mensch, der überall lernt. Sie ist solch kräftige Natur, die alles, | 
was an sie herantritt, ergreift, es unwissentlich dreht und wendet, ; 
bis sie es verwenden kann. Solche Menschen können überhaupt 
nicht unglücklich werden. Was ihr auch zustößt, immer wird es i 
zu ihrem Besten sein. : 

Und wann kriege ich wieder einen Grauen von meiner Mutter? ; 
Du hältst mich kurz, Liebe. Soll ich erst untugendhaft werden? : 
Das ist hier nämlich nicht allzu schwer. 

Wißt Ihr, wenn ich morgens über die Boulevards gehe und : 
die Sonne scheint und es wimmelt von Menschen, dann sage ich 
laut in meinem Herzen zu ihnen: Kinners, so etwas Schönes, wie E 
ich es noch vor mir habe, habt Ihr doch alle miteinander nicht. : 

Und dann liebe ich das Leben sehr! 


x a * 

Am Sonntag hatte ich einen berauschenden Tag mit Klara 
Westhoff. Er endete in Velizy, einem kleinen Dörflein, wo wir in 
einer Frühlingslaube bei Windlicht Postkarten an unsere großen 
Männer schrieben: die Worpsweder, Klinger, Karl Hauptmann. 

Es war eine verzauberte Stimmung, Mondschein über einem 
kleinen Dorisee, das Gutshaus und kleine verfallene Hütten daneben. 
Und aus dieser Dämmerabendluft schimmerten weiße Enten. Dieser i 
Friede und diese Ländlichkeit so nahe der großen Stadt, das ist 
der große Reiz von Paris. 


i 227: * 


| Wir kennen jetzt einen ganzen Schwarm junger deutscher 
Künstler. Mit denen ziehen wir allwöchentlich über Land, tanzen, 
rudern, singen in der Dämmerung deutsche Lieder — sind über- 
haupt deutsch, was hier im Welschlande von Zeit zu Zeit gut tut. 
Es ist ein prächtiger Schlag: zuverlässig, arm und kindlich, sie 
| sind sehr anders als die jungen Franzmänner. 


1 


T pt 


Briefe und Tagebuchblätter. 303 


Wißt Ihr, Barbaren sind wir ja gegen die Franzosen, und ich 
verstehe, daß sie uns als solche empfinden. Aber Kraft und Jugend 
sitzt dahinter. 

Sonnabend und Sonntag waren wir draußen bei Uhlemanns 
in Joinville. Die alte taube Dame denkt nur daran, wie sie andern 
Freude bereiten kann. So wollte sie uns diesmal die Schwelgerei 
eines wirklichen echten Bettes genießen lassen und kochte mit 
eigener, liebevoller Hand für uns. Das genießt man doch sehr 
nach den sieben magern Jahren. Dann haben wir eine schöne 
Ruderfahrt gemacht auf der Marne, über uns blühende Bäume und 
Nachtigallen, denn der Frühling ist hier jetzt mächtig im Gange. 
Und wenn nicht von Zeit zu Zeit ein Lüftlein weht, so wirkt er 
betäubend mit seinen tausendfältigen Düften. 

Kennt ihr Klingers Radierungen: Eine Liebe! Er ist es selber, 
auf mehreren Blättern mit einer reizvollen Frau zusammen inmitten 
eines Übermaßes von blühenden Kastanien. Die Leidenschaft in 
den Blättern, die duftgeschwängerte Luft, das ist französischer 
Frühling. 

Geht man jetzt durch den Jardin du Luxembourg, so sitzt auf 
jeder Bank ein Pärchen und schnäbelt sich. Es ist eine andere 
Schnäbelei als unsre deutsche: lachender, weniger sentimental und 
etwas zerstreut. Es sieht aus, als ob beide Teile schon wieder 
andre Rendez-vous im Sinne hatten. | 


22˙ 


Großartig beherrscht der Montmartre die Stadt. Auf steiler 
Straße zwischen kleinen Häusern steigt man zu ihm hinauf. Alte 
Frauen sitzen vor der Tür und flicken, und die jungen werfen die 
Augen rechts und links, denn hier ist wieder ein Malerviertel. 
Schließlich kommt man auf einen kleinen Markt, die Hühner laufen 
über den Weg. Dann steht man vor der schönen Kirche Sacre 
Coeur, die ernst auf das bunte Paris hinabschaut. Wir betraten 
sie abends halb neun. Es wurde das Abendgebet gesprochen. Hier 
und da ein Lichtlein, der rötliche Schein der ewigen Lampe und 
tiefes Schweigen. 

Wir speisten zu Abend im refectoire unter lauter alten Bet- 
schwestern. Die eine, Valentine, achtzig Jahre alt, mit furchtbaren 
Mienen und Gesten, wollte uns sogar bekehren. Die ist aber auch 
erst fromm geworden, als alles andere nicht mehr ging. Sie fragte 
nach unsern petits noms und wollte uns nie vergessen und liebte 
uns „trotz alledem“, nahm jede unsrer Hände zwischen ihre zwei 
großen, fleischigen, und schlürfte von dannen. 


2 — Ea — ll — A 


304 Paula Becker- Modersohn: Briefe und Tagebuchblätter. 


Vielen Dank für das Geld. Es kam im gegebenen Augenblick. 
Es war eine halbe Stunde vor unsrer Ferientour und Klara Westhoff 
und ich hatten gemeinschaftlich nur zwei Sous in der Tasche. So 
gütig griff das Schicksal ein. 


ii ik 
* 


Also ich bin in der Ausstellung gewesen, dreimal. Sie ist 
noch schöner und lehrreicher, als ich mir gedacht habe, kolossal 
lehrreich. Das Schönste sind die Franzosen: Cottet, Simon, Jean 
Pierre. Die haben miteinander gemeinsam eine ungeheure Tiefe der 
Farbe. Sie schildern die Bretagne. 

Wir Deutschen stehen daneben etwas spießbürgerlich und 
philisterhaft. Viel Begeisterung und Eifer und zu wenig Studium. 

Den Cottet habe ich besucht. Ein feiner, rothaariger, rot- 
bärtiger, urgesunder Mensch, voll tiefer Empfindung. Als er ein- 
mal an mein Pförtlein klopfte, war ich leider nicht zu Hause, 
sondern fand nur sein Autogramm. 

Wißt Ihr, die paar französischen Großen sind ganz ohne 
Konvention. Sie wagen naiv zu sehen. Man kann kolossal von 
ihnen lernen. 

Es ist wunderbar, wie ich jetzt Land und Leute mit andern 
Augen betrachte. Abends im Akt wissen die Französlein vor 
Frühlingsgefühl und Frühlingsübermut gar nicht mehr wohin und 
singen ein chanson nach dem andern. Sie sind Champagner. Nur 
werden sie auch so leicht schal. 

(Schluß folgt.) 


305 
Otto Flake: Aus vier Wochen. 


ine deutsche Neigung, der man in dieser Stadt Berlin, in der so viel 

Stellung genommen und gedacht wird, jeden Tag begegnen kann, ja die 

deutsche Grundneigung besteht darin, dal} man einen zu großen, sirius- 
haften, absoluten Maßstab an den Tag, die Bedürfnisse und Leistungen des Tages 
anlegt. Der Deutsche ist von einer beispiellosen Kritik alle dem gegenüber. 
was den kleinen Schritt bedeutet. Er trägt eine geniale und doch verhängnis- 
volle Liebe zur Ewigkeitsleistung in sich. Jeder ist mit dieser Atmosphäre 
nicht nur durchtränkt, sondern auch noch auf einen Meter im Umkreis um— 
geben, und deswegen gelingt es so selten, mehrere oder viele oder gar alle 
Menschen der Nation in eine gemeinsame Atmosphäre einzuhüllen. Deswegen 
sind wir keine Politiker, die sich mit Lust und restloser Hingabe in den 
Augenblick stürzen; deswegen sind wir gesellschaftlich steif und so schwer 
für einen Abend harmlos, beweglich, Leute unter Leuten, sondern schielen 
imnier über die Köpfe hinweg zur Tür, durch die wir nachher treten werden, 
um wieder allein zu sein. Und doch ist dieser Zustand lächerlich, weil er 
so unpraktisch ist: man existiert doch nur einmal und soll von der Ver- 
gangenheit nicht mehr wissen, als daß sie uns hervorgebracht hat, und von 
der Zukunft nicht mehr, als daß sie sich von selbst ergeben wird, wenn wir 
an der Gegenwart arbeiten. 

Man sehe die unvergleichliche Kontinuierlichkeit des französischen 
Lebens: die Väter, die Lebenden, die Enkel, das stellt sich jeder frisch und 
klug in den Vordergrund und bringt so spielend den großen Zusammenhang 
zustande, während wir uns immer damit abmühen, eine Stabilität zu kon- 
struieren, gerade weil wir nie ganz bei der Sache des Alltags sind, sondern 
iınmer eine letzte Zurückhaltung üben — einem Begriff des Höchsten zuliebe, 
der uns nicht gelohnt wird. Ich traf hier einen Mann, der an der Spitze der 
deutschen Weltproduktion steht und außerdem inı Besitz der selbständigsten 
und umfassenden Innenkultur ist. Er hat sich, „angewidert von den Halb- 
heiten unserer Literatur und Kunst“, zurückgezogen in eine hohe Landschaft, 
deren Gipfel Homer, Aeschylus, Dante, Goethe und so weiter heißen. Es ist 
ein typischer deutscher Ausweg, den dieser Mann gefunden hat. In Paris 
macht niemandem die Frage das Herz schwer, ob Goncourt und Bourget, an 
den absoluten Repräsentanten der Menschheit gemessen, standhalten; Goncourt 
und Bourget und sie alle waren da, brachten ihre Zeit zum Ausdruck und 
förderten jenes Verständnis, das da drüben bei unseren Nachbarn jedem 
Jungen zuteil wird, der einen Schritt weitergeht, der sein Recht auf Dasein 
vertritt. | 

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Der Umstand, daß bei uns dagegen sich noch immer keine Literatur- 
atmosphäre bilden kann, hat zur Folge, daß Literaten, die sich bemühten, sie 
zu schaffen, immer im Verlaufe ihres Lebens an einen Punkt kommen, wo 
sie sich abwerfen lassen und sich selbst aufgeben. Denn sie können sich auf 
die Dauer dem geheimen hohen Maßstab, an dem bei uns alles gemessen 
wird, nicht entziehen. Sie beginnen entweder selbst an ihn zu glauben und 
fühlen sich unglücklich — wer hielte durch, wenn man ihn nicht gelten läßt? — 
oder sie sind unehrlicher und suchen zu erzwingen, was ihnen versagt wird. 
Sie verlieren den Halt, werden nervös und versuchen es mit einer gehetzten 
Geistreichigkeit, die nun erst unfruchtbar wirkt. 


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306 Otto Flake: 


Ich wehre mich dagegen, denen beizustimmen, die in Alfred Kerr einen 
Beweis für diese Tatsache sehen wollen und behaupten: man kann sich in 
Deutschland keine dauernde Stellung als Kritiker schaffen, auch bei Kerr 
pochte das Gespenst des produktiven Menschen an und verwandelte sich in 
einen Alp; der Verfasser des Neuen Dramas, das für uns alle ein Grund- 
buch war, ist in Gefahr, ein wenig einheitlicher und wenig geschickter 
Glossator zu werden. — Ich will hier nur erwähnen, daß Kerr jüngst etwas 
geschrieben hat, was ihm viele verdenken: eine Kritik der Fiorenza von 
Thomas Mann. Eine Kritik, die in ihrer durcnkomponierten Bosheit un- 
gerecht ist, weil Thomas Mann über sein mühevolles Schaffen nie einen 
Zweifel gelassen hat. Mann erzählt in seiner neusten Novelle „Der Tod in 
Venedig“ von der Selbstzucht, die es ihn, einen nicht stark Konstitutierten, 
kostet, um seinen Nerven die Sätze und Seiten seiner Werke abzuringen. Er 
ist. kein lachender Siegfried, aber er ist ein ehrlicher Mensch, der sich nicht 
selbst aufgibt, sondern sich eine Lebensaufgabe vorgesetzt hat und sie durch- 
führt. Kerr redet hohnvoll von dem Körperteil, dem Mann seinen Erfolg 
verdankt. Wie billig und wie ungerecht von einem Kritiker, der Über- 
menschliches geleistet hat, so oft es galt, die Schwächen, das Fragmentarische 
eines anderen, Gerhart Hauptmanns, zu verdecken und hinwegzudisputieren — 
mit einer Liebe und eineni Verstehen wollen, die etwas Grandioses hatten, 
aber auch zu einen Vergleich herausfordern. Thomas Mann ist wahrlich 
weder ein Schmock, noch ein Poseur, hätte also Anspruch auf Gerechtigkeit, 
wenn ihm die Freundschaft versagt wird. 


* * 
x 


Man sprach in einer Gesellschaft von den Vorträgen, die Meier-Graefe 
und Osborn über die neuesten Phasen der Kubisten und Futuristen und die 
Direktionslosigkeit unserer Kultur gehalten haben. Es fehlt uns ein deutscher 
Ruskin, sagte jemand, und nun erörterte man, welche Eigenschaften ein solcher 
Praeceptor Germaniae nötig hätte. Es ist klar, daß wir einen Moralisten 
nicht brauchen könnten, sondern einen universalen, einen wahrhaft deutschen 
Versteher. Er müßte, erstens, so sehr Deutscher sein, daß er, sei es histo- 
risch, sei es seelisch, noch einmal allen Bedürfnissen der deutschen Rasse 
nachgeben könnte, die zu dem ästhetisch-philosophischen System unserer 
Klassiker geführt haben, und er müßte, zweitens, so sinnlich, so formal sein 
können, daß er sich doch entschieden mit einer grundsätzlichen Gerechtigkeit 
auf die Seite unserer Literaten und Experimentierer stellt, Selbst wenn sie von 
Goethe nicht viel wissen wollen, weil sie den letzten Rest von absoluten 
Standpunkten von sich geworfen haben. i 

Man darf ihre Verachtung der Ruhe und der. Distanz nicht mit einem 
Achselzucken abtun; unsere Lebensverhältnisse haben ich seit dem Deutschland 
der Klassiker geändert, an Stelle der beschaulichen Kleinbürgerlichkeit ist die 
Hast, die Hetze, die soziale Unerbittlichkeit der Großstädte getreten; die Er- 
kenntnis, daß jede Existenz nur ein Zufall, ein bedingtes, abhängiges, rein 
irdisches Wesen darstellt, ist an die Stelle getreten. Selbstzerstörer wie 
Verlaine, wie Rimbaud, wie Strindberg, wie Wedekind, wie Kleist wären 
oder waren dem alten Goethe ein Greuel, aber in Wirklichkeit repräsentieren 
sie nicht nur den ewigen Fluß des Lebens, das nie stillsteht, sie repräsentieren 
auch die viel heftigere, distanzlosere Energie, mit der die Fragen angegriffen 
werden wollen, soll eine neue Ausgeglichenheit zustande kommen. Ein 


Aus vier Wochen. 307 


Shakespeare der Zukunft wird von ihnen allen etwas besitzen, von ihren 
Grellheiten, Verzerrtheiten, ihrem Untertauchen in die Wogen des Lebens, 
von ihrer demokratischen Gleichgültigkeit dagegen, wie diese Wellen gefärbt 
und verfärbt sind. 
* a. 
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Es steht im Leben auf alleni eine Strafe, auch auf dem Dichten. Jener 
Hegelianismus, der keine historische Schule, sondern eine an keine Zeit ge- 
bundene Charaktereigenschaft ist, wird auch das gut finden, und von dem 
inneren Ausgleich reden. Und ich gestehe, daß ich mich bisweilen ganz gern 
auf seine Seite stelle, z.B. wenn ich an Sudermann denke, dessen „Guter 
Ruf“ wie ein Skandal, wie eine Katastrophe gewirkt hat. Es ist Buße, es ist 
innere Gerechtigkeit, daß an den Ruhm, Sudermann zu sein, wenigstens einer 
nicht glauben kann, Sudermann selbst. Man stelle sich, vorausgesetzt natür- 
lich, daß er nicht einfach ein verlogener Bursche ist, den Gemütszustand vor, 
in dem sich seit zwanzig Jahren Herr Sudermann befindet. Der Ehrgeiz, 
nicht nur von Frauen, denen ein Walzer von Lehär und eine Kußszene von 
Recznizek das Köpfchen verwirrt, als Held dazustehn, sondern auch die ernste 
Kritik und die strengen Kulturwärter zu erobern, ist eine Hölle; auch um 
Kitsch zu machen, genügt es nicht, sich an den Schreibtisch zu setzen, man 
muß seinen ganzen Willen anstrengen, und im Grunde gibt jeder, was er 
kann. Selbst ein Sudermann muß sich Mut abringen, Beklemmungen ab- 
schütteln und die geheime Vorarbeit voll auf sich nehmen, die das Schwerste 
und Wichtigste am Produzieren ist: mit sich selber in Einklang zu kommen. 
Vielleicht wüßte er ein Lied zu singen, wenn auch einmal die Schriftsteller 
eine Warnung vor ihrem Berufe erließen, wie wir sie von Zeit zu Zeit von 
Ärzten und anderen lesen. Es gibt kein größeres Lotteriespiel als das 
Dichten. Der Aufwand von Energie, von Entsagungsfähigkeit, von Hoffnung 
und Zähigkeit ist ungeheuerlich, und selbst wenn sich der äußere Eriolg ein- 
stellt, beginnt erst das Zersetzende, das Verlangen nach Ewigkeit, nach 
Größe, nach hoher Kunst. Und je weiter man sich hineinarbeitet, desto aus- 
sichtsloser wird der Fall, man kann nicht vorwärts und nicht rückwärts, man 
kann sich nicht mehr auslöschen und doch der Welt nicht aufzwingen — 
man trägt sein Schicksal. 


308 


Wilhelm Hausenstein: Die Puppen. 


as Marionettentheater leistet das Unglaubliche: die Rechtfertigung 

der Romantik. Das Absurde der Romantik lag in der wirklichen 

Verbindung des Überschwänglichen mit den Banalitäten, in denen 

wir leben. Das Feierliche erschien mit dem verrückten Anspruch aui Natür- 

lichkeit. Das Natürliche wollte sich in natura zum Ungewöhnlichen hinaus 
heben. Der Zirkel sollte viereckig, das Viereck rund sein. 

Das sogenannte große Theater hali sich auf die bequemste Art der 
Welt: es strich die Romantik und entwickelte aus dem Banalen einen Stil, 
der den Namen des Stils mitunter schwerlich verdiente — oder es strich die 
Wirklichkeit und entwickelte einen besonderen Stil aus dem Erhabenen, der 
von Mißtrauen und Hohngelächter verfolgt wurde, weil er, so oft er die 
reine Außergewöhnlichkeit bewunderte, einem Geschlecht naturwissenschah- 
licher Sachenmenschen als eine Sünde wider den heiligen Geist der Aul- 
klärung erschien und weil er, wenn er sich mit den berlinischen Wirklich- 
keiten von 1890 versippen wollte, so lächerlich aussah wie ein mythologisch 
glänzendes Flügelpaar an einem zusammengeschundenen Fiakergaul. Kurzunı 
Wirklichkeit und Aufschwung gingen nicht zusammen. Sachlichkeit 
und Enthusiasmus, Realität und Religion, Zivilisation und Romantik, Thackerav 
und Delacroix — Sancho Pansa und Don Quichote hoben einander auf. 

Rettung war nur möglich, wenn sich Realismus und Romantik, Gegen- 
ständlichkeit und Dichtung auf das Gemeinsame besannen. Sie mußten sich 
daran erinnern, dal) sie schließlich beide Form sind. Sie mußten ihre natür- 
liche Stofflichkeit zu Gunsten der geformten Gestalt aufgeben. Die Dialektik 
des Realismus und der Romantik mußte sich aus einer Dialektik der unver- 
söhnlichen Inhalte zu einer Dialektik vrrschiedener formaler Kräfte entwickeln. 
Von da aus war Neues zu hoffen. 

Die Aufhebung der peinlichen stofflichen Dialektik war aber nur der 
Puppe möglich. Sie allein konnte die Fülle der Kunst befreien. 

Wenn wir die Puppe aber kennen lernen wollen, dann sollen wir nich! 
zu ihren literarischen und ästhetischen Gevattern gehen. Nicht einmal zu 
Maeterlinck; eher zu Pocci und noch eher dahin, wo die Puppe ganz gewil 
statt aller ästhetischen Fiktion das ganz wirkliche Kind eines dichtenden 
plebejischen Volksgeistes ist: zum richtigen Guignol. Formulieren heißt nich! 
notwendig so viel wie literarisch sein. Es gibt eine formulierende Distanz 
der urkräftigsten Naivität eines versammelten Volksgeistes. Und diese Distanz 
von den Dingen ist besser als alles, denn sie ist eine objektive Tatsache, 
wo Distanz des Ästheten ein durch subjektives Selbstbewußtsein abgesch wächter 
Behelf ist. 

Ahnungslose Kraftbiederleute, die deutsch heißen, halten Meier-Graefe 
bekanntlich so sehr für einen Ästheten, als sie es heimlich gern selber sein 
möchten. Nun ist er ungefähr das direkteste Gegenteil eines Astheten. Er 
nimmt die Kunst fast wie ein Junker ein Rassepferd: mit dem spontanen 
Schariblick und mit dem starken Schenkeldruck des Vollblütigen, dem es 
nicht einfällt, Kultur und Kunst in wehmütiger Ergriffenheit anzubeten. Wie 
die Alten, die geneigt waren, im Meister des Kunstwerks eher einen Banausos 
als einen Gott zu sehen, empfängt er in der Kunst das schönste Lebensmittel 
seiner Menschlichkeit. 


Die Puppen. 309 


Soeben brachte Meier-Graefe seine Nachdichtung einer romantischen 
neapolitanischen Puppenkomödie heraus, die ein Volksgedicht gewesen ist 
trotz einem Homer und einem Nibelungenlied.“) Wer ihn nicht kennt, muß 
ihn hier begreifen. Er fordert nicht dünnblütige Kunstgebete und auch keine 
gar pädagogische Kunst- und Kulturkinderwärterei. Er verlangt, daß das 
Handwerk der Kunst den zuschauenden Herrn ergötze, wie das Publikum ini 
Teatro Stella Cerere zu Neapel erwartete, vom rasenden Roland und der 
schönen, zuweilen auch ergötzlich nackichten Angelica wie ein Seigneur mit 
Kunst bedient zu werden, und wie dies Publikum sogar dem großen Kaiser 
Karl, deni wilden Ferrau von Spanien und allen Paladinen aus Paris die 
Kunst auf den Leib kommandierte, die es haben wollte. Kunstbegeisterung, 
liebe Zeitgenossen, ist ein mittelmäßiger literarischer Ersatz für ein richtiges 
pantagruelisches Vergniigen. 

Wir erwachsene Besucher erwachsener Theater sind mit Vergunst ehr- 
fürchtige Simpel. Wir lassen es uns höchst undemokratisch gefallen, daß uns 
die Logik des Dramas beherrsche. Was geht uns aber die aristotelische 
Philologenangst vor der Logik der Sachen an? Das Publikum vom Teatro 
Stella Cerere wußte nichts von dieser ästhetisch submissesten Professoren- 
ordnung unter die verschiedenen Einheiten und allerlei andere Unver- 
schämtheiten dramatischer Sächlichkeiten. Es setzte vielmehr den Dingen die 
herrschaftlich dichtende Unverschämtheit des Publikums gegenüber. Und 
Personen, Dinge, Ereignisse, Szenen wurden zu Puppen in den Händen der 
bildnerischen Willkür des göttlichen Demos. 

Diese Willkür ist aber viel gerechter, viel logischer als der berühmte 
Gang der Handlung mit seinem Objektivitätsdünkel. Welch ein künstlerisches 
Gleichgewicht in diesem Marionettenspiel von Orlando und Angelica! Die 
heroische Exzentrizität purzelt mit irgendeinem ausgerutschten Ausdruck 
wieder in die Niederung der erreichbaren irdischen Möglichkeiten. Die 
heldische Gemütsmetaphysik verwandelt sich unversehends in eine neapoli- 
tanische Hafenzote. Die ganze Weltgeschichte von Hektor und Astyanax an 
wird durch die tollste aller Tarasconaden zum Familienleben des Kaisers 
Carolus, und er selber wird als „Onkel Karl“ zum Spezl aller neapolitanischen 
Lazzaroni. Kann man poetischer gerecht sein? Kann eine Dramaturgie die 
Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit gründlicher respektieren? Was ist 
die Logik der Dinge, vor der sich das unentwegt natürliche Zeitalter des 
Herrn Du-Bois-Rey mond theologischer als alle Theologen beugte, wenn er 
erklärte, daß seinen morphologisch geschulten Geist eine Sphinx ästhetisch 
unerträglich sei — was ist die Logik der unerbittlichsten Deszendenztheorie, 
der unbarmherzigsten Gravitationslehre, der grausanısten Kosmogonie mit allen 
ihren Nebelflecken gegen die göttliche Frechheit des dichtenden Demos, wenn 
er darauf pfeift? 

Hier sind die Dinge auf ihre rein formale Vergnüglichkeit gebracht. 
Es leben die Formen; sie sind es, die renommiieren, und sie sind. es, die sich 
gegenseitig ironisieren und totschlagen und umarmen. Sie sind es, die den 
Launen des dichtenden Demos parieren; und durch sie beherrscht er die Welt. 

Was wollen wir erhabene Dichtung? Hier ist sie. Was wollen wir 
Romantik? Was Naturalismus? Hier sind sie beide und raufen so trefflich. 
daß man bekennen muß: man habe nie so konzentrierte Kunst gesehen. 


0) Juhus Meier-Graefe und Erich Klossowski: Orlando und Angelica. Berlin, Paul Caaalrer, 
40 Mark. Yorsugsausgaben zu 300, 800 und 1000 Mark. 


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310 Wilhelm Hausenstein: Die Puppen. 


Ich wüßte auch nicht, ob sich etwas künstlerisch Reineres denken ließe 
als das, was in den glänzenden Illustrationen Klossowskis an prinzipiellem 
Wert enthalten ist. Diese Blätter spielen die Spiele der Farbe, des Lichts, 
der hochbarocken Bauschungen, der gestenhaft quirlenden Linien. Sie sind 
so abstrakt wie möglich: so abstrakt wie die lithographische Kurve bei 
Daumier. Das sagt schon, daß sie viel schöner sind als Slevogts Litho- 
graphien mit dem etwas aufgelegten impressionistischen Tric. Sie sind 
restlos zum reinen Ansichsein gesteigerte künstlerische Gebärden. Nicht 
weil diese Lithogramme Puppen darstellen, sondern weil sie selber als 
Form, als Farbe Puppen sind. Sie leben von dem Imperativ des 
Künstlers, als sein sehr erquickliches Spielzeug. Es ist nicht Zufall, 
daß man bei ihnen just an Callots hochiormale, ganz in zeichnerischen 
Geist übersetzte Capricci in den Uffizien denken muß und dann an Watteaus 
ballethaft springende Kavalier zeichnungen im Louvre. Mein sehr seriöser 
Leser, glaubst du noch an Rousseau und an die Rückkehr zur Natur? Glaubst 
du noch an Darwin? Du bist gefoppt. Nicht der natürliche Mensch ist aus- 
erwählt. Auserwählt ist nur die Puppe. Nicht die Kunst ist die Freude des 
Menschen, die sich mit Ergebenheit in die Dinge bemüht, natürlich auszu- 
sehen, sondern die andere, die unnatürlich ist: die Kunst als Puppe. Nur als 
Marionetten unserer Hand gehören die Schönheiten der Dinge uns; nur als 
Marionetten gehören wir uns Schöpfern selber. Nur als Marionetten haben 
wir die greifbaren Späße und die greifbare Verzweiflung. Alles, was nicht 
Marionette ist, ist Hilflosigkeit, ist Phrase. Darum: es lebe das aktuellste 
künstlerische Principium — es lebe die Puppe! 


Innen und Außen. 


Ein Mensch, der sehr viele Seelen besitzt, gelangt leicht vor lauter inneren 
Erlebnissen zu keinem Erleben. 
* * 
* 
Die psychopathische Erotomanie eines großen Teiles unserer Literatur er- 
innert an eine Gesellschaft von Greisen, die Histörchen erzählend bei einander 
hockt. So täuscht man sich über den Mangel an Positivem fort. 


* * 
* 
Es kommt gar nicht darauf an, einen neuen Gedanken zu denken. Wie 
wäre denn dergleichen überhaupt möglich! Aber einen ane neu denken. 
das ist die große Kunst der Wenigen. 


* Br 
* 


Man darf in seinen nächtlichen Träumen nicht allzu oft König oder Millionär 
sein, sonst verlernt man das rechtzeitige Zugreifen im wirklichen Leben. 
Lothar Brieger-Wasservogel. 


311 
Politische Rundschau. 


ie Liquidation der europäischen Türkei ist mit dem Streit um Adrianopel 

auf einen toten Punkt gelangt; auch der aus dem Aufflammen des 

soldatischen Ehrgefühls geborene Putsch Enver Beys wird daran kaum 
etwas ändern, schwerlich wird Krieg um des Besitzes von Adrianopel willen wieder 
entbrennen. Eine Neuorientierung der Großmächte hat sich noch nicht vollzogen. 
Tastende Annäherungsversuche Rußlands an Deutschland, keine Lösung, aber 
ein fühlbares Erkalten der Beziehungen der Mächte der Triple-Entente einerseits 
und andererseits ein näheres Aneinanderrücken der Dreibundmächte. 

Mit Marschall und Kiderlen-Wächter sind zwei Männer dahingesunken, 
von denen viel erhofft, aber letzten Endes nicht viel erreicht ist, ob mit oder 
ohne ihre Schuld, das kann erst die Zukunft aufklären. Beide gehörten dem 
kleinen Machtzentrum des konservativen preußischen Adelsverbandes nicht 
an, beide, vor allem aber Marschall, haben mit diesen Kräften nicht immer 
erfolgreich zu ringen gehabt. 

Solche Hemmungen hat der neue Staatssekretär des suain Amtes, 
v. Jagow, nicht zu erwarten; wenn er die besten Eigenschaften des Preußen- 
tums: Nüchternheit, Festigkeit und wenn es sein muß, Tapferkeit beweist, 
soll er uns recht sein. 

In diesem Augenblick äußerer Entspannung darf sich unser Blick auf 
das Gebiet der inneren Politik, die deutsche Parteipolitik richten. In diesem 
Gegensatz der deutschen Parteipolitik zur äußeren Politik ist gleich auf die 
erste und merkwürdigste Eigenart unseres Parteiwesens hingewiesen; keine 
deutsche Partei hat ein Programm der äußeren Politik. Äußere Politik ist 
innerpolitisches Demonstrationsobjekt, um die Herrlichkeit der eigenen Partei- 
politik in erfreulichen Gegensatz zu den stets mangelhaften Leistungen der 
Regierungen zu stellen, oder das Mittel, die nationale Saite vibrieren zu 
lassen, und die Bereitwilligkeit, die „notwendigen Rüstungen“ zu bewilligen, 
in rauschenden Wählerversammlungen in tönenden Worten zu proklamieren. 

Politik ist Zielsetzung. Unsere Parteien setzen sich keine Ziele der 
auswärtigen Politik. In den grohen Zeiten des nationalen Liberalismus, da gab es 
solche Ziele der auswärtigen Politik, da hat Paul de Lagarde, der radikal- 
konservativ sein wollte, die germanische Besiedelung der Donauländer ge- 
fordert und Friedrich List eine deutsche Orientpolitik, und auch die nationale 
Einheit war für einen Bennigsen notwendigerweise ein Ziel der auswärtigen 
Politik seines Staates, und so erging es allen den über die Grenzen ihres 
engeren Heimatstaates hinausblickenden nationalen Politikern. 

Die Schaffung der ersten deutschen Flotte war nicht als Belustigung 
für Stunden der patriotischen Wallung gedacht, mit ihr wollte man zunächst 
den Dänen zu Leibe gehen, und wenn England den berüchtigten Entschluß 
proklamierte, die Piratenflagge nicht dulden zu wollen, so geschah das nicht, 
um spätere deutsche Geschlechter über die angetane Schmach ergrimmen zu 
lassen, sondern um die Ansätze einer deutschen Seemacht beizeiten zu zer- 
stören. Das bedeutete viel eher eine Anerkennung als eine verliöhnung der 
deutschen Macht. 

So wenig greifbare Aufgaben der auswärtigen Politik die deutschen 
politischen Parteien sich stellen, um so mehr sind sie von außerdeutschen 
Verhältnissen und Problemen orientiert. 

Die sozialdemokratische Doktrin ist durchaus französisches Gewächs, 
der lateinische Absolutismus für das Proletariat angerichtet, auch darin die 
französische Küche verratend, daß das Gericht mit der üblichen Sauce von 


312 Politische Rundschau. 


Weltbeglückungsphrasen serviert wird. Französisch ist auch die in Deutsch- 
land bisher ungewohnte Art, seine politischen Tiraden in einem Fieber des 
Hasses vorzutragen, wie das in jedem sozialdemokratischen Blatt, von 
jedem Agitator geschieht: die Aufpeitschung der Massen. Verbreitung konnte 
diese Lehre in Deutschland allerdings erst erlangen, nachdem Karl Marx sie 
auf den Boden des historischen Materialismus gestellt hatte. Ein Materialis- 
mus, der historisch, selbstverständlich auch philosophisch, nicht minder auf 
Verlangen ethisch war — der mußte was sein. 

Karl Marx ist einer der wirklich großen Irrlichter der Menschheit ge- 
wesen, auf den wohl überhaupt die ganze Richtung der Behandlung unserer 
Volkswirtschaft zurückgeht, sie nicht entweder „exakt“ auf Grund von Tat 
sachen-Beobachtung und Würdigung, oder politisch als praktische Maßnahme 
zu behandeln, sondern als ein Anwendungsgebiet der spekulativen Philosophie. 

Freilich, den „dialektischen Prozeß“ in der Welt des wirtschaftlichen 
Geschehens aufzuspüren — nachzuweisen nennt man das natürlich, ist der 
sozialdemokratischen Lehre vorbehalten geblieben. 

Da auf irrationaler Grundlage aber nichts sein und werden kann, so 
muß die sozialdemokratische Sekte alle selbständigen volkswirtschaſtlich ver- 
anlagten Köpfe ausscheiden und deshalb vollzieht sich das je nach dem 
Jefühlsstandpunkt komische oder traurige Schauspiel, daß alle brauchbaren 
Leute hinausgeworfen werden, den Calwer, Schippel, Hildenbrand werden 
andere folgen! Die Volkswirtschaftslehre der Halbbildung muß rein erhalten 
werden. 

Die Stärke und damit auch die Zukunft dieser Bewegung beruht allein 
auf ihrer Organisation, die es vermocht hat, die Entstehung eines politischen 
Proletariats, d.h. einer politisch abhängigen Wählermasse für Zwecke selbst- 
süchtiger politischer Interessengruppen zu verhindern, dem Lohnarbeiter das 
Gefühl und die Möglichkeit zu retten, nicht Objekt, sondern Subjekt der Ge- 
seizgebung zu sein. 

Die Bekämpfung der Sozialdemokratie geht nicht durch eine Ver- 
stärkung der Bureaukratie, wie die Regierung Bethmann Hollwegs offenbar 
meint, nicht durch eine Konzentration des Bürgertums gegen die Arbeiter- 
schaft, sondern lediglich durch Offenhaltung jeder Möglichkeit des Aufstiegs 
der Arbeiterschaft als solcher und jeder in ihr sich regenden individuellen 
Intelligenz. Die sozialdemokratische Bewegung wird die Grundfesten unseres 
Staates nicht erschüttern, unsere nationale Zukunft nicht, wie die Engländer 
bisher immer, bis ihnen selbst die sozialistische Faust im Nacken saß, hofften, 
untergraben, wenn — nun wenn keine Dummheiten gemacht werden, d.h. 
wenn weder vor ihr kapituliert, noch von oben gestaatsstreichelt wird. 

Daß die in Deutschland entstehende Industriearbeiterschaft sich politisch 
nicht national zu orientieren vermochte, ist fraglos dem Mangel führender 
Persönlichkeiten zuzuschreiben. Lassalle und Schweitzer wollten diese 
Richtung und zu ihnen wird die Entwicklung später einmal wieder zurück- 
kehren, wenn ein führender Geist in der Sozialdemokratie aufsteht — freilich 
kein Revisionist, der ins Mauseloch kriecht, wenn einer seiner Freunde auf 
dem Parteitag zu dem permanenten, aber erfreulicherweise kalten Scheiter- 
haufen geschleppt wird. 

Daß eine aufkommende politische Bewegung sich nach einem aus- 
ländischen Vorbild zunächst orientiert, ist kein Fehler, auch das mit dem 
Liberalismus in die politische Arena eintretende Bürgertum blickte auf das 
Ausland, vorwiegend auf England. Der ältere bremische Liberalismus war 


Politische Rundschau. 313 


insbesondere von wirtschaftlichen und politischen Idealen nach dem englischen 
Vorbild erfüllt, gedieh doch der hanseatische Überseehandel nur im Schatten 
des: englischen, fürchtete man doch, in der politischen Entwicklung eine 
Lähmung durch binnenländischen Bureaukratismus — nur so ist das Ver- 
halten Bremens dem Zollverein gegenüber erklärlich, das uns heute so selt- 
sam anmutet. 

Die im „Freisinn“ und „Fortschritt“ zur Geltung gekommene Richtung 
des deutschen Liberalismus hat bei allem proteusartigen Verschwinden und 
Wiederauftauchen in Parteigruppen sonder Zahl doch immer das Gesicht 
englischer und damit leider deutscher Ideologie getragen, sein Blick haftete 
wirtschaftspolitisch an dem Idol des Freihandels, politisch an dem des Par- 
lamentarismus, der Volksherrschaft nach englischem Muster. 

Das deutsche Staatsleben aber wird durch die Existenz einer von der 
Partei grundsätzlich — wenn auch nicht. immer tatsächlich — unabhängigen 
Regierung bestimmt, die auf den festen Boden der Monarchie, besser und 
richtiger des deutschen Königtums gestellt ist. 

Eine deutsche politische Partei, die diesen grundsätzlichen Charakter 
des deutschen Staatslebens nicht sehen kann, oder nicht anerkennen will, ist 
zum ewigen Protest, zur Machtlosigkeit verurteilt, sie kann die unzufriedenen 
Elemente außerhalb der Sozialdemokratie aufsammeln und dadurch große 
Stimmenzahlen registrieren, praktischer Einfluß ist ihr versagt. Der Teil des 
Liberalismus, der auf den Boden unseres deutschen Staatslebens bewußt sich 
stellt und die mühsame Aufgabe, dem deutschen in Handel, Industrie und 
Wissenschaft stürmisch vorwärtsmarschierenden Bürgertum die ihm ge- 
bührende Berechtigung zu erkämpfen, lösen will, ist ihm ein Greuel. 

Zwischen der riesenhaften Sozialdemokratie und den starken Mächten 
eines aus der alten bureaukratischen und feudalistischen Verfassung der 
deutschen Einzelstaaten erwachsenen Konservatismus einerseits und dem 
auf konfessionellen Mißbrauch des katholischen Volksteils aufgebauten Zentrum 
andererseits könnte nur ein unbedingt auf den Boden der durch die Ver- 
fassung geschaffenen neudeutschen Ordnung der Dinge geschlossener Li- 
beralismus sich durchsetzen. Diesen Liberalismus nicht zur Entstehung ge- 
langen zu lassen durch Schürung jeglichen Haders in seinen Reihen, haben 
seine Feinde allzeit vortrefflich verstanden. 

In dieser verworrenen Lage der deutschen Parteipolitik versagt ein 
Element gänzlich — die Gebildeten. In welchem Maße diese Klasse un- 
politisch ist, ist einfach ein Skandal, jede englische Dame versteht mehr von 
Politik, als der durchschnittliche deutsche Bildungsphilister. In diesem Ver- 
sagen der Gebildeten ruht der Grund unserer politischen Rückständigkeit 
und in letzter Linie auch der des Versagens unserer äußeren Politik; wer von 
ihnen steht heute nach dem schönen Wort Fichtes „aufhorchend, ob ihn der 
Strom lebendigen Lebens ergreifen werde, das Nichtige entschieden fallen 
lassend.“ 

Sauer sehen und besser wissen hat noch kein Volk vorwärts gebracht, 
nicht die liberale Parole: leben und leben lassen, sondern sich „leben lassen“, 
dem Leben der Nation und ihren Kämpfen nicht als ein Nachtwandler oder 
höhnischer Beurteiler gegenüberstehen, sondern die Geschicke der Nation 
als die eigenen empfinden, die nationale Ehre als die eigene, das nationale 
Interesse als das eigene! Nicht von der Einführung von Gefrierfleisch und 
Aufhebung aller indirekten Steuern — nein, Verzeihung, ihrem „Abbau“ — 
hängt unsere Zukunft ab, sondern von der Überwindung des politischen 


„ . 


— 


314 Politische Rundschau. 


denk- und schaffensfaulen Philistertums unserer so unendlich hochstehenden 
„gebildeten Schichten.“ 

Nicht der Arbeiter, nicht der Bauer und Handwerker und selbstver- 
ständlich nicht der dreimal vermaledeite Junker läßt es so vollständig an sich 
fehlen, als der „geistige Arbeiter“, der seine Spannkraft wohl beim Hürden- 
rennen über die Heckenzäune der Examina verbraucht hat. Goethe soll sich 
einmal über die Bemerkung auf einem alten Stich sehr amüsiert haben, daß 
die Chinesen ein den Deutschen sehr verwandtes Volk seien. 

„Von der Einwirkung der Literaturseuche und der Examina auf die 
politische Urteilsfähigkeit“ wäre kein schlechter Stoff für eine „kritische 
Untersuchung“. Tröstlicherweise wird sie . angestellt werden, weil sie 
gänzlich un wissenschaftlich wäre. 

Hinter diesem Problem aber steht die ernste Tatsache, daß nur ein 
aus politisch unabhängig denkenden und handelnden Einzelnen zusammen- 
gesetzte Nation Aussicht hat, sich in der Welt der Zukunft politisch und 
wirtschaſtlich durchzusetzen. 

England schlägt uns noch heute politisch — nicht wirtschaftlich, wissen- 
schaftlich oder kulturell — weil es auf der politischen Einzelerziehung auf- 
gebaut ist. 

Der einzelne und der Staat ist das Thema der politischen Parteien. 
wenn sie diesen Namen verdienen. Nicht die Auflösung des Staates in einen 
demokratischen Urbrei, noch die Verhärtung des Staates durch bureaukratische 


oder feudalistische Frontstellung gegenüber dem „Volk“, sondern die Er- 


füllung des Staatsbürgers mit dem Gedanken des Staates und des National- 
interesses selber — nur so ist „der Bürger der edelste Stoff.“ 
Bremensis. 


— 


315 


Prof. Dr. Ludwig Fränkel: Süddeutschlands geplante Groß- 
schiffahrtsverbindung und der Anschluß nach Norden. 


politische Thema jüngst bedeutsam behandelt. Auf der ersten großen 

Winterversammlung, die der Württembergische Bezirksverband des 
Verbandes deutscher Diplomingenieure zur Eröffnung einer fortlaufenden Reihe 
von Vortragsabenden aus allen Gebieten der Technik zu Stuttgart hielt, stand 
die Großschiffahrtsverbindung Rhein-Donau und ihre Bedeutung 
auf der Tagesordnung. Die Grundlage der eingehenden Erörterung dieses 
bedeutsamen Themas bot der Vortrag des Regierungsbaumeisters Schleicher- 
Heilbronn, der auch die ergiebige Diskussion leitete. Er kennzeichnete zu- 
nächst die Bedeutung des Transportwesens für die Volks- und Weltwirtschaft 
an den Eisenbahnen und hierbei die preußische Eisenbahnpolitik von Bismarcks 
Reichseisenbahn- Projekt, das an den sonderpolitischen Bedenken der 
süddeutschen Bundesstaaten scheiterte, bis zur preußisch-hessischen Eisen- 
bahngemeinschaft und süddeutschen Eisenbahngemeinschaft unter Würdi- 
gung der Vorteile der daraus entstandenen Eisenbahnoberhoheit Preußens, 
deren wichtigster die Tarifgestaltung ist. Dadurch hat Preußen einen be- 
deutenden Einfluß auf das deutsche Verkehrs- und Wirtschaftsleben auch in 
Süddeutschland gewonnen. Daher sprachen sich die Handelskammern in 
Stuttgart, Dresden und Leipzig für einen Anschluß an die preußisch-hessische 
Eisenbahngemeinschaft aus. Bayern sieht sein Heil in der Kanalisierung des 
Mains von Aschaffenburg aufwärts, womit es sich unabhängig von sämtlichen 
Eisenbahnnetzen machen zu können glaubt. Daran scheiterte auch bisher eine 
Vereinbarung Bayerns mit Preußen wegen der Mainkanalisierung, und erst 
das preußische Wasserstraßen-Gesetz brachte 1905 Erkenntnis 
und Einigung. Auch für Württemberg mit seiner nord- und nordwest- 
wärts weisenden Neckarstraße ist diese neue Lage von Wichtigkeit durch die 
geplante Schaffung eines Großschiffahrtsweges vom Rhein (über den Neckar) 
zur Donau. Die moderne Wirtschaftsgestaltung Württembergs und Bayerns 
läßt schließen, daß die Produktiv-, Gewerbe-, Handels- und Kapitalkraft beider 
mehr und mehr hinter dem allgemeinen Aufschwunge des Deutschen Reiches 
und den wirtschaftsgeographisch günstiger gelegenen Bundesstaaten zurück- 
bleibt. Vor allem übt die Rhein-Main-Wasserstraße eine große Anziehungs- 
kraft aus, was den Wunsch nach einem Großschiffahrtsweg in das Land 
hinein um so dringender macht, für Württemberg sowohl wie für das rechts- 
rheinische Bayern. 

Eng zusammen mit dieser Frage hänge das Neckar-Donau-Projekt, 
das schon ein Jahrhundert alt ist, in Württemberg aber erst im letzten Jahrzehnt 
eine solche Förderung erfuhr, um seine Verwirklichung in absehbarer Zeit 
erhoffen zu lassen. Bayerns neuere unablässige Kanalbestrebungen und sein 
Aufwand hierfür verdienen eine viel ernstere Aufmerksamkeit in der öffent- 
lichen Diskussion, als sie bisher meistens gefunden. Fast unbeachtet hat man 
z.B. bis dato die militärische Bedeutung eines solchen Kanals gelassen, die 
in der Sicherung der Zufuhrmöglichkeiten aus dem Südosten (Österreich, 
Ungarn, Rumänien) und in der Unabhängigkeit von Zufuhr von der Seeseite 
im Norden und Nordwesten liegt. Diese Lage drängt zu der Ansicht, daß, 
da sich die in den letzten Jahren mächtig erstarkte politische Interessen- 
gemeinschaft zwischen dem Deutschen Reich, Österreich, Rumänien und der 


B drei maßgeblichen Anlässen wurde dies hochwichtige, verkehrs- 


316 Prof. Dr. Ludwig Fränkel: 


hoffentlich kräftig werdenden nunmehr asiatischen Türkei auch in gewissem 
Sinne in eine wirtschaftliche umsetzen wird, die diese Staaten verbindende 
internationale Wasserstraße mit der Zeit eine stetig steigende Bedeutung er- 
langen wird. Die Produktionskraft Württembergs und Bayerns würde ge- 
steigert, ein Wechselverkehr von Kolile und Eisen vom Rheingebiet zur Donau 
und von animalischen Rohstoffen von der Donau zum Rhein würde hervor- 
gerufen und für die deutsche Volkswirtschaft im Kriegsfalle von außerordent- 
licher Wichtigkeit sein. 

In ganz ähnlichem Sinne sprach sich in einer Vollversammlung der 
Handelskammer zu Ulm a. D. deren Präsident, Kommerzienrat Magirus, 
aus, und zwar auf Grund seiner unmittelbaren Eindrücke beim jüngsten Tag 
des Bayerischen Flußschiffahrtsvereins. Auf dieser Tagung wurde 
die dringliche Notwendigkeit einer alsbaldigen Regulierung der mittleren Donau 
entschieden betont und dem Vertreter Ulms als derjenigen Stadt, wo die ernst- 
liche Benutzung der Donau als Verkehrsstraße einsetzen muß und soll, die feste 
Zusage einer bezüglichen Herrichtung des ungleichmäßigen 'Flußbettes abwärts 
nach Bayern hinein gegeben. Auch wurde mitgeteilt, daß ein Haupthindernis, 
die berühmte steinerne Alte Brücke zu Regensburg, seitens dieser Stadt- 
gemeinde ausgeschaltet wird, indem oberhalb ihrer ein eigenartiger Aufzug 
in Tätigkeit tritt, die bergwärtsgehenden Fahrzeuge zu heben. Man darf aul 
diesen originellen Versuch, ein ehrwürdiges, wahrzeichenartiges Bauwerk lden 
Forderungen der Verkehrsära nicht zu opfern, billig gespannt sein. 

Wenn auch aus den oben schon angedeuteten Ursachen immer noch 
problematisch genug, nimmt doch unter den großen wirtschaftlichen Plänen 
der Gegenwart die Ausgestaltung eines Großschiffahrtsweges vom 
Obermain zur Nordsee, welcher dem mittleren und südlichen Bayern 
den Zugang zur Wesermündung erschließt, einen ersten Platz ein. Der Verein 
zur Schiffbarmachung der Werra gab dazu wohl den nächsten Antrieb 
und seitdem fördert er ihn nach Kräften. Welch starke Teilnahme weite Kreise 
diesem weitschauenden Plan widmen, bewies kürzlich die Hauptversammlung 
des eben genannten Vereins zu Eisenach. Der Vorsitzende, Senator Meyer 
(Hameln), legte dar, daß im Werragebiet 23 Talsperrprojekte ausgearbeitet 
seien, fertig zur Bauausführung. Gemäß dem Kassabericht wurden bis jetzt 
58000 Mark ausgegeben. Preußen überwies dem Verein neuerdings 10 000 
Mark, die Kaliwerke 6000. Um die Vorarbeiten durchzuführen, sind noch 
etwa 40 000 Mark erforderlich, und diese hofft man durch Zuschüsse der be- 
teiligten Staaten und Interessenten aufzubringen. Über die Werra-Main-Ver- 
bindung berichteten Baurat Contag (Berlin) und Oberingenieur Jünger 
(Mannheim). Die etwa 90 Kilometer lange Kanalstrecke soll oberhalb Mei- 
ningen bei Untermaßfeld von der Werra abzweigen und bei Bamberg den 
Main treffen. Die 358 Meter hohe Wasserscheide soll entweder durch Scheusen- 
anlagen und Hebewerke oder durch einen Tunnel von 9 Kilometer Länge 
überwunden werden, der 48 Meter unter dem Gebirgsscheitel und nur 20 Meter 
über der Werra und 80 Meter über dem Main liegt. Ein Schiffahrtstunnel, 
zwischen Ritschenhausen und Römhild angelegt, erspart 5 Hebewerke und die 
Kanalstrecke erfährt dadurch eine wesentliche Verkürzung. Besondere geo- 
logische Schwierigkeiten stehen der Tunnelanlage nicht im Wege. Täglich 
könnten nach beiden Richtungen auf Grund des Tunnelprojekts je 36 Schiffe 
mit insgesanıt 55 000 Tonnen verkehren. Man beschloß das Projekt der 
Durchtunnelung baufertig durchzuarbeiten und bewilligte zu diesen: Zwecke 
15000 Mark. Sehr wichtig ist die vom Bayerischen Kanalverein versprochene 


Sůddeutschlands geplante Großschiffahrtsverbindung etc. 317 


tstkräftige Unterstützung. Die Kosten der Werra-Main- Verbindung ver- 
anschlagen sich freilich auf rund 200 Millionen Mark. jedenfalls sollte die 
Versammiung, die unter Teilnahme der dazu eingeladenen preußischen Land- 
tags mitglieder nach Berlin ins Abgeordnetenhaus berufen werden soll, den 
Ausbau des großzügigen Unternehmens auch über die Pläne, Entwürfe und 
Beschlüsse hinaus zugunsten des deutschen Verkehrs- und Wirtschaftslebens 
nachdrücklich fördern. Das neue Staatsoberhaupt Bayerns, Prinzregent 
Ludwig, steht ja mit allerwärmster Sywpathie auf der Seite dieser Pläne 
und Ansätze. 


Schon war vorstehender Artikel gesetzt und in der Korrektur erledigt, 
de kommt der genaue Bericht über einen hochbedeutsamen allerjüngsten Vor- 
trag zu meiner Kenntnis, zweifellos so inhaltsreich, daß eine völlige Ver- 
nachlässigung in unserem Zusammenhange eine Lücke ausmachen würde. Am 
16. Januar 1913 nämlich sprach Ingenieur Rosemeyer-Köln daselbst in 
einer großen Versammlung vor Vertretern des Magisirats, der Handels- 
kammer, der Elektrotechnischen Gesellschaft, des Kölner Bezirksvereins 
deutscher Ingenieure, des Architekten- und Ingenieur-Vereins für Rheinland 
und Westfalen und des Vereins der Industriellen des Regierungsbezirks Köln 
über sein Projekt eines „Rhein-See-Kanals von Köln bis Emden.“ 
Dasselbe Thema war erstmalig im November 1912 vor dem „Verein zur 
Förderung des Baues eines Großschiffahrtsweges vom Rhein zur deutschen 
Nordsee“ im preußischen Abgeordnetenhause zu Berlin eingehend behandelt 
worden. Der jetzt von Rosemeyer aufgestellte Vorschlag nun darf wie eine 
unbewußte Fortsetzung jener süd- und südwestdeutschen Kanalpläne ange- 
seiten werden. Verschiebt doch Rosemeyer, entgegen dem älteren Entwurfe 
der Bauräte Herzberg und Taaks, die ihren gleichzielenden Kanal erst bei 
Wesel abzweigen, den Ausgangspunkt viel höher rheinaufwärts, und zwar bis 
nach Wiesdorf unterhalb Kölns. Dadurch erreicht er den Vorteil des natür- 
lichen Wasserzuflusses und beschränkt die Zahl der in Betracht kommenden 
Schleusen auf drei. Außerordentlich glücklich erscheint sein Gedanke, durch 
das natürliche Gefälle elektrische Energie zu erzeugen, welche industrielle 
Verwertung findet und gleichzeitig eine Rentabilität der ganzen Anlage 
sichert. Wichtig ist, daß sich auf dieser geplanten Wasserstraße mit 70 Meter 
Spiegelbreite und 8 Meter Tieſe der Verkehr von Seeschiffen mit 5—6000 
Formen Ladefähigkeit bis nach Köln hinauf bewerkstelligen lassen wird. 
Dies ergibt die Möglichkeit, den jetzt in Rotterdam zusanımenlaufenden nord- 
westdeutschen Verkehr auf deutschen Boden hinüberzulenken und auf diese 
Weise der deutschen Volkswirtschali geradezu riesige Beträge zu erhalten. 
Für die m Betracht kommenden Rheinhäfen Köln, Düsseldorf, Duisburg- 
Ruhrort wili der Vater dieses feindurchdachten Großunternehmens ausgedehnte 
Rhem-See-Hafenanlagen schaffen und die Städte Neuß, Krefeld und Wesel 
durch Zweigkanäle anschließen. Ganz entsprechend plant er eine Wasser- 
verbindung mit dem Gebiete der rheinisch-westfälischen Kohlenindustrie, 
was wiederum den Eisenbahnverkehr entlasten würde. Ein solcher Rhein- 
See-Kanal erschlösse die Moor- und Odländereien, die seitwärts der Trasse 
liegen. Nach seinen Berechnungen erzielt Rosemeyer durch den Verkauf der 


— pad 


318 Süddeutschlands geplante Großschiffahrts verbindung etc. 


vorerwähnten elektrischen Energie einen jährlichen Überschuß von 2, 3 Millionen 
Mark. Dieser Überschuß soll den Bau eines Kriegskanals bezw. die Er- 
weiterung des bisherigen Ems-Jade-Kanals ermöglichen. Die Gesamtkosten 
seines Entwurfs veranschlagt er auf 275 Millionen Mark. Die überaus 
fesselnden Ausführungen des Redners, das Ergebnis langen Nachdenkens, 
Prüfens und Vergleichens, nahmen die mannigfach interessierten anwesenden 
Fachleute außerordentlich beifällig auf. Die Versammlung faßte eine Re- 
solution an die preußische Staatsregierung: den Teilnehmern der Versammlung 
erscheine die Schaffung einer deutschen Rheinmündung dringend erwünscht 
und eine bezügliche tätige Förderung der darauf hinzielenden Bestrebungen 
entschieden erforderlich. 

Sodann wurde die Frage der Neckarkanalisation in der 
württembergischen Abgeordnetenkammer zu Stuttgart anı 
25. Januar offiziell behandelt. Minister des Innern Dr. von Fleisch- 
hauer führte in Beantwortung einer sozialdemokratischen Anfrage über den 
Stand der Neckarkanalisation aus, die württembergische Regierung 
wünsche dringend baldige Inangrifinahme der Kanalisation des Neckars, die 
aber nach dem jetzigen Stand der Angelegenheit nur unter Mitwirkung des 
Rheinstrombauverbandes ausgeführt werden könne. Die Inkraftsetzung des 
Reichsgesetzes für das Strombaugebiet des Rheins sei abhängig von einer Ver- 
ständigung mit den Niederlanden über Einführung von Schiffahrtsabgaben. Die 
württembergische Regierung habe an zuständiger Stelle der Reichsregierung 
das Interesse Württembergs an baldiger Inkraftsetzung des Reichsgesetzes 
zum Ausdruck gebracht. Wie sich Baden und Hessen zur Finanzierung der 
Neckarkanalisation innerhalb eines Reichsgesetzes stellen, wisse die württem- 
bergische Regierung nicht. Württemberg hätte auch die Kosten für Kanali- 
sation auf badischem und hessischem Gebiet zum überwiegenden Teil zu 
übernehmen. Mit dem Aufwand für einen Hafen in Heilbronn ergäben sich 
dabei für Württemberg 3613 Millionen Mark. Die Einnahmen aus dem Ver- 
kehr würden sehr gering, aus der Verwertung der Wasserkräfte wesentliche 
Einnahmen nicht zu erzielen sein, zumal Baden meine, daß Wasserkräfte 
innerhalb seines Gebiets ausschließlich ihm zur Verwertung stehen. Unter 
diesen Umständen rechne Württemberg mit einem solchen Defizit, daß Über- 
nahme der Finanzierung bei der jetzigen Lage der Staatsfinanzen nicht in 
Betracht käme. Die Anregung, vor Inkrafttreten der Schiffahrtsabgaben mit 
Baden Verhandlungen einzuleiten, könne man nicht befolgen. Der Vertrag 
zwischen Württemberg, Baden und Hessen sei so weit gediehen, daß nach 
dem Inkrafttreten des Reichsgesetzes nicht mehr viel Zeit erforderlich wäre, 
um zum Abschluß zu gelangen. Der technische Entwurf für die 
Kanalisation der Strecke Mannheim-Heilbronn liege fertig vor: 
auch habe sich die badische Regierung bereit erklärt, die Kanalisation auf 
badischem Gebiet auf Kosten Württembergs auszuführen. Eine ähnliche 
Zusage habe Hessen gegeben. In einer zweiten Rede führte der Minister 
aus, die württembergische Regierung könne ihre Haltung zur Frage der 
Neckarkanalisation gegenwärtig nicht ändern. Wenn die Stellungnahme 
Hollands zu den Schiffahrtsabgaben allzulange warten lasse, dann sei es 
allerdings möglich, daß man in Württemberg neu prüfe, wie ohne Mitwirkung 
des Strombauverbandes der Neckar zu kanalisieren sei. Redner der Fort- 
schrittlichen Volkspartei billigten die Haltung der Regierung vollkommen. 
Der Abg. K. Haußmann riet der Sozialdemokratie, an ihren Parteifreund 
Frank in Mannheim zu appellieren, daß er seinen Einfluß einsetze, die 


e ia gaa Tp —é r å pe 


2 3 EN — War 


Hugo Kloß: Ein Urteil. 319 


Schwierigkeiten, die in Baden der Neckarkanalisation entgegenstehen, beseitigen 
zu hellen. 

So streben Süd- und Westdeutschland ani Ansange des 20. Jahrhunderts 
nachdrücklich nach erfolgreicher Verbindung und Nutzbarmachung der natür- 
lichen Wasserwege, wie sie das östliche und das mittlere Norddeutschland 
längst vor dem Zeitalter des Verkehrs, im 18. und 19. Jahrhundert, freiwillig 
durch den preußischen Staat, teilweise bekanntlich gegen einseitig agrarische 
„Kanalrebellen“, gutenteils schon erhalten hatten. Wie freilich die Nieder- 
länder sich zu den Schiffahrtsabgaben am Niederrhein stellen werden, wo 
sie den gewaltigen Einnahme-Ausfall durch die vorschwebende Verkehrs- 
ablenkung ab Köln befürchten müssen, ist eine andere, sehr heikle Frage! 


Hugo Kloß: Ein Urteil. 


on einem preußischen Gericht ist vor kurzem eine Entscheidung ge- 
fällt worden, die man zwar nach ihren Beweggründen verstehen, 
aber trotzdem nicht billigen kann. 

Es handelt sich um folgenden Fall: Der Angestellte einer Großbank 
hatte seine Stellung daselbst im Laufe des Jahres verlassen und klagte nun 
vor dem Kaufmannsgericht auf Auszahlung eines entsprechenden Teils der zu 
Weihnachten fälligen üblichen Gratifikation, die ihm von der betr. Bank ver- 
weigert wurde, da er sich zu Weihnachten nicht mehr bei ihr in Stellung 
befand. Die Frage, ob in diesem Falle der Angestellte noch einen Rechts- 
anspruch auf Weihnachts- und Abschlußgratifikation hat, ist heiß umstritten, 
und die Entscheidungen der Gerichte sind ebenso häufig wie widerspruchsvoll. 
Es gibt wohl keinen unter den Chefs und Angestellten, der die Streitfrage 
nicht zu seinen Gunsten auslegte und eine endgültige Regelung dürfte wohl 
nur durch eine reichsgesetzliche Maßnahme herbeizuführen sein. 

Im vorliegenden Falle lehnte nun der Vertreter der beklagten Groß- 
bank einen Beisitzer des Kaufmannsgerichts als befangen ab, da derselbe ein 
Vorstandsmitglied des Deutschen Bankbeamtenvereins wäre. Dieser Verein aber 
habe zu der beregten Frage stets zu Gunsten der Angestellten Stellung ge- 
nommen, so daß ein Vorstandsmitglied dieser Korporation über die vom Oe- 
richt zu entscheidende Frage bereits eine vorgefaßte Meinung haben müsse, 
also unmöglich unparteiisch urteilen könne. 

So bestechend diese Argumentation auch auf den ersten Blick ist, das 
Kaufmannsgericht erklärte doch den Ablehnungsantrag für unbegründet und 
wies ihn zurück. Erst als die Bank den Streitfall vor das Landgericht 
Hrachte, drang sie mit ihrer Ansicht durch. 

Diese Gerichtsentscheidung berührt umso merkwürdiger, als sie mit 
anderen Urteilen (auch des Reichsgerichts) schwer in Einklang zu bringen 
ist. Wiederholt schon ist z. B. entschieden worden, daß die Unparteilichkeit 
eines Richters noch nicht angezweifelt werden könne, weil er zu der Rechts- 
frage, die zur Entscheidung steht, bereits früher in Prozessen, literarisch 
oder sonstwie Öffentlich Stellung genommen hat. 

Vor allen Dingen aber spielt die Frage der Unparteilichkeit des einzelnen 
Richters bei den Kaufmannsgerichten eine ganz andere Rolle als bei den 
ordentlichen Gerichten, wodurch sich auch der abweichende Entscheid des 
Landgerichts von dem Erkenntnis des Vorgerichts erklären läßt. Bei den 


— — 


320 Hugo Kloß: Ein Urteil. 


ordentlichen Gerichten steht der Richter über den Parteien, bei den Kauf- 
mannsgerichten mit ihrem Laienrichterpersonal steht der Richter zwischen 
den Parteien. Da fällt es dem einzelnen schon bedeutend schwerer, strenge 
Unparteilichkeit zu wahren. Das hat auch der Gesetzgeber anerkannt, als er 
bestimmte, daß sich die Beisitzer je zur Hälfte aus Arbeitnehmern und Arbeit- 
gebern zusanımensetzen müssen. Sie sollen sich mit ihren widerstreitenden 
Interessen die Wage halten. Denn daß in den meisten Streitiragen, die vor 
den Kaufmannsgerichten verhandelt werden, ein Gegensatz zwischen Arbeit- 
gebern und Arbeitnehmern klafit, läßt sich nicht ignorieren. Es hieße von 
den Beisitzern der Kaufmannsgerichte unmögliches verlangen, wenn man 
ihnen, die im praktischen l.eben stehen, und nicht wie der Berufsrichter un- 
abhängig von der Parteien Hall und Gunst sind, wenn man diesen Leuten 
zumuten wollte, sie sollten ihre Interessen selbstlos verleugnen, sobald sie 
auf der Richterbank sitzen. Eine derartige Forderung lag auch gar nicht in 
der Absicht des Gesetzgebers. Denn wenn er an eine strenge Objektivität 
— selbst nur in der Theorie — geglaubt hätte, wozu denn dann die Zu- 
sammensetzung des Richterkollegiums aus zwei verschiedenen sozialen 
Klassen? Streng objektiv könnte — in der Theorie — auch der Arbeitgeber 
oder der Arbeitnehmer allein urteilen, ohne daß sie sich beim Finden des 
Rechts gegenseitig unterstützen. Weil aber in der Praxis schwerlich genügend 
Männer aufzutreiben sein würden, die das Recht nur vom objektiven, nicht 
von ihrem, dem Arbeitgeber- resp. Arbeitnehmerstandpunkt zu finden wüßten, 
weil jede Gruppe einzeln für sich allzu parteiisch urteilen würde, deshalb 
schreibt das Gesetz vor, daß beide, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, das 
Richterkollegium bilden müssen. Durch gemeinsame Arbeit der Beisitzer, die 
sich aus verschiedenen Parteien zusammensetzen, hoffte der Gesetzgeber, eine 
möglichst parteilose Rechtsprechung der Kaufmannsgerichte zu erzielen. Denn 
er kalkulierte ganz richtig, daß sich schlielilich die entgegengesetzten 
Meinungen auf der goldenen Mittelstraße zusammenfinden würden, die den 
Weg des Rechts darstellt. 

Von einer parteilosen Judikation kann man also bei den Kaufmanns- 
gerichten nicht sprechen. Im Gegenteil, hier ist alles Partei. Darin liegt der 
große Unterschied zwischen diesen und den ordentlichen Gerichten. Man 
kann also auch den Beisitzer eines Kaufinannsgerichtes wegen seiner Partei- 
lichkeit nicht befangen nennen. Wollte nian dies, so träfe das nicht auf einen 
einzelnen, sondern auf den ganzen Gerichtshof zu. Wenn das Berliner Land- 
gericht den eingangs erwähnten Entscheid fällte, so befand es sich dabei in- 
sofern in einem Irrtun, als es den großen Unterschied zwischen ordentlichen 
und Kaufmannsgerichten vollkommen verkannte. Eine konsequente Durch- 
führung dieses Urteilsspruches müßte unweigerlich zur Zertrümmerung der 
Kaufmannsgerichte in ihrer heutigen Form führen, eine Folge, die wohl 


allseitig unerwünscht wäre, solange man an Stelle des Alten nichts Neues 
setzen kann, das besser ist. 


Schluß des redaktionellen Teils. 


—ä— —-— .—— . —— ' . . — . —œ— — 


Verantwortlich für die Redaktion: S. D. Gallwitz, Bremen. 
Einsendungen von Manuskripten (unter Beifügung von Rückporto) 
an die Redaktion Bremen, Am Wall 163. Tel. 6945. 
Verlag: Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen. 
Druck: H. M. Hauschild, Hofbuchdruckerei, Bremen. 


* * 
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2 — ——— 


— et 


Neue Bücher. 


M. de Jonge: Das Evangelium. Modern stilisiert. 

Verlag Vita, Deutsches Verlagshaus, Berlin— Charlottenburg. 
Catherina Godwin: Das nackte Herz. Verlag Albert Langen, München. 
Arnold Zweig: Die Novellen um Claudia. Verlag Ernst Rowohlt, Leipzig. 
Friedrich Meyer: Maler Müller Bibliographie. 

Verlag Friedrich Meyer Buchhandlung, Leipzig. 

Max Krüger: Über Bühne und Bildende Kunst. 

Verlag R. Pieper & Co., München. 

Fritz Müller: Die andere Hälfte. Verlag Egon Fleischel & Co., Berlin. 


Dichter und Geschäftsmann. 


In einem Aufsatz (Frankfurter Ztg. Nr. 295), der die Grundlagen unseres 
Wirtschaftslebens erörtert, kommt Frederik van Eeden zu einer Schlußfolgerung, 
die das Heil der Zukunft in einem neuen eigenartigen Zusammenwirken der 
Geschäftsleute mit den Dichtern erblickt. Dieser Zukunftstraum findet seinen 
Ausdruck in den Sätzen: 

‚Leicht wäre es, alles Elend der heutigen gesellschaftlichen Zustände 
darauf zurückzuführen, daß der Geschäftsmann zu wenig Dichter ist und seine 
Kraft verbraucht für unwürdige Zwecke, ohne große und schöne Lebens- 
anschauung, ohne Phantasie, ohne höhere Freude, — während der Dichter- 
Utopist dagegen wieder zu wenig Geschäftsmann, zu wenig Wirklichkeitsmensch 
ist, um seine sozialen Visionen praktisch auszuführen. 

Der Geschäftsmann lacht ein wenig über den unpraktischen Dichter, zuckt 
die Achsel über seine Begeisterung, seine Ideale und versteht nicht, daß seine eigene 
Arbeit etwas Höheres und Schöneres sein könnte, daß auch er unendlich höhere 
Entzückungen kennen würde, wenn er sein Schaffen mit dichterischer Idealität 
erfüllte — der Dichter dagegen sieht verächtlich auf das Treiben der Geschäfte, 
das ihm banal und widerlich vorkommt, ohne zu verstehen, daß sein höheres 
Seelenleben nur Wert und Bedeutung bekommt, wenn es durch geduldiges ge- 
schäftliches Wirken das ganze tägliche Leben der Menschheit durchdringt. 

Solange die beiden, Dichter und Geschäftsmann, einander feindlich und 
mißtrauisch gegenüberstehen, solange der Dichter sich als Ästhetiker in seinem 
Stolz zurückzieht und auf den niedrig gesinnten Geschäftsmann schimpft, der nur 
für faden Gelderwerb und rohe Genüsse zu arbeiten scheint — und solange der 
Geschäftsmann nichts weiter ins Auge faßt als seine Privatinteressen und alles 
höhere Seelenleben nur als etwas Untergeordnetes und Überflüssiges betrachtet, 
solange er nicht sieht, daß nur der Dichter ilın lehren kann, wie er sein Geschäft 
zu einer schönen Schöpfung und sich selbst zu einem gesegneten und segens- 
reichen Menschen ausbilden kann — so lange bleibt die Menschheit in Elend. 

Denn nur immer Geld verdienen und das Geld dann nachher wieder 
philanthropisch verschenken — das genügt nicht für eine würdige Menschen- 
existenz. Und hübsche Verse machen, auf den Philister schimpfen und dann 
sich doch wieder vom reichen Geschäftsmann unterhalten und beschenken lassen, 
das genügt nicht für ein würdiges Dichterleben. 

Um eine neue Menschenwelt zu schaffen, brauchen wir Geschäftsleute, die 
das Lenken der menschlichen Aktivität als einen hohen Beruf, als eine wirkliche 
Schöpfung auffassen, und wir brauchen Dichter, die die ganze Menschheit so 


feurig lieben, daß sie sich nicht von ihr zurückziehen trotz aller Philister, und 


sich sehr tüchtig darum kümmern, wie sie lebt und was sie treibt, um für aich 
und andere Nahrung, Kleidung und Wohnung zu schaffen — welche Sachen die 
meisten Dichter bekanntlich auch nicht gern entbehren.“ 


C 


Gewohnheitsgifte. 


je heutige Richtung der Medizin geht von der Erkennt- 
D nis aus, daß jeder Krankheitsherd in den Säften des 
Menschen zu finden ist. Die Folge davon ist natur- 
gemäß, daß der Erneuerung dieser Säfte die größte Aufmerk- 
samkeit zugewendet und hierzu die Ernährungsfrage als solche 
aufgerollt werden muß. Dank der Bemühungen fortschritt- 
licher Ärzte ist es denn auch heute Allgemeingut des Publikums 
geworden, daß eine einseitige Ernährung schädlich ist und 
neben der Fleichnahrung der Pflanzenkost breiter Raum ge- 
währt werden muß. Weniger beachtet wird aber, daß es ebenso 
wichtig ist, den Körper vor der Zuführung schädlicher Stoffe 
zu bewahren. Hiergegen wird täglich und stündlich in un- 
verantwortlicher Weise gesündigt, und die heutige Generation 
hat sich so sehr an den Genuß gewisser Gifte gewöhnt, daß 
schwer dagegen anzukämpfen ist. Als gefährlichstes dieser 
Gewohnheitsgifte ist sicherlich das Koffein anzusehen, und 
zwar besonders darum, weil der Kaffee, in dem es enthalten 
ist, zu unseren verbreitetsten Genußmitteln zählt und bei dem 
größten Teil unserer Bevölkerung zur Tageskost gehört. 
Nicht etwa nur die Arbeiterklasse und der Mittelstand 
frönen dem Genuß des Kaffees, nein, auch in den exklusivsten 
Kreisen behauptet er seinen Platz. Und überall wirkt er im 
gleichen Maße gesundheitsschädlich. Es kommt beim Kaffee- 
genuß natürlich auf den Prozentsatz der Bohnen an, die man 
zur Bereitung des Getränkes verwendet. Wenn also eine 
Kleinbürgerfrau täglich etwa zwei Liter Kaffee trinkt, den sie 
sich unter Verwendung von nur 2% Bohnen bereitete, so wird 
sie genau so viel Gift zu sich nehmen wie die verwöhntere 
Dame, die zwar nur ½ Liter Kaffee pro Tag verbraucht, zu 
diesem aber 8% Bohnen benutzt! In allen Kreisen sehen wir 
demnach dem Körper ganz regelmäßig ein bestimmtes Quan- 
tum Gift in Gestalt des im Kaffee enthaltenen Koffeins zu- 
führen, von dem ein Teil naturgemäß in die Körpersäfte dringt. 
Wenn die Giftmenge auch nicht groß genug ist, um eine 
augenblicklich merkliche Wirkung herbeizuführen, so wirkt 
doch gerade die Beharrlichkeit des Gebrauches und die stete 
Gewöhnung um so bedenklicher. Es ist erwiesen, daß der 
menschliche Körper mit geringerer Schädigung einen ein- 
maligen stärkeren Angriff verträgt, als ständig wiederkehrende 
geringere Beeinflussungen. Die Körpersäfte wehren sich gegen 
diese eindringenden Gifte und stoßen sie zunächst wieder aus. 
Wiederholen sich aber die Angriffe ständig, so werden die 
Körpersäfte immer mehr verschlechtert und verlieren die Macht, 


sich energisch ihrer zu entledigen. Bedenkt man nun, daß 
der Kaffeegenuß besonders der weiblichen Bevölkerung so un- 
entbehrlich geworden ist, daß sie ihn selbst bei beginnender 
Mutterschaft nicht aussetzt, und daß er zum regelmäßigen Ge- 
tränk der nährenden Frau gehört, dann wird man vor der sich 
hieraus ergebenden Tatsache erschrecken, daß schon dem in 
der ersten Entwicklung begriffenen Kinde auf diesem Wege 
schwere Schädigungen zugefügt werden. Man wird sich dabei 
auch der Überzeugung nicht verschließen können, daß im 
Kaffee tatsächlich das verbreitetste Gewohnheitsgift zu er- 
blicken ist. 

Leider war nur recht wenig dagegen auszurichten. Selbst 
die Ärzte mußten damit rechnen und standen häufig ratlos 
Patienten gegenüber, bei denen selbst die gebieterische Not- 
wendigkeit nicht vermochte, sie vom Kaffeegenuß abzubringen. 
Allerdings macht dies der angenehm pikante Geschmack, das 
liebliche und starke Aroma des Kaffees recht erklärlich, und 
es ist ja auch trotz ständiger Versuche und ernster Studien 
nicht gelungen, ihn durch ein einigermaßen gleichwertiges Ge- 
tränk zu ersetzen. 

Nun hatte man zwar schon längst festgestellt, daß gerade 
das Koffein vollständig ohne Einfluß auf Geschmack oder 
Aroma des Kaffees ist, aber trotz jahrelanger Versuche gelang 
es nicht, einen gangbaren Weg für seine Entfernung zu finden. 
Dies glückte erst vor einigen Jahren der mühevollen Arbeit 
einiger Fachmänner. Sie haben ein Verfahren gefunden, durch 
welches der Kaffeebohne das Koffein entzogen wird, ohne daß 
irgendeine Veränderung mit ihr vorgeht, ja, es hat sich die 
ganz merkwürdige Tatsache ergeben, daß der vom Koffein be- 
freite Originalkaffee an Aroma und Geschmack der gleichen 
Qualität unbearbeiteten Kaffees noch überlegen ist. 

Die Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft in Bremen hat die 
Verwertung dieses Verfahrens übernommen, und die von ihr 
errichtete Fabrik ist sowohl der Großartigkeit der Anlagen 
nach, als auch durch die Ausnutzung der neuesten technischen 
Errungenschaften eine Sehenswürdigkeit. Der unter der Be- 
zeichnung »Hag« und kenntlich durch das Warenzeichen 
»Rettungsring« in den Handel gebrachte koffeinfreie Kaffee 
ist heute in weitesten Kreisen verbreitet. Die Ärzte haben 
freudig das Produkt verordnet und viele Hunderttausende 
Nerven- und Herzleidende, Blutarme, Lungen-, Nieren- und 
Magenkranke können heute wieder ohne die geringste Schädi- 
gung dem ihnen unentbehrlichen Kaffeegenuß frönen. Aber auch 
unter den körperlich vollständig Gesunden hat sich der koffein- 
freie Kaffee Hag eine ungeheure Anhängerschaft erworben, 


und es gibt heute kein Hotel von Ruf, kein besseres Café und 
kein elegantes Restaurant, in denen nicht Kaffee Hag zu haben 
wäre. In den besseren Kreisen ist es heute Sitte geworden, 
nach Tisch neben dem üblichen Kaffee auch giftfreien Kaffee 
Hag zu reichen; man kann dabei immer wieder die Erfahrung 
machen, daß Zweifler, die bei solcher Gelegenheit zu einem 
Vergleich veranlaßt werden, zu ihrer eigenen Verwunderung 
zugeben, daß der Kaffee Hag besser mundet und ein feineres 
und dabei volleres Aroma hat als der nicht entgiftete Kaffee. 


Eine schöne Schrift. 


Ein erfolgverheißender Weg ist vor einiger Zeit von einer Schreib- 
maschinen-Fabrik eingeschlagen worden, als sie mit einer anscheinend gering- 
fügigen, aber doch für den Absatz nicht unwichtigen Neuerung herauskam, 
zu der ihr die ihrer Maschine eigene Kissenfärbung die Möglichkeit bot; mit 
der schönen großen, fetten, der im Buch- und Steindruck üblichen ähnlichen 
Schrift, die hauptsächlich für Reklamezwecke (Offertbriefe usw.) und überall, 
wo es auf bestechendes und neuartiges Aussehen eines Schriftstückes an- 
kommt, ihrer Wirkung sicher ist. Wenn die Vertreter der in Rede stehenden 
Maschine und die Reisenden den Vorteil geschickt wahrzunehmen verstehen, 
der in dieser Neuerung liegt, so wird der klingende Erfolg gewiß nicht aus- 
bleiben. 

Die Zeiten, in denen der deutsche Kaufmann ängstlich knauserte und jeden 
Groschen dreimal in der Hand umdrehte, ehe er ihn au«gab, sind vorüber. Welt- 
blickende Geschäftsleute schaffen heute schon für bestimmte Zwecke Spezialschreib- 
maschinen an, und das wird in Zukunft immer mehr geschehen. Jeder Kundige 
weiß, das Oiferten in Schreibmaschinenschrift heute vielfach mit sehr mißtrauischen 
Augen betrachtet, wenn nicht gar ungelesen beiseite gelegt zu werden p'legen, 
weil der Empfänger immer den Argwohn hat, es könne sich um ein Massenerzeugnis 
handeln. Manche Geschäftsleute, die auf eine vornehme briefliche Pro- 
paganda angewiesen sind, beginnen sich deshalb für diesen Zweck schon von 
der lange Zeit bevorzugten Schreibmaschine abzuwenden und kehren zur 
Handschrift zurück, während andere durch geschickte Benutzung aller 
Neuerungen auf dem Gebiete des Schreibmaschinenwesens mit der viel 
billigeren Propaganda durch Schreibmaschinenbrieie immer noch die ge- 
wünschte Wirkung erzielen. Unter diesen Umständen ist eine Maschine, die 
eine eigenartige, formvollendete, bestechende, dabei aber doch gut lesbare 
Schrift liefert, vielen, die das Interesse der Empfänger ihrer Briefe auf den 
Inhalt ihrer Mitteilungen zu lenken bestrebt sind, höchst willkommen. 

Es handelt sich um die Imperial-Schrift der „Yost“, der Schreibmaschine 
der schönsten Schrift. 


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Hag- Rundschau. 


Erholungen im Zeitungsbetriebe. 


Man lese, welche Freude der Kaffee Hag den vielgeplagten Leitern 
und Angestellten der Redaktionen, Expeditionen und Druckereien — 
Betriebsstörungen ausgeschlossen! — bringen kann. Unter Dutzenden 
heute zwei Beispiele nur: 

„Und sie tranken immer noch eins!“ die Damen in unserem Betriebe 
nämlich, die mit allen anderen Angestellten der Halleschen Zeitung vom Vertreter 
der Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft Koffeinfreier Kaffee Hag aus Bremen 
gestern Dienstag zu einem „Schälchen Heeßen“ eingeladen worden waren. Da- 
men sind die zuständigsten Beurteiler in Kaffeegeschmacksfragen, und wenn sie 
immer von neuem und immer wieder nach einer frischen Tasse Kaffee Hag 
verlangten, so ist damit schon der Beweis geliefert für den Wohlgeschmack von 
Kaffee Hag. Aber sie genossen nicht nur, sie priesen auch in allen Tönen den 
braunen Trank, so daß die männlichen Trinkgenossen, die natürlich den Damen 
in der Verkündigung der vorzüglichen Eigenschaften des Kaffee Hag den Vor- 
tritt hatten lassen wollen, nun nicht mehr anstanden, ebenfalls in dieses Lob 
einzustimmen. Auch sie fanden, daß Kaffee Hag trotz seiner Koffeinfreiheit 
durchaus den vollen Kaffeegeschmack besitzt und darin den feinsten Sorten 
nichts nachgibt. Dazu kommt, daß er durch die Entziehung des giftig wirkenden 
Koffeins durchaus unschädlich und der Gesundheit dienlich ist. Er wirkt anregend, 
aber nicht aufregend. In vielen Kaffeehäusern unserer Stadt wird er bereits ver- 
abfolgt. (Hallesche Zeitung, 28. Januar 1913.) 


„Vor einigen Tagen konnten wir mit Kaffee aufwarten. Es gab keine ge- 
wöhnliche Sorte, sondern etwas ganz Vorzügliches, den berühmten Kaffee Hag. 
Eigentlich hätten wir ja alle guten Freunde dazu einladen müssen, um sie mit 
Kaffee und Pfernüssen zu bewirten, denn jedem Leser eine Portion „entgifteten® 
Mokka in die Wohnung zu schicken, ging nicht gut an, zumal die Vertilgung 
an Ort und Stelle ganz gewaltig war. Krischan, der in seinem Kampfe mit den 
Mächten der Finsternis und des Lichtes, das ihn schließlich wieder auf die richtige 
Bahn der Engel gebracht hatte, etwas an seinen Nerven gelitten hatte, vertilgte 
allein fünf Tassen, und nur seine in allen Stücken anerkannte Bescheidenheit 
ließ ihn von dem Grundsatze abgehen: Mehr als sieben trink ich nie! Es wurde 
ihm auch vorgehalten, daß er nicht aus Sachsen sei und sich deshalb in seiner 
Beschränktheit als Meister zeigen müsse. Daß die Tippdamen, Telephonistinnen, 
Stenogräfinnen, Kasseusen, Pfalzgräfinnen usw. von dem braunen Trank der Levante 
kosten wollten, war ihnen nicht zu verdenken, denn der Duft der Druckerschwärze 
und Angsttranspiration der gehetzten Schriftleiter wurde angenehm versetzt mit 
den aromatischen Düften, die aus dem immer frisch gefüllten Kaffeetopfe auf- 
stiegen und bis in die fernsten Räume drangen.“ 

(Braunschweiger Allgemeiner Anzeiger, 18. Januar 1913.) 


Eine Zeichenvorlage. 


Einen erneuten Beweis, welch großer Beliebtheit die bekannte Hagpackung 
mit dem Rettungsring sich erfreut, liefert die Äußerung eines Zeichenlehrers, der 
an einem süddeutschen Lehrerseminar tätig ist. Dort wird die Hagpackung in- 
folge der einfachen und künstlerischen Ausführung im Zeichenunterricht als 
ständige Vorlage benutzt. 


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Auch eine Volksgefahr. 

Die Agitation gegen den Kaffee wird lange nicht mit derselben Heftigkeit 
geführt wie gegen den Alkohol, und doch ist es eine längst bekannte Tatsache, 
daß das Koffein die Haut blutarm, die Eingeweide aber blutreich macht und 
daß Kaffee und Tee den Menschen, die zu nervöser Relzbarkeit neigen, weit 
schädlicher sind als z. B. Biergenuß in mäßigen Grenzen. Wenn nachts in den 


‚Großstädten die Bierrestaurants schließen, füllen sich die Kaffeehäuser, und bei 


rauschender Musik verscheucht der aufregende Kaffee die angenehme Müdigkeit, 


die ein vorhergegangener Biergenuß vielleicht erzeugt hat und deren der Mensch 


für den stärkenden Nachtschlaf bedarf. Und eine unruhige Nacht rächt sich 
bitter an der Arbeit des folgenden Tages. Wenn man in unserer Zeit so oft von 
einer fortwährenden Zunahme der Nervosität spricht, so sollte man nicht unbe- 
achtet lassen, daß diese mit dem Anwachsen des Koffeingenusses parallel läuft. 
Auf Grund offizieller Statistiken und unter Zugrundelegung des prozentualen 
Koffeingehaltes von Kaffee und Tee stellt sich der Verbrauch von Koffein im 
deutschen Volke jährlich auf mehrere Millionen Kilo, welchem Koffeinverbrauch 


ein Verbrauch von etwa neunzigmal soviel Millionen Kilo Kaffee selbst entspricht. 


Ohne Zweifel ist die Zunahme gewisser Krankheiten des Herzens und des 
Nervensystems auf diesen sehr gesteigerten Koffeingenuß zurückzuführen. Wer 
dünnen Kaffee trinkt, tut das zumeist so reichlich, daß er trotzdem eine ganz 
gehörige Portion Koffein im Laufe eines Tages in sich aufnimmt, und gerade die 
nervösen Menschen, die ein solches Reizmittel meiden sollten, sind darin am 
unmäßigsten. Frauen trinken im Durchschnitt mehr Kaffee als die Männer, und 
besonders unter ihnen ist die Zahl der Nervösen eine sehr beträchtliche. 
(Aus der „Düsseldorfer Zeitung“, 19. Jan. 1913 


„zur Hygiene der Kolonialwaren.* 

Ein unter diesem Stichwort veröffentlichter Aufsatz in der „Produkten- 
Börse“ enthält folgenden Absatz: 

‚Da, wie allgemein bekannt, Bohnenkaffee unter Umständen, namentlich 
wenn er im Überfluß genossen wird, leicht Gesundheitsstörungen erzeugen kann, 
was auf das Konto des Koffeins zu schreiben ist, so hat man ja auch auf dem 
Wege eines besonderen Aufschließungs- und Extraktionsverfahrens den koffein- 
frelen Kaffee hergestellt, ohne die Form, das Aussehen, das Aroma und den 
Geschmack des Kaffees zu beeinträchtigen. Bieiben doch dem Kaffee die 
Extraktivstoffe und Kaffeeöl, die dem Kaffee Geschmack und Aroma verleihen, 
erhalten. Ja, es scheint fast, als ob Aroma und Geschmack der Kaffeebohnen 
noch verbessert und verfeinert würden. Solchen Kaffee vertragen auch Herz- 
und Nervenkranke gut, ohne daß irgendwelche Empfindlichkeit und Störung 
sich zeigt, die sonst beim Genuß von koffeinhaltigem Kaffee öfters sich einstellt.“ 


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Der Jahrgang 1913 wird u. a. bringen: 
Hussein Dschahid: Die junge und die alte Türkei. 
Österreich-Ungarn und die friedliche Lö- 


sung der Balkanfragen. Von einem öster- 
reichischen Staatsmann a.D. 


Prof.Dr.v.Vambeöry: Rußland u. England in Persien. 

Gräfin Wedel: Erinnerungen an Fr. Liszt und Bayreuth. 

Staatsminister Dr. v. Frauendorffer: Über 
Verkehr und Politik. 


Professor Dr. Goldstein: Neue Ergebnisse der 
Spektralanalyse. 


Prof. Harms (Kiel): Über die indische Oefahr. 
Probeheft durch jede Buchhandiung,such die DeutscheVerlags-Anstait, Stuttgart 


Vornehme Monatschrift 


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Der Sturm 


Wochenschrift für Kultur und die Künste 
Herausgeber: Herwarth Walden 


Der Sturm Ist das Blatt der Unabhängigen. 
Kultur und Kunst der Gegenwart werdon 
kritisch bowortet. Literarische Beiträge 
erster Autoren 
Jede Nummer enthält Zeichnungen und 
Orlginalholzschnitte, vom Stock gedruckt 
Einzeibezug 20 Pf. — Vierteljahr Mk. 1.50 
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Verlag Der Sturm, Beriin W. 9 


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GUSTAV FALKE 


DER DICHTER DES DEUTSCHEN HAUSES 


Die Festgrüße der Zeitungen und Zeit- 
schriften zum 60. Geburtstag nennen ihn den 
Dichter des deutschen Volksliedes, den 
Dichter der deutschen Familie, den künf- 
tigen Lieblingsdichter des deutschen Volkes. 


Gesammelte Dichtungen, Ausg. Ia 5 Bda. Varuhlg steht die Sehnsucht auf 
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Czeschka, in Moiré 15 Mark, in 5 Gustav Falke. Im Auftrage der 
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Heft 6 
März 1915 


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B | Bromkalium möglichst vermeiden! Die „Agfa“-Plattenfabrikateiver 


INHALTS-VERZEICHNIS. 


Charles Baudelaire: Tröstliche Maximen über die Liebe... 321 
Dr. Richard Hennig: Die Verkehrswege nach China. . 328 
Gerhard Ouckama Knoop: Familien kunde 336 
Paula Becker-Modersohn: Briefe und Tagebuchblätter III. 341 
Emil Waldmann: Römische Kaiserphysiognomien ........ 348 
Otto Corbach: Volksempfinden und answärtige Politik ... 353 
Joseph Aug. Lux: Reform der Männertracht ............. 360 
Max Oehler: Soldatenlieder............... e 
Bremensis: Politische Rundschau ....... a 
Curt Stoermer: Paula Becker-Modersohn ........ l 
Wilnelm Hausenstein: Neues in der Münchener Kunst 381 
Hugo Kloß: Konjunktur oder Kr isis. r 


Nachdruck der Belletristik verboten. Nachdruck der übrigen Artikel anter 
genauer Quellenangabe gestattet. 


BEZUGS-BEDINGUNGEN. 
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Die 


Güldenkammer 


Herausgeber: 
S. D. Gallwitz - G. F. Hartlaub - Hermann Smidt 


Charles Baudelaire: 
Tröstliche Maximen über die Liebe. 


eder, der Maximen schreibt, liebt Ubertreibungen; die Jungen 
schminken sich Runzeln, die Alten spielen Adonisse. — 

Die Welt, dieses ungeheure System von Widersprüchen, hoch- 
achtet ja jede Hinfälligkeit — also schnell, malen wir uns 
Falten; das Gefühl wird ja im allgemeinen so gut ertragen, also 
verzieren wir unser Herz wie ein Frontispiz! Doch wozu? — Wenn 
ihr keine echten Menschen sein könnt, seid richtige Tiere. Seid 
naiv, und ihr werdet mit Notwendigkeit einigen nützlich oder an- 
genehm sein. Mein Herz — schlüge es selbst zur Rechten, — 
wird unter den drei Milliarden Wesen, die die Nesseln des Gene 
abweiden, wohl tausend finden, die Parias sind wie ich. 

Wenn ich zuerst von der Liebe rede, so geschieht es, weil 
die Liebe für alle (man möge es nur leugnen) das Wichtigste im 
Leben ist! 

Ihr alle, die ihr einen unersättlichen Geier nährt — hoff- 
mannische Dichter, die die Harmonika in kristallnen Regionen 
tanzen läßt, denen die Violine das Herz zerreißt wie eine Klinge, 
die nach ihm gezückt — süchtige, gierige Betrachter, die selbst das 
Schauspiel der Natur in gefährliche Extasen versetzt: Euch sei die 
Liebe ein Beruhigungsmittel! 


Diesen Aufsatz schrieb Baudelaire als — Student der Liebe, mit 24 Jahren. 
Er lat für seine Art zu denken, für seine paradoxe Auffassung vom Wesen der 
Liebe und seinen so oft gerühmten und gerügten Hang zu Mystifikationen 
ebenso wesentlich wie wertvoll und charakteristisch. Er erschien 1846 in einer 


längst vergessenen Zeitschrift und ist erst kürzlich wieder ausgegraben worden. 
Der Übersetzer. 


322 Charles Baudelaire: 


Seelenruhige, objektive Dichter, edle Vorkämpfer der Me— 
thode, Architekten des Stils — Politiker, die ihr eine tägliche 
Aufgabe zu erfüllen habt: euch sei die Liebe ein Reizmittel, ein 
stärkender, tonischer Heiltrank und die Gymnastik des Vergnügens 
eine ständige Aufmunterung zur Tat! 


Diesen der Schlaftrunk, jenen — Alkohol. 


Ihr aber, für die die Natur grausam und die Zeit kostbar ist, 
euch sei die Liebe ein animisches, brennendes Kordial. 


Man sei also wählerisch in den Passionen der Liebe. 


Ohne jenes plötzliche Aufblitzen der Liebe zu leugnen (was 
unmöglich ist — siehe Stendhal, Über die Liebe, Buch I, Kap. 23) 
— muß man annehmen, daß. das blinde Schicksal eine gewisse Elasti- 
zität besitzt, die menschliche Freiheit heißt. 


Wie den Theologen die Freiheit darin besteht, die Gelegen- 
heit zu Versuchungen mehr zu fliehen, als ihnen zu widerstehen, 
ebenso besteht in der Liebe die Freiheit darin, die Kategorien ge- 
fährlicher, d. h. für uns gefährlicher, Frauen zu meiden. 


Deine Geliebte, die Frau deines Himmels, wird dir durch 
jene natürlichen Sympathien, die von Lavater, der Malerei imd 
der Bildhauerkunst bestätigt sind, eindringlich genug angekündigt 
werden. 


Die physiognomischen Kennzeichen wären unanfechtbar, wenn 
man sie nicht nur insgesamt, sondern auch gut kennen würde. Ich 
vermag hier nicht, alle physiognomischen Kennzeichen der Frauen 
anzugeben, die ewig und immer mit diesem oder jenem Manne 
zusammenstimmen. Vielleicht werde ich dieser ungeheuren Auf- 
gabe später einmal in einem Buche nachkommen, das ich „Kate- 
chismus der geliebten Frau“ nennen werde. Ich halte es aber 
für sicher, daß jeder, von seinen gebieterischen, unbestimmbaren 
Neigungen geleitet und von der Beobachtung geführt, in einer 
gewissen Zeit die Frau finden kann, die ihm nottut. 


Im übrigen sind unsere Sympathien nicht allgemein gefähr- 
lich; die Natur macht uns beim Essen wie in der Liebe selten das 
schmackhaft, was uns nicht bekommt. 


Da ich das Wort „Liebe“ im umfassendsten Sinne verstehe, 
bin ich verpflichtet, einige besondere Maximen über delikate Een 
niederzuschreiben. . . 


... Mann des Nordens, leidenschaftlicher, in Nebel verlorener See- 
fahrer, Fahnder nach nördlichen Morgenröten, die schöner sind 
als die Sonne, unermüdlicher nach Idealen Dürstender: du liebe 
die kalten Frauen. 


— . — ———— —U Pö— A —Ä—ü—c . — 


Tröstliche Maximen über die Liebe. 323 


Liebe sie sehr, denn des Herzens Not ist größer und herber, 
und du wirst eines Tages vor dem Tribunal der Liebe, das jenseits 
der blauen Unendlichkeit thront, mehr Ehre finden. 

Mann des Südens, dem die klare Natur nicht den Hang nach 
Geheimnissen und Mysterien geben kann — leichtfertiger Mensch, 
aus Bordeaux, Marseille oder Italien: Mögen dir die leidenschaft- 
lichen, heißblütigen Frauen genügen; auf diese Beweglichkeit und 
Lebenslust hast du ein natürliches und vergnügliches Recht. 

Junger Mann, der du ein großer Dichter sein willst, hüte dich 
vor dem Paradox in der Liebe. Laß die von ihrer ersten Pfeife 
trunkenen Anfänger das Lob der wohlbeleibten Frauen aus vollem 
Halse singen; überlasse diese Lüge den Neophyten der pseudo- 
romantischen Schule. Wenn die beleibte Frau manchmal eine reizende 
Laune ist, so ist die magere Frau ein Brunnen düsterer Wollüste. 

Rede niemals schlecht von der großen Natur, und hat sie dir 
eine Liebste ohne Brüste zuerkannt, so sage einfach: Ich habe einen 
Freund — mit Hüften, und gehe hin in den Tempel und sage den 
Göttern Dank! 

Wisse selbst aus der Häßlichkeit Vorteil zu ziehen; aus deiner 
eigenen ist es gar zu leicht. Jeder weiß, daß Trenck, „la gueule 
brülee“,*) von den Frauen verehrt wurde: von seiner Frau. Das 
ist zwar seltener und schöner, aber die „Ideenassoziation“ wird 
es verständlich und natürlich machen. 

Ich nehme an, dein Idol ist krank. Seine Schönheit ist unter 
der Blattern schrecklichen Schorf begraben, wie das Grün unter 
der schweren Eisdecke des Winters. 

Du bist von den langen Ängsten und dem wechselnden Ver- 
lauf der Krankheit erregt und betrachtest auf dem Leibe der ge- 
nesenden Liebsten traurig die unverwischbaren Male. Da hörst du 
auf einem Mal eine ersterbende Melodie in deinen Ohren, die der ver- 
zückende Bogen Paganinis spielt, und diese seelenverwandte Me- 
lodie spricht dir von dir selbst und scheint dir das innerste 
Gedicht deiner verlorenen Hoffnungen zu erzählen. — Von nun 
an werden die Spuren der Blattern einen Teil deines Glücks aus- 
machen und deinem gerührten Blick Paganinis geheime Melodie 
singen. Sie werden von nun an nicht nur ein Gegenstand heim- 
licher Sympathie, sondern auch psychischer Wollüste sein, wenn 
du eben einer jener empfindsamen Geister bist, für die die Schönheit 
vor allem ein Versprechen des Glücks bedeutet. Also ist be- 


*) Eine etwas übertriebene Bezeichnung Baudelaires, die schwer zu über- 
setzen ist. „Une tête brûlée" bezeichnet einen leichtlebigen Instinktmenschen, 
der allen Eingebungen der Leidenschaft sofort nachgibt. „Gueule* ist etwas 
gröber, plitoresker, wenn man will. Der Übersetzer. 


324 Charles Baudelaire; 


sonders die Ideenassoziation die Erregerin der Liebe zu Häßlichen; 
denn wenn deine pockennarbige Geliebte dich verrät, läufst du sehr 
leicht Gefahr, dich nur mit einer pockennarbigen Frau wieder trösten 
zu können. 

Für gewisse Geister, die begieriger und abgestumpfter sind, 
rührt das genießende Schönfinden der Häßlichkeit von einem noch 
geheimnisvolleren Gefühl her: vom Durst nach dem Unbekannten, 
vom Hang zum Schrecklichen. Das ist jenes Gefühl, dessen Keime, 
mehr oder weniger entwickelt, jeder in sich trägt, das gewisse 
Dichter in die Amphitheater und Kliniken und die Frauen zu 
öffentlichen Hinrichtungen treibt. Ich müßte den lebhaft bedauern, 
der nicht begreifen würde; — eine Harfe, der eine wichtige Saite 
fehlt. 

Was den Mangel an orthographischen Kenntnissen betrifft, 
der für gewisse Dummköpfe einen Teil moralischer Häßlichkeit 
ausmacht, so ist es nicht überflüssig zu erklären, wie sehr er ganz 
und gar ein naives Gedicht von Erinnerungen und Genüssen sein 
kann! Der bezaubernde Alcibiades stammelte so nett, und die 
Kindheit hat ein so göttliches Kauderwelsch! Hüte dich also, 
junger Adept der Wollust, deine Freundin richtig sprechen zu 
lehren — sofern du nicht ihr Lehrer sein mußt, um ihr Geliebter 
zu werden. 

Es gibt Leute, die erröten, eine Frau geliebt zu haben, wenn 
sie eines Tages merken, daß sie kreuzdumm ist. Das sind eitle 
Besserwisser, die der liebe Gott schuf, um die unreinsten Disteln 
der Schöpfung abzugrasen oder der Gunst eines Blaustrumpfs zu 
verkuppeln. Die Dummheit ist sehr oft die Zierde der Schön- 
heit; sie gibt den Augen jene trübe Flüssigkeit schwärzlicher Weiher 
und jene ölige Ruhe tropischer Meere. Die Dummheit ist immer 
die Konservierung der Schönheit, sie entfernt die Falten; sie ist 
ein göttliches Schönheitsmittel, das unsere Angebeteten vor den 
Furchen bewahrt, die der Gedanke uns vorbehält — häßliche Weise 
die wir sind! 

Es gibt auch Leute, die es ihren Liebsten übelnehmen, wenn 
sie verschwenderisch sind. Das sind Wucherer oder Republikaner, 
die die Anfangsgrundsätze politischer Ökonomie nicht kennen. 
Einer Nation größte Reichtümer sind ihre Laster. Andere wieder, 
gesetzte Leute, vernünftige und gemäßigte Deisten, die Mittelpartei 
des Dogmas, geraten in Wut, wenn sie sehen, wie ihre Frauen fromm 
werden. Oh, die Ungeschickten, die niemals ein Instrument zu spielen 
fähig sein werden. Oh, die dreimal Dummen, die nicht sehen, daß 
die anbetungswürdigste Gestalt, die die Religion annehmen kann 
— ihre Frau ist! Was für eine köstliche Versuchung liegt darin, 


Tröstliche Maximen über die Liebe. 325 


einen Ehemann zu bekehren! Welche schöne verbotene Frucht ist 
eine große Gottlosigkeit — in einer stürmischen Winternacht am 
wärmenden Feuer bei Wein und Trüffeln — ein stummer Lobgesang 
auf das häusliche Glück, ein Sieg über die harte Natur, der selbst 
die Götter zu lästern scheint. Ich würde nicht so bald zu Ende 
kommen, wenn ich alle schönen und guten Seiten der Eigenschaften 
aufzählen wollte, die man Laster und moralische Häßlichkeit nennt. 
Doch oft bietet sich Leuten von Herz und Einsicht ein Fall dar, 
der verwickelt ist und beängstigend wirkt wie eine Tragödie; wenn 
sie z. B. zwischen dem ererbten und väterlichen Geschmack an: der 
Moralität und dem tyrannischen Geschmack einer Frau stehen, die 
man verachten muß. Zahlreiche schändliche Treulosigkeiten, nie- 
drige Gewohnheiten, schandbare Geheimnisse, die zu unpassender 
Zeit entdeckt werden, flößen einem Abscheu gegen die Angebetete 
ein, und es kommt oft vor, daß man vor der eigenen Freude er- 
schauern muß. Da ist man in seinen platonischen Vernünfteleien 
sehr beunruhigt. Tugend und Stolz rufen einem zu: Fliehe sie! 
Doch die Natur sagt einem ins Ohr: Wohin willst du vor ihr 
fliehen? O, diese schrecklichen Verlegenheiten, in der die stärksten 
Seelen die ganze Unzulänglichkeit unserer philosophischen Er- 
ziehung zeigen! Die Geschicktesten, die sich von der Natur ge- 
zwungen sehen, den ewigen Roman der Manon Lescaut und des 
Leone Leoni zu spielen, finden sich mit der Selbsttröstung ab, daß 
die Verachtung ganz gut neben der Liebe zu existieren vermag. — Ich 
werde jetzt ein sehr einfaches Rezept geben, welches dich nicht 
nur von den schimpflichen Rechtfertigungen entbinden, sondern dir 
auch gestatten wird, deinem Idol nicht die Hörner abzustoßen und 
unsere Kristallisation“) nicht zu benachteiligen. 

Ich nehme an, die Heldin deines Herzens ist, nachdem sie mit 
dem „fas und nelas“ Mißbrauch getrieben, an die Grenzen der 
Verderbnis angelangt, und hat, nachdem sie — als letzten Treu- 
bruch und höchste Qual! — die Macht ihrer Reize an ihren Be- 
wachern und Richtern versucht.**) Wirst du das Ideal so leicht 
abschwören oder, wenn die Natur dich treu und weinend in die 
Arme dieser bleichen Guillotinierten treibt, wirst du im tiefgekränk- 
ten Tone der Resignation sagen: Verachtung und Liebe sind natür- 
liche Geschwister? — Nein, keineswegs, denn das sind die Para- 
doxen eines verängstigten Herzens und dunklen Verstandes. — Sage 


*) Baudelaire bezieht sich hier, wie auch an anderen Stellen, auf Stendhals 
„de amour“. 

8 So wie „Der tote Esel“. Ch. B. — „Der tote Esel oder die guillotinierte 
Frau“ ist ein Roman von Jules Janin, dem bekannten französischen Kritiker, 
auf den Baudelaire hier anspielt. Der Übersetzer, 


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326 Charles Baudelaire: 


vielmehr kühn und mit der Offenheit des wahren Philosophen 
Weniger verbrecherisch wäre mein Ideal nicht vollkommen gewesen 
Ich betrachte es und unterwerfe mich; die große Natur allein weiß, 
was sie aus einer so mächtigen Schurkin machen will. Gipfel des 
Glücks und der Vernunft! Resultante der Gegensätze! Ormuz und 
Ahriman, ihr seid dasselbe! 

Und so kommt es, daß dich die Bewunderung, dank eines 
synthetischeren Anschauens der Dinge, ganz auf natürlichem Wege 
zur reinen Liebe zurückführen wird, zu jener Sonne, deren Leucht- 
kraft alle Makel wegbrennt. 

Sei also eingedenk, daß man sich vor allem vor dem Para- 
dox in der Liebe hüten muß. Die Naivität errettet, die Naivität 
macht glücklich, und wäre deine Liebste häßlich wie die alte Mab, 
die Königin der Schrecken! Im allgemeinen existiert die Liebe für 
die Leute der Gesellschaft — ein geschickter Moralist hat es ge- 
sagt — nur als Liebe zum Spiel, als Liebe zum Kampf. Das ist 
grundfalsch. Liebe muß, stets Liebe sein; Kampf und Spiel sind 
nur als Politik in der Liebe erlaubt. 

Das schwerste Unrecht der modernen Jugend ist, sich Illu- 
sionen zu machen. Ein guter Teil der Verliebten sind eingebildete 
Kranke, die für Arzneibücher viel Geld ausgeben und die Herren 
Fleurant und Puragon reichlich bezahlen, ohne das Vergnügen 
und die Privilegien einer wirklichen Krankheit zu haben. Man 
achte darauf, wie sie ihren Magen durch alberne Arzeneien un- 
geduldig machen und die verdauende Fähigkeit zu lieben ver- 
brauchen. 

Obwohl man mit seiner Zeit gehen muß, hüte man sich sehr, 
dem berühmten Don Juan nachzuäffen, der zuerst, wie bei Moliere, 
nur ein ganz ungeschliffener Schurke war, mit der Liebe verbrüdert 
und wohlbewandert in Verbrechen und Spitzfindigkeiten: — dann 
ist er, dank Alfred de Mussets und Theophile Gautiers, ein künst- 
lerischer Flaneur geworden, der an allen dunklen Orten die Voll- 
kommenheit sucht und schließlich nicht mehr ist als ein alter 
Dandy, hüftlahm von all seinen Fahrten und ein Erzdummkopf 
in Gesellschaft einer anständigen Frau, die in ihren Gatten ver- 
liebt ist. 

Summa summarum: hüte dich in der Liebe vor dem „Mond“ 
und den „Sternen“, hüte dich vor der Venus von Milo, vor den 
Seen, den Guitarren, den Strickleitern und vor allen Romanen, 
selbst dem schönsten — und wäre er von Apollo selbst geschrieben! 

Sondern liebe, die du liebst, inbrünstig, verwegen wie die 
Orientalen und wild; deine Liebe — die Harmonie wohlverstanden 
mit einbegriffen — quäle nur nicht die Liebe einer anderen; deine 


Tröstliche Maximen über die Liebe. 327 


Wahl verstoße nicht gegen das Bestehende. Bei den Inkas liebte 
man seine Schwester; du begnüge dich mit deiner Cousine. Er- 
steige niemals Balkons, beleidige niemals die Öffentliche Gewalt; 
raube deiner Liebsten nicht die Anmut, an die Götter zu glauben, 
und wenn du sie in den Tempel begleiten wirst, wisse deine Finger 
geziemend in das reine frische Wasser der Weihkesselschale zu 
tauchen. k | | 
Da jede Moral von dem guten Willen der Gesetzgeber zeugt 
— da jede Religion ein erhabener Trost für alle Trübseligkeiten 
ist — da jede Frau ein Stück des Frauenwesens ist — kurz, da die 
Liebe das Einzige ist, wofür es sich lohnt, ein Sonnet zu schreiben 
oder reine Wäsche anzulegen: verehre ich alle diese Dinge mehr als 
irgend jemand, und ich denunziere als Verleumder jeden, der aüs 
diesem Fetzen Moral einen Beweggrund zu Bekreuzigungen und 
eine Speise des Ärgernisses machen würde. — Eine schillernde 
Moral, nicht wahr? Farbige Gläser, die die ewige Lampe der 
Wahrheit zu stark färben, die dahinter leuchtet? Nein, nein! Hätte 
ich beweisen wollen, daß alles aufs beste bestellt ist in der besten 
aller möglichen Welten, so würde der Leser recht haben, wenn er, 
wie zu dem Affen von Genie, sagt: Du bist ein Bösewicht! 
Aber ich habe beweisen wollen, daß alles aufs beste bestellt ist in 
der schlechtesten aller möglichen Welten. Also wird mir viel ver- 
ziehen werden, weil ich viel geliebt habe — — — meinen Leser oder 
meine Leserin. 
Einzig berechtigte Übersetzung von Erich Oesterheld. 


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328 


Dr. phil. Richard Hennig: 
Die Verkehrswege nach China. 


er gebildete Deutsche, der von Marco Polo etwas gehört hat, 

betrachtet die Leistung dieses Venetianers, der mit seinem 

Vater und Oheim volle 23 Jahre, von 1272 bis 1205, von 
seiner Vaterstadt abwesend war und dann, als er längst totgeglaubt 
war, mit Schätzen beladen in die Heimat zurückkehrte, als ein ganz 
einzig dastehendes Ereignis, dem bis zum Beginn der neueren Zeit, 
bis zur Ära der großen Entdeckungsreisen, nichts Ähnliches an die 
Seite gestellt werden kann. Tatsächlich waren ja, soweit wir 
unterrichtet sind, die Polos die einzigen christlichen Reisenden, die 
während des Mittelalters bis zum fernsten Osten gereist und glück- 
lich wieder zurückgekehrt sind, aber bei näherer Betrachtung des 
Weltverkehrs im Altertum und Mittelalter muß man doch zu der 
Überzeugung kommen, daß die Leistung Marco Polos und seiner 
Verwandten durchaus nicht etwas gar so Außergewöhnliches 
war. Ohne das Verdienst Marco Polos schmälern zu wollen, dessen 
berühmte Reisebeschreibung einen unschätzbaren Wert für die 
richtige Beurteilung des bereits erstaunlich hoch kultivierten mittel- 
alterlichen China hat, muß denn doch gesagt werden, daß die be- 
liebte Charakterisierung Marco Polos als des „größten Reisenden 
des Mittelalters“, als „Herodot des Mittelalters“ sich einer gewal- 
tigen Übertreibung schuldig macht. Marco Polo kann vielleicht 
mit Recht als der größte christliche Reisende des Mittelalters be- 
zeichnet werden, aber wenn man auch die nichtchristlichen, vor- 
nehmlich jüdischen und mohammedanischen, mittelalterlichen Rei- 
senden in den Kreis der Betrachtung zieht, so war Marco Polo 
nur einer unter vielen, und ganz gewiß nicht derjenige, der 
die umfassendste und großartigste Reise zurückgelegt hat. 

Die Beziehungen der Mittelmeervölker und der in Südwest- 
asien ansässigen Völkerschaften zu den Chinesen gehen schon bis 
in die allerälteste Zeit zurück. 

Die neuen Forschungen der Assyriologen haben uns gelehrt, daß 
schon etwa im dritten vorchristlichen Jahrtausend zwischen Assyrien 
und China ein unregelmäßiger Handelsverkehr stattfand. Die Phönizier, 
deren berühmte Handelsstadt Sidon etwa 1600 vor Christi Geburt 
ihre größte Blüte erreicht hatte, folgten dann den Spuren der 
Assyrer. Natürlich wird dabei nur ein oft wiederholter Tauschver- 
kehr über zahlreiche Zwischenglieder einen Austausch von Waren 
zwischen Asiens äußerstem Westen und äußerstem Osten ermög- 
licht haben, obwohl schon seit 700 vor Christi Geburt regelmäßig 


Die Verkehrswege nach China. 329 


chinesische Seide nach Europa gelangte. Albrecht Wirth sagt 
über diese Beziehungen in einem bedeutsamen Aufsatz über „Ver- 
kehrsbeziehungen zwischen dem alten Rom und China“ (in der 
Monatsschrift „Weltverkehr und Weltwirtschaft“, April 1911 Seite 34): 

„Die ersten Beziehungen Chinas mit westlichen Ländern mögen 
schon in das zweite Jahrtausend vor Christus fallen. Töpferei 
dieses Zeitalters, die man in China fand, weist auf europäische 
Muster. Ein regelmäßiger Handel mit westlicheren Völkern ist seit 
dem sechsten Jahrhundert nachzuweisen.“ 

Und Albert Herrmann bestätigt dies: 

„Schon seit den ältesten Zeiten hat ein Handelsverkehr zwischen 
China und Vorderasien bestanden; er war oft unterbrochen, und 
die Waren gingen von Hand zu Hand, so daß die Verfertiger der- 
selben nicht wußten, wer schließlich der Empfänger war.“ 

Wir können auch den Weg mit einiger Sicherheit verfolgen, 
den dieser ungeahnt frühzeitige Handelsverkehr des östlichen Mittel- 
meeres mit dem fernsten Osten, mit China und Indien, eingeschlagen 
hat. Er lief zunächst von der syrischen Küste nach Mesopotamien, 
dann quer durch Persien, Nord-Afghanistan und Buchara nach 
Ferghana. 

Der weitere Weg nach China von Ferghana ging auf 
schwierigen Gebirgspfaden über den Terek-dawan-Paß und andere 
Pässe des Pamir-Plateaus nach Ostturkestan, etwa über Kaschgar 
hinweg, und dann durch das Tarimbecken auf einer bis ins späte 
Mittelalter, wenn auch mit Unterbrechungen, vielbenutzten Kara- 
wanenstraße, am Lobnor vorbei, durch ein heute von der Wüste 
erobertes Gebiet nach dem chinesischen Osten. Der Mittelpunkt 
dieses antiken Handels war der heute ganz unbedeutende Ort Balch 
im nördlichen Afghanistan, das alte Baktra, das etwa 1½ Jahr- 
tausende lang einer der wichtigsten Knotenpunkte des Welt- 
handels war. i 

Wie Albert Herrmann in seiner wertvollen Monographie: 
„Die alten Seidenstraßen zwischen China und Syrien“ (Quellen 
und Forschungen zur alten Geschichte und Geographie“, Heft 21), 
nachgewiesen hat, hat der westlich-östliche Verkehr über die Tarim- 
Route seit dem Jahre 115 vor Chr. Geburt einen ersten Höhepunkt 
seiner Entwicklung erreicht. 

Die Festigung der wirtschaftlichen Beziehungen ging Hand in 
Hand mit einer Annäherung der politischen Grenzen. Im Jahre 
101 vor Chr. nämlich eroberten die Chinesen Ferghana und suchten 
nun engere Beziehungen mit den westlich wohnenden Völkern, zu- 
nächst vor allem mit den Parthern, in der Folge aber auch mit den 
Römern, anzuknüpien. Eine chinesische Gesandtschaft ging an die 


330 Dr. Richard Hennig: 


am Aralsee wohnenden Aorser, erschien in Ktesiphon und Seleukia 
und gelangte wahrscheinlich auch bis nach Syrien. Ein starker 
Aufschwung des Handelsverkehrs mit den Parthern war die Folge. 
Nachdem die bedeutenden chinesischen Eroberungen im Westen um 
die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts eingestellt worden 
waren, erfolgte in der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen 
Jahrhunderts ein neuer, noch kräftigerer Vorstoß. Das chinesische 
Reich erweiterte damals seine Grenzen bis an den Aralsee, und der 
große chinesische General Pantschao soll ums Jahr 100 nach Chr. 
sogar einen Angriff auf die römische Weltmacht geplant haben. Im 
Jahre 98 entsandte er einen Späher zur Erforschung der westlichen 
Länder, der auch bis an den persischen Meerbusen gelangte. Aber 
dessen Bericht über die außerordentlichen Entfernungen scheint 
den chinesischen Eroberer doch stutzig gemacht zu haben, so daß 
der Angriff aufgegeben wurde. Vielleicht haben auch die Parther 
dabei mitgewirkt, die ihre Stellung als Zwischenhändler bei den 
Seidelieferungen nach Rom bedroht sahen, wenn zwischen der Welt- 
macht des Ostens und der des Westens eine unmittelbare Be— 
rührung kriegerischer oder friedlicher Natur erfolgte. Jedenfalls 
suchten damals die Parther und die von ihnen abhängigen Völker 
in auffälliger Weise die Gunst der mächtigen Chinesenherrscher zu 
erwerben; sie sandten Dolmetscher und wiederholt Tribut an sel- 
tenen Gaben (z. B. Löwen, Gazellen, Straußeneiern) an den 
Himmelssohn. Bald darauf, ums Jahr 120, kamen sogar syrische 
Gaukler und Spielleute zur Residenz des Chinesenkaisers, und im 
Jahre 166 verzeichnen die chinesischen Annalen als besonders denk- 
würdiges Ereignis die Ankunft einer Gesandtschaft von Kaufleuten 
aus Antiochia in Canton (dem Cattigara der Römer), die sich für 
Beauftragte des römischen Kaisers Mare Aurel ausgaben — ob mit 
Recht oder Unrecht, muß dahingestellt bleiben. Es war dies die 
erste unmittelbare nachweisliche Berührung zwischen Mittel- 
meervölkern und Chinesen, die bis dahin mehrfach, aber immer 
vergeblich angestrebt worden war, wie eine aus dem dritten Jahr- 
hundert stammende chinesische Quelle, ein Bericht über Pan— 
tschaos Taten, ausdrücklich bezeugt: „Der Ta-tsin- (Abendland = 
Rom) König wünschte immer mit Han (China) Gesandtschaftsver- 
kehr zu eröffnen, allein Ansih (das Parther- oder Anthenreich) 
wollte seinen Leuten chinesische Seide verkaufen, und so ward er 
verhindert, bis Antun (Antonius — gelegentliche Bezeichnung für 
Marc Aurel), König von Ta-tsin, über Jihnan einen Gesandten ab- 
ordnete. Die Han- Bevollmächtigten früherer Zeiten kehrten alle von 
Wuyih (Hyrkanien?) um; keiner erreichte Tiatchi (Mesopotamien).“ 
(Albr. Wirth.) Wenn dann im Jahre 166 nach Chr. gelang, was 


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Die Verkehrswege nach China. 331 


so oft zuvor vergeblich versucht worden war, die Ausschaltung der 
Partner im Verkehr zwischen Ost und West, so war die Haupt- 
sache hierfür offenbar der erfolgreich geführte Partherkrieg der 
Römer (162—163) und die Eroberung von Ktesiphon und Se- 
leukia durch Lucius Verus. Den Höhepunkt des transasiatischen 
Handelsverkehrs im Altertum stellten, nach Herrmann, die Jahre 
114 vor Chr. bis 23 nach Chr. Geburt und 87 bis 127 nach Chr. 
Geburt dar. Damals sollen zuweilen in einem Jahr ein Dutzend 
Karawanen, jede aus Hunderten von Menschen und Lasttieren be- 
stehend, die Tarim-Route passiert haben. Auch in der Folge blieb 
jedoch ‚der Verkehr Chinas mit dem Abendland lebhaft genug. 
Auch die Kenntnis des Sererlandes (China) wurde immer voll- 
kommener; so erwähnt Ammianus Marcellinus im vierten 
Jahrhundert bereits die chinesische Mauer. 

Der Verkehr der Mittelmeervölker mit Indien war sicherlich 
noch bedeutsamer als der mit China, doch spielte er sich, anscheinend 
wenigstens, seit den letzten vorchristlichen Jahrhunderten seltener 
auf dem Landwege als zur See ab. Meist scheinen die Mittel- 
meerschiffe nur den Nil aufwärts bis nach Koptos oberhalb von 
Theben gefahren zu sein. Von hier wurden die Waren auf dem 
Landwege durch Kamelkarawanen in sieben Tagen nach Myos 
hormos oder in 12 Tagen nach Berenike (beim heutigen Bender 
Kebir) befördert, wohin Ptolomäus II. Philadelphos bereits 225 vor 
Christi Geb. einemitmannigfachen Karawansereien und Brunnen aus- 
gestattete Straße von Koptos hatte anlegen lassen. Von der Küste 
des Roten Meeres ging dann die Fahrt nach Indien. Von Berenike 
oder Myos hormos liefen die Schiffe im Juli aus, erreichten in 30 
bezw. 40 Tagen zunächst Okelis auf der arabischen Seite der Straße 
von Bab el Mandeb und trieben dort in weiteren 40 Tagen mit dem 
Südwestmonsun nach Indien. Die wichtigsten Hafenplätze daselbst 
waren Muziris (Mangalore), Nelkynda (Nelisseram), Kottonarike 
(Cochin) und Barygaza. Über Indiens Südspitze ging dieser Ver- 
kehr jedoch lange nicht hinaus. 

Von einem Seeverkehr bis nach China war bis zur Haupt- 
glanzzeit des römischen Kaisertums keine Rede; vielmehr scheint 
die Landverbindung für den Austausch der Waren allein benutzt 
worden zu sein. Ein griechischer Kaufmann, namens Alexander, 
soll dann der erste gewesen sein, der, seinem großen Landsmann 
Pytheas von Massilia an Wagemut gleichend, zu Schiffe über 
Indien hinaus zunächst zum „goldenen Chersonnes“ (Malakka) 
und dann noch weiter nach dem Osten vordrang. Es geschah dies 
etwa zur Zeit Neros. Von dem „periplus maris Erythraei“ (mare 
Frythraeum heißt ursprünglich der ganze Indische Ozean) dieses 


332 Dr. Richard Hennig: 


Alexander ist eine Beschreibung auf uns gekommen, und von dieser 
geographischen Tat an ist der Gesichtskreis der Griechen und Römer 
ganz bedeutend gegen Osten erweitert. Wirth sagt hierüber in 
seinem erwähnten Aufsatz: 

„Mit dem Periplus und Ptolomäus kommen wir in eine Zeit, 
da den Griechen schon sämtliche südasiatischen Meere und Küsten, 
bis Madagaskar im Süden, bis Jabadin-Java, so von einer Pflanze 
jaba genannt, im Südosten und bis Formosa und Hangtschou im 
Nordosten bekannt waren. Die Fokienstraße hieß griechisch der 
Theriodes-Golf, Formosa die Insel der Satyroi, ohne Zweifel, weil 
dort Wilde mit Zierschwänzen lebten. Die Philippinen nennt 
Ptolomäus „die zehn Inseln Maniola“, wovon der heutige Name 
Manila. Auch im Innern des asiatischen Festlandes weiß Ptolemäus 
gut Bescheid... Er kennt ferner Hinterindien und seine Städte 
und Völkerschaften; die Namen, die er verzeichnet, lassen sich in 
heutigen Lauten noch wiederfinden.“ 

Der „Periplus“ hatte die westlichen Schiffe schon bis zur 
chinesischen Küste, nach „Thinai“ getragen, und ganz flüchtig 
taucht in der Beschreibung jener Reise „wie ein glänzendes Meteor“ 
(Thiessen) die Vorstellung auf, daß man vielleicht damit zu Wasser 
das gesegnete Land der „Serer“ (Chinesen) erreicht habe, von dem 
Europa seit Jahrhunderten so viele, unschätzbare Kostbarkeiten be- 
zog. Doch fiel dieser Gedanke, dessen weitere Verfolgung mög- 
lichenfalls unabsehbare kulturhistorische Konsequenzen nach sich 
gezogen hätte, wieder vollkommen der Vergessenheit anheim, ob- 
wohl der Verkehr Chinas mit dem Abendlande in den folgenden 
Jahrhunderten an Bedeutung zunahm. 

Seit dem sechsten: Jahrhundert erleiden die Beziehungen zwischen 
den Europäern und Chinesen einen raschen, schließlich, seit dem 
achten Jahrhundert, einen rapiden Niedergang. Den ersten Stoß 
versetzte dem lebhaften, aber für die abendländischen Finanzen 
nicht sehr erfreulichen Handel die kluge Maßregel Kaiser Justinians, 
die Seidenzucht auch in Europa einzuführen. 

Eine ungleich ärgere Störung aber, als der Verfall des Seiden- 
handels, bedeutete für die Beziehungen zwischen Ost und West das 
Auftauchen einer neuen Völkermacht im Gebiet der alten Handels- 
wege, einer Macht, die, wie dereinst das Partherreich, eine Mauer 
zwischen Ost und West aufrichtete, die aber für Jahrhunderte die 
Kraft besaß, ihre Reichtum schaffende Zwischenhandelsstellung 
gegen jeden Angriff siegreich zu behaupten. Diese Macht bildeten 
die Araber und die von ihnen im südwestlichen Asien geschaffenen, 
rasch zu erstaunlicher Blüte gelangenden Reiche. Da die Araber 
auch den Seeverkehr im Roten Meer, Persischen Golf usw. be- 


Die Verkehrswege nach China. 333 


herrschten und eifersüchtig darüber wachten, daß niemand ihnen 
ihr Monopol streitig mache; so waren sie vom achten bis zum 
dreizehnten Jahrhundert die nahezu ausschließlichen Vermittler des 
Warenaustauschs zwischen Ost und West, die zu Lande wie zu 
Wasser den Handelsverkehr ostwärts mit Indien, Hinterindien und 
China, westwärts mit allen Mittelmeerländern, mit Byzanz, Ost- 
europa und selbst mit den Ostseeländern und dem Normannenvolke 
vermittelten. Erst als in den Mongolenstürmen des dreizehnten Jahr- 
hunderts Bagdads und Balsoras Herrlichkeit zerstampft und der 
Glanz der Kalifenreiche erloschen war, sank die hemmende Mauer 
dahin, und unternehmende Europäer und Nordafrikaner, zumeist 
Juden, jedoch vereinzelt auch Christen (Polo), zogen wieder bis 
zum äußersten Osten ungehindert dahin. 

Wir kennen die damals vom Handel benutzten Hauptverkehrs- 
wege recht genau. Nicht die uns vertrauteste Literatur der europäi- 
schen Christenheit belehrt uns darüber, denn die römischen Christen 
verabscheuten die friedliche Berührung mit den „ungläubigen“ Be- 
kennern des Islam, obwohl sie die ihnen von Byzantinern und 
Juden zugetragenen Schätze des Orients, insbesondere die Gewürze, 
außerordentlich hoch schätzten. Aber die großen arabischen Geo- 
graphen und Reisenden in der Zeit vom zehnten bis vierzehnten Jahr- 
hundert unterrichten uns ganz genau über die wichtigsten Handels- 
wege jener Zeit sowie über die Zeitdauer, die deren Zurücklegung 
beanspruchte. 

So berichtet uns der im Anfang des elften Jahrhunderts lebende 
Ibn Chordadbeh in seinem Werk „Kitab als -Masalik wa'l Mamalik“ 
(Ausgabe de Goeje, Leiden 1889, S. 116), daß französische und 
spanische Kaufleute entweder durch Europa oder durch Nordafrika 
über Balch nach China reisten. 

Die ganze Reise vom Roten bis zum Gelben Meer konnte 
man zu Lande im ungefähr 8 Monaten zurücklegen. — Der 
zweite Weg hingegen zwischen Europa und China ist uns aus der 
Reiseschilderung Marco Polos wohlbekannt; sein östlicher Teil, 
zwischen Persien (Mesched) und China, fällt mit dem vorgenannten 
zusammen. Während aber in Mesched der Weg nach dem Roten 
Meer und zur syrischen Küste südwestwärts durch Persien in der 
Richtung auf Bagdad abzweigte, lief die wichtigste direkte Straße 
nach Europa westwärts nach Rey weiter, einer wichtigen Stadt in 
der Nähe des heutigen Teheran, von hier nach Djordjan am Süd- 
ufer des Kaspischen Meeres. (Nach Abulfeda a. a. O. S. 298 
dauerte die Reise von der Ostküste Chinas bis zum Kaspischen 
Meer 4 Monate.) Von Djordjan ging es zu Schiff nach Itil 
(= Astrachan) an der Wolgamündung und dann die Wolga hin- 


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334 Dr. Richard Hennig: 


auf bis zur Gegend des heutigen Zarizyn im Wolgaknick. Hier 
teilte sich der Weg abermals. Der eine ging über den uralten, schon 
von Diodor (II § 56) erwähnten Schleppweg (Wolok) zwischen 
Wolga und Don in den letzteren Fluß und durch das Asowsche 
und Schwarze Meer entweder nach Byzanz oder durch die Donau, 
den Dnjestr oder Dnjepr nach West-, Mittel- oder Nordeuropa, der 
andere hingegen erstreckte sich wolgaaufwärts bis zu der hoch- 
wichtigen mittelalterlichen Handelsstadt Bulgar unter dem fünfzigsten 
Breitengrad und von dort westwärts nach Nowgorod, zum Fin- 
nischen Meerbusen und nach Skandinavien. 

Daß auch auf die größten Entfernungen kostbare Waren aus- 
getauscht wurden, beweist die Tatsache, daß die von den Ein- 
wohnern Bulgars in Nordrußland eingehandelten Tierfelle in 
Massen nach Indien gingen, wo sie sehr geschätzt waren und 
teuer bezahlt wurden, beweist ferner der Bericht eines Arabers, der 
im zehnten Jahrhundert in Mainz Gewürze von den Sunda-Inseln 
und Münzen aus Samarkand antraf, beweist schließlich der in 
allerjüngster Zeit gemachte Fund kostbarer Stickereien von chinesi- 
scher Herkunft, den man im schwedischen Dalekarlien gemacht hat. 

Neben der Landverbindung wurde natürlich der Seeweg oder 
eine kombinierte Land- und Seereise viel benutzt. Dabei gelangten 
sowohl arabische Schiffe nach China, wie die chinesischen bis 
zur Euphrat- und Tigrismündung. Ja, schon zur Zeit Ibn Chor- 
dadbehs war den Arabern nicht nur die chinesische Küste bekannt, 
sondern auch Japan (Wäkwäk) und Korea (Schylä). Wie genau 
die Araber, mehrere Jahrhunderte vor Marco Polo, auch über die 
chinesischen Einrichtungen im allgemeinen unterrichtet waren, geht 
aus Masudis eingehender Beschreibung (Ausg. Paris 1841 in 
Kap. XV, I, S. 286—325) klar hervor. Nach desselben Autors 
Schilderung pflegten Juden aus dem Frankenlande übers Mitiel- 
meer nach Farama bei Pelusium zu reisen, dann ihre Waren auf 
Tieren in fünf Tagen nach Colzom am Roten Meer zu schaffen 
und von dort zu Schiff nach Indien und China zu reisen, um 
schließlich mit Muskat, Aloe, Kampfer und ähnlichen Gaben des 
Orients nach Europa zurückzukehren. Oft auch reisten sie bis zur 
Orontes- Mündung und dann über Antiochia und Bagdad nach 
Obollah an der Tigrismündung und von dort auf dem Seewege 
weiter nach China. | 

Die Erbschaft der Araberreiche suchten später die Venezianer 
zu übernehmen, die jedoch nicht entfernt in der Lage waren, den 
Handelsverkehr mit dem fernen Osten regelmäßig oder gar so 
großzügig wie die Araber zu betreiben. Der sich seit den Kreuz- 
zügen stetig verschärfende Gegensatz zwischen Christen und Mo- 


Die Verkehrswege nach China. 335 


hammedanern, die siegreichen Fortschritte der Türken, die schließ- 
lich sogar Konstantinopel eroberten, und andere Faktoren faten 
einem systematischen Handel Venedigs mit dem fernen Osten sehr 
fühlbaren Abbruch; die Auffindung des Seewegs nach Indien ge- 
lang den italienischen Handelsstädten nicht, obwohl die Brüder 
Vivaldi aus Genua schon 1201 das Kap der guten Hoffnung um- 
segelten; ebensowenig glückte die schon damals zeitweilig geplante 
Wiederherstellung einer Wasserstraße zwischen dem Mittelländischen 
und dem Roten Meer, und schließlich liefen die Portugiesen, nach 
Vasco de Gamas großer Tat, allen andern Nationen im Indischen 
Ozean den Rang ab und wachten nunmehr eifersüchtig über 
ihr Handelsmonopol daselbst. Den Spaniern glückte es zwar, von 
Amerika aus einen leidlich regelmäßigen Schiffsverkehr mit China 
ins Leben zu rufen, aber die anderen europäischen Nationen, vor 
allem England und Holland, sahen sich von dem einträglichen 
Handel mit dem fernen Osten nahezu ganz abgeschnitten. Kein 
Wunder, wenn sie nun auf neuen Wegen das vielbegehrte China 
zu erreichen suchten, wenn Hunderte von mutigen Männern, meist 
Engländer, jahrhundertelang ihr Leben opferten, um die „nord- 
östliche“ und „nordwestliche Durchfahrt“ aufzufinden. 

Herbersteins berühmtes Werk über das Rußland des sechzehnten 
Jahrhunderts, das die Behauptung aufstellte, der sibirische Ob ent- 
springe aus einem bei Peking gelegenen See, erweckte dann einen 
gewaltigen Eifer, zu Schiffe zur Obmündung und durch diesen 
Strom nach China zu gelangen. Selbstverständlich blieben diese 
Bemühungen vergeblich. Der Seeweg ums Kap und später, seit 
1869, der durch den Suezkanal, gelangten für den Verkehr Europas 
mit China zwischen 1500 und 1900 zur alleinigen Bedeutung, und 
erst, seitdem die große sibirische Bahn eröffnet ist, also seit 1901, 
hat sich wieder auf einem früher ganz unbekannten Wege ein zu- 
nächst noch verhältnismäßig bescheidener Landverkehr entwickelt, 
der sich aber im Laufe der nächsten Jahrzehnte, zumal wenn man 
erst von dem Baikalsee geradenwegs durch die Wüste Gobi nach 
Peking gelangen kann, zweifellos eine wachsende Bedeutung er- 
ringen wird. 


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336 


Gerhard Ouckama Knoop: Familienkunde. 


uf meinem Schreibtische liegt ein englisches Buch: A Bremen 
A By Georgina Meinertzhagen. — Die Familie 
Meinertzhagen stammt aus der Gegend von Köln und 

blühte in dieser Stadt im 15. und 16. Jahrhundert; nach dem 
30jährigen Kriege kam sie nach Bremen und hier sogleich in eine 
ehrenvolle Stellung, welche sie auf die Dauer behauptete — ähnlich 
wie mehrere gleichzeitig eingewanderte und noch jetzt in Bremen 
einheimische Familien. Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts 
verschlechterte sich die pekuniäre Lage, der letzte Meinertz- 
hagen zog sich mit dem Rest seines Vermögens ins Privat- 
leben zurück und schickte seinen Sohn nach England, wo 
dieser später Partner und Schwiegersohn des bekannten Friedrich 
Huth wurde. Die Verfasserin übt in den Mitteilungen über die 
Ihrigen einige Zurückhaltung; die Hauptsache in dem etwa 300 
Seiten starken Bande sind zwei große Reisetagebücher, das eine 
von einem Daniel Meinertzhagen aus den Jahren 1756—57, das 
andere von dessen gleichnamigem Sohn 1798—99. Und in der Tat 
zeigt sich wenigstens dieser zweite Tagebuchschreiber ganz lebhaft 
und amüsant; außerdem führt er wieder einmal den Beweis, daß 
die alten Bremer keineswegs so steif und philisterhaft waren, wie 
sie es nach der verbreiteten fable convenue gewesen sein sollen. 

Nun läßt sich die Reserve der Herausgeberin wohl verstehen; 
doch wäre vielleicht mancher ihr dankbar gewesen, hätte sie aus 
dem reichen Schatz ihrer Papiere noch freigebiger das Persönlichste 
der verflossenen Tage geschöpft, das uns so selten genau und un- 
gefärbt geboten wird, fast nie in Romanen und Biographien, selbst 
nicht in Autobiographien, und höchstens in historischen Museen 
oder ganz unliterarischen Briefsammlungen. 

Doch auch so schon stellt sich zwischen der Familie Meinertz- 
hagen und dem wohlwollenden Leser eine Art freundschaftlicher 
Verbindung her. Frau Meinertzhagen besorgt die Vorstellung kurz, 
d. h. sie gibt den Stammbaum der Ihrigen in der knappsten Zu- 
sammenfassung; sie meint, jede in leidlichen Umständen lebende 
Familie könne sich dergleichen leicht ausarbeiten; eine Sammlung 
von Namen, von Geburts-, Hochzeits- und Sterbedaten aber besitze 
keinen Wert, wenn darin nicht Menschen hervortreten, die einmal 
eine Rolle spielten, und über die sich etwas sagen läßt. 

Ohne Zweifel ist das bis zu einem gewissen Grade ein- 
leuchtend. Dennoch darf man es begrüßen, wenn der Sinn für 
Familienforschung sich auch da belebt, wo keine Aussicht besteht, 
auf historische Figuren unter den Vorvätern zu geraten. Nichts ist 


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Familienkunde. 337 


zwar törichter, als ein aufs Äußerliche gerichteter „Ahnenstolz“, 
und keine Untugend großdenkenden Gemütern so zuwider wie die 
Eitelkeit. Wer, um dieser banalsten aller Schwächen zu frönen, in 
den Archiven sucht, dem geschähe es recht, wenn ihm alle seine 
Dokumente im Meere versenkt würden, wo es am tiefsten ist. — 
Anders aber ist es mit dem, den Ehrfurcht und keusche Wißbegierde 
zu den Quellen treibt; was er auch finden möge, er wird immer 
einen Gewinn davontragen. 

Das durchschnittliche Resultat wird ja wohl stets sein, daß wir 
alle einen Tropfen Königsblut und gar manchen Tropfen Bettler- 
blut, ebenso wie Ricords berühmten Tropfen Quecksilber in unseren 
Adern haben. Das ist jedoch nicht das Wesentliche. Bildend und 
fördernd ist hier, wie auf den meisten Arbeitsgebieten, mehr die 
Beschäftigung selbst, als das durch die Beschäftigung Erreichte. 
Das Suchen im eigenen Blute kann die Vergangenheit wieder be- 
seelen und gewissermaßen das eigene Dasein nach rückwärts ver- 
längern und damit dem Geist eine höhere Reife geben. Und wir 
heutigen Europäer sind wohl sehr vorgeschritten, aber reif sind 
wir eigentlich nicht; das hängt ohne Zweifel damit zusammen, daß 
unsere Epoche wohl mehr als irgendeine frühere die lebendige Be- 
ziehung zu der Vergangenheit verloren hat, wie groß das rein 
antiquarische und wissenschaftlich-fachliche Interesse an dem einst 
Gewesenen immer sein mag. 

Familiensinn wurde in Deutschland vielfach als ein Vorrecht 
des Adels betrachtet; wo er sonst auftrat, suchte er sich vor der 
Öffentlichkeit schamhaft zu verbergen. Dieser seltsamen Befangen- 
heit wird man so recht inne, wenn man eine französische Todes- 
anzeige in Händen hat: wie da, außer den allernächsten Angehörigen, 
Onkel und Tanten nebst ihren Ehegatten, Vettern und Cousinen mit 
ihren unmündigen Kindern, alle die verwandten und verschwägerten 
Familien sich nennen, um sodann miteinander den Tod eines der 
Ihrigen zu melden. — 

Nun, heutzutage gilt es auch bei uns nicht mehr ohne weiteres 
als „Arroganz“, einen Porträtmaler in Nahrung zu setzen — ob- 
wohl man ja Photographien hat — und so kann wohl auch ein 
einfacher Bürger Kirchenbücher und dergleichen nach Vorfahren 
durchstöbern, ohne darum für größenwahnsinnig verschrien zu 
werden. 

Bei den meisten wird die Sache ohnehin bald ein Ende haben; 
vor der Einwanderung in ein? bestimmte Stadt werden sich die 
Spuren schnell verlieren, auf dem Lande werden je nach der 
Gegend die Aufzeichnungen früher oder später fehlen; und den 
Sturm des 30jährigen Krieges haben nur wenige bürgerliche 


338 Gerhard Ouckama Knoop: 


Stammbäume ausgehalten. Mancher wird auch in seiner Neugier 
abgeschreckt sein, wenn er unter den Seinen auf Hexen und Ver- 
brecher, auf verfolgte Juden und gequälte Leibeigene stößt. Und 
besitzt er die törichte Eitelkeit nicht, sich solcher Vorfahren zu 
schämen, so wird er doch in solchen Fällen selbst bei gutem Willen 
kaum weiter kommen. 

Indessen, nicht nur leichter ist es, sondern auch lehrreicher, 
den Verästelungen der Wurzel in die Breite zu folgen, als dem 
Wurzelstock in große Tiefen. Denn die Verzweigung und gegen- 
seitige Durchschlingung gibt trockenen Geschlechtsregistern erst 
Wert: jedes einzelne von ihnen ist belanglos, in großen Mengen 
bilden sie hingegen ein treffliches statistisches Material. Was für 
den Adel, also in einem eng und einseitig begrenzten Kreise, schon 
bis zu einem hohen Maße geschehen ist, das könnte auch für große 
Teile des Bürger- und Bauerntums geschehen; die einzelnen 
Familienlisten müßten zu größeren Komplexen vereinigt werden, 
die den Druck lohnen; und indem diese sich summierten und er- 
gänzten, ließen sich vielleicht unerwartete Einblicke in die innerste 
Struktur unseres Volksorganismus tun. 

Zu einer wahren Erweiterung unserer Menschenkenntnis aber 
müßte es führen, wenn von jeder aufgezeichneten Person außer 
ihrem Dasein die hauptsächlichsten körperlichen und seelischen 
Eigenschaften angegeben würden, begleitet von einem möglichst 
guten Porträt. Solche Zusammenstellungen setzen freilich eine Fülle 
dokumentarischer Belege voraus und könnten wohl nur von einem 
Teile des Adels geleistet werden, der denn auch mit einem guten 
Beispiel vorangehen möge; doch sind Anfänge solcher Unter- 
suchungen und Veröffentlichungen, wie ich glaube, schon unter 
dem Patriziat gewisser Städte gemacht, z. B. in Mülhausen i. E. 
Was für wundervolle Aufschlüsse über Vererbung könnten uns die 
systematisch durchgeführten Vergleichungen zwischen den Gliedern 
derselben oder einer Reihe verwandter Familien in den verschie- 
denen Generationen liefern! 

Scheinbar würden die Regentenhäuser ja den besten Stoff für 
die Erforschung der Vererbungs- und Entwickelungsvorgänge in 
der Folge der Generationen bilden; aber leider gehören sie zu sehr 
der Weltgeschichte an, und wo die Geschichte anfängt, hört die 
Wahrheit auf. 

Man spricht so viel von Rassenmischung; ist es so, daß die 
Rasse (auch in ihren geistigen Eigenschaften) sich immer wieder 
aus der Mischung neu auferbaut, wie man es nach den viel- 
genannten Versuchen von Mendel denken sollte? 

Mir ist es immer aufgefallen, daß unter den holländischen 
Bildnissen des 17. Jahrhunderts verhältnismäßig so wenig auege- 


Familienkunde. 339 


sprochene Blondköpfe sind; beruht das nur auf einem Nachdunkeln 
der Farben? 

Die Fragen häufen sich, auf die eine neue Erfahrung ant— 
worten soll. 


Inzwischen ist unser Blick heutzutage entschieden, beinahe wie 
hypnotisiert, nach vorwärts gerichtet, das Entschwundene wird 
rasch vergessen, das Kommende wird mit überschwänglichen Hoff- 
nungen, mit unendlichem Vertrauen erwartet, ja, es hat sich fast 
eine Religion ausgebildet der Hoffnung eines künftigen Zustandes 
der Glückseligkeit auf Erden — und bei dieser Stimmung wird es 
auch wohl bleiben, so lange es uns so gut geht, wie es uns jetzt zu 
gehen scheint. 


Allerdings liegt da nun der Einwand nahe, was uns denn eine 
Zeit bedeute, die wir nicht mehr erleben werden; und ebenso 
nahe liegt andererseits der Wunsch, uns mit ihr doch in irgend- 
einer Verbindung zu wissen. 


Unsere Generation — oder muß man das von allen Ge- 
nerationen sagen? — überschätzt sich selbst und unterschätzt die 
Väter. Wie nun aber, wenn wir selbst zu den Vätern heimge- 
gangen sind? 

Es ist ein natürliches Gefühl, daß wir uns bei den Enkeln in 
Erinnerung bringen, von ihnen anerkannt sehen möchten. Und 
dazu haben wir bis jetzt im ganzen wenig getan. Es kann einem 
traurig zu Mute werden, wenn man sich unter den modernen 
Schöpfungen der Gesamtheit wie der einzelnen umblickt nach 
Dingen, die das Altern vertragen könnten. Straßen, die 20 Jahre 
stehen, starren uns schon so entgeistet und innerlich verfallen an 
— und wer mag nociı Bücher lesen, seit deren erstem Erscheinen 
ein Dezennium verflossen ist — es müßte sich denn um die ge- 
wählteste Lyrik handeln. 


Dennoch — was unsere glücklichen Nachfahren leisten werden, 
das verdanken sie zu einem guten Teile uns. Der einzige Triumph, 
den wir uns unter ihnen zu verschaffen imstande sind, ist die Ge- 
wißheit, daß sie uns kennen, daß sie damit ihre Abhängigkeit von 
uns fühlen werden. 


Kahle Stammbäume werden ja leicht zu konstruieren sein, in 
unseren bureaukratischen Tagen ist für genaue Buchführung über 
das Menschenmaterial gesorgt. Aber es liegt an uns, mehr zu 
tun: wir könnten etwas von unserer Individualität hinterlassen. 
Wenn unsere Gräber in kurzer Zeit verfallen, weil auf der Erde 
kein Raum mehr für die Toten ist, so könnten wir statt eines 
Leichenhügels Reliquien hinterlassen, die von Leben durch- 
tränkt sind. 


340 Gerhard Ouckama Knoop: Familienkunde. 


Ich denke mir das so: eine schöne Sitte wäre es — warum 
sollte man nur Sitten zerstören und nicht auch solche auferbauen? 
— daß für jedes Kind bereits ein Kästchen bestimmt würde, ge- 
wissermaßermaßen als ein Fach für das den Nachkommen zu Über- 
liefernde. In dieses Fach kämen einige gute, dauerhafte Photo- 
graphien aus verschiedenen Lebensperioden, etwa auch eine Aul— 
zählung der wichtigsten Körpermasse; ein kurzer Lebensabriß mit 
Erwähnung der wichtigsten Krankheiten; ferner an Papieren, was 
ein Charakterbild des Individuums geben kann. Dazu gehören 
heutzutage Briefe nur noch in seltenen Fällen, demgemäß würde 
es sich um Briefe zumeist nur in einer sehr knappen und sorg- 
fälligen Auswahl handeln; hingegen wäre vielleicht ein und der 
andere Schulaufsatz einzufügen, etwa die Kopie eines Testaments, 
ein Ausgabenbuch, unter Umständen Mitteilungen eines Vereins, 
vielleicht auch das Verzeichnis der allmählich angeschafften Bücher. 
Diese Kästchen müßten nicht zu groß sein, um nicht beschwer- 
lich zu fallen, sie sollten einen gewissen künstlerischen und 
stofflichen Wert besitzen, um geschätzt zu werden, und übrigens 
am besten in der allgemeinen Form nach einem gleichmäßigen 
Schema gebaut sein, damit sie sich auf Gestellen passend unter— 
bringen ließen, etwa wie Bücher. Und auch der Inhalt sollte, 
soweit das bei verschiedenen Individuen und Lebensschicksalen an- 
gängig ist, nach den gleichen Grundsätzen gewählt und geordnet 
werden. So würden unseren Enkeln von uns wahre Menschen- 
bibliotheken überkommen, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn 
diese Bibliotheken nicht auf ihre Besitzer eine starke, geheimnis- 
volle Anziehung ausüben sollten. Was aber an Kenntnis des 
Menschenwesens damit gewonnen sein würde, das ist noch gar 
nicht abzusehen... . 

Das liebenswürdige, anspruchslose Buch der Frau Meinertz- 
hagen hat mich auf weit abliegende Gedanken gebracht. Das mag 
meinetwegen unbegründet sein. Gefreut hat es mich doch, daß ich 
mich ohne besondere literarische Verführung für die Mitglieder einer 
mir gänzlich fremden Familie interessieren konnte, die mit der 
meinigen wohl niemals irgend etwas anderes gemeinsam gehabt 
hat, außer anderthalb Jahrhunderte lang die Vaterstadt. 

Man sagt, wir leben in einer eminent sozialen Epoche. Zu 
einem sozialen Sinn gehört aber nicht nur, daß man dem Nächsten 
höheren Lohn, ordentliche Wohnung und einiges Vergnügen gönnt, 
sondern vor allem auch, daß man an fremder Persönlichkeit Anteil 
nehme. Und sollte einer mit meinen Äußerungen nicht einverstanden 
sein, so wollte ich es mir gern gefallen lassen, daß er sie von den 
Toten auf die Lebenden umdeutete. 


341 


Paula Becker-Modersohn: 
geb. 1876, gest. 197. Briefe und Tagebuchblätter. 


III. 


h fange an, Paris zu überwinden. Ich finde mich selbst wieder und 
Ter innere Ruhe; habe in der letzten Woche schöne, volle, tiefe 

Tage gehabt. Die Eindrücke werden einzelner, man rückt ihnen 
näher und kann sie gesammelt in sich aufnehmen. In den ersten 
Wochen meines Hierseins jagte ein Eindruck den andern. Sie 
ängstigten mich in ihrer ungeheuren Zahl. Nun werden es all- 
mählich alte liebe Bekannte, die einen nicht mehr außer Fassung 
bringen. Ich habe das schöne Gefühl, daß ich tüchtig weiter 
komme, mich nach einer andern S.ite hin strecke und wachse. Das 
ist ein tiefes, ernstes Glücksgefühl. 


* * 
* 


In mir erzittert es, 

Ich ging durch die Mondnacht; 

Ich saß unter lachenden, fröhlichen Menschen, 
Und in mir zittert es. 

Leise klingt es 

Und singt es, 

Summt es, 

Tönt es in mir. 

Es sehnen sich Pulse, Lippen und Schläfen 
Fort in die Einsamkeit. 

So lebe ich fühlend 

Und ahnend und sehnend, 

Bis daß die große Stunde des Glücks 

In mir erzittert. 


x X 
* 


Sehr amüsant wirkt jetzt die eine Ecke des Jardin du Luxem- 
bourg, wo die Studenten hausen. Pärchen neben Pärchen fristen 
sie da ihre Nachmittage. Und da sie in ungeheuren Scharen auf- 
treten, fühlt jedes sich wieder allein und unbewacht. Da sitzen sie 
unter den blühenden Kastanien, sagen nicht viel, denken nicht 
viel, träumen nicht viel, — aber amour! amour! Ich komme aus 
dem Abendakt. Diese Frühlingsmondscheinnächte sind berauschend. 
Die ganze Rapinière jauchzt Frühling. Mandoline und Geige klingt, 
selbst ein Cello läßt sich hören und ein Deutscher singt: „Auch 
ich war ein jüngling mit lockigem Haar.“ Dazu leuchten die 
weißen Kastanienblüten aus dem Nachbargarten und der liebe 


342 Paula Becker-Modersohn: 


Mond. Und vor mir stehen duftende Maiglocken. Und zwischen 
dieser Pracht freu ich mich auf die Heimat. Hier ist alles so hell, 
daß ich oft ungeduldig werde. Bei uns ist der Klang tiefer ge- 
stimmt, voller, ernster. j 

Ich bin seit Tagen traurig, tief traurig und ernst. Ich glaube, 
die Zeit des Zweifels und des Kampfes wird kommen. Ich wußte, 
daß sie kommen mußte. Ich habe sie erwartet. Mir ist nicht bang 
davor. Ich weiß, sie wird mich reifen und weiterbringen. Aber 
mir ist ernst und schwer, ernst und traurig. Ich gehe durch diese 
große Stadt, ich blicke in tausend, tausend Augen. Ganz selten 
finde ich da eine Seele. Man winkt sich mit den Augen, grüßt 
sich, und ein jeder geht weiter seinen einsamen Weg. Dann gibt es 
andere. Mit denen spricht man viele, viele Worte, man läßt das 
Bächlein ihres Geredes über sich fließen, hört den Brunnen ihres 
Gelächters und lacht mit. Und in der Tiefe fließt der Styx tief 
und langsam, und weiß nichts von Bächlein und Brunnen. Ich bin 
traurig, und um mich lagern schwere, duftdurchschwängerte Früh- 
lingslüfte. 

Ich war gestern und heute in der Ausstellung; diese Tage 
bilden einfach eine Epoche in meinem Leben. Alle Nationen sind 
wundervoll vertreten, aber das Schönste für mich sind die Franzosen. 

Der Cottet sagte mir: „Unser Volk ist eines der Dekadenz, 
aber einige Naturen leben innerhalb dieser Dekadenz unab- 
hängig davon. Und das gestaltet ihre Kunst zu einer völlig 
eigenen.“ Und er hat recht. Wir kleben in Deutschland zu sehr 
an der Vergangenheit. Unsere ganze deutsche Kunst steckt zu sehr 
im Konventionellen. Otto Modersohn, das ist einer, der sich durch 
den Berg der Konvention hindurchgearbeitet hat. Die andern ver- 
stehe ich vielleicht nicht und gebe mir keine Mühe.” Denn ein 
Menschlein, das so im Wachstum begriffen ist, wie ich im Augen- 
blick, das muß zuerst an seine eigenen Arme und Beine denken. 

Ich habe ziemlich schwere Wochen hinter mir. Ich habe mich 
so gequält, da war es mir gestern in der Ausstellung wie eine Er- 
lösung. Ich glaube wieder an die Kunst in ihrer ganzen Größe 
und auch, daß mein Feuerlein einst ein wenig Wärme geben wird. 


* m a1. 
Auf der Akademie malt man fast ohne Farbe. Das A und das 
O sind die Valeurs, das andre ist alles Nebensache. Jetzt merke 
ich, wieviel ich da noch lernen muß. Ich dachte, die Valeurs wären 
meine gute Seite, aber ich bin furchtbar ausgescholten worden. Zwei 


Briefe und Tagebuchblätter. 343 


Wochen lang wird an einem halblebensgroßen Akt gemalt, das 
heißt, Licht und Schatten in den rechten Valeurs hingesetzt. 
Malen darf man das eigentlich nicht nennen. Aber das Form- 
gefühl wird dabei verfeinert. 


X 
21: 


eek Überhaupt halte ich mehr von einem freien Menschen, 
der die Konvention bewußt von sich tut. Ich meine, er muß sie 
besessen haben und sich in Selbstzucht und Maß geübt haben. 
Dann kann er sich von ihr abwenden. Redet einer gegen Konven- 
tion, der sie nie besessen hat, da denke ich leicht: „Fuchs, die 
Trauben hängen dir zu hoch!“ Mit dem sogenannten Ausleben ist 
es doch eine wackelige Sache. 

Doch weiter von der Ausstellung, wenn auch nur in Splittern. 
Denn in mir purzelt noch alles durcheinander wie im Kaleidoskop, 
durch das wir als Kinder schauten. 

Cottet hat ein Tryptichon ausgestellt (vom Luxembourg an- 
gekauft): Au pays de la mer. In der Mitte, beim Schein einer hän- 
genden Lampe, Frauen und Kinder beim Abendbrot mit traurig 
wartenden Gesichtern. Durch die Fenstern schimmert blau das 
Abendmeer. Links ein Stück Boot mit Schiffern auf stürmenden 


Wellen, rechts der abendliche Strand mit harrenden Frauen und 


Kindern. Diese Tiefe der Farbe! Dabei ornamentale Größe, ge- 
paart mit zarter, seelischer Auffassung. 


Ein andrer Cottet: Ein Schimmel auf einer Abendwiese. Ein | 


dritter: Drei schwarze Frauen am Strande. 

Der Cottet selbst ist ein feiner Kerl: rothaarig, rotbärtig, 
voller Leben! 

Der Lucien Simon hat mir auch imponiert. Der hat ein eigen- 
artig naives, gesundes Formengefühl und Velasquez-Töne in seinem 
Weiß und Schwarz. In dem Bilde „Männer am Meere“ von Jean- 
Pierer ist eine kleine Ecke, die drückt das aus, worauf ich strebe; 
eine tiefe, farbige Leuchtkraft in der Dämmerung, farbiges Leuchten 
im Schatten, Leuchten ohne Sonne, wie im Herbst und Frühling 
in Worpswede. Blauer Himmel, große, weiße Wolkenballen und 
keine Sonne. 

Wie sehr ich mich auf die Heimat freue! Das, was für mich 
das Schönste ist: das Tiefe, das Satte in der Farbe, sehe ich nicht. 
Es ist ein helles, heiteres, graziöses Land. 

Innerlich sehr nah treten mir die nordischen Völker, nicht so 
sehr durch die Art des Ausdrucks, als durch den Geist, aus welchem 
sie schaffen. 


— = abai ĩðĩ⁊Jm b I Tue ³˙ ne, E 


344 Paula Becker- Modersohn: 


Finnland zeigt höchst originelle Formauffassung. Zwar stört 
mich jetzt ein wenig der Mangel an Konstruktion all dieser nor- 
dischen Menschen. Stört ist nicht der rechte Ausdruck, aber ich 
sehe ihn, während ich ihn früher nicht sah. Das ist ein Pariser 
Fortschritt. 

Segantini ist vertreten mit großen, ernsten Bildern, ein wenig 
hart, aber aus tiefer Seele geschaffen. Ach, was ist man glücklich, 
dies alles schauen zu dürfen! Das Leben ist voll und schön, und 
ich fühle es wundervoll vor mir liegen. 

Da will ich mich gerne schinden und plagen, wenn dann von 
Zeit zu Zeit meine Seele ein Abendlied singen kann. 

Mein Korbstuhl streikt, er will diese sündige Hülle nicht länger 
(ragen, ich sitze nächstens auf der Erde. Überhaupt, was den Kom- 
fort des Lebens betrifft, kann ich manch fröhlich Liedlein singen, 
das lieblicher in der Vergangenheit als in der Gegenwart zu 
singen ist. 

Eine kleine Amsel habe ich aber. Die zwitschert vor meinem 
Fenster, und ein Gewitter hatte ich auch nach Sommerschwüle, und 
nun herrscht wieder Frühlingsduft. 

Und kleine deutsche Maler haben wir auch, mit denen wir 
tanzen und rudern und deutsche Volkslieder singen. Und eine 
ungarische Musikkapelle gibt es mit Walzern!!!! Spottet aller Be- 
schreibung. Sie spielen sogar unsern Worpsweder „Dreifuß“ und 
„O — Komm Karlineken!“ 

Zweimal haben wir hier schon nächtlicherweile auf dem Asphalt- 
pflaster getanzt. Die Leute hier tanzen los, wenn’s ihnen Spaß 
macht. Die warten nicht, wie bei uns in Worpswede, bis zum 
nächsten Schützenfest. 

.. . Also das Fest. Es verlief von Anfang bis zu Ende in allge- 
meiner Glückseligkeit und Stimmung. Der Nachmittag vorher brachte 
die großen Vorbereitungen. Clara Westhoff und ich fabrizierten in 
den Festräumen einen Pudding mit „Mandelgeschmack“ und einen 
mit „Erdbeergeschmack“ und ordneten mit häuslicher Hand das 
Küchenfestinventar. 

Indessen malte die edle Männlichkeit Friese. Im Salon, der 
ganz mit weißem Papier ausgeschlagen war, entstand ein famoser 
Centaurenfries. Im Alkoven, wo die verschiedenen Matratzen und 
Kissen gehäuft waren, ein „Gefilde der Seligen“ Fries. Stühle gab 
es nicht. An Räumlichkeiten gab es noch einen Empfangssalon 
und ein Toilettenzimmer mit lebensgroßem Spiegel. Dies der 
Tummelplatz der großen Fête. Alle Welt kostümiert, alle Welt guter 
Stimmung, oder vielmehr auf Höhepunktstimmung. Tanz mit 
Mandoline und Guitarrebegleitung. Künstlich waren aus starkem 


Briefe und Tagebuchblätter. 345 


Draht zwölf Wandleuchter hergestellt. So prangte der Salon 
in Kerzenbeleuchtung. Im Alkoven schummrige Lampionstimmung. 
Als wir am Morgen, nachdem M.’s Kaffeemaschine liebliche Dienste 
geleistet hatte, die fünf Grundsteinflaschen unserer Bowle zählten, 
ergab es sich, daß wir nur 114 Flaschen getrunken hatten. Das 
andere war alles Jugend und Trunkenheit ohne Wein. Das machte 
mir Spaß. 

Ein Heimweg in unsern Kostümen durch das morgendlich 
dämmernde Paris. Als ich in mein Kemenatlein kam, war es ganz 
hell. Draußen ein Rausch von blühenden Akazien, Vogelmorgen- 
stimmen und gurrenden Tauben. Ich legte mich lange nicht schlafen, 
obgleich ich frei von inneren Beschwerden und Herzaffektionen war. 

Nächsten Morgen 8 Uhr Lever. Akademie. Um 12 Uhr 
Katerfrühstück in den Festräumen bei frohem Schnack. 

Und die Hauptsache schreibe ich Euch zum Schluß. Am 10. 
kommen die Worpsweder: Modersohn und Overbecks. Sie bleiben 
10—14 Tage. Und dann fahren wir miteinander heim. Hurrah. 
Euch allen einen Kuß. 


* 
21: 


Nach einem sonnigen Pfingstsonntag-Kirchenbummel, nach 
etlichem Ungemach wegen mangelhaften Omnibusverkehrs kam ich 
etwas flügellahm zu Hause an. In solchen Augenblicken hat diese 
Stadt etwas Furchtbares. Man fühlt sich so machtlos ihr gegen- 
über. Was sie nicht freiwillig mit überströmenden Händen hergibt, 
das ist ihr nicht abzuringen. 

Im Louvre, der auf längere Zeit wegen Umhängung der Bilder 
geschlossen war, sind neue Säle eröffnet. Ich gehe wieder trunken 
durch alle diese Herrlichkeit. Ich bin sehr froh zu bemerken, daß 
mich dieses halbe Jahr im Verständnis der alten Meister ein gut 
Stück weiter gebracht hat. Daran messe ich meinen innerlichen 
Fortschritt. 

Der Bildhauer Rodin hat eine Sonderausstellung eröffnet, das 
große, ernste Lebenswerk eines Sechzigjährigen. Er hat das Leben 
und den Geist des Lebens mit enormer Kraft gebannt. Für mich 
ist er nur mit Michelangelo vergleichbar und doch steht er mir in 
einigen Sachen näher. Daß es solche Menschen auf Erden gibt, 
das macht es wert, zu leben und zu streben. 

Donnerstag abend Tanz bei „Bullier“. Kennst Du dies große 
Tanzlokal des Quartier Latin, lieber Vater? Ein buntes Bild, un- 
glaublich viel zu sehen: Studenten und Künstler, hübsch und lustig 
in ihren gelungenen Sammetanzügen und Schlapphüten, mit ihren 
kleinen Mädchen, von denen einige Radfahrhosen anhaben, andere 


346° Paula Becker-Modersohn: 


Seidenroben und andere Sommerblusen. Es sind meistens Cou- 
turieres und Blanchisseuses. Und dann gibt es eine eitel Kinder- 
fröhlichkeit, und um 141 Uhr wird das Gas ausgemacht und die 
Leute gehen nach Haus. Weit in den Morgen hinein erstreckt sich 
das Cafeleben hier überhaupt wenig. Um 2 Uhr ist meist alles 
veschlossen. 

Und Montag kommen die Worpsweder! Das ist die Haupt- 
riesenfreude. Überhaupt: Dort ist allezeit mein Sinn. Ich kann 
Euch sagen, manchmal dürste ich nach Heimat. 

Worpswede, Juli 1900. 
lch lausche in die dunkle Ecke meiner Kammer, 
Wie große, stille Augen schaut es wieder, 
Wie große, weiche Hände, die mir den Scheitel streicheln. 
Und Segen fließt durch jede Ader meines Seins. 
Das ist der Friede, der hier bei mir wohnet. 
Zur Seite brennt vertraulich mir die Lampe, 
Schnurrt wie im Traum an ihrem Lied des Lebens, 
Aus dem Gedämmer schimmern weiße Blumen, 
Sie zittern schauernd, denn sie ahnen Zukunft. 
Mit leichtem Flügelschlag umkreist 
Die Fledermaus mein Lager. 
Und meine Seele schaut des Lebens Rätsel, 
Zittert und schweigt und schaut. 
Und neben meinem Lager surrt die Lampe 
Ihr Lebenslied. 


* 
7. x 

Mir kommen heute beim Malen die Gedanken her und hin. 
Und ich will sie aufschreiben für meine Lieben. Ich weiß, ich 
werde nicht sehr lange leben. Aber ist das denn traurig? Ist ein 
Fest schöner, weil es länger ist? Und mein Leben ist ein Fest, 
ein kurzes, intensives Fest. Meine Sinneswahrnehmungen werden 
feiner, als ob ich in den wenigen Jahren, die mir geboten sein 
werden, alles, alles noch aufnehmen soll. 

Mein Geruchssinn ist augenblicklich erstaunlich fein. Fast 
jeder Atemzug bringt mir eine neue Wahrnehmung von Linden, 
von reifem Korn, vom Heu und Reseden. Und ich sauge alles in 
mich ein und auf. 

Und wenn nun die Liebe mir noch blüht, vor dem ich scheide, 
und wenn ich drei gute Bilder gemalt habe, dann will ich gerne 
scheiden, mit Blumen in den Händen und im Haar. 


Briefe und Tagebuchblätter. 347° 


Ich habe jetzt wie in meiner ersten Kinderzeit große Freude 
am Kränzebinden. Ist es warm, und bin ich matt, dann sitze ich 
nieder und winde mir einen gelben Kranz, einen blauen und einen 
von Thymian. 

Ich dachte heute an ein Bild von musizierenden Mädchen bei 
bedecktem Himmel, in grauen und grünen Tönen, die Mädchen 
weißgrau und bedeckt rot. 

Ein Schnitter, im blauen Blusenhemd, der mäht all die Blüme- 
lein ab vor meiner Tür. — Ich weiß jetzt zwei andere Bilder, mit 
dem Tod darauf, ob ich die wohl noch male? 


x 
* x 


Und es dauert doch noch lange. Ich bin gesund und stark 
und lebe. Heil! — | 

Dr. Karl Hauptmann ist auf eine Woche hier. Er ist eine 
große, starke, ringende Seele, einer, der schwer wiegt. Ein großer 
Ernst und ein heiliges Streben nach Wahrheit ist in ihm. Er gibt 
mir viel zu denken. 

Er las aus seinem Tagebuche: Gedankliches und Lyrisches. 
Deutsch hart im Wortlaut, schwer und unbeweglich, doch groß und 
tief. Lege die Eitelkeit ab und sei Mensch. Die Eitelkeit setzt Mauern 
auf zwischen dir und der Natur. Du kommst nicht zu ihr hindurch. 
Die Kunst leidet dadurch. Vertiefen, von innen nach außen leben, 
nicht von außen nach innen. Deshalb gegen Paris für mich. — 
Daneben Rainer Maria Rilke, ein feines, lyrisches Talent, zart und 
sensitiv, mit kleinen, rührenden Händen: Er las uns seine Gedichte, 
zart und voller Ahnung. Süß und bleich. Die beiden Manner 
konnten sich im letzten Grunde nicht verstehen. 


* 
x * 


— Mir ist, ich wäre in der Einsamkeit, 
Und meine Seele waget kaum zu atmen. 
Mit enggeschlossnen Flügeln sitzet sie 
Und lauschet großen Auges in das Weltall. 
Und über mich kommt eine sanfte Milde, 

Und über mich kommt eine große Kraft, 
Als ob ich weiße Blumenblätter küssen wollte, 
Und neben großen Kriegern große Kämpfe fechten. 
— Und ich erwache vor Bewundrung erschauernd: 
So klein, du Menschenkind, und doch die Wogen 
So riesengroß, die deine Seele schaukeln. — 


nern — — Fr 


348 


Emil Waldmann: Römische Kaiserphysiognomien. 


Stock. An den Wänden stehen auf Börten, in zwei Reihen 

übereinander, die Büsten römischer Cäsaren und ihrer Frauen, 
aus vier Jahrhunderten: Jünglinge und Männer, Greise und Kinder. 
Römer, Italiker, Asiaten und Afrikaner. Alles in allem die Ver- 
sammlung jener Menschen, in deren Händen die größte Macht der 
Welt vereinigt war, die es je gab, und von der auch Alexander 
der Große einst nur hatte träumen können. 

Der Bedeutendste unter ihnen, Augustus, steht unauffällig in 
einer Ecke. Ein feiner Kopf mit großen, schönen Augen, scharfen 
Formen von edlem Bau, mit dünner Haut. Der Blick besonnen, 
aber gütig, der Ausdruck ein wenig kränklich, nicht ganz so ge- 
lassen wie in jener Feldherrnstatue, die sich Livia in ihrem Witwen- 
sitz zu Primaporta aufgestellt hatte, nicht ganz so kaiserlich. Aber 
auch noch nicht so durchaus vergeistigt, wie in dem Londoner 
Kopf seiner Alterszeit, wo er aussieht wie Friedrich der Große als 
Greis, unendlich verstehend, ein wenig bekümmert und ein wenig 
resigniert: der Mann, der in späten Tagen Furcht hatte vor der 
Größe der eigenen Herrschaft und seinem ungeliebten Erben Tibe- 
rius riet, er solle das Reich nicht noch mehr ausdehnen. Man 
möchte wissen, woher diesem wahrhaft edlen Antlitz das Kummer- 
volle kam, ob durch diese letzte skeptische Erkenntnis des Weisen, 
oder durch den Gram über die fürchterliche Schande seiner laster- 
haften Tochter Julia, die sich in ihrem Wahnwitz nicht scheute, 
seine Rednertribüne zur Statte ihrer mehr als öffentlichen Buhlerei 
zu machen. Vielleicht war es auch Schuldbewußtsein — er sagte 
sich doch, daß er Tiberius unglücklich gemacht hatte dadurch, daß 
er ihn zur Ehe mit diesem entarteten Geschöpf zwang. Doch das 
bleiben Rätsel. Das letzte Wort hat Augustus nie gesagt, in keinerSache. 

Tiberius, sein Nachfolger, ein Mensch von andrer Rasse. Ein 
harter, intelligenter Soldatenkopf mit hohem, breitem Schädel. 
Äußerlich dem Augustus etwas ähnlich, mit der scharfen Nase und 
dem energischen Kinn, aber nicht so menschlich, etwas unfrei und 
ohne Glauben an sich selbst. Stramm, undurchdringlich, sehr 
leidenschaftlich und verschlossen, wenn auch nicht ganz ohne Güte. 
Aber doch eine Physiognomie, der man es ansieht, daß diesem 
Menschen alles um Befehlen und Gehorchen geht, der beides kann, 
der aber doch in der Einfachheit seiner verbitterten Soldatennatur 
entsetzlich betrogen und am Ende zum Bösen getrieben wird von 
Günstlingen und Weibern. Doch der Wahnwitz, der dann, aut 
Capri, in Todesangst und tolle Mordlust ausartet, ist in seinen 


E Eckzimmer des kapitolinischen Museums, oben, im ersten 


Römische Kaiserphysiognomien. 349 


Bildnissen noch nicht sichtbar. Vielmehr bleibt dieser imposante 
Kaiserkopf der Idealtypus, nach dem für lange Zeit hinaus die 
Bilder der Cäsaren stilisiert werden. 

Neben ihm steht seine Stieftochter Agrippina, das Kind der 
verhaßten Julia und des merkwürdigen Agrippa. Eine kalte Schön- 
heit, ursprünglich vielleicht mit gewissem herben Reiz oder doch 
mit dem Reiz kaltnasiger Koketterie. Aber durchaus dem Gesicht 
sein Gepräge gibt ihr alberner, nackensteifer Hochmut sowie die 
eisige Herrschgier in den brutalen Augen und den verzogenen Lippen. 

Dann kommt Caligula, ihr Sohn. Er sieht seinem Großonkel 
Tiberius ähnlich, mit dem schönen, hohen Kopf und dem feinen, 
nicht großen Mund. Der Wahnsinn, der Tiberius nur am 
Ende seines Lebens heimgesucht hatte, lauert hier schon von 
Anfang an, auch in den schönen Jugendbildnissen, in der bösen, 
wüsten Stirn und den kleinen, tief versteckten und wohl tückisch 
ſunkelnden Augen. Der bleiche junge Mann mit den eingesunkenen 
Schläfen muß das Entsetzen Roms gewesen sein, wenn er, wahn- 
witzig vom Spieltisch auffahrend, heimlich den Befehl gab, einen 
reichen Mann ermorden zu lassen, um schnell ein paar Millionen 
zu verdienen; wenn er sich nackt auf Haufen gestohlenen Goldes 
wälzte oder wenn er seine schöne Schwester Drusilla zur Göttin 
ausrief, weil er, der Gott, sich mit ihr „vermählt“ hatte. Man will 
sich schaudernd abwenden von diesem Ungeheuer, dessen einzige 
wahre Leidenschaft das Massenmetzeln war, und das glücklicher- 
weise vor dem dreißigsten Lebensjahre von der Erde verschwand 
— da grinst einen sein Nachfolger an, Claudius, ein triefäugiger 
Narr mit grobem, wackelndem Kopf, widerlich großen Ohren und 
ekelhaften Lippen, ein öder Fresser und kümmerlicher Weiberheld. 
An Stelle des Wahnsinns nun der Schwachsinn, als Nachfolger eines 
tollen Ungeheuers nun der „Dümmste unter den Dummen“. Dies 
war das Schlimmere. Wenn bei Caligula doch hinter allem und trotz 
allem noch gewisse bedeutende Züge sind und in den Anfängen 
doch noch gewisse Leistungen, an die sich Hoffnungen knüpften, 
hier in diesem rein durch Zufall auf den Thron gekommenen 
Idioten ist das Deprimierendste verkörpert, was je in der Reihe der 
Cäsaren auftrat. Noch seine Idealporträte sehen aus wie Karika- 
turen auf Tiberius, und vor der realistischen, abscheuerregenden 
Kolossalstatue im Vatikan fragt man sich, ob sich hier der Bild- 
hauer habe schadlos halten wollen für die vielen Idealportrtäts, die 
er ihm zu Lebzeiten machen mußte — so, wie sich Seneca in der 
über alle Maßen boshaften „Himmelfahrt des Claudius“ gerächt hat 
dafür, daß man ihn zwang, ihm die panegyrische Leichenrede zu 
verfassen. Daß ein Wahnsinniger Menschen umbringen läßt, begreift 


350 Emil Waldmann: 


man zur Not; aber daß ein Dummkopf fast vierhundert Ritter und 
Senatoren zur Strecke bringt (ungezählt die vielen gemordeten 
Frauen), mußte schließlich selbst Seneca erbittern, der ihn dann in 
eben dieser „Himmelfahrt“ zum rohen Henkersknecht avancieren läßt. 

Ihm zur Seite, womöglich noch uninteressanter und plumper, 
schön frisiert, mit aufgeworfenen, gemein lächelnden Lippen, seine 
Frau Messalina. „Doch das ist ein weites Feld,“ sagte der alte 
Fontane in Fällen, wenn etwas nicht der Rede wert war. Lohnender 
die andere Frau, Agrippina die Jüngere, seine Nichte, die aus ihrer 
ersten (?) Ehe einen Sohn, den Nero, mitbrachte. Ein schöner 
großer Kopf mit vollen Formen, ein echter römischer Adelskopf 
mit feiner, stolzer Nase, herrlichen, weit offenen Augen und großem 
Munde, zu dem nur die schmal gezogenen Lippen nicht recht 
passen wollen. Sehr begabt und bedeutend; stark sinnlich und 
unkeusch auch sie, aber nicht gemein, sondern mit höheren Zielen: 
Der klare Wille zur Macht. Eine tragische Person, schließlich doch 
elend untergegangen unter den Knüppelhieben der Mörder, die ihr 
Sohn Nero ausgeschickt hatte; noch im Sterben schreiend, es könne 
nicht ihr Sohn gewollt haben; — sie hatte alles für ihn getan und 
alles geopfert. 

Da steht er selber mit seinem riesigen Haupt auf dem mäch- 
tigen Cäsarenhalse. Im dämonischen Antlitz, von bacchisch schönen, 
schlangenartigen Locken umspielt, noch die Züge des wahnsinnig 
und schamlos verschleuderten Talentes, geniale Nase wie Balzac, 
‚dickes, bedeutendes Kinn, scharfe, heftige Linien im ganzen Profil, 
von der Stirn angefangen in kurzen Stößen herunterfahrend. In 
den übernatürlich großen Augen und in den Winkeln des üppig 
schmeckenden Mundes lauert ein böses Lachen. So kann er ausge- 
sehen haben in jener Nacht, als er angesichts des brennenden Roms 
wie ein irrer, trunkener Mime den Untergang llions zur Harfe 
deklamierte. j 

Vielleicht ist es ein Zufall, daß hier im Museum dieses ent- 
setzliche Lachen sich gegen eine seiner Frauen richtet, Sabina 
Poppäa, die er bei Gelegenheit dann mit einem Fußtritt umge- 
bracht hat. Vielleicht ist auch diese Büste überhaupt eine Fälschung 
aus der Empirezeit. Aber dies Beieinander ist dennoch unendlich 
yielsagend in seinem Kontrast. Der dämonisch lachende Wüstling, 
und dieses Königin-Luisen-Gesicht mit dem Madonnenscheitel über 
dem süßen Profil und den träumerischen Augen, dieses holde 
Antlitz, das aber durchaus nicht echt war, sondern eine geschickte 
Maske; die Maske einer kalten, depravierten Schönheit, die sich 
durch Prüderie teuer macht und doch nichts zu bieten hat als ein 
wenig Geist, ein wenig Gewandtheit und einen Haufen Unzucht. 


Römische Kaiserphysiognomien. 351 


Nun kommt ein neues Geschlecht, ein anderer Schlag, die 
Flavier. Tüchtiger, ohne die großen Verbrecher. Vespasian muß 
ein kleiner Mann gewesen sein, wahrscheinlich dick und asthma- 
tisch. Ein breiter, voller Kopf mit lebendigem, ewig bewegtem 
Mienenspiel, Redner mit ausgearbeiteten Zügen, etwas schlemmer- 
haft, dabei voll von gesundem Menschenverstand. Und der einzige 
in der ganzen Reihe, der witzig aussieht. Titus, sein Sohn, als 
Kronprinz liederlich und angesteckt von Neros Künstlerfratze, 
wirkt nachher etwas düster und rechnerisch, auch wie sein Vater 
etwas sarkastisch. Domitian gediegen und sehr bürgerlich. Von 
Frauen sieht man nicht viel. Da ist eine, die vielleicht mit Un- 
recht Titus Tochter genannt wird, Julia die Jüngere, eine Hof- 
dame mit hoher, künstlicher Lockenfrisur, ein reizendes Köpfchen 
auf feinem, schmalem, etwas gebogenem Hals, vollen, schönen Lippen 
und sehr edler Nase. Im Ausdruck ein wenig empfindsam; die 
könnte einen Salon gehabt haben. 

Die Linie der Tüchtigkeit, so in der flavischen Dynastie be- 
gonnen, steigt weiter. Nerva, ein verspäteter Republikaner, beugt seinen 
scharfen Greisenkopf mit der Hakennase und der herausgeschobenen 
Unterlippe weit vor, spähend, wie Houdons Voltaire, nur ohne 
Bosheit. Trajan, der Größte seit Augustus, ist das Genie der 
höchsten, anständigsten Sachlichkeit. Mit der geraden Stirn, der 
scharfen Nase und dem festen, runden Kinn sieht er mehr wie ein 
hervorragender Beamter aus als wie der bedeutende, ehrliche, weit- 
blickende Kaiser, der er war. Seine Frau Plotina neben ihm gütig, 
reizlos und ein wenig leidend. 

In Hadrian, von dem vielleicht die meisten Bildnisse überhaupt 
existieren, tritt die äußerliche Genialität in Erscheinung. Ein inter- 
essanter Kosmopolitenkopf, klug, ohne Weisheit, vielseitig, aber ohne 
Tiefe. Unangenehm die zu spitze Nase und das zu spitze unter einem 
kurzen Vollbart versteckte Kinn, und trotz allem etwas gewöhnlich. 
Die Ehe mit Sabina wird kaum sehr glücklich gewesen sein. Sie 
war schön, in klassisch reinen Linien; doch ohne jeden Charme, 
so wie kinderlose Frauen leicht werden, und man glaubt ihr eine 
gereizte Bitterkeit anzusehen. 

Um sich ein wenig zu sammeln für die endlose Reihe der 
Herrscher, die einem noch bevorsteht, tritt man ans Fenster und 
schaut hinab auf den Kapitolsplatz, Michelangelos herrlichem, aus 
drei Fassaden und einer wundervollen Treppe aufgebauten Platz. 
Da reitet im Sonnenlicht, funkelnd in Grün und Gold, auf seinem 
mächtig drängenden Pferde Marc Aurel, mit ruhig gebietender Ge- 
bärde. Von hier oben sieht man seinen Kopf am besten, diesen 
häßlich gewordenen, aber so unendlich sympathischen Denkerkopf. 


352 Emil Waldmann: Römische Kaiserphysiognomien. 


Ein Mann der strengsten Pflichterfüllung, bei weitem nicht so be- 
deutend wie Trajan, nicht einmal so glänzend begabt, wie Hadrian, 
aber dennoch groß und ehriurchterregend. (Man denkt an Kaiser 
Wilhelm den Ersten.) Merkwürdig, wie es zugegangen sein mag, 
daß er häßlich wurde in diesem Leben voll Arbeit und philosophi- 
scher Betrachtung. Als junger Mann war er hübsch, ein heiteres, 
offenes Kindergesicht unter bezaubernden Locken. Mozart als 
Knabe mag so ausgesehen haben; nur die weit vorliegenden flachen 
Augen stören die holde Lieblichkeit. Auch hier wieder, wie immer 
in der Welt, die schmerzende Erkenntnis, daß das Gleichgewicht 
der Seele nur unter Schmerz und Verzicht errungen wird, vielleicht 
auf Kosten persönlichen Glückes. Seine Frau, Faustina die Jüngere, 
scheint eine ernste, stille Gefährtin gewesen zu sein, geistig be- 
deutend, schlicht und streng. 

Unter den Späteren nur wenige Charakterköpfe. Septimius 
Severus tut großartig, ist aber unerträglich aufgeblasen. Die schöne 
Frau, Julia Domna, versteckt ihre wüste Herrschgier unter flacher 
Schöngeisterei und ruiniert sich ihre Schönheit in schamlosen 
Lüsten. Ihr Sohn Caracalla, mit dem berühmten wilden Ausdruck 
in dem auf die Seite geworienen Antlitz, macht Nero und Älexander 
den Großen nach und ist doch nur ein brutaler, größenwahnsinnig 
gewordener Legionär. Das schauspielerhafte Herumwerfen des 
Kopfes scheint nicht von einem Cäsarenbefehl begleitet, sondern 
einem knurrenden, scheuchenden Soldatenfluch. Der Wahnsinn wütet 
weiter in Heliogabalus, der vielleicht doch nicht nur ein unterge- 
schobenes Kind war, sondern am Ende wirklich sein leiblicher Sohn. 
Dieses Nachtgespenst mit den scheuen, großen Augen und den nach 
einem nicht einmal zwanzigjährigen Leben voll wüster Aus- 
schweifungen enttäuschten Mundwinkeln sieht in der Tat aus wie 
das total verrückte Kind eines wahnsinng gewordenen Kriegs- 
knechts. * 

Doch das sind alles schon längst keine Römer mehr. Seit 
Septimius Severus herrschen die Asiaten, und nun löst ein Barbar 
den anderen ab, Angehörige alle der vielen Rassen, die das Im- 
perium vereinigte. Nur ganz selten einmal ein feiner, bedeutender 
Kopf. Herennius Etruskus, der Erbe eines alten adligen, starken 
Italikergeschlechtes, und Philippus Arabs, ein edler Afrikaner 
mit schwermütigen, ernsten Zügen, und Clodius Albinus, ein be- 
kümmerter greiser Gelehrter, sind fast die einzigen erfreulichen Er- 
scheinungen in der großen Reihe dieser Zufalls- und Soldatenkaiser, 
die auf dem alten Throne der Cäsaren ihr Schattendasein führen 
und den Untergang nur mühsam aufhalten. 


* 


353 


Otto Corbach: 
Volksempfinden und auswärtige Politik. 


West- und Mitteleuropa hat es völlig verlernt, Volks- 

empfindungen für die Tagespolitik zu berücksichtigen. Man 
rechnet nur noch mit den vorhandenen Staatsformen, in die die 
Völker meist wie in Prokustesbetten hineingezwängt sind. Nur 80 
erklärt es sich, warum unsere Diplomaten und die in ihren Fuß- 
stapfen wandelnden Zeitungspolitiker immer wieder überrascht 
werden, wenn plötzlich irgendwo der „status quo“ sich ändert, weil 
Völker oder Volksteile unerträglich gewordene Gewaltrechte brechen, 
denen sie bisher gehorchten. Die englische auswärtige Politik hat 
sich früher lange Zeit durch ein sicheres Gefühl und klares Ver- 
ständnis für die tieferen, unbefriedigten Bedürfnisse fremder Völker, 
für deren Leiden und Hoffnungen, die innere Verfassung ihrer Re- 
gierungen und die Kräfte und Aussichten ihrer Freiheitsbewegungen 
ausgezeichnet, aber auch sie ist entartet. Es ist nun gewiß kein 
Zufall, daß die Fähigkeit der englischen Diplomatie, in den auf- 
strebenden Kreisen anderer Völker Zuneigungen und vertrauen 
durch tätige Teilnahme zu gewinnen, in demselben Maße zurück- 
gegangen ist, wie ihre Fühlung mit den Bedürfnissen der bürger- 
lichen Gesellschaft im eigenen Lande. Vor etwa 90 Jahren hatte 
Fürst Metternich in Wien einmal Grund, über die Kritik verstimmt 
zu sein, die im englischen Unterhause an den britisch-österreichi- 
schen Beziehungen geübt worden war. Er wandte sich in seinem 
Ärger an den britischen Geschäftsträger Sir Henry Wellesley; er er- 
warte, erklärte er ihm, die Londoner Regierung werde sich an die 
Haltung des Unterhauses nicht kehren. Sir Wellesley berichtete dem 
damaligen konservativen Minister des Äußern, Canning, diesen 
Zwischenfall; dieser jedoch antwortete ihm darauf, Fürst Metter- 
nich irre, wenn er glaube, die Kritik des Hauses der Gemeinen 
dürfe von den Ministern überhört werden; die britische auswärtige 
Politik sei keineswegs eine bloße Angelegenheit des Kabinetts: 
„Wenn wir unsern Einfluß im Auslande erhalten wollen, so muß 
er den Quellen unserer Kraft in der Heimat entströmen, und die 
Quellen unserer Kraft liegen hier im guten Einvernehmen zwischen 
Volk und Regierung, in der Ubereinstimmung zwischen der öffent- 
lichen Meinung und den öffentlichen Beratern, im gegenseitigen 
Vertrauen und im Zusammenwirken des Hauses der Gemeinen und 
der Krone. Wenn Fürst Metternich sich selbst glauben gemacht hat, 
daß das Haus der Gemeinen nur ein Hemmschuh sei, ein Hindernis 


DD ie Diplomatie und leider auch die öffentliche Meinung in 


354 Otto Corbach: 


für die Bewegungsfreiheit der Ratgeber der Krone, daß die Vor- 
eingenommenheit des Parlaments gemildert, sein Eigensinn besänftigt 
werden dürfe, aber die Haltung der Regierung von seinen An— 
regungen unabhängig bleiben müsse, daß es, kurz gesagt, gelenkt, 
aber nicht befragt werden solle —, so ist er im Irrtum. Es ist ein 
ebenso wichtiger Teil der nationalen Beratung wie der nationalen 
Autorität, und wehe dem Minister, der sich unterfinge, die Ge- 
schäfte dieses Landes nach einem Prinzip zu lenken, das es ge- 
stattete, den Lauf seiner auswärtigen Politik gemeinsam mit einer 
großen verbündeten Macht zu bestimmen, und der sich darauf ver- 
ließe, daß er deren Absichten verwirklichen könne, indem er ein 
wenig Sand in die Augen des Unterhauses würfe.“ Das wurde im 
Jahre 1823 geschrieben. Heute klingt es auch in England in den 
Ohren der Machthaber fast wie eine revolutionäre Lehre, wenn 
einer fordert, das Parlament solle befragt werden, bevor die Mi- 
nister Bündnisse eingehen oder eine neue Wendung in der aus- 
wärtigen Politik. Was unternommen wird, geschieht ohne Wissen 
des Parlamentes und des Volkes; erst lange nach einer von den 
Ministern heimlich ausgeführten Amtshandlung erfährt man darüber 
Näheres, doch nur, um zu hören, daß die Nation für das ein- 
stehen müsse, was in ihrem Namen von den Ministern im Dunkeln 
mit fremden Mächten vereinbart wurde. Das ist alles wie bei uns. 
Nur bäumt sich in England das Volksempfinden auch im Bürger— 
tum gegen eine solche Autokratie des auswärtigen Amtes immer 
wieder auf. Nicht nur durch Volksversammlungen, sondern auch 
durch Beschlüsse von Handelskammern und Stadtverwaltungen. 

Nur wer sich durch die glänzende Fassade des britischen Im- 
periums blenden lassen kann, bezweifelt, daß die britische aus- 
wärtige Politik unter Canning wahrhaft stark und groß war, 
während sie heute schwächlich und kleinlich ist. Es war immer 
viel Heuchelei dabei, wenn John Bull sich vor aller Welt für den 
großen Vorkämpfer der Freiheit und der nationalen Unabhängig- 
keit gab, aber es war früher doch nicht bloß Heuchelei; heute 
kennen die rückständigsten Völkerschaften nur noch ein „perfides“ 
Albion. In Japan hat man schon lange nur noch für Eng- 
land als vorläufig unentbehrlichen Geldgeber freundschaftliche Ge- 
fühle. In China strotzen die Zeitungen gegenwärtig von Wutaus— 
brüchen jungchinesischer Politiker über Englands Quertreibereien 
in Tibet und sein sonstiges Verhalten. In Indien gährt es gewaltig 
unter den 60 Millionen mohammedanischer Bevölkerung; man hat 
an den letzten Schicksalen Marokkos, Persiens und der Türkei er- 
fahren, wie verlassen islamische Völker sind, wenn sie sich auf den 
Schutz Großbritanniens verlassen. Es ist ein sehr bemerkenswertes 


’ 


1 ee 


Volksempfinden und auswärtige Politik. 355 


Zeichen der Zeit, daß das englische Kolonialamt für eine sehr 
wichtige Gruppe von Kronkolonien und Protektoraten im fernen 
Osten der früheren gesetzlichen Gleichberechtigung zwischen Far- 
bigen und Weißen ein Ende gemacht hat. Im Jahre 1004 bestimmte 
nämlich das englische Kolonialamt, daß in Hongkong, den Straits 
Settlements und den verbündeten malaiischen Staaten für alle Unter- 
tanen anderer als reiner europäischer Herkunft (auf beiden Seiten) 
das bisher innegehabte Recht, im politischen oder Verwaltungsdienst 
Ämter zu bekleiden, aufhöre. Dieser Bruch mit jener alten, weit- 
herzigen Politik, die keine Unterschiede der Rasse vor den Ge- 
setzen gelten ließ, beweist, daß sich auch in englischen Kron- 
kolonien die britische Herrschaft nur noch mit starken, gewaltsamen 
Mitteln aufrecht erhalten läßt. Man erwäge aber, daß es auf die 
Dauer unmöglich sein muß, 350 Millionen Farbige von winzigen 
Minderheiten weißer Beamten mit Gewalt in Schach zu halten. 

Im Deutschen Reiche ist seit dem 70er Kriege „Realpolitik“ 
Trumpf. Auch die öffentliche Meinung in der bürgerlichen Ge- 
sellschaft fordert von den leitenden Staatsmännern, daß sie als Real- 
politiker nur mit Tatsachen rechnen. In diesem Sinne hat z.B. ein 
Bäumchen als Tatsache neben einem Baum nicht viel zu bedeuten; 
denn der Baum ist groß und das Bäumchen ist klein. Daß das 
Bäumchen voraussichtlich ein großer, stattlicher Baum sein wird, 
wenn der alte Baum morsch geworden ist, das bleibt außer Be- 
tracht, das wäre „Zukunftsmusik“. So etwas Unreales wie Zu- 
kunftsmusik aber überläßt der deutsche Bürger grundsätzlich der 
Sozialdemokratie, die darum fast alle hinter sich schart, die noch 
jugendliche Vorstellungskraft, gesunden Idealismus besitzen. Die 
deutsche Diplomatie hat bisher fast immer nur mit gewordenen, 
nie mit werdenden Machtelementen zu rechnen verstanden; sie 
wankte daher stets in der falschen Richtung, sobald eine innerlich 
morsche, alte, mit einer jungen, noch unbewährten, aber in aller 
Stille erstarkten Macht in Kampf geriet. Sie mißachtete Japan, so 
lange es Rußland noch nicht besiegt hatte, sie hatte vom Jung- 
türkentum so gut wie keine Ahnung, so lange Abdul Hamid am 
Ruder war, sie verkannte die Kräfte der Balkanslaven vor dem 
jüngsten Kriege, und trotz all solcher Erfahrungen verwechselt sie 
noch heute den Zaren und seinen Hof mit Rußland wie es ist und 
sein wird. 

Es gibt starke Staaten, zu denen schwache Völker gehören, und 
starke Völker, zu denen schwache Staaten gehören. Die Lenker 
moderner Staaten suchen den Völkern, von denen sie abhängen, 
einzureden, daß diese sich am sichersten fühlen dürfen, wenn sie 
möglichst viele Kräfte in Staatswerte, vor allem in Militarismus 


356 Otto Corbach: 


umsetzen. Indessen sind die Pioniere des Militarismus nie aus 
wahrhaft starken, das heißt einer langen Dauer und weiten Ver- 
breitung fähigen Völkern hervorgegangen, sondern immer aus 
solchen, die, durch räumliche Beengung zu frühzeitiger Hyper- 
trophie des Verstandes genötigt, ihren künstlichen Zeitvorsprung an 
kultureller Entwickelung gegenüber vordrängenden rückständigeren, 
aber kraftvolleren und massenhafteren Menschenhorden mit künst- 
lichen Mitteln möglichst lange zu behaupten suchten. Frankreichs Ehr- 
geiz, den Ruhm aufrecht zu erhalten, den es unter Napoleon als 
unbewußten Erwecker schlummernder Energien in östlichen, phy- 
sich stärkeren Völkern erworben hat, ist die Grundursache, warum 
seine Erneuerungskraft zurückgeht. Dieser Ehrgeiz läßt die fran- 
zösische Nation sich in der Produktion von Sicherheiten erschöpfen. 
Ohne das Revanchebedürfnis würden die Milliarden französischen 
Geldes, die dazu dienten und dienen, die Slaven Osteuropas zur 
Bedrohung Deutschlands zu militarisieren, wohl überwiegend in 
wirtschaftlichen Unternehmungen angelegt sein. Jeder Militarismus, 
der aufhört, als ein Mittel der Machtausdehnung einer Nation zu 
dienen, zehrt als ein fressendes Übel an den Kräften der eigenen 
Nation. Der Instinkt der Selbsterhaltung in der Hohenzollern- 
dynastie hat bisher die deutsche Politik genötigt, sich vorwiegend 
auf Gebieten zu betätigen, wo ihr englische oder französische Be- 
strebungen entgegenarbeiteten. In Westeuropa verliert aber der 
Militarismus in dem Maße an Bedeutung, wie Handel und Verkehr 
die wirtschaftlichen Interessen der Nationen miteinander verknüpfen 
und ineinander verflechten. Darum frißt auch in Deutschland der 
Militarismus nach innen. Das Anwachsen des Bureaukratismus und 
die um sich greifende Veramtung des wirtschaftlichen Lebens, 
sind hauptsächlich auf ihn zurückzuführen. Denn wenn der Mi- 
litarismus, wie es seine ursprüngliche Bestimmung war, dazu 
diente, dem Spielraum wirtschaftlicher Unternehmungen zu erweitern, 
anstatt ihn durch unfruchtbaren Konsum zu verengern, so würde 
es keinen Massenandrang zu den Beamtenlaufbahnen geben, und 
das Ideal der an und für sich gewiß, erstrebenswerten sicheren Ver- 
sorgung und Pensionsberechtigung würde nimmer private An- 
gestellten- und Arbeiterkreise bei uns überwältigt, mumifiziert haben. 
„Bureaukratisches Regime bringt unser Volksleben zum Absterben“, 
sagte im Reichstage einmal Reichskanzler von Bethmann Hollweg. 
Das Endergebnis wäre die völlige Knechtung des Volkes durch 
seinen eigenen Staat, unfähig, diesen als sein Werkzeug zu hand- 
haben, läßt es ihn schließlich in fremde Hände übergehen und sich 
durch diese mit ihm ausbeuten. Staaten und Armeen sind künst- 
liche Sicherheitsmittel; für die stärksten Völker sind aber die besten 


Volksempfinden und auswärtige Politik. 357 


künstlichen Sicherungsmittel nur Notbehelfe, die auf einen möglichst 
kleinen Anwendungskreis beschränkt werden müssen; sie können 
natürliche nie ersetzen, sie sind zu teuer. Darin beruht die unwider- 
stehliche, friedenstiftende Wirkung des Völkerverkehrs. Es ist 
billiger, sich zu verständigen, zu verbrüdern, als sich voreinander 
durch Militarismus zu schützen. 

Aus allen diesen Gründen bedeuten die modernen Militär- 
staaten Eintagsfliegen im Vergleich zu Völkern, die sich mehr auf 
ihre Erneuerungskraft, ihren Fleiß, ihren Unternehmungsgeist, ihre 
Intelligenz verlassen, als auf eine politische Machtentfaltung. Die 
Juden, die seit Jahrtausenden nicht mehr zu den staatenbildenden 
Völkern gehören, haben schon viele Staaten überdauert, die sie 
ausrotten wollten. Die Chinesen sind oft von feindlichen Nomaden- 
stämmen unterworfen worden, die über ihnen einen Ausbeutungs- 
staat errichteten; sie haben doch schließlich immer wieder jede Fremd- 
herrschaft abzuschütteln vermocht und bilden heute den vierten Teil 
der Menschheit. Es gibt kein polnisches Reich mehr, aber heute 
mehr als doppelt soviel Polen als zur Zeit der Teilung Polens, und 
die heutigen Polen breiten sich rasch gerade auf Kosten der Völker 
aus, deren Staaten einst das polnische Reich unter sich teilten. 

Kann es also kluge Politik sein, Beziehungen zwischen Staaten 
für wichtiger zu halten, als solche zwischen Völkern, oder jene gar 
allein zu beachten? Die deutsche Diplomatie hat seit dem russisch- 
japanischen Kriege infolge österreichischer Initiative den Mut ge- 
funden, dem Zarenreiche die Stirn zu bieten, aber sie ist sich dabei 
doch nur selbst treu geblieben. Sie rechnet wieder nur mit Staaten, 
nicht mit Völkern. Der russische Staat ist heute schwächer, als 
vor dem letzten ostasiatischen Kriege, aber das russische Volk ist 
viel stärker. Rußland ist die am wenigsten entfaltete, aber auch die 
größte und am wenigsten erschöpfte Macht Europas. Was bei 
anderen Nationen eine Frage um Sein oder Nichtsein bedeuten 
würde, das ist für die Rüssen in der großen Politik nur eine 
Episode. Ein Russe erzählt, ihm habe, als er vor zwei Jahren 
auf einem japanischen Dampfer an Tsusima vorüberfuhr, ein ge- 
bildeter Japaner sein Mitgefühl für die verlorene Seeschlacht kund- 
zugeben gesucht. „Als ich ihm aber sagte, wir wünschten von 
Herzen ein zweites Tsusima, da sah er mich mit völligem Unver- 
ständnis an. Er hielt mich augenscheinlich für verrückt.“ Der ost- 
asiatische Krieg war nur eine Welle im Meer russischer Geschichte; 
der einzelne Russe empfindet ihn lediglich als eine starke Anregung 
für seine Nation, sich ihrer schlummernden Kräfte bewußt zu werden. 
Er zweifelt deswegen nicht im geringsten daran, daß Rußland einst 
alle seine Gegner zerschmettern werde. Was bedeutet dagegen 


358 Otto Corbach: 


Osterreich? Einen starken Staat und ein Gemisch von Völkern ohne 
starkes Zusammengehörigkeitsbewußtsein. Serbien schließlich ist 
ein schwacher Staat, zu dem aber ein offenbar verhältnismäßig 
starkes, opferfähiges, aufstrebendes, zielbewußtes Volk gehört. Wenn 
wir nun Österreich in serbischen Streitfragen gegen Rußland 
die Stange halten, so treten wir zum zweiten Male gegen Rußland 
ausgerechnet in einem Falle auf, wo es in der Pose des Vorkämpfers 
der Freiheit und Unabhängigkeit eines noch schwachen, aber tüch- 
tigen slavischen Volkes auftritt, das unser Bundesgenosse in der 
Vergangenheit politisch oder wirtschaftlich zu erdrosseln suchte. 
Wenn die deutsche Regierung je sich dazu aufgerafft haben würde, 
auch nur ein Wort des Protestes zu riskieren, wenn das Zarenreich 
fremde Völker knechtete, wenn sie sich um das Schicksal der Deutschen 
und der deutschen Kultur in Rußland gekümmert, oder die Ver- 
gewaltigung Finnlands als einen Bruch des Völkerrechts gebrand- 
markt haben würde, dann hätte sie in Deutschland selbst der So- 
zialdemokratie imponiert und auch in Rußland hätte sie moralische 
Eroberungen gemacht. 

Kann das Deutschtum hoffen, das Slaventum auf die Dauer 
mit politischen Machtmitteln in Schach zu halten? Es gibt nur eine 
Möglichkeit, uns auf alle Fälle für absehbare Zeit die Rolle der 
führenden Kulturmacht auf dem Festlande zu sichern; die besteht 
darin, unsere politische Macht entschlossen für die Idee eines eu- 
ropäischen Patriotismus einzusetzen, die langsam in den aufgeklär- 
testen Köpfen Europas heranreift. Es gibt kein Volk, das mehr unter 
der Uneinigkeit Europas leiden muß und das mehr durch eine 
Einigung der Völker dieses Weltteiles zu gewinnen hätte, als das 
deutsche. Wenn es der politischen Wirksamkeit der uns Regierenden 
gelänge, bei unsern Nachbarn die Empfindung zu wecken, und zu 
unterhalten, daß unsere militärischen Machtmittelh für alle Zukunft 
nur bestimmt seien, das europäische Wirtschaftsleben vor Stö- 
rungen bewahren zu helfen, statt es für einseitige deutsche Zwecke 
selbst zu stören, dann wären die größten Hindernisse für jene Be- 
strebungen beseitigt, die eine allmähliche zollpolitische Abrüstung 
zwischen den europäischen Ländern bezwecken, und wenn einmal 
die Zollschranken beseitigt wären, die den zwischenstaatlichen 
Handel Europas behindern, so würden sich gerade für das deutsche 
Wirtschaftsleben bei der Lage Deutschlands glänzende Aussichten 
eröffnen. Die bisherigen Machthaber in Deutschland mögen oft 
den besten Willen gehabt haben, eine das europäische Gesamt- 
interesse fördernde äußere Politik der Versöhnung zu treiben; jeden- 
falls haben sie dabei so gut wie keinen Erfolg gehabt. Das deutsche 
Staatswesen ist im Auslande verhaßt. Engländer, Franzosen, die 


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Volksempfinden und auswärtige Politik. 359 


sämtlichen Südeuropäer, alle unsere Nachbarn, sogar die germani- 
schen Bluts, wie Belgier, Holländer, Schweizer, Skandinavier, von 
den nichtdeutschen Völkerschaften Gsterreich- Ungarns gar nicht 
zu reden, teilen ein starkes Gefühl der Abneigung gegen das poli- 
tische Deutschland. Der Verdruß hierüber kommt im deutschen 
Volke dadurch zum Ausdruck, daß es das Interesse am nationalen 
Prinzip im politischen Leben unter den Gefrierpunkt hat sinken 
lassen. Verleger und Herausgeber stramm „nationaler“ Blätter 
wissen ein Lied davon zu singen. So weit heruntergekommen ist 
bei uns bereits der politische Wert nationaler Gesinnung, daß es der 
Beifügung von „unabhängig“ bedurfte, um das Ansehen des Wortes 
„national“ wieder etwas zu heben. Seitdem werden keine bloß 
nationalen, sondern nur noch „unabhängig- nationale“ Blätter neu 
herausgegeben. Als ob sich für alles wahrhaft Nationale das Un- 
abhängige nicht von selbst verstünde. 

Der deutsch-österreichische Dichter Emil Ertl läßt eine der 
Gestalten in seinem Roman „Auf der Wegwacht“ die Ansicht 
äußern, die geschichtliche Mission Österreichs bestehe gerade 
darin, daß es kein nationaler Staat sei und sein könne: „Das 
neunzehnte Jahrhundert steht unter dem Banne des nationalen Ge- 
dankens. Ich verstehe ihn nicht nur, ich liebe ihn auch, ich selbst 
hänge mit allen Fasern meines Herzens an meinem Volke. Aber 
auch der nationale Gedanke bedarf noch der Läuterung. Wie die 
Religion soll er aufhören ein Schwert zu sein. Gleich einer durch 
edles Räucherwerk genährten Flamme brenne er im stillen Dämmer 
des Allerheiligsten! Vielleicht wird die Zukunft es verlernt haben, 
sich in nationalen Kriegen zu zerfleischen, so wie Religionskriege 
heute undenkbar geworden sind. Vielleicht wird die Zukunft es 
verlernt haben, sich in nationalen Rüstungen zu verzehren, und es 
für einen Frevel halten, die besten Kräfte des Wohlstands den höher- 
stehenden Aufgaben der Gesittung zu entziehen.“ Die habsburgische 
Monarchie hat bisher wahrlich wenig im Sinne dieses Evangeliums 
gewirkt, aber was hindert das Deutschtum daran, es zu übernehmen ? 
Es würde sich dadurch besser gegen das Slaventum schützen, als 
durch den stärksten Militarismus: Wer sein Leben wegwirft, der 
wird es gewinnen. 


360 


Joseph Aug. Lux: Reform der Männertracht. 


n sich sind Kleider weder schön noch häßlich, alles kommt 
A den Träger an. Auch bei der vielgeschmähten heutigen 
Männertracht. Man macht ihr den Vorwurf der Nüchtern- 
heit — aber, ich bitte, ist das ein Fehler? Man nennt sie farblos 
und einförmig — und übersieht geflissentlich, daß wir über eine 
Unzahl von Nüancen und daß wir vom Festkleid bis zum Aviatiker- 
kostüm über einen solchen Reichtum von Formen verfügen, wie 
kaum eine Epoche der Kleidergeschichte vorher. Man findet sie 
langweilig und geschmacklos — ihr Herren Reformer! — sollte die 
Langweile und Geschmacklosigkeit nicht tiefer sitzen — in eurer 
Brust? Wer sich innerhalb der heutigen Tracht nicht geschmack- 
voll zu kleiden versteht — wird es in keiner anderen Tracht besser 
können. Wer den schwarzen Frack mit weißer Krawatte nur lang- 
weilig und trauermäßig empfindet, der hat eben noch nicht erkannt, 
daß in dem unverwüstlichen Akkord von schwarz-weiß die sicherste 
eleganteste und festlichste Wirkung liegt — die zugleich auf Zu- 
rückhaltung beruht. Vorausgesetzt, daß der Frack gut sitzt! Man 
vergißt aber, daß der einzelne Frack nicht entscheidet — das Ge- 
samtbild entscheidet. Schwarz-weiß als Grundton, eine Musik auf 
zwei Noten, auf der eich eine nüancenreiche Kantilene erhebt, die 
schwelgerische, heiter sinnliche, von mitunter phantastischen und 
bizarren Einfällen strotzende Melodie der farbenfrohen Damen- 
toiletten. Die Instrumentation des Gesellschaftsbildes braucht diese 
Kontrastwirkung. 

Aber die Unentwegten zetern: Ofenröhren an den Beinen und 
Armen! Indesen — Hosen und Ärmel scheinen nur dann als 
Ofenröhren, wenn sie schlecht im Schnitt sind und wenn — der 
häufigste Fall — der Träger solcher Ofenröhren nicht ordentlich 
gehen kann. Die wenigsten Leute können gehen. Ich meine die 
Männer — Frauen haben so viel Rhythmus, daß sie sogar zu 
schweben scheinen — wie selten dagegen ein Mann, der sich zu 
bewegen versteht, ohne affektiert oder unbeholfen zu sein. Man be- 
obachte doch die Menschen, wenn sie einzeln durch einen großen 
Saal zu schreiten haben. Am liebsten werden sie es vermeiden und 
sich an der Wand hindrücken. Und fühlen sich arg geniert, wenn 
sie durch die Mitte müssen. Mit den Händen weiß man nichts 
anzufangen, unfehlbar in die Hosentaschen damit. Oder gar kreuz- 
weise über das Gesäß gelegt. Der Gang wird unnatürlich und 
steif. — Kaum einer von lıundert, der wirklich gehen kann. Daran 
wird die Reform mit Kniehosen und Strümpfen nichts ändern. Das 
erste, was der gesunde Gassenbubenwitz in der Schule an dem 


Reform der Männertracht. 361 


Professor entdeckt und verspottet, ist häufig die so linkische oder 
lächerliche Art, mit der so mancher „Menschenbildner“ das Po- 
dium besteigt. Leider geht der Gassenbubenwitz, der die Schwäche 
so rasch entlarvt, den meisten wieder verloren, sie werden wie ihre 
Vorbilder. Man sage nicht, daß es bloße Äußerlichkeiten seien — 
alles Äußere hat auch seinen inneren Grund. 

Es ist auffallend, daß meistens die Leute, die sich nicht mit Ge- 
schmack zu kleiden wissen, am lautesten nach der Reform schreien. 
Zuerst waren es die Apostel der Professor- Jäger-Normalwäsche, 
die sich eine Tracht erfunden hatten. Man wird nicht behaupten, 
daß es sehr geschmackvolle Menschen waren, die vor etwa zwanzig 
Jahren in dem anormalen Normalkostüm herumliefen. Jetzt hat 
sich in Berlin wieder eine Gruppe von Männern zusammen- 
geschlossen, die „eine Gesellschaft für Reform der Männertracht“ 
gegründet hat und durch Herausgabe von Schriften und Heran- 
ziehung von Künstlern und Kunstgewerblern Propaganda für ihre 
Ideen treiben will. 

Man erinnert sich, daß schon vor zehn Jahren ähnliche Re- 
formen mit der Frauentracht versucht wurden und daß die weib- 
lichen Reformkleider von damals ebenfalls auf gewisse ethische und 
ästhetische Grundsätze gestellt waren, die in den Schlagworten von 
der „wahren Schönheit“ in Verbindung mit der „wahren Zweck- 
mäßigkeit“ heute wieder in der männlichen Bewegung dienen. Die 
„wahre Schönheit“ der künstlerischen Reform-Frauentracht der 
Sezessionsjahre offenbarte sich in häßlichen, schlafrockartigen Säcken 
mit plumper, aufdringlicher Ornamentik, und die „wahre Zweck- 
mäßigkeit“ bestand darin, daß die Stützpunkte des Kleides von den 
Hüften weg ausschließlich auf die Schultern verlegt wurden, wo- 
durch bei schweren Stoffen den armen Frauen eine äußerst un- 
vorteilhafte und gesundheitswidrige Haltung anerzogen wurde, als 
ob sie Lasten ziehen müßten; jede klagte über die furchtbare Er- 
müdung, die schon nach wenigen Stunden infolge des Gewichtes 
der nur von den Schultern getragenen schweren Kleider eintrat, 
besonders wenn es Gesellschaftskleider mit Schleppe waren. Nur 
Kunstprofessoren konnten solche Einfälle haben, die dem orga- 
nischen und wohl auch psychischen Gesetz der Trachtenentwicklung 
einfach ins Gesicht schlugen. Die Sache ist an der ihr eigentüm- 
lichen „wahren Schönheit“ und „wahren Zweckmäßigkeit“ zu- 
grunde gegangen. Die Dame von Geschmack war nicht zu be- 
wegen, den Reformsack anzuziehen, und die Geschmacklosen, die 
es taten, sahen deswegen nicht geschmackvoller aus. An einer ein- 
zigen Pariser Schneiderin sind sämtliche reformierenden Kunst- 
professoren zu Schanden geworden. Die Gattin eines bekannten 


2 — 


362 Joseph Aug. Lux: 


deutschen Architekturtheoretikers, die damals in Reformkleidern 
machte und auf Vortragsreisen mit Kleidermodellen in allen Städten 
auftauchte, gestand mir nach einem ihrer Vorträge, daß sie selbst 
die Reformkleider abscheulich fände. „Warum halten Sie dann Vor- 
träge?“ fragte ich erstaunt. „Eigentlich würde ich lieber singen,“ 
sagte sie, „ich bin nämlich von Haus aus Konzertsängerin.“ Und 
sie sang noch am selben Abend in demselben Saal und demselben 
Kreis Cornelius und Mendelsohn und bewies ihre Schulung und 
ihren Geschmack — als Sängerin. Reformkleider trug sie nur zu 
Hause, wenn der Photograph kam, der Kunstzeitschriften wegen, 
die ihr Porträt brachten zu kunstgewerblichen Propagandazwecken, 
großblumige, biedermeierliche Stoffe im Hauskleiderschnitt — das 
Großblumige paßte hübsch zu ihrem Gesicht. 


Die Sache ist vergangen wie alle „Anregungen“, die mit in- 
dividueller Geste den Mangel an positivem Können verhüllen 
sollten — aber der sterile, quäkerhafte Puritanergeist ist geblieben 
und hat ein neues Operationsield erkoren — die Männertracht. In 
der Tat quäkerhaft ist das Idealkostüm, das als Gesellschaftskleid 
vorgeschlagen werden soll: Kniehose, ein hemdartiger Rock, hoch- 
geschlossen, mit einem Gürtel um die Mitte, wie ihn die russischen 
Studenten tragen oder wie ihn die Handwerker des Mittelalters 
trugen, wie man auf alten Holzschnitten ersehen kann, die ja auch 
die langen Beinkleider als Arbeitstracht kannten. Solche Blusen 
und Kittel tragen die Arbeiter in manchen Gewerben übrigens 
heute noch. Als Arbeitskittel und Straßenanzug soll eine kurze 
Jacke gelten, die wir von den Oxford Boys her kennen und in 
einer gewissen Abart bei den Turnern und als Lodenjoppe bei 
den Jägern antreffen — wie man sieht, eine Reform, die nicht ein- 
mal Anspruch auf Originalität hat, weil sie als Uniform gewisser 
Stände längst in zweckmäßigerer Verwendung vorhanden ist, auch 
als Dienerlivree, und eine Dürftigkeit aufweist, gegen die unsere 
angeblich so nüchterne Herrengarderobe üppig und als das Werk 
einer verschwenderischen Phantasie erscheint. Nun ist gar nicht 
zu bezweifeln, daß ein gut gewachsener Mensch in der Kniehose 
vorteilhaft aussehen wird, wie andererseits nicht zu leugnen ist, 
daß er in langen Beinkleidern ebenso ausgezeichnet wirkt, wofern 
er es überhaupt versteht, sich elegant zu tragen. Überdies haben 
wir die Kniehose bereits, sie bildet einen wesentlichen Bestandteil 
unserer heutigen mannigfachen Sporttracht, die sich aus der Praxis 
heraus entwickelt hat und von den Herren am grünen Tisch ziemlich 
mißverständlich auch für die nichtsportlichen Gelegenheiten in An- 
spruch genommen wird. Bei dem Reichtum an Kleidervariationen 
wird auch der Einwand hinfällig, daß unsere Tracht seit hundert 


Reform der Männertracht. 363 


Jahren erstarrt sei und keinen Fortschritt mache. Sie macht im 
Gegenteil sehr große organische Veränderungen durch und ist 
einem natürlichen Gesetz des Wachstums unterworfen, wie alles, 
das dem Leben dient und künstlich weder verändert noch durch 
etwas ganz Anderes, Willkürliches, ersetzt werden kann. 

Die Kniehose ist auch aus naheliegenden praktischen Gründen 
nicht für alle Gelegenheiten das einzig zweckmäßige Kleidungs- 
stück. Wer als Sportmensch die Kniehose getragen hat, empfindet 
außerhalb des Sportbetriebes die langen Beinkleider, die leichter 
und angenehmer sind, geradezu als Fortschritt. Dicke Männer 
mit versulzten Waden sind kein erquicklicher Anblick in Kniehosen 
und Strümpfen, ebensowenig Dickbäuche mit Spindelbeinen. Ver- 
gönnen wir ihnen die Pantalons! 

Es kann sich nicht darum handeln, die Vorschläge der Reformer 
im einzelnen zu widerlegen — es streift ans Absurde, wenn unter 
anderen ein bekannter Professor — Schnittlauch auf allen Suppen — 
ganz ernsthaft eine Debatte über die Zweckmäßigkeit des Hosen- 
schlitzes eröffnet und die altniodische Form des Hosenlatzes dringend 
zur Einführung empfiehlt. Ein Arzt erklärt das Taschentuch als eine 
unhygienische Einrichtung — er plädiert — nicht etwa für ein 
reines Taschentuch, sondern — für das Schneuzen mit den beiden 
Fingern — ohne Taschentuch. Und wieder meint der Professor 
Suppenschnittel, warum tragen wir nicht als einzige Kopfbedeckung 
die Kappe? Und warum ist die Kappe nicht aus Leder, dem 
einzig zweckmäßigen Material? Er meint wohl, weil sie im Sommer 
so hübsch heiß und schwer und im Winter sehr angenehm kalt ist. 
Man erkennt aber aus den wenigen Beispielen, die ich hier anführe, 
daß die „wahre Schönheit“ und die „wahre Zweckmäßigkeit“ auch 
in der Männertracht unterwegs ist. Es läßt sich heute schon vor- 
aussagen, daß es damit so ergehen wird wie mit der Frauen- 
Reformtracht. Dieselbe Geschichte wie in der Fabel vom Pferd und 
Kamel. Man wird so lange verbessern und die „Verbesserung“ 
wieder verbessern, bis man schließlich dort anlangt, wo die zeit- 
gemäße Tracht heute steht. 

Nicht daß etwa die heutige Männerkleidung keiner weiteren 
Entwicklung fähig wäre. Sie ist konservativ und dennoch fort- 
währenden Wandlungen unterworfen, wobei nicht der Modewechsel 
gemeint ist. Die Mode ist eine Schneidererfindung, die Tracht ist 
an die psychischen Voraussetzungen der Gesellschaft und des Volkes 
gebunden. Sie wird nicht erfunden oder gemacht, weder von ein- 
zelnen noch von einem Verein, sondern sie ist entstanden — ge- 
wachsen, wie das Schneckenhaus wächst. Und ändert sich erst, 
wenn sich die innere Verfassung der Allgemeinheit ändert. „Kleider 


364 Joseph Aug. Lux: Reform der Männertracht. 


machen Leute“ hat auch den Sinn, daß sich die gesellschaftliche 
Zugehörigkeit äußerlich durch die Tracht ausdrückt. Der einzelne 
unterliegt dem Kleiderzwang und hat es nicht in der Hand, will- 
kürlich zu ändern, wenn er nicht der Lächerlichkeit oder der Achtung 
verfallen will. Die Sucht aufzufallen, erregt Ärgernis, und es ist 
immer verdächtig, wenn einer heute im Kostüm des Apostels Jo- 
hannes oder Tolstois in den Straßen herumgeht oder sich die 
Haare bis auf die Schultern wachsen läßt. Ich glaube nicht sehr 
an die Echtheit und innere Bedeutung solcher Menschen, die sich 
sozusagen die Haare über den Kopf wachsen lassen und in dem 
Gefühl, daß man ihnen keine Monumente setzen wird, vor sich 
selber Monument stehen. Die Bekannten reden deswegen von einem 
solchen „Original“ nicht respektvoller und die Fremden sagen kurz 
und bündig: Der Kerl ist ein Narr! Ich fürchte ähnliches für die 
Reformtrachtler. 

Es soll gar nicht geleugnet werden, daß unsere Herrentracht 
in manchen Stücken verbesserungsbedürftig ist. — Der steife Hals- 
kragen ist wirklich ein Übel. In der Sommertracht hat sich die 
hübsche Neuerung eingeführt, daß die Kragen der weichen Hemden 
über den Rock zurückgeschlagen werden und der Hals ganz bloß 
liegt. — Das ging am Land und auch nur im Sommer, solange es 
Klima und Wetter erlaubte. Vielleicht kommt von daher einmal 
eine Besserung für die städtische Tracht, die, wie alle Trachten, 
die Summe der Erfahrungen und Verbesserungen der Gesamtheit 
sind. Es ist bisher keinem gelungen, an Stelle des steifen Kragens 
eine Form zu setzen, die sich bewährt hätte. Wir müssen also 
trachten, das Beste aus ihm und den Gesellschaftskleidern, die wir 
haben, zu machen, und wer’s nicht glaubt, der sehe sich die Zeich- 
nungen eines Reznicek an, um zu wissen, wie durchaus elegant 
und ästhetisch befriedigend unsere Tracht sein kann. Wer aber im 
Frack wie eine Vogelscheuche aussieht, dem kann ich garantieren, 
daß er in jeder anderen Tracht auch nur eine Vogelscheuche sein 
wird. Das ist der springende Punkt. | 


365 
Max Oehler: Soldatenlieder. 


aß die im Liede zum Ausdruck kommenden Empfindungen des Volks 

Beachtung verdienen, ist anerkannt. Seit der englische Bischof 

Thomas Percy 1765 in seinen „Resten alter englischer Dichtungen“ die 
erste nationale Volkslieder- und Balladensammlung schuf und damit einen weit- 
reichenden Eindruck erzielte, ist in allen Ländern fleißig gesammelt worden, 
und gerade in Deutschland haben die b sten Geister der Volkspoesie, „der 
Muttersprache des Menschengeschlechts“, ihre Aufmerksamkeit gewidmet; es 
genügt, an Hamann, Herder, Goethe, Heine, Arnim, Brentano, Uhland, Hoff- 
mann v. Fallersleben, R. v. Liliencron, die Gebrüder Grimm zu erinnern. — 
In der neuesten Zeit, deren bestimmende Tendenzen solchen Bestrebungen 
wenig förderlich sind, ist zwar mit wissenschaftlichem Ernst, aber, wie es 
scheint, mit weniger Liebe weitergesammelt worden; immer aber hat sich der 
Sammeleifer vorwiegend auf die alten Volkslieder beschränkt. 

„Sobald ein Volk anfängt, Kunst-Musik zu pflegen, ist es mit seinem 
Volkslied vorbei“ — ein Satz, den man auf allen Gassen hört, der ganz 
einleuchtend klingt und trotzdem falsch ist. Was weiß und merkt „das Volk“ 
eines Volkes von der Kunst-Musik? — Nichts. Es schert sich den Teufel 
darum und macht und singt nach wie vor die Lieder, die es versteht: unge- 
schickt im Ausdruck, plump in der Form, sprunghaft in der Gedankenfolge, 
inhaltlich bald lyrisch, bald dramatisch bewegt, oft sentimental, manchmal 
derb, nicht selten von überraschender Zartheit der Empfindung; die Melo- 
dien melancholisch oder ausgelassen lustig, auch die traurigen oft mit Widi- 
bummvalleras und Juchheirassas dekoriert, — alles genau dem Wesen des 
Volkes entsprechend und. somit recht eigentlich Kunst; sofern nämlich eine 
Kunst nur dann diesen Namen voll verdient, wenn die Erzeugenden wie die 
Genießenden zu dem Geschaffenen in einem unmittelbaren Verhältnis stehen; 
— ein Zustand, von dem unsere „gebildeten“ Kreise bekanntlich erheblich 
weit entfernt sind, wenigstens betreffs der Dichtung und der bildenden 
Künste, einschließlich der Architektur. Am besten steht es da noch mit der 
Musik. — 

Wo sind denn nun solche Perlen der Volkskunst, wirkliche Volkslieder, 
heute zu hören? Überall, wo unverbildetes, unverhetztes und unabgehetztes, 
in den Großstadt-Tingeltangels noch nicht verkommenes Volk lebt, d. h. da, 
wohin die Leute, die den unaufhaltsamen Niedergang des Volksliedes ver- 
künden, niemals kommen. Vielleicht aber die liebevollste Pflege, und zwar 
ohne alle Anwendung von Zwangsmitteln seitens der Vorgesetzten, findet das 
Volkslied im Heer. Soldaten haben zu allen Zeiten gern gesungen, — die 
Menge der alten Volkslieder, die ausgesprochene Soldatenlieder sind, legt 
Zeugnis dafür ab. Sie singen auch heute noch gern, auf dem Marsch, im 
Biwak, beim Putzen, Gewehrreinigen und anderen langweiligen Beschäf- 
tigungen. Die allgemeine Wehrpflicht macht das Heer zu einer zentralen 
Erhaltungs- und Verbreitungsstätte des Volksliedes. Die Mannschaft der 
jüngeren Jahrgänge lernt die Lieder von den „alten“ Leuten und gibt sie an 
die nächste Generation weiter; in dem Gardekorps strömen Jahr für Jahr 
Leute aus allen Teilen des Reichs zusammen; in den östlichen, wenig be- 
völkerten, aber garnisonreichen Provinzen dienen Mannschaften aus den 
westlichen, dichter bewohnten Gegenden, aus Schleswig-Holstein, Rheinland, 
Westfalen, Hamburg; die Urlauber, die von den verschiedensten Truppen- 


366 Max Oehler: 


teilen an den Feiertagen in ihrem Heimatdorf oder Städtchen zusammen- 
kommen, längere Zeit auf Übungsplätze, zur Schießschule, zum Lehrbataillou 
usw. Kommandierte, — sie alle tragen zur Verbreitung ansprechender, leicht 
faßlicher Lieder bei. Nur so erklärt es sich, daß eine große Zahl von 
Liedern Gemeingut des ganzes Heeres ist und bleibt; man hört sie am Rhein, 
in Thüringen, wie in Ostpreußen und Schlesien. Oft genug erhält man auf 
die Frage, woher die Leute dieses oder jenes neu aufgetauchte Lied haben, 
zur Antwort: Das hat der Gefreite N. von Urlaub mitgebracht, oder: Das 
hat uns Sergeant X. (der von irgendeinem Kommando zurückgekehrt ist) 
„gelernt“. Vor einigen Jahren hörte ich plötzlich von einer aus Hamburgern, 
Westfalen und Westpreußen bestehenden Kompagnie oben im Nordosten des 
Reichs mit Begeisterung ein Loblied auf Tirol singen: „Das schönste in 
der Welt ist mein Tirolerland mit seinen stolzen Höh’n und seiner Felsen 
wand“ usw. Ich bin überzeugt, nicht ein einziger von den Sängern wußte, 
wo Tirol liegt. Nähere Nachforschungen ergaben, daß ein von einer süd- 
deutschen Unteroffizierschule kommender Unteroffizier das Lied hier ein- 
geführt hatte. Mit seiner hübschen, flotten Melodie bürgerte es sich rasch 
bei fast allen Kompagnien des Regiments ein und wird heute noch gesungen. 
Wie ein anderes Lied, in den das Schwabenland eine entscheidende 
Rolle spielt, und das hier seit Jahren viel gesungen wird, sich nach dem 
Norden verirrt hat, habe ich nicht ergründen können. Es lautet folgender- 


maßen: 


Auf dieser Welt hab’ ich keine Freud’, Und als ich kam über Berg und Tal, 
Ich hab' nen Schatz, und der ist weit, Sah ich mein’ Schatz auf Schildwach 
Er ist so weit, so weit, über Berg und Tal, stehn. 
Daß ich ihn nicht mehr sehen kann. Mir sprang das Herz, mir tat’s so weh, 
Und als Ich ging über Berg und Tal, Daß ich mein’ Schatz aufSchildwach seh. 
Da sang so schön die Nachtigall, Und als ich kam in die Vorstadt hinein, 


Sie sang so schön, so schön, sie sang Da schenkt er mir ein Ringelein, 
so fein; Ein Ringelein an der rechten Hand, 
Sie sang, ich sollte glücklich sein. Damit sollt ich ins Schwabenland. 


Ins Schwabenland da will ich nicht, 
Denn lange Kleider trag ich nicht; 
Denn lange Kleider und spitze Schuh, 
Die kommen keiner Dienstmagd zu. 


Eines Tages hörte ich von vorwiegend aus Hamburg stammenden, 
erst wenige Wochen dienenden Rekruten, die noch nie zusammen hatten 
singen können, auf dem Marsch zum Schießstand ein bekanntes Soldatenlied. 
Sie hätten es zu Hause oft von vorbeimarschierenden Abteilungen gehört, 
sagten sie. Man kann häufig beobachten, daß die sich bei den Kasernen 
herumtreibende Vorstadtjugend die in den Abendstunden aus den Kasernen- 
fenstern erschallenden Lieder mit- und nachsingt; — ebenfalls ein wichtiger 
Verbreitungsfaktor. 

Was singen unsere Soldaten nun, wenn man sie singen läßt, was sie 
wollen? Kürzlich hat man es für nötig erachtet, sich durch Verfügungen 
des Marschgesangs im Heere anzunehmen und vor allem „Heil dir im 
Siegerkranz“, „Ich bin ein Preuße“ und „Deutschland, Deutschland über 
alles“ empfohlen. Man wird damit wenig Glück haben, denn derartige 
Lieder sind gar nicht beliebt bei den Leuten: bald ist es der Text, bald 


Soldatenlieder. 367 


Rhythmus und Melodie, was ihrer Enıpfindungsweise nicht entspricht. Da- 
gegen das Lied von dem Mädchen, das Brombeeren suchen ging und ganz 
etwas anderes fand: 


Es wollt’ ein Mädchen früh aufstehn, 
Dreiviertel Stund’ vor Tag, 

Im Wald wollt’ sie spazieren gehn, 
Ju ja ju spazieren gehn, 

Bis daß der Tag anbrach usw.; 


oder: Kehr'n wir einst wieder 
In unsrer Heimat ein, 
Schwarzbraunes Mädel, 
Du schenkst uns ein..... 


oder: Setzt zusammen die Gewehre, 

Legt ab des Tornisters Schwere, 

Helm ab! hier ist Rendez-vous. 

Laßt uns eins gemütlich singen, 

Bald wird Horn und Trommel klingen, 


Und vorbei ist's mit der Ruh..... 


Das sind Lieder, die gern und freiwillig gesungen werden, die sich 
jeder rasch aneignet, die nicht eingeübt zu werden brauchen; sie singen sich 
von selbst, es sind Volkslieder. Es gibt viele Dutzende dieser Art, zuzeiten 
verschwindet das eine oder das andere auf Jahre hinaus und scheint gänzlich 
vergessen, da taucht es plötzlich wieder auf. | 

Wer macht diese Lieder und ihre oft entzückenden Melodien, die so 
untrennbar von dem Text sind, daß dem Kenner der Lieder immer eiwas 
fehlt, wenn er sie geschrieben sieht, und daß er sie nur singend zu 
lesen vermag? — Niemand weiß es. Es sind Volks-, es sind Soldatenlieder 
der alten, echten Art: die alten, vertrauten Gestalten: der Jäger, der Wan- 
derer, der Soldat auf einsamer Wacht oder zu Tode verwundet, der treue 
Kamerad, das Mädchen, die Jägersfrau, die Frau Wirtin, die Müllerin; die 
wohlbekannten Szenerien: der Wald mit Hirschen und Rehen und den 
Vöglein, die so wunderschön singen und unter denen die Frau Nachtigall 
den ersten Rang behauptet, Wiese und Garten, Blümlein und Bächlein, Berg 
und Tal, ferne Straßen und blutige Schlachtfelder und die weite, weite Welt; 
die uralten, ewig jungen Stoffe: Kampf und Tod für Freiheit und Vaterland, 
Liebe, Treue und Untreue, Abschiedsweh, Verlassenheit und Wiedersehn, 
Sehnsucht nach der Heimat und der Liebsten, Sterben und Begrabenwerden. 
Von Gräbern und ihrem Blumenschmuck wird mit Vorliebe gesungen, 2. B. 
in den folgenden hübschen Liedern: 


Ist alles dunkel, ist alles trübe, 


Dleweil mein Schatz 'nen andern liebt. 


Ich hab’ geglaubt, sie liebet mich, 


Aber nein, aber nein, sie hasset mich. 


Was nützet mir ein schöner Garten, 
Wenn andre drin spazieren gehn 
Und pflücken mir die Blümlein ab, 
Daran ich meine Freude hab. 


N 


Was nützet mir ein schönes Mädchen, 
Wenn andre mit spazieren gehn 

Und küssen ihr die Schönheit ab, 

An der ich meine Freude hab'. 


Ja, dort auf jenem Rasenhügel, 

Da baut man mir ein einsam Haus, 
Und wenn ich sie nicht lieben darf, 
Dann kommen all die schwarzen Bruder 
Und legen mich ins kühle Orab. 


368 Max Oehler: 


Die letzten Strophen des anderen Liedes lauten: 


Ich muß wandern auf fremden Straßen, Auf meinem Grab, da könnt ihr's lesen, 
Muß meinen Schatz einem andern lassen. Was für ein treuer Schatz gewesen, 
Die ich hab so treu geliebt, Der hier liegt und der hier ruht. 

Hat mich nun so sehr betrübt. Ach, sein Herz war treu und gut. 


Auf mein Grab, da könnt ihr pflanzen 
Viel schöne Blumen, schöne Pflanzen, 
Auch die eine, die da spricht: 

Leb wohl, leb wohl, vergiß mein nicht. 


Doch nicht immer überläßt man sich der Trübsal, sondern gefällt 
sich in Trotz und Hohn: 
Sie sagt', ich sollt' sie nehmen, 
Sobald der Sommer kommt. 
Der Sommer ist gekommen, 
Ich hab’ sie nicht genommen; 
Scher dich weg von mir, scher dich weg von mir, 
Scher dich weg von meiner Tür.“) 


oder: Deine Schönheit reizt ınich nimmer, 
Denn es gibt ja viele Frauenzimmer, 
Die viel schöner sind wie du, 
Die viel schöner sind wie du. 


Es wäre nun wunderbar, wenn im Heer mit seiner Ununterbrochen- 
heit der Entwicklung, seiner hohen Bewertung der Überlieferung, seinem 
steten Anknüpfen an das Gewesene, — wenn in dieser Sammel- und Be- 
wahrungsstätte des Volksliedes sich neben den neueren nicht noch Reste der 
alten Lieder erhalten hätten. Und in der Tat bringt das Durchblättern 
jeder beliebigen Sammlung alter Volkslieder den Beweis, daß es so ist. Ich 
greife die deutschen Volkslieder „Von Rosen ein Krentzelein“ (K. R. Lange- 
wiesche) heraus und stelle hier einige der alten Texte und ihrer neueren 
Varianten zusammen. Es handelt sich bei den letzteren nur um solche, die 
ich selbst in den letzten Jahren von Soldaten habe singen hören. Da ist 
zunächst das alte Lied „Marlbruck“. Der Herausgeber der genannten Samm- 
lung sagt darüber: „Das Lied verdankte seine Entstehung dem Gerücht, daß 
Marlborough in der Schlacht bei Malplaquet 1709 gefallen sei... Seine Ver- 
breitung in Deutschland bezeugen frühzeitig fliegende Blätter: 


Alte Fassung: 


Marlbruck zog aus zum Kriege, Sah ihren Pagen kommen, 
Weiß nicht, kommt er zurück. Wie traurig kam er her. 

Er kommt auf Ostern wieder, „Ach Page, lieber Page, 
Längst Trinitatis noch. Was bringst du Neues mit?“ 
Trinite ist nun vorüber, „Das Neue, das ich bringe, 
Marlbruck kam nicht zurück. Macht schöne Augen naß. 
Madame stieg in die Höhe, Leg ab die rosigen Kleider 


So hoch sie steigen kann, Und deinen Blumenschmuck. 


*) Die weite Verbreitung des Liedes, dem diese Strophe entnommen Ist, und das zu den be- 
liebtesten Soldatenliedern gehört, wird dadurch bezeugt, daß Tetzner in seinem Buch „Die Slawen 
In Deutschland- (Braunschweig 1903) es unter den Hochzeitsliedern der Polaben anführt. Auch 


zwei andere ausgesprochene und bekannte Soldatenlieder nennt er unter den Liedern der Kuren. 


Soldatenlieder. 369 


Dein Marlbruck ist gestorben, Sein großes Schwert ein dritter, 
Tot und begraben schon. Der vierte, der trug nichts. 
Ich sah'n zu Grabe tragen, Um seines Grabes Hügel 
Vier Offiziers trugen ihn. Ist Rosmarin gepflanzt. 
Der eine trug den Harnisch, Auf seinem höchsten Zweige 
Der andre seinen Schild. Schlug eine Nachtigall.“ 

usw. 


Neue Variante: 


Ein Fähnrich zog zum Kriege, „Die Neuheit, die ich bringe, 
Widibummvallera, juchheirassa! Macht dir die Auglein rot. 
Ein Fähnrich zog zum Kriege, Dein Fähnrich ist erschossen, 


Yes 1 87 nn er 1 9 ' Ist tot und lebt nicht mehr. 
r weiß, kehrt er zurück ?* 
ee Bene Ich hab’ ihn sehn begraben 


Er liebt’ ein schwarzbraunes Mädchen, Von vielen Offiziers. 


Die war so wunderschön. Der erste trug sein'n Küraß, 


ER: Der zweite sein Gewehr, 
Sie ging zum hohen Berge 


Und schaute nach ihm aus. Der dritte seinen Degen, 
Der vierte seinen Hut. 
Sie sah einen Fähnrich kommen, 


Über sein Grab wurde geschossen 
Von Blut war er so rot. 


Mit Pulver ohne Blei. 


„Ach Fähnrich, lieber Fähnrich, Da droben auf jenem Hügel, 
Was bringst du Neues mir ?* Da singt die Nachtigall.“ 


In dem sehr alten Lied von der schwarzbraunen Hexe, die von dem 
wilden Jäger zu Tode gehetzt wird, heißt es am Schluß: 


Es wuchsen drei Lilien auf ihrem Grab, 
Es kam ein Reiter, wollt’s brechen ab. 
„Ach Reiter, laß die Lilien stan! 

Es soll sie ein jung frischer Jäger han!“ 


Dasselbe Motiv behandelt ein von den Soldaten viel gesungenes Lied: 


Drei Lilien, drei Lilien, Und sterbe ich noch heute, 

Die pflanzt’ ich auf mein Grab; So bin ich morgen tot, 

Da kam ein stolzer Reiter Dann begraben mich die Leute 

Und pflückt sie ab. Ums Morgenrot. 

Ach Reitersmann, ach Reitersmann, Ums Morgenrot, ums Morgenrot 

Laß doch die Lilien stehn; Will ich begraben sein, 

Die soll ja mein Feinsliebchen Da bin ich bei meinem Feinsliebchen 
Noch einmal sehn. So ganz allein. 


Auch das zuerst 1560 in Augsburg gedruckte Lied vom Gretlein, das 
von ihrem Liebsten von des Vaters Hof geführt wird, lebt noch heute unter 
den Soldaten: 


) Ich gebe die erste Strophe mit allen Wiederholungen, wie sie die einfache, im Marsch- 
rhythmus etwas elntönig dahinfließende Melodie verlangt. 


370 Max Oehler: 


Alte Fassung: 


Da nahm er's bei den Händen, 
Bei ihrer schneeweißen Hand, 
Er führt’ es an ein Ende, 

Da er ein Wirtshaus fand. 


Die Gret hub an zu weinen. 
„Ach Gretlein, liebstes Gretlein, 
Warum weinest du so sehr? 
Reuet dich dein freier Mut 
Oder reuet dich dein’ Ehr'?“ 


Es reut mich nicht mein freier Mut, 
Dazu auch nicht meine Ehr’, 

Es reuen mich meine Kleider, 

Die werden mir nimmermehr.“ 


„Nun Wirtin, liebe Wirtin, 
Schaut aus um kühlen Wein; 
Die Kleider dieses Gretlein 
Müssen verschlemmet sein.“ 


„Ach Gretlein, liebstes Gretlein, 
Nun laß dein Weinen sein, 
Gehst du mit einem Kindlein klein, 
Ich will der Vater sein.“ 

usw. 


Neue Variante: 


„Lieb Mädchen, warum weinest du? 
Weinst du um deinen stolzen Mut? 
Oder weinst um deine Ehre, 
Die du längst verloren hast?“ 


Ich ging einmal spazieren 

In einem grünen Wald, 

Da begegnet’ mir ein Mädchen 
Von den Jahren achtzehn alt. 


Ich nahm das Mädchen bei der Hand 
Und führt’ sie in den grünen Wald, 
In dem Walde, ja im Walde, 


„Ich weine nicht um meinen Mut, 
Auch nicht um meines Vaters Gut, 
Doch ich hab’ hier was verloren, 


In dem Wald in ein Wirtshaus rein. 


„Frau Wirtin, schenken Sie mal ein 
Für dieses Mädchen Bier oder Wein, 
Denn sie hat ja Sammet und Seide 
Und das muß versoffen sein.“ 


Und als das Mädchen das vernahm, 


Und das finde ich nicht mehr.“ 


„Hast du etwas verloren? — 
Einen Sohn hast du geboren, 
Darum weinest du, darum weinest du, 
Darum weinest du so sehr!* „ 


Ich dreht’ mich um und lacht’ sie aus 


Und such’ mir eine andre aus. 
„Ohne dich, ja ja, ohne dich, ja ja, 
Ohne dich kann ich schon sein!“ 


Da fing sie sehr zu weinen an, 
Ja sie weinte, ja sie weinte, 
Ja sie weinte bitterlich. 


Das Zwiegespräch: „Weinst du um deinen stolzen Mut, 
Oder weinst um deines Vaters Gut, 
Oder weinst um deine Ehre?“ usw. 


kommt so oder ähnlich sehr häufig in den alten Liedern vor. Ich finde esin 
der genannten Sammlung noch in „Ulrich und Ännchen“, „Stolz Sieburg“ und 
„Das Mädchen und der Reiter“. Das letztere hat — wenigstens mit den 
ersten Strophen — den Grundstock zu einem noch jetzt verbreiteten Soldaten- 
lied abgegeben: 


Alte Fassung: 


Es ritt ein Reiter zum Berg hinauf. 
Was sah er auf der Straße stehn ? 


Ein junges Mädchen, und das war schön- 


Er red’t mit ihr, er sprach zu ihr: 
„Willst du nach meinem Willen tun? 
Auf gruniger Heide zu jagen?“ 


Soldatenlieder. 371 


„Nach eurem Willen tu’ ich nicht, „Und weinst du vielleicht über Geld 
Auf gruniger Heide jag’ ich nicht, und Gut?, 
Ich will eine Jungfrau bleibe. — — — — — — - — - - — — 


Ich bin ein Mädchen von achtzehn Jahr 
Und trage ein Kränzlein im schwarz- 

braunen Haar, 
Die Rosen will ich brechen.“ 


‚Ich weine um meine Ehre. 


Und als sie die erste Rose brach, Ich weine um meinen Rosenkranz, 
Da rannen ihr die Tränen 'rab, Der liegt zu Straßburg auf der Schanz, 
Da fing sie an zu weinen. Den darf ich nicht mehr tragen.“ 


Neue Variante: 


Es wollt' ein Jäger jagen Das tat den Jäger verdrießen, 
Dreiviertelstund’ vor Tagen Er wollte das Mädchen erschießen 
Wohl in dem grünen Wald. Wohl um das einzige Wort. 

Da begegnet’ ihm auf der Heide Das Mädchen fiel ihm zu Füßen, 
Ein Mädchen im weißen Kleide, Er sollte sie doch nicht erschießen 
Die wollt' er haben zur Eh’. Nur um das einzige Wort. 

Er tät’ das Mädchen wohl fragen, Er tät sich gleich wieder bedenken, 
Ob sie ihm helfen wollt' jagen Er wollte das Leben ihr schenken 
Ein Hirschlein oder ein Reh. Um Ihre süße Lieb’. 

„Dir jagen helfen, das tu’ ich nicht, „Das Kränzlein sollst du bald tragen, 
Das ist der Mädchen Arbeit nicht, Ein schneeweißes Häublein und Kragen. 
Du bist ein schlechter Jägersmann!“ Und wirst meine Jägersfrau.“ 


Das traurige Lied vom jungen Grafen, dessen Liebste ins Kloster geht 
und dem darüber das Herz bricht, läßt sich bis ins 15. Jahrhundert zurück- 
verfolgen; es wird in veränderter Fassung überall im deutschen Heer viel ge- 
sungen. Das Urteil Herders über die mir nicht bekannte alte Melodie: 
„traurig und rührend; an Einfalt beinahe ein Kirchengesang“, paßt durchaus 
auf die jetzige, die also im wesentlichen wohl unverändert geblieben ist. Die 
neue Fassung lautet: 


Es welken alle Blätter, ‚Ist eine reingekommen, 

Sie fallen alle ab, So kommt auch keine raus. 

So muß ich mein’n Schatz verlassen, Und wer drin ist, muß drin bleiben 
Den ich geliebet hab'. Im dunklen Nonnenhaus.“ 

Ins Kloster wollt' sie gehen, Da kam sie an die Pforte, 

Wollt' werden eine Nonn', Schneeweiß war wohl ihr Kleid, 
So muß ich die Welt durchreisen, Und ihr Haar war abgeschnitten, 
Bis daß ich zu ihr komm'. Zur Nonn' war sie bereit. 

Am Kloster angekommen, Was trug sie in dem Körbchen? 
Ganz leise klopft’ ich an: Zwei Flaschen roten Wein. 

„Gebt heraus die jüngste Nonne, „So leb’ wohl, mein Herzallerliebster, 
Die zuletzt ins Kloster kam!“ Das soll dein Abschied sein.“ 


Drauf hat er noch getrunken 

Die zwei Flaschen roten Wein, 
Und nach dreimal dreißig Stunden, 
Starb er zu Köln am Rhein. 


372 Max Oehler: 


Alte Fassung (letzte Strophen): 


Und da sie vor's Kloster kamen, Das Nönnlein kam gegangen i 
Wohl vor das hohe Tor, In einem schneeweißen Kleid, : 
Fragt’ er nach der jüngsten Nonne, Ihr Härl war abgeschnitten, l 
Die in dem Kloster war. Ihr roter Mund war bleich. 


Der Knab’, er setzt’ sich nieder, 
Er saß auf einem Stein, 

Er weint’ die hellen Tränen, 
Brach ihm sein Herz entzwei. 


Man muß es bedauern, daß bei einigen Liedern die neuere Fassung 
eine gröbere, unkultiviertere Form zeigt als die alte. 
* * 
* i 
In der Tagesliteratur tauchen hier und da Notizen auf, die das leb- 4 
hafte Interesse weiter Kreise für die Volksdichtung bekunden. Es erstreckt 
sich häufig gerade auf Soldatenlieder im engeren Sinne, so das schon seit a 
Mitte des vorigen Jahrhunderts bekannte Reservistenlied: | 
Was blinkt so freundlich in der Ferne? 
Es ist das liebe Vaterhaus. 
Wir sind Soldaten, sind es gerne, 
Doch jetzt ist unsre Dienstzeit aus. 
Drum, Brüder, stoßt die Gläser an, 
Es lebe der Reservemann. 
Wer treu gedient hat seine Zeit, 
Dem sei ein volles Glas geweiht. 
usw. 
oder die alte „Rewelge“ (auch in der Sammlung „Von Rosen ein Krentzelein“), 
deren Anfangsstrophe der Stamm eines neuen Textes geworden ist: 


Des Morgens zwischen dreien und vieren, 
Da müssen wir Soldaten marschieren 

Das Gäßlein auf und ab, 

Feinsliebchen schaut herab. 


oder die merkwürdige, bei den Soldaten sehr beliebte Umformung des 
wackeren „Ich hatt’ einen Kameraden,“ die jeder Strophe folgenden Refrain 
angehängt hat: 

Gloria! Viktoria! 

Mit Herz und Hand 

Fürs Vaterland! 

Die Vöglein im Walde, 

Die sangen so schön; 

In der Heimat, in der Heimat, 

Da gibt's ein Wiedersehn! 


Es wäre zu wünschen, daß das offenbar vorhandene Interesse für den 
Volksgesang sich auch betätigte. Es ist eine so kleine Mühe, derartige 
Lieder auſzuschreiben; freilich muß durchaus auch die Melodie festge- 
halten werden: mit dem Text hat man das Volkslied erst halb. In jeder 
Provinz gibt es heute Vereine und Gesellschaften für Volkskunde, Landes- 
geschichte usw. und zahlreiche andere Sammelstellen, die für jeden Beitrag 
aus privaten Kreisen dankbar sind. Warum will unsere Zeit, der das 
Sammeln doch so außerordentlich erleichtert ist, sich von späteren Ge- 


Soldatenlieder. 373 


schlechtern vorwerfen lassen, sie habe vor lauter Eifer für das Alte 
bemerkenswerte Erzeugnisse der Gegenwart vernachlässigt, warum soll ihnen 
die Entdeckung vorbehalten bleiben, daß es auch um 1900 herum ein 
lebendiges Volkslied gegeben habe? — Pfarrer, Lehrer, Offiziere, Guts- 
besitzer, Fabrik-Leiter — alle, die mit dem Volk noch in wirklich enge, 
tägliche Berührung kommen, sollten sich verpflichtet fühlen, mitzuhelfen, daß 
nicht Wertvolles unbeachtet am Wege liegen bleibe. Es singt und dichtet 
nach wie vor im deutschen Volk; es kommt nur darauf an, daß man zu 
hören versteht. 
* * 
* 

Wenn von Soldatenliedern die Rede ist, muß ich stets eines unvergeß- 
lichen Erlebnisses mit dem Dichter gedenken, der den einzigartigen Volkston 
quellfrischer Ursprünglichkeit wie wenige zu treffen wußte, Detlev v. Liliencron. 
Wir hatten eines Abends in Weimar scharf pokuliert und endigten in später 
Stunde in einem Kaffeehaus. Das Gespräch kam auf Soldatenlieder und 
plötzlich stand der damals, wenn ich nicht irre, 64jährige Dichter auf und 
sang, begeistert wie ein Fähnrich und unbekümmert um die spärlich umher- 
sitzenden Gäste mit halblauter Stimme: 


Ein Schifflein sah ich fahren, 

Kapitän und Leutenant; 

Darinnen waren geladen 

Zwei brave Kompagnien Soldaten, 

Kapitän, Leutenant, 

Fähnrich, Sergeant, 

Nimm das Mädel, nimm das Mädel bei der Hand, vallera! 
Kameraden, Soldaten, 

Nimm das Mädel, nimm das Mädel bei der Hand. 


Wenige Wochen später erhielt ich aus Alt-Rahlstedt bei Hamburg 
folgenden, das warme Interesse des Dichters bekundenden Brief: „Recht 
vielen Dank für die gütige Übersendung der Soldaten-(Volks-) Lieder, die mich 
sehr interessiert haben. Die eine Strophe“) 


Horch, „das Ganze“ wird geblasen! 

Hahn in Ruh! — den grünen Rasen 

Deckt manch tapfrer Kriegersmann. 

Beim Appell wird mancher schweigen, 

Und die blinden Rotten““) zeigen, 

Daß der Feind auch schießen kann. 
habe ich mir abgeschrieben. 

Der Refrain des herrlichen, wahrscheinlich uralten Soldatenliedes: 

„Ein Schifflein sah ich fahren“ heißt: Kamerade, Soldate; das n fehlt hier. 
Wahrscheinlich stammt es aus Süddeutschland. In alten gedruckten Volks- 
und Soldatenliedern steht es immer ohne n. 


Ihr 
sehr ergebener Kamerad 
Liliencron.“ 


+) Aus dem oben erwähnten Lied: „Setzt zusammen die Gewehre.“ 


*) Rotte“ heißen zwei hintereinander stehende Leute in der Kompagnie; „blind“ ist eine 
Rotte, bei der der eine Mann fehlt. 


374 


Politische Rundschau. 


ie Welt ist wieder einmal aus den Angeln gegangen. Das Geschiebe 

der Mächte gegeneinander lockert das Gefüge alter Verbindungen 

und bringt neue in die Erscheinung. Der Anstoß ist durch die tat- 
sächlich eingetretenen Machtveränderungen gegeben, wie sie der unerwartete 
Zusammenbruch der Türkei zur Folge hat. Im Niederbruch der Türkei kündigen 
sich die ersten Anzeichen der großen, westwärts gerichteten Bewegung des 
Slaventums an. Hat die Größe des Russentums immer darin bestanden, un- 
erschüttert zu bleiben, trotzdem es politisch oder militärisch so oft in seiner 
Geschichte niedergeworfen wurde, so zeigen die Völker des Balkans eine 
Energie und Aktivität, die man dem Slaventum glaubte absprechen zu können. 

Unsere Militärs aber können mehr aus diesen Ereignissen lernen, als 
Strategie und Technik, und zwar, daß es möglich ist, in der Spanne Zeit 
von 1879 bis 1912, also in einigen dreißig Jahren, eine moderne Armee aus 
dem nichts zu schaffen, wenn ein kriegerisches Volkstum bewußt in den 
Dienst der Durchsetzung seines Willens sich stellt. Die gänzliche Enttäuschung, 
welche die türkische Armee ihren deutschen Lehrherren bereitet hat, zeigt, 
daß alle Instruktion nur einen militärischen Scheinorganismus ins Leben ruft, 
wenn dahinter ein sieches, leidendes Volkstum steht, und daß daran auch durch 
die physische Eignung des „Soldatenmaterials“ gar nichts geändert wird. 

Wie nach Clausewitz der Krieg die Fortsetzung der Politik mit Mitteln 
der Gewalt ist, so ist die Armee nur das Werkzeug, die Rüstung, die eine 
Nation anlegt, um ihren letzten Willen durchzusetzen. 

Der Militär, der nichts als Soldat sein will, und der Pazifizist glauben 
das nicht, sie sehen beide in der Armee eine künstliche Gewaltorganisation, 
die man sich schaffen kann oder die man abschaffen kann. Der Exerzierplatz- 
soldat und der Paziſizist aber sind die gefährlichsten Elemente im politischen 
Leben der Nationen. 

Der Zusammenbruch Preußens im Jahre 1806 ist das größte Beispiel 
dafür, wohin ein Volk 50 Jahre nach eiuer Heroenära größten Stils kommen 
kann, wenn der humanitäre Geist die kriegerische Opferfähigkeit, die allein 
den Soldaten macht, zersetzt hat und deshalb die formale soldatische Aus- 
bildung zu einem taktischen Künstlertum ausgebildet ist. 

Das sollten unsere Verantwortlichen, die leider so oft ganz unverant- 
wortlich handeln und sind, in erster Linie prüfen, ob in unserer Armee nicht 
wiederum ein Friedenssoldatentum zur Ausbildung gelangt ist, ob nicht die 
2. B. symptomatische Einführung friderizianischer Paradegriffe bei der am 
schwersten von solchem Geist betroffenen Garde nicht nur wertvolle, bei 
zweijähriger Dienstzeit unentbehrliche Ausbildungszeit wegnemmt, sondern 
auch den Geist moderner Fechtweise zerstört. 

Das ist keine Pflege der Tradition: gewiß, die Helden von Mollwitz, 
Hohenfriedberg, Kolin, Prag und Leuthen, die im taktmäßigen Marschschrilt 
in den Feind avancierten, sie haben exerziert „wie die Puppen“, nicht aber, 
um als Exerzierkünstler Vorstellungen zu geben, sondern um die Unvoll- 
kommenheit ihres Gewehrs zum Ausgleich zu bringen, die „Griffe“ dienten 
dazu, die vier Schuß in der Minute beim Avancieren „im währenden Char- 
gieren“, für dessen Geschwindigkeit die Preußen berühmt waren, heraus- 
zubringen. 

Der alte Fritz hätte große Augen gemacht, hätte ihm jemand „rekom- 
mandieren“ wollen, zur Pflege der Tradition seiner Infanterie etwa die 
Exerziergriffe aus der Zeit des alten Derfflinger beizubringen — er hätte es 
aber beim Augenmachen nicht bewenden lassen. 


Politische Rundschau. 375 


Meide auch den bösen Schein, ist ein sehr walıres Wort. Wenn heute 
die Franzosen hoffen, uns in dem kommenden Kriege zu schlagen, so gründet 
sich diese Hoffnung darauf, daß sie glauben, die deutsche Armee sei durch 
ihr Friedenssoldatentum ruiniert. Droht uns diese Gefahr, so muß sie freilich 
laut ausgerufen werden, das ist armselige Philisterpolitik geborener Geheim- 
ratsseelen, daß man nicht das Vertrauen in die Heeresleitung erschüttern dürfte. 
Das ist Chinesenpolitik, Gift für ein Volk der allgemeinen Wehrpflicht, aber 
dieser vormärzliche Geist, dem alles Frühjahrsbrausen des Geistes von 1813 
so ganz fremd ist, sitzt tief als Erbteil der bureaukratischen Zeit im Deutschen. 
Die Gerichte darf man nicht kritisieren, denn das erschüttert das Vertrauen 
in unsere Rechtspilege, den Kaiser darf man nicht kritisieren, denn das er- 
schüttert das monarchische Gefühl; — die Regierung schwebt ja bekanntlich 
zu dem Zweck, um jeder Kritik entzogen zu sein, über den Parteien im 
lichten Blau und kann deshalb nicht „erschüttert“ werden, so daß einem 
nichts mehr übrig bleibt, als selbst erschüttert diesem Geist gegenüberzustehen. 

Nun können wir aber in Rechtspflege, Verwaltung und Regierung mit 
noch so langsamer innerpolitischer Arbeit bestehende Fehler beseitigen, in 
militärischen Fragen aber können wir Mängel unseres Heerwesens mit 
unserer nationalen Existenz büßen müssen. Da ist laute Kritik nicht nur er- 
laubt, sondern notwendig und für das Heer selbst das Beste. Wie oft hat 
man nicht in früheren Jahren seine liebe Not damit gehabt, den lieben Nach- 
barn davon zu überzeugen, daß, wenn an der Bemannung, an der Panzerung, 
der artilleristischen Bestückung der englischen Flotte jenseits des Kanals 
laute und unentwegte Kritik geübt wurde, das nicht das Eingeständnis ihrer 
Minderwertigkeit wäre, sondern daß dort eine politisch durchgeschulte Nation 
init eifersüchtiger Sorge darüber wachte, daß die Waffe der äußeren Politik 
Englands nicht stumpf würde. 

So und nicht anders müssen bei uns die patriotischen Organisationen, 
nicht zuletzt der Wehrverein, wirken, der nicht dafür erforderlich ist, um uns 
eine heute doch sichere Majorität des Reichstages für etwaige Militärforde- 
rungen der Regierung zu gewinnen, sondern um die öffentliche Aufmerksanı- 
keit auf diese Lebensfrage der Nation hinzulenken, sich bei sel»stzufriedenen 
Erklärungen vor- oder nachgeordneter Stellen nicht zu beruhigen, sondern 
sich zu überzeugen, ob an allen Enden das Nötige geschieht. 

Das nennt man öffentliche Meinung in England, nicht die Meinung der 
Vielzuvielen, die unsere Presse machen. 

Dürfen wir aber ohne Sorge sein, wenn unser erster Kavallerist 
v. Bernhardi aller Welt im Tag verkündet, daß unsere Kavallerie grundsätzlich 
keine kriegsgeschichtlichen Studien triebe und ihre Offiziere sich mit Pferde- 
dressur und der Tätigkeit des Reitlehrers zufrieden gäben, können wir ruhig 
zusehen, wenn wir feststellen, daß für die Kavallerie äußerlich alles geschieht, 
dagegen die heute so unendlich viel wichtigere Artillerie aus einer Animosität 
heraus, die auch für eine sehr komische „Tradition“ erklärt wird, in ihrer 
Bespannung, Organisation und dem Avancement ihrer Offiziere in höhere 
Stellen zurückgesetzt wird, so daß ein höherer Offizier einmal vertraulich 
äußerte, ein Artillerist kann nur vorwärts konmen, wenn er auf seine eigene 
Waffe schimpft, dann beweist er nämlich, daß er ein eminent praktischer 
Soldat ist. Ist die Überalterung unseres Offizierkorps, die Zurücksetzung 
des bürgerlichen Elements, die nur Lakaien und solche, die es besser ge- 
worden wären, leugnen können, nicht eine weitere Gefahr? 

Besteht bei uns nicht eine herkömmliche Inversion des Begriffs „kriegs- 
mäßig“, wenn alle unbequemen Neuerungen zunächst einmal als unkriegs- 


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376 Politische Rundschau. 


mäßig abgelehnt werden: so war es beim Fußgefecht der Kavallerie, dem 
Rohrrücklauf und den Schutzschilden bei der Artillerie (wo wir es 1896 fertig 
brachten, ein gänzlich veraltetes, nachher mit Riesenkosten umgeändertes Ge- 
schütz einzuführen), und nicht zuletzt beim Luftschiffwesen. 

Gewiß haben auch alle anderen Armeen ohne Ausnahme ihre tradi- 
tionellen Fehler, und gewiß vertrauen wir, daß im Ernstfall die Güte unseres 
Soldaten- und Offiziermaterials und der lebendige Geist kraftvoller Tüchtig- 
keit der deutschen Nation alles durchholen wird, weil im Kriege die Spreu 
von dem Weizen sehr schnell sich scheidet, aber einen förmlichen Kultus mit 
unseren Einseitigkeiten brauchen wir doch nicht zu treiben. Alles Improvi- 
sieren im Ernstfall aber ist heute schwieriger geworden, bei der gesteigerten 
Technik ist es teilweise ganz ausgeschlossen. 

Die Jahrhundertfeier von 1813 können wir auf diesem Gebiet vor- 
trefflich im „Geist und in der Wahrheit“ tätig begehen. 

In der äußeren Politik hat unsere Regierung schon wieder „Erfolge“, 
und das ist nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ein nicht bedenken- 
freies Symptom. Herr v. Jagow, dem unsere äußeren Geschicke anvertraut 
sind, hat ein Kräutlein Rührmichnichtan in seinem Gärtlein gezogen, die 
deutsch-englische Verständigung, und hat einen rechtzeitig noch umredigierten 
Bericht über das plötzliche Aufblühen dieser Wunderblume veröffentlicht. 

Tirpitz hat dann dieselbe hofinungsvolle Aussicht eröffnet, daß wir uns 
mit einem Flottenverhältnis 10: 16 England gegenüber begnügen wollten —- 
und England, ja England hat sich noch nicht erklärt, aber der Prinz von 
Wales, Gott sei Dank der junge und nicht Viktorias biederer Sohn, wird 
uns bei den Manövern besuchen! Altengland erwartet, daß jedermann in 
Deutschland seine Pflicht tue. 

Zunächst dürften diese Freudenbotschaflen doch auf ihren realen Ge- 
halt zurückzuführen sein, der kein anderer ist als der, daß Deutschland Eng- 
land gegenüber den Verzicht auf eine Rivalität zur See ausspricht. Das kann 
sehr gut, sehr erfolgversprechend für die Zukunft sein, aber eins ist es nicht, 
nämlich ein Erfolg, denn das Vergnügen hätten wir uns schon früher jeder- 
zeit leisten können. Wir erkennen dadurch an, daß England uns durch die 
Triple-Entente mattgesetzt hat, und es ist sehr die Frage, ob es nicht richtiger 
war, in der trotzigen Haltung des eingekreisten Bären zu verharren, bis der 
unnatürliche Bund England Rußland - Frankreich zerbrach. Fraglich ist 
ferner, ob es gut war und ob darin nicht lediglich eine Fortsetzung des mit 
Recht in deutschen Landen so unbeliebt gewordenen Zickzackkurses liegt, 
daß man das so laut gepriesene Einverständnis mit Rußland wieder preisgab, 
dessen Feindschaft sich auf den Hals zog, ohne auch nur die geringste 
faktische Gegenleistung Englands zu erlangen. 

Das sind Fragen, die nicht im bejahenden oder verneinenden Sinn hier 
entschieden werden können und sollen, denn die Verschiebung hat sich eben, 
wie am Eingang gesagt, außerhalb dieser Bündnisse durch das elementare 
Ereignis des Zusanımenbruchs der Türkei vollzogen. Wer wie Schultze- 
Gävernitz es in seinem Vortrage in Bremen in sehr geistreicher Weise getan 
hat, unsere äußere Politik nur im Gegensatz zu England sieht, muß es als 
Erfolg buchen, daß Verhältnisse eingetreten sind, durch die fraglos ein ge- 
meinsames Bedürfnis geschaffen ist, dem Vordringen des von Rußland ge- 
führten Slaventums ein Paroli zu bieten. 

Realpolitisch ist die Situation aber doch die, daß mit dem Niederbruch 
der Türkei ein Gegengewicht unserer Auslandspolitik gegen Rußland aus- 
gefallen ist, daß Rußland mit seinen Hilfsvölkern Osterreich flankierend um- 


Politische Rundschau. 377 


laßt und wir bei unserem Angewiesensein auf Österreich diese Gefahr eines 
über den Balkan führenden Vormarsches Rußlands als so groß und drängend 
erkennen müssen, daß wir die Front dorthin nehmen müssen und uns die 
Auseinandersetzung mit England nicht mehr leisten können. Dabei kommt 
uns allerdings zustatten, daß England den russischen Vormarsch kaum weniger 
ernst ansehen muß als wir: es ist wieder vor die wirklichen Probleme seiner 
Politik gestellt und muß, wie hier stets betont worden ist, den starken Arm 
Deutschlands gewinnen, als der einzigen Macht, die im Bunde mit Österreich 
Rußland in Schach zu halten vermag. 

Es ist ein bitterer Entschluß, wenn wir, um nicht überall ausgeschaltet 
zu werden, wieder der Soldat Englands auf dem Kontinent nicht immer 
rühmlichen Andenkens werden sollen. Wäre eine Lösung unserer Schwierig- 
keiten durch Vereinbarung mit Rußland nicht leichter zu haben gewesen, 
wird Rußland jetzt nicht bei der Regelung der Balkanherrschaft eine Öster- 
reich und damit uns an Macht und Ansehen schädigende Politik weiter 
treiben? Sollte bei der neusten Wendung unserer Politik nicht das einfache 
Bedürfnis mitgespielt haben, aus der Isolierung herauszukommen ? 

Jedenfalls bringt uns die neueste Entwicklung wieder der Gefahr eines 
Krieges mit Rußland und Frankreich näher, den Frankreich neuerdings direkt 
sucht. Das peinigende Gefühl will sich nicht von unserer Seele lösen, daß 
wir unser Geschick wieder aus der Hand Englands empfangen. Wir haben 
unsere ganze türkisch-muhammedanische Politik liquidiert, ohne einen Pfennig 
aus der Masse zu erhalten, und das Lied von der deutschen Treue hat in 
den Ohren der muhammedanischen Welt einen bösen Nachklang bekommen, 
wer hätte den offenen Brief Enver Beys ohne Herzbeklemmung lesen können. 
Mußten wir denn, um durchaus dabei zu sein, auch unter der Note der 
Note der Mächte stehen, durch die den Türken der Rat gegeben wurde, 
Adrianopel aufzugeben, so daß dann Konstantinopel einem späteren Angriff 
offen liegt? 

Wenn sich heute der Blick rückwärts wendet auf die versäumte Ge- 
legenheit Preußens von 1805, so sicherte sich Preußen damals durch Opfer 
an Prestige den Frieden, während sein Gebiet durch innerdeutschen und 
polnischen Erwerb geradezu ungeheuerlich anschwoll. Die Kreuzzeitung be- 
lehrt uns, daß jener Frieden ein erbärmlicher, der heutige ein ehrenvoller 
sei — jedenfalls wurde er damals und heute durch ein Verzicht auf die 
Durchsetzung erkennbarer Ziele der äußeren Politik erreicht. 

Wir sehen eine unfruchtbare Politik, die sich in immer stärkere 
Rüstungen hüllt. Hatte aber Goethe recht, der gesagt hat, daß kein Staat 
auf die Dauer einen nur auf die Defensive gerichteten Zustand ertragen 
könne, so fragt man sich, was soll dieses immer stärkere Anhäufen materieller 
Mittel des Krieges, wenn nicht der Wille dahinter steht, sie einzusetzen. 
Wieder beschleicht eine Sorge das Herz bes Patrioten, daß eine entschlußlose 
Regierung den nationalen Willen ablenken will auf neue Wehrforderungen, 
alle die gute Opferfreudigkeit unseres Volkes in Anspruch nehmen will, um 
sich neue Werkzeuge in die Hand legen zu lassen, die totes Kapital sind, 
wenn dadurch nur ein vollkommenerer Zustand des bewaffneten Friedens 
herbeigeführt wird. 

In solchen Zeiten bedarf man mehr als je des aus der geschichtlichen 
Entwicklung geschöpften Vertrauens, daß auch die großen Staatsmänner nur 
Vollstrecker des immanenten Stromes des nationalen Willens sind, der, wenn 
er aus unversiegbaren Quellen strömt, seinen Weg gehen muß, und wenn ihn 
das Stauwerk des Kleinmutes verlangsamt und das Blachfeld der Entschluß- 


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378 | Curt Stoermer: 


losigkeit in anscheinend planlosen Windungen dahinführt, schließlich zieht er 
mächtig und unaufhaltsam und zielsicher seine Straße. 

Das Jahr 1813 ist das größte geschichtliche Beispiel, wie der nationale 
Wille fast ohne Leib, ohne militärische Organisation, ohne alle materiellen 
Mittel gegen den Schaukelgang einer kopflosen Regierung seinen Weg sicli 
gebahnt hat durch alle vornehme und minder vornehme Erbärmlichkeit zum 
Stoß in das Herz seines Vergewaltigers. Ob unser Volk solcher Leistung 
heute fähig ist, das liest sich nicht an den Stimmzetteln der staatserhaltenden 
Parteien ab, das kann auch mit aus dem Zorn einer revolutionären Be- 
wegung geboren werden, wenn sie nur echt war. Die Geschichte fließt stets 
aus unterirdischen Quellen, die man nicht als politischer Moses aus den 
Steinen schlagen kann, die aber die hellhörigen Kinder des Glückes zur 
rechten Zeit erlauschen. Keine laute Feier darf uns im Jahre 1913 vereinen, 


aber eine stille der inneren Einkehr, der Sammlung zum Entschluß — zur 
rechtzeitigen Tat. 


Bremensis. 


Curt Stoermer: Paula Becker-Modersohn. 


ast sechs Jahre vergingen seit ihrem Tode, seit jenen Tagen, da die 
Werke der Lebenden noch dem allgemeinen Mißverständnis der 


Öffentlichkeit begegneten. Inzwischen hat sich gezeigt, daß die 
Aversion der Leute damals sogar ihr Gutes gehabt hat. Sie begünstigte das 
Wachsen einer Stille, in der sich eine Gruppe von Menschen fand, die das 
Wesen der Toten und ihre Kunst in sich entstehen ließen, einer Stille in 
ihrem Angedenken. Indem diese Nachfühlenden all ihre Werke als Dokumente 
eines wesentlichen Menschen erkannten und ihrem Werdegange folgten, er- 
kannten sie als dessen Tendenz ein unbegrenztes Stilbewußtsein, alle gleich- 
zeitigen und späteren Probleme umfassend, typisch für die ganze Entwicklung | 
der neuen Malerei. 

Da diese Schlußfolgerung durch die letzten Ausstellungen, in denen 
neue deutsche Malerei zur Geltung kam, nur gefestigt wurde, entschloß man 
sich, noch einmal mit einer umfassenden Sammlung von Werken Paula 
Modersohns vor die Gemeinde hinzutreten. Man hatte eine freundlichere Um- 
gebung gewählt, als sie die gewöhnlichen Kunstausstellungen bieten können. 
Die Ausstellung findet im Folkwang-Museum in Hagen i. W. statt, jetzt im 
Februar 1913. 

Paula Modersohn war einige Jahre Schülerin von Mackensen. Man 
fühlt diese Schule noch längere Zeit hindurch. Auch eine Beeinflussung Otto 
Modersohns scheint anfänglich stark. Doch waren das Einflüsse, die zu ihr 
gehörten gemäß Rasse und Charakter. In ihnen lag ein gefügiger Zusammen- 
hang, dessen Umkreis noch weiter reicht über Leibl und die nordischen Rea- 
listen der Literatur. Indessen diese erste natürliche Bestätigung ihres na- 
tionalen Bewußtseins führte sie nicht weiter. Zuviel Schweres fand sie im 
eigenen Bereich. Paula Modersohn verlangte aus dieser Schwere hinaus, die 
ja allzuoft äußerlich und kleinlich ist. In Paris fand sie den Gegenpol, 
zwischen beiden Polen läuft fortab ihre Entwicklung. Sie erlebte das un- 


Paula Becker-Modersohn. 379 


eingeschränkte Temperament der Franzosen, genoß ihre Art leichter 
ästhetischer Lebensäußerung, ihre innere elastische Initiative den Dingen 
gegenüber. Sie kehrte nach Worpswede zurück. Es entstanden gewisse Studien, 
die uns zu ihrer Erkenntnis ganz besonders wichtig sind: Kinder, Tiere, 
Köpfe, Landschaften, auf den ersten Blick eine Chronik beseligter Augen- 
blicke, die sie erlebte und darstellte. Doch eben bei diesen Dargestellten 
werden die meisten ihrer Bewunderer stehen bleiben, obwohl die dargestellten 
Dinge verlangen, über sich selbst hinaus betrachtet zu werden, so wie ihre 
Schöpferin sie gedacht hat: über sich selbst, über ihre Gegenständlichkeit hinaus 
bedeutungsvoll als Teile einer neuen Monumentalkunst. — Das Monumentale, 
Freskoartige kündigt sich schon äußerlich an in der Farbe und der Sicher- 
heit des Aufbaues. Man mache die Probe und denke sich so eine Studie 
mechanisch vergrößert und in eine Wand eingelassen. Hätten wir nicht ein 
Fresko, jenes Fresko, das als heilsamer Gegensatz zu der in Deutschland 
grassierenden äußerlich „dekorativen“ und ästhelizistischen Richtung wahr- 
lich anbetungswürdig sein würde? 

Drei Dinge sind heute im Gegensatz zu früheren Stilperioden unmög- 
lich zu vereinbaren: „dekorative“ Malerei und Monumentalkunst. Alles 
schlechte und unreife Künstlertum verwendet gallische Einflüsse ins „Deko- 
rative“. Paula Modersohns Kunst ist eine Monumentalkunst. 

Das innerlich Monumentale an ihr ist die Ursprünglichkeit des Er- 
lebens. Darum erinnert uns die Art, wie sie einen Schimmel, ein Kind, einen 
Baum malt, indem sie den einfachsten Eindruck solch eines Objektes gibt, so 
oft an Künstler früherer Stilperioden, die Giotto, die primitiven Florentiner 
und Franzosen, an jene Zeiten, da Menschen noch ihr Erleben schlicht und 
deutlich bildmäßig gestalteten. Es ist bezeichnend, daß den Bildern Paula 
Modersohns jede leidenschaftliche, aktive Geste fehlt. In ihren Porträts, Fi- 
guren und Landschaften ist der Inhalt stets negativ, gewissermaßen selbstlos. 

Aus dieser Fähigkeit, die Natur in edelster Simplizität zu schauen, 
erklärt sich dem psychischen Analytiker ihre Vorliebe für die Geste des Mütter- 
lichen, ihre Bevorzugung des fast konkret Weiblichen. Es gibt eine Anzahl solcher 
Zeugnisse ihres Schaffens, die eben von dieser besonderen Innigkeit aus- 
gehen. Da sind Mütter mit Kindern, da sind vor allem all die Säuglinge 
in Kissen, Wiegen und Kinderwagen, ist der liegende Akt mit dem Kinde; 
ein besonders monumentaler und überzeugender Ausdruck der innigen In- 
tention. Die nackte Frau liegt in hockender Stellung auf einer weißen Fläche, 
eng an ihrer Seite das Kind, oben ist der Raum durch eine bleigraue Fläche 
abgeschlossen. Schon der Vorwurf ist außerordentlich suggestiv, doch die 
Monumentalität des Werkes liegt nicht hier, sondern in der Art, wie dieser 
Gegenstand gemalt ist. Alle Luft, alle räumliche Vorstellung ist 
ausgestaltet. Die Darstellung des Stoffes ist eine rein plastische. Das 
Gegenständliche realisiert sich in einem Ausdruck, der absolut Form ist, 
Modulation der Flächen. Das gewaltig Plastische, die starke Synthese 
des formlichen Erlebnisses schufen diese Objektivität und diese Erfüllung aus 
dem Detail. Hier hat die Künstlerin ein zukünftiges Malproblem vorgeahnt, 
ja mehr noch: gelöst! Ihre Stilleben zeigen besonders deutlich, wie bewußt 
sie vorging, Luft und Perspektive durch rein malerische, kolo- 
ristische Werte umzugestalten. Aus der kleinsten Fläche fühlt man 
die Monumentalität eines Bildbaus und eine innere Struktur der 
Farbe. Es gehört zu Paula Modersohns Besonderheit, auf der kleinsten 
Wand monumental wirken zu können. 


380 Curt Stoermer: Paula Becker-Modersohn. 


Ihre Farbe hat schon recht früh bestimmte Werte. In den Studien ist 
es zunächst ein goldwarmer Zusammenklang in Braun, Grau und Rot. 
Es sind meist Kinder auf Moordämmen zwischen Birken, vollbelichtete Ge- 
sichter gegen ein Stück Himmel, die sie so intensiv farbig und goldig malt. 
Zum zweiten sind es grau-silberne Stimmungen, meist Dämmerungen mit 
irgendwelchen Tieren, besonders einige Stilleben mit kalten, metallenen, glä- 
sernen Dingen, wie das Stilleben mit dem venezianischen Spiegel (im Besitze 
des Herrn Dr. Kırt Becker), welches wohl das Vollendetste dieser Art ist. 

Es liegt bei der farbigen Wiedergabe von Erlebnissen stets eine feine 
Gesetzmäßigkeit darin, daß ihr an reellen Verschiedenheiten in der Natur 
nichts gelegen ist. Paula Modersohn malte nie sonnige oder dunkle Stim- 
mung, Tag oder Dämmerung, sondern es war immer ihre mystische 
Empfindung, die das Material der Farbe beansprucht. So malte sie Gold 
oder Silber, so gab sie warm, grau oder kalt. 

Später wird diese Gesetzmäßigkeit bewußt und gesteigert, breitet sich 
über größere Flächen. Der gelbe Kinderakt zwischen Blumenvasen ist typisch 
für diese Entwicklung. Bedingt wird hier die Farbe durch die strenge Schlicht- 
heit des Aufbaus. Die Leuchtkraft ist fast dramatisch in das Gelb gehoben, 
darauf liegen die Hände, braun modelliert. Der Hintergrund ist ein intensives 
Grau-Blau. Alles scheinbar Bizarre in der Aneinanderreihung der Formen, 
etwa des Kindes zwischen den Vasen und Blumen, ist nichts anderes, als 
das Eigenartige, wahrhaftige Erlebnisse einer einsamen Natur, deren Freude 
bei Kindern und Blumen war. Das Sinnlich-Naive ihrer Art, Malerisches zu 
erleben, scheint uns dennoch ein innerstes Charakteristikum des Künstlertums 
in dieser Frau. 

Eines ihrer letzten Werke ist die Allegorie mit den beiden seitlichen 
Genien. Das Bild blieb unvollendet. Eine leidenschaftslose, naive Ruhe liegt 
in der Tendenz der Gestalten. Das Ganze ist rein bildmäßig aufgebaut und 
wirkt, dem heutigen Ornamentalstil entgegen, höchst architektonisch mit der 
inneren Vollendung eines griechischen Reliefs. Es ist Fragment geblieben, so 
wie das Gesamtwerk Paula Modersohns im Verhältnis zu den immensen Aus- 
blicken, die es dem aufbauenden Geiste gewährt, Fragment blieb. Es ist 
zweifelhaft, ob sich die Offentlichkeit damit zufrieden geben wird. Wir wissen 
nicht, ob man reif genug sein wird, diese Form eines Wachsens, das eminent 
fruchtbar und ausdrucksvoll war, zu verstehen. Es ist fraglich, ob viele sein 
werden, die zur Würdigung der so gehaltvollen Unausgeglichenheit dieses 
Werkes genügend eigene Abgeklärtheit und gereiſte Aufnahmefähigkeit besitzen. 
Denn nur vollständige innere Reife wird dem Wachstum ganz gerecht. 

Wahrscheinlich wird die Zeit kommen, da auch die Offentlichkeit er- 
kennt. Und dieses Erkennen wird voraussetzen, daß man inzwischen über 
ein zielloses Beschauen von Einzelheiten hinausgekommen. Schließlich wird 
man rein von sich selber dahin gelangen, wo jene Künstlerin endgültig steht. 
Man wird finden, daß bei ihr eine monumentale Malerei angesetzt hat, die 
nur durch ein reines, ursprüngliches Talent möglich wurde. Schließlich werden 
auch die Historiker erkennen, daß Paula Modersohn die einzigste war, die 
uns zwei Schulen in einer hohen stilistischen Form übersetzt hat: deutscher 
Realismus und französischer Impressionismus sind in ihrem Werke zusammen- 
geschlossen zur Monumentalkunst.“) 


) Soeben erschien ein Katalog von Werken Paula Modersohns. Er enthält 6 Abbildungen 
nach Gemälden, darunter ein Selbstporträt. (Horen-Verlag, Worpswede.) 


381 


Wilhelm Hausenstein: 
Neues in der Münchener Kunst. 


ie Bremer Kunsthalle hat unlängst eine Mappe ausgezeichneter Ra- 

dierungen des Münchner Malers Franz Reinhardt angekauft. Sie 

sind Beispiele des Künstlerischen an sich: notwendige und selbst- 
verständliche Spiele einer Hand, die sich im Notwendigen und Selbstverständ- 
lichen bewegt wie die eines Kindes. 

Reinhardt ist eine der wenigen verheißungsvollen Persönlichkeiten im 
Nachwuchs der Münchner Kunst. Er war von Haus aus Handwerker: Ge- 
hilfe eines Dekorationsmalers. In seiner Lage gab es für ihn keine intellektuellen 
. Wege zur Kunst. Wie viele werden Kunstmaler, weil zufällig ihr Milieu von 
Kunstgeschichte, Ästhetik und allerhand reflektierender Kunstkultur erfüllt ist. 
Nicht immer werden diese sozusagen gebildeten Künstler bedeutend. Rein- 
hardt halte keinen andern Weg zur Kunst als den, der ihm von einem — 
wenn man so sagen soll — drängenden animalischen Instinkten nach Ver- 
geistigung seines Handwerks geboten wurde. Er fühlte, es müsse höher 
gehen. Und so verließ er seine Heimat — er stammt aus dem Braunschwei- 
gischen — und kam mit jenem schönen, naiven, begeisterten Aberglauben 
nach München, der die Kunststadt München trägt. Hier arbeitete er als Schüler 
Stucks und als wohlgelittener Schüler des prachtvollen alten Wilhelm von Diez. 
Sein Brot verdiente er als ein rechter Geselle des Münchener Malerproletariats, 
als Knecht eines jener zahllosen anonymen Künstlerschicksale: er mußte eine 
Unmenge subalterner Arbeiten tun und aus der Welt seiner inbrünstigen Be- 
geisterungen nicht selten zurückkehren, um an adlige Karossen Wappen mit 
dem Lineal und mit jenem Pinsel zu malen, den er mit seiner breiten Fougue 
am meisten haßt: mit dem spitzen. 

Wenn man in sein Atelier konımt, ist der Eindruck zunächst etwa so, 
wie in einer barocken Landschaft. Da ist absolut nichts, was verbindlich 
aussieht. Da sind Bilder, die jedes ein Stück besinnungsloser, tiergewaltiger 
Naturkrait bedeuten. Aber in ihrem Zusammenrauschen sind sie dann wieder 
eine starke, geistige Kunstlogik. Hunderte von Skizzen und Bildern. Fast 
alle ohne Modell gemalt. Schichtungen von erregten Fleischmassen, maßlose 
Konture, heftige Motive wie Simson. Er malt mit besonderer Leidenschaft 
Simson: nicht gerade aus biblischen Stimmungen, sondern unter dem Zwang 
einer genialischen Brutalität. Da und dort in den feineren, differenzierteren 
und ruhigeren Formeln, die man von Porträts mit Recht fordert, ein kräftiges 
Bildnis, das die Modellrealität zugleich mit nachfſormendem Können und mit 
selbständigem Malerwillen meistert. 

Hat der Künstler in der Weißglut seiner Phantasie mehrere Tage ge- 
arbeitet, dann setzt er sich wohl zur Ruhe hin und macht beim Lampenlicht 
in der Laune eines Exzedenten Dutzende gepeitschter Federzeichnungen. 
Äußerungen eines unglaublichen Temperaments, das in aller Not der Welt 
vergißt und sich höchst unkaufmännisch in sich selber verzehrt, weil es muß. 
Oder er gönnt sich einen guten Vormittag und radiert. Von seinem Atelier 
aus sah man lange in das Chaos der hohen Neubauten im nördlichsten 
Schwabing. Da saß er und radierte mit einer Nähnadel seiner Frau in die 
blanke Kupferplatte direkt nach der Natur eine köstliche Baugerüstszene. Er 
hat nie radieren gelernt. Aber er beherrscht die Technik so instinktiv, daß 


382 Hugo. Kloß: 


er ohne weiteres an die gelälrlichste Manier, an die der Kaltnadelradierung, 
herantreten konnte. 

Um die Jahreswende erschien von Reinhardt ein Buch mit Zeichnungen 
Simsons.*) Links der klassisch robuste Text Luthers — eine Sprache, der 
gerade Reinhardt sich wahlverwandt fühlen muß; rechts die Zeichnungen — 
wilde Gebärden einer schöpferisch wühlenden, schlagenden, aufrichtenden, 
ausbreitenden Hand, die zugleich die gebundenen Reize des dekorativ Schönen, 
der Arabeske, der notwendigen Proportionierung von Schwarz und Weiß 
haben, Dinge, die bei ihrer anpackenden Ursprünglichkeit, in ihrem zuckenden 
Aufspringen, in der physischen Heftigkeit ihrer Reflexbewegungen, in der 
tollen Verve der Handschrift nicht selten auch die beruhigende Wohltat einer 
einfach vollendeten Geistigkeit, einer fertigen Abstraktion haben. Hier sind 
in einem neuen IIlustrationssti! Ansprüche, die an das Erbe eines Daumier, 
eines Delacroix anknüpfen wollen und das Temperament dazu haben, wenn 
sie auch von der lateinischen Ausgeglichenheit, die selbst dem radikalsten 
Franzosen eignet, weit entfernt sein mögen. Aber bei Reinhardt hat selbst 
das Wüste den Wert der Schönheit. 

Unter den jungen Münchener Malern, die wahrlich nicht allzuhäulig 
Neues und Starkes versprechen, ist Reinhardt eine der Kräfte, die sich selber 
die stärkste Bürgschaft für eine wachsende Zukunft enthalten. Er wird zu 
den Bedeutenden zählen — wofern ihm die Welt die Entwicklung nicht er- 
stickt. In München werden immerzu Malertragödien gelebt. Bei Reinhardt 
wäre es ungewöhnlich erbitternd, wenn die Welt Echtes, das sich in der 
Einsamkeit trotzig entwickelt, über dem Gefälligen und Gangbaren vergäße. 


Hugo Kloß: Konjunktur oder Krisis? 


eldknappheit — der Ausdruck gehört zu den Wörtern unseres Sprach- 

schatzes, von denen dieser, wenn es nach den Wünschen der Mehr- 

heit ginge, schleunigst gereinigt werden müßte. Wohl keine Melodie 
klingt dem Ohre, wenn der Ultimo naht, weniger angenehm, als die vom 
„Beutel schlaff und leer“, während sich die Seele in der Tat in den Himmel 
zu schwingen scheint, „sobald das Geld im Kasten klingt“. 

Ungefähr die gleiche Wirkung, die eine mehr oder weniger große 
Fülle im Portemonnaie bei dem einzelnen hervorzurufen pflegt, übt sie auch 
auf das Leben der Gesamtheit aus. Auch hier gibt es Zeiten, in denen Geld 
so reichlich vorhanden ist, daß es in der Tat auf der Straße zu liegen scheint. 
Ein solcher Goldregen wirkt immer außerordentlich befruchtend auf das 
Wirtschaftsleben. Da blühen überall die Geschäfte; die Industrie ist mit 
Aufträgen überhäuft, so daß sie allen Anforderungen, die an sie gestellt 
werden, kaum gerecht werden kann; Neugründungen schießen wie Pilze nach 
dem Regen aus dem Boden, und alles glaubt ewig zu atmen im rosigen 
Licht. — Das ist dann der Wonnemond der Hochkonjunktur, die einzige 
Atmosphäre, in der geborene Optimisten wachsen und gedeihen können. 
Leider bleibt gewöhnlich, unter dem wechselnden Mond, der Himmel nicht 
lange so freundlich. Das Wirtschaftsleben ist nicht stabil, sondern fluktuiert 
unaufhörlich, und meist pflegt sich das Bild schnell gründlich zu verändern. 
Herr von Gwinner, der Direktor der Deutschen Bank, hat für diesen Um- 


9 Bei Piper. Preis 8 Mark. 


Konjunktur oder Krisis. 383 


schwung einst das Wort von der Woge der Konjunktur, die sich überschlägt, 
geprägt, eine Bezeichnung, wie sie treffender kaum zu finden sein dürfte. 

Man darf nie vergessen, daß jede Konjunktur bereits die Keime zu 
ihrem Verfall in sich trägt. Zu einer Krisis kommt es glücklicherweise nicht 
immer, sondern nur dann, wenn das Milsverhältnis zwischen Soll und Haben 
in der Bilanz der Volkswirtschaft so groß geworden ist, daß es sich ohne 
heftige Erschütterungen des Wirtschaftskörpers nicht mehr ausgleichen läßt. 

Den Anlaß zur „Verflauung“ der Konjunktur gibt gewöhnlich das 
Geld — dasselbe Geld, das zu ihrer Entstehung beigetragen hat. Der Prozeß 
ist scheinbar ziemlich einfach und doch so kompliziert, daß man bisher noch 
kein Mittel zu seiner gründlichen Beeinflussung entdeckt hat. Jede Konjunktur 
frißt Geld, frıßt unheimlich Geld. Neugründungen, Vergrößerungen bestehender 
Werke, eine wilde Effekteuspekulation, die gar bald den Boden der Tatsachen 
verläßt, alles das verschlingt ungeheure Summen, größere Summen, als über- 
haupt bar vorhanden sind. Unser weitgehend ausgebildetes Kreditsystem 
fördert die schon bestehende Neigung, über den eigenen Geldbeutel hinaus 
fremdes Kapital in Anspruch zu nehmen. 

Das grohe Portemonnaie der Handelswelt ist die Reichsbank. Die hat 
Mittel in der Hand, sich zu schützen, wenn die Ansprüche, die an sie ge- 
stellt werden, zu groß sind. Dann kann sie den Diskont erhöhen und so 
das Geld verteuern. Teures Geld aber ist der Tod der Konjunktur. 

Schon länger als ein Vierteljahr laborieren wir jetzt an permanenter 
Geldknappheit. Der Diskontosatz der Reichsbank hat mit 6 Prozent eine 
Höhe erreicht, wie wir sie lange nicht erlebt haben. Noch ist kein Ende d's 
unerfreulichen Zustandes abzusehen. In der Industrie geht das Geschäft noch 
gut, aber an den Eifektenmärkten trauern die Kurse, und die Spekulation hält 
sich ängstlich von allen Unternelunungen zurück, kein ermutigendes Zeichen! 

Den Anstoß zu der trostlosen Verfassung des Geldmarktes hat diesmal 
in erster Linie der Krieg auf dem Balkan gegeben. Er ist ein großes Er- 
eignis, das seine Schatten nicht voraus, sondern hinterher wirft. In aller 
Erinnerung dürfte wohl noch die Panik sein, die sein Ausbruch an den 
meisten Börsen hervorgerufen hat. Seit deni Kurssturz, der damals einge- 
treten ist, sind dem Geldmarkt Millionen entzogen worden. Die Leute haben 
das Vertrauen zu ihren Papieren verloren. Es gibt jetzt nicht wenige, die ihr 
Geld wieder in den Strumpf stecken, eine Methode, die alter Überlieferung 
zufolge im Schwange war, als der Großvater die Großmutter nahm. Man 
kann sich keinen Begriff machen von den Summen, die auf diese Weise dem 
Verkehr entzogen werden und brach liegen. Sie tragen jedenfalls viel dazu 
bei, die gegenwärtige Geldknappheit zu verstärken. Erst wenn das Vertrauen 
in die absolute Sicherheit der Banktresors wieder zurückgekehrt sein wird, 
kann man auf eine endgültige Erleichterung des Geldmarktes rechnen. Hoffen 
wir im Interesse der deutschen Volkswirtschalt, daß die Nachwirkungen des 
Balkankrieges möglichst bald überwunden werden und daß wir bald nicht 
mehr, wie jetzt, zweifelnd zu fragen brauchen: Was wird die Zukunft bringen 
— Konjunktur oder Krisis? 


Schluß des redaktionellen Teils. 


Verantwortlich für die Redaktion: S. D. Gallwitz, Bremen. 
Einsendungen von Manuskripten (unter Beifügung von Rückporto) 
an die Redaktion Bremen, Am Wall 163. Tel. 6945. 
Verlag: Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen. 
Druck: H. M. Hauschild, Hofbuchdruckerei, Bremen. 


Kaffee und Treffsicherheit. 


Von Rudolf Zeitler, Jagdschriftsteller, Barwies. 


Kaffee, sondern Wein, guten, wenn ich kann, schlechteren, 
wenn ich muß, stets aber Jieber etwas reichlicher als 
zu wenig. 

Was ich hier berichte, sind die Beobachtungen, die ein 
Jagdfreund an sich und ich an ihm machte. 

Er trinkt Kaffee bei der Arbeit im Bureau, weil er 
abergläubischerweise behauptet, bei geistigen Getränken nicht 
arbeiten zu können, und er trinkt ihn auf der Jagdhütte, 
wobei ich allerdings zu seiner Entschuldigung bemerken 
möchte, daß es dort nur Regenwasser gibt, welches immerhin 
als Kaffee besser schmecken mag als im Naturzustande. Ich 
glaube es wenigstens. 

Seit Jahren trinkt mein Freund ausschließlich den koffein- 
freien Kaffee Hag der Kaffee-Handels-A.-G. in Bremen und 
behauptet, daß eine nervöse Aufgeregtheit nach langen Nacht- 
arbeiten, deren Ursache er früher in der Überarbeitung und 
im Rauchen suchte, auf weiter nichts als auf das im Kaffee 
enthaltene Koffein zurückzuführen sei, und daß er nichts mehr 
davon merke, seit er ausschließlich den koffeinfreien trinke, 
und daß er es sofort merke, wenn er anderen genossen habe. 
Ich hielt das für Einbildung. 

Natürlich gab es auch auf der Jagdhütte nur Kaffee 
Hag, und eines Tages, als die Gelegenheit günstig war, be- 
schloß ich, ihn ad absurdum zu führen. 

Der Wassertopf stand am Feuer, der Koffeinfreie war 
gemahlen und in die Kanne getan, mein Freund hatte sich 
für einige Zeit aus der Hütte entfernt. Schnell warf ich den 
gemahlenen Kaffee Hag ins Feuer und ersetzte ihn durch 
eigens zu diesem Zwecke mitgebrachten gewöhnlichen Kaffee. 
Ahnungslos brühte er ihn auf und ahnungslos trank er ihn, 
dann ging es zum Aufstieg ins Gemsrevier. 

Schon wollte ich, während wir von einem Köpfl Aus- 
schau hielten, ihm schadenfroh meine Sünden beichten. Hätte 
ich es getan, so wäre ich um eine wirklich interessante Be- 
obachtung gekommen, denn plötzlich erklärte mein Freund, 
es sei ihm ganz lieb, daß keine Gemsen zu sehen seien, denn 
ihm sei so eigentümlich zumute, es »schnatterten« ihm alle 
Glieder, und wenn er jetzt schießen solle, so könne er für 
eine große Patzerei mit voller Bestimmtheit garantieren. Er 
konnte sich seinen Zustand nicht erklären, da er von der 


E selbst, das will ich im voraus bemerken, trinke keinen 


y 


— — e 42 2 


Vertauschung des Kaffees. ja nichts. ahnen konnte, und ieh 
schwieg wohlweislich. 

. Später legte sich seine nervöse Aufregung und wir müge 
zwei Patronen weniger und dafür jeder eine Gemse zur Hütte. 

Da es zu spät zum Abstieg war, beschlossen wir, oben 
zu übernachten, und ich war niederträchtig genug, das Experi-. 
ment von heute früh zu wiederholen. lch vertauschte wieder 
den gemahlenen Kaffee in der Kanne, wir aßen zur Nacht 
und mein Freund trank einige Tassen Kaffee, während ich, da 
ich ebenfalls sehr durstig war, mir den Rest des mitge- 
nommenen Weines mit Regenwasser etwas verlängerte. 

Dann krochen wir ins Heu und ich schlief binnen fünf 
Minuten wie ein Dachs, während mein Freund sich am 
anderen Morgen nicht genug wundern konnte, daß er vor 
drei Uhr nicht hatte einschlafen können. 


»Wenn ich nicht selbst das Originalpaket aufgemacht und 
den koffeinfreien Kaffee selbst heraufgetragen hätte, so glaubte 
ich bestimmt, daß der Kaufmann aus Versehen gewöhnlichen 
geschickt hätte,« meinte er. 

Ich muß wohl ein wenig gegrinst haben, denn plötzlich 
schien ihm ein ganzes Elektrizitätswerk mit Glühbirnen und 
Bogenlampen aufzugehen und er benahm sich wie ein gut- 
besuchter Kongreß von Rohrspatzen, beschimpfte mich als 
gemeinen Kerl und heimtückischen Giftmischer, und nur der 
Triumph, mich von der starken Wirkung des Koffeins un- 
wissentlich, aber um so wirksamer überzeugt zu haben, brachte 
ihn wieder in bessere Stimmung. 


Dieser kleine Versuch aber gibt zu denken. Ich bin seit- 
dem überzeugt, dass jeder, der einige Tassen Kaffee hinter- 
einander trinkt, davon üble Folgen verspürt, ohne sich aber 
der Ursache bewußt zu werden, weil er regelmäßig zu be- 
stimmter Zeit ungefähr das gleiche Quantum genießt. Erst 
wenn der Kaffee- oder vielmehr der Koffeingenuß*) zeitweilig 
ausgesetzt wird, entdeckt ein guter Beobachter die Ursache, 
d. h. wenn er weiß, welche Wirkung das Koffein hat. 

Weiß er das nicht, so kommt er vielleicht sein Leben lang 
nicht auf den Gedanken, daß eine gewisse Nervosität, Herz- 
klopfen, die zeitweilige Unfähigkeit, das Gewehr ruhig an- 


< 


*) Koffein ist ein im Kaffee enthaltenes Alkaloid. Es ist ein starkes 
Herz- und Nervengift, und die höchste Menge, die der Arzt davon als 
Medikament verordnen darf, ist o, 5 gr, dieselbe Menge ist aber bereits 
in 3 Tassen Kaffee mittlerer Stärke vorhanden! Aus dem koffeinfreien 
Kaffee Hag ist dieser Stoff ohne Beeinträchtigung des Geschmacks und des 
Aroma: entfernt, 


zuschlagen und sicher abzukommen, von seinem gewohnten 
Frühstücks- oder Nachmittagskaffee herrührt. 

Ich bemerke ausdrücklich, daß mein Freund, der mir un- 
freiwillig als Versuchskarnickel diente, nicht etwa ein »windiger 
Stadtfrack«, sondern eine sogenannte Bärennatur ist, ein Mensch, 
der es im Steigen mit fast allen Berglern aufnimmt, es sogar 
den meisten zuvortut, und, trotzdem er fast ein halbes Jahr- 
hundert auf dem breiten, sündigen Buckel hat, Sommer und 
Winter mit »dekollettierten Knien« im Berg umeinandersteigt, 
dazu raucht, als wenn ein kleiner Bauer Brot backt, kurzum, 
so zäh ist, wie seine harzigspeckige Lederhose. 

Ich selbst trinke, wie bereits erwähnt, so gut wie niemals 
Kaffee. Wäre ich aber daran gewöhnt, so würde mich das 
hier geschilderte interessante Experiment unbedingt zum koffein- 
freien Kaffee Hag bekehrt haben. 


Hag-Rundschau. 
ee ee re Kapitalserhöhunig: 

Die Generalversammlung vom 12. Februar genehmigte einstimmig die vor- 
geschlagene Kapitalserhöhung um ½ Millionen Mark auf 3 Millionen Mark und den 
Erwerb der Aktien der Kaffee-Patent-Aktiengesellschaft gegen Ausgabe von 
1050 000 Mark Obligationen. 

Herzhygiene: 

Dr. med. H.L. Balder äußert sich im „Magdeburgischen Generalanzeiger“ 
Nr. 60 über den verderblichen Einfluß des Alkohols und des Koffeins auf die 
Herztätigkeit: 

„Von den Genußmitteln sind es insonderheit zwei, die dem Herzen ge- 
fährlich werden: der Alkohol und das Koffein, indem sie, stete Tropfen, die 
Herzkraft immer und immer wieder über Gebühr in Anspruch nehmen und in 
ihrer verhängnisvollen Rück- und Wechselwirkung sich summieren, bis die Herz- 
schwäche unheilbar geworden ist. Die Häufigkeit der Herzkrankheiten, des 
Herzschlages gerade in den wohlsituierten Kreisen wird dadurch erklärlich. . . 

Den Tropenkaffee sollen wir nur bei besonderen Gelegenheiten, in Aus- 
nahmefällen trinken. Bei erschöpfender Kopfarbeit, bei Nachtwachen, bei sport- 
lichen Höchstleistungen zur Anreizung und als Peitsche, wenn es sein muß. 
Für den Hausgebrauch besitzen wir in dem koffeinfreien Kaffee ein vollwertiges 
Ersatzmittel, das dem Kaffee an Farbe, Geschmack und Aroma nichts ge- 
nommen hat.“ 

Hygienisches Institut der Universität Würzburg: 

Auf Grund von zahlreichen, ausgedehnten und genauen Versuchen, die 
in diesem Institut angestellt wurden, veröffentlicht Prof. Dr. K. B. Lehmann eine 
ausführliche Abhandlung in der „Münchener Medizinische Wochenschrift“ Nr. 6 
und 7 mit dem Titel „Die wirksamen und wertvollen Bestandteile des Kaffee- 
getränks mit besonderer Berücksichtignng des koffeinfreien Kaffees Hag und des 
Thum-Kaffees“, auf die besonders hingewiesen sei. Wir werden später Ge- 
legenheit haben, auf diese Arbeit zurückzukommen. 


„Die Naturwissenschaften‘“: 
Diese „Wochenschrift für die Fortschritte der Naturwissenschait, der Medizin 
und der Technik“ (Verlag Jul. Springer, Berlin) enthält in Heft 5 1913 S. 116. 
einen lesenswerten ausführlichen Aufsatz von Privatdozent Dr. Victor Grafe, Wien, 
über „Die Gewinnung und Entfernung von Naturstoffen durch Aufschließen*, 


Künstlerische Fabrikarchitektur: 

Zu den glänzendsten Aufgaben der Baukunst, an die noch vor einem Jahr- 
zehnt kaum jemand dachte, ist jetzt auch der Fabrikbau geworden, gewiß ein 
erfreuliches Zeichen dafür, daß die Architektur wieder Fühlung mit dem klopfenden 
Pulsschlag des Lebens gewinnt. Der Fabrikbau [ist inž der Tat geeignet, ein 
steinernes Dokument unserer Zeit zu werden. Wir sehen denn auch, daß die 
ersten Künstler sich um die Eroberung dieses weit vorgeschobenen Postens 
heiß bemühen. Vor der Hand ist die Zahl der wirklich überzeugenden Beispiele 
allerdings noch nicht groß. Wagners Bau der Kaffee-Handels-Aktiengeselischaft 
{Kaffee Hag) in Bremen muß man unbedingt hinzurechnen. Ganz in Beton er- 
richtet, ist der umfangreiche Gebäudekomplex lediglich aus dem sich in ihm 
abspielenden Fabrikationsprozeß heraus entwickelt und baut seine Masse in ein- 
drucksvollem Rhythmus auf.“ 

(Aus einem Aufsatz von G. Brandes über den Bremer Architekten Hugo 
Wagner in Heft 9 von „Niedersachsen“, Verlag Carl Schünemann, Bremen.) 


Die Güldenkammer: 


In Nr. 10 „Das Neue Leben, Zeitschrift für alle akademischen Kreise“ 
herausgegeben von Dr. C. Picht und G. Halm, Bonn, Verlag Oster & Joister, 
Köln, lesen wir: l 

„Die Güldenkammer hat jene glückliche Verknüpfung gefunden, zu der 
die moderne Entwicklung uns hindrängt: Literatur und Industrie zu verbinden. 
Erst wenn wir beide zu restloser Einheit werden verschmolzen haben — und 
doch wieder so, daß nicht die eine, ihre Grenzen verkennend, in das Gebiet 
der anderen übergreifen will, dann werden wir nicht weiter von seelenmordender 
Industrie und weltentfremdeter Kunst zu reden brauchen.“ 


Weitere Kostproben im Zeitungsbetrieb: 


Die Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen, die Herstellerin des koffein- 
freien Kaffees, bot die Gelegenheit, die Vorzüge ihres Produktes kennen zu lernen, 
indem sie durch ihren Vertreter einen Ausschank für das Personal veranstalten 
ließ. Es konnte festgestellt werden, daß der coffeinfreie Kaffee im Geschmack 
und Aroma von coffeinhaltigem Kaffee nicht zu unterscheiden ist. Da ferner das 
Produkt durch die Coffeinentziehung vollständig unschädlich gemacht wurde, so 
haben wir in diesem Kaffee ein Getränk, das allen im Zeitungsbetriebe tätigen 
Personen, an deren Nerven nicht geringe Anforderungen gestellt werden, zu 
empfehlen ist. (Hannoverscher Courier, 31. Januar 1913.) 


Eine Kaffeeprobe veranstaltete die Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft (Hag) 
in Bremen gestern vormittag für die Arbeiter und Angestellten der Schellschen 
Buchdruckerei in unserem Rotationsmaschinensaal, die den vollen Beifall der 
Konsumenten fand. Die Hag entzieht bekanntlich durch ein besondetes Verfahren 
den Kaffeebohnen das so gefährliche Gift Coffein, welches namentlich die Nerven 
und die Herztätigkeit ungünstig beeinflußt, und erreicht damit eine völlige 
Unschädlichkeit des beliebten Getränkes. Durch die Entziehung des Coffelns 
erleidet der Geschmack des Kaffees keinerlei Einbuße, er ist genau so aromatisch 
und wohlschmeckend wie vorher, nur ist ihm die schädliche Nebenwirkung, 
welche das Coffein ausübt, genommen. Es ist also ein richtiger Gesundheitskaffee, 
den nicht nur alle Herz- und Nervenleidende unbedingt, sondern auch alle Kaffee- 
trinker genießen sollten, welche auf ihre Gesundheit bedacht sein wollen. Der 
von Jahr zu Jahr steigende Absatz des Kaffee Hag beweist, daß das Publikum 
mehr und mehr die Vorzüge desselben In gesundheitlicher Beziehung einsehen 
gelernt hat. (Neckar-Zeitung, Heilbronn, 14. Februar 1913.) 


t 


Haushaltungsschulen: 


Mit welchem Interesse die Offentlichkeit die Einführung eines so vortreff- 
lichen und unschädlichen Genuß mittels wie des koffeinfreien Kaffee Hag verfolgt, 
geht aus einem Artikel aus dem Striegauer Anzeiger vom 26. Februar 1913 
hervor. Nach der Beschreibung der Kostprobe in der Haushaltungsschule und der 
Würdigung des verabreichten Genußmittels fährt der Artikel fort: 

‚Die Entgiftung des Kaffees erfolgt im großen Maßstabe in einer nament- 
lich in moderner hygienischer Hinsicht zu einer Sehenswürdigkeit gewordenen 
riesigen Fabrikanlage der Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft in Bremen. Der 
Leitung der hiesigen Haushaltungsschule gebührt Dank für ihr Bestreben, unsere 
Jugend mit den Errungenschaften neuzeitlicher Nahrungsmittelchemie bekannt zu 
machen, ihren schönsten Lohn findet sie sicherlich in der Beobachtung des 
wachsenden Verständnisses und der Freude, mit der unsere zukünftigen Haus- 
frauen in der schmucken Kochküche der Haushaltungsschule schalten und walten.“ 
Zahlreiche Haushaltungsschulen in ganz Deutschland haben sich in den Dienst 
der gleichen Bestrebungen gestellt. 


Schaffermahlzeit: 


Am Schlusse dieser traditionellen Mahlzeit, welche Bremer Kaufleute, See- 
leute, Reeder und hochstehende auswärtige Persönlichkeiten vereint, wird seit 
Jahren neben koffeinhaltigem Kaffee auch der koffeinfreie Kaffee Hag verabreicht. 
Zu unserer Freude konnten wir feststellen, daß die große Mehrzahl der anwesenden 
Gäste, trotzdem sie durch das mit zahlreichen Reden gewürzte und aus alt- 
renommierten Gerichten hergestellte Mahl um Jahrhunderte sich zurückversetzt 
fühlen mußten, dem modernen koffeinfreien Kaffee Hag den Vorzug gaben. 


Wweltumspannend wie der deutsche Handel 
ist die 


Wo der deutsche Kaufmann arbeitet, da isf auch die „Export-Woche” ver- 
freien. Sie gelangt in alle Länder der Welf. Sie will dern Auslande die Fort- 
schriffe der deutschen Indusfrie zeigen und dem deufschen Außenhandel 


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Schreibmaschinenkunde 

Man wird wohl erstaunt sein zu erfahren, daß bereits Anfang des 18. Jahr- 
‚hunderts der Engländer Henry Mill den Gedanken faßte, eine Schreibmaschine 
zu bauen und im Jahre 1714 bereits ein diesbezügliches Patent. anmeldete. Lang- 
sam reifte dieser Gedanke aus und 1866 erst gelang es einem Erfinder aus Alabama, 
games Pratt, eine Maschine zu konstruieren, die auch einen praktischen Wert 
besaß. Eine Beschreibung dieser Erfindung, die dem Drucker C. Latham Scholes 
und dem Techniker Carlos Glidden in die Hände fiel, brachte diese Erfinder, 
die mit der Herstellung einer Numerier- und Paginier-Maschine beschäftigt 
waren, auf den Gedanken, ihre Numerlermaschinen auch mit Buchstaben zu 
versehen. 1873 kam ihr erstes brauchbares Modell heraus. Man kann sich vor- 
stellen, daß ein solches Modell vieler Verbesserungen fähig war. Einer der 
ersten, die es sich zur Aufgabe stellten, die Schreibmaschine. zu der Vollkommen- 
heit zu bringen, die sie jetzt besitzt, war der geniale Erfinder G. W. N. Yost. 
Seine Hauptaufgabe sah er darin, die Schrift so rein und klar zu gestalten wie 
eine Druckschrift. Er hatte nämlich die Beobachtung gemacht, daß die unklare 
Schrift durch die Übertragung der Farbe mittels eines zwischen Type und Papier 
befestigten Farbbandes verursacht wurde. Dabei verfiel er auf den Ausweg, das 
Farbband zu entfernen und die Typen in der Ruhelage auf ein Farbkissen zu 
legen, von dem die mit Farbe gesättigte Type unmittelbar auf das Papier auf- 
schlägt. Der Buchstabe kam dadurch so klar und schattenfrei zum Vorschein, 
wie etwa beim Buchdruck, der ja auch kein eee zwischen Satz und 
Blatt kennt. 

Eine zweite glanzende Idee Yosts war der Gelungene Versuch, die Typen 
nicht wie bei anderen Maschinen durch ein Typenlager zu führen, sondern vom 
Abdruckpunkte aus. Er konstruierte zu diesem Zweck den Zentralführer, der sich 
bis zum heutigen Tage glänzend bewährt hat. Es ist von Interesse zu erfahren, 
daß seit dem Jahre 1891, in welchem Yost diese Ideen verwirklichte, eine Ver- 
besserung dieser Prinzipien nicht möglich war. Neben zahlreichen anderen 
Vorteilen haben die beiden beschriebenen Eigenarten dazu beigetragen, der 
Yost-Maschine den Ruf der vollkommensten Schreibmaschine und der Maschine 
der schönsten Schrift zu erwerben. 


Lloyoͤreiſen 1913 


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schmerzen, Rückenmarksleiden, Lähmungen, Versteifungen, 
Verkrümmungen, Verwachsungen. 


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