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Princeton University Library
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Verlag: Kaſſeehag Bremen
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„Die Güldenkammer‘
Inhalts-Verzeichnis des III. Jahrgangs.
(Oktober 1912 bis September 1913.)
Aus alten Handschriften:
Ein unveröffentlichter Brief der Gemahlin
König Otto I. von Griechenland über die politischen Wirren in Athen
im Jahre: 1890... y
Anmerkung zu Durets, NapolenT W qh OLELeL sn
Charles Baudelaire: Tröstliche Maximen über die Liebe ............
Franz Becker: Geistliche Volksliedern rnrIIUn .
Paula Becker-Modersohn: Briefe und Tagebuchblätter I.............
— do. 11
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= do. N atsna raS
Dr. E. Benedikt:
Das türkische Problem
Neuer Kurs in Italien
Oscar Bie: Widersprüche der Oper
Ein Jahrzehnt in der Aviatik
Hans Bethge: Erinnerungen an Otto Erich Hartleben ................-
Dr. A. Bettendorff: Die Entwicklung der Schulen in Japan...........
Henri Beyle (de Stendhal): Der Chevalier von Saint-Ismier.........
Franz Blei: Scaramuccia auf Naxos. Eine heitere Oper
Rudolf Borchardt: Auf den Feldern von Marengo (Gedicht)..........
Bremensis: Politische Rundschau UUů .
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Lothar Brieger: Von der Notwendigkeit des Uberflüssige nn
A. E. Brinkwald: Die Mode in der Frauen schönheit
J. v. Bülow: Elitetrup cen n
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Otto Corbach: Industrielle Reservearmee und innere Kolonisation 254
— Volksempfinden und auswärtige Politik ..........ceseonesoncrens 353
— Amerika und die Aslstennnnnn 691
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== Piomieére dés ec. nn 752
Willi Dünwald: Der junge Goetnneeeee „ 490
Hanns Martin Elster: Zwischen zwei Meeren 425
Otto Flake: :Disharmonlen u. aan a 244
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Richard G. B. Förster: Frankreich und die nationalistische Bewegung
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Prof. Dr. Ludwig Fränkel: Süddeutschlands geplante Großschiffahrts-
verbindung und der Anschluß nach Norden.........ceecececeeecee. 315
S. D. Gallwitz: Musikalische Einaxtenᷣuꝭnn . 59
=> Plena !,, ara 184
— Richard Strauß’ Vollendung ͥ 248
— Wort und Ton und Mozart F öé ꝓ ' 475
Dr. Alfred Gildemeister: Die Hansestädte und die deutsche Nation 604
— Die wirtschaftspolitische Stellung der Hansestädte ................ 73
Dr. Felix Günther: Moderne Orchestertechni k.k.... 72
Dr. Carl Hagemann: Probleme der Opernleitungn᷑e— ꝛpꝛP . 201
Félicie Hartlaub: Die Schwester. Novellꝶꝶee i . 409
G. F. Hartlaub: Das Ende des Impressionismunꝝ . 95
e rr. 182
Wilhelm Hausenste in: Lissauenũnrã rr 146
Derr ðſſ ⁰ 308
— Neues in der Münchener Kunsꝶũꝶ U . 381
/ ²˙²n; ²³]˙¹¹ u ³⁰ mw ³ 6 AA 538
J. J. Hegner: Das Opfergleichnis. Erzahlunggn n . 209
Dr. Richard Hennig: Die Verkehrswege nach Chinꝶ q 328
Richard Henning: Remonten und Rennenrnn nnn 172
Gerhard Hildebrand: Sozialismus und Persönlichkeitskultur.......... 971
Gustav Hübener: Husserl, Bergson, Georgſeſſꝶꝶ . 212
Herbert Ihering: Berliner Theater........... C 499
lpse Peccator: Die Kunst der Gegenwarrꝶ i 695
Hugo Kloß: Die Finanznöte der Balkanstaateꝶ·nn 256
Ff. ³ 319
— Konjunktur oder Krisis FCC 382
en,, v E AA 505
— Die neue chinesische Anleignee eee e . 567
Gerhard Ouckama Knoop: Familienkunxddſeei d-. 336
Erich Kramer: Die Schneeballhexe. Erzahlunñnnů g. 272
Joseph Aug. Lux: Reform der Männertracht ..........scsccsocnnooccs 360
Dr. Frhr. v. Mackay: Das slawische Problem ..........oecs0oonnonen00. 509
Adolf Mayer: Spiel um Gewinn und Versicherung gegen Schaden. 745
F.Müller:Lyer: f! u ea 449
Max Oehler: Soldatenlieder .....,.ue sn. ua 365
Erich Oesterheld: Die Reklame des Verlegers...........2reeneen00. 633
Gustav Pauli: Rudolf Alexander Schrödeõ⸗rõrãuꝭʒnrãrr . 578
H. Prehn- v. Dewitz: Wirtschaftsstudien. lll) ꝑ 385
= do. | EN EUR ER 467
— do. CCC 545
— do. Were sagten 677
— do. CCC 736
Ulrich Rauscher: Der gute alte Kitsch . 445
F.,... A A e aaa 503
Paul Scheerbart: Marduk. Assyrische Burgnovellette ................ 517
Oscar A. H. Schmitz: Das werdende Frankreicꝶ-̃ã n . 663
Dr. Reinhold Schmidt: Die Home Rule- Debatten 495
Wilhelm von Scholz: Satumusjahre. Terzine n 101
Dr. med. L. Scholz: Ein Kapitel zur Willenserziehung ................. 686
Dr. Ernst Schultze: Das Zurückbleiben Englands auf technischem Gebiet. 111
Willy Seidel: Der Ungeborene. Novellldſuſ·ddſueuei me ãñ 456
Georg Simmel: Philosophie der Landschaftttzꝝÿaꝛpͤymq.ͥ—w.. 635
Dr. Conrad Simonsen: Die dänische Seellũ k.k. 33 16
Dr. H. Smidt: Nochmals der Fall Nogs U U .. 107
Guy von Soom: Die Blume. Erzählung̃³— P i 609
H. Steinitzer: Die Schlacht von Comajagua. Er zahlung. 25
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Curt Stoermer: Die Panspiele von Carl Hauptmann 185
— Paula Becker-Modersonn nnn . 378
Wilhelm Tideman: Aphorismen . 577
ieee RS 712
Trux: Klassenwirtschaft im Heere ·))œn ..... 629
Alexander Ular: Der Totenkult und die Kultur. (Zum Fall Nogi) 1
— Szenenwechsel in AmerikayT ae n 162
— Eine moralische KatastropamMuuk:k u 288
Hermann Urtel: Wanderungen in Portugal. 1Iilnl .. 155
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Charles: idee ⁵ ↄ ↄ (g y y RA 706
Emil Waldmann: Römische Kaiserphysiognomie·en 348
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Dr. Fritz Wertheimer: Chinafahrt. Kuschpaaeeee n 36
— do. Wollen und Können in China ..... 80
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Dr. Fritz Wertheimer: Politische Leistungen und Aufgaben in China ..
Dr. Albrecht Wirth: Am BalʒKkaͤꝶ n.n.n.n.n.ndnnnn .
— Der Balkan in der Weltgeschicht᷑'ieieieie . Z̃ ꝶv
Arnold Zweig: Die Passion. Novellll Qu 4ͤ1
— Die Urgros mutter. Novellllleeeeeeeeeee
ANREGUNGEN UND AUSBLICKE.
Preisgericht und Künstler
Elektrizitätswerte
feen AANE
Bemerkungen zur Weltsprachee !
Das Liquiditätsproblem bei den Kreditbanken
Die Bremische Musikalienbibliothek
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Die
Güldenkammer
Herausgeber:
S. D. Gallwitz - G. F. Hartlaub - Hermann Smidt
Alexander Ular: Der Totenkult und die Kultur.
(Zum Fall Nogi.)
ewaltsamer Tod ist fast immer ein kulturgeschichtliches
€ Dokument. Wird jemandem mit dem Tomahawk der
Schädel gespalten; wird ein Körper unter dem Folter-
rade zermalmt; reißt ein Granatensplitter jemandem den Bauch
auf; fliegen Gliedmaßen unter einem Automobil auseinander;
ertrinkt einer, weil sein hohler Baumstamm unter einer winzigen
Welle kenterte; hängt eine alte Frau sich in leerer Mansarde auf;
erschießt sich jemand in Monaco in Frack und weißer Binde;
wird jemand geköpit: stets läßt sich aus den Umständen und den
Motiven des Todes ein zwingender Schluß auf das Gepräge des
Milieus, auf die sozialen und, unerbittlicher noch, auf die seelischen
Zustände der Umwelt ziehen. In den meisten Fällen ist den ins
Totenreich Wallenden mutmaßlicherweise dieser kulturgeschichtliche
Wert ihres Endes höchst gleichgültig; sie hätten im Gegenteil in
der Mehrzahl gern auf solches posthumes Interesse verzichtet,
wäre ihnen nur im Leben ein winziger Bruchteil derselben Auf-
merksamkeit zuteil geworden. Aber manchmal ist gewaltsamer
Tod doch eine politische, soziale oder psychische Kundgebung
des Sterbenden gegen seine Umwelt oder zum mindesten gegen
die Umformung seiner Umwelt, die er nicht mitmachen konnte
oder wollte. Und dann wird der selbstbeschlossene gewaltsame
Tod zum Symbol einer Weltanschauung und die Auffassung der
Uberlebenden von diesem Tode ein sicheres Kennzeichen des
seelischen Zustandes, der Kultur der Menschengruppe, zu der der
Tote gehörte.
Selten wurde sensationeller ein ganzer Kulturzustand durch
das Handeln eines einzelnen beleuchtet, als der gegenwärtige
2 Alexander Ular:
seelische Habitus der Japaner durch den Selbstmord des Generals
Nogi. Vor fünfzig Jahren noch alltägliches Vorkommnis, das in
Zeitungen unter den „Vermischten Nachrichten“ in zwei Zeilen ab-
gefertigt worden wäre, gewinnt dieser Akt unter den jetzigen Ver-
hältnissen den Wert einer wahren kulturgeschichtlichen Enthüllung,
des Durchreißens einer trügerischen Oberfläche, hinter der die
Kenner zwar das Wirkliche sahen, die aber den Europäern im
allgemeinen etwas vortäuschte, das niemals existiert hat, nämlich
die ungefähr gleiche Höhe japanischer Kultur mit europäischer.
Die Begeisterung, die Bewunderung, der Stolz, mit dem ganz
Japan diesen „patriotischen“ Akt begrüßt hat, scheint in Europa
im allgemeinen das Gefühl einer beinahe respektvollen Scheu aus
zulösen. Die „Liebe“ zum Kaiser, die „Ireue“ zum angestammten
Herrscher, der „Heroismus“ und das „Pflichtgefühl“, die den alten
Heerführer in der Minute zum Tode trieben, als sein Herrscher
zu Grabe getragen wurde, geben hübsche Motive zur Rührung,
zur Ehrfurcht und womöglich zu moralischer Erhebung. Sicherlich
aber nur, weil der Sinn dieses blödsinnigen, geradezu kindischen
Selbstmordes und der peinliche Charakter der japanischen Gemüts-
erregung dieser Tragikomödie gegenüber nur den wenigsten
Europäern hat zum Bewußtsein kommen können.
Nogi verdiente im Leben den größten Respekt, und niemand
versagte ihn ihm. Denn er war ein Stratege ersten Ranges. Man
konnte ihn mit Moltke vergleichen. Er beherrschte mit stupendem
Geschick die modernste Technik. Er benutzte Telegraphen und
Telephone; die Chemie der Sprengstoffe hatte für ihn keine Ge
heimnisse; er integrierte Gleichungen von balistischen Kurven.
seine hygienischen Maßnahmen vor Port Arthur waren muster-
gültig. Er schien ein durch und durch moderner Mensch. Und
das verdiente um so höhere Achtung, als er schon fast erwachsen
war zur Zeit, da die europäisierende Umwälzung die alte Barbarei
Japans im innersten umzugestalten schien (in Wirklichkeit aller-
dings sie nur mit einem klebrigen Firnis europäischer Äußerlich-
keiten umgab). Alles, was diesem Manne Respekt und Bewunderung
eingetragen hat, war letzten Endes die Anpassung an moderne
Kultur. Diesen Respekt aber hat er durch sein schmähliches Ende
zerstört. Denn in diesem zeigte er, demonstrierte er absichtlich,
daß alles, wasihn groß gemacht, nur äußerlich, nur Nachahmung
gewesen, und daß auf dem Grunde, im Mittelpunkt seines geistigen
Lebens, keine menschenwürdigen Ideen lagen, sondern die wüsten
Vorstellungen wilder Urmenschen, die primitiven Regungen von
Papuas und Eskimos, roher als die Gedanken uralter Ägypter
und Sumerer: dieselben Gedanken, die seit Jahrtausenden, allen
|
|
Der Totenkult und die Kultur. 3
kulturbringenden Mühen von Buddhisten, Christen, Chinesen und
Europäern zum Trotz, sein Volk in skandalöser Sklaverei halten.
Wer im Selbstmorde Nogis die sentimentalen Motive sucht,
und über sie in Rührung gerät, begeht den verzeihlichen Irrtum,
ein wildes Menschenopfer in eine Linie zu stellen mit dem frei-
willigen Tode des Mannes, dem das Leben ohne seine Geliebte
zur Last wird, oder der sich in der Extase des Kriegs dem
Uberleben der Gemeinschaft opfert. Nogi hat sich in Beobachtung
alter japanischer Feudaltradition getötet, und das ist ganz etwas
anderes.
Er. hat zwar nicht das klassische Harakiri begangen; er hat
nicht von links nach rechts seinen Bauch samt sämtlichen Ein-
geweiden zerschnitten. Er hat vorgezogen, sich den Hals abzu-
schneiden. Aber er wußte ganz genau, daß dies ein grober Ver-
stoß gegen Anstand und Etikette war. Und damit nur ja kein
Zweifel darüber entstehen könnte, daß er sich nicht aus irgend-
welchen modern riechenden Gründen umbrachte, sondern in Be-
obachtung des ältesten barbarischen Aberglaubens, zum Zweck,
seinem Herrn im Gespensterreiche Gefolgschaft als Flügeladjutant
zu leisten, wie er es hier getan, deutete er zuvor wenigstens an,
daß er das echte alte Harakiri zu vollführen im Sinne hatte: er
führte zwei oberflächliche Schnitte über seinen Bauch.
Das weiß jeder Japaner, und gerade das gibt dem Fall seinen
kulturgeschichtlichen Wert. Nogi hat sich nicht getötet, wie ein
Europäer sich töten würde: er hat seinem Herrn Gefolgschaft ge-
leistet, um in den seligen Gefilden seinen Dienst fortzuführen,
seinen amtlichen Pflichten weiter zu genügen. Das Motiv seines
Todes ist nicht Moralisches oder Sentimentales; es ist noch weniger
etwas Intellektuelles; es ist vielmehr die Negation aller Vernunft
und aller einigermaßen plausiblen Moral; es ist die totale Unter-
werfung unter die Wahnvorstellungen primitivsten Aberglaubens,
die absolute Herrschaft animistischer und dämonistischer Ur-
menschtheorien, die Herrschaft der Toten.
Bei keinem Volke der Welt hat sich ja diese Herrschaft des-
potischer, härter, zwingender gezeigt als bei den Japanern.
Ganz zweifellos waren samtliche anderen Völker zu irgendeiner
Zeit bei jenem Standpunkte der Weltauffassung angelangt, der
menschliche Seelen in jedes Ding setzt und zugleich das unver-
standene dinglose Schalten, das außerhalb des Menschen und über
den Menschen hinweg Agierende, den Seelen der Toten zuschrieb.
Entwicklung des Verstandes ist doch nichts als immer feineres
Differenzieren der Dinge. Im primitiven Zustande setzt der Mensch
alles mit sich selbst gleich. Er legt allem seine eigenen Fähigkeiten,
*
4 Alexander Ular:
Gefühle und Kräfte bei. Da er sie, sobald sie außerhalb eines
menschlichen Körpers wirken, nicht mehr versteht, sucht er nach
Mitteln, sie sich günstig zu stimmen, und findet dazu natürlich
keine anderen als die, die auf Menschen Einfluß haben: er bringt
einem Steine Essen und Trinken, unterhält sich mit ihm, führt
ihm Tänze vor und bittet ihn, betet zu ihm, wie er es mit einem
mächtigen Menschen tun würde. War und ist aber der primitive
Mensch unfähig, selbst nichtorganische Dinge von sich zu diffe-
renzieren, so war er in weit höherem Grade in der Unmöglich-
keit, den Lebenden von dem Toten zu unterscheiden. Er sah zwar
einen Unterschied: daß nämlich das Handelnde den Körper ver-
lassen hatte. Aber er hatte keinen Grund zur Annahme, daß dies
Handelnde nunmehr vernichtet sei. Im Gegenteil, er benötigte
nicht einmal Traumerscheinungen oder sonstiger ungewöhnlicher
Vorfälle, um vom Weiterhandeln des Toten überzeugt zu sein. Es
genügte ja das bloße Gedächtnis, die Erinnerung an die Lehren
der Eltern, das fortwährende, meist kaum bewußt werdende Profi-
tieren von der Erfahrung der Verstorbenen: denn diese Erinnerung
konnte er ja nicht von dem Gegen wärtigen differenzieren; erinnerte
er sich, sein Vater habe dies oder jenes auf eine gewisse Weise
ausgeführt und ahmte er demgemäß diese Weise nach, so schien
es ihm, als machte ihn der Verstorbene erst in diesem Augenblick
auf die Sache aufmerksam und befehle ihm, so zu handeln. Machte
er etwas verkehrt, d. h. mit Mißerfolg, und erinnerte er sich darauf
an die überkommene Erfahrung, so hatte er nicht das Bewußtsein
von dem schon recht komplizierten Prozessus, daß er etwas aus
der Vergangenheit Stammendes vergessen hatte, sondern er
empfand, daß der Verstorbene ihn mit Mißerfolg dafür bestrafte,
daß er nicht so gehandelt hatte wie jener: folglich leben die
Toten mit all ihren Eigenschaften weiter und nehmen an dem
Leben der Nachkommen teil; und da sie dies tun können ohne
sichtbar zu werden, verfügen sie über Mächte, die der Mensch
nicht hat. Weiter ergibt sich aus diesen Umständen, daß der
Tote wie im Leben unglücklich ist, wenn er nicht dieselben Be-
dürfnisse weiter, befriedigen kann, wenn ihn die Lebenden nicht
bedienen; daß der Tote sich wie im Leben bei Vernachlässigung
ungehalten zeigt und straft; daß also das Glück der Lebenden
von der aufmerksamen Bedienung der Toten abhängt; daß folglich
alles, was im Leben den Menschen zustößt, das Werk der Toten
ist, und daß natürlich die Toten alles und jedes, was die Lebenden
tun, beobachten, überwachen und beurteilen, um darnach je nach
dem Verhalten der Lebenden in gutem oder bösem Sinne in ihr
Dasein einzugreifen. Ä
Der Totenkult und die Kultur. 5
Diese Grundzüge des Ahnen- oder Totenglaubens sind aus-
nahmslos allen Völkern gemein, und auf ihnen beruhen geschicht-
lich ausnahmslos sämtliche Religionen, selbst die raffiniertesten, wie
der Buddhismus und dasChristentum. Und der Ausgangspunkt jeden
Kultes, selbst des üppigsten und kompliziertesten, hat sich lang-
sam aus dem Totenkult entwickelt, aus den praktischen Maß-
nahmen, die man traf, um für das Wohlergehen der Dämon ge-
wordenen Toten zu sorgen und dadurch ihre tatkräftige Unter-
stützung im Leben zu verdienen.
Alle Kulturvölker haben dieses primitive Stadium überwunden,
aber nicht ein einziges ganz. Fast alle haben von ihm zum min-
desten in ihren außerpraktischen, metaphysischen Theorien und
Gepflogenheiten reiche Reste bewahrt, oft ohne sich ihrer Herkunft
bewußt zu sein: man denke nur an den Ällerseelentag der Katho-
liken und an die Gewohnheit, Gräber mit Blumen zu schmücken,
ja, überhaupt Grabsteine zu setzen, letzte Andeutung des Erbauens
des „Geisterhauses“, wo der Tote wohnt. Aber je höher ein Volk
sich entwickelte, um so weiter wurde der Totenglaube und der
Totenkult aus dem praktischen, dem sozialen Leben zurückgedrängt
und ins Sentimentale oder Metaphysische verwiesen. Ein Medizin-
kandidat, der etwa heute seinem verstorbenen Vater (einem Ärzte)
eine Schüssel voll seines Lieblingsgerichtes auf das Grab stellt,
damit er ihm morgen unsichtbar beim Staatsexamen zu Hilfe
kommt, würde wahrscheinlich als toll eingesperrt werden; und
ein Geschäftsmann, der sich vor einer Börsenoperation überlegt, ob
wohl sein Urgroßvater mütterlicherseits an die Hausse der A. E. G.
glaubt, macht sicher bankrott. Mit anderen Worten: Totenglaube
und Totenkult sind an und für sich kulturwidrig, da sie den
Menschen nicht von sich selbst und den tatsächlichen Umständen
abhängig machen, sondern von einer Unzahl unheimlicher Mächte,
deren Beruhigung ihm seine beste Zeit und Kraft wegnimmt.
Allerdings kommt es bei Beurteilung dieser Dinge recht sehr
darauf an, was man denn eigentlich unter Kultur versteht. Daß,
an und für sich Lokomotiven, Mitrailleusen, elektrische Bahnen
und Flugmaschinen noch nicht Kultur ausmachen, darüber ist
man wohl einig: denn sonst hätten ja sogar die Amerikaner wirk-
liche Kultur, und zu solchem Wahnsinn versteigt sich doch wohl
kein vernünftiger Mensch (obwohl man die Tollheit begangen
hat, den Japanern europäische Kulturhöhe zuzuschreiben, weil sie
mit europäischen Mitteln besser zu morden wußten als die
Russen). Kultur wird doch wohl immer mehr als etwas In-
dividuelles angesehen; zum mindesten in dem Sinne, daß ein Volk
nicht ein Kulturvolk ist, wenn nicht seine Mitglieder durch-
6 Alexander Ular:
schnittlich eine gewisse Verfeinerung des geistigen Lebens auf-
weisen. Diese Verfeinerung aber ist nichts anderes, als ein immer
präziseres und energischeres Aufsichselbststellen des Individuums
gegenüber der lebenden und toten Umwelt, eine Bereicherung der
Persönlichkeit auf Kosten der Umwelt, die Differenzierung der
Persönlichkeit von dem, was um ihn ist. Wer sich im Dasein so
zu orientieren weiß, daß seine Persönlichkeit dabei wächst, wer
das Universum kraft seiner geistigen Interpretationsfähigkeit sozu-
sagen beherrscht, der hat Kultur. Es gehört dazu Wissen um
Tatsachen und vor allem Ausschaltung der Vorstellungen, die ab-
solut sicher Irrtümer sind. Es gehört dazu also persönliche
Auseinandersetzung mit den Problemen der Existenz. Und das
höchst entwickelte Kulturvolk ist nicht etwa das zahlreichste, oder
das, welches die schönste Handelsbilanz oder die größten Panzer-
schiffe hat, sondern das, in welchem die verhältnismäßig größte
Anzahl von Individuen sich durch eigene Energie und eigene
Überlegung, unter dem Minimum schlechtweg hingenommener
Grundsätze und Dogmen aller Art, eine Weltanschauung gebildet
hat. Hierin allein liegt die europäische Kultur und jeder andere
Maßstab würde sie unter die mohammedanische oder indische
stellen.
Wie aber wäre solche Kultur, die wir Europäer nicht anders
als die wahre ansehen können, möglich bei Völkern, deren jedes
einzelne Mitglied niemals auf sich selbst, ja nicht einmal auf der
gegebenen Kollektivität der Mitglieder steht, sondern jeden Ortes
und jeder Zeit in jeder Tätigkeit der absolute Sklave der Toten
ist, von den Toten beherrscht und gelenkt wird, seine Hauptkraft
auf die Auseinandersetzung mit den Toten zu verwenden hat,
kurz, nicht selbst lebt, sondern nur insofern Tote vor ihm gelebt
haben?
Die Macht der Toten ist ja noch bei uns furchtbar. Irgend-
einer hat einmal geschrieben, wir regierten uns nur zu höchstens
einem Zehntel selbst, aber neun Zehntel aller Macht bei uns läge
bei den Toten, die wir fortgesetzt anrufen, von deren Ansichten
und Handlungen wir uns fortwährend beeinflussen lassen, obwohl
sie wahrhaftig schon reichlich genug damit getan haben, daß sie
uns das Gehirn vererben, dessen wir uns freuen oder schämen,
und das man sehr wohl nun selbständig weiterwirtschaften lassen
könnte. Und doch haben wir als Kulturmenschen bereits in
hohem Grade das Bewußtsein und den Stolz, unser eigenes Urteil
über alles frühere zu stellen. Wie ungeheuer die Macht der Toten
bei unseren Voreltern gewesen sein muß, wie furchtbar die Toten
alles Neue, allen Fortschritt bekämpft haben müssen, davon können
Der Totenkult und die Kultur. 7
wir uns kaum eine Vorstellung machen, aber wir können es ahnen,
wenn wir die noch heute bestehende Riesenmacht aller abge-
schwächtesten Totenglaubens, wenn wir die Macht der Tradition
abwägen.
Wir sind, wie gesagt, in unserer rein geistigen Tätigkeit
noch lange nicht von den Toten befreit, und die relativ
enorme Kulturhöhe, die wir erreicht haben, beruht einzig und
allein darauf, daß wir wenigstens aus dem praktischen, dem mate-
riellen, dem utilitaristischen, dem wirtschaftlichen, dem sozialen
Leben die Toten schon weit hinausgedrängt haben. Alle Völker
haben diesen Riesenkampf gegen die Toten begonnen, alle soge-
nannten oder angeblichen Kulturvölker wenigstens. Aber — und
dies ist die Tatsache, die augenblicklich interessant erscheinen
dürfte — von allen großen Völkern ist das japanische das, welches
in diesem Kampfe am kümmerlichsten abgeschnitten hat; denn es
ist noch jetzt dort, wo die Griechen vor Homer, die Inder vor den
Veden, die Ägypter vor dreißig Jahrhunderten waren.
Die ganze japanische Geschichte ist nichts als die Geschichte
des Totenglaubens und des Totenkultus. Die ganze japanische
Gesellschaft ist nichts als eine Menschengruppe, die sich ohn-
mächtig gegen ihre Toten wehrt. Die ganze angebliche japanische
Kultur ist nichts als die fortgesetzte Unterdrückung der Lebenden
durch die Toten und der hahnebüchene Versuch, ein erträgliches
Zusammenleben unter der Herrschaft der Toten mit der Preisgabe
alles dessen zu erkaufen, was wir individuell nennen, und was
dem Europäer, auch wenn er es nicht weiß oder sogar leugnet,
tatsächlich das Wesentliche ist.
In Japan ist noch heute Familie, Stamm und Staat nichts als
Totenkult. Die ganze anscheinend so erhabene japanische Moral,
der berühmte oder besser berüchtigte alberne Bushido, der „Ehr-
begriff“, das „Ritterliche“ des Japaners, die vermeintliche Höflich-
keit, der Stoizismus, der angebliche „Patriotismus“, der von
unserem so verschieden ist wie das Funktionieren einer Dampf-
maschine von der Pflichttreue eines Kassenbeamten, alles das ist
ja nichts als die notwendige Erscheinungsform der absoluten
Knebelung des Individuums durch den Aberglauben an die Toten,
der sich als Familie, Clan und Staat organisiert hat.
In Japan gibt es bekanntlich keine Kirschen, obwohl im
Frühling das ganze Land, zur Extase der Snobs, unter zarten
Blüten ruht. Die Bäume geben Blumen, aber keine Früchte. Sie
sind sinnlos. Es sieht fast wie ein Symbol aus. Denn: die japa-
nische Gesellschaft ist ebenso. Sie kann gar nichts hervorbringen;
E
8 Alexander Ular:
sie kann bloß scheinen. Ihr Ziel ist sozusagen, nicht weiterzu-
kommen, sondern fortwährend zum selben zurückzukehren, zu
den Toten, zu dem, was die Toten taten, zur Tradition, zu einer
Tradition, die das uralte Gewesene zur Richtschnur, zum Henker-
beil des Neuen nimmt.
Anderthalb Jahrtausende Buddhismus, moderne Technik, euro-
päische Wissenschaft, gewaltige Anläufe des Christentums haben
nicht vermocht, in diese härtesten Hirne der Welt befreiende Ideen
zu hämmern. Und schließlich wird sie wohl nur der Magen, der
leere Magen, das Problem des früher unbekannten Proletariats
notgedrungen etwas zugänglicher machen. Heute ist der Ja-
paner hinter uns noch ebenso weit zurück wie der älteste Assyrier.
Und hätte es eines Beweises bedurft, so würde der General Nogı
ihn uns mit aller wünschenswerten Klarheit liefern.
Dieser Mann war stets als einer der wenigen angeblich Auf-
geklärten bekannt, die mit Stolz sich als echte Vertreter des wirk-
lichen Japans brüsteten. Er dachte, wie früher der Adel dachte
und wie das ganze Volk noch heute denkt. Das heißt, er dachte
überhaupt nicht, sondern war in jener „schlechthinnigen Abhängig-
keit von einer höheren Macht“, die Schleiermacher als das Wesen
der Religion bezeichnet hat; bloß war diese höhere Macht die
albernste von allen, nämlich der uralte nie ausgerottete Volksaber-
glaube, die absolute Herrschaft der Toten: nicht der Toten, die
wie bei uns durch Erinnerung an ihre Taten und Werke wirken,
sondern der Toten, die im Gespensterreiche wie Menschen weiter-
leben und handeln, menschliche Leidenschaften und Velleitäten
aufzeigen, sich persönlich ins Dasein der Lebenden mischen, und
deren Bedürfnisse und Launen (wenn sie mächtig sind) befriedigt
werden müssen, wie die eines perversen Neuropathen. Deshalb
und nur deshalb ging er in den Tod. Seine Andeutung des
klassischen Feudalselbstmordes und die religiöse Gehobenheit, die
sich im Volke geltend machte, beweisen es schlagend.
Und nun noch das Typischste, das Unheimlichste, das Frag-
würdigste. Der Mann stand im tiefsten Tiefstande alles dessen,
was wir religiöses Leben nennen, er handelte als Urmensch, als
Wilder, und um diesem seinem primitiven seelischen Bedürfnisse
zu folgen, übertrat er die schärfsten Gesetze der Herren, denen er
Gefolgschaft in den Tod leistete, um ihnen weiter zu dienen.
Die jämmerlichste soziale Folgeerscheinung des absoluten
Totenglaubens nämlich stellt zweifellos der Mord der Überlebenden
dar: das Menschenopfer, das die Juden bereits in grauer Vorzeit
verpönten (Geschichte Abrahams). Was bedeuten diese Menschen-
opfer, die noch jetzt bei ganz primitiven Völkern vorkommen?
Der Totenkult und die Kultur. 9
Genau dasselbe wie der Selbstmord des Strategen Nogi. Sie be-
deuteten, daß, wenn doch der Tote weiterlebt und dieselben Be-
dürfnisse weiterbesitzt, alle diese Bedürfnisse befriedigt werden
müssen, soll nicht Unheil über die Lebenden kommen; hat einer
zu Lebzeiten Reis gegessen, so braucht er Reis unter den Ge-
spenstern; war einer Krieger, so braucht er weiter seine Waffen
(manche feine Leute lassen sich noch jetzt mit einem Säbel be-
graben und elegante Damen mit ihren Perlenhalsbändern); war
einer an zahlreiche Dienerschaft und persönlich an gewisse Diener
gewöhnt, so mußten diese eben mit ins Jenseits wandern; war
einer gar Kaiser oder ähnliches, so brauchte er selbstverständlich
einen ganzen Hofstaat, Frauen, Kinder, Gefolge, Minister, Gene-
räle usw. Man mußte all diese Utensilien also mit begraben.
Und das geschah tatsächlich in Japan. In langen Reihen grub
man zahllose Angehörige, Hörige, Diener und Gefolgsleute,
Männer, Weiber und Kinder lebendig bis an den Hals rings um
das Mausoleum des Toten in die Erde ein und ließ sie dort
qualvoll langsam sterben. Diese erhebende Zeremonie hieß
Menschenhecke, Chto-gaki. Ihre Opfer waren wahrscheinlich
weniger gläubig als General Nogi. Sie unterwarfen sich der Pro-
zedur durchaus nicht freiwillig. Das Jammern und Heulen ;hres
Todeskampfes muß furchtbar gewesen sein. Denn schon im
7. Jahrhundert verbot ein etwas nervöser Kaiser unter greulichen
Strafen diese barbarischen Gepflogenheiten mit der Begründung,
er habe das grauenhafte Jammern der riesigen Menschenhecke
seines verstorbenen Bruders nicht ertragen können und es sei daher
unmöglich, daß derartige Bräuche gut seien. Zu diesem ethischen
Motiv, das der Kaiser als Abkömmling der Sonne (er heißt ja
noch jetzt offiziell Ten-no, „der des Himmels“, und durchaus nicht
Mikado, was „hoher Weg“ bedeutet, ähnlich wie die „Hohe Pforte“
in der Türkei oder das altägyptische Pharao „doppelt großer
Palast“) — das der Kaiser mit Berechtigung zum Gesetz erheben
konnte, da er ja selbst als Produkt seiner gottgewordenen Vor-
fahren Gott ist, kam in Wirklichkeit natürlich ein politisches staats-
moralisches Motiv, nämlich die Verhinderung von Menschenver-
lusten bei jedem sensationellen Todesfall, die zweifellos die Ver-
luste damaliger Schlachten weit überstiegen. Aber was kann ein
Kaiser, und sei er zehnmal ein Gott, gegen die Harthirnigkeit
seiner Untertanen, gegen altüberkommene Wahnvorstellungen, in
Hinsicht auf welche das ganze Leben eingerichtet ist? Völker mit
weniger kümıneriich organisiertem Gehirn hätten, wenn nicht von
selbst, so doch unter dem Zwange eines solchen drakonischen
Gesetzes mit der absolutem Totenherrschaft aufgeräumt, wie
10 Alexander Ular:
Griechen, Römer, Germanen, Semiten und Ägypter es getan haben,
um ihre Weltanschauung und ihre Moral auf weniger bornierte
Vorstellungen zu gründen und dadurch einige Kultur zu ge-
winnen. Die Japaner waren dazu unfähig.
Zwar hörten natürlich die erzwungenen Menschenopfer auf,
da die Mörder grausam zur Rechenschaft gezogen wurden. Aber
die Sitte wurde dadurch nicht etwa ausgerottet, sondern sozusagen
verinnerlicht, wie es ja mit allen Überzeugungen geht, die ver-
boten werden. Die Menschenopfer wurden ganz einfach freiwillig.
Der Selbstmord zum Zweck der „Gefolgschaft in den Tod“ kam
auf. Und diese offenbare Umgehung des Staatsgesetzes brachte
den Schuldigen natürlich nicht etwa Schande, sondern Ansehen
und Ruhm: sie bewiesen, daß in ihnen der „wahre Glaube“ noch
stark war. Es wurde also eine „Ehre“, verstorbenen Herren in den
Tod zu folgen. Die speziellen Begriffe von Ehre aber machen
recht eigentlich den Unterschied der sozialen Kasten aus (wenig-
stens von den höheren Klassen aus betrachtet, und zwar meistens
derart, daß die höchsten Kasten oder die sich als solche betrachten,
die lächerlichsten Ehrbegriffe besitzen). So wurde die „Ehre“ der
Gefolgschaft in den Tod fast zum unterscheidenden Merkmal der
höheren Gesellschaftskreise. Es kam damals in Japan der mili-
tärische Feudaladel auf, der um so leichter die Gefolgschaft in den
Tod zu seinem Kastendogma erheben konnte, als sein Handwerk
ohnehin grausamen Mut, Todesverachtung, Gefühllosigkeit gegen-
über physischem Schmerz und jene falsche „Ritterlichkeit“ verlangte,
die die Standesetikette über das Leben wertet.
Daß derartige gesetzwidrige Ehrbegriffe in Japan vom ganzen
Volke als berechtigt und lobenswert angenommen werden konnte,
rührt daher, daß damals schon längst, wie noch jetzt, alles und jedes
im Leben bis ins Kleinlichste absolut fest geregelt war, und zwar
nicht auf sozialer Basis, sondern durch den Totenglauben. Ein
Zimmermannssohn hätte ja den Zimmermannskult aufgegeben,
also seine Toten beleidigt, wäre also unglücklich geworden, hätte
alle Moral über den Haufen geworfen, wenn er nicht Zimmermann
geworden wäre; er wäre Verbrecher geworden, hätte er kostbarere
Gewänder getragen als die verflossenen Zimmerleute, oder hätte
er üppiger geschmaust.
Der Totenglaube hatte Kasten geschaffen, und in jeder Kaste
wieder zahllose unübertretbare Gesetze, die in sich selbst ihre
Macht trugen, da sie religiös waren und der Glaube, der ihnen
zu Grunde lag, gerade durch die Wechselwirkung zwischen den
gegebenen Lebensverhältnissen und den religiösen Gesetzen, anstatt
Der Totenkult und die Kultur. 11
sich abzuschwächen, geradezu zum Instinkt wurde. Mit einem
Worte: es gab überhaupt keine individuellen Japaner mehr; jeder
hatte nur die Gedanken, Gewohnheiten und Tätigkeiten der Gruppe,
in die er zufällig hineingeboren war.
Die herrschenden Kasten hätten toll sein müssen, wenn sie,
die schon längst durch die buddhistischen Lehren und das Ein-
dringen chinesischer Kultur aufgeklärt waren oder aufgeklärt
hätten sein müssen, diesen für sie so außerordentlich bequemen
sozialen Habitus des Volkes hätten ändern wollen. Sie sank-
tionierten daher diese ganze seelische und soziale Erstarrung des
Volkes noch durch besondere drakonische Gesetze, die kaum nötig
gewesen wären, aber jedenfalls alle Velleitäten individuellen Tuns
unmöglich machten.
Das Volk seinerseits gab sich natürlich mit seinem nunmehr ganz
und gar zu bloßem Rituell gewordenen Leben (selbst das Ein-
schlagen eines Nagels ist ja ein religiöser Akt, der auf besondere
fest bestimmte Weise vollzogen werden muß) durchaus zufrieden.
Denn seine Toten waren ja im Gespensterreiche den Toten der
Herrschenden unterworfen, wie sie es im Leben gewesen waren;
sie hatten also die Satzungen der höheren Toten, die drüben über
ihre Toten herrschten, gehorsam zu beobachten, und auch diese
höheren Toten je nach Rang zu verehren, am höchsten, am abso-
lutesten also die Toten des Herrschers und ihre unmittelbare Er-
scheinung auf Erden, den Kaiser, der somit selbst zum Gott wurde.
Alles, was der Kaiser tat oder geschehen ließ, war also gut. Und
der Kaiser ließ — sicherlich aus denselben politischen Gründen,
die noch jetzt in Preußen die gesetzwidrigen Ehrbegriffe einer der
Dynastie besonders nützlichen Kaste aufrechterhalten — die gesetz-
widrige „Gefolgschaft in den Tod“ bei seinem militärischen Feudal-
adel, seinem wesentlichen Herrscherwerkzeuge, zu, weil diese
Sitte, ganz abgesehen von ihren primitiven psychischen Grund-
lagen, zweifellos die ihm so nützlichen Begriffe der absoluten
Treue, des Mutes, der Todesverachtung stärkte.
Es gehörte somit zum Wesen des Adels, war sozusagen sein
typisches Vorrecht und Merkmal, im Widerstreit zum Staatsgesetz
den toten Vorgesetzten freiwillige Menschenopfer zu bringen, dem
ältesten Volksaberglauben stets neue Kraft zu verleichen, die
Realität des Gespensterreiches immer aufs neue durch Selbstmorde
nachzuweisen, dem Volke gegenüber also die Wahrheit jenes
primitiven Aberglaubens von oben herunter darzutun, der es zum
absoluten Sklaven der toten Vergangenheit und der lebendigen
höheren Kaste machten.
12 Alexander Ular:
Die Sage, die ja bei uns zu meun Zehnteln und bei den
Japanern überhaupt das ausmacht, was wir Geschichte nennen,
nämlich das Interpretieren des Geschehenen je nach den Vor-
stellungen der Lebenden, pflegt derartige lange und verwickelte
soziale oder politische Entwicklungen organisch auf ein einziges
Ursprungsereignis zurückzuführen. So erzählt denn auch die ja-
panische Geschichte, daß im Jahre 1333 der letzte Hojo-Regent
durch Selbstmord endete und ihm die Mehrzahl seiner Vasallen
sofort durch Harakiri in den Tod folgte (da er doch im Jenseits
derselben Gefolgschaft bedurfte). Hierhin verlegen also die Japaner
den Ursprung ihres vielgerühmten Bushi-do, des „Weges der
Ritterlichkeit“, jenes Ehrbegriffes, der zeitweise in Europa blöd-
sinnig bewundert wurde und sicherlich das Unmoralischste, Un-
vernünftigste, Unnützeste, Kulturwidrigste, Albernste darstellt,
was je Menschen als Verhaltungsmaßregel empfohlen wurde. Es
ist ja nur das absolute Hintansetzen des Individuums ohne Rück-
sicht auf seinen individuellen Wert, und diese Hintansetzung nicht
in Beziehung auf einen Zweck oder ein Ziel, das sich irgendwie
rechtfertigen ließe, sondern in bezug auf den rohesten, primitiv-
sten Aberglauben, von dem die Ethnologie uns berichtet.
Der Selbstmord zur Gefolgschaft in den Tod, die praktisch
und von der im 7. Jahrhundert bereits proklamierten Staatsmoral
aus als ein wahres Verbrechen gegen die Gemeinschaft, als eine
unsinnige Verschwendung menschlicher Kraft und Persönlichkeit
auf Kosten der Gemeinschaft gebrandmarkt war, grassierte als
moral- und menschentötende Adelsepidemie jahrhundertelang in
widerwärtigster Weise, aber unter dem begeisterten Beifall des
ganzen Volkes, das geradezu in der Beobachtung der unsinnigen
Sitte nicht nur das Kennzeichen höheren gesellschaftlichen Ranges,
sondern die Erfüllung höchster religiöser Pflicht sah, zu der es
sich selbst großenteils gern unfähig bekannte, nicht ohne diese
Unfähigkeit dem Gesetze des Kaisers zuzuschreiben.
Der Unfug wurde aber so schlimm, das sinnlose Wegsterben
der nützlichsten Staatsdiener so fatal, daß schließlich im Anfang
des siebzehnten Jahrhunderts der große Shogun ljejassu, der ein-
zige einigermaßen vernünftige, übrigens buddhistisch und vor
allem von chinesischer Kultur angekränkelte Gesetzgeber Japans,
mit drakonischer Wut in dieses Giftnest patriotischer Unmoral und
kindischen Aberglaubens fuhr. Er verbot die Gefolgschaft in den
Tod durch ein Gesetz, nach dem alle Angehörigen des Schwach-
sinnigen, der dieses Verbrechen begang, aufs strengste zur Ver-
antwortung gezogen, mit Einziehung ihrer Güter, ja mit dem Tode
bestraft wurden.
Der Totenkult und die Kultur. 13
Natürlich zeigte sich dies Gesetz noch un wirksamer als die
Bestimmungen des Nippon-dji des 7. Jahrhunderts. Denn damals
hieß es ja nur einem wüsten Aberglauben entgegentreten, jetzt
aber, nicht nur demselben immer fester gewordenen Aberglauben,
sondern auch noch der Tradition, dem Ehrbegriff der mächtigsten
Kaste den Garaus machen. Die Menschenopfer an die Toten, wie
sie der Adel beging, wurden vielleicht etwas seltener infolge der
furchtbaren Strafbeispiele, die an den Überlebenden manchmal
statuiert wurden. Aber sie blieben zahllos. Ja, mehr noch: da
jederzeit das Volk schließlich sucht, es den herrschenden Kasten
nachzutun, und dabei regelmäßig zunächst die Perversitäten, das
Schlechteste, das Dümmste nachahmt, das die Herrschenden zu
charakterisieren scheint (man nehme nur die Hüte unserer Arbeiter-
innen), so empfand man es im Volke als außerordentlich nobel,
wenn jemand, der gar nichts mit der Adelskaste zu tun hatte, sich
ihrem mörderischen Unfug ergab. Es kam hierzu natürlich noch
die Idee, daß ja im Grunde der Adel jene „Moralvorschrift“ be-
folgte, die der Glaube an die Toten an und für sich verlangt, daß
man also eigentlich zu einem Grade der „Frömmigkeit“ zurück-
kehrte, der zwar gesetzlich verboten, aber trotzdem der höchste
war, den man sich vorstellen konnte.
Der gute General Nogi — und das ist hier der wesentliche
Punkt — hat also Selbstmord verübt in Übertretung zweier der
schärfsten sozialpolitischen Gesetze, die in Japan gegeben wurden,
und er hat diese Gesetze übertreten, weil in ihm, dem ganz mo-
dernen Heerführer, dem Mann, der Mathematik, Physik, Chemie,
ja sogar Geschichte kannte, der allerprimitivste, atavistisch über-
kommene Aberglaube, der Dämonenglaube der tiefststehenden
Naturvölker mächtiger war, als alle Logik, als aller Patriotismus,
als alles auch nur simpelste Verständnis für das Wesen mensch-
licher Kultur. Und wenn dieser Mann, trotz der Entwicklung
seiner intellektuellen Fähigkeiten, trotz zahlloser auf seinen
rudimentären Geist gepfropften tatsächlichen Kenntnisse, trotz der
scheinbar totalem Anpassung an vernunftgemäßes Denken ohne
weiteres in den Urzustand zurückfiel, wie muß es dann wohl um
die ungeheure grauenhaft unwissende und jedenfalls nichts über-
legende Masse seines Volkes stehen, das in seinem Tode jubelud
das Wiederaufleben der ihm zu Instinkt gewordenen Wahuvor-
stellungen begrüßt, die man schon fast unter dem verachteten und
verhaßten Eindringen moderner Resultate erstickt glaubte? Das
muß nämlich jeder Europäer endlich einmal trotz aller Lackarbeiten
und trotz aller minutiösen Malereien der Japanver (die in Wirk-
lichkeit nur die notgedrungene Spielerei eines Volkes sind, dem
14 Alexander Ular:
alles Denken und Tun verboten war) ein für alle mal lernen, daß
Japan nur von uns erzielte Resultate entlehnt hat, aber bisher
absolut unfähig geblieben ist, sich das anzueignen, aus dem diese
Resultate hervorgehen.
Japaner verstehen wir überhaupt nicht, oder doch nur in-
sofern wir konstatieren können, daß sie als Individuen noch nicht
existieren, sondern nur als kollektiver Ausdruck einer ungeheuren
verwickelten Masse von Toten, die als lebend gedacht werden.
Wir schreiten vom Lebenden zum Lebenden, und das ist vielleicht
unser ganzer Ruhm, unsere ganze Überlegenheit, unsere ganze
Kultur. Wir nehmen die Toten nur als in ihrer Zeit lebend.
Wir nehmen sie ale Vorstufen. Wir gehen über Goethe wie über
Aristoteles hinaus; sogar Bismarck, der keinen pommerschen Gre-
nadiersknochen im Orient opfern wollte, ist in bezug auf Welt-
politik schon eine abgetane Sache; und wir nehmen von den Toten
ganz genau nur das, unterwerfen uns ihnen ganz genau nur ın
dem, was unter den zu unserer Zeit herrschenden Verhältnissen
nützlich, gemüts- und tätigkeitserregend zu wirken vermag. Die
Japaner aber nehmen die Toten noch immer als zu jeder Zeit
lebend, und zwar nicht durch ihre Taten, sondern in ihrer im
Leben konstatierten Persönlichkeit existierend. Und deshalb gehen
die Japaner zu den Toten zurück, während wir über sie hinaus-
gehen. Deshalb können die Japaner tatsächliche Sachen nachahmen,
aber nichts aus sich selbst schaffen. Deshalb sind sie kein Kultur-
volk, ist kein Japaner innerlich frei genug, um selbst etwas zu
schaffen oder auch nur schaffen zu dürfen, was über die unge-
heure Macht seiner Milliarden Toten hinausgeht, was etwas
selbständig gefundenes Neues ist.
Der Riesenkampf gegen die Toten, den wir sieghaft geführt
haben und weiter führen, der Kampf gegen die Mächte der Ver-
gangenheit, deren illusorischen Charakter wir immer schärfer,
immer zwingender nachweisen, der Kampf gegen die eigentliche
Kinderkrankheit des Menschengeschlechts, gegen den Wahn der
Anthropomorphisierung, gegen das primitive Bedürfnis alles Ge-
schehen auf Menschenähnliches zurückzuführen, auf Menschseelen,
die in den Dingen sitzen, und über die Dinge herrschen, dieser
Jahrtausende hindurch mit unendlichen Opfern, aber auch wunder-
vollen Triumphen geführte Kampf: die Japaner haben ihn noch
nicht einmal begonnen. Sie können wohl Funkenspruchstationen
ebensogut einrichten wie wir, weil wir es ihnen zeigen, aber sie
haben keinen Begriff und können keinen Begriff haben von der
ungeheuren Gedankenreihe, von den fabelhaften Geistesschlachten,
von der fast unendlichen Reihe von mühsam erkämpften, ver-
1 TE -
*
Der Totenkult und die Kultur. 15
teidigten und fortgeführten Prämissen, die schließlich jenes Wunder
möglich machten. Und darin liegt der ganze Unterschied von
Kultur und Unkultur. $
Der Europäer denkt; der Japaner ahmt die Resultate des
Denkens nach. Der Europäer handelt; der Japaner ist Werkzeug
der Toten, die handeln. Der Europäer lebt; der Japaner hat den
Schein des Lebens, aber in Wirklichkeit leben durch ihn nur seine
Toten. Ein Moltke, seiner Kraft bewußt, lebt der Gemeinschaft,
der unsterblichen Kollektivität, so lange er kann; ein Nogi stirbt,
seiner Kraft bewußt, weil die Gemeinschaft der Toten wichtiger
ist als die Lebenden. Der Japaner hat nur eine Vergangenheit,
die ihn erdrückt; der Europäer hat eine Zukunft, die ihn erhebt.
Der Japaner ist nichts als ein beliebiger Ausschnitt aus einer
Kollektivität; der Europäer aber ist ein Mensch.
Nogi hätte besser getan, dies nicht so dramatisch zu beweisen,
und das japanische Volk hätte über diese Demonstration seiner Er-
starrung im Urmenschentum nicht mit Jubel und Bewunderung,
sondern mit Entrüstung und Trauer als über eine Beleidigung
quittieren sollen. Denn solange die Toten eines Volkes wichtiger
sind als die Lebenden, lebt dieses Volk nicht, sondern vegetiert.
Und solange der Mensch sich nicht auf sich selbst, sondern als
willenloser Sklave unter seine Toten stellt, zwingt er sich auf
niedrigste Stufen seiner möglichen Entwicklung zurück; er entrãt
dessen, was eigentlich den Menschen erst zum Menschen und
den Menschen zum Kulturmenschen und den Kulturmenschen zur
reichen Persönlichkeit macht; der grenzenlosen Freiheit des Wollens,
die nur die Schranken ihres eigenen Vermögens kennt.
16 |
Dr. Conrad Simonsen: Die dänische Seele.
Deutsch von Richard Guttmann.
ie seelischen Eigenschaften eines Volks bestimmen im
wesentlichen drei Faktoren. Am zeitigsten und wohl am
tiefsten wirken die landschaftlichen Umgebungen ein,
hiernach die Stellung, die die Menschen in der Gesellschaft ein- 4
nehmen, die Arbeit, mittelst derer sie sich ernähren. In letzter
Reihe steht der einzelne unter dem Einfluß der Genies seines +
Landes, ihrer Erfindungen, Kunstwerke oder Persönlichkeit.
Die Natur des kleinen dänischen Inselreichs trägt ein ruhiges,
idyllisches, im ganzen gleichförmiges Antlitz. Wohl spiegeln sich
in ihm alle Farbem der Jahreszeiten, alle Temperaturnuancen, aber
keine gewaltsamen Ausbrüche der Erde haben hier große Unter-
schiede der Landschaft, Disharmonien geschaffen. Wo die sanft
geschwungenen Linien des Landes enden, lächelt der Fjord, setzt
das eigensinnig rollende Meer ein. Die Kontraste sind nie allzu-
groß, groß dagegen ist der Reichtum der Abtönungen. Ebenso-
wenig zu Extremen neigend, doch im kleinen von einander ab-
weichend sind die Seelen, die in dieser Landschaft heimisch
sind, sei es auf westjütischer Heide, im Wald, auf dem Ackerland,
auf den vielen windumbrausten Inseln oder in den Häusern
der Großstadt.
Auf dem Weg von der Natur zur Kultur, vom Einfachen zum
Zusammengesetzten reißt sich der Menschensinn nicht von der
Landschaft los, in der schon die Altvordern wurzelten. Wenn
die Entwicklung das Individuum zum Wortausdruck heranreifen
läßt, vermag es doch höchstens nur das eigne Wesen zu enthüllen.
Ob auch die Geschichte des dänischen Stamms von der des |
gesamten Nordens nicht zu trennen ist, und die Stämme der ja
geographisch weiter verbreiteten Nordgermanen das Enge des |
geistigen Horizonts, das Fehlen freier Vorstellungen gemeinsam
haben, so tragen die Bewohner Dänemarks doch ein besonderes
geistiges Gepräge. Unser Land, das weder Einöden noch Berge
besitzt, dafür aber fruchtbarer als Schweden und Norwegen ist
und einer beständig wechselnden Witterung unterliegt, hat ein
materialistisches, ruhig dahinlebendes, idyllisch-lyrisches Volk aus
uns gemacht, das hauptsächlich auf ein wenig dem Wechsel unter-
worfenes Wohlleben abzielt, unter Bevorzugung des traulichen
Elements, das sehr reflektierend, ein wenig träumerisch ist, aber
einen feinen Schönheitssinn in vielen kleinen Dingen offenbart.
Gleichzeitig sind wir jedoch sorglos und kurzsichtig.
— —— — — — — —
— —— — T =
Die dänische Seele. 17
Der Durchschnittsdäne hat viele gute, stets bürgerliche Eigen-
schaften, der Westjüte ist starrsinnig und schwerfällig, im Gegen-
satz zum Bewohner Kopenhagens, der spielerisch und schlagfertig
ist. Fast stets ist der Däne ehrlich, solid, vernünftelnd, behilflich
und rechtschaffen. Diese gesunden Eigenschaften bewahrt er, so-
lange er sich innerhalb des engen Horizonts der Heimat bewegt,
solange er nicht an der höheren Kultur teilnimmt. Und darunter
versteht eine Agrar- und Handwerkerbevölkerung zumeist Falsch-
heit, Raffiniertheit und Degeneration. Im allgemeinen wirkt die Kultur
ja auch zerstörend, wenn nämlich der Versuch gemacht wird, sie
einer Mehrzahl einzuimpfen, was zu Verkehrtheiten und Äußer-
lichkeiten führt. Die genannten guten Eigenschaften des Volks
würden in diesem Fall ja auch verschwinden, denn ein Volk wird,
wie Göthe Egmont sagen läßt, in seinem Denken stets kindlich
bleiben, und Intelligenz wird nie populär werden können.
Wenn mit dem neuen Jahrhundert in Dänemark die Demo-
kratie sowohl politisch wie geistig ans Staatsruder gelangt ist, so
ist einer der wichtigsten äußeren Gründe hierfür im Wirken
Georg Brandes’ zu suchen. Die inneren Gründe sind aus dem
Volkscharakter erklärlich. Denn teils ist unsere allgemeine Volks-
aufklärung größer als in anderen Ländern, teils haben uns Denker
gefehlt. Schließlich haben wir uns nie tiefere Kulturwerte an-
eignen können. Denn wie haben wir auf sie reagiert? Hier ist an
erster Stelle ans Christentum zu denken.
Sicherlich ist es bei allen Völkern, wo es Eingang fand, dem
Charakter des Landes — je nach Notwendigkeit — angepaßt
worden. Doch in keinem Kulturstaat ist es mehr in der Theologie
und in Äußerlichkeiten erstarrt, verflacht, bequem gemacht worden
und unkenntlich geworden wie in Dänemark. Jesu extremes Gebot,
das Zeitliche zugunsten ewigen Lebens zu verleugnen, liegt der
an die Scholle gebundenen Fühl- und Denkweise des Dänen: gänz-
lich fern. Nachdem wir im Protestantismus zum glücklichen Kom-
promiß mit dem Königshaus und unserem alten gesunden: heid-
nischen Naturell gelangt waren, hatten wir für den Versuch Sören
Kierkegaards, das Christentum zur Lebenssache zu erheben,
kein Verständnis.
So wenig Empfänglichkeit wir für eine Religion bewiesen, die
an unserer materiellen Sicherheit rütteln wollte, so ablehnend ver-
hielten wir uns einer Lehre gegenüber, die sich zum Christentum
im Gegensatz befindet. Nietzsches harte Theorie vom Über-
menschen ging an uns eindrucksios vorüber, wiewohl Dänemark
das erste Land war, in dem diese Anschauungen verkündet wurden.
Während Deutschlands Geistesleben unter der Einwirkung von
18 Dr. Conrad Simonsen:
Nietzsches Postulaten fast gelähmt worden zu sein scheint und sich
auch Schwedens, Frankreichs und Englands Literaten von seiner Größe
haben hypnotisieren lassen, spielt er in Dänemarks Kultur keine
Rolle. Nur Johannes V. Jensen scheint ihn gelesen zu haben,
auf unsere übrigen zeitgenössischen Schriftsteller scheint er einfluß-
los geblieben zu sein. Erst im letzten Jahre erschien „Zarathustra“
ins Dänische übersetzt im Kommissionsverlag. Sicherlich sind
Nietzsches Werke nur von wenigen studiert worden.
Haben wir ein Verhältnis zur Mystik? Nein. Ebensowenig
wie Dänemark je ein religiöses Genie geboren wurde, das nicht
auch dogmatischer Natur war, hat es unter dem Einfluß eines der-
artigen Geistes gestanden. Wir haben in dieser Hinsicht nichts
mit Deutschland gemein, noch weniger mit Schweden, dessen Be-
wohner stark zur Mystik neigen.
Es dient nicht zu unserer Ehre, daß wir unsere Seele nie in
starke Schwingungen zu setzen vermögen, weil wir als schlichte,
nüchterne Bürger vor allem Großen und Ungewöhnlichen panische
Angst empfinden, die Furcht, uns lächerlich zu machen, des bürger-
lichen Ansehens verlustig zu gehen. Wird doch auch in Dänemark
Armut oft Armseligkeit gleichgesetzt, und intellektuelle Arbeit, die
nicht zu Amt und Würden führt, für unpassend angesehen.
Der Däne, insbesondere der Kopenhagener, will für kritisch
gehalten werden, weil er sich nicht begeistern läßt. Aber unserer
Vernunft fehlt die Tiefe, unsere Kritik erstreckt sich auf Kleinig-
keiten. Wir lachen über alles, was aufzufassen wir nicht imstande
sind, und werden von der komischen Angst verfolgt, Ausländern
mißfallen zu können. Auch darin verraten wir, daß unsere ver-
suche einer kühlen, ironischen Lebensauffassung nicht in wirklicher
Überlegenheit wurzeln, sondern in Bescheidenheit und dem Idyll,
das uns die Natur in die Wiege gelegt hat. Ja, wir sind Europas
provinziellste Nation. Überall erkennt man den Dänen am gut-
mütigen, bürgerlichen Auftreten, selbst ob er bartlos und zurück-
haltend wie ein englischer Weltmann erscheint. Und da er als
| Angehöriger eines kleinen, ungefährlichen Staats in der Regel
| wohlwollend aufgenommen wird, ein liebenswürdiges Wesen zur
®
| Schau trägt und die Größe anderer willig anerkennt, wenn sie
ausländischen Ursprungs ist, sichert er sich meist eine freundliche
4 Erinnerung. Aber in der Heimat, unter den Seinigen, verhält er
sich anders. Jede Ecke soll hier gerundet, jede Tiefe verdeckt
werden. Und wir lassen uns daher gern von einer Mehrheit re-
gieren — oder in geistiger Beziehung von einer Rasse wie den
Juden, die die Härte, den Witz, die Initiative besitzt, die uns
| l fehlt. — |
1 |
1
i
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|
Die dänische Seele. 19
An Schilderungen des Volkes ist in der dänischen Literatur
doch kein Mangel, ob auch die Behandlung stets nachsichtig
ist und nur wenige Typen umfaßt. Wenn auch die dänische Kultur
derjenigen Norwegens ähnlich — von gestern ist und das gesell-
schaftliche Leben Stil vermissen läßt, so haben wir — im
Gegensatz zu Deutschland — größere Fähigkeiten für dem wirk-
lichen Lebensgenuß, weniger die, zu grübeln, zu moralisieren.
Unser Charakter enthält also ein bedeutendes ästhetisches Element,
und im Verhältnis zur geringen Volksmenge ist Dänemark —
gleich Island, Norwegen und Schweden — reich an Künstlern, die
teilweise Weltruf besitzen würden, wenn ihre Begabung nicht
wesentlich lyrischer Art, und die Nation, die sie schildern, nicht
so klein wäre.
Bereits zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts schuf der
Vater unserer nationalen Dichtung, der Norweger Ludwig
Holberg ein treffliches Bild des damaligen engen und einfältigen
Kopenhagen und in „Jeppe auf dem Berg“ das des tyramnisierten
und verachteten Bauern, dessen Geistesbildung heute noch viel zu
wünschen läßt, trotz des materiellen Aufschwungs und der großen
Macht, zu der er gelangt ist.
Während der Periode der Romantik gab Friedrich Paludan-
Möller in der epischen Dichtung „Adam Homo“ eine Schil-
derung des charakterschwachen, liebenswürdigen Bourgeois seines
Landes. Dieses Werk bleibt jedoch an der Oberfläche haften, ist
wenig konzentriert und läßt die Knappheit vermissen. Der Typ
ist zwar germanisch, aber nicht ausgeprägt dänisch. Erst
J. P. Jacobsen ift den gebildeten Dänen seiner Zeit im Roman
„Niels Lyhne“ (1881), Leben gewinnen. Niels ist eine poetische,
stille, träumerische, schwermütige, weil in der Provinz heimische
Natur, die Georg Brandes’ Vorträge in der Hauptstadt zum Frei-
denker wandeln und mehr und mehr zum Pessimisten machen, der
der Wirklichkeit ehrlich ins Auge blicken zu können glaubt. Niels’
Wesen eignet auch der Held des 15 Jahre später erschienenen
Henrik Pontoppidauschen Romans „Hans im Glück“, der
unter den Einflüssen des modernen Lebens steht. Auch „Hans“ ist
ein. Gottsuchender, ein biegsamer Mensch und Träumer, dessen
Pessimismus sich aber zum Zynismus, zur Härte, zum Galgen-
humor entwickelt hat. Er ist jener Typ, den die Brüder Georg
und Edvard Brandes vom Kopenhagener entworfen haben,
den der ebenfalls jüdische Journalist Gustav Eßmann in seinen
Novellen — doch ohne Überlegenheit — geschildert hat. Ober-
flächlich betrachtet, erscheint der gebildete Däne der 90er Jahre als
Europäer voller Skepsis, Nervosität, Blasiertheit und Frivolität,
GETA EE
20 Dr. Conrad Simonsen:
den im Grunde jedoch die Schlichtheit, das Phlegma und die Senti-
mentalität nie im Stich lassen. Im Roman „Danskere“ („Dänen“)
hat Johannes V. Jensen die Jugend seiner Zeit gezeichnet, wie
sie, ohne jede Ideale, noch nicht an sich selbst zu glauben vermag.
„Wer in einer christlichen Erziehung aufgewachsen ist, dem sitzt
— unbewußt — gar vieles fest. Ich glaube, daß diese Leute sowohl
aufbauen wie einreißen müssen. Daher bleibt ihnen im Leben fast
keine Zeit mehr zu anderen Dingen. Vieles Denken tut weh. Da-
her wurden sie Pessimisten.“
Aber auch aus einem anderen Grunde wurden sie in den
80er und 90er Jahren Pessimisten. Ein Mann zwang uns in seine
Macht. In dieser Periode wurden wir unserer Religion, unseres
Nationalitätsbewußtseins beraubt, aller unserer dänischen Eigen
tümlichkeiten wegen verhöhnt. Der Mann, dem wir uns beugten,
war Georg Brandes. Brandes behauptet, er sei Däne, weil seine
Wiege in Kopenhagen gestanden habe. Brandes besitzt jedoch
keine einzige der dänischen Eigenheiten. Unsere Genies waren alle
kindlich, mild, phlegmatisch, bescheiden, bisweilen auch schwer-
mütig, reflektionskrank oder gar kindisch. Nichts hiervon finden
wir bei Brandes wieder. Ist er naiv, liebte er je die Bauernerde
seiner Heimat? Fühlte er sich in Dänemark je heimisch?
Eine ganz oberflächliche Kenntnis seiner Werke genügt, um
zu erkennen, daß Brandes weder ein dänischer, noch nordischer
Geist ist. Hätte er jedoch die Zugehörigkeit zur semitischen Rasse
offen eingeräumt, die sowohl seine Stärke wie Begrenzung be-
dingen, so würde seine Stellung klarer, sein Einfluß nicht so ver-
wirrend gewesen sein. Sind wir doch alle Schuldner von Persön-
lichkeiten, die nicht Landsleute von uns sind. Aber Brandes hat
es stets als Kränkung empfunden, für einen Juden gehalten werden
zu müssen, und die Zugehörigkeit zu seiner Rasse geleugnet. Er
hat sich als Atheist bezeichnet und nicht verstehen wollen, daß,
Rassen — und nicht das Christentum — ein Volk charakterisieren,
daß niemand sich von seiner Nationalität losreißt, ob er auch
Bürger eines anderen Landes wird und religiös ungläubig ist.
Dennoch hat Brandes gemeint, uns unserer Naivität wegen
schelten zu müssen, deren er ja bedurfte, um sich zur Macht auf-
zuschwingen. Dafür hat er jüdische Geister zweiten und dritten
Ranges, wie Disraeli, Lassalle, Börne, Wassermann und Bernstein
in die Wolken gehoben, ihnen literarisch eine Stellung zugewiesen,
die ihnen nicht zukommt. Schließlich hat er Dänemarks Gut-
mütigkeit auf die Probe stellen zu müssen geglaubt dadurch, daß,
er rief, man hindere sein Vorwärtskommen, weil er Jude sei. Ein
eingebildetes Martyrium diente ihm als Reklame.
Die dänische Seele. 21
Welche Gefühle sind bei Brandes durch das dänische Volk
verletzt? Die einzige Enttäuschung, die er hier erlebte, war, daß
ihm keine Professur zuteil wurde. Schade, daß dem nicht so war.
Wir hätten nicht zu befürchten brauchen, daß er gleich Nietzsche
eine derartige Stellung als ein Hindernis zur Entwicklung eigner Ge-
danken empfinden würde. Denn Brandes hat nichts Positives ge-
schaffen, nichts Selbständiges. Das Wirken vieler Universitäts-
professoren ist ebenso reich gewesen, ohne daß sie versucht hätten,
ihre Werke an denen anderer „Berühmtheiten“ des Kontinents zu
messen.
Einige seiner Gegner waren unkultiviert genug, in seiner Rasse
und seinem Unglauben eine Gefahr zu erblicken. Aber sie ermü-
deten rasch, verstummten bald. In dem verzagten Land begegnete
ihm keine ernste Kritik, und so wuchs eine Generation heran, die
ihn vorübergehend vergötterte. Jetzt sind auch diejenigen, die
seine Schuldner zu sein glauben, alt geworden. Und Brandes’
Wirken schließt um das Jahr 1910. Damals lenkte er die Aufmerk-
samkeit auf Nietzsche hin, glaubte er doch, daß es seine Pflicht
sei, das Volk entchristlichen, als Prophet der Gottlosigkeit auf-
treten zu müssen. Er suchte zu beweisen, daß Dänemarks Kultur
rückständig sei, und agitierte für Begriffe wie „Gedankenfreiheit“,
„den Sieg der Wahrheit“, „Fäulnis der Ehe“, Ideen, die er vom
Ausland, von Voltaire übernommen hatte, die nur bei Philosophen
auf Zustimmung zu rechnen haben, die den Rassen- und Nationa-
litätsgedanken, eine Evolution leugnen. Die Propagierung der
Voltaireschen Ideen jedoch, die vor 200 Jahren eine Kulturtat dar-
stellen mochten, kann heute Barbarei sein. — Nur bei einem so
kleinstädtischen Publikum wie dem dänischen konnten die Brandes-
schen Anschauungen Eingang finden. Die Brandesschen Schriften
sind aus diesem Grunde unzeitgemäß und verfehlt; denn wer nicht
die Bedeutung der Rasse, Religion und Nation anerkennt, dem
fehlt der Blick für Kulturwerte. Daher blieb auch Brandes unter
uns ein Fremder. Er entdeckte unseren hervorragenden Dichter
J. P. Jacobsen nicht, als dieser sich jung und unbekannt mit seinen
Gedichten an ihn wandte, die ihn später berühmt machen sollten.
Er tat sein mögliches, um unseren nächstbedeutenden, modernen
Dichter, den unglücklichen Herman Bang, durch Schweigen zu
unterdrücken; dem jüngsten, stark nationalen Talent eines
Johannes V. Jensen gegenüber verhält er sich durchaus verachtend
und feindlich.
Brandes geringes psychologisches Verständnis ist z. T. dem
Umstand zuzuschreiben, daß er nicht darwinistisch zu denken ver-
mag. Er glaubte, daß der Ungleichheiten nicht so viele seien, wie
22 Dr. Conrad Simonsen:
sie in Wirklichkeit sind, daß Aufklärung und Atheismus überall
zu helfen vermöchten. Daraus erklären sich seine Rufe von „der
Dummheit der Menschen“, die im der veralteten Voltaireschen
Lebensauffassung ihren Grund haben. So erklärt sich sein Mangel
an Verständnis für eigenartig fühlende Dichter wie Kleist, Platen,
Wilde und Walt Whitman oder Herman Bang, deren er entweder
keine Erwähnung tut oder deren Werke er falsch aufgefaßt hat.
Hierin liegt auch der Grund des Verkennens der dänischen Nation,
ihres Phlegmas, Idylis, Starrsinns. Wenn er verstanden hätte, daß,
eine Literatur stets an den Boden der Heimat gebunden ist, 80
würde er nicht mit seiner leichtfüßigen Begeisterung Mißtrauen
zur religiösen Uberzeugung ins Gemüt des Bauern gelegt und
Tausenden geschadet haben.
Vorzüglich hat Jacob Knudsen, der die Sinnesart des ge-
meinen Mannes besser als andere zu kennen scheint, im Roman
„Lehrer Urup“, dargetan, welchen Schaden der Freidenker durch
eine Überschätzung des Schlagworts „Gedankenfreiheit“ verursacht,
um die politische Mehrheit zu gewinnen. So kommt es, daß
Georg Brandes ein ganz anderes Resultat seines Wirkens erlebt,
als er geträumt hat. Gewiß — er ist zwischen die nordische und aus-
ländische Literatur als Mittler getreten. Aber durch seinen Haß
zur Religion und Illusion, der ein mangelndes Verständnis für die
Kunst offenbart, in der sich Glaube immer richtiger als Unglaube
erwiesen hat, durch einen anmaßenden Spott, der auf einen Mangel
an Genialität hindeuten dürfte, durch Agitieren für Anschauungen,
die seine Eitelkeit befriedigten, hat er eine pessimistische
Stimmung geschaffen. Er hat in unsere Sprache einen Journalisten-
jargon eingeführt, mehr als das; der gebildete Däne ist so frei-
sinnig geworden, wie es ihm seine Intelligenz erlaubt, er ist ent-
christlicht, unsicher in seinem Lebensgefühl geworden, hat jede
elementare Freude am Dasein verloren und sucht gierig gemeine
Genüsse zu befriedigen. Der Materialismus, die niedrige Dernkart
und Verkommenheit so vieler leitender, smarter Männer unserer
Gesellschaft ist in zwei vorzüglichen Zeitromanen beleuchtet
worden, in Wilhelm Thamigs „Der große Appetit“ (1906) und
Paul Levins „Die dänische Familie“. Die nervöse Literatur da-
gegen, deren Pflegstätte Kopenhagen ist, ist rein subjektiv ge-
worden. Die z. T. alten Beamtenfamilien entstammenden Schrift-
steller sind resigniert und traurig gestimmt worden und ver-
künden die Wollust der bitteren Erkenntnis des Schmerzes und der
kurzen Dauer aller Freuden.
Es würde um Dänemarks augenblickliche Kultur und die Zu-
kunft des Volks trübe aussehen, wenn die Resignation, die Kopen-
Die dänische Seele. 23
hagen beherrscht, auch andere Teile des Landes ergriffen hätte. —
Beim national gesinnten und religiös ernsteren Landbewohner jedoch,
wo Brandes keinen Einfluß gewann, haben sich die spezifisch
dänischen Eigenschaften wie nie früher entfaltet. Hier ist der
materielle Aufschwung so groß gewesen, daß unsere Meiereien,
unsere Landwirtschaft als in erster Reihe stehend und vorbildlich
gerühmt werden. Und dieser wirtschaftliche Hochstand der Nation hat
eine kräftige geistige Bewegung im Gefolge gehabt. Vor allem in der
engeren, volkstümlich-nationalen, grundvigianischen Hochschul-
bildung, in der das typisch Dänische so stark hervortritt, als
Hintergrund jener Geistesrichtung gesehen, die durch Georg!
Brandes repräsentiert sind und Stadt und Bourgeoisie erobert
hatte. — Die das Land beherrschende Bewegung, der soviel Affek-
tation, Chauvinismus und Eigenliebe beigemischt ist, hat eine
Generation hochgetragen, die das Glück in der Scholle findet,
ohne sich dabei den Einflüssen des Auslandes entziehen zu wollen.
Eine Reihe der Bauernerde entstammender Dichter hat das Un-
typische des Nationalcharakters aufgezeigt. In Knudsen und
Johannes V. Jensen hat das Naturell der Bauern geniale Schilderer
gefunden. Diese beiden Dichter haben — wie nie zuvor — das
Urtypische der dänischen Seele erfaßt, das Entscheidende unseres
Charakters zu beschreiben gewußt, wie er sich als mysteriöser Starr-
und Eigensinn, Beigemische der in der Seele des Bauern lebendigen
Urinstinkte, äußert. Sogar die Darstellung der Knudsenschen
Romane „Der alte Pfarrer“, „Gemüt“, „Fortschritt“ trägt den
schweratmenden, unbewußt dämonisch handelnden Charakter der
Personen, deren Geist man mit dem des Verfassers identi-
fizieren zu können glaubt. Mit nicht so breiten Pinselstrichen,
nicht so heimatlichen Worten gezeichnet, dafür artistisch überlegen
gesehen, stehen Johannes V. Jensens Bauerngestalten der
„Himmerlandsgeschichten“ vor uns.
Unabhängig von diesen künstlerisch-revolutionären Dichtern
hat eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten den Stand und die
Landschaft behandelt, der sie entsprossen sind. Gustav Wied
hat in Roman- und Dramenform vornehmlich die tierische Erotik.
des Bauern und Gutsbesitzers, das Plumpe unseres Volks in der
Liebe sich spiegeln lassen, während Harald Kiddes’ schwer-
mütige Phantasie sich in das treue, ernsthafte Naturell des Ost-
jüten vertiefte, der dem raschen Wechsel der Gefühle und An-
schauungen des Kopenhageners nicht zu folgen vermag. Jeppe
Aakjaer ist unser volkstümlichster Lyriker, dessen Fähigkeiten im
Finden des Ausdrucks für einfache Gefühle ebensogroß sind, wie
er als Denker im Hervortretenlassen sozialdemokratischer Ideen
24 Dr. Conrad Simonsen: Die dänische Seele.
wenig sympathisch wirkt. Schließlich finden wir in Marie
Bregendahls Roman „Heinrich auf dem Hügel“ die in einer
Erdgeruch tragenden Sprache erzählte und mit ganz seltener Ob-
jektivität wiedergegebene Schilderung von Bauerntrotz und Hart-
näckigkeit. a
Es ist also möglich, daß die uns nachgerühmte hohe materielle
Kultur die Basis einer geistigen Kultur bilden kann. Die Ge-
schichte zeigt ja, daß der wirtschaftliche Wohlstand, das politische
Selbstgefühl einer Nation Bedingungen einer reichen geistigen
Blüte sind. Der jetzt in Dänemark wiedererwachten nationalen
Kunst, die heute doch bewußter wie früher auftritt, gehört vielleicht
die Zukunft, wenn die demokratischen Regierungsformen sie nicht
einschnüren werden. Denn diese sind dem Genie so ungünstig wie
möglich. Wohl gehen die Genies aus dem Volk hervor, aber sie
sind doch nicht das Volk selbst, und hat dieses die Macht in
Händen, so glaubt es auch über die geistig hervorstechenden Er-
scheinungen zu Gericht sitzen zu müssen, weil es allem, was nicht
popularisiert werden kann, nur geringen Wert beimißt, während
der entgegengesetzte Gedanke der richtige sein dürfte. Die Dänen
sind ein so schlichtes Volk, daß sie bisher gewiß an der Spitze
der Nation marschiert sind, die ihren Genies Hindernisse in den
Weg legten. Ein Tycho Brahe wurde vertrieben, Holberg verkannt,
Kierkegaard mißwerstanden. H. C. Andersen und Thorwaldsen
erlangten im Ausland Berühmtheit, ehe sie das Vaterland aner-
kannte, und J. P. Jacobsen starb, nur von wenigen gekannt, in
Armut. Diese geringe Sehergabe deutet nicht auf eine Dämonie
der dänischen Volksseele hin, sondern eher auf Ne und
schlichte Denkart. | ag s |
Innen und außen.
Ein denkender Mensch ist fast immer ein unangenehmer Mensch. Darum
berührt auch jeden Mann von Geschmack das moderne Bemühen so unsympathisch,
welches die Frauen zum Selbstdenken erziehen will.
* *
®
Ein gewisser Gelehrtentypus kommt allen Dingen einzig darum so schnell
auf den Grund, weil er sie alle nur flach sieht.
* *
*
Ich halte nichts vom Rechte der „neuen Frau“, sich den ihr Gefallenden
in freier Liebe selbst zu küren. Es ist unsozial. Es schaltet die hauptsächlich
geistig produktiven Männer aus. .
%
Die Seele eines Menschen ist nichts anderes als eine letzte, teuerste, allen
anderen unzugängliche Einsamkeit. Darum offerieren uns ihre Seele auch nur
Leute, die keine haben.
Lothar Brieger-Wasservogel.
25
H. Steinitzer: Die Schlacht von Comajagua.
uf welche Weise Sebastian Dürrmoser in jenes ferne, heiße
Land der neuen Welt verschlagen worden war, wo jeder
Landedelmann General genannt wird und man den Titel
Oberst schon beinahe als Beleidigung empfindet, wird kaum
jemals mit Genauigkeit festzustellen sein. Tatsache jedoch und
durch einwandfreie Zeugen zu beweisen ist, daß er im Sommer
des Jahres 1906, abgerissen und zerlumpt, jedoch mit einem ziem-
lich dicken Bündel auf dem Rücken, auf der Hazienda des Generals
Don Jeronimo Velladores erschien und den dringenden Wunsch
aussprach, dort bleiben zu dürfen. Don Jeronimo verachtete alle
Ausländer aus Gewohnheit und Uberzeugung, und er würde
zweifellos auch Sebastian Dürrmoser ohne Bedenken wieder fort-
geschickt haben, wenn er nicht gerade eines Lehrers für seinen
jugendlichen Sohn Innocente bedurft hätte. Und da er der Ansicht
war, alle Deutschen wären entweder Soldaten oder Gelehrte, und
Dirrmosso, wie er ihn nannte, seines verwahrlosten Zustandes
wegen für einen der letzteren hielt, beauftragte er ihn kurzer
Hand mit dem Unterricht seines Sohnes in der deutschen und
französischen Sprache, ohne sich weiter zu erkundigen, ob er
dazu auch imstande wäre. Sebastian war ein schüchterner Ge-
selle und viel zu froh, endlich einen Unterschlupf gefunden zu
haben, um Bedenken zu äußern. Ein paar französische Brocken
hatte er auf seinen Wanderungen aufgeschnappt, ein Roman von
Eugene Sue, den ein Durchreisender auf der Hazienda vergessen
hatte, fand sich vor — und so begann der Unterricht, der nach
dem Ausspruche Don Jeronimos seinen Sohn einmal in den
Stand setzen sollte, die Dichter Schaksperano und Dante in der
Ursprache zu lesen.
Sebastian gab sich seinen neuen Pflichten mit Eifer und Ge-
wissenhaftigkeit hin, und weiß Gott, welche Höhen der Bildung
Lehrer und Schüler erklommen haben würden, wenn nicht nach
einiger Zeit noch Donna Transita an der Stunde teilgenommen
hätte, ein junges Mädchen, das zum Haushalte oder auch zur
Familie gehörte, ohne daß man Genaueres darüber zu wissen
schien. Die beiden verliebten sich bald ineinander, was Innocente
mit großer Freude bemerkte, da er nun nichts mehr zu lernen
brauchte. Denn Sebastian war als echtem Deutschen die Liebe
aufs Gemüt geschlagen und hatte ihn für grammatikalische Fehler
unempfindlich gemacht. Wenn er bedachte, daß er jeden Augen-
blick wieder fortgeschickt werden konnte, wollte er fast ver-
26 H. Steinitzer:
zweifeln. Donna Transita hatte dann alle Mühe, ihn zu trösten
und ihm Hoffnung einzusprechen.
„Habt Geduld und wartet, Don Sebastiano,“ pflegte sie zu
sagen. „In zwei Jahren wird Don Jeronimo Minister sein, dann
wird alles gut gehen.“
Dürrmoser sperrte Mund und Augen auf.
„Minister!“ rief er. „Das ist doch unmöglich.“
„Gewiß,“ meinte Transita gleichmütig. „In zwei Jahren.
Dann machen wir Revolution und Don Jeronimo wird Minister
oder vielleicht sogar Präsident.“
Sebastian dachte lange nach.
„Warum macht ihr dann nicht gleich Revolution?“ fragte er
endlich.
„Aber Don Sebastiano,“ sagte Transita vorwurfsvoll. „Das
wäre doch nicht anständig. Die andern haben uns auch sechs
Jahre in Ruhe gelassen; und sie sind erst vier Jahre oben. Zwei
Jahre müssen wir schon noch Geduld haben.“
„Schade!“ sagte Dürrmoser und seufzte. „Bei uns weiß man
nie, wann eine Revolution angeht. — Aber dafür gibt es auch
keine,“ setzte er nach einer Weile nicht ohne Stolz hinzu.
Notgedrungen faßte er sich also in Geduld, gab seine deut-
schen Stunden und half bei der Bananenernte mit, um für die er-
träumte Zukunft einige landwirtschaftliche Kenntnisse zu erwerben.
Haufenweise lagen leicht in Bast verpackt die riesigen Frucht-
büschel vor dem kleinen Bahnhofsgebäude aufgespeichert, um zur
Hafenstation befördert zu werden. Aber gerade an diesem Tage
blieb der einzige tägliche Zug aus.
„So machen sie’s immer!“ sagte Donna Transita zu ihrem
Freunde, „weil wir doch Opposition sind.“
Am nächsten Tage fuhr der Zug durch, ohne anzuhalten.
Don Jeronimo war wütend. „Das ist dieser General Delgado,“
rief er, „der mich ruinieren will. Aber, ich lasse es mir nicht ge-
fallen.“ Und er schickte eine lange Depesche in die Hauptstadt.
Tags drauf kam der Zug pünktlich zu der im Fahrplan ver-
zeichneten Zeit an. Um diese Stunde war natürlich niemand auf
dem Bahnhofe und der Zug fuhr wieder ab, ohne die Bananen mit-
zunehmen.
Am darauffolgenden Tage fuhr der Zug wieder durch und
der General erhielt eine Depesche aus der Hauptstadt des Inhalts:
daß gestern auf seine Reklamation hin einige leere Wagen dem
Zuge beigegeben worden wären, die er nicht bemützt habe und
für die er Frachtgeld zu zahlen hätte.
Die Schlacht von Comajagua. 27
Der General wurde täglich wütender und die Bananen wurden
täglich gelber.
Am nächsten Tage hatte Dürrmoser einen genialen Einfall,
mit dem er die bleibende Gunst des Generals zu erringen hoffte.
Er verfertigte aus einem rotseidenen Unterrocke eine Fahne, um
den Zug zum Halten zu bringen. Aber der Lokomotivführer
durchschaute den Trick, ließ Dampf aus der Maschine strömen,
daß Dürrmoser eilig fliehen mußte, und fuhr weiter.
Einen Tag später hielt endlich der Zug, und die Bananen
konnten verladen werden. Aber mitten auf der Strecke nach
der Hafenstation gab es Maschinendefekt, und der Zug mußte
48 Stunden liegen bleiben.
Nach fünf Tagen kamen die Bananen wieder zurück. Sie
waren schon zu reif und die Annahme von der Schiffsgesellschaft war
verweigert worden; dagegen mußte Hin- und Rückfracht auf der
Eisenbahn gezahlt werden.
Don Jeronimo schwur einen fürchterlichen Eid. Er rief alle
seine Leute zusammen und hielt eine zündende Ansprache. „Sie
wollen une vorzeitig zur Revolution zwingen,“ schloß er. „Sie
sollen sie haben!“
„Und ihr, Don Dirrmosso,“ fuhr er zu Sebastian gewendet
forli „Ihr seid ein Deutscher, ein Held, der die Franzosen ver-
nichtet hat, wollt ihr uns beistehen gegen diesen Schuft, den Ge-
meral Delgado?“
Dürrmoser wurde bleich und wieder rot und versprach mit
fester Stimme seine Hilfe.
Dann ging er in seine Kammer und breitete den Inhalt des
Bündels:auf’dem Bette aus. Der war eine deutsche Infanterieuniform.
Lange betrachtete sie Dürrmoser. Und Tränen traten ihm
in die Augen, als er daran dachte, daß er einmal in einem Augen-
blicke von Kleinmut und Freiheitssehnsucht die Fahne verlassen
hatte und geflohen war. Jetzt schwor er sich zu, die Uniform
wieder zu Ehren zu bringen und den Flecken in seinem Leben
durch unerhörte Taten auszulöschen.
Transita brachte ihm eine Flinte, die sie auf dem Dachboden
gefunden hatte, und die er mit unsäglicher Mühe wieder so weit
in stand setzte, daß man damit schießen konnte. Die Freundin
half ian, so gut sie konnte. Als sie aber die einfache deutsche
Uniform sah; war sie sehr enttäuscht. „So habt ihr die Franzosen
besiegt?“ fragte sie ungläubig.
Und Sebastian vergaß in der Begeisterung des Moments, daß
er erst ein Dezenniom nach dem Kriegsjahre geboren worden war,
tmd: sagte stolz und feierlich: „Ja! so haben wir sie besiegt!“
28 H. Steinitzer:
Die Revolution war nun in vollem Gange. Von allen Seiten
kamen Freiwillige zu Pferd und Fuß herbeigezogen. Auch die
Regierung rüstete, und man wußte, daß General Delgado an der
Spitze der Regierungstruppen im Anmarsch begriffen sei.
„Wir wollen ihnen entgegenziehen und sie vernichten,“ rief
Don Jeronimo.
Als Sebastian Abschied von Donna Transita nahm, wunderte
er sich im stillen über ihre Heiterkeit und Ruhe. Sie schien Re-
volution und Kampf und Krieg als etwas ganz Ungelährliches zu
betrachten, etwa wie einen Vergnügungsausflug. „In acht Tagen
seid ihr in der Hauptstadt,“ sagte sie. „Und dann, wenn Don
Jeronimo Minister ist, sehen wir uns dort wieder.“
„Leb’ wohl!“ sagte Dürrmoser, „du sollst von mir hören!“
Und stolzer Träume voll zog er mit den andern in den Krieg.
Am nächsten Tage erreichten sie eine weite Ebene, das Feld
von Comajagua, Quer hindurch zog sich ein halb ausgetrocknetes
Flußbett, und am jenseitigen Ufer stand die feind’iche Armee.
Hier begann allsogleich die Schlacht.
Aus einer Entfernung, die jedes Treffen unmöglich machte,
schossen die beiden Heere mit Ausdauer aufeinander. Aber
diese Art der Kriegführung genügte dem Heldendurst Dürrmosers
nicht. Er sah auf einem felsigen Vorsprunge einen goldstrotzenden
Reiter halten. Dies war, wie er auf Befragen erfahren hatte, Ge-
neral Delgado, der Schuft, der Tyrann, der Anführer der Feinde.
Wenn er fiel, dann war der Sieg so gut wie gewonnen, und un-
sterblicher Ruhm mußte an dem Namen dessen haften, der ihn
getötet.
Erst lief Sebastian, wie er es zu Hause gelernt hatte, einige
hundert Schritte vor, dann warf er sich hinter einem Felsblocke
zur Erde nieder und wiederholte dies Manöver so oft, bis er nahe
genug an den Feind herangekommen war. Niemand beachtete ihn.
Alle waren damit beschäftigt, zu schießen, zu laden und wieder zu
schießen. Wer aus Mangel an Pulver zuerst aufhören mußte, war
der Unterlegene. So wurde es seit alters her gehalten, und das
Schlachtfeld von Comajagua sollte keine Neuerung in dieser un-
blutigen Kriegsführung sehen.
Da geschah etwas Unfaßliches, Unerhörtes.
Man sah plötzlich den General Delgado einige unerklärliche
Bewegungen mit den Händen machen, als ob er sich in der Luft
irgendwo festhalten wolle. Dann glitt er langsam vom Pferde
herunter und fiel gerade auf den Bauch. Erst bewegte er sich
noch etwas, dann rührte er sich nicht mehr und lag nun wie ein
riesiger Goldkäfer auf dem Felsen vorsprunge. Nahe bei dem
Die Schlacht von Comajagua. 29
Flußbette aber, auf dem freien Platze zwischen den beiden
Heeren, stand jemand, schwang eine Flinte und schrie immer
wieder: „Hurra, hurra“
Einen Augenblick war alles wie erstarrt, und Freund und
Feind hielt mit dem Schießen ein. Dann richteten sich wie auf
Kommando sämtliche Flintenläufe auf den Hurraschreier, und der
Donner einer gemeinschaitlichen Salve rollte über die Ebene.
Zwar waren die meisten Gewehre nur mit Pulver geladen,
trugen auch nicht bis zu dem Platze, wo Dürrmoser stand, aber
einige Kugeln verirrten sich doch bis zu ihm.
So wurde er, ohne recht zu wissen, was mit ihm geschah,
mitten aus seinem Triumph und aus diesem Leben abgerufen.
Don Jeronimo gab Befehl, die Schlacht sofort abzubrechen.
Er ritt persönlich zum Feinde hinüber, um seinem Bedauern über
das Vorkommnis Ausdruck zu geben. „Nur ein Fremder,“ sagte
er, „konnte die Gesetze unserer glorreichen Kriegsführung so
gröblich verletzen.“ Dann erklärte er unter dem Beifalle der beiden
Heere, daß er unter diesen Umständen die Revolution verschiebe,
bis ein neuer feindlicher Feldherr gewählt worden sei.
Das war das Ende der Schlacht von Comajagua, von der
einige amerikanische Blätter behaupteten, sie wäre die blutigste in
der Geschichte des Landes gewesen und es sei endlich Zeit, solchen
unhaltbaren Zuständen gewaltsam ein Ende zu machen.
Die Leiche Sebastian Dürrmosers aber wurde auf ein Pferd
gebunden und nach der Hazienda Don Jeronimos zurückgebracht,
um ein christliches Begräbnis zu erhalten.
Als Donna Transita die Geschichte seiner Tat und seines
Endes erfuhr, da weinte sie wohl, aber sie betrachtete ihrem toten
Geliebten in seiner schlichten Uniform mit aus Grauen und Angst
gemischten Gefühlen.
„Tiger sind diese Deutschen,“ sagte sie zu Innocente. „Tiger.
Auf diese Weise mag es allerdings keine Kunst gewesen sein, die
Franzosen zu besiegen.“
30
A. E. Brinkwald: Die Mode in der Frauenschönheit.
Das schönste Mädchen (tugendhaften Wandels) sollte einen
Preis bekommen, Künstler, Schriftsteller, Journalisten und
Damen der Aristokratie bildeten die Jury. Den Preis bekam ein
Mädchen aus Trastevere, mit wundervollen Zügen, strahlend von
Heiterkeit im Antlitz. Es war ein armes Mädchen und die
Juroren kamen überein, ihr außer dem Preise auch noch eine
große Geldsumme zu stiften, als Mitgift, damit sie heiraten könne.
Das ist sehr merkwürdig. Das schönste Mädchen in Rom
muß eine Mitgift haben, um sich verheiraten zu können! So
niedrig steht heute die Schönheit im Kurse, nicht nur innerhalb
der Gesellschaft, sondern in den Kreisen von Trastevere, wo das
arme römische, vom Großstadtleben nocht nicht berührte einfache
Volk wohnt.
Natürlich sind Schönheitskonkurrenzen an sich ein Unding.
Auch wenn man davon absieht, daß die Forderung des tugend-
haften Wandels die Sache sehr unglücklich beeinflußt — weil
die Schönheit leichter vom Tugendwege abbiegt als die Häß-
lichkeit und weil außerdem die Untugend bisweilen die Ent-
wicklung der Schönheit fördert — es kann bei der Abstimmung
einer Jury doch immer nur das gute Niveau und die akademisch
festgelegte Vollkommenheit den Preis bekommen: Die Juroren
einigen sich auf die Hälfte. Aber es ist nicht zu leugnen, daß heute
selbst die wirklich große Schönheit nicht so geschätzt wird wie
früher. Als Madame Recamier nach London kam, da spannte ihr
der Mob an dem Hafen die Pferde aus und zog sie im Triumph
durch die Stadt. Das wäre heute unmöglich. Eine so be-
rühmte Schönheit wie die russische Tänzerin Ida Rubinstein muß
sich scharfe Kritik gefallen lassen, jene Dame, die bei einer
Vorstellung der „Kleopatra“ in Berlin enttäuscht äußerte: „Sie kann
ja gar nicht tanzen, sie ist ja nur schön“ — hatte weitgehendste Zu-
stimmung auf ihrer Seite. „Nur“ schön, das ist nicht viel, denn die
Schönheit ist nun einmal nicht Mode. Wenn heute ein Geschöpf von
jener wunderbaren Vollendung aufträte, wie sie Feuerbachs Nana
hatte, so hätte es einen schweren Stand, um sich im Leben siegreich
zu behaupten, und brauchte jedenfalls ein beträchtliches Kapital
für Toiletten und „Aufmachung“, um sich entsprechend in Szene zu
setzen. Schönheit ohne kostbaren Rahmen fällt kaum auf, oder
wenn die Schönheit derart ist, daß sie unbedingte Beachtung er-
zwingt, so ist den meisten nicht ganz geheuer dabei: sie macht
weder glücklich noch unglücklich. Für letzteres Bedürfnis hat man
F vorigen Jahre fand in Rom eine Schönheitskonkurrenz statt:
EEE —
Die Mode in der Frauenschönheit. 31
dafür das Dämonische erfunden, wie die großen bekannten Liebes-
tragödien des letzten Jahrzehnts zeigen, deren Heldinnen ins-
gesamt keine Schönheiten waren.
An die Stelle der Schönheit ist im modernen Leben der
Charme und die Eleganz getreten, an Stelle der Bewunderung von
seiten der Männer ihr Wunsch, sich zu amüsieren, oder der Flirt.
Man kann das Anwachsen dieser Bewegung im Laufe des 19. Jahr-
hunderts verfolgen, bei den Romanschriftstellern so gut wie bei
den Modemalern. je näher man der Jahrhundertwende kommt,
um so mehr verschwindet aus den Salonromanen die Beschreibung
einer schönen Frau, und wenn man irgendwo noch eine solche
Beschreibung findet, so überschlägt man sie wie früher die Land-
schaftsschilderungen bei Gustav Freytag. Es interessiert niemand
mehr zu lesen, wie die Heldin eigentlich ausgesehen habe. Das
weiß man ja ohnehin: wenn ihre Bekanntschaft wirklich lohnt,
dann war sie eben die Modeschönheit, und wie die aussieht, weiß
jeder. Man braucht nur in die Annoncenteile der illustrierten Zeit-
schriften einen Blick zu werfen, so sieht man das schlanke Wesen
mit der sorgsam gepflegten „Linie“, möglichst zierlich, möglichst
kapriziös, auf künstliche Weise kindlich, klein — und schlank,
schlank, schlank. Das ist die Hauptsache. Große Form, aus-
drucksvolle, edie Linie, klare Flächen und entwickelte Details sind
nicht modern. Wir im Norden sind so daran gewöhnt, daß dies
uns kaum noch als etwas Besonderes auffällt. Erst wenn man in
den Süden kommt, nach Italien und weiter, so merkt man, daß die
alte Schönheit immer noch existiert und daß die Partei der Besiegten
innerlich hier nicht geschwächt ist.
Wie es möglich gewesen ist, daß in den nordischen Ländern
die Mode tatsächlich die Rasse etwas verändert hat, ist schwer zu
sagen. Zunächst wird die gegen früher gänzlich veränderte Er-
nährungsweise hierbei bestimmend mitgewirkt haben. Achtet man
einmal in einem modernen Restaurant darauf, was an den Tischen
um einen herum getrunken wird, so wird man die Beobachtung
machen, daß auf zwei Flaschen Sauerbrunnen durchschnittlich eine
halbe Flasche Wein kommt. Die Damen trinken so gut wie gar
nichts. Fragt man dann aber einmal den Direktor des Etablisse-
ments, ob ihm die Antialkoholbewegung nicht ungeheuren Schaden
zufüge, so verneint er es und meint, das sei gar nicht so schlimm.
Was er an geringerem Weinverbrauch'an Einnahme verliere, werde
fast ausgeglichen durch den geringeren Speisenverbrauch. Die Anti-
alkoholbewegung sei nur im Zusammenhange mit der allgemeinen
größeren Mäßigkeit zu verstehen, seit fünfzehn Jahren komme er
bei allen Diners und Soupers, die serviert würden, mit halben
32 A. E. Brinkwald:
Portionen gegen früher aus. Die Damen seien ungeheuer mäßig,
und da die Damen den Ton der Geselligkeit angäben, seien es die
Herren auch. Wirklich essen täten nur noch alte Junggesellen. — Es
ist nun natürlich nicht so, daß auf einmal aus hygienischen
Gründen eine weitgreifende Mäßigkeitstendenz über die Damen-
welt gekommen wäre und daß infolge dieser knappen Ernährung
die Töchter dieser Mütter kleiner und zierlicher würden, sondern
die Mäßigkeit ist Mittel zum Zweck, nicht anders als der Sport
der Französin, der für seine Anhängerinnen auch zunächst ein
großes Opfer und eine Anstrengung bedeutete.
Also Antialkohol und Antifleischbewegung sind nicht Ursache
der Rasseveränderung, sondern Mittel zum Zweck. Die Ursache
dieser Mode muß tiefer liegen. Ich glaube, es ist die Anglomanie
und der Amerikanismus, die sich in den letzten Jahrzehnten in
Europa in allen Fragen der äußeren Kultur geltend gemacht
haben, ja sogar in erschreckender Weise in der Sprache, der
deutschen so schlimm wie der französischen. Die Engländerinnen
mit ihrer durch wahren gesunden Sport seit Generationen ge-
züchteten Schlankheit und die Amerikanerin oder vielmehr die
Newyorkerin mit ihrer Fragilität und ihrer raffinierten Art sich
auf „Linie“ anzuziehen, haben Paris, die Heimat und den Parole-
ort der europäischen Mode, überschwemmt, und Paris ist dieser
Bewegung erlegen, dem rücksichtslosen Sichdurchsetzen der angel-
sächsischen Rassen hat die französische Skepsis um so weniger
widerstehen können, als innerhalb der modernen Pariser Kultur
mit all ihrer psychologischen Differenziertheit und ihrer Nervosität
eigentlich ohnehin kein Platz mehr war für die alte formale, ein-
fache und, wie man sagte, ein wenig geistlose Frauenschönheit
alten Schlages, die im wesentlichen nur aufs Auge wirkt. Von
Paris aus ist die Parole dann weitergegeben worden an die
anderen Großstädte. Berlin steht, wie man weiß, ganz unter ihrem
Einfluß, neben dem Typus der Berliner Dame bildet das zeitweise
in der Kunststadt München proklamierte Ideal der „modernen
Frau“ nur eine uninteressante lokale Spezialität.
Man darf sich in diesen Beobachtungen nicht irremachen
lassen durch die widersprechende Aussage der großen französi-
schen Maler, die gerade in jener kritischen Übergangszeit in Paris
wirkten und mit Vorliebe das moderne Gesellschaftsleben dar-
stellten. Manet und besonders Renoir standen immer abseits, sie
hatten nie etwas mit der Mode zu tun und blieben ohne jeden
Einfluß auf die Gestaltung des Schönheitsideals. Sie malten, was
sie sahen, was sie noch sahen. Inzwischen ging die Mode weiter,
ohne sich um sie zu kümmern, und der einzig Überlebende aus
Die Mode in der Frauenschönheit. 33
dieser Generation, Renoir, wirkt nicht nur heute in dieser Be-
ziehung vollkommen unmodern. Als Renoir seine gesunden,
blühenden Frauen malte, hatte Whistler mit seinem versteckten
Praeraffaelismus sich längst die Herzen aller Damen, aller kleinen
Mädchen und aller Schneider erobert. Wenn es auch nicht gut
anging, sich die Augen türkisblau zu färben, so konnte man
wenigstens die Haare goldig machen und puritanisch mager
werden, und John Sargent wurde dann maßgebend für die ganze
Generation der Pariser Porträtisten, von Blanche bis Caro Delvaille
und so weiter. Die Farbe wechselt, aber die Linie bleibt. Die
Kleidermode, scheinbar so selbstherrlich, macht mechanisch mit
und so weiter. Die Farbe wechselt, aber die Linie bleibt. Auch die
Frau ist, architektonisch gesprochen, unverkröpft, unmalerisch wie
eine Florentiner Häuserfiront, senkrecht wie Giovanna Tornabuoni
bei Ghirlandajo. Das Korsett mit der geraden Front geht
immer gleich durch drei Etagen, und der weibliche Körper ist ge-
duldig. Da nicht nur die gerade Linie gewünscht wird, sondern
auch der zierliche kleine Wuchs, hilft auch hier die Mode nach,
man trägt verkürzte Röcke und tut überhaupt in der ganzen Tracht
möglichst kindlich, halb amerikanisches college girl, halb gut-
bescheiden angezogene Kammerjungfer. Zeitweise sah es so aus,
als wollte die Mode gänzlich umschlagen und als sollte die Run-
dung wieder zur Geltung kommen, anstatt der Vertikale. Man
drohte mit der Krinoline, um gleich mit dem Extrem zu kommen.
Aber vielleicht wäre das auch nur eine Maskerade gewesen, um
in den Krinolinenkleidern die Frauen noch puppiger wirken zu
lassen. Immerhin ist es möglich, daß der Umschlag bald kommt.
Da auf anderem Gebiete der florentinische Primitivismus abgelöst
wurde durch eine neue Begeisterung für den römischen Barock,
so wäre es immerhin denkbar, daß demnächst auch römische
Schultern und was sonst dazu gehört wieder Mode wird.
Natürlich ist es zwecklos und lächerlich, über irgendein Mode-
ideal der Schönheit zu jammern, da ja jeder doch sein persön-
liches Ideal hat und da die Mode nicht von Schneidern oder Salon-
malern gemacht wird. Es fragt sich aber doch, ob der Typus, der
uns nun seit einem Jahrzehnt und länger als vorbildlich hingestellt
wird, rein körperlich genommen dauerhaft sein kann oder nicht,
ob Whistlers „Belle Américaine“ vorhält. Diese „Belle Américaine“
ist das Erzeugnis dieser einer bestimmten, nicht amerikanischen,
sondern New Yorker Kultur. New York ist ein Schmelztiegel. Alle
die vielen verschiedenen Rassen, die dort jährlich einströmen,
werden amalgamiert und die Menschen sehen schon nach Verlauf
einer Generation ganz newyorkisch aus, mit einem orientalischen
34 A. E. Brinkwald:
Einschlag, als Konkurrenz gegen die englische Blondheit. Das
ist doch ein merkwürdiges Symptom und diese Erscheinung kann
doch nur auf Kosten anderer Dinge möglich sein. Tatsächlich ist
es auch so: vor einigen Jahren hat man einmal in einem New
Yorker Miethause, in einer Gegend, in der der wohlhabende Mittel-
stand wohnt, dieZahl der Familien im Verhältnis zu ihrem Kinder-
reichtum festgestellt. Das Ergebnis war, daß die in diesem Hause
wohnenden 22 Familien im ganzen zusammen drei Kinder be-
saßen. Das ist viel schlimmer als in Frankreich. Und für unsere
Frage, die Frage nach der Schönheit, bedeutet dies doch soviel,
daß die Entwicklung eines schönen Menschenschlages auf die
Dauer ganz ausgeschlossen ist. Eine wirklich schöne Rasse braucht
Tradition des Blutes. Wo die Familien so schnell aussterben, daß
sich keine Blutsaristokratie bilden kann, wird diese sogenannte
Schönheit immer nur eine Treibhauspflanze bleiben. Man nennt
die langstieligen, märchenhaft feinen Rosen, die man in den New
Yorker Blumenläden kauft, „New York Beauties“. Es sind Rosen
ohne Duft.
So arg, wie in jenem zufällig gefundenen New Yorker Beispiel
ist die Kinderlosigkeit der Ehen ja anderswo nicht, auch nicht in
Paris. Aber wenn für Frauen in dem für Eleganzentfaltung be
sonders geeigneten Alter zwischen 20 und 38 Jahren dauernd das
Ideal der mädchenhaften Zartheit immer weiterdominieren soll,
dann ist am Ende doch eine wenn auch nur vorübergehende Un-
fruchtbarkeit auch bei uns die Folge. Ob das den Gewinn lohnt?
Denn noch eine andere Erscheinung gibt in diesem Zusammen-
hange zu denken: die Tatsache, daß bei nordischen Völkern sich
Schönheit moderner oder unmoderner Art fast nie in den unteren
Schichten des Volkes findet, sondern fast ausschließlich in jenen
Kreisen, bei denen das Zusammenwirken von Blutstradition, Er-
ziehung und äußeren Mitteln besonders günstigen Boden bereitet
haben. Die nordischen Rassen können sich also den Luxus des Mode-
schönheitsideals viel weniger leisten als die südlichen Völker, die
Italiener zum Beispiel. Diese aber leisten ihn sich tatsächlich nicht
oder nur ganz selten. Sollte der Grund dafür nicht der sein, daß
der Schönheitsreichtum eben dort eine Ursache der natürlicheren
Empfindungsweise ist? Eine Frau von hinreißender Grazie oder
gar Schönheit inkleinen, armen Städten Deutschlands, Englands
oder Frankreichs zu finden, ist sehr schwer. In Italien dagegen
ist die Schönheit aus dem Volke durchaus keine seltene Erscheinung.
Wenn sich das Modeideal aus den natürlichen Gegebenheiten einer
Rasse entwickelt, — gut, oder um so besser. Wenn nicht, so geht
- ar a —
Die Mode in der Frauenschönheit. 35
es nie ganz ohne bedenkliche Gewaltsamkeiten ab. Aus diesem
natürlichen Grunde wird sich auch diese Mode wieder ändern. —
Es sind nicht immer die schönsten Frauen, denen die größten
Leidenschaften verdankt werden, und für eine Frau ist Schönheit,
die alte formale Schönheit, an der sich die Künstler begeistern,
durchaus nicht immer das wünschbarste Gut. Grazie, Charme,
Esprit, ja bisweilen die bloße Eleganz der äußeren Erscheinung
sind imstande, ihr den Rang abzulaufen — wenn die Schönheit
nicht klug oder reich genug ist, einige dieser anderen Eigen-
schaften rechtzeitig zu erwerben. Im Zweifelsfalle wird heute
immer Grazie und Charme vorgezogen werden. Seit wann, läßt
sich schwer feststellen, da das Beispiel der großen historischen
Amoureusen trügt, denn die wirken durch andere Qualitäten, noch
über den Charme hinaus. Sicher ist es so schon im galanten Jahr-
hundert gewesen. Casanova, von Geburt und Empfindung Italiener,
aber von Kultur Franzose, in Frauenfragen der aufrichtigste Be-
urteiler, schreibt unter dem Jahre 1759 in sein Tagebuch das Er-
lebnis mit einer Frau „plus belle que jolie“, aber dennoch unend-
lich faszinierend. Das ist der ewige Unterschied — die Schönheit
gilt als selbstverständlich weniger anziehend als die „Hübschheit“.
Auch Stendhal, der, umgekehrt, von Geburt Franzose, aber von
Kultur Italiener war, erzählt in seinem Tagebuch, daß man (im
zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts) in Rom anfing, die voll-
endete Schönheit griechischer Frauenköpfe langweilig und geistlos
zu finden. Und er selbst, der doch durch viele Jahre hindurch
die pompöse Schönheit der etwas dicken Signora Pietragrua aus
Mailand anbetete, ist trotzdem in Gedanken sein Lebtag nicht los-
gekommen von der Erinnerung am den Charme der hübschen
Sängerin, seiner Mozartschen Geliebten Angela Bereyter, die ihn
in Paris jeden Abend besuchte. Die heutigen Franzosen haben
das resignierte ironische Wort geprägt: „Pas belle, mais pire que
cela“, um auszudrücken, daß eine Frau, um einen unglücklich zu
machen, nicht schön zu sein braucht; daß es mit der Schönheit
eigentlich noch gar nicht anfängt.
Doch, wie dem auch sei, wer sich dazu entschließen kann,
die Schönheit der Frau nur mit den Augen zu genießen, der wird
immer wieder zu der unvergleichlichen formalen Vollendung be-
wundernd aufblicken, wie sie gelegentlich Orientalinnen, Sizilianer-
innen und Italienerinnen besitzen, und die einen wenn auch nicht
gerade unglücklich, so doch für ein paar Augenblicke glücklich
machen können. Aus diesem Grunde sollten wir diese unmoderne
Art von Schönheit nicht allzusehr unterschätzen — schon um
uns für unser Alter einen ehrenvollen Rückzug zu sichern.
ur Pu — —
2 Bu We -h `
36
Dr. Fritz Wertheimer: Chinafahrt.
IV. Kuschan.
Tre heiß und schwül lastet die Nacht über der kleinen
Insel Nantai, auf der sich das Geschäftsviertel und die
Wohnungen der Fremden in Futschau befinden. Noch
stehen die Sterne in ungebleichter Kraft am Himmel, ganz in der
Ferne beginnt erst ein Hahn zu krähen, die Grillen und Zikaden,
die am Tage ihr ohrbetäubendes Konzert in den Bäumen er-
schallen lassen, schlafen noch. Da brechen wir zum Ausfluge auf,
der uns aus der unerträglichen Hitze des flachen Landes hinauf in
das buddhistische Kloster führen soll, das in einer Bergschlucht
unter schattigen Bäumen kühles Quellwasser und frischen Gebirgs-
wind hat. Hohl schallt unser Tritt zwischen den Mauern der
Häuser. Vor den Türen liegen die Chinesen auf Rohrstühlen, auf
alten Strohmatten, auf Kisten und Brettern in jeder erdenklichen
Lage; sie retten sich ins Freie, weil in der dumpfen Luft ihrer
übervölkerten Räume des Nachts gar kein Schlaf zu finden ist.
Süßlich berauschender Duft liegt über der Straße. Irgendwo
trocknet man hier Jasminblüten, die mit dem Tee gemischt und ge-
trocknet werden, um ihm Aroma und Geruch zu verleihen, den
die Chinesen und auch manche Europäer so sehr lieben. Ein paar
Frösche hüpfen über den Weg, ein paar Ratten huschen durchs
Gestrüpp, flackernd tanzt das Licht unserer Laternen an den
Häusern empor, wie ein gespenstischer Schatten schreitet der
Kuliträger voran. So geht’s die wenigen Schritte hinab zum
Ankerplatz des Hausbootes, das eben die Anker lichtet. Grau-
schwarz scheinen noch von jenseits des schlafenden Flusses die
Berge herüber, aber kaum sind wir abgefahren, da dämmert auch
bereits der Morgen, und mit tropischer Schnelligkeit wandelt sich
die Nacht in Tag. Ein frischer Flußwind schwellt uns die Segel,
und da die Flut jetzt heraufgekommen ist, gehen wir in rascher
Fahrt über den Fluß. Ein japanisches kleines Kriegsschiff liegt da
im Wege — die Japaner hängen ja überall wie die Kletten an
dieser Fukien-Provinz, die sie als Nachbarland ihrer Formosa-
Kolonie gar zu gerne besitzen möchten —, ein paar Mannschaften,
die auf Deck geschlafen haben, sind gerade aufgewacht und recken
und dehnen die Arme, als ob sie den Himmel anflehen wollten:
„Herr Gott, gib uns ein anderes Kommando, als dieses heiße,
langweilige Futschau!“ Surrend und murmelnd rauschen die
Wellen um unser Boot, eine kleine halbe Stunde, und wir landen
drüben am Ufer, um hier den Aufstieg zu beginner und das
Hausboot vor Anker gehen zu lassen.
P Chinafahrt. 37
Drüben sind die fleißigen Chinesen schon aufgestanden. In
den schmutzigen und winkligen Gassen des kleinen Dörfchens eilen
schon Kinder, Hunde und Schweine in lieblichem Durcheinander
umher, Männer und Frauen gehen an die Arbeit. In den Reis-
feldern stehen die Frauen und schneiden den reifen Reis von den
Büscheln, und jetzt sieht man, daß zwischen den reifen Büscheln
schon wieder neue Reisstauden angepflanzt sind, die jetzt, nach-
dem das reife Korn weggenommen ist, Luft und Licht zur weiteren
Entwicklung haben und bald die zweite Ernte bringen werden.
Die Männer stehen auf den Tennen an den Bergabhängen und
schlagen die Reisähren über ein paar Latten, so daß die Körner
abfallen und gesammelt werden können; das Reisstroh wird zum
Trocknen an Schnüren und über Boote aufgehängt. Ein altes
Drachenboot, das man beim Drachenfest kürzlich gebraucht hat,
liegt da in seiner schmalen Schlankheit und dient gleichfalls als
Reisstroh-Trocknungsplatz. Bald haben wir das Dorf durch-
schritten, und schon beginnen die ersten Stufen des Weges, der
uns nun langsam bergan führt. Jetzt ist es schon ganz hell, aber
die Sonne wird uns noch eine Weile mit ihrem Glanz verschonen,
denn wir sind am Fuße eines hohen Berges, und bis sie den er-
klettert hat, hoffen wir auch unter dem schützenden Laubdache der
Klosterbäume zu sitzen. Die Mönche haben da einen prachtvollen
Weg bergan gebaut. Sorgsam sind Platten an’ Platten gelegt, be-
queme Treppenstufen führen hinauf, schattige Zypressen und
Kiefern sind überall angepflanzt. Alles ist mit einer grünen Patina
von altem Moos und Schlinggewächsen überzogen, über glatte
Felsen stürzen kleine Bächlein zu Tal, die Vögel beginnen ihr
Morgenlied und putzen sich die Schnäbelchen am Rande der Berg-
bäche. An vier oder fünf Stellen des Weges sind Rasthäuser gebaut,
unter deren vorspringendem, von Pfeilern getragenem Dache der
Weg durchführt. Eifrige Wärter bringen uns dort den heißen Tee
und die weißliche, duftende Frucht der Leitschis, die hier heimisch
ist. Prächtige, weite Blicke eröffnen sich hinunter auf den Fluß, der
wie ein silbergraues Band immer tiefer unten liegt. Kleinen Spielzeugen
gleich sieht man Dschunken und Sampans auf ihm hinabrauschen.
So geht es zwei Stunden bergan; zwar drückt uns keine Sonne,
nur unten ist die Luft doch dick und feucht und zwingt zu vieler
Rast. Aber schon schimmern zwischen den Bäumen die Dächer
des Klosters, die dumpfen Schläge der Glocken, die zum Gebet
rufen, erklingen, noch eine letzte Anstrengung, und wir sind da.
Durch ein paar sauber gemauerte Torpforten geht es Stufen
hinauf und Stufen hinab in eine tiefe Felsschlucht, die in das Ge-
birge eingeschnitten ist; brausend stürzen kleine Bäche über die
38 Dr. Fritz Wertheimer:
Felsen. Hier sind einige Häuschen errichtet, die sozusagen Vor-
posten des eigentlichen Klosters sind. Da fließt die Quelle, die
von den Mönchen kunstvoll gefaßt ist, durch einen Löwenkopf in
ein Schaufelrad. Sobald eine Kammer gefüllt ist, dreht sich das
Rad und bewegt automatisch einen Klöppel in Gestalt eines Holz-
fisches, der an die eherne Glocke schlägt. Dort haben die guten
Mönche unsere Flaschen, die wir mit einem Tragkuli bergauf ge-
schickt hatten, gekühlt, und zeigen sie uns nun stolz vor, da das
so gut wie Eis sei. Und wirklich sind sie famos gekühlt, und das
Frühstück da oben in luftiger Höhe, vielleicht 800 m hoch, unter
dem Schatten uralter Koniferen und Zypressen mit dem Blick
hinab zum Flusse, der im goldenen Glanze der Morgensonne
schimmert und leuchtet, ein solches Frühstück mundet famos.
Dann führt man uns zu den paar Aussichtshäuschen, tiefer hinunter
in die Schlucht, wo man die Quelle wiederum gefaßt und zu
Springbrunnen benutzt hat, zu kleinen Miniaturhäusern, die direkt
über der Felsschlucht auf ein paar mächtigen Felsblöcken schweben.
Endlich aber kommen wir zum wirklichen Kloster durch einen kleinen
Bambushain. Da ist ein großer grüner Teich zunächst, in dem
die Mönche ihre Karpfen füttern, oder besser füttern lassen. Denn
sie verkaufen den Pilgern für wenige Kupfermünzen Kakes, die man
zur Fütterung ins Wasser wirft, um das Schauspiel zu genießen,
wie die großen, schweren, fetten Fische kämpfen und um sich beißen,
um die Bissen zu erhaschen. Von dort hat man einen hübschen
Ausblick auf das Klosler, das jenseits des Teiches liegt; es beher-
bergt nahezu 300 buddhistische Mönche aus allen Provinzen und
Gegenden Chinas, und so sind die Tempel von entsprechender
Größe. Etwas Besonderes an Ausstattung zeigen sie nicht. Frei-
lich ist das Kloster reich. Die Figur des Fo, des Buddha, im
Haupttempel ist recht groß, und der Altar vor ihm weist reichen
Schmuck auf, auch eine Menge EBSchũsselchen mit seltenen Lecker-
bissen, Schwalbennestersuppe und Haifischflossen unter anderem,
die dem Gotte als Nahrung dargebracht worden sind. Rechts und
links die Seitengötter, deren Schar sich an der Wand noch fortsetzt,
sie alle sind sauber vergoldet und reich mit Gaben versehen. Aber
all diese Obergötter und Untergötter schauen genau so aus, wie
in anderen Tempeln auch, und wenn man eine Anzahl von ihnen
gesehen hat, so hat man bald genug. Viel interessanter ist ja
auch das weltlichere Leben und Treiben der Mönche. Da ist zum
Beispiel eine Schule, ein ordentliches Zimmer mit einer Schiefer-
tafel, und fremde Zeichen auf ihr deuten an, daß man hier auch
die englische Sprache lehrt und lernt. Draußen vor den heiligen
Hallen aber gibt es fruchtbare Felder, die von Kulis unter der
Chinafahrt. 39
Aufsicht der Mönche bestellt werden und auf denen das Gemüse
gezogen wird. Mit Glockengeläute zog eben dort drüben eine
große Herde auf die Weide, die gleichfalls dem Kloster gehört.
Zwar muß man den Reis von Tragkulis aus der Ebene herauf-
bringen lassen, aber er wird in einer eigenen, riesengroßen Mühle
zerkleinert und zu Mehl verarbeitet. Ein großer Wasserbüffel
dreht das Mühlrad, das in einer Rinne eines Mühlsteines läuft und
so die Körner zu Mehl zerkleinert. Eine Schreinerei schließt sich
an, zu der man das Rohmaterial aus den Waldungen des Klosters
bekommt. Hier werden auch die Bambusrohrleitungen für die
eigene Wasserleitung des Klosters geschnitten. Diese Wasser-
leitung, die in alle einzelnen Klosterabteilungen geht und überall
frisches, klares Quellwasser direkt vom Berge her vermittelt, ist
das Erstaunlichste an dem Kloster. Sie läuft auch in die Küche,
die mit ihrer ganzen Einrichtung eine wahre Sehenswürdigkeit ist.
Was wir heutzutage in großen Betrieben mit kupfernen Kesseln
und Dampfheizungen machen, das haben die Mönche dort weit
einfacher, aber praktisch mit groben Steintrögen geschaffen. Über
diesen Steintrögen schließt ein Deckel aus schwerem, dickem Holze
ziemlich luftdicht. Er kann nur an einem Seile und oft nur von
zwei Männern aufgezogen werden, so daß wenig Dampf entweicht.
Unter dem Steintrog aber wird direkt das Feuer angemacht, so
daß der Kupferkessel von allen Seiten Feuerung erhält. Sinnige
Vorrichtungen erleichtern das Ausheben und Reinigen der Kessel,
Wasser kann ihnen dadurch zugeführt werden, daß man das
Bambusrohr der Wasserleitung einfach verschiebt. An der Wand
hängt eine große Tafel, die den heutigen Küchenzettel angibt, und
fünf oder sechs Köche sind eifrig tätig, schon jetzt in der Morgen-
frühe das Gemüse zu reinigen und den Reis zu waschen, die
Fische zu säubern und die Saucen zurechtzumischen. Dicht neben
der Küche liegt der große Speisesaal, eine einfache, offene, luftige
Halle mit roh gezimmerten Bänken und Tischen. Auf den ein-
zelnen Plätzen sind schon jetzt die Reisschüsselchen aufgestellt, in
die zur Mittagszeit jedem Bruder seine Reisportion zugeteilt wird.
All das sieht so sauber und lecker aus, der weiße Käsekuchen,
den der eine Koch eben aus dem Backofen geholt hat und jetzt
vorüberträgt, blickt so einladend, daß man es wohl verstehen kann,
wenn Europäer, die die chinesische Küche gewöhnt sind und die
sie sogar ausgezeichnet fanden, in diesem Kloster gern weilten.
Denn das Kloster, das vom den Futschau-Fremden alljährlich eine
kleine freiwillige Gabe erhebt, gewissermaßen als Entgelt dessen,
daß es für Fremde einige Zimmer zum Übernachten bereithält, ist
ein gastfreundliches Haus. Die Mönche sind liebenswürdig und
5 — —
> Au — — — a
40 Dr. Fritz Wertheimer: Chinafahrt.
zuvorkommend, sie nehmen ihr Führertrinkgeld mit Würde und
Anstand, ja, sie haben sogar ein Fremdenbuch für diesen Zweck,
in das man sich einträgt, um bei dieser Gelegenheit seinen Obulus
schweigend und dankbar zu entrichten. Es herrscht sogar eine
ganz gute Freundschaft zwischen diesem Buddhakloster und den
fremden Missionaren, die droben auf der Höhe des Kuschanberges
im schattigen Hochwald von Kuliang sich ihre Bungalows er-
richtet haben. Etwa 250 Missionare aus der Fukien-Provinz
suchen dort neben etwa 50 Angehörigen der handeltreibenden
Europäer von Futschau sommerliche Kühle und Erholung.
Die Sonne steigt am Himmel, wir müssen scheiden, wollen
wir sie nicht mit Nachmittagsgluten auf dem Buckel brennen
haben. Tragkörbe, aus gespaltenem Bambus geflochten und an
den zwei Tragstangen schwankend, wie die schwebenden Brücken
Formosas, bringen uns auf starken Kulischultern rasch zu Tal.
Drunten wartet das Hausboot, eine ganz ansehnliche Dschunke,
die man sich des Sonntags mietet, mit zwei großen Segeln, zwei
Schlafkabinen und einem großen Eßraum, in dem wohl acht Per-
sonen sitzen können. Hier haben uns die Kulis das Tiffin be-
reitet, und mit frischem Winde segeln wir hinab zwischen den
grünen Hügeln des Minstromes, den man den chinesischen Rhein
nennt, weil er so malerische Ufer hat. Drunten bei der Pagoda
werfen wir Anker bis zum späten Abend, wo die Flut wieder ein-
läuft und wir zurückfahren können. Blitze und Wetterleuchten
zucken da auf allen Seiten, und es dauert lange, bis sich eine
frische Seebrise erhebt, um uns hinabzutreiben. Spät in der Nacht
landen wir dann wieder vor dem Zollhause. Ein schöner Sonntags-
ausflug in Futschaus hübsche Umgebung liegt hinter uns.
41
Franz Blei:
Für
Scaramuccia auf Naxos. Aana Bahe Mildenbäre:
Eine heitere Oper.
Die Personen:
Dionysos Scaramuccia
Ariadne Grazioso
Silen Colombina
Glaukos
Satyrn, Choribanten und Mänaden.
Die Szene: Eine Waldlichtung auf der Insel. Der gegen das Meer abfallende
Hintergrund läßt durch die Baumwipfel die blaue Wand des Meeres sehen.
Es ist gegen Mittag.
(Scaramuccia, Colombina, Grazioso
kommen von links, sehr erschöpft)
Scaramuccia (rult)
Ariadne! ... Ariadne!
So ruf doch, Grazioso, Schelm!
Grazioso
Ariadne. Ari... Ich kann
Nicht mehr, 's geht über meine Kraft.
Colombina (sinkt ins Gras)
Hier bleib ich. Rühr mich nicht vom Fleck.
Der zweite Tag! Ich hab es satt!
Scaramuccia
Ihr steht in meinem Dienst und Lohn,
Und für die Reise zahlt’ ich zweifach.
Colombina
Das — Reise? Plage ist's und Narrheit!
Frech angelogen hast du uns
Mit deiner Dame! Stand sie denn
Am Ufer? Wartete auf uns,
Wie du uns sagtest? Wo ist der
Kontrakt, den sie schon unterschrieben ?
Grazioso
Ein Schwindel!
Colombina
Spitzbub!
Grazioso
Lump!
Colombina
Betrüger!
A
8
—— 2 772
— —— —
42 Franz Blei:
Scaramuccia
Auf einmal habt ihr wieder Stimme!
Ich bitt euch, schont sie, spart sie auf,
Spart den Tenor und den Soprano,
Ariadne zu rufen, nicht
Mich, euern Brotherrn, zu beschimpfen!
Was habt ihr denn davon, wenn ihr
Mich jetzt im Stich laßt?! Ich schließ die Bude!
Tanzt, singt und spielt, wo ihr dann wollt!
Ich schwör es euch, ich sperre zul
Ariadne ist unsere Rettung.
Grazioso
Wo ist sie denn? Was kann sie denn,
Das Wunderwesen sondergleichen ?
Scaramuccia
Sie ist — der Star. Ich sage nichts
Als das: sie ist der Star! Der Star!
Man spricht von ihr. Sie hat etwas
Erlebt, was braucht sie da zu können?
Sie hat die Hauptsach: den Skandal!
Die Zeitungen sind voll von ihr!
Man will sie sehn! Man soll sie sehn!
Grazioso
Als was denn? Etwas muß sie doch.
Scaramuccia
Wozu denn hab ich meine Dichter?
Die machen ihr ein Stück, in dem
Sie mitten unter Flammen tanzt,
Mit Tigern, Leoparden kämpft,
Vergiftet mit dem Blick der Augen,
Blumen zum Blühen bringt mit nichts
Als ihrer kleinen Hände Fächeln.
Ich zeig sie nackt, halbnackt und angezogen,
Von hinten, vorne, auf den Kopf
Gestellt, als Unschuld und als Laster.
Greise und Kinder soll sie närrisch
Mit nichts als ihrem Lächeln machen,
Und Männer rasend und die Weiber
Vergehn vor Lust. . . Ist das ein Star?
Hat so was irgendein Theater ?
Grazioso
Verdammt! Ich will ihr Diener sein,
Ihr Schleppenträger, was sie will!
Scaramuccia
Ja, alles was du willst, Grazioso!
Ariadne!
Grazioso
Ariadne!
Colombina (zu Grazioso)
Du dummer Geck! Kein Wort ist wahr.
Scaramuccia auf Naxos. 43
Scaramuccia
So wahr es in der Zeitung stand!
Colombina
In die du's selber drucken ließest.
(weinend)
Was fang ich Ärmste dann nur an,
Wenn diese Neue alles kann
Und alle Herren so betört,
Daß keiner Colombina hört.
Sie auslachen, wenn sie steht in Tränen,
Und lacht sie, vor Langweile gähnen.
Grazioso
Laß nur, wir spielen immer doch
Für Liebesleute, du und ich.
Der Mond versilbert immer noch
Die Liebesnacht, für dich und mich.
Das Fenster hast du angelehnt
Und Pantalon ist ausgegangen,
Und was den Tag sich hat gesehnt,
Das treibt nun heißeres Verlangen —
Das spielen wir den Liebespaaren
Auch dann wie eh’ mit gleichem Erfolg,
Mußt um die Neue dich nicht bangen.
Scaramuccia
Natürlich! Per Bacchus! Von Zeit zu Zeit
Liebt’s Publikum immer noch die Kunst,
Wenn sie so bescheiden sich macht wie die eure,
Und wenn sie was ist für die heimliche Brunst.
Drum helft mir weitersuchen und rufen.
Ich geh zugrund und kann euch nicht zahlen
Ohne die große Attraktion!
Ariadne!
Grazioso
Ariadne!
Colombina
Mir fallen die Füße.
Grazioso
Ich trag dich ein Stück.
(Er nimmt sie auf den Rücken.)
Alle drei
Ariadne! Ariadne!
(Es ist ganz still geworden. Die Bäume rauschen nicht mehr,
die Vögel singen nicht mehr, und auch das leise anschlagende
Meer schweigt. Es ist Mittag. Die Musik der Streicher und
Holzbläser hält einen langen Akkord, auf dem das „Ariadne“
wie ein Echo herschwimmt. Die drei rücken ganz nah zuein-
ander.)
Colombina
Was ist?
44 Franz Blei:
Grazioso
Die große Stille tönt
Die Mittagsstille. Pan steht auf
Colombina (rutscht vom Rücken, klammert sich an Grazioso und
Scaramuccia)
Ich fürcht mich so.. . Was ist das nur?
Scaramuccia
Rief ich jetzt, sie müßt es hören,
Aber aller Mut verließ mich ...
Ruf Ariadne, Grazioso!
Grazioso
Viel zu laut ist diese Stille,
Keine Stimme übertönt sie.
Colombina
Ach, ich fürcht mich! Wär ich fort!
(In die Musik der lang festgehaltenen Akkorde fallen die leisen
Akzente eines verschlafenen, komischen Trottes, und aus dem
Walde kommt Silen auf seinem faulschreitenden Grautier.)
Grazioso
Da! Ein Mensch auf einem Esel!
Scaramuccia
Das war alles? Dieser Dickbauch ?
Colombina
Ist sie das? Ist das der Star?
Scaramuccia
Vielleicht der Vater.
(tritt vor Silen)
Seid begrüßt, hochberittner, edler Herr.
(Silen steigt vom Esel, der sich in den Wald verliert. Das Fol-
gende gesprochen. Die Musiker stimmen währenddem ihre In-
strumente.)
Erlaubt, daß ich vorstelle. Ich bin Scaramuccia, von dem ihr bereits
so viel habt reden hören, in eigener Person. Der berühmteste
Theaterdirektor Europas, Herr über das größte und kunstreichste
Personal nicht nur, sondern Befehlshaber über alle Dichter, Musiker,
Maler und andern Theatermaschinisten, tot oder lebendig. Dies hier
ist, wenn ich in einem gehörigen Abstand, den ich drängender Ge-
schäfte halber nur markieren kann, anschließend an mich davon
sprechen darf, dies ist Colombina, die naivste Naive, die je in die
Wochen kam. Sie tanzt auf einem Bein so gut wie auf beiden
Beinen, die wahrhaft die Türpfosten des Himmels genannt zu werden
verdienen. Dies hier ist der witzige und höchst erfolgreiche Grazioso.
Seine Rede ist das Entzücken der Weiber, und sie sinken hin, wenn
er ein Auge verdreht. Tut er's aber mit beiden, so sterben sie.
Dürfen wir einem hohen Herrn mit einer kleinen Probe unserer
Kunst aufwarten? Belieben ein Ballett oder eine Commedia, lustig
oder traurig, mit Prügeln oder mit blutigem Ausgang? Unser Re-
pertoire kann sich sehen lassen.
(Die Musiker sind gegen Schluß wieder in Ordnung gekommen.)
Scaramuccia auf Naxos. 45
Silen (reicht ihm den Weinschlauch)
Alles was ich will, ist, daß ihr trinkt. Da!
Mir ist schon vom Hören trocken meine Kehle.
Was ein Maulwerk! Scaramuccia, sagt ihr, heißt ihr,
Colombina ihr mein Kind, und ihr Grazioso —
Sonderbare Namen, seltsame Gesichter!
Kommt wohl weit woher? Theater, Spieler, Mimen?
Sagt mir nur, was wollt ihr hier? Im Dorf die Bauern,
Ja, die mögen’s lieben, aber hier im Wald
Ist kein Mensch. Wollt ihr vor Vögeln, Füchsen spielen ?
Scaramuccia
Hier lebt Ariadne! Versteckt sich
Im Wald — so ist die letzte Nachricht.
Silen
Letzte? Schlecht berichtet bist du, Scaramuccia.
Scaramuccia
Es ist so. Theseus gab sie auf,
Verließ sie sozusagen schmählich.
Auf Naxos. Ist das Naxos, Herr?
Silen (zu sich selber)
Fand sie einer, der sie suchte durch die Welt,
Wanderer auf allen Wegen, Sturm und Flamme.
Scaramuccia
Ein anderer hat sie engagiert?
Colombina
Da hast’s! Scaramuccia kam zu spät!
Grazioso
Wie immer! Alle Müh umsonst!
Scaramuccia
Ich werd verrückt! Ein andrer hat sie!
Ich bin verloren! Alles hin!
Wie heißt der Mann? Das Unternehmen?
Ich biet ihr mehr! Das Doppelte!
Das Doppelte vom Doppelten!
Ich bitt euch, helft mir, guter Herr!
Wer ist der andere Direktor ?
Grazioso
Vielleicht ist er es selber.
Scaramuccia
Ha!
(er läuft zu Orazioso und Colombina, leise zu ihnen)
Nur Vorsicht jetzt und Schlauheit!
(wieder vor Silen)
Herr!
Ariadne hat sich verpflichtet,
Auf meiner Bühne aufzutreten.
Hier schwarz auf weiß steht's im Kontrakt.
Ein Gastspiel. Der Vertrag ist bindend,
Klagbar vor den Gerichten, Herr!
46 Franz Blei:
Sılen
Schwer versteh ich euern Mimus, Scaramuccia,
Närrisch dünkt mich, was ihr redet. Ist’s der Wein?
Scaramuccia
Sie spielt bei mir! Ich hab’s kontraktlich! A
Colombina (macht es sich unter einem Baum bequem und schläft ein)
Grazioso
Für meinen Magen such ich was,
Das besser als Ariadne.
(Er verschwindet im Wald.)
Silen
Einer ruht bei ihr und hält sie in den Armen.
Braun ist seine Brust, und seine Augen glänzen
Wie die schwarzen Beeren aus dem dunklen Weinlaub.
Kennst du den? Der Gott ist's! Ich Silen, sein Diener.
Dionysos hat sich Ariadne gefunden.
Scaramuccia
Wo find ich den Dionysos?
Er wird schon mit sich reden lassen.
Und wenn’s ihm paßt und nicht zu hoch
Sein Fordern, engagier ich ihn
Mitsamt der Frau Ariadne.
Ein Gott macht sicher weniger
Geschichten als heut ein Komödiant.
Silen
Habt ihr Sorgen mit dem Spiel! Ihr treibt’s so ernsthaft
Wie ein häßlich Handwerk voller Müh und Plagen.
Scaramuccia
Das Spiel? Was kümmert mich das Spiel!
Mein Leben ist's! Mein Unterhalt!
Mein Brot! Mein Schlaf! Mein Haus! Das Spiel. . .!
Mein Geld hab ich im Spiel! Drum Sorg
Und Plag und Müh und Ärger! Spiel..
Die Kunst .. . Daß Gott erbarm! Die Kunst .. .!
Geschäft ist Kunst — und keine leichte!
Silen
Geht zu, kein Wort versteh ich. Besser schon die Kleine
Da im Gras. Ein niedlich Frätzchen, süßer Schnabel.
Bockig wird mir da zumute: das versteh ich,
Eurer eifervollen Reden nicht ein Wort.
(lüpft Colombinas Röcke)
Hat das liebe Mädchen Beine! Süße Sachen!
Scaramuccia |
Helft mir zu der Ariadne,
Ich sprech ein Wort für euch bei der.
(Grazioso kommt mit dem Schullehrer Glaukos aus dem Wald.)
Glaukos
Habt ihr’s kapiert, was Logik ist?
Der Schluß zuletzt, erst die Behauptung.
Und jedes Ding hat seine Ursach.
Scaramuccia auf Naxos. 47
Grazioso
Der Narr lief mir im Walde zu.
Er trägt voll Eiern einen Sack.
(zu Scaramuccia)
Ich glaube, ihr versteht mich recht?
Scaramuccia
Sehr recht, mein lieber Sohn Grazioso.
Glaukos (zu den übrigen)
Ich heiße Glaukos, Philosoph
Durch Wissen, Einsicht und Geburt.
(zu Grazioso)
Wirkung und Ursach, das vergeßt nicht.
Nur der, der logisch denkt, denkt richtig.
Grazioso
So denk ich richtig, daß der Ursach
Die Wirkung folgt. Die Ursach ist
Der Sack, die Wirkung ist sein Inhalt.
(Er nimmt ihm den Sack.)
Glaukos
Du Dummkopf! Falsch!
Grazioso
Und den Beweis,
Den kocht uns Colombina. Auf!
Colombina
Geschlafen hab ich. Hunger hab ich.
Scaramuccia
Mach Eierkuchen, Colombina.
Silen
Wein und Eierkuchen, das soll schmecken, Kleine.
Scaramuccia (zu Glaukos)
Und ihr seid freundlichst eingeladen.
Glaukos
Neugierig bin ich, was die Eier
Beweisen sollen! Welche Logik!
(Grazioso macht zwischen Steinen cin Feuer. Colombina schlägt
die Eier in einen flachen Stein, der als Pfanne dient. Man lagert
sich darum und trinkt mächtig aus dem kreisenden Schlauch
Silens.)
Glaukos (trinkt zwischen jedem Satz)
Das Trinken ziemt dem Weisen nicht.
Verdunkelt ihm das klare Licht.
Ich trinke nur, den Durst zu löschen.
Silen i
Ein Wohlerfahrner geb ich dir die Lehre:
Statt dich auf Studien, auf ernste, schwere
Und tiefe gründlich zu verlegen,
Trink und erwarte froh der Götter Segen.
Flüssige Flammen, flammenhaltende Flut,
Wein im Schlauche, Wein im Bauche ist Blut.
48 Franz Blei:
Glaukos
Wenn einer mäßig trinkt,
So soll es ihm gedeihlich sein.
(Er trinkt.)
EHRE un
-
2
Scaramuccia
Wenn ohne Maß er trinkt, so soll’s
Ihm ohne Maß gedeihlich sein.
.
Silen
42 7 Ganz vortrefflich ist der Kuchen,
$g Kleine mit den runden Hüften.
Colombina
á Alter Herr, Sie werden zärtlich,
Wollen andres noch versuchen.
5. Silen
eir Starker Bock und junges Zickel
Balgen sich am allerbesten.
A Grazioso
* Krieg' ich, Alter, dich am Wickel!
4 Scaramuccia
| Achtung, Achtung unsern Gästen!
;
Glaukos
Alles taumelt, alles dreht sich,
Glaukos, du allein stehst fest,
Weil du denkst. Doch das versteht sich.
Aus trink ich den letzten Rest.
Silen
Was hast du in deinem Mieder?
Colombina
Hände weg, sind meine Sachen!
Glaukos
Alles schaukelt auf und nieder.
Scaramuccia
Müssen zärtlicher es machen,
Nicht so grob hineingefahren.
Grazioso
Packt’ ich dich bei deinen Haaren,
Wärest du nicht rundum kahl!
Silen
Schau, da ist ein Muttermal ...
(Glaukos stürzt hin und schläft ein.
Grazioso reißt Colombina von Silen fort.)
Silen (erhebt sich)
Komm’, Dionysos, komm’, wenn stets du die mystische Rebe
Liebst, und den Efeukranz, der dir die Schläfe bekrönt,
Nimm den Schmerz von mir, ihn heilend, Vater, denn oft schon
Sah man von dir besiegt Amor verlassen den Kampf.
Dieser Gott beseligt das Herz, demütigt den Stolzen
Scaramuccia auf Naxos. 49
Und gibt ihn der Gewalt einer Gebieterin preis.
Falbe Löwinnen bändiget er und armenische Tiger,
Ungebändigten selbst gibt er ein fühlendes Herz,
Dies kann Amor, doch mehr kann Dionysos, mein Herr!
(In die letzte Zeile tönt eine ferne Marschmusik sonderbaren
Charakters, die sich verstärkend näher kommt und rauschend laut
wird, da der Zug des Dionysos die Szene erreicht.)
Scaramuccia
Was für Getön kommt aus dem Wald?
Grazioso
Zimbel und Trommel, helle Hörner
Scaramuccia
Die Erde dröhnt
Colombina
Die Blumen blühen auf...
Grazioso
Ein Sturm fährt her und beugt uns.
Silen
Dionysos Zagreus,
Mein Herr und seine Braut!
Scaramuccia
Ariadne? Zu der Musik?
Die macht der Richard Srauß mir besser.
Silen
Er steht auf dem goldenen Wagen,
Panther und Löwen sind sein Gespann.
Meine Vettern, die Faune,
Schlagen die Becken, lassen
Die Flöten schrillen zum Schrei
Der Mänaden, die rückworienen
Hauptes den Herrn begleiten.
Wie Hunde jagt die Schar
Den Tag in die Nacht.
Durch Sumpf und Bruch,
Durch Heide und Felsgestein
Rast weglos der Zug,
Hinauf, hinab,
In die Lust, in den Tod.
(Die Szene wird auf einmal ganz dunkel. Die drei Komödianten
machen sich ganz klein, drücken sich aneinander, in einer fernen
Ecke. Der trunkene Glaukos schläft kaum sichtbar weiter. Silen
bleibt inmitten der Szene.)
Silen
Jo, Zagreus!
(Fackeln fallen ins Dunkel. Faune und Fauninnen, nackte Mä-
naden stürmen auf die Lichtung, dicht drängt sich die ziehende,
schiebende, jauchzende Schar um den von gelben Tieren gezogenen
Wagen, auf dem Dionysos steht, Ariadne an ihn gelehnt.)
50 Franz Blei:
Dionysos
Meine Braut für Tag und Nacht,
Sprich zu mir, wie du zu dem Geliebten
Sprachst, den du beweintest
Und nicht mehr beweinst.
All deine Trauer nahm ich zu mir,
Trank ich auf
Aus deinen Küssen.
Ariadne
Laß mich dich sehen, dich berühren,
Dein Haar, den Mund...
Laß mich liegen in den Armen,
Fester, näher... Küß mich! Küß mich!
Wie ein Licht kamst du in meine Dunkelheit,
Wie ein Feuer kamst du,
Brenn mich auf, zu Asche brenn mich,
Lodernder,
Sterben muß ich vor solcher Liebe!
Dionysos '
Stirb in mir zu deinem Auferstehen,
Braut meiner Tage,
Braut meiner Nächte.
Ariadne
Wilde Freundinnen, löst mir das Haar,
Schwestern, löst mir den Gürtel
Zu meines Herren Lust und meiner.
Schwestern, reicht mir die Schale mit Blut.
Schlagt mich, Schwestern, helft mir,
Schwestern!
Die Mänaden
Gott der Flamme, Gott des Sturmes
Jo Zagreus! Jacchus!
Scaramuccia (ist inzwischen vorsichtig zu Silen gegangen)
Soll ich’s wagen? Helit ihr mir?
Silen (zu Dionysos gewandt)
Da sind dreie, Herr, mit Reden
Sonderbar... Ich fand sie hier
Im Walde verirrt, verwirrt.
Scaramuccia
Möchte mir erlauben
Anzufragen untertänigst, |
Ich, Scaramuccia, |
Vieler Theater Besitzer, |
Ob Ihre hohe Gemahlin
Ein Gastspiel... in einem Stück,
Ich miet einen Zirkus,
Einem Stück, wie ich sagte,
Mit glänzenden Bedingungen.
Vielleicht, daß mir’s gelingt,
Scaramuccia auf Naxos. 51
Euch selber, Dionysos
Und die andern Herrschaften alle,
Ich miet einen Zirkus,
Den größten...
(Dionysos, der immer nur Ariadne sah, hebt das Haupt auf den
winzigen Scaramuccia.)
Scaramuccia
Gebt Euern Blick weg,
Er verbrennt mich!
Colombina
Feuer fiel mir ins Herz.
Ariadne
Dunkler Gott, Geliebter,
Welchen Peinen gibst du mich hin...
Ich sterbe an dir...
Dionysos
In der Menschen Träumen und Brüten
Bin ich gekauert gleich einem Tier
Und warte die Zeit, da Verlangen
In ihren Wünschen schreit.
Das lenk ich zum Schicksal
Nach meinem Willen,
Zünde das Feuer in ihrem Herzen,
Hetze die Flamme,
Daß blind sie rasen.
Die Mänaden
Herr des Blutes, Zagreus!
Dionysos
Über die Welt zieh ich, dring
In der Menschen heimlich Gelaß
Und hauch sie an,
Daß Lust sie faßt, wie bloß in Träumen
Männer und Frauen
Sie stöhnend kennen.
Über die Taumelnden
Eil’ ich Brennender
Weg im Sturme.
Die Mänaden
Herr des Sturmes, Zagreus!
Dionysos
Nicht wie die hohen Götter,
Die sehend, doch ungesehen
Da oben wohnen,
Fern der Erde und ihrem Leben,
Das sie wie eine oft erzählte
Mär schon kennen —
Nicht wie die stillen Götter
Bin ich, Semeles Sohn.
52
Franz Blei:
Der Erde Verlangen ist meines,
Der Erde Schmerzen
Bin ich verbunden,
Die Erde bin ich, ihr Blut, ihr Atem,
Frühlings Sehnen und Sommers Glühen.
Herbstes Lust und Winters Härte.
Bös wie die Erde bin ich
Der Erde böse Lust.
Die Mänaden
Herr der Erde, Zagreus!
Wir rasen, wir sterben.
Dionysos (zu Scaramuccia hin)
Was ein Geschlecht, das auszieht,
Einen Gott zu fangen!
Längst Verstorbne seid ihr,
Asche, die zerfällt,
Sonst ließet ihr, was euch
In eine Regel zwingt,
Und folgtet mir!
Scaramuccia
Herr, das Leben ist die Not,
Wir armen Armen!
Dionysos
Geh’, Schatten, hin, der sich
Das Leben kühnt.
Nimm du den Narren mit,
Der schlafend liegt im Gras
Und zeig ihn auf.
Vielleicht macht seine Narrheit
Eure Weisheit klüger.
(Pause.)
Ein Satyrspiel zu unsrer Hochzeit,
Ariadne!
Auf das Lärmen!
Fort und weiter!
(Der Zug bewegt sich über die Szene, verschwindet allmählich im
Walde und mit ihm das Dunkel. Es ist wieder mittäglich hell.)
Colombina (reißt sich die Kleider vom Leib, nimmt einer letzten Mänade
den Thyrusstab und stürzt sich mit ihr dem Zuge nach)
Jo Zagreus, Herr der Erde!
Grazioso
Colombina! ... da rast sie hin
Und schon entschwand sie...
Ihr nach!
(Und stürzt davon.)
gya, gO
Scaramuccia auf Naxos. 53
Scaramuccia
Auch das noch! Das noch!
Meine beste Naive — dahin!
Keine spielte die Jugend wie sie!
Grazioso fort — keiner war fröhlich wie er!
Ich alter Possenreißer bleib allein
Mit meinem Schwert aus Holz —
Ah, das Theater! Das Theater!
Silen (hat seinen Esel geholt, stößt mit dem Fuß den Glaukos wach)
Den hat er Euch geschenkt.
Packt auf! Wer weiß,
Taugt er nicht besser Eurer Schau
Als meines Herren Braut.
Glaukos
Schafft mir die Träume ab!
Kein Sinn ist drin
Und kein Verstand.
Scaramuccia
Ich nehm ihn mit.
Vielleicht ist’s ein Genie.
Kommt, werter Herr,
Mit mir. Wir ziehen in
Ein Land, das ganz
Nach Eures Herzens Freude.
Ist ganz Verstand, ganz Logik,
Ganz viereckig gescheut ist’s
Wie eine Schulaufgab im Rechnen.
Glaukos
Ein Wunderland! Ein Paradies!
Wann geht die Reise los?
Scaramuccia
Gleich auf der Stelle. Da unten
Liegt mein Schiff.
Spukhaft und grausig
Ist's hier — nur fort.
(Er zieht nach rückwärts mit Glaukos ab.)
Silen
Habt gute Fahrt ins Wunderland.
(Schwingt sich auf seinen Esel und trabt, die Schilfpfeife blasend,
dem Dionysoszuge nach.)
Ende.
54
Politische Rundschau.
politisches Novum, und wenn spätere Historiker dereinst die beliebten
Zeitgrenzen des Altertums, des Mittelalters und der neuen Zeit zu ver-
schieben oder zu vermehren gedenken, dann werden sie die Scheide einer
neuen Zeit in unsere Tage verlegen müssen.
Denn wir erleben den Beginn der eigentlichen Weltpolitik, nicht der
Ergreifung der Erde durch die politischen Einflüsse, diese war der eigent-
liche Inhalt der kolonialen Ara, sondern das Aufeinandereinwirken aller
Mächte des Erdenrunds, das durch die politischen Bündnisse mit Ostasien,
vor allem Japan und China, und die gegen diese Mächte gerichteten Aktionen
so deutlich dargetan wird.
Wenn Kampf das Erdenschicksal der Menschheit ist, so scheint dieser
heute auf das wirtschaftliche, das soziale Gebiet verlegt; während in der
Staatenpolitik die Positionsstrategie früherer Tage eine fröhliche „Urständ“
zu erleben scheint.
Die Diplomatie sucht günstige Gruppierungen und Stellungen zu ge-
winnen, und wenn man sie eingenommen hat, freut man sich dieses Erfolges
und damit gut.
Diese Tendenz der Politik erklärt sich aus einer Mächte- oder besser
Kräfteverschiebung über den ganzen Erdball hin, sie ist der Ausdruck der
oben berührten neuartigen Tatsache des Aufeinanderwirkens aller Mächte.
Es handelt sich um ein Suchen des Gleichgewichts, nicht mehr des
historischen europäischen Gleichgewichts, sondern eines solchen des Erdenrunds.
Wer heute etwa die Geschichte der deutschen Staatenpolitik vor 1866
liest, muß sich in ein fernes, fernes Zeitalter versetzt fühlen; was für Ziele
des engsten Partikularismus!
Das Deutsche Reich ist daraus erwachsen, daß Bismarck, der ganz in
der Richtung preußischer Staatenpolitik angetreten war, seiner Politik nach
dem Siege des Preußentums 1866 das höhere nationale Ziel gab, mit den
kampfgestählten Kräften Preußens Deutschland in den Sattel hob, auf daß
es reite.
Und kaum sind wir zu Atem gekommen von dem heißen Ritt von
1870, da finden wir, die wir uns nach der Erlösung aus dem Kleindeutschen-
tum so groß vorgekommen waren, vor einer neuen Aufgabe: der Behauptung
und Durchsetzung des neuen Deutschen Reiches nicht in Europa, sondern
darüber hinausgreifend in der Weltwirtschaft, in der Weltpolitik.
Auf einmal sind wir wieder ein kleines Land geworden, ein Blick auf
die Weltkarte bannt jeden Zweifel!
Die Alteren unter uns, deren Ideale und politische Vorstellungen in
den Gedankenkreis der großen Zeit um 1870 beschlossen liegen, sehen in der
Entwicklung unserer Tage oft nur Niedergang und Gefahr.
Gefahr gewiß — Niedergang nimmermehr! Der deutsche Staat von
1870 wäre heute eine Macht zweiten Ranges und als Weltmacht glatt er-
ledigt, wenn unsere wirtschaftliche Entwicklung auch nur in demselben
Tempo vorwärts geschritten wäre wie etwa die Frankreichs.
Darin liegt die Rechtfertigung für unsere Zeit des Industrialismus,
deni man oft zuschaut wie einem Zerstörer, der das Bild der deutschen
Landschaft verwüstet, die Traulichkeit unserer Städte mit Roheit und Häß-
I unsere Zeit ein politisches Zeitalter? In einem Punkte ist sie ein
Politische Rundschau. 55
lichkeit füllt und keine Gegend überlassen will, wo man mit Eichendorff
Täler weit und Höhen in Einsamkeit grüßen kann.
Und weshalb gehen wir in eiserner Wehr, haben das stärkste Heer
und, wie wir hoffen, die beste Flotte? Weil wir uns durchsetzen müssen oder
verkümmern!
Heute gehört Deutschland nicht zu den Weltmächten — das ist eine
notwendige Erkenntnis!
Weltmächte sind heute England, Rußland und die Vereinigten Staaten.
Die Vereinigten Staaten haben auf dem amerikanischen Kontinent für
ein Jahrhundert hinaus ihre Domäne, die ihnen nur England streitig machen
könnte und vielleicht einmal streitig machen wird.
Heute nimmt es freilich von dort jeden Schlag tatenlos und wagt gegen
die Verletzung seiner Panamaverträge nur den Protest der Machtlosen, die
Anrufung des Haager Schiedsgerichts — England, das Rom der Neuzeit, und
wie heute an der Jahrhundertwende bemerkt sein mag, nicht der Sieger, aber
der Triumphator über Napoleon!
Der uns zunächst angehende weltpolitische Gegensatz besteht zwischen
England und Rußland, muß zwischen ihnen bestehen.
Beide gleichen Lawinen, die in jedem Jahrzehnt neue Länderkomplexe
sich einverleihen. Immermehr schwindet mit Persien und neuerdings an-
scheinend mit Tibet die neutrale Zone, die beide voneinander trennt.
Beide verschlingen mehr, als sie von rechtswegen verdauen können,
und das hat Politikern hüben und drüben die Idee des Syndikats auf ge-
meinschaftliche Teilung und endliche Herrschaft eingegeben.
Diese ist aber wenig erfolgversprechend, weil England vor der Be-
rührung mit dem russischen Koloß die größte Besorgnis hat.
Englands Herrschaft beruht auf Geld, Diplomatie und Seebeherrschung,
diese Mittel versagen Rußland gegenüber, das sich in breiter Front gegen
seine indischen Besitzungen anwälzt.
England möchte die Entwicklung Rußlands durch Absperrung von
der See hindern, ihm gewissermaßen die Luftzufuhr abschneiden.
Dies Ziel war der Zweck des von England veranlaßten mandschu-
rischen Krieges und wird von ihm weiter in der Dardanellenfrage verfolgt.
Hier wäre der Einwand berechtigt, daß diese Gesichtspunkte doch
keineswegs entscheidend sein könnten, denn beide lebten ja in der Triple-
Entente in Friede und Freundschaft.
Richtig ist, daß England sich zu diesem Gegensatz zu Rußland heute
offiziell nicht bekennt, seine politischen Agenten lungern zurzeit nicht in
Finland und Sibirien herum, sondern sind am Balkan angesetzt.
Dort will es Österreich Unannehmlichkeiten machen, um uns zu treffen.
Weshalb uns?
England ist nicht das Land politischer Neuerungen. Seine kontinentale
Politik ist seit den Tagen Cromwells auf ein divide et impera mit der Spitze
gegen die jeweilig stärkste Kontinentalmacht gerichtet gewesen und hat
jedesmal diese Vormacht, ob sie nun Spanien oder Holland oder Frankreich
hieß, bekämpft — und gebrochen.
Wäre die unionistische Regierung am Ruder, so gäbe es vielleicht eine
Möglichkeit, die auch von Salisbury und Chamberlain ins Auge gefaßte Ver-
ständigung mit Deutschland zu verwirklichen.
Unter der liberalen Regierung, die in der auswärtigen Politik in der-
selben Richtung laufen möchte, in der die unionistische ging, um .nur dem
56 Politische Rundschau.
englischen Spießer zu beweisen, daß Englands Macht und Ehre ebensogut
bei ihnen aufgehoben sind als bei den Unions, ist keine Anderung zu
erhoffen.
Die Verhältnisse liegen hier nicht so sehr verschieden von den fran-
zösischen, schwache Regierungen müssen den Volksleidenschaften nachgeben
und die Masse des Volkes ist in beiden Ländern in deutsche Antipathien
hineingehetzt.
Frankreichs Haltung können wir gefühlsmäßig verstehen, ihm Ab-
bruch zu tun, kann aus vielen Gründen nicht unsere Absicht sein, aber
England müssen wir lehren, daß seine Feindschaft zu uns ihm Nachteil bringt.
Das kann nur durch Fühlungnahme mit Rußland erreicht werden.
Vielleicht ist dann der Tag nicht mehr so fern, wo England erkennt,
daß es sein Weltreich nur mit deutscher Hilfe und unter Einräumung der
Deutschland gebührenden Entwicklungsfreiheit halten kann; der Tag, da
Deutschland unter englisch-französisch-russischem Angriff zusammenbräche,
könnte leicht in seinen Fortwirkungen ein Finis Britanniae sein.
Vor der Hand droht von England die größte und ernsteste Gefahr.
Wenn wir dem Gedankengange des wegen seines Tatsachensinnes, wie
wir anerkennen müssen mit Recht, aus der sozialdemokratischen Partei aus-
geschlossenen Gerhard Hildebrand im Septemberheſt dieser Zeitschrift folgen,
so kann nicht zweifelhaft sein, daß die größte Gefahr für unsere, wie über-
haupt die europäische Weiterentwicklung, in einer Absperrung des britischen
Weltreiches für unseren Absatz und unseren Rohstoffbezug liegt.
Diese Gefahr muß rechtzeitig erkannt und vorsorgend die Abwehr be-
reitet werden.
Für uns ist der Schutzzoll eine Maßregel zur Aufzucht unserer In-
dustrie, zur Erhaltung unseres agraren Reservefonds gewesen, auf das bri-
tische Weltreich dies System übertragen, heißt die wertvollsten Teile des
Erdballs den 55 Millionen Engländern vorbehalten, uns nicht nur politisch,
sondern auch wirtschaftlich davon aussperren.
Das ist für unsere Wirtschaftsmacht eine Existenzfrage und Existenz-
fragen sind politisch die Fragen, ob Krieg, ob Frieden — England hat
die Wahl!
Bei der Erörterung der inneren Politik müssen wir uns bei dem zur
Verfügung stehenden Raum auf die Stellungnahme zu einer Polemik be-
schränken, die sich zum Teil im Anschluß an den Schlußsatz unserer Juli-
Rundschau über Bremen und Emden entsponnen hat.
Herr Jules C. A. Schröder hatte in einem Artikel im „Tag“ seine Aus-
führungen in das Zitat dieses Satzes ausklingen lassen und damit die
nationale Bedeutung des Bundesratsbeschlusses der Ablehnung der Erteilung
der Auswandererkonzession für die Levantelinie von Emden hervorgehoben.
Kein Leser unserer Ausführungen im Juliheft wird verkennen können,
daß darin das Interesse Preußens an der Gewinnung eines ozeanischen Hafens
als vollauf gerechtfertigt anerkannt worden ist.
Es sei an dieser Stelle noch betont, daß die überraschenderweise aus
Hamburg zugunsten Bremens verlautbarten Kundgebungen weder diesem
Gesichtspunkt noch der Tatsache Rechnung zu tragen schienen, daß jeder
deutschen Schiffahrtslinie das Maß und die Art ihrer Betätigung freisteht
und diese im nationalen Interesse stets zu begrüßen ist.
Politische Rundschau. 57
Der letztere Hinweis erscheint um so notwendiger, als auch sonst und
nicht immer für Bremen von Hamburger Interessenten ein abweichender
Standpunkt vertreten ist!
In der Abendnummer der „Kreuzzeitung“ vom 22. August ist dann
ein Eingesandt veröffentlicht worden, das in einer Weise gegen Bremen ge-
richtet ist, daß man bei uns, wo man gewohnt ist, daß in ganz Deutschland
ohne Ausnahme das harte Ringen unserer Vaterstadt um die Behauptung
seiner Stellung als überseeischer Handels- und Hafenplatz großen Stils als
eine nationale, allgemein deutsche Frage betrachtet wird, von diesem feind-
seligen Verstoß auf das peinlichste überrascht ist.
Das ist die Sprache des engherzigsten preußischen Partikularismus,
von dem selbst Treitschke, der advocatus Borussiae, bei seiner Agitation für
den Zollanschluß Bremens sich ganz freigehalten hat!
Da lesen wir, Bremen könne auf die Dauer unmöglich die Konkurrenz
eines Seehafens wie Emden durchhalten.
Seit wann werden deutsche Seehäfen angelegt und unterhalten, um
andere deutsche Häfen niederzukonkurrieren ?
Ein solches Vorgehen wäre antinational nach der Tendenz und anti-
national nach dem Erfolg.
Eine Konkurrenz im Sinn der Bekämpfung darf nur ausländischen
Häfen gemacht werden, und wir wünschen Emden von Herzen, daß es sich
als ein wehrhafter Konkurrent für die holländischen Rheinhäfen entwickelt.
Wir fürchten aber und glauben dazu berechtigt zu sein, daß einer
Wasserstraße wie dem Rhein, geschützt zudem durch internationale Verträge,
niemals eine wirksame Konkurrenz durch eine Wasserstraße an der Ems be-
reitet werden kann.
Der deutsche Erfolg dieses Vorgehens muß unseres Erachtens außer
jedem Verhältnis zu den aufgewandten Mitteln stehen, mit denen bei Ausbau
des Mittellandkanals nach Elbe und Weser Großes geschaffen werden könnte.
Der Torso des Mittellandkanals ist in erster Linie eine holländische
Zubringerstraße, und wenn der Einsender der „Kreuzzeitung“ giaubt, daß
eine mit preußischem Gelde für preußische Interessen erbaute Straße von
denen mitbezahlt werden soll, die sie mitbenutzen, dann mag Preußen bei
Holland Deckung für einen großen Teil seiner Auslagen suchen.
Wir erfahren, „daß es nur eine Frage der Zeit sein kann, daß die be-
sondere Zuneigung Preußens, die Bremen genießt und der Bremen seine
Erfolge verdankt, auf das richtige Maß zurückgedämmt wird“.
Auch die Wege werden gewiesen, Preußen wird das durch eine
rücksichtslose Eisenbahn- und Kanalpolitik erreichen.
Mit Verlaub, mit einem derartigen partikularistischen Mißbrauch der
Wasserstraßen würde vielleicht nur gegen den Geist der Reichsverfassung,
mit einer gleich „großzügigen Verkehrspolitik“ der Eisenbahnen aber gegen
den Buchstaben der Reichsverfassung verstoßen, die besagt, daß die Eisen-
bahnen als ein einheitliches Verkehrsnetz zu verwalten sind.
Und wozu das alles? Um den zweiten deutschen Seehandelsplatz, die
älteste Trägerin der ruhmreichen hanseatischen See- und Handelspolitik, zu
schädigen oder zu zerstören — und das nennt sich deutsch-konservative
Politik!
Nun freilich, das Heldenstück wäre möglich. Kein Seehandelsplatz
kann heute mehr ohne die intensive Förderung seines Hinterlandes existieren,
die Zeiten des Hochseetauschhandels sind vorüber.
— nn
58 Politische Rundschau.
Preußen kann gewiß die Wasserstraßenanschlüsse der Weser wie
bisher vernachlässigen, es kann das in Zukunft bewußt tun, es kann eine
Politik treiben, wobei es um jeden Zoll Vertiefung der Weser, um jeden
Fußbreit Landes in Bremerhaven marktet, es kann das ganze große nieder-
deutsche Land von der Elbe bis zur Ems wasserwirtschaftlich vernachlässigen.
Aber es kann auch — das freie Zitat sei erlaubt — beweisen: daß an
des Reiches großem Besten ihm mehr liegt, als an ein paar Tonnen, die
Emden mehr hat oder weniger.
Die Vernachlässigung der Weser ist eine Schuld Hannovers gewesen.
Duckwitz erzählt in seinen Denkwürdigkeiten die scherzhafte Geschichte
von dem Schiffer, der für einige Taler an den Ludener Klippen die Fahr-
straße freisprengte, nachdem alle feierlichen Staatsverhandlungen gescheitert
waren.
Wir denken höher von Preußen und vertrauen, daß der Staat, der
im Zollverein die wirtschaftliche Grundlage des Reiches schuf, jetzt nicht
Mücken seien und seinen Scharfsinn dabei verwenden wird, wie man durch
Verhinderungen einen allgemeinen Nachteil, aber einen relativen Vorteil
Geestemündes gegenüber Bremerhaven oder Brake oder Gott mag wissen
was für einem Platz gegenüber erzielt.
Auch die Verhinderung des Kampe-Dörpenkanals wäre kein Ruhmes-
blatt neudeutscher und preußischer Wirtschaftsgeschichte.
Bremen und Oldenburg sind gewiß nicht berufen, Preußen wirtschafts-
politisch abzulösen, was wir wollen, ist einfach das, was Otto Gildemeister
im Nekrolog für Smidt so treffend sagte: Wir wollen keine historische Re-
liguie, sondern ein lebendiges Glied am Leibe der deutschen Nation sein!
Im englischen Parlament ist einmal das Wort gefallen: Kent fragt
nicht, ob Surrey rentiert. Bremen und Emden mögen nicht gegeneinander,
sondern nebeneinander um die Palme, der erste Seeplatz der niedersächsisch-
friesischen Seeküste zu sein, bei gleicher Unterstützung der preußischen Eisen-
bahnen und Wasserstraßen im ehrlichen Wetteifer ringen.
Und wenn wir noch einen Wunsch in das geneigte Ohr unseres großen
preußischen Nachbarn flüstern dürfen: er möge auch Geestemünde zu einem
großen Seehafen ausbauen, damit die Hoffnungen, die Goethe im letzten Teil
des Faust im Hinblick auf die Schaffung Bremerhavens für die Zukunft
unseres Volkes aussprach, in Erfüllung gehen.
Bremensis.
59
Musikalische Einakter.
ie Gegenwart ist charakteristisch durch Symptome dramatischer Kurz-
atmigkeit. Fast alle Bühnendichtungen der Moderne stellen in der
innerlichen Struktur den gleichen Typus dar: breit und voll angelegte
Expositionen des ersten Aktes, die den Perspektiven weiteste Spannung geben,
und eine kränkelnde Weiterentwicklung und schnelles Zusammenfallen in den
folgenden. Es ist das Fehlen einer starken, vitalen Kraft, das in dem Mangel
an Festhalten und an Durcharbeitung des künstlerischen Stoffes zum Ausdruck kommt.
Auf musikdramatischem Gebiete ist es nicht anders. Das deutsche Opern-
werk der letzten 20 Jahre (sieht man von der im Gegenständlichen begründeten
Sensation „Tiefland“ ab) gleicht einem Tanz von Schatten. Kaum, daß noch
Namen übriggeblleben sind.
Es hängt wohl mit dieser begrenzten schöpferischen Atemkraft zu-
sammen, daß der Einakter während dieses Zeitlaufes eine so viel angewandte
Kunstform geworden ist. Daneben spricht noch anderes mit: die monumen-
tale Ausdehnung des Musikdramas Richard Wagners forderte ihre Reaktion.
Wenn dort die Tondichtung intensive Seelenanalyse trieb auf Kosten der eigent-
lichen dramatischen Knappheit, so bewiesen die Neuitallener Mascagni und
Leoncavallo, daß man außerordentlich erfolgreich in der Oper sein kann, wenn
man nur das Alleräußerlichste der Handlung faßt und es in einem Akt in die
musikalisch gedrängteste Form bringt.
Unter den Werken Deutschlands haben während der letzten Jahre die
Einakter die bedingungsweise stärksten Spuren hinterlassen (auch wenn man die
Straußschen interessanten musikalischen Experimente an fertig übernommenen
wirkungsvollen Schauspielen hors de concours setzt). Es handelt sich dabei durch-
weg um Komödien. Wir hatten den sehr anregenden Akt Eugen d’Alberts „Die
Abreise“, dessen Finesse nur leider von der in jener Periode noch stark gewalt-
tätigen musikdramatisierenden Behandlung des Komponisten erdrückt wurde.
Eine viel glücklichere, weil leichtere Hand in der Gesaltung des Buffonen
zeigte der talentvolle und stilistisch sehr geschickte Wolf-Ferrari mit „Susannes
Geheimnis“, das die Mitte hält zwischen pantomimischer und musikdramatischer
Anlage. Und endlich waren die beiden Kleinigkeiten von Leo Blech „Das war
ich“ und „Versiegelt* sehr bemerkenswert. Bemerkenswert vor allem damit, daß
hier mutvoll eine energische Abkehr vom Musikdrama gewagt und durchgeführt
wurde. Blech griff wieder zu der Form zurück, von der die musikalische Komödie
gekommen ist: zum Singspiel; wenn er dabei auch den üblichen gesprochenen
Dialog in leicht rezitativische Phrasierungen umgewandelt hat.
Soweit unsere Auffassung vom Bühnenwerk nicht ganz und gar von Zeit-
strömungen mitgerissen ist, müssen wir in dieser Reaktion den Fortschritt
erkennen, den so manche Reaktion in sich birgt.
Eine durchaus buffone Handlung in musikdramatischem Gewande ist ein
Widerspruch in sich selbst. Beim Scherz, beim bon mot, bei der Situationskomik
ist stets das Tempo einer der Hauptfaktoren der Wirkung. Wenn die Musik, die
tetzten Endes immer Lyrik und damit immer stimmungsvoll malend bleibt, —
gewisse Zentralpunkte der innerlichen Handlung und die Komik mancher Situationen
auch erheblich zu steigern vermag, so wird sie doch in dem Bestreben, in
musikdramatischem Sinne jedem Wort und jedem Satz nachzugehen, die
Komödie um ihrer Wirkungen beste bringen: um die Leichtigkeit des Tem-
peramentes.
60 Musikalische Einakter.
Solcher Art waren die Gedanken, die Max Wolffs Einakter „Das heiße
Eisen“ (vom Bremer Stadttheater in sehr feiner Durcharbeitung herausgestellt)
hervorlockte.
In der Wahl des Stoffes, einem der prächtigsten Fastnachtsspiele Hans
Sachsens, schien eine Gewähr zu liegen, daß hier etwas künstlerisch Unkompli-
ziertes, im besten Sinne des Wortes Volkstümliches ans Licht wolle. Man dachte
sich insgeheim eine sehr ursprüngliche Musik, starke, einfache Linien, sozusagen
Holzschnittmanier, wozu freilich heutzutage ein tondichterisch formales Genie,
ein Komponist, der entlegene Stile zu meistern weiß, gehören würde — ein
Hoffmannstal der Musik, etwa. —
Der Verfasser des Textbuches vom „Heißen Eisen“ hat es sich angelegen
sein lassen, die Sachssche Volkspoesie zu vertiefen, d. h. sentimental zu machen.
Der naive, derbe Schwank, der die Dinge überall bei mittelalterlich rechtem
Namen nennt, wurde mit psychologischen Erläuterungen und ethischen Hinblicken
durchsetzt... Merkwürdig. . . damit begann die Handlung gelinde anstößig zu
werden; gewagt, pikant . . . Die erste Hälfte des Aktes war Schwank geblieben,
schlecht und recht, mit der ganzen Roheit, die wir heute in der Tatsache
empfinden, daß eine derb sinnliche und leichtfertige Frau den Mann, den sie der
Untreue verdächtigt, vor ein barbarisches „Gottesurteil“ stellt... Der Komponist
Max Wolff gibt dazu ein Drunter und Drüber von orchestralen Apostrophierungen
dessen, was auf der Bühne an Tollheiten vor sich geht... Aber ein Musiker
möchte schließlich noch etwas anderes zu Gestalt bringen, und das Textbuch ist
ihm dabei zu Hilfe gekommen; das Weib verliert im Handumdrehen das Derbe
sowohl als auch das Naive; es fängt an zu philosophieren und sich seelisch zu er-
klären und zu begründen und endet als „unverstandene* Frau, die den Mann
durch Hinweise auf Vater- und Mutterempfindungen schließlich versöhnt. Eine
Liebesstimmung ist des Werkes Schluß. Hier fand der Komponist Gelegenheit
zu breiten, harmonisch melodischen Entwicklungen, die nicht nur ein starkes
instrumentaltechnisches Geschick (das Vokale wurde allenthalben nicht gut
bedacht), sondern auch eine bemerkenswerte Erfindung dokumentieren. Er
wird seinem Librettisten dankbar dafür sein, daß er ihm solcherart Musik in die
Hand gespielt hat. Wir aber folgen ihm darin nicht. Denn was wir als einen
vollkommenen, einen klassischen Schwank schätzten, ist dadurch etn romantischer
Zwitterling geworden . Man wurde angesichts dieses talentvollen, aber als
Kunstwerk nicht hoch einzuschätzenden Einakters einmal wieder von der Er-
kenntnis überwältigt, daß der Entwicklung unserer Oper in erster Linie ein kühner,
auf sich selbst Gestellter not ist, der von dem musikdramatischen Prinzip Wagners
loszukommen vermag. (Was der Komponist Max Wolff nicht tut.) Wagners
Stil ist unlösbar von Wagners Wortdichtungen, diesen breit angelegten Skizzen
voll latenter Musik und Hinblicken auf Musik. Er ist auch unlösbar von den
phylosophisch symbolistischen Unterströmungen dieser Wortdichtungen. Der
Typus eines rein buffonen Librettos in musikdramatischer Aufmachung zeitigt
Ergebnisse, die nahezu unerträglich wirken. Leichtes wird schwerfällig, Neben-
sächliches bekommt Bedeutung und Akzente; die Darsteller werden durch die
Vorschriften der Musik zu unnatürlicher Gespreiztheit aller Bewegungen verurteilt.
Max Wolffs musikalischer Akt, in dessen Disposition es keine Größen erster und
zweiter Ordnung gab, wirkte ohne diese Plastik schaffenden Werte bei aller
inneren Lebendigkeit raumlos und monoton.
Wagners Bedeutung für das Musikwerk der Bühne wird unvermindert
dauern. Um so positiver, wenn solche Jünger ihm erstehen werden, wie Friedrich
Nietzsche sie sich wünschte: die ihm nachfolgen, weil sie ihn überwinden.
S. D. Gallwitz.
61
ANREGUNGEN UND AUSBLICKE.
Preisgericht und Künstler.
Folgende drei Vorkommnisse dürften
typisch für eine in letzter Zeit eingerissene
Praxis seln:
In dem ersten Preisauschreiben für das
Bismarckdenkmal bei Bingen ($ 1) waren
Entwürfe für ein „F monumentales“ Wahr-
zeichen der Dankbarkeit und Verehrung
für den Fürsten Bismarck gefordert. Mit
dem ersten Preise ausgezeichnet wurde
der ursprüngliche Hahnsche Entwurf, der
gerade nicht monumental, sondern
idyllisch angelegt ist.
Die Stadt Oldenburg forderte eine An-
zahl Gartenarchitekten auf, für die künst-
lerische Gestaltung des sogen. „Dobben-
parkes* Entwürfe einzureichen. Von den
geforderten zwei Entwürfen durfte der
eine nur das jetzt der Stadt gehörige
Gelände berücksichtigen; der zweite hatte
eine von der Stadt vielleicht später an-
zukaufende Fläche mit in Betracht zu
ziehen. In beiden Fällen war die Auf-
gabe sehr schwierig, da es sich um
schmale Uferstreifen handelte, die die An-
legung von Gebäuden und Spielplätzen
fast unmöglich machten. Den Preis erhielt
ein Bewerber, der für seinen zweiten
(größeren) Entwurf außer jener ver-
größerten Fläche noch ein Gelände von
zwei Morgen Größe heranzog und da-
durch günstige Wirkungen ermöglichte.
Der Preis wurde für beide Entwürfe —
also auch für den zweiten — zuerkannt.
Proteste der Mitbewerber wurden als „un-
begründet" zurückgewiesen.
Die Stadt Pforzheim veranstaltete einen
Wettbewerb von Entwürfen für einen
Friedhof. Im Ausschreiben war den Künst-
lern freie Bestimmung der Lage der er-
forderlichen Gebäude überlassen worden.
Das Protokoll des Preisgerichts aber ent-
hielt folgende Stelle: „Bei der Beurteilung
der in die engere Wahl gestellten Ent-
würfe machte das Preisgericht keinen
Unterschied, ob die Gebäude an der Süd-
seite oder an der Südwestseite placiert
waren; dagegen wurde die Situlerung an
allen übrigen Stellen als ungeeignet an-
gesehen.“ Nach einer Mitteilung der
„Deutschen Bauzeitung“ wurden laut Pro-
tokoll sämtliche Entwürfe, die die Ge-
bäulichkeiten an anderen Stellen vorsahen,
belm ersten und zweiten Rundgange aus-
geschieden.
Diese drei Fälle sind nicht die einzigen
der Art; sie und ihresgleichen haben
vielfach Verstimmung erregt. Der Grund
hierfür ist der, daß für die Entscheidung
über die Preiserteilung andere oder
neue Gesichtspunkte maßgebend ge-
wesen sind, also solche, die vor Ein-
reichung der Entwürfe nicht bekannt-
gegeben waren. Beim Bismarckdenkmal
hat man einen Entwurf gekrönt, obwohl
er nicht monumental war. In Oldenburg
hat man den Preis einem Künstler ge-
geben, der über dle ausdrücklich gesteck-
ten Grenzen hinausging. In Pforzheim
sind alle diejenigen nicht berücksichtigt
worden, die nicht zufällig dieselbe
Himmelsrichtung für ihre Gebäude
wählten, die das Preisgericht zu bevor-
zugen für gut fand.
Nach den gesetzlichen Bestimmungen
können die Künstler hiergegen nicht ge-
schützt werden. Der maßgebende $ 661
des Bürgerlichen Gesetzbuchs sagt aus-
drücklich, daß die Entscheidung des Preis-
richters, Preisgerichts oder des den Wett-
bewerb Veranstaltenden für die Beteiligten
verbindlich sei. Im Prinzip kann hier-
gegen nichts eingewendet werden. Der
Auslobende soll nicht gezwungen werden
können, eine Sache zu billigen, die ihm
nicht paßt. Gegen dies Prinzip wird
auch niemand etwas einwenden. Die
Künstler jedenfalls nicht.
Es könnte aber wohl verlangt werden,
daß auch der Auslobende oder das Preis-
gericht sich an die Bedingungen des Aus-
schreibens hält. Wir haben so viele Wett-
bewerbe, daß sie ein bedeutender Faktor
im Leben weiter Künstlerkreise geworden
sind. Viele Existenzen sind geradezu auf
den Einnahmen, die sie aus der Aus-
führung preisgekrönter Entwürfe ziehen,
aufgebaut. Ein Sieg in einer Konkurrenz
ist vielfach die Vorbedingung weiterer
Aufträge. — Die Sitte, für jede nur er-
62
denkliche Anlage einen — oft recht über-
flüssigen — Wettbewerb auszuschreiben,
hat anscheinend zu einer gewissen Flüch-
tigkeit bei Aufstellung der Bedingungen
geführt, so daß wichtige Punkte den
Preisrichtern erst nachher „einfallen“.
Man wende nicht ein, daß Auslobender
und Preisrichter meist nicht dieselben
Personen sind. Denn erstens müßten dann
diese beiden Faktoren zum mindesten
eine so enge Fühlung miteinander haben,
daß das Preisgericht dem Auslobenden
die Gründe mitteilt, warum es die Be-
dingungen verändern oder ergänzen will;
und zweitens pflegt jede auslobende Kor-
poration — mag nun eine Stadt ein Senats-
haus oder Stollwerck ein Reklameinserat
ausschreiben — ein stimmberechtigtes
Mitglied zu delegieren, dessen Stimme
aus wirtschaftlichen Gründen besonders
schwer wiegen dürfte. — Das mindeste,
was man verlangen könnte, ist, daß man
die Künstler auf die veränderten Gesichts-
punkte aufmerksam macht und ihnen Ge-
legenheit zur Korrektur ihrer Entwürfe
gibt. Dagegen würden wohl nicht viele
etwas einwenden. In Fällen wie den vor-
liegenden sind die Bewerber in einer
Weise benachteiligt die, wenn böser Wille
dahinter steckte, geradezu unfair wäre.
So schmeckt die Sache stark nach Ge-
dankenlosigkeit.
Schutz hiergegen könnte in erster Linie
nur die stärkere Ausbildung des Verant-
wortlichkeitsgefühls bei den Preisrichtern
bieten. Sie müßten nicht nur darauf
achten, daß die Künstler sich an die
Bedingungen halten, sondern auch sie
selbst; und ein Preisrichter, der eine
Abweichung bemerkte, müßte seine ganze
Autorität dafür einsetzen, daß entweder
auf die Änderung verzichtet oder diese
allgemein bekanntgegeben wird, so daß
die Künstler dazu Stellung nehmen können.
Schwieriger, aber nicht unmöglich wäre
das zweite Erfordernis: Weckung des
Solidaritätsgefühls unter den Künstlern.
Dies müßte alle, also auch die unter
den veränderten Bedingungen siegenden
Künstler veranlassen, dem Auslobenden
gegenüber sich das Eigentum an ihrem
Werke vorzubehalten und die Aus-
führung zu verhindern. Der Ausschrei-
bende kann nämlich in dem Ausschreiben
bestimmen, daß die Übertragung des
Eigentums an dem Entwurfe an ihn er-
folgen soll. Die Übertragung geschieht
nichtsdestoweniger durch Vertrag, bei
dem auf die Zustimmung des Künstlers
aus der stillschweigende Einsendung des
Entwurfs geschlossen wird. Der Künstler
kann diese natürlich ausdrücklich
aufheben und sich seine Entscheidung
vorbehalten. Solange dies freilich nur
einzelne Künstler tun, werden sie ihre
Entwürfe unbesehen zurückerhalten.
Wenn aber jeder Künstler diesen
Vorbehalt bei Einsendung seines
Entwurfes ausspricht und sich keiner
findet, der diesen Vorbehalt unterläßt,
dann wird der Ausschreibende sich, um
den Zweck des Wettbewerbes nicht zu
gefährden, mit diesen Vorbehalten zu-
friedengeben müssen. — Gesetzliche
Maßnahmen sind undenkbar, ganz ab-
gesehen davon, daß dies eine der vielen
Fragen ist, die nur durch das Rechtsgefühl
der Beteiligten, nicht aber durch Para-
graphen gelöst werden können. Ein Hilfs-
mittel ist die Flucht in die Offentlichkeit;
die Preisausschreiben sind im Laufe der
Zeit eine so gewohnte Erscheinung ge-
worden, daß auch Unbeteiligte sich dafür
interessieren. Wenn die Künstlerver-
einigungen zum Schutze ihrer Mitglieder
Beschlüsse fassen und durchführen könn-
ten, die den oben dargelegten Vorschlägen
entsprechen, so würden sie ein zweifel-
los nützliches Werk tun.
Julius.
Elektrizitätswerte.
Noch nicht zwei Jahre sind ins Land
gegangen, seit die Allgemeine Elektrizi-
tätsgesellschaft ihr Aktienkapital um
30 Millionen Mark erhöhte. Damals galt
es, die Frankfurter Felten & Guilleaume-
Lahmeyer-Werke in den Konzern der
A.E.G. einzuverleiben, die damit festen
Fuß in der alten Kaiserstadt am Main
faßte und sich eines lästigen Konkurrenten
entledigte. — Jetzt beabsichtigt die Direk-
tion derselben Gesellschaft, das Betriebs-
kapital abermals — um 25 Millionen —
zu vergrößern. Eine Fusion mit einer .
Í- T {a y O: p.
anderen Gesellschaft ist diesmal nicht be-
absichtigt, die neuen Millionen sollen nur
der Verstärkung der Betriebsmittel dienen.
Den Aktionären werden die neuen Stücke
zum Bezug in der Weise angeboten, daß
auf je sieben alte Aktien eine junge zum
Kurse von 210% entfällt. Das fette Be-
zugsrecht lockt, obschon die Börse die
Kapitalserhöhung nur mit gemischten Ge-
fühlen begrüßte.
Wenn, wie zu erwarten ist, die An-
fang November tagende Generalversamm-
lung ihre Zustimmung zu dieser Trans-
aktion gibt, wird das Aktienkapital der
A.E.G. auf 155 Millionen angeschwollen
sein. Eine hübsche Summe, zu deren
Verzinsung, soll die Dividende auf der
bisherigen Höhe bleiben, allein beinahe
21°/, Millionen erforderlich sind.
Selbst bei dem kolossalen Umfang,
den der Geschäftsbereich der Gesellschaft
mit der Zeit angenommen hat, können
einem Zweifel aufsteigen, ob ein der-
artiger Betrag auch regelmäßig ver-
dient werden kann, wenn dem Elek-
trizitätsmarkt nicht mehr die Sonne der
Sonne der Konjunktur lächelt. Bisher
allerdings haben die Dividenden unter
den Kapitalsvermehrungen noch nicht ge-
litten, ein glänzendes Zeugnis für die
Tüchtigkeit der Geschäftsführung. Aber
man darf nicht vergessen, daß alles eine
Grenze hat.
Der Aktienkurs ist bereits so hoch,
daß er dem Kauflustigen kaum noch An-
reiz biete. Noch höher kann er nur
steigen, wenn unvorhergesehene Ereig-
nisse die Lage der Gesellschaft unerwartet
glänzend gestalten. Eine Kapitalserhöhung
aber ist gerade das Gegenteil eines solchen
Ereignisses, und alle günstigen Zukunits-
chancen hat die Börse zum großen Teil
schon im Kurse eskomptiert. Mit den
Gerüchten von gewinnbringenden Auf-
trägen, welche der Elektrizitätsindustrie
durch die Elektrifizierung der Staatsbahnen
zufliessen sollen, ist von den Drahtziehern
an der Börse bereits ausgiebig jongliert
worden. Bisher ist jedoch von größeren
Projekten im Inland nur die Elektrisierung
63
der Berliner Stadtbahn in absehbarer Zeit
zu erwarten, und auch diese Gesetzes-
vorlage muß erst noch das Fegefeuer
des Abgeordnetenhauses passieren. Wer
weiß, wie sie da zugerichtet wird. Besser
— im Sinne der Elektrizitätskonzerne —
wird sie jedenfalls nicht, denn die Zahl
ihrer Freunde im Landtag ist nicht ge-
rade übermäßig groß.
Alles in allem kann man die Aussichten
für die Zukunft, wenn auch nicht direkt
ungünstig, so doch auch nicht übermäßig
glänzend nennen. Der scharfe Konkurrenz-
kampf, den die rivalisierenden Gesell-
schaften um die Gunst des Publikums
führen müssen, drückt die Preise für die
Fabrikate, so daß der Gewinn bel stei-
genden Arbeitslöhnen immer geringer
wird. Eine neue Erfindung jagt die andere
und verschlingt Geld und wieder Geld.
Aber doch muß jede Gesellschaft bereit
sein, sie auszunutzen, womöglich die Kon-
kurrenz in Neuigkeiten zu übertreffen.
Bei diesem Wettrennen ist vor nicht
zu langer Zeit der kleinsten von den Mam-
mutgesellschaften des Elektromarktes —
der Bergmann-Gesellschaft— der Atem aus-
gegangen. Sie hätte liquidieren müssen,
wenn sie nicht der Siemens-Schuckert-
Konzern in seine Mutterarme aufgenom-
men hätte. Mit ihrer Selbständigkeit ist
es jetzt allerdings für alle Zeiten vorbei.
Nun stehen sich nur noch zwei große
Konzerne gegenüber, die einander eben-
bürtig sind: die Allgemeine Elektrizitäts-
Gesellschaft und die Siemens-Schuckert-
Werke. Vorläufig bekämpfen sich beide
noch, aber es kann keinem Zweifel unter-
liegen, daß die Verhältnisse in der Elek-
trizitätsindustrie zur Trustbildung drängen.
Vorläufig macht man noch der öffent-
lichen Meinung, die zurzeit Vertrustungs-
bestrebungen nicht gern sieht, Kon-
zessionen. Aber der Trust wird schließ-
lich doch kommen, und den Banken,
welche hinter den beiden Gesellschaften
stehen, wird wohl die Vermittlerrolle zu-
fallen.
Hugo Kloß.
64
Moderne Buchkunst.
Was man unumgänglich notwendig besitzen muß, verlangt — so will es
der Kunst- und Spieltrieb des Menschen — nach höherer Gestaltung. Diese ge-
bieterische Forderung ist es, die dem modernen Möbel und allen den unzähligen
Gebrauchsgegenständen des kultivierten Lebens der Gegenwart ihre ästhetisch
wertvolle Form gegeben hat.
Mit der großen Mehrzahl der Bücher ist es weniger gut bestellt. Es wäre
aber verkehrt, daraus schlußfolgern zu wollen, daß das Buch unserer Zeit kein
Gebrauchsgegenstand mehr ist. Die Gründe dafür sind andere. Die Verbilligung
der technischen Betriebe hat uns mit einem Wust von unnützen und unwertigen
Geschmacklosigkeiten umgeben und die Möglichkeit der Beschränkung der Aus-
wahl ist dabei abhanden gekommen.
Wie herrlich wenige Dinge umgaben einen Menschen der Renaissance!
(um die Blütezeit der Bucheinbände zu nennen). Und unter diesen wenigen
Stücken, von denen ein jedes in hundertfachem Sinne teuer war — alle guten
Dinge sind stets teuer! — befand sich auch das Buch. Das Wenige, was man
hatte, sollte in köstlichstem Gewande prangen.
Nicht der Handwerker ist dafür verantwortlich zu machen, daß das Buch-
gewerbe zurückging — an der Interesselosigkeit der Käufer liegt die Schuld
der Geschmacklosigkeiten.
Was Solidität der Herstellungsart, Geschmack in Auswahl der Stempel
und Exaktheit in der Anbringung derselben betrifft, kann eine Besichtigung der
Ausstellung von neuzeitlichen Erzeugnissen im Bremer Gewerbe-Museum
durchaus befriedigen. Es sollte da vor allem die Technik des einwandfreien
Bucheinbandes — als Liebhaberstück — illustriert werden.
Die ausstellenden Firmen sind unter Gruppen vereint, sodaß ihre Sonder-
heiten vollauf deutlich werden. Die „Bremer Buchwerkstätten“, ein neues,
auf rein künstlerischer Basis errichtetes Unternehmen, von dem wir uns das beste
und anregendste erwarten können, haben ihre vorzüglichsten Bände Entwürfen
P. A. Demeters und Fräulein A. Wildemanns zu danken. M. Lehmann-Bremen
bringt Bände nach Entwürfen von R. A. Schröder, C. Weidemeyer, Th. Dahle
und W. Magnussen. Sehr geschmackvolle Einbände von C. Sonntag jr. und
solche der Leipziger Buchbinderei (vorm. S. Fritzsche) meist nach Entwürfen
von Professor Steiner-Prag; solide Bände der Bremer Buchbinder Hurrelmeyer
und Düdden, sowie Vorsatzpapiere von P. A. Demeter und Fräulein A. Plate
runden das Ganze zu einem Bilde von moderner Buchbindekunst, die zur
Steigerung ihrer Leistungen nichts als der Nachfrage und des Interesses bedarf.
X.
Die „Güldenkammer“ lädt ihren Bremer Leserkreis ein zu einer Führung
durch die Rembrandt-Ausstellung in der Kunsthalle am Mittwoch,
den 16. Oktober, vormittags um 12½ Uhr.
Vortragender: Dr. Hartlaub.
Eintritt zu der Ausstellung für Nichtmitglieder des Kunstvereins 50 Pfg.
Schluß des redaktionellen Teils!
Verantwortlich für die Redaktion: S. D. Gallwitz, Bremen.
Einsendungen von Manuskripten (unter Beifügung von Rückporto)
an die Redaktion Bremen, Am Wall 163. Tel. 6945.
Sprechstunden der Redaktion: Dienstag und Freitag von 1—2 Uhr.
Verlag: Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft in Bremen.
Druck: H. M. Hauschild, Hofbuchdruckerei, Bremen.
— —
Die Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen.
Koffeinfreier „Kaffeehag“.
nter den vielen Genußmitteln, die sich die Menschheit
U in ihrer kulturellen Entwicklung allmählich schuf, spielt
der Kaffee eine hervorragende Rolle. Die Entdeckung
des Kaffees greift in sagenhafte Morgendlandgeschichten zurück.
In Persien soll er schon im 9. Jahrhundert gebraut worden
sein und in Abessinien vielleicht noch früher. Unter Soliman 11.
kam der Kaffee 1634 nach Konstantinopel, und die Venezianer
brachten ihn 1624 in größeren Mengen aus dem Orient nach
Europa. Nachdem in Konstantinopel, Venedig, Amsterdam,
London, Marseille, Paris und Wien (1683) Kaffeehäuser er-
richtet waren, wurden solche auch in Hamburg (1697), in
Nürnberg, Regensburg, Leipzig, Stuttgart, Berlin (1721)
eröffnet.
Es ist uns aus dem 17. Jahrhundert eine spaßhafte
Korrespondenz erhalten zwischen einem Amsterdamer und
einem Merseburger Handelshaus. Ersteres schickte dem Merse-
burger Geschäftsfreunde eine Probe des „in Amsterdam so
schnell berühmt gewordenen Koffey“ mit der Bitte, er möge
seiner wohl ehrbaren Hausfrau anbefehlen, diese Körner zu
zerstoßen und dann in Wasser zu kochen. Die brave Merse-
burgerin war aber nicht armer Leute Kind, und sie war ge-
wöhnt, mit kräftiger Fleischbrühe zu kochen. Sie braute also
einen kräftigen Bouillonkaffee, von welchem Prinzipal, Laden-
diener und Hausgesinde mit Todesverachtung ein Quantum
schluckten. Seekrankheitliche Erscheinungen waren die Folge,
und die Korrespondenz zwischen den beiden Handelshäusern
hörte kurz danach für immer auf!
In welchem Umfange der Kaffee schließlich Allgemein-
gut des Volkes wurde, geht daraus hervor, daß in Deutsch-
land allein, welches in der relativen Vebrauchsstatistik hinter
Holland und Amerika rangiert, uber 200 Millionen Pfd. Kaffee
konsumiert werden. Bei einer solchen Verbreitung ist es für
das Volkswohl nicht gleichgültig, ob der Kaffee gesundheits-
schädlich ist. Schon recht früh wurden Stimmen laut, die im
Kaffee einen gemeingefährlichen Feind entdeckten und zufolge-
dessen seinen Genuß als nicht unbedenklich hinstellten.
In der Tat enthält der Kaffee ein giftiges Alkaloid, das
Koffein (im Jahre 1820 von Runge entdeckt), welches stark
auf Herz, Nerven, Nieren und Verdauungsorgane einwirkt.
Beim Rösten erleidet das Koffein keine Veränderung und geht
unzersetzt in den Kaffeeaufguß über. In einer mittleren Tasse
normalen Kaffeeaufgusses sind 0,15 g Koffern enthalten. Und
ı/a g ist die Maximaldosis, die ein Arzt verschreiben darf! Da
lediglich das Koffern den schädlichen Bestandteil des Kaffees
darstellt, und dieses Koffein geschmack- und geruchlos ist, so
ist es einleuchtend, daß ein vom Koffein befreiter Kaffee einer-
seits vollkommen unschädlich und andererseits an Geschmack
und Aroma dem unbearbeiteten Kaffee gleichwertig sein muß.
Die Herstellung eines solchen Kaffees, der unter dem Namen
»Kaffeehag« in den Handel gelangt, ist nach langwierigen Ver-
suchen mittels der patentierten Verfahren der Kaffee-Handels-
Aktiengesellschaft gelungen. In welcher Weise, möge ein
Rundgang durch die Fabrik schildern:
Bei der Erbauung der Fabrik, die im Herbst 1907 in
Betrieb genommen wurde, sind alle Mittel zur Anwendung
gelangt, welche die moderne Technik und die Hygiene bieten.
Die ganze Anlage ist aus Eisenbeton in eigenartigem Stil aus-
geführt, der in Fachkreisen als musterhaft gilt für den modernen,
praktischen und ästhetischen Fabrikbau. Die Fabrik besteht
aus sechs einzelnen Gebäuden, von denen jedes für sich ab-
geschlossen und von dem Nachbargebäude durch Brandmauern
getrennt ist. Dennoch ist ein äußerst praktischer Personen- und
Wagenverkehr zwischen den Gebäuden ermöglicht, da diese
sämtlich mit der Stirnwand an einen Transportkanal ange-
schlossen sind, der Kellerräume und Erdgeschoß der Gebäude
korridorartig verbindet.
Zunächst der Wasserseite, direkt am Holzhafen, befindet
sich das Lager mit elektrisch betriebenen Winden, Entstaubungs-
und Sortiermaschinen. Da die Fabrik für eine tägliche Arbeits-
leistung von so000 kg eingerichtet ist, haben auch die in den
drei Etagen befindlichen sechs Lagerräume eine entsprechende
Ausdehnung.
Neben dem Lagergebäude liegt das Verwaltungsgebäude.
Es besteht aus Kellergeschoß und zwei Stockwerken. Im
Parterre liegen Telephonzentrale, Empfangszimmer und Kontor-
räume für Zentralbuchhaltung, Reklame und literarische Ab-
teilung (Verlag der »Güldenkammer«), Einkauf und die Hälfte
der Verkaufsabteilung; hieran anschließend Schreibmaschinen-
zimmer, Diktierzellen und Probierstube, in der sowohl die
einzukaufenden Sorten als auch die zum Verkauf bestimmten
Kaffees eingehend geprüft werden. Darüber befindet sich die
andere Hälfte der Verkaufsabteilung nebst Schreibmaschinen-
zimmer und Diktierzellen, die Direktorenzimmer, das chemische
Laboratorium und ein Stock höher die Privatwohnung des
Hausmeisters und das Reklame-Museum. Sämtliche Räume
sind elektrisch beleuchtet, mit Zentralheizung versehen und
gentigen in jeder Hinsicht den hygienischen Anforderungen.
An das Verwaltungsgebäude schließt sich rechts die
Rösterei an, die in einem 6 Stock hohen Gebäude unterge-
bracht ist. Der extrahierte Kaffee gelangt unmittelbar vom
Kellergeschoß in das 6. Stockwerk mittels eines Preßgebläses,
durch das je nach Bedarf die 8 großen Röster gespeist
werden. In diesen Röstapparaten modernster Konstruktion
vollzieht sich die Röstung in ca. 6 Minuten. Ist der Kaffee
fertig und gut geröstet, so fällt er ein Stockwerk tiefer auf
große Kühlsiebe; durch Mitwirkung der durch Exhaustoren
zugeführten kalten Luftströme wird der Kaffee in wenigen
Minuten abgekühlt, so daß er sofort in den Voratssilos Auf-
nahme finden kann. Aus diesen Silos wird der Kaffee nach
Bedarf zur Verpackung entnommen, die in äußerst sinnreicher
Weise auf automatischem Wege erfolgt; die neuesten Modelle
der Wiege- und Verpackungsmaschinen sind hier in Tätigkeit.
In der dritten Etage sind die vier Tüten-Fabrikations-
maschinen aufgestellt, die den gesamten komplizierten Hand-
betrieb ersetzen und mit einer Präzision arbeiten, als ob in
ihnen eine hohe menschliche Intelligenz jede Funktion regulierte.
Die unterste Station bildet der Pack- und Versandraum mit
einer eigenen Post- und Zollstelle.
Der gewaltige Eisenbeton-Schornstein des nächsten Ge-
bäudes verrät die Maschinenhalle und das Kesselhaus mit der
automatischen Feuerung. Mittels der in der Nähe aufgestellten
Enteisungsanlage wird dem für die Speisung der Heizkessel
nötigen Wasser der Gehalt an Eisen und Kesselsteinbildnern
entzogen. Hinter der Fabrik ist durch den Bau eines Pumpen-
hauses für die Gewinnung von Grundwasser vorgesorgt.
Das 6. Gebäude enthält die wichtigsten Teile der Anlage,
nämlich die Maschinen und Apparate zur Koffeinentziehung.
Auch hier sind 6 Stockwerke vorhanden; in ihnen macht der
Kaffee die verschiedenen Stadien des Extraktionsverfahrens durch.
Der Vorgang bei der Extraktion ist kurz der folgende:
Aus dem Vorratshause gelangen die Kaffeesäcke auf ein
Transportband, welches sie durch den eingangs erwähnten
Transporttunnel in die untere Etage der Extraktionsanlage be-
fördert. Hier werden die Säcke in den Trichter eines Ge-
bläses entleert, durch das die Kaffeebohnen in die sechste Etage
in die dort aufgestellten Reinigungsmaschinen geschafft werden.
Nachdem der Kaffee hier von etwaigen Verunreinigungen,
namentlich von den dem Rohkaffee anhaftenden Häutchen
mittels Dämpfe befreit worden ist (einleuchtend ist es, daß
der so energisch gereinigte und entfettete Kaffee bekömmlicher
sein muß als jeder andere Kaffee, der eine solche Bearbeitung
nicht durchmachte), gelangt er in die Aufschließungsgefäße, in
denen er für die Entziehung des Koffeins vorbereitet wird.
‚Automatisch wandert der Kaffee in die Diffusionsbatterie, wird
durch flüchtige Lösungsmittel von seinem Koffeingehalt befreit
und einer Nachbehandlung unterworfen, durch die das Lösungs-
mittel, soweit es sich nicht selbst verflüchtigte, bis auf die
letzten Spuren entfernt wird. Schließlich fällt der bearbeitete
Kaffee in die großen Trockenapparate, aus denen er zur
Lagerung bezw. zur anschließenden Röstung entnommen
wird. — Ein vor kurzem errichteter Erweiterungsbau birgt
das Reklamelager, die Tischlerei, eine Reserve-Extraktion und
die Kartonagefabrik, in der die Wellpappe und sämtliche
Versand-Kartons hergestellt werden.
Die ganze Fabrikation ist, wie schon aus der kurzen Be-
schreibung hervorgeht, recht kompliziert, umsomehr verdient
es hervorgehoben zu werden, daß der Kaffee nirgends in direkte
Berührung mit Menschenhänden kommt. Von dem Augenblick
an, wo der Sack mit dem Rohkaffee aufgeschnitten und sein
Inhalt der Fabrikation anvertraut wird, bis zur Ablieferung
der fertig verpackten und verschlossenen Tüten mit koffeinfreiem
Kaffee arbeiten Maschinen und selbsttätig wirkende Apparate,
die nur verhältnismäßig wenig Beaufsichtigung und Be-
dienung erfordern.
Die Anlagen der Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen,
bilden sowohl durch die technische Einrichtung als auch durch
die kaufmännische Organisation eine Sehenswürdigkeit der
Handelsstadt Bremen. Die Gesellschaft gestattet gern den
Interessenten die Besichtigung der Fabrik. Jedem Besucher
Bremens, der für Handel und Industrie Interesse hat, sei des-
halb ein Besuch der Herstellungsanlagen des koffeinfreien
»Kaffeehaga empfohlen.
Aus der Besuchsliste der Kaffeehag.
Am 12. September besichtigte Prinz Carol von Rumänien mit seinem
Adjutanten, General Perticare, dem rumänischen Generalkonsul und einem
Senats-Vertreter die Herstellungsanlagen des coffeinfreien „Kaffeehag“. Der
Prinz hielt sich etwa zwei Stunden in der Fabrik auf und äußerte sich sehr
lobend über sämtliche Einrichtungen.
5
a
y
1
Nenere Äusserungen über das „Glldenkammer“-Unternehmen.
Frankfurter Zeitung: Aus der gehaltvollen Monatsschrift „Die Güldenkammer“ (folgt
Abdruck eines Artikels der „Güldenkammer‘).
Tägliche Rundschau. Wir haben schon wiederholt unter Wiedergabe von Proben ihres
gehaltvollen und anregenden Inhalts auf die im Verlag „Kaffeehag“ erscheinende
Monatsschrift „Die Güldenkammer“ hingewiesen.
Nachrichten für Stadt und Land, Oldenburg: Die Aufsätze legen Zeugnis für die vor-
nehme Haltung der Zeitschrift ab, die auf diese Weise wirklich einer wertvollen
Reklame dient. |
Deutsche Zeitung, Amsterdam: Besonders inhaltsvoll ist das eben erschienene Juliheft
dieser vornehmen Zeitschrift, anregend zur Zustimmung und Widerrede. Uns dünkt,
daß gerade der Anreiz zu letzterer ein Prüfstein für den Inhalt einer Zeitschrift ist.
Neues Tagblatt, Winterthur: .. Eine Monatsschrift, deren Inhalt unbedingt alle Aner-
kennung verdient.
Mercure de France: La „Güldenkammer" éditée à Brême par une entreprise de café
sans cafeine, produit connu en France sous le nom de Sanka, est toujours des plus
interessante. Elle se distingue par son attitude sympatique aux choses de France.
Gr. N. & Co.-Monatsschrift, Braunschweig: Das Schöne an dieser Zeitschrift ist, daß sie
tatsächlich für jeden etwas bringt. Schöne Literatur, Kunst, Musik, Politik, Religion,
alles kommt zur Besprechung, und zwar durchaus alles in objektiver, offener Art und
Weise. Die Zeitschrift ist daher als dauernd Wert behaltende Lektüre zu empfehlen.
Sozialwissenschaftlich akademischer Verein: Daß Ihr Blatt heute unter den führenden
rangiert, braucht Ihnen nicht versichert zu werden. Wir möchten es in der Reihe der
Zeitschriften unserer Lesehallen nicht missen.
Chefredakteur Keil, Stuttgart, Neues Tagblatt: Die „Güldenkammer* finde ich als
Kulturzeitschrift trefflich redigiert.
Cäsar Flaischlen: .. Man sollte den Aufsatz für literarische Moden im Märzheft der
„Güldenkammer“ in Lapidarschrift an sämtliche Litfaßsäulen anschlagen lassen.
Herbert Eulenberg: .. . mit der größten Zuneigung für Ihr schönes Unternehmen.
Dr. H. Stegemann: Die Mischung hanseatisch aristokratischen Wesens mit der ganzen
ästhetischen Kultur unseres modernen Lebens ist um so verdienstlicher, als diese
beiden Gegenpole in der Gegenwart leider meistens weit voneinander entfernt liegen,
und doch kann uns nur eine Verschmelzung auf die Dauer befriedigen. Die Idee
eines Verlages auf einem kommerziellen Unternehmen ist völlig neu und jedenfalls
sehr originell. Im Grunde ist es eine sehr gescheite Idee: Denn die Literatur ist nur
ein Zweig der Kultur, und wenn sie wirken soll, muß sie mit dem Leben inniger und
fester verbunden werden als bisher.
G. O. Knoop: ... An Journalen von ernsthafter und doch auch leichtflüssiger Art wie
die „Güldenkammer“ ist in Deutschland kein Überfluß.
Dr. Benedict, Rom: Für die „Güldenkammer* würde ich gern arbeiten, da ich aus der
mir zugänglich gewordenen Nummer den Eindruck gewonnen habe, daß hier ein von
der Masse der banalen Zeitschriften verschiedenes, Eigencharakter besitzendes Organ
vorliegt.
Dr. Hegner, Herausgeber der „Neue Blätter“: Vor längerer Zeit sah ich in Florenz
einige Ihrer Hefte und freute mich, daß wir in Deutschland endlich eine Zeitschrift
haben, die der gang und gäben Unterhaltungsliteratur abgeneigt und einer geistig
künstlerischen Bestrebung nicht verschlossen ist.
Emile Verhaeren: Les numéros de votre revue m'ont vivement interesse ... Vous ne
pourriez me faire plus de plaisir qu'en m’envoyant régulièrement votre, Güldenkammer“.
.—
Der mißverstandene Kaffee.
Der bekannte Berliner Humorist Robert Steid! erzählt in der Jubiläums-
nummer 200 des „Organs der Variétéwelt“ sein jüngstes Erlebnis:
Ich tingelte jüngst in Marienbad —
Es war ziemlich kühl, zirka 4, 5 Grad —
Und klingle dem böhmischen Stubenmäd!l,
Sie kam, und ich sagte: „Geliebte Gred'l,
„Das Wetter ist heute ja wieder zum Schreien,
‚Ich möcht' einen Kaffee, aber coffeinfreien!“
Fort eilt sie, kommt wieder und sagt mit Geplärr:
„Der Ober läßt bitten den gnädige Herr,
‚Daß mit den Kaffee ieberlegen sich sollen,
„Ob lieber auf Veranda trinken ihn wollen,
„Oder in Speisesaal, werden verzeihen,
‚Ist haite zu kolt fler Koffee in Freien!“
Ägypten-Schnelldienst des Norddeutschen Lloyd.
Mehr und mehr hat in den letzten Jahren der Touristenverkehr nach
Ägypten zugenommen. Der Norddeutsche Lloyd unterhält bisher außer den Fahrten
seiner Reichspostdampfer, die auf ihrer Reise nach Ostasien bezw. Australien
Genua und Port Said anlaufen, zwei Mittelmeerlinien. Von Marseille fahren die
Dampfer „Prinzregent Luitpold“ und „Prinz Heinrich“ direkt oder auch über
Neapel nach Alexandrien. Um nun dem ständig sich steigernden Verkehr nach
Ägypten nachzukommen und auch den Reisenden, die auf der Hin- und Rückreise
nach Ägypten Venedig und die Adria besuchen möchten, eine gute Fahrgelegen-
heit zu bieten, hat der Norddeutsche Lloyd in dieser Saison eine neue Linie
zwischen Venedig und Alexandrien eingerichtet. Der Dampfer „Schleswig“ des
Norddeutschen Lloyd fährt alle 14 Tage Sonntags 11 Uhr morgens von Venedig
und Sonnabend nachmittag 2 Uhr von Alexandrien nach Venedig zurück.
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Die
Güldenkammer
Herausgeber:
S. D. Gallwitz - G. F. Hartlaub - Hermann Smidt
Arnold Zweig: Die Passion.
enschenstimmen machten den Saal erbrausen, geübte
M und klare, ein lobsingender Strom. Weißgekleidete
Frauen standen in tiefen Reihen und sangen mit weitem
Mund, über ihnen türmten sich die Plätze der Tenöre und der
Bässe, und das Orchester schnitt den ganzen Chor in Hälften und
schob sich dazwischen bis hinauf zu den blauen Fenstern, die die
rote Wand des Halbrunds teilten — ein breiter, schwarzer Streifen,
über dem die Bogen der Streicher rhythmisch stiegen und der vom
Metall der Hörner blitzte. Aber zwischen den hohen, hellen
Mauern, tief unter der braunen Decke, von der summende Lampen
milchig leuchteten, saßen geduckt die Hörer, und über ihre Köpfe
hin tobte die Wucht des Gesanges, schlug schäumend an den
Wänden empor, schien das Licht zu verdunkeln und schüttelte, in
die Körper aller der Menschen dringend, ihre Herzen wie ein
einziges großes Herz. Sie klangen wie Chaos, diese Chöre, sie
riefen in Verwirrung nach Donnern und Blitzen — waren sie in
den Wolken verschwunden, daß. solches geschah —? und sie
schrieen nach den Pforten der Hölle, damit sie sich öffne, den
Stifter des Unheils zermalmend, zu verschlingen; Jesus war ge-
fangen worden, Judas hatte ihn verraten — und der Chor empörte
sich selbst, statt dieses allzulangmütigen Donnerers, er selbst raste
. wie Flammen in den Höllentoren, Blitzen gleich gellten die Flöten
und der Aufschrei der Tenöre, und das rastlose Brausen der
D Stimmen, die einander forttrieben, ihre kunstvolle Wildheit und die
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düstere Szene um den gefangenen Heiland, welche die Worte
malten, gaben die chaotische Verzweiflung selbst, in der jedes Gesetz
erloschen schien und jeder menschliche Trost. Aber dies Chaos
war von genauen Regeln erzeugt, dieses Durcheinander von ge-
führten Stimmen und tönenden Instrumenten ordnete sich nach
66 Arnold Zweig:
wenigen Gesetzen zu einem übersichtlichen Gebilde, und die
Rhythmen, die sich verwirrten und kreuzten, die Harmonien, die
sich bedrängten und auswichen, unterlagen dem unerbittlichen
Maße eines frommen Meisters und seiner andächtigen Kunst. Dort
regte sich der Dirigent: aus dem kleinen Herrn im Frack und mit
dreieckiger Glatze hatte sich das hundertjährige Werk ein Werk-
zeug geschaffen um wieder einmal zu entstehen, hatte einen
Menschen aus Enge und Einzelsein in die weiteste und leiden-
schaftlichste Hingabe entrückt, und leitete sich selbst mit dessen be-
wegten Armen, zuckendem Körper und dem Geiste, der ganz in
Musik gelöst war; und durch ihn ließ es die Solisten, die vorn
auf ihren Stühlen saßen, aufstehen und singen mit dem Ganzen
ihrer erlernten Kunst, ließ es die Chöre zu einem metallenen
Gusse zusammenschmelzen, der aus jeder Kehle gespeist wurde,
ließ es die Geigen saugend singen und die Bässe tönen, tief und
gesägt, und wirbelte die Hörenden, all die ungezählten Einzelnen,
in eine tief horchende, in Reihen geordnete und namenlose Menge.
Vor ihr erbaute sich die Matthäuspassion; eben ging der erste
Teil zu Ende.
Walter Rohme und Claudia saßen unter ihnen, auf Stühlen,
die in einem Gange standen, außer der Reihe, denn sie waren zu-
fällig und spät hierhergeraten und fremd in fremder Stadt; aber
sie unterlagen dem gleichen Banne. Claudias Kinn war auf die
Brust geneigt, die sich unter schillernder Seide langsam hob, grün
und blau zerrinnend wie eines Pfauen Brust; ihre Hände ruhten
zusammengelegt im Schoße, und die Wimpern der festgeschlossenen
Augen breiteten sich auf der Haut der Wangen wie elfische Fächer.
Walters Ellbogen stützte sich auf den Schenkel, und das Gesicht
des Gebeugten lag in der flachgerundeten Hand. So saß er und
lauschte. Sein Wesen war vom Hören schwer wie Metall und
ganz an das Werk weggegeben. Das letzte Gefühl seiner bewußten
Person war jenes erlösende Danken gewesen, das er empfand,
als Claudia bei den Einsetzungsworten des Abendmahls endlich
ihre unfruchtbare kritische Haltung aufgegeben hatte und die
Musik einfach hinnahm, tief in sich geschmiegt, wie sie noch jetzt
schien. Seither hatte er nichts Deutliches mehr gedacht. Hin und
wieder tauchten Gesichte auf und zergingen, Bilder, die aus dem
Inhalt des Werkes erwuchsen: als der Evangelist vom Ölberg er-
zählte, lag auf einen Augenblick in Finsternis und unter rauschen-
den Bäumen ein Mensch auf der Erde, hingeworfen wie ein weiß-
licher Sack, und krümmte sich vor dem Schicksal, und seine Helfer
schliefen und hörten nicht auf zu schlafen. Auch sprach es in ihm
einmal den Namen Klaus Manths mit einem tief verächtlichen
Die Passion. 67
Ausdruck, und als beim letzten Nachtmahl die Stimme des Sängers
und der schwebende Gesang der Geigen zu einer unbegreiflichen
Einheit und unirdischen Herrlichkeit zusammenbrannte, hatten
seine Lippen den Namen des Meisters geflüstert: „Bach, o Bach!“
weil er das Glück nicht ertragen konnte. Aber sonst war der
Mensch, der erzählte Vorgang und die Musik im lodernden Er-
leben zu einem formlosen Ding eingeschmolzen. Es war sein
Geschick, dem all das Klingen vorne galt, und er selbst war dar-
ein verflochten und nicht verwandelter als in einem Traum. Er
hatte die unvergängliche Schwermut gefühlt, mit der diese Worte
gesprochen wurden: „Wahrlich, ich sage euch, einer unter euch
wird mich verraten,“ und sogleich war er vertauscht in einen
derer, die in Verstörung fragten: „Herr, bin ich's?“ — und einer
der Ratlosesten, entsetzt, daß. in ihm vielleicht dennoch ein Dämon
hauste, der den Geliebten verriet — denselben, um den seine Seele
vor Erbarmen schauderte, als er klagend ausrief: „Ach, wollt ihr
nun schlafen und ruhen? .. . Siehe, er ist da, der mich verrät.“
Dann hielt ihm die Angst den Atem an, wie der Jünger den
Meister küßte, und jener, der alles Zukünftige von Anfang schaute,
ihn traurig fragte: „Mein Freund, warum bist du kommen?“ und
auch von dieser geisterhaften Gelassenheit und Güte eines schon
Abgeschiedenen zu wissen, war ihm gewährt, nach dem Grauen
der Verzweiflung von Gethsemane. Er hatte sein Ich im Zauber
der Klänge, die durch alle Poren in ihn eindrangen, ausgestreut
wie in Wind und erntete dafür die beengende Seligkeit, in der er
dumpf ruhte. Alles, was er fühlte, jeder Augenblick der Stunde
war mit schwer tropfendem Glück getränkt, das wie Honig duftete
— wäre er je dafür offen gewesen, wenn nicht Claudia neben ihm
gesessen hätte unter all den fremden Leuten? Einmal, als vorhii
in Gethsemane die Stimme des ganz einsam Leidenden seinem
Herzen allzu nahe tat, wandte er einen hilflos greifenden Blick
beiseite, völlig ohne es zu merken, und verspürte tiefe Beruhigung,
als er die ganz in sich versenkte Frau reglos neben sich gewahrte.
Getragen vom Wissen, um die Verbundenheit mit ihr und um die
Gemeinsamkeit dieses Fluges hatte er sich glücklich lachend in
das Werk geworfen wie ein Habicht in den Wind, der ihm unter
den Flügeln steht, und die brausendsten Fittiche sollten sie beide
hineintragen, miteinander und einander grüßend, zum ersten Male
als Mann und Frau in die Erhobenheit der letzten Größe
und Kunst.
Musik band ihn ganz — hatte er doch das Glas abgelegt, um
nur zu hören — und so entging ihm, daß er sich täuschte. Claudia
war nicht in Lauschen versunken, sondern in Schlaf; sie
68 Arnold Zweig:
schlummerte inmitten allen lauten und bewegten Singens wie ein
Schiffsjunge im Mastkorb, wenn es stürmt. An ihr rächte sich die
Anstrengung des Tages. Trotz mehrerer Reisestunden folgten die
Heimkehrenden einem froh aufspringenden Verlangen, die Matthäus-
passion zu hören, die nach Aussagen Mitreisender am Abend in
einer der nächsten Städte ausgeführt wurde. Sie stiegen aus, ließen
ihren Zug unbekümmert weiterfahren und verwanderten die beiden
freien Stunden in dem alten Städtchen, übermütig in ihrer Fremd-
heit und Ungebundenheit und spitzbübisch entzückt von dem
Abenteuer, das sie sich bereiteten. Aber kaum in dem warmen
Saale und unter allzu vielen Menschen, fiel Claudia so jäh in
Müdigkeit, daß nicht einmal der starke Kaffee, den sie getrunken
hatten, den Schlaf vertrieb; zumal sie noch mancherlei besondere
Gründe hatte, sich schwer zu fühlen. So hatte sie anfangs ohne
jede Freude vor der Aufführung gesessen, hatte kritisch und
kundig alle ihre Unvollkommenheiten ausgespürt — fehlte doch
selbst die Orgel im häßlichen Saale, während drei oder vier alte
Kirchen wundervollen Raum und sicherlich große Orgeln boten!
— war endlich eingeschlafen und schlief noch. So hatte sie geruht
und hastig fliehende Träume gehabt, während um sie Choräle ge-
sungen wurden, in denen eine ganze Gemeinde ihre Sünden büßte
oder sich dem Heiland weihte, während Arien von Frauenstimmen
klangen, begleitet von zwei Flöten, zwei Oboen oder Geigen,
gleich und verschieden wie die nebeneinander ausgestreckten Arme
eines Mädchens, das sie sang, und so kunstvoll und rein wie alte
kristallene Becher; Frauenstimmen hatten sich vermählt, Männer-
stimmen sie getrennt; der Heiland sagte mild und wie fernglänzend
seine Worte, und Chöre waren darauf erschallt, denen wie dem
letzten der strenge Kanon von acht verschobenen oder gemeinsam
brausenden Stimmen eine Größe und Wucht lieh, die sich nur in
Shakespeareschen Versen sagen läßt. Selbst als die stille Stimme
des Evangelisten nach der lauten Erregung zu berichten fortfuhr,
mit maßvoller Melodik und in epischer Schlichtheit, wie der ge-
fangene Jesus dem schwertfrohen Jünger wehrte, regte sie nur
leise die eine Hand und erwachte nicht. Und der Herr redete.
Walter Rohme hob den Kopf, atmete tief und trank die Stimme
des Sängers, aus dem der Heiland sprach. Sie war mild und süß
und hatte einen Ton von unbefleckbarer Hoheit und Reinheit, als
käme sie von weither, wo Menschen ihr nichts mehr antun konnten.
Er genoß sie mit inbrünstigem Entzücken; im zweiten Teil würde
sie wenig mehr erklingen, sie und die langgedehnten hellen Har-
monien, die sie umgaben, so unbeweglich und leuchtend wie ein
leiligenschein um den Kopf seines Trägers schwebt. Er wünschte
Die Passion. 69
dringlich, daß der Herr die Legionen Engel riefe, von denen er
sprach, denn es war schwer erträglich, soviel Güte und Adel in
den Händen eines Volkes zu wissen, das nach Kreuzen schreien
würde. Und er begriff, daß die Jünger flohen vor dieser nicht
mehr menschlichen Fremdheit gegen eigenes Leid. Die Stimme
schwieg und der Evangelist; und die tändelnden und dennoch
leidvollen Seufzer von Oboe und Flöte stiegen auf, die den
Schlußchoral des ersten Teils einleiteten. Er hörte, wie sie neben-
einander in kleinen Schritten aufstiegen, jah um ganze Oktaven
fielen und von neuem beginnen mußten, um jäh zu fallen oder
mählich abzusteigen mit kurzem Hinundher und Trillern auf
manchem Ton; dann begann der Sopran langsam den altertüm-
lichen Choral, in langen gleichen Noten eine Melodie, die sich
kaum hob und senkte: „O Mensch, bewein dein Sünde groß...“
Walter Rohme war damit vom genauen Studieren des Werkes ver-
traut und hörte den Anfang mit großem Genuß, aber die tiefe
Befangenheit und Verzauberung war verschwunden. Die rauhe
und simple Theologie des Textes hallte in ihm nicht wider, wenn
er auch die alten Zeilen und ihr barsches Deutsch sehr liebte:
„den’n Toten er das Leben gab und legt dabei all Krankheit ab,
bis sich die Zeit herdrange. ..“ Die drei anderen Stimmen
drängten sich ineinander und spielten beweglich und ernst um den
langsamen Sopran und seine von der Last der Sünde schweren
Schritte. Vor allem aber war das Ende zu fürchten. Nach dem
letzten Tone würde der Beifall losbrechen, ein wohlverdienter
Beifall zweifellos, der aber alles Zarte und Nachhallende, die
schwebende, undeutliche Süßigkeit der ersten Minuten nach dem
Werk ohne Gnade zerschlug — das Feinste des Genusses und das
Ehrfürchtigste der Stimmung. Walter Rohme haßte ihn sehr; er
litt körperlich unter dem tierischen Knallen der aufeinanderge-
schlagenen Barbarenhände. Welchen Tumult würde man nachher
feiern! und was zu ertragen war, näherte sich jeden. Augenblick:
‚daß er für uns geopfert würd,
trüg unsrer Sünden schwere Bürd® ...
Es war widerwärtig, daß ein ganzer Reichtum von Verschiebungen
der Rhythmen, von Harmonien, die sich flüchtig berührten, schnitten
und durchdrangen, von kontrapunktischem Gegenströmen und In-
einanderfließen ungenossen bleiben mußte. Doch je näher der
Choral dem Ende zustrebte, desto quälender war die Angst. Seine
Seele krümmte sich frierend ein: der tobende Lärm würde sie wie
Hagel treffen. Er wünschte inständig, das, was jetzt gesungen
wurde, möge nicht die vorletzte Zeile sein. Aber sie war's, und
unabwendbar schloß sich die letzte an: „wohl an dem Kreuze
70 Arnold Zweig:
lange.“ Der Dirigent nahm den Stab zu den hingedehnten Noten
des Schlusses hoch: der Sopran hielt mit schwellendem Atem den
Schlußton lang, lange, während der Baß sich zu einer auf- und
absteigenden Figur rüstete — dann winkte die linke Hand und
die Stimmen schwiegen wie abgeschnitten. Walter Rohme verhielt
die Luft in der Brust und machte sich stark, indem er sich von
dem Gedanken an das nahe Getöse abhärten ließ; die Bläser liefen
in Sechzehnteln aufwärts, setzten noch einmal tief ein, stiegen
schräg auf in den endenden Akkord — und der Dirigent ließ
Stab und Hand müde fallen.
Ein Augenblick lautlosen Schweigens trat ein.
Jetzt, sagte Walter Rohme zitternd.
Die Leute erhoben sich und verließen stumm den Saal. Sie
gaben sich Mühe, geräuschlos zu gehen.
Er begriff erst nicht; dann wurden seine Augen weit in
fassungsloser Überraschung, die wie ein stürmisches Glück in ihm
aufsprang, und ein Schauer von Erlösung erkältete ihn, während
sein Herz schwer pochte. Sie hatten Ehrfurcht. Ihre Seelen waren
erhoben und wollten es bleiben. Ihr Gefühl verbot ihnen die
billige Erleichterung, mit der sie sonst jede Erhebung in Geräusch
umsetzten. Sie waren edler und zarter, als er gedacht hatte. Und
er bat sie inbrünstig um Verzeihung wie für eine Kränkung. Man
strebte stumm nach den Türen; in allen Augen hing noch der
Glanz des klingenden Traumes und schloß alle Lippen. Nur vom
Gerüst des Chores herab schallte das unbekümmerte Schwatzen
der abgehärtetsten Sängerinnen und die vielen Schritte der Er-
müdeten dröhnten auf dem hohlen Holze. Walter verzieh ihnen.
Er fühlte sich wie jung vor Dankbarkeit gegen diese Unbekannten,
daß sie sich gutgesittet zeigten und vor dem großen Werke sich
beherrschten, und wandte sich stürmisch zu Claudia, damit sie
seine Freude teile. Sie saß noch immer reglos wie vorhin. Um
sie her stand alles auf und begann halblaut zu reden, eine Frau
drehte sich um und streifte ihre Schulter mit der Robe. Darauf
bewegte sie leicht den Kopf und die eine Hand: von einem brüsken
Verdachte geschleudert warf er sich vorwärts, ihr ins Gesicht zu
blicken — und in dem Augenblicke ihres Erwachens merkte er,
daß sie geschlafen hatte.
Er empfing einen Hieb quer übers Herz. Er richtete sich auf,
er lächelte noch, aber starr und mit leerer Miene, aus der Sinn
und Leben entwichen war. Sie hatte geschlafen. Sie hatte die
ganze Zeit geschlafen. Während er sie an seiner Seite spürte und
glücklich war, weil sie sein Glück teilte, flog ihre Seele abseits
und lautlos umher, fledermausbeschwingt, taumelte durch dunkle
Die Passion. 71
Atmosphären und vermummte sich in Gestalten von Träumen.
Und doch war ihre Freude, neben ihm diese Musik zu hören, ein
Versprechen gewesen. Sie hatte es nicht gehalten — sollte er
nicht unglücklich sein über diesen Betrug und entdeckten Verrat?
Aber er war es; Trauer erfüllte ihn, die schon beschattet war von
noch fernem Zorn. Er wußte nicht, was in ihm von dieser Über-
raschung verletzt war, und nun litt: Leid um die aufgehobene Ge-
meinsamkeit, nach der seine Liebe strebte, aber auch Eitelkeit des
Mannes, dessen Botmäßigkeit jemand unversehens entschlüpfte,
Enttäuschung, als hätte er sie überschätzt — und auch hierin der
Stachel: du konntest überschätzen! und selbst die Pedanterie, die
sich sagte: man hört in Konzerten zu und schläft im Bette
er überließ sich seinem Gefühl mit gutem Gewissen, wies es ganz
seiner Liebe zu und saß ohne Fassung, ohnmächtig, sich zu er-
heben oder sie ganz zu wecken, fühlte sein Herz schwer schlagen
und blickte vor sich hin. Sie hatte diese Stunde Seligkeit dumpf-
schlafend verwehen lassen. Sie öffnete die Augen, blinzelte
vor dem Licht, lächelte wie ein müdes Kind und sagte mit hellem,
verwundertem Stimmchen: „Ich habe geschlafen!“ Er antwortete
nicht und besah den Fußboden. Sie entdeckte, daß die Leute
hinausgingen und schrak auf: „Es ist doch nicht schon aus?“
Sie zog schnell die kleine Uhr: „Nein,“ antwortete sie sich; „der
erste Teil.“ Und dann strengte sie sich an, ein Gähnen zu ver-
stecken.
„Allerdings,“ sagte er mit abwesender Stimme, „du hast ge-
schlafen.“ Darauf hob er endlich die Augen und erschrak über
ihr von Müdigkeit zerstörtes Gesicht: es schien ganz verfallen,
gelblich und farblos, und um die Augen wanden sich tiefe braune
Schatten. Er begriff erbleichend, daß sie nicht hier bleiben durfte;
die Erkenntnis hob sich zwar erst in äußere Schichten seines
Wissens, aber sie war unabweislich und drang mit jedem Herz-
schlag tiefer in ihn ein. Er wußte: wenn sie nicht verlangte, weg-
zugehen, mußte er sie dazu auffordern; das war seine klar da-
stehende Pflicht.
„Ich wurde plötzlich müde, Liebster,“ sagte sie mit schul-
digem Gesicht, „ich bin's noch immer, das ist doch erst die Pause,
nicht wahr?“
Er überhörte die Hoffnung in ihrer Stimme nicht, das Gegen-
teil zu vernehmen, auch bemerkte er flüchtig, wie rührend ihre
Hallung eigentlich war, aber jetzt schüttelte und verhärtete ihn
der jäh genahte Zorn. Er mußte den zweiten, den schönsten Teil
der Passion opfern, der die gewaltigsten Chöre und seine liebsten
Arien enthielt, mußte alle Erwartung, alle Erhobenheit und Ent—
vaye ———— ent 2 ——
—
————— . — 2 — —— — es
72 Arnold Zweig:
zückung glatt streichen und weggehen, weil sie müde war. Er
rollte ihr dafür und gab sich diesem Grolle rücksichtslos hin,
kaum, daß er versuchte, ihn nicht in den Ton fließen zu lassen,
mit dem er aufstehend sagte:
„Für uns ist's der Schluß.“ Und nach einer winzigen Pause
— es war gar zu schwer: „Du mußt zu Bett.“ Das war gesagt.
Nun würde sie sich sträuben, und auch das durfte er nicht gelten
lassen. Sie tat es: „Aber du? Nein, bleiben wir. Ich verderbe
dir den Abend.“ Da konnte er sich nicht enthalten, zu erwidern
— und er war nicht stark genug, einen freundlicheren Klang zu
erzwingen: „Glaubst du, daß ich zu irgendeinem Genusse komme,
wenn du dich nebenan quälst und einschläfst?“ Er wußte, das
war eine Anklage, so wie er gesprochen hatte, und sie würde es
fühlen. Aber er bereute es nicht, noch kam er sich niedrig vor.
Sie stand schweigend auf und ging gesenkten Kopfes hinter ihm
hinaus. Sie wollte nicht weinen, und es gelang ihr. Er sah das
nicht; ihr Schuldgefühl konnte ihn nicht versöhnen. Er war ganz
bitter vor zielloser Wut; er verließ sie, drängte ohne Rücksicht,
denn alle Vorräume waren voller Menschen, die sich unterhielten,
zur Garderobe — irgendwie mußte er sich entladen —, warf der
zedienung unfreundlich die Nummer hin und beschwerte sich in
ausdrücklicher Mühsal mit den Überkleidern. Ach was, Manieren,
dachte er. Sie war ihm entgegengekommen, damit er Weg spare,
nahm ihm eilig den kleinen Hut ab, schlüpfte in die lange Jacke
aus Pelz und wartete, bis er angezogen war, während jedermann
sie erstaunt anblickte.
Im äußersten Eingang stand ein junger Mensch ohne Hut im
Gespräch mit einem Mädchen. „Jawohl,“ sagte er, während er
ihnen Raum gab, „aber die größten kommen erst.“ Nein, Sie Esel,
sagte Walter in sich zornig, für mich kommen sie nicht! Er
erriet, es war von Chören die Rede oder von Arien. Und während
Claudia schwer an seinem Arme ging, quer über die Straße und
unter Bäumen fort, hielt er sich vor, was er alles versäumte: da
waren die Chöre, in denen das Volk nach Barrabas schrie und
„kreuzige“, wie aus Urgründen des Irrsinns heraus; die Chöre
des Hohns unterm Kreuz und die harten Choräle der verlassenen
Gläubigen, da waren Duette von Frauenstimmen und die ergreifend
!eidvolle Gefaßtheit des erzählenden Evangelisten; da waren vor
allen anderen Arien, die nach den Worten „Am Abend, da es
kühle war“, und jene beiden von einer Sologeige begleiteten. Er
hätte sie, vom Schlafe geweckt, spielen können, die für Alt rhyth-
misch verschmitzt und sanft, die Baßarie heiter über die Reue des
Sünders und bei aller Einfachheit viel Einsicht erfordernd. . . Er
ht = — . ) —ä — . .—
Die Passion. 73
hörte nie oft genug ihren triumphierenden Gang: „Gebt mir
meinen Jesum wieder“... Und heute stand er auf und mußte
vor ihr davon gehen.
Claudia schmiegte sich bittend an ihn und atmete gierig
von der reinen, feuchten Nachtluft, während sie noch immer unter
Bäumen hingingen: „Wie wundervoll!“ sagte sie, „atme doch,
Walter. Ich glaube, nur die Luft war schuld da drinnen. Die
vielen Menschen!“ und nach einigen Schritten fügte sie hinzu:
„Ich werde ganz munter, wirklich, Lieber. Wollen wir zurück-
gehen? Wenn wir schon Zimmer hätten, müßtest du bleiben, ich
bestände darauf. Aber ich traue mich nicht allein in ein fremdes
Hotel.“
Diesmal fühlte er stark, wie rührend und demütig sich ihr
Wesen gab; aber was sie anbot, nahm er nicht an — außer allen
anderen Gründen hätte die Wollust des opfernd Leidenden das
nicht gestattet. Aber er sagte nur, und er sagte es sanft: „Und
drinnen hättest du wieder die Luft und die vielen Menschen.“ Sie
neigte sich im Gehen vor, um ihm dankbar ins Gesicht zu lächeln
und fügte sich: „Sie haben mich eigentlich gräßlich gestört und
sind an allem schuld,“ meinte sie nachdenklich. „Sie und...
und noch anderes. Dich nicht auch?“ „Nein,“ antwortete er.
„Was anderes?“ Sie schwieg und er fragte nicht weiter. Er hatte
ihren Blick bis tief im Herzen gespürt und fühlte wieder, wie sehr
er sie liebte. Er schämte sich seiner Unbeherrschtheit, schämte
sich allen Grolls und selbst des Bedauerns um die verlorene Musik.
Er hatte nicht einmal den Willen geregt, diese fremden, häßlichen
Gefühle gegen sie aus seiner Seele zu schaffen, gegen sie, die er
zu innerst zu lieben glaubte, und hatte sich vom Ärger vergiften
und erniedrigen lassen! -Er hatte sie mißhandelt. Er war sich
verächtlich geworden und bereute sehr. Er schuldete ihr Abbitte
und noch viel mehr, er mußte irgend etwas in sich finden, das er
ihr anvertraute, etwas Zartes und ihm Zugehöriges, damit er in
seinem Urteil wieder ein wenig gerechtfertigter dastand. Sein
ganzer Geist erglühte in Scham, Reue und Liebe; er drückte ihren
Arm eng, ganz eng an seine Brust, und machte vor Erregung
größere Schritte. „Nicht so schnell, Lieber,“ bat sie sanft.
Sie wanderten schon auf der Straße im grünen Lichte des
Gases; das Pflaster war feucht von Regen und ein bißchen
schlüpfrig; dahin deutete er ihre Worte. „Gehen wir denn richtig?“
fragte sie. „Ich denke, Liebling. Wir sind bald da; jetzt ganz
gerade aus, und das letzte Haus auf der rechten Seite sei das
Hotel. Sagte der Schutzmann nicht so?“ „Ja. Ich will nicht
schlafen, ich möchte nur ein bißchen liegen.“
74 Arnold Zweig:
Er hielt an und hob ihr beschattetes Gesicht in die Helle der
Laterne: „Du siehst so müde aus, Liebste“ .. . Zärtlichkeit
drängte ihr entgegen und erstickte seine Stimme; er küßte den
Handschuh über ihre Hand und nahm ihren Arm; sie schmiegte
die Schulter ein wenig an die seine und so gingen sie schweigend
verade aus. Er dachte nur an sie und fühlte, wie schmerzlich er
sie liebte und wie er bereute.
Sie überschritten die Hauptstraße der engen Stadt, über der
rötliche Bogenlampen in langer Schnur wie aufgereihte Sönnchen
schwebten, und setzten ihren Weg fort. Die Töne einer leisen
Drehorgel wehten ihnen plötzlich beginnend entgegen; sie spielte
den Hohenfriedeberger Marsch ein bißchen verstimmt und näselnd,
aber gar nicht widerwärtig. Walter summte mit: „Auf, Ansbach-
Bayreuth, nimm um deinen Degen und rüste dich zum Streit“...
Der sanfte Klang gab der kriegerisch schreitenden Musik eine
zierliche Farbe. Claudia lachte plötzlich: „Und vorhin hat uns
die Orgel gefehlt!“ Er belachte ihren Einfall befreit und selig und
mit seinem ganzen Herzen. Er war glücklich über ihre Heiterkeit,
sehr glücklich: sie schien nicht mehr betrübt. Er suchte in seiner
Börse, und als sie an dem Leiermann vorübergingen, der sich,
ein dunkler Umriß vor Dunkelheit, sitzend ans Geländer einer
kleinen Brücke lehnte, warf er ihm ein Geldstück in den Hut, das
auf die andern fallend nach Silber klang. Claudia freute sich, daß
er nicht kleinlich gab, sah ihn aber dennoch fragend an. „Ein
Opfer,“ sagte er froh, „ein Sühnopfer. Und ist der Hohenfriede-
berger nicht Gold wert?“ „Du brauchst nicht zu opfern,“ lächelte
nun sie, und er meinte ernsthaft: „Doch“. Sie näherten sich dem
Hotel; vor der steinernen Treppe flüsterte sie hastig: „Nimm bitte
zwei Zimmer, ja, Walter? Ich sage nachher, warum.“ Er er-
staunte: „Selbstverständlich“ .. . Und indem eine bange Frage
in ihm aufging, traten sie ein. Vielleicht war sie dennoch nicht
versöhnt? Aber er hatte mit dem Portier zu verhandeln, und als
er sie die Treppe hinaufbegleiten wollte, wehrte sie ab: „Bleib
unten, Lieber, und iß. Nimm dir Zeit, denn ich kann dich jetzt
nicht brauchen,“ und sie lächelte dazu.
Walter Rohme saß noch einen Augenblick müßig im Speise-
zimmer; Claudia hatte sich eine Kleinigkeit in ihrem Zimmer ser-
vieren lassen. Er sog an seiner Zigarre; wenn eine der vielen
Fragen, die ihn nicht verließen, einen Augenblick schwieg, ver—
nahm er in der Stille ein Konzert von bruchstückhaften Melodien:
die fröhliche Geigenstimme der Baßarie begann und brach nach
einem Triller ab, der Hohenfriedeberger schob seinen Marschtakt
ein, und immer wieder sank die Stimme Christi klagend und fern:
Die Passion. 75
Ach, wollt ihr nun schlafen und ruh’n? Er schmeckte den süßen
Rauch mit dem Gaumen und entließ ihn durch die Nase, als
dampfte der Atem eines großen Tieres; aber weder die Fragen
noch die Melodien vermochte er fortzublasen wie ihn. Er wußte
nicht, ob Claudia etwa krank war oder ob sie ihm zürnte; er
begriff nicht, wieso er sich hatte so gehen lassen können und was
in dem stummen Sicherheben der Menge so tiefe Wirkung auf
ihn geübt hatte, daß er sie alle sah, wenn er die Augen schloß,
immer nur diese lautlose Geste des Sicherhebens. Wenn das aber
nur die Kraft des Stoffes war, der biblischen und heiligen Ge-
stalten, denen von Jugend auf Ehrfurcht geboten wurde? Und
wenn es so war: änderte das den Wert jener großen Gebärde?
Und wie?
Er fand, daß er hier keine Ruhe zum Antworten habe, es
gab Abendgäste und der Kellner lief frackwedelnd hin und her;
vor allem aber vibrierte in ihm die angstvolle Ungewißheit um
Claudia, schrill und quälend wie eine dünne Saite. Er beschloß,
oben zu Ende zu rauchen, fragte nach der Nummer seines Zimmers:
neun, im ersten Stock, und erstieg die mit grauen, rotgekanteten
Läufern belegte Treppe so abwesend, daß er, oben angelangt, das
Bein allzuhoch hob, als sei da noch eine Stufe, und heftig auf-
stoßend niedersetzte. War Claudia wirklich krank oder nur
zornig? Er trat in sein Zimmer; hinter den offenen Fenstern
blaute tief der nächtliche Himmel; aber halb mechanisch schaltete
er das Licht ein, und es fiel von der Decke wie ein weißer Block,
der den Raum ganz füllte. Er musterte ihn, indem er wünschte,
endlich daheim zu sein, der Gasthäuser ledig; nahe an einem
Fenster stand der Tisch vor einem halbrunden Sofa, ihm gegen-
über ging die Tür zu Claudia, die er hatte aufschließen lassen,
und sein Bett erstreckte sich weiß an der dritten Wand nahe den
Birnen, man sparte das Nachtlicht. Er ließ sich schwer in das
Sofa sinken, so daß es klang, und blinzelte dem Rauche nach,
der im jetzt dunklen Blau verströmte. Jetzt, wo er der Geliebten
ganz nahe war und die Antwort jeden Augenblick holen konnte,
ward die gellende Saite langsam schlaff, wie wenn eine Hand sie
abspannte, und die Ungeduld verstummte. Er wollte ihr ein
Zeichen geben: er weile nebenan, und pfiff die ersten Takte des
Hiohenfriedebergers; dann wartete er, daß sie ihn rufe. Die Stille
sickerte in ihn ein, die allenthalben schwebte wie draußen die
leuchtende Farbe, die nirgends haftete und dennoch da war. Und
kaum wartete er so einige Minuten und lauschte sich, da vernahm
er auch leise Antworten, erst halbklar, dann ganz verstanden:
und sie lauteten so überraschend, daß er in Staunen aufstand und
76 Arnold Zweig:
vor sich hinsah, und ein seltsames Glück darüber verspürte: Ehr-
furcht war es und Sehnsucht. . .
Claudia rief durch die Tür gedämpft: „Walter?“ Endlich!
Er legte schnell die Zigarre hin. Sie lag zu Bett und lächelte
ihm zu, in der Helligkeit, die das Licht in breiten Streifen ein-
brechend auch dort verbreitete, wo es nicht hinreichte. Er zog
einen Stuhl heran und saß, halb über ihr Gesicht gebeugt, und
besorgt blickend. „Du rauchst,“ sagte sie, „und ich störe dich.“
Die innigste Zärtlichkeit stieg auf: „Bist du noch böse, kleines
Mädchen? Ich war sehr unartig, es ist wahr. . .“
„Aber ich verdarb dir den Abend! Du hattest Recht auf Wut.
Und schließlich hast du mich ja nicht geprügelt. .“ Er neigte sich
über ihren Kopf, sie lag verhüllt bis ans Kinn, und küßte die
lachenden Lippen und die Augen, die ihn grüßten. Nein, das
klang nicht nach Groll, sie hatte ihm verziehen, diese Gütige, und
blickte ihn klaren Herzens an: welches Glück! Und ihre Stimme
klang weder müde noch krank. ..
„Gib mir die Hände,“ bat er, „ich muß sie ohne Handschuh
küssen.“
„Laß, sie fühlen sich schlecht an.“
„Unwohl, Liebling?“ fragte er sofort, „bist du etwa krank?“
„Krank? bewahre; nicht einmal mehr müde. Ich will nur
liegen.“ Sie sah im Halbdunkel, wie er ratlos die Arme hob,
lachte ganz übermütig und rief: „O Walter, nun hast du eine
Frau, und man merkt, du hattest keine Schwester.“ Endlich be-
griff er; es traf ihn wie ein weicher Schlag, und dann dankte er,
daß es dunkel war, denn er errötete bis in die Stirn. Er be-
wunderte sie; wie ganz und frei sie war, und wie einfach sie
heimlichen Dingen jede Schwere nehmen konnte! Er küßte be-
hutsam ihre Stirn. Er wollte ihr seine Entdeckung sagen, damit
auch er vor ihr nichts verberge; wenn es stimmte, daß der Mann
seine Seele so schamhaft behütete wie die Frau ihren Leib, so gab
er gleiches für gleiches; aber er gab es schwerer.
„Dann kann ich also noch bleiben und ein wenig reden?“
„Ich bitte dich darum. Es ist so langweilig, gleich zu schlafen.
Vorhin habe ich lauter dumme Sachen geträumt, du weißt schon,
wann. Eine fällt mir ein, die ganz besonders weise ist: du legtest
einen kleinen schwarzen Birnenkern in die Kiste, wo ich meine
Puppen aufbewahrte, und wolltest zaubern, zähltest dreimal bıs
drei, und wie Mama die Kiste aufmachte, lag eine große Birne
drin, und ich klatschte in die Hände.“ Er lächelte, aber nur leer,
weil er schon mit seinem Erlebnis beschäftigt war: „Ist das kein
netter Traum? Übrigens — ich blieb dir vorhin eine Antwort
Die Passion. jr 77
schuldig, oder gab sie nur flüchtig, das heißt falsch. Du fragtest,
ob mich die Leute nicht gestört hätten; erinnerst du dich? und
ich sagte nein.“
Der fast befangene Ton, in dem er sprach, machte, daß sie
ihn erwartungsvoll ansah: „Ich erinnere mich, es war noch vor
der Laterne. Nun?“
Er stand auf und begann hin und her zu gehen; wenn er die
Lichtbahn durchschritt, glänzte sein Haar rötlich und sein Schatten-
riß mit dem dicken Schnurrbart schnitt sich scharf in die weiße
Helle. Er sagte zögernd und halblaut: „Nein, sie störten mich
nicht nur nicht, sondern in einem bestimmten Augenblick erhöhten
sie sogar mein Erlebnis. Das war, als sie so still aufstanden und
ohne Applaus hinausgingen. Da fühlte ich irgendeine tiefe Ge-
meinschaft mit diesen fremden Leuten. Oder besser, ich sehnte
mich, eine tiefe Gemeinschaft mit ihnen zu haben; so etwa. Ich
hatte Ehrfurcht vor ihnen, weißt du.“ Ob sie durch die tastenden
Worte das Gemeinte zu fassen vermochte? Was würde sie ent-
gegnen? Sie schwieg einen Augenblick lang, dann kam es staunend:
„Du scherzest nicht, das ist klar. Du sehntest dich? Du hattest
Ehrfurcht vor diesen Menschen und ihrer mangelhaften Auf-
führung?“
Sie verstand nichts.
„Du verstehst mich nicht,“ meinte er tief atmend. „Ich sehnte
mich nicht gerade nach diesen Leuten, sondern nach Leuten über-
haupt, nach dem Volk, kann man sagen. Die Aufführung war
mangelhaft, ganz sicher. Aber war sie nicht auch rührend in dem
kahlen Saale? So wie Kinder oder Bauern Gott loben, in einem
Hofe oder einer leeren Dorfkirche? Aber ich meinte gar nicht die
Aufführung oder dergleichen. Ich könnte auch sagen: ich hatte
Ehrfurcht vor Gott, oder eher, sehnte mich, vor ihm Ehrfurcht zu
haben, ihn zu fühlen wie diese da. Weißt du, was ich meine?“
Vielleicht war es ganz aussichtslos, sich verständlich zu
machen? Ihn befiel eine körperliche Angst davor. Wenn sie ihn
auch hier allein ließ?
„Du drückst dich ein bißchen sibyllinisch aus. Ich glaube,
ich weiß jetzt, was du meinst. Aber wie es zu dir kommt, und
gerade heut, das ist mir, ich gestehe, schleierhaft.“ Er versuchte
es noch einmal — weil der Mensch ein hoffendes Tier war.
„Wenn es klar zu sagen wäre, wäre es dir auch leichter zu
empfinden. Ich will es erst negativ abgrenzen: ich sehne mich
natürlich nicht nach ihrer Art zu fühlen oder nach ihrem Glück
und Leben, ich danke nicht ab. Aber wiederum sind sie in einer
78 Arnold Zweig:
Schicht reicher als ich, und davor habe ich Ehrfurcht. Sie sind
miteinander in einem gewissen Gefühl verbunden, in dem Gefühl
zu Gott; und darin wachsen sie zu einem Wesen zusammen mit
einem Pulse. Diese ganze gemeinsame Erlebnisquelle ist uns ver-
schlossen, die wir immer einer sind und bestenfalls zwei — wie
wir beide.“ Er zögerte vor den letzten Worten, denn sie logen
jetzt. „Ein Mann, siehst du, erhält sein letztes Leben erst dadurch,
daß er mit einem Volke fühlt, wie ihr Frauen erst, wenn ihr mit
einem Kinde fühlt. Das geht vielen von uns ab, und darum sind
wir ärmer. Das Gegenteil davon, so kam mir vor, machte alle
diese Menschen still aufstehen, ohne den gewohnten Lärm. Als
einzelne sind sie vielleicht Barbaren, zusammen aber handelten sie
vornehm, als Gemeinde, als Volk. Und nun habe ich dir ge-
predigt und dich müde gemacht.“ Er fühlte, noch nicht fertig, schon
die Unmöglichkeit eines Widerhalls, und alsbald lehnte sie kopt-
schüttelnd ab:
„Politik, soviel ich verstehe. Ich habe das alles nicht in mir.
Müde? Es geht. Ich werde sehn, daß ich schlafe. Wir fahren
doch morgen früh?“
„Gegen elf. Gute Nacht, Liebling, schlaf wohl.“ Er trat an
ihr Bett und neigte sich, sie zu küssen. Sie holte die Arme hervor,
schlang sie um seinen Hals und hielt ihn eine Weile auf ihren
Lippen fest. Dann ließ sie ihn halb frei und sagte, dicht an
seinem Gesicht: „Wir sind heute nicht ganz beieinander, wie?
Aber ich lerne schon noch. Gute Nacht;“ küßte ihn nochmals
und ließ ihn von sich. Er strich über ihre Stirn und ging.
Auf seinem Tische fand er die Zigarre zu zwei Dritteln un-
verbrannt; er entzündete sie und prüfte sich. Er fühlte eine Weite
und Kühle in sich wie eine Wiese nach Regen, aber er war weder
sehr betrübt noch etwa hoffnungslos. Nein, sie waren nicht bei-
einander; nun, so würden sie zu tun haben. Diese Art Ehe ist
ein Anfang und noch nichts mehr, urteilte er tapfer; Gemeinsam-
keit war zu erkämpfen, sie wurde nicht geschenkt. Er hatte an
sich zu feilen und genug Brutales noch auszumerzen, und sie
würde auch Arbeit finden.. . Das ist ein weites Feld, sagte er
sich halb heiter. Nun, man hatte Jahre vor sich, vorausgesetzt,
daß man nicht bald starb. Und wie eine zuversichtlich heitere
Marschmusik in diese Weite hinein klang ihm plötzlich wieder
der friederizianische Marsch in den Ohren, ganz fein und leise,
aber so, als spielte ihn eine große, sehr ferne Regimentsmusik: er
hörte das Glockenspiel klingen, die Trommeln tobten kriegerisch
und am Ton der Trompeten hörte man, daß sie in der Sonne
blitzten. . .
Die Passion. 79
Von einer fernen Kirche schwebten runde Töne herüber: er
zählte, die Uhr schlug neun. Er wunderte sich, daß es noch so
früh war, aber das Konzert hatte um halb sieben begonnen, es
stimmte. Andere Uhren antworteten, er trat ans Fenster, sie zu
hören, und sah die Sterne im tiefen Blau des Märzabends; schon
hob sich Orions funkelnde Gestalt aus dem letzten Licht. Es wird
alles gehen, dachte er aufatmend, hilf mir. Seine Augen hingen
lange an dem großen Gestirn. Er fühlte sich wach und nach Tätig-
keit verlangend; es gab viele Gedanken festzuhalten, zu ordnen
und dann zu prüfen. Er beschloß, noch einen nötigen Brief ab-
zufassen, und verließ das Fenster. Aber zum Schreiben genügte
die Lampe an der Decke nicht. Nach kurzem Zögern ging er
hinaus und kam bald mit Briefpapier und mit einer golden
brennenden Petroleumlampe zurück, mit einem Bassin aus grünem
Glase und einer weißen Glocke, die im Tragen leise klirrte. Als
er das elektrische Licht löschte, blieb ein warmer Kreis um den
Tisch hell, und das fremde Zimmer zog sich zurück.
Er saß auf dem Sofa und schrieb. Der Zigarrenrauch schickte
bläuliche Fäden in die Höhe, die sich zu Bändern verbreiterten.
Sie hielten etliche große Stechmücken ab, die von einem nahen
Wasser dem Scheine nachgingen.
Aber er war froh, als er den Halter weglegen und nachdenk-
lich leer auf das weiße Blatt schauen durfte. Das unzugängliche
Geheimnis war ihm in den Sinn gekommen, das sich in der
schlafenden Frau da drüben vollzog; und die Stirn auf die Hand
gelehnt, mit ehrfürchtig schlagendem Herzen sann er ihm nach.
Sie empfand nicht mehr, wie fremdartig pflanzenhaft und entrückt
sie dadurch wurde, denn ihr war eine Gewohnheit, was ihn scheu
und ernst stocken ließ. Hier war ihm eine heilige Grenze gesetzt,
die er ehrte.
Sein Blick haftete auf dem grünen Glasbassin der Lampe, erst
abwesend, dann aufmerksamer; einige Mücken lagen darauf. Der
Tanz um den heißen Brenner hatte sie betäubt dorthin geworfen,
aber sie konnten, obwohl unversehrt, nicht mehr aufstehen. Die
ganz winzige Schicht Ol, die sich beim Füllen darüber ausbreitete,
genügte, um ihre zarten Organe zu durchtränken. Eine klebte tot
mit dem Kopfe darauf, eine andere zitterte wie trunken auf den
Füßen; eine dritte aber, die rücklings gefallen war, haftete mit
beiden schmalen Flügeln ausgebreitet auf dem gefetteten Glase. Ihr
schlanker Leib krümmte sich in fruchtlosem Mühen aus und ein —
vielleicht litt sie wenig Schmerz, aber der Anblick ihres schlagenden
Körpers gab die Gewißheit grausamer Qual. Und mit einem
durchzuckenden Schreck erkannte Walter Rohme: hier krümmte
—
——
Im
f
f
80 Dr. Fritz Wertheimer:
sich ein Wesen am Kreuz. Der Anblick war ganz unerträglich,
und mit zitternden Fingern entfernte er sie mit einem Streichholz
und tötete sie. Er wußte nicht, ob er Gott lästerte oder ihm
diente. Er löschte die Lampe aus und ging zu Bett, noch lange
wach und von vielen huschenden Einfällen bestürmt, zwischen
deren bruchstückhaftem Lautwerden schwarze Pausen zum Aus
füllen Zeit schufen: ein ununterbrochenes Auseinander dieser
ganze Abend . . sie schläft und er genießt — er zürnt ihr, während
sie bereut — sie fühlt nicht mit seinem Erlebnis — und er, der
nicht errät, nicht erraten kann, was sie ermüdet, entfremdet —
der weibliche Leib, der an eine andere Welt grenzt... Man war
trotz allem ziemlich allein — und wenn einer alle Mücken kreuzigte,
wie ungeheuer wäre das Leid der Welt vermehrt . . Das verständ-
liche Denken verfiel in ein Vernehmen undeutlich geredeter Worte,
Melodien schalteten sich ein, und im Einschlafen noch hörte er eine
Stimme, mild und aus menschenferner Verlassenheit: Ach, wollt
ihr nun schlafen und ruh'n? . . . Siehe, er ist da, der mich verrät.
Nebenan lächelte Claudia im Schlummer.
Dr. Fritz Wertheimer: Chinafahrt.
V. Wollen und Können in China.
en Lesern dieser Zeilen sollte und wollte ich ein paar Ein-
D drücke von einer Studienreise nach China in den voran-
gegangenen Artikeln schildern. Ich glaubte das bei der
Kürze des Raumes in einer Arbeit über das von der Revolution
noch ziemlich unberührte, aber in seinem Charakter als chinesische
Provinz von der Expansionssucht der Japaner stark bedrohte
mandschurische Land, in einer Arbeit über die Bildungsbe-
strebungen des jungen China, in einer weiteren über die
kulturellen und politischen Unterschiede des Südens vom Norden
und schließlich in dem letzten Artikel über eine von der Um-
wälzung völlig übergangene Idylle, das Kloster Kuschan, als ein
Beispiel nur für Hunderte von ähnlichen Plätzen in China, getan
zu haben. Freilich kann man über China nicht in fünf Zeitungs-
artikeln, mögen sie selbst noch so groß sein, ein abschließendes
Urteil fällen. Es wird sich ja im Laufe der Jahre noch Gelegen-
heit genug ergeben, einzelnes an dieser Stelle zu begründen und
zu vertiefen. Vorderhand sollen nur ein paar abschließende Be-
ungen hier folgen.
Chinafahrt. 81
Es ist eine alte Geschichte, die Erzählung von dem Vater,
der seinem Sohne wünschte, „alles zu können, was er wolle, und
alles zu wollen, was er könne“. Nichts kennzeichnet die Lage
Chinas besser, als wenn man das Land auf kurze Zeit einmal in
die Zwangsjacke dieser Begriffe vom Wollen und Können preßt.
Was will China und was kann China? Der alte Vater würde die
Hände über dem Kopf zusammenschlagen über die Differenz in
dieser Hinsicht beim Sohne China. Jung China will zur Zeit nicht
weniger als alles. Es war der Fehler der alten Mandschu-
regierung, daß sie im Wollen keine Führerin war. Sie ließ sich
stets treiben und anspornen, anstatt eine begeisterte Lenkerin der
Geschicke des ihr anvertrauten Volkes zu sein. Alle neuen Ideen
und Gedanken gingen ausnahmslos von Nichtregierenden aus, und
als die Mandschudynastie wirklich Ernst machte und, der Not
gehorchend, nachgab, um sich an die Spitze des Willens der Na-
tion zu stellen, da war es zu spät, da besiegelte gerade diese
Absicht ihr Geschick. Die Nachfolger verfielen im ungestümen
Drängen aufs direkte Gegenteil: die Revolutionäre wollen alles.
Es gab nichts, was sie dem Volke nicht versprochen hätten; keine
Schwierigkeit auf irgendeinem Gebiete existierte, kein Zweifel an
der Leistungsfähigkeit des Volkes; alles war eitel Freude und
Hoffnung. Auch heute noch erfolgt von Peking aus Edikt über
Edikt, kommen Pläne über Pläne, ginge es nach den Wünschen
der Jungchinesen, so wäre ihr Vaterland von heute auf morgen
der modernste Staat der Erde.
Aber was können die beiden genannten Faktoren, und was
kann China leisten? Eine Frage, die man sich recht selten vorlegt
und die allen chinesischen Führern, mit denen man im Laufe der
Monate zur politischen Unterhaltung zusammengekommen ist, aufs
äußerste peinlich ist. Denn hier gilt es vom Luftschlosse der
Ideale abzulassen und sich auf realen Boden zu stellen. Da geben
dann die meisten auch zu, daß das Können der Mandschudynastie
größer war als das der Jungchinesen, soweit es sich zunächst
um die effektive Macht handelt. Die Mandschudynastie verfügte
über ein gut ausgebildetes Heer, das die Revolutionäre überall ge-
schlagen hat und nur auf politische Intrigen hin seinen Siegeslauf
unterbrechen mußte; die Revolutionäre verfügten über Haufen zu-
sammengelaufener Kulis, die sich tapfer und verzweifelt schlugen,
aber dem Drill und der Disziplin der Gegner gegenüber nicht
standhalten konnten. Die Mandschudynastie aber hatte auch für
sich den uralten Zusammenhalt des Reiches, das Prestige der sagen-
umwobenen Dynastie, den Glauben des Volkes an das Prädikat
des Kaisers als eines Sohnes des Himmels. Das ganze Ansehen,
b-
— —
i
82 Dr. Erit Weriheimer:
das allein den chinesischen Provinzialismus in Reichsbande schmie-
dete, ist geschwunden. Jetzt werden die Provinzen durch das
Band der Eifersucht und der lokalen Vorteile aneinander gekettei
und dieses Band ist so schwach, daß es jederzeit zerreißen kann.
Wir sprachen hier nur von der verflossenen und der jetzigen
Regierung, und nur von wenigen Dingen, die für beide in Betracht
kamen. Viel wichtiger ist für uns aber jetzt die zweite Frage nach
dem China, dessen interne Regierung uns schließlich egal sein
kann, um dessen heimische Angelegenheiten wir uns nicht kümmern
wollen, wenn die Handelsfreiheit und Handelsmöglichkeit nur ge-
wahrt bleiben. Und hier wird die Frage viel mehr zu einem:
„Was wollen die Europäer und was kann China?“ Darüber
besteht kein Zweifel: von einer kleinen Oberschicht abgesehen, ist
das chinesische Volk in seinem Herzen absolut neuerungsfeindlich.
Das ist auch gar kein Wunder. Jede Neuerung, bestehe sie in
einem Übergehen von der Heimarbeit zur Industrie, oder in der
Ablösung des alten Karrentransportes oder Dschunkenverkehrs durch
moderne Eisenbahnen und Dampfschiffe, jede solche Neuerung
vernichtet zunächst Tausende von Existenzen. Sie gibt Aber-
tausenden neue Nahrung und neue Lebensmöglichkeit, aber bei
dem starren Konservativismus des Chinesen dauert es lange, bis
er das Neue begreift und sieht, daß es ihn sogar besser ernährt
wie die alte Tätigkeit. China wird langsam nervös gemacht, wie
es alle westlichen Großmächte schon sind. Eisenbahnen und Autos,
Bergwerke und Fabrikschlote, elektrische Straßenbahnen und draht-
lose Telegraphie sind alles Dinge, die zum eigentlichen Glück der
alten Chinesen nicht gehörten. Die lebten glücklich und zufrieden,
bis die fremden Nationen an ihre Türe pochten, ihnen den Opium-
genuß aufzwangen und ihnen die Öffnung von Häfen abnötigten,
Zipfel des Reiches wegrissen und dort Kolonien anlegten. China
selbst hat in allen Verträgen mit den Fremden stets den Kürzeren
gezogen, und das nannten die Fremden dann kultivieren und
modernisieren. Vom chinesischen Standpunkte aus ist also eine
innere Fremdenfeindlichkeit durchaus zu begreifen, wenn wir sie
auch in den Folgen der Boxerunruhen u. s. f. noch so entsetzlich
zu spüren bekommen. Wir Fremden sind es, die China erschließen
wollen, und wir decken uns da mit dem Wunsche einer kleinen
dünnen Oberschicht von Chinesen, die die Modernisierung und
Erschließung wünschen, um China selbständig zu machen und
letzten Endes dann die Fremden ebenso höflich hinauszukompli-
mentieren, wie es die japanischen Nachbarn so hübsch und
schmerzlos vollbrachten. Gewiß wächst in China die Einsicht,
daß ein altes und zurückgebliebenes Land rettungslos den Aus-
bo S 5 —
Chinafahrt. 83
ländern verfallen müsse, daß man nur mit den Mitteln der Fremden
die fremden Einflüsse besiegen könne. Das Wollen in China selbst
wächst damit, das heute nur eine Sache konzessionslustiger und
geschäftssüchtiger Fremder ist. Und wie steht es mit dem heutigen
Können des Landes? Bare Geldmittel zur Realisierung all der
Wünsche sind nicht vorhanden, und wenn sie in kleinem Maß-
stab vorhanden sind, hält der reiche und ängstliche Chinese sie
gerade in den unruhigen Zeiten ängstlich zurück. Wollte China
heute nur das, was es in Wirklichkeit selbst kann, dann müßte es
raschestens auf die Verwirklichung aller neuen republikanischen
Ideen verzichten, den Kaiser wieder einsetzen und in lethargischer
Ruhe die Dinge mit einer Langsamkeit weiter entwickeln, die Ver-
schleppung bedeutete und neuem Grenzraub durch die Fremden
Tür und Tor öffnete. Nun bieten die Fremden China die Hand,
um durch ihr Können sein (und ihr) Wollen zu realisieren. Aber
nun will wieder ein großer Teil Chinas nicht, weil die Menge
noch nicht so wirtschaftlich denken kann, um einzusehen, daß An-
leihen unter Umständen dem Schuldner viel mehr Nutzen bringen
können als dem Gläubiger. Das wäre hier in China der Fall.
Der ungehobenen Bodenschätze gibt es eine Legion, Kohlen- und
Erzlager gilt es zu öffnen, die Millionen in das arme Land
werden bringen können, der Weltmarkt würde sich gewaltig ver-
ändern, ermöglichten es die Eisenbahnen, alle inländischen Pro-
dukte der Landwirtschaft und in späteren Jahren auch der chine-
sischen Industrie dem Auslande zu übermitteln. In überraschend
kurzer Zeit könnte China weit über dıe prompte Deckung seiner
Zinsenlast hinaus ans Rückzahlen der Schulden denken, und wenn
freie Bahn für allen Fortschritt wäre, erlebte die Welt ein Beispiel
finanzieller Erstarkung, das die Zahlung der 5 Milliarden Kriegs-
entschädigung von Frankreich an. Deutschland in den Schatten
stellte. Denn das „Können“ Chinas ist in Wirklichkeit unbegrenzt.
Dem Lande stehen in seiner riesenhaften Ausdehnung Hilfsmittel
und Schätze zur Verfügung, die nach all den wissenschaftlichen
Erforschungen und all den Beispielen, die wir jetzt schon haben,
ins Unendliche gehen. Das wirkliche Können der chinesischen
Nation also wird durch die Ohnmacht und Schwäche des heutigen
China gar nicht tangiert. Nur fehlt es an gar mancherlei. Es
fehlt, wie gesagt, zunächst am Willen bei den 400 Millionen
selbst. Ist es schon verfehlt, zu sagen, dieses 400-Millionen-
volk wünsche eine Republik, wo 396 Millionen noch keine
Ahnung haben, was überhaupt eine Republik bedeutet, und daß
sie seit einem halben Jahre eine haben, so ist es noch ver-
fehlter, zu behaupten, diese 400 oder auch nur diese 4 Millionen
wünschten eine Erschließung Chinas in unserm Sinne. Was hier
von den Fremden zu leisten ist, um alte Hindernisse aus dem
Wege zu räumen, ist in erster Linie Aufklärungs- und Schularbeit.
Naturgemäß kann der Handel, der sich mit Naturnotwendigkeit
Í ausbreitet, unbekümmert um ästhetische oder ethische Schmerzen
i der davon Betroffenen, nicht warten, bis alle 400 Millionen die
Überzeugung von der Notwendigkeit der Erschließung Chinas be-
| sitzen werden. Aber wenn es nur wirkliche 4 Millionen sind, die
| wirklich wollen in China, dann ist es genug. Wenn erst der Wille
da ist, dann wird es am Erschließen des wirklichen Könnens in
| 84 Dr. Fritz Wertheimer: Chinafahrt.
China auch nicht fehlen. Aber hier liegt der eigentliche Schlüssel,
der tiefere Grund für alle Schulunternehmungen in China. Denn
wer diesen Willen und sein Wachsen beeinflussen kann, der wird
auch seinen Anteil am Können haben. Es handelt sich äußerlich
um ideale Schulbestrebungen, aber ob sie unter neutraler Flagge
segeln oder unter Missionarszeichen stehen, sie haben alle zum
Untergrunde geschäftliche Interessen. Nur sollen die Fremden den
Bogen nicht überspannen und langsam in China vorgehen. Das
Tempo verstehen, das ist alles in der jetzigen Lage, es mäßigen,
solange dieser Zustand des Ungewissen und Unsicheren in China
herrscht, es forcieren, wenn die geeigneten Leute zur Stelle sind,
aber es weise regulieren nach dem Stand der Dinge, das ist die
politische und wirtschaftliche Aufgabe der Fremden. An diesem
Ausgleich ist von seiten der Fremden zu wenig gearbeitet worden,
und aus diesem Mangel resultieren wieder alle geschäftlichen
Schläge, die jetzt der fremde Handel erleidet. China dazu zu
bringen, daß es mehr will, weil es in Wirklichkeit viel mehr kann
und es ferner dazu zu bringen und in den Stand zu setzen, daß
es alles kann, was es will, das ist über die jetzige schwere Krise
des Reiches der Mitte hinaus die Aufgabe und das Ziel. Gerade
jetzt, wo allerhand Ereignisse den Blick aufs Ganze trüben, scheint
es angebracht, dieses Endziel wieder in den Vordergrund zu rücken
und an ihm die ganze Entwickelung der Politik und Wirtschaft
in China zu messen.
85
G. F. Hartlaub: Das Ende des Impressionismus.
hunderts wird den Impressionismus wahrscheinlich mehr
nach seinem verneinenden als nach seinem schöpferischen
Verdienst bewerten. Er wird dem Programm, das hier schulbildend
gewirkt hat, sehr wohl eine erzieherische, weniger aber eine vor-
bildliche Bedeutung zuerkennen. Gerade diejenigen Werke der
sog. Impressionisten, die sich am strengsten an das Prinzipielle
ihrer Lehre gebunden zeigen, werden einmal als bloße Schulwerke
von ziemlich gleicher Form betrachtet werden, Zeugnisse einer
glänzenden Disziplin des Sehens und des Geschmacks, die jedoch
ein starkes, persönliches Gepräge vermissen lassen.
Bereits heute darf man sagen, daß die Rolle der einst so viel
umstrittenen Bewegung historisch geworden ist. Das zeigt sich
schon an Äußerlichkeiten. Unter dem Begriff des „Impressionismus“
können sich gegenwärtig viele Leute kaum noch etwas vorstellen,
jedenfalls nichts Wesentliches. Denn gewisse äußere Eigenschaften
des impressionistischen Malens und Sehens sind heute so sehr
Allgemeingut geworden, daß sie kaum noch zum Bewußtsein
kommen. Die innere seelische Einstellung dagegen, die das Pro-
gramm voraussetzte, scheint bereits veraltet. Sie sagt einer Gene-
ration wenig mehr, deren radikaler Vortrupp sogar nicht ohne
das paradoxe Schlagwort „Expressionismus“ auskommen zu
können glaubt, um das ganz Veränderte seiner Absichten gebührend
zu kennzeichnen.
Gerade auf das „Impressionistische“ legen wir angesichts der
vollkommensten Schöpfungen von Manet bis Cézanne am wenigsten
Wert. Renoirs „Lise“, Monets „Camille“ gegenüber scheint es einfach
belanglos und banal, auf die Schulrichtung ihrer Meister hinzu-
weisen. Was an ihnen groß ist, teilen sie mit den Gipfeln der
Malerei aller Zeiten und Schulen. —
Mit dem Wort „Impressionismus“ wissen wir heute wenig
mehr anzufangen. Aber es gab eine Generation, die mit dem noch
unverbrauchten Begriff lebhafte, ja leidenschaftliche Gefühle verband.
Es wird nötig sein, einigen Abstand von uns selbst zu nehmen,
um solches Bewußtsein in ganzer Frische auch in uns wieder auf-
zuwecken.
Was „wollte“ der Impressionismus?
Wenn wir es recht betrachten, waren seine Zwecke ganz ele-
mentar, grundsätzlich, ja eigentlich selbstverständlich und vor
allem bis zu einem gewissen Grade rein pädagogischer Natur.
EE späterer Geschichtsschreiber der Kunst des 19. Jahr-
7
125 À
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86 G. F. Hartlaub:
Im Grunde wollte er nichts anderes, als Künstler und Publikum
dazu erziehen, sich wiedenreine richtige Vorstellung von dem zu machen,
was die Malerei leisten kann. Um gleich zu Anfang die häufigsten
Fehlerquellen in der Beurteilung von Kunstwerken zu ver-
stopfen, zog er die Grenzen des künstlerisch Erlaubten zunächst
außerordentlich eng. Mit einer heilsamen Pedanterie reinigte er
die Aufgabe der Malerei von allen gleichsam sekundären Zwecken,
und brachte in aller Schärfe wieder die einfache und doch so oft
mißachtete Tatsache zum Bewußtsein, daß der Gegenstand der
Malerei das Sichtbare sei, nicht das Denkbare, und daß sie den
Schönheitssinn des Auges erfreuen solle, nicht etwa die Phantasie,
die sich anläßlich des Gesehenen allerlei Assoziationen hingibt.
Aber auch den Begriff des Sichtbaren glaubte die Theorie des
Impressionismus genauer einschränken, resp. präzisieren zu müssen.
Was sehen wir eigentlich, und was fügt nur die Gewohnheit des
Denkens, die reflektierende Erfahrung hinzu? Denn allein auf das
erstere kommt es an, nämlich auf den ungetrübten, reinen Eindruck,
den man naturwissenschaftlich als das „optische Netzhautbild“
definieren könnte; folglich nicht — und hier wurde die Theorie
im höchsten Grade praktisch anwendbar — auf den sogenannten
„Umriß“, der ja nur eine Abstraktion unseres Verstandes ist, nicht
auf das Körperliche, Raumerfüllende der Erscheinung, über die
uns weniger das Auge als unsere Erinnerung belehrt.
So etwa war das kritische Rüstzeug beschaffen, mit dem die
Künstler und Kunstschriftsteller für ihr neues Evangelium ins
Feld zogen. —
Ohne Zweifel hat die Lehre Manets und Zolas in diesem ihrem
gewissermaßen „intellektuellen Antiintellektualismus“ wesentliche er-
zieherische Absichten verwirklicht. Das geschah nach mehreren
Seiten hin. Sie bildete den Geschmack des Publikums; denn, um
überhaupt ein impressionistisches Bild auffassen zu können, ist es
notwendig, selbst bis zu einem gewissen Grade wie ein Maler
sehen zu lernen, und die dazu erforderliche Arbeitsleistung hält
davon ab, in einem Gemälde nach Dingen zu suchen, die mit der
Kunst nichts zu tun haben.
Sie erzog aber auch die Künstler. Es war heilsam, daß sie deren
Idealismus auf eine gewisse Nüchternheit herabstimmte und ihnen
dafür gesunde Hochachtung einprägte vor den handwerklichen
Grundlagen ihres Berufs. Und indem sie den Maler dazu anzielt,
sich statt aller möglichen „idealen“ Nebenabsichten zunächst einmal
streng auf den empfangenen Eindruck einzustellen, weckte sie eine
langentbehrte allerursprünglichste Malerfreude wieder in ihm auf:
die Liebe zu aller sichtbaren Erscheinung und zugleich die frische
Das Ende des Impressionismus. 87
Einsicht, wie unerschöpflich sich die Natur im Wandel von Luft
und Licht zu immer neuen, künstlerisch anregenden Impressionen
gestaltet.
Die Erfolge dieser Belehrungen waren reich und blendend:
eine erstaunliche Auffrischung und Erweiterung der Palette zu
teilweise ganz neuartigen Farbstellungen, ein frisch geweckter Sinn
für das Bezaubernde jenes freien, offenen Vortrags, der mit Unrecht
„skizzenhaft“ genannt wird, und vielmehr einzig dem flüchtigen Reiz
des Erscheinenden gerecht zu werden vermag, endlich ganz unge-
wohnte dekorative Wirkungen, die sich zunächst aus der unkörper-
lichen Art des Sehens beinahe von selbst ergaben, und welche
dann mit Bewußtsein und unter dem Einfluß des neuen japanischen
Geschmacks fortgebildet wurden. Alles in allem: man entdeckte
zahlreiche Schönheiten wieder, die in der akademischen Malerei
gründlich verloren gegangen waren, ja, man fügte ihnen in jenen
dekorativen Wirkungen noch neue \Verte hinzu, die man mit Recht
als die eigentlich modernen ansprechen darf.
Die meisten Ergebnisse des Impressionismus frei-
lich — das müssen wir, die am Ende der Bewegung das
Ganze rückblickend überschauen können, heute ohne Um-
stände zugeben — haben die großen Zeiten der Kunst
von jeher besessen, ohne doch das Lehrbare, Prinzipielle
daran überhaupt erkannt zu haben. Sie wandten eine solche
Malweise gelegentlich, als unmittelbarste Wiedergabe ihrer Kon-
zeption und als höchste Steigerung des Ausdrucks an, bewahrten
aber freilich dabei alle Mittel zeichnerischer und plastischer
Komposition. Offenbar hatten sie das gesunde Gefühl, daß
eine große Tafelmalerei solcher Faktoren keineswegs entraten
kann, wenn sie ihren Beruf in ganzem Umfange erfüllen will. Ja,
auch darin sahen sie keine Gefahr, daß ihre Malkunst zugleich
auch äußerer Würdenträger des übrigen geistigen Inhaltes ihrer
Zeit sein wollte. Soviel „literarische Anregungen“, — lägen sie nun
nur in tief dichterischer, psychologisch-dramatischer Charakteristik,
wie bei Rembrandt, oder seien sie geradezu dogmatisch-alle-
gorischer, mythologischer, geschichtlicher oder selbst anekdotischer
Natur — die Werke der Malerei bis auf Delacroixs Zeiten auch,
gleichsam in aller Unschuld, an den Betrachter abzugeben ver-
mochten, so wuchs doch aus der Tatsache solcher Anregungen
clurchaus kein Problem. Die Güte der Malerei litt nicht nur dar-
unter keinen Schaden, sondern — und hierin liegt das Geheimnis
des goldenen Kunstzeitalters — sie gewann aus ihnen vielmehr
sıoch besondere Schwungkraft für ihren eigensten Ausdruck.
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88 G. F. Hartlaub:
Die Notwendigkeit, theoretisch und praktisch strenger die
Vorbedingung der künstlerischen Wirkung von dem bloß Beiläufigen
zu trennen, trat erst in dem Augenblicke ein, als die Oberherrschaft
nicht mehr unzweifelhaft erschien. Es hängt das mit der beson-
deren, den bildenden Künsten höchst ungünstigen Konstellation
des 19. Jahrhunderts zusammen. Angesichts der immer größeren
Weltfremdheit der akademisch altmeisterlichen Atelier- und Rezept-
malerei mit ihrer hochmütigen Vernachlässigung des „Technischen“
zugunsten eines falschverstandenen sogenannten „Inhalts“, — gegen-
über einer so bedenklich gewordenen Verschiebung in den Grund-
lagen natürlichen Kunstschaffens war nun der Impressionismus
Manets in der Tat eine geschichtsnotwendige Abwehr.
Dieser mehr negative Charakter als Abwehr, als Reinigung,
als Reaktion tritt in jedem seiner Wesenszüge deutlich hervor.
Vor allem in der streng antiromantischen Haltung, welche
die neue Lehre einnahm, indem sie sich im Gegensatz zu allerlei
vagen Weltbeglückungsidealen zu einer Spezialsache, zu einer
Fachangelegenheit für Maler machte. Das war nötig, um eine
vorzugsweise erzieherische Aufgabe erfüllen zu können, und zeigte
zugleich, daß der Impressionismus Ausdruck, notwendige Er-
scheinung des modernen Lebens sein wollte, was ja Manet ge-
radezu in dem bekannten Schlagwort: „il faut être de son temps“
formuliert hat. |
Immerhin enthüllte sich zuerst an diesem Punkte ein eigentüm-
licher Zwiespalt, eine innere Unzulänglichkeit des Programms. In
der Tat steckt ja die impressionistische Form voll von innerer
Analogie mit allen modernen Lebensgestaltungen. Diese „Contem-
poraneite“ durfte aber für die Dogmatiker des Impressionismus
nur im „Wie“, nicht im „Was“ des künstlerischen Ausdrucks
liegen. Sie konnte auf keinen Fall durch die Wahl der Gegen-
stände und irgendwelche ideelle Beziehungen zum Inhalt der
Gegenwart bestimmt sein. Das war erzieherisch heilsam und
doch: indem das „lart pour l’art“-Prinzip solche äußere Brücken
zum Verständnis abbrach, wurde es sich selbst verhängnisvoll und
besiegelte die kurze Lebensdauer der ganzen Bewegung. Der Im-
pressionismus blieb Atelier- und Sammlerangelegenheit, weil er
in keiner Weise eine äußere, den sozialen, religiösen, politischen
Inhalt der Zeit darstellende Funktion übernehmen konnte, wollte,
durfte. Denn so sicher jene inneren Analogien auch bestehen
mochten, so setzte ihre Erkenntnis doch eine Abstraktion voraus,
die nur die Maler und Kunstkenner in ihrer streng formalen Ein-
stellung zu vollziehen imstande waren. Die breitere Masse des
Publikums wird niemals fähig sein, zur Erkenntnis malerischer
Das Ende des Impressionismus. 89
Werte ohne die Brücke gegenständlicher Teilnahme aufzusteigen.
Von jeher geht naiver Kunstgenuß von gewissermaßen neben-
sächlichen Teilen der künstlerischen Wirkung aus und pflegt erst
über sie zur Hauptsache zu gelangen. Bewußtes Kunstschaffen
macht dagegen den umgekehrten Weg. Notwendig ist nur, daß
sich beide Wege treffen, und dieser Ausgleich ist so vollkommen,
daß er sich nicht ungestraft verschieben läßt.
Der Impressionismus berief sich zum Verständnis nicht mehr
auf das Ganze der menschlichen Natur, der ja alle ästhetischen
Abstraktionen fremd sind und die in jedem Kunstwerk mit allen
Kunstsinnen und -Bedürfnissen befriedigt sein will. Hier lag seine
Schwäche. Zugleich erwies sich aber eine solche abstrakte Zu-
spitzung auch vom Malerstandpunkt aus als dine ziemlich beträcht-
liche Verarmung der Tradition. Freilich stand dieser eine ebenso
qualitative Verfeinerung gegenüber, aber es fragt sich doch, ob die
spezifische Schönheit gewisser Bilder Monets den Verlust aller
jener Wirkungsmittel aufwiegt, deren sich die alten Meister in
vollem rhythmischem Zusammenklang bedienten, ohne dabei des
impressionistisch abgekürzten Ausdrucks ganz zu entraten.
Der berüchtigte Satz: „Eine gut gemalte Rübe hat künstlerisch
nicht geringeren Wert als eine gut gemalte Himmelfahrt,“ hat
zweifellos logisch zwingende Kraft und in unserer Zeit hohen er-
zieherischen Nutzen. Aber eine solche Radikaltheorie wäre in
jedem Jahrhundert mit gesundem Kunstwuchs überflüssig, ja
lächerlich gewesen. Jedes Jahrhundert hat eben die Ästhetik, deren
es wert ist.
Mit dem Impressionismus schien die bisher von der Geschichte
gleichsam „praestabilierte Harmonie“ zwischen Kunstgeber und Kunst-
nehmer endgültig aufgehoben. Eine sehr beklagenswerte Tatsache
folgte alsbald daraus: die Vereinsamung der Künstler. Sie
sahen sich jetzt statt vom „Volk“ von einem Stabe von Kritikern,
Historikern und Ästhetikern umgeben, Leuten, die sich erboten, durch
literarische Fürsprache die Kluft zwischen Künstler und Publikum
wieder zu überbrücken. Das moderne Kunstschriftstellertum
ist insofern gewiß mit geschichtlicher Notwendigkeit aus dem Im-
pressionismus hervorgegangen, und rechtfertigt sich damit bis zu
einem gewissen Grade. Ob es aber die Brücke geschlagen und
nicht vielmehr den Zwiespalt verstärkt, die Isolierung des Künstlers
durch lebensfeindliches Philosophieren noch vertieft hat? sei hier
nur in Parenthese gefragt. Auch vom Kunstschriftstellertum gilt
wohl, was von so manchen neuesten Kulturformen zu sagen ist,
daß sie zwar notwendig sind, aber doch vom Übel.
90 G. F. Hartlaub:
Mit allen seinen Begleiterscheinungen steht der Impressionis-
mus geschichtlich durchaus neben den anderen großen kulturellen
Reaktionen des Jahrhunderts, z. B. dem literarischen Naturalismus
von Zola bis Verhaeren und dem neukantischen Kritizismus. Alle
drei richteten sich gegen eine zu ihrer Zeit verhängnisvoll
grassierende Romantik und Metaphysik. Hier wie dort handelte
es sich um Grenz- und Zuständigkeitsfragen des künstlerischen und
philosophischen Ausdrucks, hier wie dort ward durch den Hinweis
auf die Erfahrung — die Sichtbarkeit, die Natur, das Leben, —
der Weg gezeigt, wie sich die durch andauernde Grenzübertretung
und Fremdvermischung geschwächte Fähigkeit wieder ihre volle
Eigenkraft zurückerobern könne.
Und auch dies hatte die große künstlerische Bewegung mit
ihren Nachbarn auf philosophischem und dichterischem Gebiet
gemein, daß sie alle schon im Keime die Neigung zeigten,
eines schönen Tages in ihr Gegenteil umzuschlagen.
Hier bewährt sich nur ein ewiges Gesetz der Geistesgeschichte.
Alle Abstraktionen, formalistische, spezialistische Zuspitzungen
duldet das Leben nicht lange.
Daß man so stark die Art der Beobachtung betonte, das
„Wie“ des Sehens gegenüber dem „Was“, das „Temperament“
gegenüber der „Natur“, die wissenschaftliche „Methode“ gegen-
über dem Erkenntnisinhalt, bedeutete nicht immer bloß eine strengere
Betonung der Form, sondern brachte die kühle Objektivität plötzlich
in eine bedenkliche Nachbarschaft mit ihrem Antipoden, einer
schroffen Betonung des „wie ich es sehe“, einem Individualismus,
um nicht zu sagen Subjektivismus, wie ihn der Geist des Jahr-
hunderts gleichzeitig in allerlei ebenso lebenskräftigen Ideenkom-
plexen hervorgebracht hatte. Ähnlich barg ja auch die natura-
listische Dichtung Keime von Symbolismus und Neuromantik in sich,
— mit welchen sie ja in der barocken Gesamtkunst Wagners bereits
von vornherein vermengt gewesen war. So konnte auch die kriti—
zistische Erkenntnistheorie wieder in eine neue idealistische Meta—
physik umschlagen und stand endlich der imperativischen Ethik
von Kant bis Hartmann die Lehre Nietzsches gegenüber, die man
mit einem philosophischen Fachausdruck als „egozentrischen Rela-
tivismus“ bezeichnen könnte. Dieses eigentümliche Schweben
zwischen äußerster subjektiver und äußerster objektiver
Weltansicht kennzeichnet die Geistesgeschichte des 19. Jahr—
hunderts wie nichts anderes. Es erklärt sich im allgemeinen
aus jener gefährlichen Zersplitterung ins Spezialfachliche,
die alle festen allgemeinen Maßstäbe verloren gehen ließ und
nirgends auf die Dauer so verhängnisvoll sein mußte als in der
Kunst.
Das Ende des Impressionismus. 91
Hier lag wohl der äußere Anlaß, sich von dem kühlen Ver-
halten dem eigenen Eindruck gegenüber zu befreien, in der Ver-
lockung begründet, die von den bereits erwähnten neuartigen, aus-
gesprochen dekorativen Wirkungen und Farbstellungen ausging.
Daß man diese künstlerischen Möglichkeiten immer stärker im
Sinne eines schöpferischen, freien Ausdrucks nützte, daß man
schließlich die Farbe nicht mehr nach ihrer objektiven „Wahrheit“,
ja nicht einmal nur in ihrer äußeren sinnlichen Schönheit, sondern
sogar in ihrer ursprünglichen, primitiven Gefühlssymbolik ver-
stehen lernte, hat freilich in manchen und gerade den besten Lei-
stungen der großen Impressionisten zu einem glücklichen Ausgleich
geführt. In der Hauptsache jedoch mußte die neue Abkehr vom
Objekt geschichtlich viel folgenschwerer sein, als die Künstler
ahnen konnten. Das geschah aus folgendem Grunde:
Die neuen Vorstellungen von dekorativer Form
ließen sich auf die Dauer nicht mehr im Rahmen der her-
gebrachten Tafelmalerei lösen. Damit war aber der Schwer-
punkt des ganzen Problems verschoben. Es liegt schon im
Wesen eines Bildes vom rein impressionistischen Typ, daß es viel
stärker von der Farbstellung seiner Umgebung abhängig ist, als
ein Tafelgemälde hergebrachten Stils. Es schließt sich nicht mit
seinem Rahmen zu einer eigenständigen illusionären Welt ab,
belebt keinen Raum für sich, sondern scheint darauf berechnet,
einem größeren Raumgebilde schmückend anzugehören. Nachdem
die impressionistische Malerei auf vielerlei überlieferte Werte frei-
willig verzichtet, begab sie sich hiermit wider Willen
ihrer Selbständigkeit als einer freien und unabhängigen Kunst
und drohte sie nicht nur sich selbst aufzuheben, sondern
zugleich alle die hergebrachten Vorstellungen von bildhafter Wirkung
überhaupt, wie sie sich seit dem 17. Jahrhundert an dem realisti-
schen Stil des freien, beweglichen, gerahmten Tafelbildes entwickelt
hatten. Am sichtbarsten wird das eben dort, wo sich der im-
pressionistische Gedanke am schärfsten ausprägt, in dem sogenannten
Neo-Impressionismus Signacs, Seurats usw.
Man erinnere sich, daß diese Maler die wissenschaftliche
Analyse des Eindrucks auf die Spitze trieben, indem sie ihre
Ergebnisse, die reinen komplementären Farbelemente, deren
Mischung im Auge des .Beschauers die natürliche Farbwirkung
ergibt, auch auf der Leinwand unvermischt nebeneinander setzten.
Schon dadurch, daß man zu diesem Zwecke die freie Pinsel-
schrift aufhob und statt dessen ein mechanisches Nebeneinander-
setzen der reinen Farbpigmente forderte, entfernte man sich weit von
den Traditionen und Möglichkeiten der Tafelmalerei überhaupt.
92 G. F. Hartlaub:
Das unpersönliche Mosaik der neoimpressionistischen Malweise
tut in seiner riesigen Leuchtkraft nur dann noch eine Wirkung,
wenn das Auge Abstand genug nehmen kann, um die Mischung
vollziehen zu können: also bei einer Anwendung als Decken- oder
Wandmalerei in gegebenen Räumen mit bestimmten Verhältnissen.
Erfüllt die Kunst aber dergestalt erst rein dekorative Aufgaben, so
gibt sie ihre ursprüngliche Begründung als Wirklichkeitsdarstellung
auf und unterliegt neuen, rein idealen Stilgesetzen.
Der Realismus der Malerei seit dem 17. Jahrhundert führt
sich hier in seinem extremsten Ausläufer selbst ad absurdum und
schlägt in sein Gegenteil um. Ein historischer Kreislauf ist voll-
endet. Ohne Frage lief die Malerei jetzt Gefahr, auf die Stufe der
angewandten Kunst zu sinken, Teppich, Tapete, freies musikalisches
Farbenarrangement zu werden. Um dagegen die Würde einer
freien Kunst zu behalten und in dem architektonischen Raumgebilde
selbständige Bedeutung zu wahren, hätte das zerflossene Farben-
gewoge der Bindung bedurft. Aber für den zeichnerischen Umriß,
für räumlich- plastische Komposition, für alle Elemente direkter
geistiger Umformung der Eindrücke war in der Lehre des Im-
pressionismus kein Platz.
Wieder zeigte sich die eigentümliche geschichtliche Unproduk-
tivität des impressionistischen Gedankens. — '
Aber in dem wunderbaren Dualismus seines geistigen Schaffens
hatte das Jahrhundert eine künstlerische Gegenbewegung hervor-
gebracht, die gerade das enthielt, wessen die sublime Eindrucks-
malerei so sehr benötigte, um mit ihren Ergebnissen fruchtbar in
der Entwicklung aufgehen zu können. Es gab einen Anti-
impressionismus, eine Kunst, die ihre Kräfte nicht aus der Sinn-
lichkeit, sondern aus dem Geiste, nicht aus der Analyse, sondern
aus der Formung, nicht aus der flüchtigen Erscheinung, sondern
aus der unvergänglichen „Idee“ zu ziehen wußte.
Wer die Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts kennt,
weiß, daß das „Problem der Form“ von Kant bis Cohen, von
Hölderlin bis Hofmannsthal, von Mozart bis Reger, von Ingres
bis Hodler nicht eingeschlafen ist. Er weiß Marees’ Ringen um
eine monumentale Stilkunst im Zeitalter der Monet, Seurat usw.
in seiner ganzen menschlichen und geschichtlichen Bedeutung zu
würdigen.
Freilich, so verschieden uns auch der Ausgangspunkt eines
Monet und eines Marees erscheinen wird, noch wichtiger ist es,
sich vorher klarzumachen, was diese beiden stärksten Kunstbe-
strebungen des letzten Jahrhunderts bei aller Gegensätzlichkeit
Das Ende des Impressionismus, 93
innerlich miteinander verband. Denn erst damit, daß wir ihre
innerste Einheit begreifen, wird es uns möglich, zu glauben, daß
sie beide dauernd wertvoll sein konnten. Indem wir den gemein-
samen Adel aller Kunstabsichten, die in unserem so verworrenen
kunstfeindlichen Zeitalter ernst genommen werden müssen, fühlen,
verstehen wir aber zugleich auch ihre innerste Tragik.
Der Antiimpressionismus als geschichtliche Gesamterscheinung
stellt sich viel zerfahrener, weniger streng und rein dar als seine
große Gegenbewegung. In seinen wertvollsten Ausprägungen
aber — freilich auch nur in diesen! — ist er eine ebenso schroffe
Reaktion gegen die falsche Kunstvermischung, ebenso unroman-
tisch, ebenso abstrakt, und schreibt ebenso hochmütig das Kenn-
wort l’art pour l’art auf seine Fahnen, wie jener.
Er ist auch ebenso folgerichtig in der Ablehnung äußerer
gegenständlicher Beziehungen wie sein Widerpart. Er ist nicht
weniger streng auf das „Problem der Form“ bedacht, als jener
auf das der Erfahrung.
Weil aber die Erfahrung jung und ewig neu ist, war nur der
Impressionismus berufen, den eigentlich modernen, zeitge-
mäßen Kunststil abzugeben. Seine Gegenrichtung befand sich
hingegen von vornherein in einem gewissen Kontrast zum Zeit-
inhalt. Wer sich angesichts der abgestorbenen Rezepte akademi-
scher „Zeichnung“ und „Komposition“ wieder auf die einfachen
Bestandteile geistiger Formung und Bindung besinnen wollte,
mußte weit zurückgreifen auf die großen und schlichten Abstrak-
tionen strengerer und primitiverer Stile. Die Geschichte des Anti-
impressionismus im neunzehnten Jahrhundert ist zugleich der
Fortschritt einer neuen Primitivität. Seit Ingres und Cornelius ist
man von Rafael über Botticelli zur Gotik, ja noch weiter bis zur
griechisch-ägyptischen Frühzeit, zum Orient, ja neuerdings selbst
zu den Naturvölkern zurückgegangen.
Der Impressionismus ließ sich — zu seinem Vorteil und
Nachteil — von der Naturwissenschaft seines Zeitalters befruchten.
Der Antiimpressionismus mußte durchaus zu seinen Ungunsten
— in eine bedenkliche Nachbarschaft zu altertümelnder Romantik ver-
schiedenster Färbung geraten. Wir haben die warnenden Beispiele
der „Linienkunst“ der Nazarener und Präraffaeliten und allen
möglichen neuesten „Stilismus“. Nur in den besten Fällen — wie
bei Hans von Marces — sprach keine romantische Sentimentalität,
sondern rein formale Überlegung. Aber eben auf diese kommt es
uns an.
94 G. F. Hartlaub:
Wir dürfen also sagen, daß die beiden großen Kunstbewe-
gungen bei aller Verschiedenheit zunächst einmal den strengen
Formalismus gemein hatten. Aber diese künstlerische Tugend ist
größer im Verneinen als im Bejahen. Darum mußte nicht nur
dieser, sondern auch jener Wille zur Kunst an dem Verhängnis
seiner allzu strengen Tugend scheitern.
An beiden rächt sich das unheimliche Auseinanderklaffen von
Sinnlichkeit und Geistigkeit in unserer Kultur. Müssen wir sagen,
daß es im goldenen Zeitalter der Malerei, von Giorgione bis
Delacroix, keinen solchen Dualismus, keine Einheit von Eindruck
und Ausdruck, ganz oberflächlich gesagt von Linie und Farbe
gegeben hat? Der Historiker weiß, daß die noch früheren Jahr-
hunderte, daß die ganze Kunst des Mittelalters dualistisch ist; wir
müssen uns bewußt machen, daß sich die Erscheinungen jener
Epoche in den Krisen unseres Zeitalters wiederholen, und daß
unsere Kunst darum nicht ohne tiefen Instinkt gerade von der des
Mittelalters Anregung empfängt. Nur die glücklichsten Naturen
des Jahrhunderts haben den Zwiespalt nicht empfunden: ein Leibl,
Renoir, Menzel, Liebermann und noch manche andere — aber
auch diese nur in ihren allerbesten Stunden.
Die historische Unzulänglichkeit des modernen Kultur-
Dualismus zeigte sich in der Kunst sogleich, als sie über ihre fach-
mäßige Beschränkung hinaus zu eigentlich positiven neuen Lebens-
Werten schreiten wollte. Wir sahen, wie die impressionistische
Malerei nach der neuen Architektur begehrte, um fruchtbar werden
zu können. Jetzt erkennen wir, daß sie auch dieses Verlangen
mit ihrer geschichtlichen Gegnerin gemein hatte. Denn
die Kunst eines Hans von Marees bedarf wie keine einer neuen Bau-
kunst, sie träumt von einer zugleich dekorativen und doch be-
deutungsvollen Anwendung in großen monumentalen Architekturen.
Das bedarf heute keiner Worte mehr. Auch der Antiimpressionis-
mus will über das Tafelbild hinaus.
Er konnte also seinen Ruf mit dem des Gegners vereinigen.
Alle Zeichen deuteten auf die Notwendigkeit einer Verbindung der
beiden Strömungen in dem großen Flußbett der neuen Architektur.
Sie hätten beide ihre prinzipielle Einseitigkeit überwunden, sich
gegenseitig zu höchster Leistung beiruchten können.
Aber jene erträumte Monumentalarchitektur existierte nicht.
Sie konnte nicht existieren.
Hier lag das Verhängnis.
Das Ende des Impressionismus. 95
Freilich hat es nicht an Ansätzen gefehlt.
Man wird nicht leugnen können, daß gerade der Antiimpres-
sionismus, daß eben der strenge Reliefstil eines Hans von Marées
gewisse Keime enthält, die im geeigneten Boden zum Wuchs einer
modernen Architektur beitragen könnten. Indem die Lehre des
Malers eine Bildhauerschule befruchtete, wies sie die Bahn des
Aufstiegs von einer gesetzmäßigen Malerei über eine tektonische
Plastik zur Baukunst. Wenn trotzdem alle diese Bestrebungen
Fragment bleiben mußten und selbst ein Adolf Hildebrand nur
eine Schule neben anderen Schulen von noch dazu direkt entgegen-
gesetzten Intentionen zu bilden vermocht hat, wenn aus dem
Präraffaelismus des Malers van de Velde schließlich doch nur
ein völlig willkürliches Architekturornament entstehen konnte, —
so liegt das eben an der unumstößlichen Tatsache, daß sich noch
keine Baukunst von der Malerei hat Gesetze diktieren lassen, und
daß es vielmehr zu allen Zeiten organischen Kunstwuchses um-
gekehrt gewesen ist. Denn ein Baustil ist eben keine rein ästhetische,
sondern eine praktische, wirtschaftliche, soziale, religiöse Be-
dürfnisfrage.
Die unselige Verworrenheit der modernen Kunstzustände
kommt hier verhängnisvoll zutage.
Freilich bekamen wir moderne Bauten, öffentliche und noch
mehr private. Sie waren sozusagen um die Bilder der Impres-
sionisten und die Reliefs Adolf Hildebrands herumkomponiert.
Und doch: man merkt ihnen an, daß sie Geschöpfe einer Sehn-
sucht sind, die auf einen weit höheren Gegenstand abzielte, als
den, welchen das Leben schließlich gestattete. Daher das eigen-
tümlich Abstrakte, Kalte, übermäßig Repräsentative vieler moderner
Privatbauten, und der Mangel eines wirklichen Ornamentes. Was
wir besitzen, ist letzten Grundes — von rein hygienisch praktischen
Maßnahmen abgesehen — wohl ein Ausfluß, doch kein Ausdruck
unseres modernen Lebensinhaltes. Der unleugbare Geschmack
unserer Wohnkultur liegt wohl mehr im Vermeiden des Häßlichen,
als im Neuschaffen des Schönen. Er ist bezeichnenderweise am
vollkommensten dort, wo er am wenigsten „modern“ sein will
und streng konservativ die vor 100 Jahren abgerissene Tradition
wieder aufnimmt.
Der moderne Baustil in Deutschland entstand als eine Hilfs-
konstruktion der Malerei und Plastik. Er ist bis heute noch
Privatsache einzelner Besteller oder einer Behörde, die ge-
legentlich auch einmal einem Architekten der „modernen Richtung“
einen Auftrag gibt. Es scheint wie eine Ironie des Schicksals,
daß gerade bei denjenigen Aufgaben, für die unsere Gegenwart
96 G. F. Hartlaub;
typische Lösungen herangebildet hat, dem Bahnhof, dem Waren-
haus, eine Mitwirkung der übrigen Künste kaum nötig scheint.
Am Warenhaus wird kein neues Mosaik, kein junger Fresko-
stil heranreifen.
Die neue Architektur ist auf keinen Fall selbständig genug, die
anderen Künste von sich abhängig zu machen, und Träger einer
künstlerischen Synthese zu sein, wie derjenigen, deren Möglichkeit
wir heraufdämmern sahen. Hier liegt der große Unterschied zum
Mittelalter.
Man muß den ganzen Anspruch der erträumten Synthese be-
greifen, muß verstehen, welche Voraussetzungen sie im Umfang
des menschlichen Lebens vorfinden müßte, um nicht nur eine
äußerliche Kombination, ein Atelierexperiment zu sein, sondern
innerliches, organisches Wachstum zu entwickeln. Es handelt sich
ja nicht um die Verschmelzung zweier beliebiger Maltechniken,
sondern um eine Vereinigung von Weltanschauungen, die in Parallele
mit den Absichten des religiösen Monismus steht. Der Sensualismus
soll in Mystik, der Naturalismus in Symbolik übergehen. Der
Farbensinn, und zwar ein durch lange Übung äußerst empfind-
lich gemachter, überkuftivierter, der nur noch auf stärkste Reiz-
mittel antwortet, stellt sich freischöpierisch neben den Formsinn.
In seiner Ermüdung verlangt das Kunstgefühl nach strengster Ver-
einfachung, hat Lust an stärksten Gegensätzen. Reiner Umriß,
edelste Reliefkomposition und ungeheure Farbenpracht. Denn die
starke, einfache Form verträgt sich nur mit reiner, komplementärer
Farbe.
Aus einer solchen Synthese könnte nur eine Art von neuer
Primitivität hervorgehen. Die Kunst der Zukunft müßte eine ideale
Ausdruckskunst, müßte eine bis zu einem gewissen Grade un-
persönliche und in ihrer Gesamtwirkung ekstatische Kunst dar-
stellen!
Von alledem kann nun nicht die Rede sein. Für Bauten, an
denen eine Malerei von so unerhörtem Anspruch Sinn haben
könnte, fehlt es vorläufig in unserer Kultur durchaus an Platz.
Die Sehnsucht unserer Maler und Bildhauer ist dem übrigen Zeit-
inhalt weit vorausgeeilt. Der Abstand von Kunst und Leben ist
zu gewaltig geworden. Erst wenn es wieder ein soziales oder
religiöses Bedürfnis gibt, das nach großen Räumen für irgendeine
Art von geistiger Gemeinsamkeit verlangt, erst wenn umfassende
menschliche Gefühlskomplexe vorhanden sind, die nach sichtbaren
Symbolen begehren, wird eine solche Architektur Sinn haben, wie
sie die Künstler sich gern erträumen.
Das Ende des Impressionismus. 97
Was heute in diesem Sinne geschaffen wird, rechnet zu den
vielen künstlichen Neubildungsversuchen unserer Kultur, die nur
bestimmt sind, fruchtlos im Sande zu verlaufen. Es muß ganz not-
wendig Fragment bleiben.
O —
Die kölnische Sonderbund-Ausstellung, die soeben
ihre Pforten geschlossen hat, gab uns das traurige Schauspiel dieses
modernen Kunstidealismus.
Als der Held in der Schicksalstragödie des neuen Wollens
zeigte sich hier van Gogh. Von ihm muß nun vor allen Dingen
die Rede sein.
Nach dem biogenetischen Grundgesetz genialer Geistesent-
wicklung durchläuft er noch einmal alle wichtigen Phasen der
Vergangenheit. Er beginnt bei den alten Meistern. Er malt in
Paris nach der streng analytischen Art der Impressionisten. In
der Einsamkeit von Arles aber bricht durch, was unsern Künstler
zum Märtyrer unserer Kultur erhoben hat.
Die Entwicklung drängt ihn mit Naturnotwendigkeit zu jener
Wiedervereinigung, deren Sinn wir zu erkennen suchten, alle die
Eigentümlichkeiten, besonderen Absichten einer solchen Synthese
reifen in ihm zum Bewußtsein. Er muß den Schritt tun, obgleich
aller Boden dazu fehlt, mußte alle Konsequenzen ziehen, für die
das Leben doch keinen Platz hatte.
Niemals hat das Innen und Außen des Daseins einen so
klaffenden Abstand gezeigt.
Van Gogh mußte also fortfahren, Tafelbilder zu malen, Einzel-
werte für Galerien, Private, Ausstellungen und Kunsthandlungen,
obgleich alles in ihm von einem solchen Zufallsbetrieb zur Not-
wendigkeit, vom Mobiliar zur Immobiliarkunst drängte.
Alles Herrlichste, was er schuf, mußte so Fragment bleiben,
Fragment zu der heimlichen Kathedrale des kommenden Geistes
und der zukünftigen Gemeinsamkeit. Nicht ohne tiefen Grund
war van Gogh Sozialist und träumte von zyklischem Schaffen einer
anonymen Produktionsgenossenschaft von Künstlern. Nichts wehrte
sich in ihm gegen sog. inhaltliche, allgemein menschliche, ja lite-
rarische Bedeutungen der sichtbaren Kunst, ja er wollte nicht nur
dekorativ, sondern auch symbolisch sein. Und wenn dennoch an
manchen seiner Werke das Ornament beinahe als Selbstzweck
erscheint, so geschah das wider Willen und aus dem Grunde, weil
uns jene geistigen Inhalte, neue Religion, Mythos und Heilslehre
fehlen.
Zur Kathedrale von Stein gehört die Kathedrale des Geistes.
98 G. F. Hartlaub:
Van Gogh hat keinerlei Konzessionen gemacht. Er hat sich
nicht in dieser Umwelt eingerichtet. Viele seiner Bilder werden
nach einem Jahrhundert zerstört sein, weil sie nicht solid genug
gemalt sind. Das übermäßig Starke, Hemmungslose seiner Kunst,
die beinahe pathologische Ekstase, die nicht eben dauerhafte Mal-
weise — alles das sind die Folgen einer unendlichen Einsamkeit
des Willens. Es ist die Stimme des Predigers in der Wüste, die
schließlich unkontrolliert klingt, weil sie nicht Echo und Antwort
findet, und an Intensität verdoppelt, was sie an äußerer Wirkung
vermißt. |
Keine Kunst ist prophetischer als die van Goghs.
Was an ihr vollkommen, ist sein eigenstes Verdienst, was
aber unvollkommen scheint, daran ist nicht er, sondern sind
wir schuld.
Es sollnun eine neueste Kunst-Donquijoterie geben,
die da beansprucht, van Goghs Prophezeiungen zu er-
füllen. Wenn man ihn in der Sonderbund-Ausstellung inmitten
dieser seiner „Jünger“ erblickte, dann wußte man erst, wie ein-
sam er war und noch lange bleiben wird. Man erkannte auch,
daß er ein Verhängnis und ein Verführer wider Willen ist.
Die neue Malerei hat viele Namen. Die heillos überspannte
Überbewußtheit unseres allzu nepotischen Zeitgeistes erfindet deren
zu Dutzenden. Die Künstler von heute sind ihre eigenen
Kunsthistoriker. Für keine Zunft ist die Konstellation heute
so günstig wie für den Kunsthistoriker.
Wir müssen also den Kubismus, den Futurismus, Ex-
pressionismus über uns ergehen lassen und mit dem blauen
Reiter ins allzu Blaue galoppieren.
Alle diese Richtungen mögen im Atelier sehr interessant sein.
Aber was diese Leute dort tun, geht uns andere gar nichts an.
Freilich, so bedeutungslos dies Treiben im menschlichen Sinne
sein mag, so symptomatisch ist es doch für unsere Zeit, wenn wir
sie als Psychologe, Pathologe und Historiker betrachten.
Das einzig Erfreuliche unter allem, was uns die kölnische Aus-
stellung an Neuestem zu bieten hatte, war dort zu finden, wo sich
Künstler vom Tafelbilde loslösten und auch äußerlich den Schritt in
die angewandte Kunst taten, — die wenigen Möglichkeiten höherer
„Anwendung“ ergreifend, welche die Zeit bietet. So groß die Hoch-
achtung vor einem Thorn-Prikker sein muß, der diesen Schritt
gewagt hat, so gering ist andererseits das Verdienst zu werten,
das in dem unleugbar dekorativen Geschmack fast aller unserer
Das Ende des Impressionismus. 99
Jüngsten gefunden werden könnte, in ihrem Sinn für Flächen-
wirkung, Farbverteilung und dergleichen. Man muß heute schon
beträchtlich talentlos sein, um für solche Effekte keine Handfertig-
keit zu besitzen.
Gegenüber dem zweifellosen Gelingen grobdekorativer Wirkung,
die im, faustsicheren, radikalen Hinhauen von Farbe und Form
sich Genüge tut, muß immer wieder die ungeheure Verarmung an-
gestaunt werden, der hier die Kunst der Tafelmalerei anheim-
gefallen ist.
Bei solcher Nacktheit und Kahlheit ist selbst jene neueste
Romantik, die wieder nach Inhalten, Beziehungen, „Titeln“ ruft,
als eine Reaktion immerhin zu begrüßen. Leider fehlt es ihr nur
zu einer wirksamen Reaktion an allem und jedem Rüstzeug. Denn
um wieder „Perseus und Andromeda“ und „Kreuzabnahme“ zu
malen, reichen die primitiven Waffen unserer blauen Ritter am
wenigsten aus.
Man sieht keinen rechten Sinn in einer Wendung ins Ex-
pressionistische, ohne doch Expression, ins Dekorative, ohne doch
Dekoration, ins Primitive, ohne doch primitiv sein zu können.
Machte van Gogh die quantitative Armut seiner Mittel
zehnmal durch die ungeheure Intensität seines Ausdrucks wett, so
tritt bei den Jüngsten einfach nur der bare Mangel zutage.
Von Cezanne, dem letzten, freiesten, geistigsten, ausdrucks-
vollsten „Impressionisten“, fand noch mancher den Weg zum „Bilde“,
zur Tradition zurück, von van Gogh keiner, weil dieser Maler viel ver-
hängnisvoller ist. Aber auch die glücklicheren Bestrebungen jener
Jünger Cézannes werden bedroht durch die grau-leibhaftige Gegenwart
gewisser gespenstisch kalter Intellektualismen. Gerade die Me-
thode, die in dem Unsinn des „Kubismus“ steckt, ist so
unkünstlerisch und unfruchtbar.
Der Impressionismus hatte von gegenständlichen Beziehungen
abstrahiert. Er abstrahierte weiter vom Gegenstande selbst und
beschränkte sich auf dessen Eindruck. Schon hier lag für die-
jenigen, welche den quantitativen Mangel nicht qualitativ wettzu-
machen wußten, eine gewisse Verarmung. Blieb nun noch das sub-
jektive Eindrucksbild als Gegenstand der Malerei übrig, so war es
beim Hereinbrechen der expressionistisch- romantischen Absichten
gar kein großer Einfall, auch davon noch zu „abstrahieren“. Dieser
Witz ist ebenso absurd wie konsequent. Noch besser allerdings
wäre es, auch von dem übrigbleibenden Farbenspiel zu „abstra-
hieren“, und dann angesichts der leeren Leinwand dem Betrachter
faustisch einzuflüstern: „In deinem Nichts hoff ich das All zu
linden.“ | ä
100 G. F. Hartlaub:
Das letzte Band zwischen Schaffendem und Genießendem ist
endgültig zerrissen. Subjektive und objektive Notwendigkeit der
Kunst stehen in gar keiner Beziehung mehr. Kandinsky mag noch
so notwendig und logisch „schaffen“, aber die menschliche Natur
bietet keinerlei Möglichkeit, dieses Schaffen zu „verstehen“.
Es muß gesagt werden, daß sich die bildende Kunst in dem
Augenblicke, da sie sich jeder objektiven Grundlage begibt, theo-
retisch auf die Stufe der Musik stellt. Die Malerei will jetzt
so unabhängig mit Formen und Farben schalten, wie die Musik mit
ihren Tönen. Die Musik ist die reinste, abstrakteste, geistigste
aller Künste. Gewiß ist aus ihrem Geiste jede Schöpferkraft der
Phantasie geboren. Rückkehr zum Geiste der Musik heißt also
das Chaos aufsuchen, in dem noch alle Künste ungeschieden bei-
einander wohnen, heißt untertauchen in den dionysischen Gesamt-
willen zur Kunst. Diese Absicht klingt beinahe erhaben, sie ist
aber nichts anderes als schlimmste Schwächeerscheinung, als krank-
haftester Atavismus.
Allen Abstraktionen gegenüber behält das Leben in seinen
natürlichen Mischformen recht. Man lasse den Philosophen diesen
Mischcharakter übersehen, weit schlimmer ist es, daß die Künstler
ihn nicht mehr fühlen und gerade in seiner rätselhaften Unauflös-
barkeit lieben.
Wir sind von einem Extrem in das andere gefallen. Hatten
wir eben die Herrschaft der Literatur abgeschüttelt, so erfreuen
wir uns heute einer Tyrannei der Musik, die noch viel ärger
ist als jene. Dieser neue Bund von Malerei und Musik muß als
pervers bezeichnet werden. Die Musiker haben gewisse Konse-
quenzen daraus gezogen, die die Grundlagen ihrer Kunst vom
Seelischen ins Neurotische verschieben. Mit gewissen halbpatho-
logischen Tatsachen des Farbenhörens, Tonsehens etc. — Vor-
stellungen, mit denen jede Romantik und jedes Barock noch gern
gespielt haben, — wird jetzt blutiger Ernst gemacht.
Auch Neurosen sind naturgesetzmäßig und darum ist sicher
auch die Musik Skriabines nicht ohne Gesetz, aber der Ablauf
der Krankheit ist nicht die Regel der Kunst.
Es muß erst ein neuer Lessing auferstehen, der die
Untersuchungen über die Grenzen der bildenden Künste
vor allem auf das Verhältnis von Musik und Malerei aus-
zudehnen hätte.
Aber besser als die Überlegungen der Gelehrten werden der
kranken Kunst die Künstler selber helfen können. Und besser
noch als diese: wir alle.
101
Wilhelm von Scholz: Saturnusjahre. Terzinen.
Gib drei Saturnusjahre mir, drei Leben, '
statt dieser hastig schnellen Erdenjahre,
in denen Monde kurz wie Stunden schweben,
rasch wechselnd, wiederkehrend — statt daß wunderbare
Unendlichkeit die Jahreszeiten sind,
raumhaft gewaltig, jede Wieg’ und Bahre
für einen Lebenstraum, der spät zerrinnt
und neuer Weisheit weicht im Ring der Zeiten,
die uns dann Altern und Erkennen sind,
die sich mit stiller Dauer um uns breiten,
daß wir drin wachsend alle Hast verlernen
und durch ein weithin ruhendes Werden schreiten.
Gesegnet von den eilelosen Sternen,
die jede Nacht am gleichen Himmel steh’n,
geht unser Schritt in lang verhüllte Fernen.
Die Jahresmonde, die uns wachsen seh’n,
sind weit entwichen, wenn wir Männer sind
und steil auf schattenloser Höhe steh’n.
Sie kehren wieder, spät, kühl und gelind
und bringen Liebe, Jugend, Traum herauf,
die dann der Geist zum erstenmal durchsinnt.
Blühender geh’n sie vor der Seele auf,
die nichts mehr flüchtig wähnt, was ihr entschwindet,
weil einem ruhevollen Zeitenlauf
102
Wilhelm von Scholz: Saturnusjahre.
sie alles einmal und für immer bindet.
Wir sind zu groß für die so hastige Zeit,
die an der Blüte schon den Herbst entzündet.
Wir wollen Dauer! Laß das braune Kleid
des Laubs ohn’ Ende an den Bäumen hangen,
daß in den Herbst wir wandern mondenweit.
Durch Jahre laß für uns die abendlangen
Dämmerungen tief und immer tiefer reichen,
daß die Gesichte, die uns weit umfangen,
nicht, kaum uns wandelnd, neuem Tage weichen.
Dann werden unsere Stunden dunkelgroß
und schweigend jede tief der andern gleichen;
wir aber ringen aus der Zeit uns los,
die wir vergessen, in ein Jetzt getaucht,
ein Gegenwärtigbleiben wandellos,
das uns wie ruhender Seelenraum umhaucht.
Gib drei Saturnusjahre mir, drei Leben,
wie sie mein Geist zu seinem Werke braucht,
dem Erdenjahre allzu rasch entschweben ..
103
Aus alten Handschriften.
Ein unveröffentlichter Brief der Gemahlin König Otto I.
von Griechenland über die politischen Wirren in Athen.
Athen, den 9. Jan. 1850.
ein lieber, guter, süsser, engels Papa! Mit der Franz. Post schrieb ich
M Dir und ich fahre fort Dich au courant von dem Unerhörten zu halten;
wer nicht gegenwärtig ist, glaubt es nicht. Gott sei gelobt, der auch
in dieser Zeit uns nicht verlässt und da, wo unsere Feinde uns schaden wollten, Alles
zum Besten leitet; die Haltung des Volkes, der Kammer ist herrlicher und inniger
denn je, das Band zwischen König und Volk, wovon wir die rührendsten
Beweise hatten, jede Parteileidenschaft hat vor der Gefahr des Vaterlandes
aufgehört, Feinde umarmen sich, — es lebe der König, das Vaterland, unsere
Nationalität, das ist der 1000stimmige Ruf. Doch ich will chronologisch
erzählen und schicke Dir auch die Hauptpiècen. Als ich meinen Brief am
Freitag, d. 18. schloss, schrieb ich, dass unser Ministerium, gestützt auf
sein Recht, das Schiedsgericht der beiden andern. Schutzmächte angerufen
hatte. Als wir hinab ritten zur Musik erfuhren wir schon, dass Wyse der
Regierung kund that, das unsere Kriegsschiffe nicht mehr die Häfen ver-
lassen dürften, sonst würden sie zurückgeführt werden mit Gewalt. Unser
Dampfschiff hatte schon vor dieser Mittheilung den Hafen verlassen, mit Be-
fehlen nach Syra, aber ein englisches Dampfschiff folgte ihm. Um es zu be-
nachrichtigen schickte man ein französisches Dampfschiff nach, das es aber
nicht traf, und am 19. Morgens hatten es die Engländer gezwungen umzu-
kehren und brachten es nach dem Pyräus zurück. Unser Kapitän protestierte
feierlichst. Der Admiral hatte noch ein Dampfschiff nachgeschickt. Ein kl.
Kutter, der den Dienst zwischen hier und Paros thut, ward auch eingeholt;
da er nicht wenden wollte (er hatte 6 Mann an Bord) stiegen die Engländer
hinein und wendeten ihn selbst und brachten ihn auf den alten Ankerplatz.
Um Mittag den 19. begab sich der Wyse mit dem Admiral und der Gesandt-
schaft hinab; sie durchfuhren die belebteste Strasse, hoffend insultiert zu
werden; die Menschenmenge drehte ihnen den Rücken zu und schwieg trotz
der furchtbaren Wuth, aber sie haben politischen Takt und wissen was nichts
hilft und schadet. Wyse liess Londos avertieren, er gingen für 6 Tage auf
die Flotte zum Besuch —, nimmt seine Pässe nicht, erklärt nicht den Krieg
und handelt wie ein Pirat; denn denke Dir, auf einmal kommt die Nachricht
dass die Engländer unser Dampfschiff und Kutter genommen haben und nach
Ambelacki, den Hafen von Salamis gebracht haben, und der Wyse aveitiert
immer unsere Minister hernach, dass der Admiral sich genöthigt sah, unsere
Schiffe zu nehmen und nach Salamis zu bringen, weil sie gestern versuchten,
auszulaufen, notabene das Dampfschiff vor der Erklärung, — und er würde
sie behalten, bis wir die Verlangen erfüllt hätten. Andere Dampfschiffe wurden
ausgeschickt, unsere übrigen Schiffe zu holen. Die Piraten stiegen an Bord
des Dampfschiffes, lichteten die Anker und nahmen es ins Schlepptau, weil
unsere Leute sich nicht ergeben wollten. Einstweilen hatten beide Kammern
sich für die Haltung unseres Gouvernements einstimmig ausgesprochen; im
Senat ergriff Tocknyis, der Engländer, das Wort, billigte die Handlungsweise
des Ministeriums und ermahnte es auf dem Wege des Rechtes, der Ehre des
Throns und der Unabhängigkeit des Landes zu verharren. Frankreich und
104 Aus alten Handschriften.
Russland protestirten offiziell als garants unserer Unabhängigkeit gegen diese
Gewaltakte. Frankreich süperbe; unsere Protestation wird Dir auch ge-
fallen. Im Volke ein Zähneknirschen der Wuth, aber auch der fest ausge-
sprochene Wille, lieber Haus und Hof verlieren, als den jonischen Inseln
gleich zu werden. Gestern Morgen wie ich aufstand und zum Fenster hinaus-
sah, und der Gedanke mich erfasste, das Meer sei nicht mehr unser, und
die englischen Dampfschiffe darauf herumwogten, oh! da kochte mein Blut,
ich ward wüthend, und als ich in die Kirche ging, kämpfte ich einen schweren
Kampf, zum ersten Mal wurde mir die Bitte schwer, vergieb mir meine
Schuld, wie ich vergebe meinen Schuldigern. Es war ja unser Land, das
beschimpft, gekränkt, mit Füssen getreten wird. In der Epistel hiess es:
segnet, die euch verfolgen, segnet und fluchet nicht. Ich ward ruhiger, aber
zornig war ich, da sah ich die Piraten wieder mit einem kleinen Kanonen-
boote ankommen, das sie wahrscheinlich in Paros raubten, Gottlob ist die
Amalie in der Reparatur und ihr wird der Schimpf erspart. Wir ritten als
am Sonntag hinab zur Musik, mit welcher unendlichen Liebe grüssten uns
die Leute, als wir durch die Stadt ritten, wie sahen sie uns an, als das Pala-
dium ihrer Unabhängigkeit, und wie wir zur Musik kamen, wo viele 1000
versammelt waren, da ertönte ein donnerndes Hoch, und immer wieder, es
lebe der König, die Königin, das Vaterland, unsere Nationalität; und wie
das Stück aus war und wir herumritten wieder, da ertönten griechische
Weisen, und das Rufen war donnerähnlich, und die russischen, französischen,
österreichischen Oifiziere, Alles war hingerissen von der Macht des Augenblicks und
Alle riefen und schwenkten ihre Kappen und wie wir fortritten und jeder Einzelne,
dem wir begegneten von den Leuten, rief noch sein, es lebe unser König und unsere
Königin, und die italienischen Flüchtlinge und die Polen sogar riefen, dem Volke
erzälllend, wie die Engländer sie hineingebracht ins Unglück und sie hätten
hernach sitzen lassen. Es war ein grossartiger Moment, ganz Europa mit
seinen verschiedenen Nationalitäten Griechenlands Könige zurufend, ihm, dem
Bedrängten, dem Gekränkten diese Sympathie zeigend. Europas allgemeine
Meinung brandmarkte England. Wir ritten spazieren, als wir durch die
Stadt abends 6 Uhr nach Hause ritten, fanden wir auf dem Kreuzwege bei
der Bella greccia 1000 versammelt und das Rufen ging wieder los, mit welcher
Liebe umdrängten sie uns, vom General zum Soldaten, vom Senator und
Deputierten, bis zum einfachen Bürger, und so geleiteten sie uns, König,
Vaterland und Nationalität leben lassend, ins Schloss. Unsere Pferde konnten
garnicht gehen, so stark war das Gedränge. Als der Otto abstieg, stürzten
sie sich über ihn, küssten ihm die Hände, die Fusstannelle (Offiziere, Bürger);
es war rührend, man sah, wie klar das Volk die Gefahr sah, die es läuft,
wie es die Nation hasst, die seine Unabhängigkeit angreift. Wir traten noch
auf den Balkon und aufs neue donnerte es „Hoch“. So etwas habe ich nie
erlebt und ich kenne doch des Südens Enthusiasmus, aber dieses war ein
Ernst, eine Festigkeit in den Leuten, dass ich Gott nur danken konnte, der
uns würdigte über ein solches Volk zu herrschen und ihn bitten, uns immer
mehr unseres grossen Berufs würdig werden zu lassen. Ich sagte auch, wir
können die Engländer nur segnen, die das Band zwischen König und Volk
noch inniger knüpften, gegenseitig noch mehr lernten, was sie aneinander
haben. Vom Schlosse zogen sie zum französischen und russischen Gesandten
und dem Minister des Auswärtigen und brachten den drei auch ein Hoch.
Wem sie auf der Strasse begegneten, musste den König leben lassen. Dabei
keine Unordnung, keine missliebige Demonstration gegen das englische Hotel
Aus alten Handschriften. 105
oder Maurocordatos, dazu sind sie zu stolz; man soll sehen, was wir sind.
Es ist eine edle Nation. Die Engländer waren besoffen, Offiziere boxten sich
auf den Strassen, die beiden Tage der Unterhandlung; jedermann wusste
Alles, die Engländer schlugen, pufften, die Griechen zogen sich zurück und
ermalınten sich gegenseitig zur Vernunft, in der guten Sache nicht zu schaden.
Alle Zeitungen schreiben gegen die englischen Piraten Massregeln. Gestern
waren wieder Sitzungen in beiden Kammern und beide waren ganz einver-
standen mit dem Gouvernement. Man erwartet die französische Flotte, der
russische Geschäftsträger war so gut, das österreichische Kriegs-Dampfschiff
kommen zu lassen, das gerade hier in den Gewässern war, und es der grie-
chischen Regierung zur Disposition zu stellen im Nothfalle. Die russischen
Offiziere sind so ausser sich, was unter ihren Augen geschieht, das sie fort
wollten, mit Mühe hielt sie Persianny, dem Wyse immer Zufriedenheit aus-
drückte. Ich glaube Folgendes: Lyons hat in London fort gearbeitet und
Lord Palmerstone weiss garnichts; wenn die Flotte erscheint, wird ganz
Griechenland aufstehen, Maurocordatos verlangen und der König, von der
öffentlichen Meinung bezwungen, ihn nehmen müssen und dann mit ihm die
Sache à l’amiable arrangieren. Oder es ist ein inniges Einverständnis mit der
Türkei. Sie glaubten hier ein verhasstes Ministerium zu finden und fanden
ein gutes, starkes, aus Leuten, die ehemals der englischen Parthei angehörten
und mit dem sogar die Opposition zufrieden war, aber das war in London
nicht bekannt, anders glaubten sie den Geist, anders zeigte er sich ilınen;
sie hatten auch noch auf die Flüchtlinge gehofft als Ruhestörer und niemand
erzählt lebhafter die Perfidie der Engländer, als diese ihre Opfer, die Sache
schien fein angelegt, ist aber nicht geglückt. Dabei haben sie vergessen, dass
die beiden anderen Mächte mitzureden haben, haben vergessen, dass Frank-
reich, mit denen sie gestern in der türkischen Frage noch Hand in Hand
gingen, sich einen solchen Betrug unmöglich, schon seiner Ehre halber, ge-
fallen lassen wird. Unsere Haltung muss folgende sein, Ruhe, Festigkeit,
keine Fanfaronaden, passiver Widerstand solange wie möglich. Greifen sie
unse e Festungen oder die Hauptstadt an, so schlugen wir uns, und Ruhe im
Lande erhalten, glückt uns das mit Gottes Hilfe, und können wir die sechs
Wochen überleben, die vergehen, bis Europa handeln kann, so sind wir
Sieger. Die Gefahr sind die Rebellen, die England uns bringen wird aus
der Türkei, darum alle Massregeln nehmen, ehe sie einfallen, denn das ist,
was sie tun werden, da das Volk fühlt, mit Türken werden die Rebellen
kommen. Gott ist mit Griechenland, er wird es stärker aus dieser Krisis
hervorgehen lassen und Europa beweisen, dass es einer schönen Zukunft wert
ist, wir, Griechenland, sind jung, wir werden leben, wenn England nicht
mehr ist. Aber lieber untergehen, als den Piraten Vasallen sein. Kaphalonien
schwebt auch den Griechen als Beispiel vor. Unsere Berge sind Festungen,
wo sie sobald nicht hinkönnen, wir werden uns zu halten wissen, bis ein
Schrei der Indignation Europa zwingt, den Schwachen zu stützen. Europa
soll sehen, dass Deutsches Fürstenblut in unseren Adern fliesst, das wir
keine indischen Fürsten sind, Europa soll sehen, das wir ein stolzes - und
edles Volk beherrschen und wir lieber Brot essen unabhängig, als unter
englischen Kanonen uns in Samt und Seide hüllen. Glücklich, der in seiner
Jugend geprüft wird und seine Kräfte übt, er wird zu einem kräftigen
Mannesalter heranreiſen und im Alter die Früchte seiner Kämpfe geniessen;
glücklich Griechenland, das da lernt seine Kräfte brauchen, sich fühlen, da
es im Recht ist, Gott wird den Schwachen beistehen. England hat uns nach
106 Aus alten Handschriften.
und nach vorbereitet und durch die Uebung im Widerstande gestärkt. So
ohne Recht gegen jeden Brauch und alles Völkerrecht handelnd, das ist
scheusslich. Nur einige characteristische Züge aus dem Volk lasse Dir er-
zählen. Kein Lastträger bringt ihnen Kohlen, sie mussten Maltheser kommen
lassen, die Fuhrleute wollten sie nicht herabfahren, der gemeine Mann urteilt
so richtig und sagt, geben wir diesesmal nach, so sind wir verloren. —
Eben erfahre ich die Fortsetzung der Gewalttaten der Piraten. Nach Paros
kommen sie und ohne die Sanitätsgesetze des Landes nur im Geringsten zu
beachten, raubten sie alles in Paros, was sie fanden, bis zur Barke, und
heute lassen sie kein Handelsschiff mehr ein und aus dem Pyräus, lassen
nicht mehr einladen, und wer ausladet, muss an einem anderen Platz als
die Douane ausladen und das alles ohne Kriegserklärung, ohne Alles.
ER den 22. Sie blockieren auch Syra und Patras ohne Erklärung.
Thouvenel, der vertraulich sich bei Wyse erkundigte, ob Krieg oder Friede
sein, und ernstlich aufmerksam machte, erhielt eine ausweichende Antwort,
wie England nur seine Untertanen schütze usw. Wie ungeschickt, gerade
einen Juden gewählt zu haben, um ihren Hass durchzuführen, hier, wo man
noch nicht so civiliert ist und — nun das gehört nicht hierher, ungläubig
wollte ich sagen, Juden zu emanzipieren, dafür zu schwärmen. — Nun muss
ich Dir noch etwas eigenes erzählen; als ich neulich Elimars Brief bekam,
war darauf eine Oblate, ein Kind auf dem Steckenpferde mit der Umschrift,
Krieg oder Friede, in demselben Augenblick war dieser Scherz bittrer Ernst
bei uns; das mächtige England stellte die Frage dem kleinen schwachen
Griechenland. Es machte mir einen eigenen Eindruck, wie jedes Kind seinen
Schutzengel hat, so steht auch uns der Glaube, das Gottvertrauen und die
Gnade Gottes zur Seite. — Seit gestern nach den Frühlingslüften, Kälte,
Schnee, da freuen wir uns boshaft, dass die Engländer frieren werden auf
ihren Schiffen. — Ich vermute, Otto wird Gesandte nach Paris und Peters-
burg schicken, es ist höchst notwendig. Mein Otto ist wohl und wie immer
wenn es gilt ein rechter Fürst, ritterlich und ohne Furcht, aber zornig mit-
unter, gewöhnlich aber Ruhe, Würde und Heiterkeit zeigend. Wenn es so
recht bunt hergeht, ist Otto immer heiter. Ich ende diese lange Epistel,
mein Papa. Durch Wiwis Brief erfuhrst Du schon, warum dieser etwas
später kommt, durch sie wirst Du aber schon alle Papiere bekommen haben.
Die Engländer geben zu verstehen, dass es sich nicht um die Unabhängig-
keit des Landes handle, sondern der Grund ein anderer sei, sie zeigen auf
den König, der sei Schuld an Allem. Lebe wohl, mein engels Papa, segne
Deine Kinder, bete für uns, das Gott uns Kraft gebe, das Rechte zu erkennen,
zu tun, und uns Schwachen beistehe, dass er dieses Land, das er durch
Wunder werden liess, bewahren wolle und seine Hand nicht von ihm ab-
ziehe. Gott bewahre meinen Engelspapa vor Unangenchmlichkeiten, erhalte Dich
gesund und frisch.
Deine Dich ewig liebende Tochter
Amalie.
*
Soeben teilt der englische Consul mit, dass, da das bisherige Ver-
fahren nichts genützt, strengere Massregeln genommen werden sollen.
107
Dr. H. Smidt: Nochmals der Fall Nogi.
nter dem frischen Eindrucke der Nachricht vom Selbstmorde General
Nogis schrieb Ular seinen Artikel in der vorigen Nummer unserer
Zeitschrift. Inzwischen sind wir in die Lage gekommen, die Motive,
die den alten Helden in den Tod trieben, kennen zu lernen. Vor mir liegt die
„Deutsche Japan-Post“ vom 21. September mit einer authentischen Über-
setzung seines Testamentes. Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, an der
Hand dieses Dokumentes zu prüfen, ob die Voraussetzungen zutreffen, auf
deren Grund Ular zu einem absprechenden Urteile über die Tat und weiter
über Japans Kultur kam.
Aus dem ersten Artikel des Testamentes, dessen Inhalt seither aus
russischen Zeitungen, zum besseren Verständnis für europäische Leser über-
redigiert aber nicht entstellt, auch in die heimische Presse ger eh geht
nun folgendes hervor.
Durch Nogis Schuld ging in dem Kriege gegen den großen Rebellen Saigo
Takamori 1877 die Fahne seines Regimentes verloren. Nach altjapanischen
Anschauungen hätte nun Nogi diesen Flecken auf seiner Ehre nur durch
Selbstmord abwaschen können. Aber sein Kaiser wollte den tüchtigen Mann
nicht fallen lassen. Er berief ihn auf immer wichtigere Posten, und Nogi
dachte modern genug, um das kaiserliche Vertrauen und die ihm daraus er-
wachsenden Pflichten höher zu stellen als die Befriedigung des traditionellen
Ehrenkodexes. Nunmehr hat aber der Schmerz über den Tod seines Herrn
die alte Wunde wieder aufgerissen. Er erinnert wieder an jenes unglückliche
Ereignis und fährt dann fort: „Ich folge jetzt Seiner Majestät auf dem
Wege des Todes durch Selbstentleibung. Ich bitte um Verzeihung, denn ich
begehe damit ein schweres Verbrechen. Nach und nach werde ich alt
und schwach, und die Zeit, wo ich etwas leisten kann, ist zur Neige ge-
gangen.. Jetzt habe ich daher den festen Entschluß gefaßt, zu sterben.“
Hält man sich vor Augen, daß der Selbstmord an sich für den Japaner
von heute zwar verboten, aber nicht entehrend ist, so machen uns die ange-
gebenen Motive die Tat Nogis durchaus verständlich. Ein sehr feines Ehr-
gefühl, das die längst gesühnte Verfehlung nicht vergessen kann, heiße Liebe
zum Herrscher, dessen Tod aufs tiefste erschüttert, wer von uns wagt das
rückständig zu nennen? Von einer abergläubischen Idee der persönlichen
Gefolgschaft im Jenseits finde ich hier nichts. Daß dergleichen einmal in
Japan bestand, soll gar nicht geleugnet werden. Aber das Verbot der
Menschenop’er am Grabe des Herrschers datiert aus dem Jahre 2 vor Christus.
Das ist etwas lange her. Und wenn Jeyasu im Anfange des 17. Jahrhunderts
noch gegen den Junshi (freiwilligen Vasallentod) mit seinem 76. Artikel vor-
gehen mußte, so mag uns das nicht weiter überraschen von einem Zeitalter,
in dem in Europa der Duellunfug derartig blühte, daß sich, in Hamburg
zum Beispiele, sogar die Nachtwächter kommentmäßig auf Leben und Tod
schlugen. Die dem Junshi zu Grunde liegende Idee dürfte aber im heutigen
Japan kaum noch irgendeine Bedeutung als Selbstmordmotiv haben. Weder
Chamberlain noch Mitford, noch Papinot, lauter Autoritäten hohen Ranges,
noch ganz neuerdings Nemosuke Fujisawa erwähnen in ihren Artikeln über
Harakiri etwas davon.
Man kann ja nun schon die stark betonte Liebe zum Verstorbenen als
„Totenkult“ bezeichnen. Aber Ular hält doch kaum den Totenkult als solchen
108 Dr. H. Smidt:
für eine rückständige Sache. Es kommt auf die Motive an. Nun entspringt
die ethische Kultur Japans drei Hauptquellen. Die uralte nationale Natur-
religion Japans, der Shinto, ist selbstverständlich voll „abergläubischer“
Momente, und der orthodoxe Shintopriester dürfte nicht viel aufgeklärter sein als
ein Tiroler Kurat. Ganz anders liegt die Sache aber beim Buddhismus und
der Lehre des Konfuzius, die beide den höchsten Einfluß auf die Gestaltung
der japanischen Psyche gehabt haben; deren Auffassung der Pflichten gegen
die Toten vertragen sehr wohl eine moderne Kritik.
Die buddhistischen Anschauungen über Totenehrung beruhen auf der
Lehre von der Seelenwanderung und vom Karman: „Das Los des Menschen
hängt von den guten und schlechten Taten ab, die seine Seele in früheren
Inkarnationen angesammelt hat.“ Das ist uralte indische Weisheit, die sich
mit unserem Entwicklungsgedanken sogar besser verträgt als unsere christ-
liche Vergeltungslehre. Sie lehrt den Buddhisten gleicherweise die Ehrung
der Vorfahren und die Sorge um Reinhaltung des eigenen Tugendschildes.
Konfuzius und andere chinesische Weise machten die Liebe zu den
Eltern, die Grundlage des Ahnenkultes, auch zur Grundlage ihrer Ethik, weil
sie in ihr die festeste Stütze der menschlichen Gesellschaft sahen. Wenn wir
den Juden ihre kindliche Pietät auf ihr Pluskonto schreiben, so haben wir
eigentlich keine Veranlassung, den fernen Osten deshalb zu tadeln.
Aber das Kleben an der Tradition ist ein Hemmnis für die Kultur,
das scheint mir Ulars leitender Gedanke zu sein. Und nun kommen wii
eigentlich an den Kernpunkt des Artikels und, gestehe ich es gleich, an die
größte Meinungsdifferenz, die mich von seinem Autor trennt. Er schreibt
dem Volke die höchstentwickelte Kultur zu, „in welchem die verhältnismäßig
größte Anzahl von Individuen sich durch eigene Energie und eigene Über-
legung... eine Weltanschauung gewonnen hat.“
Wir wollen hier nicht darauf eingehen, daß ein solcher Kulturmaßstab
nirgends anlegbar ist, und daß mich infolgedessen niemand Lügen strafen
könnte, wenn ich behaupten wollte, die Japaner hätten sich seit dem Ein-
dringen europäischer Philosophie und Theologie eifriger, erfolgreicher und
in größerer Anzahl mit Weltanschauungsfragen beschäftigt als die Europäer.
Wir wollen nur konstatieren, daß eine solche Definition allen Begriffen
widerspricht, die man bisher mit dem Worte „Kultur“ verband.
„Kultur“ ohne einschränkende Beiworte bedeutet im volkspsycholo-
gischen Sinne selbstverständlich nicht das Pflegen oder den Zustand eines
einzelnen Seelen vermögens, sondern aller psychischen Eigenschaften. Niemand
kann dekretieren, daß nur die Pflege des Intellektes ein Volk zum Kultur—
volke mache. Wollen wir die Kulturhöhe zweier Völker vergleichen, so
müssen wir nicht nur ihre intellektuellen Leistungen, sondern auch die Fein-
heit ihres ästhetischen und ethischen Fühlens abzumessen suchen. Das ver—
meidet aber Ular. Sich auf seine oben mitgeteilte Definition beziehend, sagt
er: „Hierin allein liegt die europäische Kultur, und jeder andere Maßstab
würde sie unter die mohammedanische oder indische stellen.“ Er gibt damit
zu, daß Europa mit seiner ethischen und ästhetischen Kultur keinen Staat
machen kann, und will doch um alles nicht darauf verzichten, ihm die Palme
zu reichen.
Nun ist aber die intellektuelle Kultur die labilste, sie kann am leich—
testen entstehen, am leichtesten vergehen, am leichtesten übertragen werden.
Wie der Einzelne bei uns sich in plus minus einem Dutzend Schuljahren aus
dem Wissensschatze Europas das ihm Nötige aneignet, so hat Japan die ge-
Nochmals der Fall Nogi. 109
samte intellektuelle Kultur Europas in wenig mehr als einem Menschenalter
mit Sack und Pack übernommen, beiläufig gesagt, ein starkes Stück für ein
Volk, das unrettbar unter der Macht der Toten stehen soll. Es baut seine
Dreadnaughts ohne frenide Hilfe, es nimmt nicht nur Europas Weisheit auf,
es mehrt sie auch trotz gegenteiliger Behauptungen selbständig. Um nur
Einiges herauszugreifen: die Leistungen seiner Mediziner auf dem Gebiete
der Bakteriologie sind weltbekannt und seine Denker machen uns die steilen
Pfade nordbuddhistischer Philosophie erst gangbar und erölinen uns damit
eines der interessantesten Gebiete menschlicher Geistesarbeit.
Alles ganz schön und gut, mag der Autor sagen, aber die Wissenschaft
wurzelt in Japan doch nicht fest genug, um die Tradition zu verjagen. Ich
kann die Tatsache weder bejahen noch verneinen, wir kommen da auf in-
commensurable Dinge. Aber warum sollen wir uns eigentlich absolut „von
den Toten befreien?“ Die Toten haben doch gelebt, gefühlt, geschaffen,
gelernt wie wir, und ein Volk verarmt doch innerlich rettungslos, wenn es
all' die geistigen Schätze, die seine Vorfahren angehäuft haben, verschleudert.
Es muß alle Arbeit von vorn anfangen und entbehrt jeden Maßstabes, um
den Wert des Neuen abzuschätzen. Dem marchand de nouveautés mag es
allerdings ganz recht sein, wenn wir seine neueste Mode stets für die aller-
schönste halten. Wer den „Fortschritt“ aber so kritiklos auffaßt, endet un-
fehlbar im geistigen „Kitsch“. Gerade der Totenkult wirkt dem entgegen.
Doch genug davon. Eine einigermaßen erschöpfende Auseinandersetzung
hierüber würde Bände füllen.
Wie uns das Beispiel Japans zeigt, läßt sich die Summe menschlichen
Wissens auch einem Volke überliefern, das nicht schon seit Jahrhunderten die
Wissenschaften auf europäische Art betreibt. Ethischen und ästhetischen
Hochstand kann aber ein Volk nicht importieren. Daran müssen viele Gene-
rationen züchten. Räumt ein Volk mit seinen Traditionen auf, so müssen
Ethik und Ästhetik zuerst daran glauben. So auch in Japan, wo europäische
Einflüsse vielfach zerstörend und verzerrend gewirkt haben. Immerhin ist
noch genug des Guten übrig geblieben. |
Die Japaner sind gewiß keine Engel. Die Unzuverlässigkeit ihrer
Kaufleute schreit zum Himmel, und die unter der Maske der Höflichkeit ver-
steckte Oeringschätzung der „westlichen Barbaren“ macht sie uns nicht
sympathischer. Aber sie haben im russischen Kriege glänzend abgeschnitten.
Nicht daß sie die Russen besiegten, sondern wie sie sie besiegten, ist maß-
gebend. Alle Beobachter aller Nationen sind darin einig, daß die Freudig-
keit, mit der jeder einzelne Not und Tod fürs Vaterland ertrug, vorbildlich
war, und ebenso die Milde und Menschlichkeit, mit der der geschlagene
Gegner behandelt wurde. Und jeder, der mit Japanern verkehrt, die noch
nicht allzu intim mit Europäern in Berührung gekommen sind, rühmt ihre
Alltagsethik: Höflichkeit, Güte, Rücksicht, lauter Eigenschaften, die wir mit
mäßigem Erfolge durch Polizeiverordnungen zu ersetzen suchen. Das sind
Dinge, die wir ihnen ruhig gutschreiben dürfen.
Daß der Durchschnitts-Japaner ästhetisch erheblich feinfühliger ist als
der Durchschnitts-Europäer, das ist gar keinem Zweifel unterworfen. Jedes
Objekt, das nicht für den europäischen Bedarf gearbeitet ist, lehrt es, jede
nationale Festlichkeit. Wer von chinesisch-japanischer Kunst geringschätzig
spricht, kennt sie nicht oder ist überhaupt nicht in der Lage, sich in eine
fremdartige Kunst einzufühlen. Noch immer ist der ästhetisch empfängliche
Mensch, der Gelegenheit hatte, klassische fernöstliche Kunst zu studieren
110 Dr. H. Smidt: Nochmals der Fall Nogi.
(nicht nur die spielerische Kunst der Tokugawazeit, die etwa unserem Rokoko
entspricht), vom Saulus zum Paulus geworden.
Und nun noch eins: Seit Percival Lowell beruhigt sich der ängstliche
Europäer damit, der Japaner, überhaupt der Asiate sei kein Individualist
und darum minderwertig. Ich rate dringend, ehe man sich in Ruhe wiegt,
diese Lehre noch einmal zu revidieren.
Die Annalen der japanischen Geschichte des Mittelalters strotzen von
eigenwilligen Charakteren, die ihr Leben furchtlos einsetzten, um ihre Ideale
zu behaupten. Wenn es auch den Tokugawa-Shogunen gelang, durch eiserne
Faust und eine raffinierte Gesetzgebung die Unbändigen im Zaume zu halten,
so spielte sich unter unseren Augen während und nach ihrem Sturze das
Schauspiel des Zusammenprallens scharf geprägter Individuen in großartiger
Weise ab. Der milde Buddhismus wird in Japan der Anlaß zu heißen
geistigen und physischen Kämpfen. Und der friedliche Wettkampf eigenartiger
Talente und Genies auf dem Gebiete der bildenden Künste tritt zwar in
anderen Formen auf, ist aber durchaus nicht weniger lebhaft als in Europa.
Man muß nur nahe genug stehen, um das zu erkennen. Von der Spitze des
Montblanc aus ist allerdings die ganze Menschheit nur ein wimmelnder
Ameisenhaufen.
Wir Deutsche sehen die Welt gern durch eine enge Röhre an. Was
in ihren Gesichtskreis fällt, sehen wir besonders scharf. Was aber jenseits
unserer klassisch- orientierten Bildungssphäre liegt, existiert für die meisten
von uns nicht. Wer mehr vom fernen Osten wissen will, als er aus per-
sönlicher Anschauung oder aus oberflächlichen Reiseberichten lernen kann,
muß sich leider zumeist an englische und französische Quellen wenden. Das
sollte anders werden. Auch wer keine besondere Sympathie für die gelbe
Rasse hegt, sollte sich nicht abhalten lassen, sie aufs eingehendste zu stu-
dieren. Wenn wir einmal an dem großen Ringen um die Weltvormacht, dessen
Anfänge wir schon erleben, teilnehmen wollen, dürfen wir die Gegner nicht
unterschätzen. Sonst machen wir ihnen den Sieg allzu leicht.
111
Dr. Ernst Schultze: Das Zurückbleiben Englands
auf technischem Gebiet.
eitblickende Engländer klagen wieder und wieder darüber, daß die
Vernachlässigung der technischen Wissenschaften
dem Wirtschaftsleben ihres Landes schwere Niederlagen ver-
ursacht habe. Welche Schwierigkeiten sich für die Fortentwicklung des
Wirtschaftslebens und der Technik in England ergeben haben, weil man die
Theorie auf Kosten der Praxis unterschätzte, zeigt sich klar an dem Beispiel
der Teerfarben- Industrie, die — ursprünglich eine englische Erfindung —
in wenigen Jahrzehnten in Deutschland ihre höchste Ausbildung erhielt,
so daß die Engländer nicht nur ihren Vorrang darin einbüßten, sondern
daß auch der innere englische Markt in stärkstem Maße von der deutschen
Produktion abhängig geworden ist.
1856 hatte W. H. Perkin den Farbstoff Mauvein (Malvenfarbe) entdeckt
und damit die Grundlage zu der Teerfarbenindustrie gelegt. Der Farb-
stoff färbt die tierischen Fasern sowie Jute ohne Beizen, die übrigen Pflanzen-
fasern unter Anwendung von Gerbstoffbeize violett. Schon zwei Jahre
später gelang es fast gleichzeitig zwei anderen Chemikern, Nathanson
und A. W. Hofmann, einen roten Teerfarbstoff, das Fuchsin, herzustellen.
Das Mauv£in ist im Laufe der Zeit fast ganz aus dem Gebrauch verschwunden,
während das Fuchsin seine Bedeutung behalten hat. An seine Seite trat im
Laufe der Jahre eine lange Reihe anderer Teerfarbstoffe, um deren Her-
stellung sich insbesondere der Berliner Chemieprofessor A. W. v. Hofmann
verdient machte. Die erste technische Herstellung von Teerfarben gelang im
Jahre 1862. Mehr und mehr haben dann neben Hofmann auch andere
deutsche Chemiker eine ganze Kette von Teerfarben entdeckt und die tech-
nischen Verfahren zu ihrer Herstellung und Anwendung so verbessert, daß
die Teerfarbenindustrie heute in keinem Lande der Welt so entwickelt ist wie
in Deutschland.
Großbritannien ist, da es in der wissenschaftlich-theoretischen Weiter-
bildung dieses Gebietes völlig zurückgeblieben ist, auch in dessen wirtschaft-
licher Ausnutzung in den Hintergrund gedrängt worden. So liefert denn
Deutschland heute von der Weltproduktion an Farben etwa drei Viertel, und
selbst auf dem englischen Markte hat es die Cberhand gewonnen. Während
vor einem Jahrzehnt eine einzige große chemische Fabrik in Deutschland
(etwa die Badische Anilinfabrik) außer ihren Arbeitern, Ingenieuren und
Bureaubeamten 500 wissenschaftlich durchgebildete Chemiker beschäftigte,
betrug die Gesamtzahl aller in England in der Teerfarbenindustrie beschäf-
tigten Chemiker nur 30 oder 40. Die Ausfuhr von Teerfarben aus England
fiel von 530 000 Pfund Sterling im Jahre 1890 auf 360 000 Pfund 1900; die
Einfuhr dagegen, die 1886 erst 509000 Piund Sterling betragen hatte, hob
sich 1900 auf 720 000 Pfund. Und um ein Beispiel aus der britischen Färbe-
industrie zu geben, verwendete im Jahre 1901 die „Bradford Dyer’s Asso-
ciation“ nur noch 10 % englischer Farben, 4% französischer, 6% schwei-
zerischer — dagegen 80 % deutscher.*)
) Zitiert nach einem Vortrage von Dr. A. G. Green in der Sektion für Chemie der Jahres -
versammlung der „British Association“ im Jahre 1901,
112 Dr. Ernst Schultze:
Dennoch ist die öffentliche Meinung in England noch heute nicht von der
Überzeugung des inneren Wertes, des Wesens und der Notwendigkeit einer
voraussetzungslosen Wissenschaft durchdrungen. Man sucht die Nutz-
losigkeit des Buchwissens etwa dadurch zu beweisen, daß man an
Jakob I. erinnert, der als „the wisest fool in Christendom“ bezeichnet wird,
und an Karl II., der „niemals etwas Törichtes sagte und niemals etwas Kluges
tat (never said a foolish thing, and never did a wise one).“ Mit solchen
Erinnerungen ist natürlich gar nichts bewiesen.
Wie tief sich die Geringschätzung des Wissens in dem eng-
lischen Geist eingenistet hat, hat ein Vorkommnis der letzten Zeit erneut be-
wiesen. Die „Westminster Gazette“ berichtete am 24. April 1911, daß die
verlagsbuchhandlung R. Oldenbourg in München ein internationales tech-
nisches Lexikon herausgegeben habe, ein Werk von etwa 30 Bänden, das
alle Gebiete des technischen Wissens berücksichtigt und jeden Gegenstand in
deutscher, englischer, französischer, spanischer, italienischer und russischer
Sprache behandelt. Dieses Werk werde in Deutschland, Frankreich und
Rußland in Zehntausenden von Exemplaren verkauft — in England seien die
Buchhändler kaum imstande, einige hundert Exemplare abzunehmen, und
die meisten davon blieben auf ihren Regalen liegen, ohne daß sie sie ver-
kaufen könnten. Wenn England daher im internationalen Wettbewerb zurück-
gedrängt werde, so sei dies nicht zu verwundern.
Die gleiche Beobachtung kann man von zahlreichen anderen Seiten
bestätigt hören. Der Schwede Steffen schreibt darüber: „Die wirtschaftliche
Kraft zu handeln ist bei dem Engländer wahrhaft großartig, aber nicht hin-
länglich unter die Botmäßigkeit der Intellektualität gebracht. Es ist eine
mehr tierische als geistige Tatkraft, die sich von Einzelfall zu
Einzelfall weitertastet, von der Hand in den Mund lebt und sich für den
Tag zweckentsprechend einzurichten sucht, ohne darüber zu grübeln, ob da-
durch Zweckmäßigkeit für die lange Zukunft, die unfehlbar mit heute anfängt,
zu erzielen ist.“*)
Auch Shadwell äußert sich im selben Sinne. Er meint, daß sich in
Deutschland und in den Vereinigten Staaten weit mehr Verlangen nach posi-
tivem Wissen zeige als in England; er setzt Deutschland in dieser Beziehung
an die erste, Amerika an die zweite Stelle.**)
An der Spitze aller Mängel, die unter den kulturpsychologischen
Eigentümlichkeiten des englischen Geistes zu beobachten sind, steht das
starre Festhalten an der Gewohnheit. Wie unpraktisch diese auch
sein, wie sehr sie mit den Bedürfnissen der Gegenwart im Widerspruch
stehen mag — ganz gleichgültig, der Engländer klammert sich mit aller Kraft
daran fest. Er liebt über alles die Beständigkeit. Im Grunde seiner Seele
ist er durchaus konservativ, wie demokratisch er sich auch in mancherlei
Dingen gebärden mag. Er wünscht, daß das Altgewohnte beibehalten werde,
so wenig es sich auch für unsere Zeit eigne. Deshalb sitzt der Sprecher des
Unterhauses noch immer auf seinem Wollsack und schwitzt unter seiner Pe-
rücke; deshalb ist das gesamte politische und juristische Leben der Nation
) Gustaf F. Steffen: England als Weltmacht und Kulturstaat. Studien über politische,
intellektuelle und ästhetische Erscheinungen im britischen Reiche. Deutsch von Dr. Oskar Reyher.
2. Auflage. (Stuttgart: Hobbing & Büchle, 1902.) 2. Band: Der Kulturstaat, Seite 197.
*) Arthur Shadwell: England, Deutschland und Amerika. Eine vergleichende Studie
ihrer industriellen Leistungsfähigkeit (Industrial Efficiency). Deutsch von Felicitas Leo. (Berlin,
Carl Heymanns Verlag, 1908.) Seite 30.
Das Zurückbleiben Englands auf technischem Gebiet. 113
mit tausend alten Bräuchen und Gewohnheiten durchsetzt. Sie wirken male-
risch, erhalten den Zusammenhang mit der Vergangenheit und verbrauchen
Zeit und Kraft, sind aber dem Fortschritt nicht unter allen Umständen
hinderlich. Wo jedoch die Vorliebe für das Altgewohnte mit dringenden Be-
dürfnissen der Gegenwart in Widerstreit kommt — da erweist sich der Sieg
des ersteren für den Fortschritt der Kultur als ein Heminnis, das vielleicht
erst nach Jahrzehnten überwunden werden kann. Fast alle Einrichtungen
und Zustände im großbritannischen Inselreiche sind durchsetzt mit einer
Menge von störendem Formelkram und zeitraubenden Gebräuchen, während die
neuhinzugekommenen Bestandteile mit den alten zum Teil in scharfem Wider-
spruch stehen, so daß zuweilen ein heilloser Wirrwar die Folge ist. Alles
dies stört den Engländer nicht, er baut ruhig auf der Vergangenheit weiter,
ohne sich dazu aufzuraffen, solche Überbleibsel aus früheren Jahrhunderten,
die in unser Leben nicht mehr hineinpassen, kurzerhand zu beseitigen.
Oder die zutage getretenen Übel müssen erst so unheilvolle Wirkungen
ausgeübt haben, daß nun eben etwas anderes als ihre Beseitigung überhaupt
nicht mehr möglich bleibt. Dann wirft er endlich alle Rücksicht auf die
Vergangenheit über Bord und schafft neue Zustände, die — im Vergleich zu
seinen sonstigen konservativen Gewohnheiten — durch ihren Radikalismus
überraschen können.
Im allgemeinen aber bewundert der Engländer, welcher Partei er auch
angehört, die Einrichtungen seines Landes ganz ohne Rücksicht darauf, ob
sie praktisch sind und ihren Zweck erfüllen. Ihm genügt es, daß es seine
eigenen Einrichtungen sind, und er fühlt sich mit tausend Banden an sie
geschmiedet, weil er an sie gewöhnt ist. Er würde es für unrichtig halten
oder würde doch die Mühe scheuen, diese Ketten zu zerreißen. Deshalb
gibt er zuweilen ungemein schlechten und unpraktischen Einrichtungen oder
Verhältnissen den Vorzug vor besseren, weit zweckmäßigeren, die bei anderen
Völkern schon längst ausgeprobt wurden und sich als sehr segensvoll er-
wiesen haben. Es müssen sich schon die verderblichsten Folgeerscheinungen
eingestellt haben, wenn er mit dem Wust der Vergangenheit aufräumen soll.
Versucht irgendeine Bewegung, von den Zuständen auf einem bestimmten
Kulturgebiet ein Idealbild zu zeichnen und die Verhältnisse der Gegenwart
daran zu messen, um ihre Reformbedürftigkeit zu zeigen, so kann es sich er-
eignen, daß der Engländer sich mit Seelenruhe davon abwendet und an seinen
alten Einrichtungen festhält, obwohl er überzeugt ist, daß sie schlecht sind
— nur weil die Konstruierung neuer Zustände aus einem Ideal heraus ihm
nicht zusagt. „Den nahezu schlechtesten, ererbten Verhältnissen gibt er den
Vorzug vor Änderungen auf der Grundlage bloßer Idealgestaltung, denn er
weiß, daß die ersten wenigstens einigermaßen Resultate geliefert haben —
they work, you know! — er argwöhnt aber mit seinem tiefsten Instinkte,
daß die anderen überhaupt gar nichts taugen möchten. Das Ideal wird
in England wie gemeinhin der Angeklagte vor dem Richter-
stuhl behandelt — es gilt so lange als verbrecherisch, bis es seine Un-
schuld bewiesen hat.“) C
Die überwiegende Macht der Gewohnheit, die hier zutage tritt, äußert
sich in den verschiedensten Erscheinungen des englischen Kulturlebens. Ins-
besondere sei auf die unpraktischen Steuersysteme hingewiesen, die
sich immer noch im wesentlichen auf dem Immobilienbesitz aufbauen, was
) Steffen a. a. O. Band 1, Seite 66.
114 Dr. Ernst Schultze:
für die Wirtschaftsverhältnisse des Mittelalters passen mochte, heute aber
ganz unbrauchbar ist; nun wird infolgedessen für jeden einzelnen Kultur-
zweig eine besondere Steuer auf Grund dieses Immobilienbesitzes erhoben,
die nach oben hin begrenzt ist, so daß auch solche Städte, die für einen be-
stimmten Zweck mehr ausgeben möchten, dazu nur dann in der Lage sınd,
wenn sie sich die Mühe machen, im Parlament in Westminster ein besonderes
Gesetz darüber durchbringen zu lassen. Also Schematismus in seiner
schlimmsten Form — genau das, was man in England häufig dem
deutschen Staatsleben vorwirft.
Das gesamte Maß- und Gewichtswesen Englands sowie die Einteilung
der Münzen (des Pfundes in 20 Shillinge, des Shillings in 12 Pence, also
nach zwei verschiedenen Systemen, die beide nicht mit dem Dezimalsystem
zusammenfallen) ist bekanntermaßen überaus unpraktisch.
In letzter Zeit hat insbesondere Lord Haldane darauf aufmerksam
gemacht, wie schwer sich England selbst zurückgebracht habe, weil auf den
verschiedensten Gebieten seines Kulturlebens dasjenige in
allzu hohem Maße fehle, was man in Deutschland „Geist“
nenne. Matthew Arnold, auf den sich Haldane vielfach stützt, hat seinen
Landsleuten einige Jahrzehnte früher dasselbe gepredigt. Haldane weist auf
einen Ausspruch Goethes hin, der ebenfalls von Matthew Arnold zitiert
wurde: „Der Engländer ist eigentlich ohne Intelligenz.“ So scharf diese
Kritik klingt, — sollte sie ganz unberechtigt sein?
Einen Kern von Wahrheit enthält sie sicherlich. Denn zweifellos ist
es eine der hervortretendsten Schattenseiten des englischen Lebens, daß man
zufrieden damit ist, ohne begriffliche Klarheit dahinzuleben. Man
ist geneigt, in allen Dingen das Überkommene ohne weiteres zu übernehmen.
Die Tatsache, daß es besteht, ist vielen Engländern Beweis genug dafür,
daß es gut ist, oder daß es wenigstens unter allen möglichen Lösungen die
am wenigsten schlechte darstellt. Mancherlei Mißstände, die sich verhältnis-
mäßig leicht beseitigen ließen, werden daher von den Engländern mit rühren-
der Geduld ertragen — nur weil sie alt sind. Überall dort, wo es auf
Schärfe und Genauigkeit des Denkens ankommt, wo die begriffliche Durch-
arbeitung bestimmter Fragen die Grundlage weiterer Fortschritte ist. treten
sie hinter denjenigen Völkern zurück, die eine größere Begriffsschärfe ent-
wickeln.
So war schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts Frankreich als
das Land der Theorie England als dem Lande der Praxis überlegen. Zwar hatte
ein Engländer die Dampfmaschine erfunden, ebenso waren die Spinnmaschine
und manche andere Erfindungen, die den Anstoß zu der gewaltigen maschinen-
technischen Entwickelung der Neuzeit gaben, in dem Geiste von Engländern
geboren worden — und dennoch stand Frankreich in theoretischer Beziehung
voran. Sowohl im Maschinenbaufach wie im Bauwesen und in der tech-
nischen Chemie, die gerade damals im Entstehen begriffen war, nahm die
französische Wissenschaft die führende Stellung in der Kulturwelt ein.
Selbst auf dem Gebiete des Schiffbaus waren die Franzosen den Engländern
in kühnen Konstruktionen und überraschenden Problemlösungen überlegen.
Sie übertrafen sie daher in der Eleganz wie in der Schnelligkeit der gebauten
Fahrzeuge, so daß es in den Seekriegen jener Zeit von den englischen
Flottenführern nicht sowohl als Aufgabe betrachtet wurde, die französischen
Schiffe zu rammen oder in Grund und Boden zu schießen, als sie zu entern,
Das Zurückbleiben Englands auf technischem Gebiet. 115
um so die Geheimnisse ihrer Konstruktion für den Bau eigener Schiffe
nutzbar machen zu können.
Ebenso ist wohl die Tatsache, daß England sich in den letzten Jahr-
zehnten auf manchen Gebieten der Technik von Deutschland hat über-
flügeln lassen, auf ähnliche Gründe zurückzuführen. Lord Haldane hat
in seiner Oxforder Rede 1911 auf die außerordentliche begriffliche Klarheit
hingewiesen, die in Deutschland und ganz besonders in Berlin allenthalben
zu beobachten sei. Wir verdanken diese Eigenschaft der Hochschätzung von
Wissen und Bildung, dem leidenschaftlichen Verlangen nach diesen beiden
Kulturgütern, sowie dem unablässigen Streben nach der Fortentwickelung
des Einzelnen und des ganzen Volkes, die in Deutschland seit langer Zeit
heimisch sind. Nur auf einem solchen Boden können sich für den gesamten
Umkreis des technischen und wirtschaftlichen Lebens so günstige Folge-
erscheinungen ergeben, wie sie uns zuteil geworden sind. Infolgedessen ist
die Technik in Deutschland seit Jahrzehnten mit der Wissenschaft eng ver-
knüpft. Losgelöst von ihr ist sie bei uns überhaupt nicht mehr denkbar, und
einer ihrer wichtigsten Charakterzüge ist der geworden, daß jedes Abirren
von dem Wege scharfer begrifismäßiger Durcharbeitung des Inhalts und der
Formen technischer Arbeit heutzutage als verderblich empfunden wird.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war England unstreitig
das Land der Erfindungen. Leider ist jene wichtige Epoche in der Ge-
schichte des Erfindungswesens psychologisch noch nicht genauer untersucht
worden. Einstweilen stehen wir daher wie vor einem Rätsel, wenn wir
hören, daß die hochbedeutenden Erfindungen jener Zeit, die eine ungeahnte
Tragweite besaßen, zum Teil Männern zuzuschreiben waren, die keinerlei
Schulbildung besaßen. So stammte Brindley, der Erfinder der neuen
Seidenspinnmaschine, aus der Hügelgegend von Derbyshire; von niedriger
bäurischer Herkunft, später Fabriklehrling, zeigte er schon als Knabe eine
umfassende, wahrhaft geniale Begabung für Mechanik und Maschinenbau.
Hargreaves, der die epochemachenden Erfindungen auf dem Gebiete der
Textilindustrie einleitete, stammte aus Lancashire und war Weber; er konnte
weder lesen noch schreiben. Seine 1761 erfundene Kardiermaschine und die
1767 von ihm ersonnene Feinspinnmaschine bilden die Grundlagen aller
späteren maschinellen Verbesserungen auf dem Gebiete der Textilindustrie.
Arkwright, der den Garnspinnstuhl wohl nicht erfunden, ihm aber doch
zunächst die brauchbarste Form gegeben hat (1769), war ebenfalls von ge-
ringer Herkunft. Crompton, der 1779 den Mulespinnstuhl erfand, war der
Sohn eines ganz kleinen Bauern. Cartwright, der Erfinder des mechanischen
Webstuhls (1785), war einer der wenigen englischen Erfinder jener Zeit,
die einem höheren Stande angehörten: er war Geistlicher. Dagegen war
wieder Henry Cort, der in jener Zeit den Puddelofen und das Walzverfahren
erfand, ein ungelehrter Arbeiter.
Ein Rückblick auf diese Blüteperiode des Erfindergenies in einer
Zeit, in welcher der Volksschulunterricht erst in den allerkleinsten, noch
kaum bemerkbaren Anfängen bestand, könnte zu der Ansicht verleiten —
und zuweilen ist in England eine solche Behauptung aufgestellt worden —,
daß die Volksbildung mit der Erfindergabe wie überhaupt mit technischem
Geschick und technischer Fähigkeit nichts zu tun habe. Indessen liegt auf
der Hand, daß dies ein Trugschluß schwerster Art ist. Denn jene Männer
machten ihre Erfindung nicht deshalb, weil sie keinen Schulunterricht ge-
nossen hatten, sondern obwohl ihnen ein solcher nicht zuteil geworden
116 Dr. Ernst Schultze:
war. Wie gesagt, entbehrt die Erfindungsgeschichte jener Zeit noch einer
tieferen psychologischen Durchforschung. Aber gibt es nicht zu denken,
daß die bedeutendsten Erfinder jener Epoche fast ohne Ausnahme dem
Norden Englands entstammten? Hargreaves, Arkwright, Crompton und
Henry Cort waren sämtlich in Lancashire geboren. In diesem selben Landes-
teil haben die Bildungseinrichtungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts ge-
schaffen wurden, die stärkste Benutzung und die begeistertste Aufnahme ge-
funden. Zum mindesten sind doch also wohl geistige Regsamkeit und gei-
stiger Trieb erforderlich als Vorbedingungen für die Ausbildung der Er-
findungsgabe. Und daß die Durchbildung des Geistes mit Hilfe der im
letzten Jahrhundert geschaffenen Bildungseinrichtungen nicht etwa überflüssig
ist, sondern die Erfindungsgabe nähren und verstärken kann, liegt auf
der Hand.
Insbesondere nun, seitdem die anderen Völker Westeuropas alle Kräfte
angespannt haben, um ihren Arbeiterklassen möglichst gute Bildungseinrich-
tungen zur Verfügung zu stellen, ist es für England — wenn nicht in Rück-
sicht auf sein inneres Geistesleben, so doch aus Gründen des inter-
nationalen Wettbewerbs — eine unabweisbare Notwendigkeit ge-
worden, auf demselben Wege zu folgen. Insbesondere Deutschland hat Groß-
britannien auf technischem Gebiet in ungeahnter Weise überholt. Die Vor—
herrschaft Englands auf diesem Felde beruhte größtenteils auf der Textil-
und auf der Maschinenindustrie. Für die erstere Hietet das feuchte englische
Klima, welches ermöglicht, feinere Garnnummern zu spinnen als etwa in
Deutschland, erhebliche Vorteile dar; auch verfügte man über eine Arbeiter-
schaft, die gewissermaßen schon seil Generationen für diesen besonderen
Zweig der Technik angelernt war. Für die Maschinenindustrie galt der
letztere Grund ebenfalls. Als nun aber ein neues Gebiet innerhalb der Technik
schnell zu großer Bedeutung emporstieg — die Elektrotechnik , als alle
modernen Einrichtungen, die mit ihr zusammenhingen, wie die Telegraphie,
das Fernsprechwesen, die elektrischen Bahnen, die elektrischen Förderma-
schinen usw., im Wirtschaftsleben schnell steigende Bedeutung gewannen, da
konnte England plötzlich nicht rasch genug mit. Es besitzt eben nicht
die Fähigkeit, sich schnell veränderten geistigen Bedin-
gungen anzupassen. Infolgedessen ging die Führung auf dem Gebiete
der Elektrotechnik an Deutschland und die Vereinigten Staaten über, während
England auf diesem Gebiete, das von Jahr zu Jahr an Bedeutung zunimmt,
noch keine nennenswerten Erfolge erzielt hat.
Vor einigen Jahren wurde auf der Bahn von London nach Brighton
elektrischer Betrieb eingerichtet. Indessen war keine englische Firma im-
stande, diese Umwandlung vorzunehmen, so daß die Berliner Allgemeine
Elektrizitäts-Aktien-Gesellschaft den Auftrag dafür erhielt. Dieselbe Firma
hatte die zahlreichen Anlagen für den elektrischen Betrieb der Randminen in
Transvaal herzustellen. Auch sonst haben deutsche Elektrizitätsgesellschaften
in England und seinen Kolonien festen Boden gewonnen.
Ähnliche Verhältnisse ergaben sich, als die Technik der Gasver-
wertung schnelle Fortschritte machte. Auch hier führte die englische Schwer-
fälligkeit dazu, daß man fremde Länder das Übergewicht gewinnen ließ. Von
Deutschland übernahm man das Acetylengas und die Gasmaschinen (insbe-
sondere die vortrefflichen Oechelhäuserschen Maschinen); auch französische
und italienische Patente benutzte man dafür. Von dem Gebiete der Luft-
schiffahrt sei nur andeutungsweise die Rede.
Das Zurückbleiben Englands auf technischem Gebiet, 117
Daß in Deutschland mehr Patente angemeldet werden als in England,
würde an sich nicht beweiskräftig für einen Vergleich des Erfindungsgeistes
in beiden Ländern sein, da ihre Patentgesetze voneinander abweichen. Aber
man behauptet — und wohl mit Recht — daß der englische Erfindungsgeist
stark nachgelassen habe und daß die englischen Patente heute meist Neben-
sächlichkeiten betreffen, während in Deutschland die Zahl der Patentanmel-
dungen, die grundlegende Dinge betreffen, weit größer sei. In den tiefer-
blickenden Kreisen Englands ist man nicht im Zweifel darüber, daß der
Grund aller dieser Erscheinungen in der starken Vernachlässigung der Wissen-
schaft durch die Großindustrie zu suchen ist. Als ein Mitglied der Royal
Society gefragt wurde, welcher Zusammenhang in England zwischen der
Wissenschaft und der Industrie bestehe, lautete die Erwiderung: „Gar
keiner.“ —
In letzter Zeit hat sich in den denkenden Kreisen Englands ein größeres
Interesse für alle solche Fragen geltend gemacht. Insbesondere wünscht man
alles, was das technische Bildungswesen entwickeln könnte, zu fördern und
zu heben. Bei der Zähigkeit des englischen Geistes, der an seinen Fehlern
ebenso starr festhält wie an seinen Vorzügen, wird es aber sicherlich der
größten Anstrengungen bedürfen, um hier durchgreifenden Wandel zu schaffen.
Allerdings wird man nicht allzu schnelle Resultate erwarten dürfen.
Wer von der Wissenschaft verlangt, daß sie das ihr entgegengebrachte Inter-
esse allsogleich durch praktische Ergebnisse bezahlt mache, der kann sich
recht sehr täuschen. Die Beziehungen der verschiedenen Gebiete unseres
Geisteslebens sind zu fein, als daß ein so rohes Verfahren Erfolg verspräche.
Wenn die Wissenschaft nicht um ihrer selbst willen in groß-
herzigster Weise gepflegt wird, so wird sie auf die Dauer auch keine großen
praktischen Ergebnisse, keine epochemachenden technischen Entdeckungen zu-
tage fördern. Das hat der bisherige Verlauf deutlich genug gezeigt. Denn
sicherlich ist es kein Zufall, daß gerade in Deutschland, wo man die Wissen-
schaft als Selbstzweck, ganz losgelöst von allen praktischen Forderungen, zu
betrachten gewohnt war, die überraschendsten technischen Erfolge dieser
Pflege der Wissenschaft zutage getreten sind.
Ganz das gleiche gilt von der Gestaltung des Bildungswesens.
Der Führer des englischen Bildungswesens, Professor Michael Sadler, jetzt
Rektor der Universität Leeds, früher vortragender Rat im Unterrichtsministerium,
hat darüber schon vor zwei Jahrzehnten die ungemein wahren und tief-
blickenden Worte geschrieben: „Eine engherzige Auffassung von technischer
Erziehung, die nicht durch große Gesichtspunkte inbezug auf die allgemeinen
Prinzipien, auf denen Wissenschaft und Kunst beruhen, geleitet wird, würde
dahin führen, daß die Fähigkeit der Nation, ihre Industrie den wechselnden
Bedürfnissen anzupassen, eher brachgelegt als vermehrt würde.“
118
Politische Rundschau.
noch nicht über unserm Lande entlud sich die wetterschwere Wolke,
aber am Balkan hat es gezündet, und auf allen Gesichtern steht die
Sorge, ob der Brand nicht auf unsere Häuser übergreift.
Alle Fäden der internationalen Politik laufen verborgen, von wenigen
Machtzentren werden sie gelenkt; aber vor der Bühne dieser Geschehnisse
sammelt sich das Volk mit Anteilnahme und dem Glauben, die Aktoren seien
in ihren Entschlüssen abhängig, beeinflußbar von der Stimme des Publikums,
der öffentlichen Meinung. Wie die Zuschauer des italienischen oder spanischen
Volkstheaters durch Drohungen und Apfelsinenwürfe den großen Bösewicht
da oben hindern wollen, seine bösen Anschläge gegen die reine Unschuld
auszuführen!
Die Lenker der hohen Politik, die angelsächsischen, in der Schule des
Geschäftslebens gehärteten Rechner, die in Gewaltausübung und Menschen-
verachtung großgewordenen Machthaber der russischen Bureaukratie — sie
alle haben es längst gelernt, auch diese Bedürfnisse des großen Publikums
einzukalkulieren.
In England ist die „maschinelle Bearbeitung“ der public opinion, rich-
tiger die Schaffung der englischen Beurteilung durch die großen Preßtrusts
zu einem System gediehen, dem gegenüber die Zensurkunststücke anderer
Zeiten und Länder höchst unmodern wirken. Die übrigbleibende, „unab-
hängige Provinzpresse“ erhöht den Reiz der Sache und gibt den Besonnenen
und Biederleuten aller Zonen die Gewähr, daß die Freiheit, die sie meinen,
ihren Reigen nicht nur am Himmelszelt führe, sondern in den ungemein
freien englischen Häusern eine dauernde Wohnstätte habe.
Bismarck, der verschlossen in seiner innersten Seele das große Be-
dürfnis nach Wahrhaftigkeit trug, das dem germanischen Genius eigen ist,
aber so vielen guten, so vielen besten Deutschen zur Verwirrung auch das
Wort der Edda wußte: Gegen den Trug setze den Trug, hat solchen Illu-
sionen gegenüber gesagt: Nur die Dummen wissen nicht, wie es ge-
macht wird.
Dem politischen Beobachter muß die internationale Meinungsmacherei
als wertvoller Fingerzeig dafür dienen, was eigentlich beabsichtigt wurde.
Der politische Bilderbogen, der ausgegeben wird, zeigt das Bild, daß
die vier an die europäische Türkei angrenzenden Volksmächte übereinge-
kommen seien, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen und ohne jede
Rücksicht auf die als Einheit gedachten Großmächte Europas, die das gerne
verhindern möchten, aber aus irgendwelchen geheimen Lähmungsursachen
nicht könnten, mit den Waffen in der Hand die Türkei zu reformieren ge-
dächten.
Europa wird dies Schauspiel überwachen und für den moralischen
Feingehalt der Aktion Sorge tragen; es wird keine Gebietsveränderungen
dulden; Rußland und Österreich sind durch das Gebot der Stände berufen,
Heger des Kampfplatzes zu sein, sie werden selbst auf jeden eigenen Vorteil
selbstverständlich verzichten, weder die Dardanellenfreiheit, noch etwa das
Sandschak begehren.
Honni soit qui mal y pense!
025 ist der Schatten des Krieges über Deutschland dahingehuscht,
Politische Rundschau. 119
An diesem schlecht inszenierten Rührstück ist nur die Unverfrorenheit
verblüffend, mit der einem angesonnen wird, die Darstellung für Wirklich-
keit zu nehmen. —
Das türkische Erbe wird von Rußland und England umschlichen;
ersteres hat seine Zarbefreierpolitik auf dem Balkan — wie gern anerkannt
werden mag — aus geschichtlicher Notwendigkeit, aber mit der bestimmten
Absicht eingeleitet, in das türkische Massiv Bresche zu legen. Wie Rußland
auf das Erbe der europäischen Türkei spekuliert, so gelüstet es England nach
dem der asiatischen Türkei.
Seine Balkankomitees, seine Besuche der Balkanstaaten durch Agenten
und wie kürzlich Serbiens — vor dem Kriegsausbruch! — durch einen hohen
englischen Generalstabsoffizer sollen die Schwierigkeiten der Türkei am
Balkan häufen, um Arabien unter ein protegiertes Kalifat nach ägyptischem
Muster zu bringen. Große Ziele, deren Zweck die Mittel heiligen mag, bei
denen ınan uns nur mit dem Gemeinplatzschwall von Hochgefühlen vom Halse
bleiben soll.
Ssasanoffs Besprechungen mit Grey müssen sehr weittragende Bedeutung
gehabt haben, daß man sich genötigt fühlte, sich auch des Beistandes der unio-
nistischen Opposition im Unterhaus zu versichern und ihren Führer Bonar Law
hinzuzog.
Sollte man bei dem großen Lobe, das für Österreich von Anfang der
Bewegung an verschwendet wurde, nicht vor einem Plane stehen, der sich
etwa folgendermaßen skizzieren ließe:
Jede Erschwerung der Lage der Türkei, jede Schwächung ihrer Macht-
mittel rückt den Augenblick der Liquidation ihres Besitzes näher und er-
leichtert das Abreißen weiterer Gehietsteile. Für Rußland und England ist
ferner Gewinn, daß man sich die Balkanmächte verpflichtet. Werden sie ge-
schlagen, so wird man doch ihre Grenzen von heute erhalten können; sind
sie aber siegreich, wie wird man sie dann vor dem Vorstoß Osterreichs be-
wahren können? Nur dadurch, daß man Osterreich selbst etwas gönnt, das
Sandschak, Novibazar und die ÄAusfuhrstraße nach Saloniki.
Dieser Gedanke ist nicht einmal neu: mit welchen anderen Ver-
suchungen ist denn der gerissene König Eduard der Bündnitreue des greisen
Kaisers Franz Josef in Marienbad genaht? Der in seiner vornehmen Schlicht-
heit nachher sagte: Ich habe mir da einen Feind gemacht, aber ich konnte
nicht anders. Und wie groß muß die Enttäuschung eines so sehr auf an-
ständige Formen haltenden Volkes gewesen sein, daß die großen englischen
illustrierten Blätter das schandbar entstellte Bild des alten kaiserlichen Herrn
mit der Unterschrift “the man who tricked Europe” bringen konnten!
Der Plan ist deshalb auch gar nicht so übel, weil Deutschland — um
den englischen Ausdruck zu gebrauchen — „ausmanövriert“, beiseite ge-
schoben, als Schutzmacht der Türkei bloßgestellt wäre.
Deutschland ist aber niemals ausgeschaltet, wenn es sich nicht selbst
ausschaltet.
Kann es nicht nach berühmten Mustern der ehrliche Makler zwischen
der Türkei und den Balkanstaaten sein, sollte ihm das Maß des Vertrauens,
das ihm Marschalls Tätigkeit geworben hat, nicht ermöglichen, ein ruchlos
von den jetzt sich zurückziehenden Mäcliten angezetteltes Gemetzel zu ver-
hindern? Würde es nicht jetzt für diesen Zweck wenigstens selbst Frank-
reichs Unterstützung gewinnen können, das 4½ Milliarden im Balkan ange-
legt hat und gefährdet sieht?
120 Politische Rundschau.
Frankreich erlebt in diesem Augenblick das historische Schicksal der
kontinentalen Verbündeten Englands: daß es zu dienen bestimmt ist und seine
Interessen die Kreise der großen englischen Politik nicht stören dürfen. Wie
die Engländer im persönlichen Verkehr sich alle Welt zum Feinde machen
müssen, so schließlich auch in der Politik. Sie machen wahrscheinlich wider
| Willen auch da die größten Mißgriffe, weil der foreigner mit dem native,
dem coloured gentleman doch so ziemlich zusammengehört, mit einer ge-
wissen Unterschiedlichkeit des Grades, aber nicht eigentlich des Ranges, den
Gott zwischen sein erwähltes Volk und die übrige Umwelt gesetzt hat.
Schon die Mittelmeerentente hat man dadurch verpatzt, daß man dem
sensiblen, innerlich so nervös empfindenden Volk wie den Italienern als Droh-
und Druckmittel die französischen Geschwader in die Heimatsgewässer sandte
und dadurch Italien an den Dreibund heranpreßte, von dem man es abziehen
wollte.
Wenn jetzt namhafte Liberale in England die abgeschlossene englische
Marokkopolitik „illiberal, ruchlos und gefährlich“ nennen, so haben wir
daran an sich nichts auszusetzen, interessieren uns aber für das Weshalb,
weil man nämlich einem so inferioren, von den Engländern so tief verachteten
Volk wie den Franzosen ein solches wirtschaftliches 'Machtgebiet wie Marokko
eingeräumt hat.
Täuschen wir uns auch nicht zu unserm Nachteil. Die tapfere Ruhe
unseres Volkes den ungeheuerlichsten. Bedrohungen gegenüber, die unbeirrte
Anständigkeit unserer Politik, die nur durch Unterlassungen gesündigt hat,
hat uns im Auslande uneingestanden doch eine große Achtung erworben.
Das Wort, das vor kurzem von Kiderlen-Wächter durch die Blätter ging
„von der Halbierung zur Organisation Europas,“ das wäre kein frommer
Wunsch, sondern ein politisches Programm, wenn sich Deutschland in den
Mittelpunkt aller Bestrebungen stellte, alle Mitglieder der europäischen Staaten-
gemeinschaft, die Türkei eingeschlossen, davor zu bewahren, ein Ball in
dem Spiel der nach Beherrschung und Unterwerfung fremder Länder und
Völker lüsternen Mächte England und Rußland zu werden.
Wenn aus der Schweiz doch ein wärmeres Gefühl beim Kaiserbesuch
entgegengeschlagen hat, so war es gewiß aus dem Bewußtsein geboren, in
Deutschland doch den ehrlichen und starken Nachbarn zu wissen, und wenn
in Schweden eine Bewegung zum Anschluß an den Dreibund lebendig ge-
worden ist, so regt sich auch dort der Wille, die Rolle eines Halbvasallen
nicht spielen zu wollen und einen Garanten der Unabhängigkeit nur in
Deutschland finden zu können. —
In der äußeren wie in der inneren Politik Deutschlands ist das alles
andere in den Hintergrund stellende Ereignis die Ernennung des Fürsten
Lichnowsky zum Botschafter in London.
Man sagt gewiß nicht zu viel, wenn man die Ernennung dieses outsiders
auf die Erkenntnis zurückführt, in der eigentlichen diplomatischen Hierarchie
keine einzige Kraft zu wissen, die nach Marschalls Tode auch nur einiger-
maßen den Aufgaben dieses wichtigsten diplomatischen Postens gewachsen
| wäre. Ein wunderliches Ergebnis der Auslese bei dem begabtesten, viel-
seitigsten Volk der Erde, dessen Kenntnisse die wissenschaftliche, die wirt-
schaftliche und die technische Welt unausgesetzt revolutionieren.
Bekanntlich ist die immer schmerzlich leidende Biederkeit unseres
Reichskanzlers bei der Wahlbewegung besonders tief verletzt worden, daß
man die Fähigkeiten unserer diplomatischen Vertreter vor den großen Wähler-
Politische Rundschau. 121
massen kritisiert nabe. Daß in den Wählerversammlungen auch über diese
Frage sehr viel dummes Zeug geredet wird, daran ist kein Zweifel, nicht
weniger aber daran, daß das Volk ein verdammt feines Gefühl dafür hat, von
wem es gefährdet wird.
Unter einem Diplomaten kann man sich zur Zeit in Deutschland nur
etwas extrem Konventionelles vorstellen, ihre Lebensgewohnten werden in
dem Buch des ewig Gestrigen, „der Woche“, mit einer wunderbaren, un-
freiwilligen Ironie dargestellt.
Für den Engländer ist es selbstverständlich, daß in der Diplomatie
die feinste Blüte angelsächsischer Männlichkeit vertreten ist, für den
Franzosen ist die Diplomatie ein besonders geachteter Zweig des politischen
Bankiersgewerbes; beiden wie dem Russen ist die Leistung des Diplomaten
. das, was sie allein interessiert, und der bunte Takel, in dem diese Welt der
traditionellen Remiszenzen lebt, eine höchst uninteressante Beigabe, nicht aber
wie in Deutschland ein völkerrechtlicher Prüfungsgegenstand juristischer
Examina.
Ihrer Herkunft nach ist unsere Diplomatie ein merkwürdiges Mittel-
ding zwischen der Bourgeoisie und dem meistens von der Frauenseite finan-
ziell gestützten Feudaladel; immer seltener findet sich darunter ein Vertreter
des besten deutschen Adels und des besten deutschen Bürgertums. Dem
letzteren fehlt Neigung und Gelegenheit, dem ersteren der Respekt vor der
rein diplomatischen Leistung; das Gewerbe soll ja nach Bismarck nichts für
einen preußischen Landedelmann sein, und in seinem rührenden Dankesbrief
von Weihnachten 1872 mußte sich der größte deutsche Diplomat vor seinem
kaiserlichen Herrn damit trösten, „daß er sonst vielleicht ein unbrauchbarer
General geworden wäre.“
Wir geben nicht umsonst den Gothaer Almanach heraus, wir haben
den verbreitetsten hohen Adel und räumen ihm willig die Sitze unserer Herren-
häuser ein; wir haben auch sehr oft uneingestanden ein lebhaftes Gefühl
für fürstlich-vornehme Lebenshaltung, und Thomas Mann hat für seine
Blitzlichtbeleuchtung dieser hohen Idylle nirgends in Deutschland Dank
geerntet.
Dieser hohe Adel aber bleibt der Nation zumeist die Gegenleistung
schuldig. Er ist nicht wie der österreichische Hochadel Förderer und Schützer
der Kunst, und noch viel weniger politisch wie der bis in die Fingerspitzen
machtdurstige, leidenschaftlich politische, englische regierende Adel, der da-
durch das Königtum trägt, aber fast überschattet.
Die Nation aber hat ein Recht, von seinem hohen Adel diese politische
Führerleistung gerade im internationalen Verkehr zu fordern, weil der Hoch-
adel dafür Bedingungen mitbringt, die anderen Berufsständen nicht in dem
Maße eigen sein können. Die arbeitenden Stände können nur in Ausnahme-
fällen die Leichtigkeit im Überblicken der wirklichen Kräfte unter den un-
geheuren Zurüstungen der Äußerlichkeiten in London, Washington, Paris
und Petersburg gewinnen und solche Meister ihrer Gefühle werden, daß sie
durch die tiefe, zur Schau getragene Devotion sich nicht den kecken Blick
trüben lassen, mit dem Bismarck bei der ersten Vorstellung im Elysee
Napoleon III. betrachtete, „ob der wohl bei uns das Referendarexamen be-
standen hätte.“ Fürst Chlodwig Hohenlohe war gewiß kein Großer, aber
erstaunlich ist an seinen Memoiren, wie er das regierende Europa wie einen
einfachen bürgerlichen Verkehrskreis in seinen Schwächen und in seinen Vor-
zügen mühelos übersieht.
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122 Politische Rundschau.
Fürst Lichnowsky hat die merkwürdige Fähigkeit besessen, ohne
eigentlich sichtbar hervorzutreten, den Ruf ungewöhnlicher Fähigkeiten zu
erwecken. Schon vor mehr als zehn Jahren konnte man im preußischen
Osten, wo unsere Politik ja eigentlich gemacht wird, ihn sogar als Reichs-
kanzlerkandidaten trotz seiner wohlerworbenen Unbeliebtheit bei Hofe nennen
hören. Damals war er ein Vierziger, und heute müssen die Blätter die
schweren Bedenken äußern, daß ein Mann von fünfzig Jahren einen solchen
Posten erhält. Politik darf anscheinend — frei nach Wilh. Busch — bei uns
nur im „Kreise der Männer und der Mümmelgreise“ getrieben werden, und
wir haben nicht gehört, daß man mit Bedauern feststellte, daß unser bester
Mann, Marschall, zu der Erfüllung seiner Lebensaufgabe nicht mehr kommen
konnte, weil er im biblischen Alter dahingerafft wurde.
Mit dem Fürsten Lichnowsky gehen große Hoffnungen. Nur ein Hoch-
feudaler kann in dem durch und durch feudal regierten England wirklichen
Einfluß auf vertraulichem Fuße gewinnen, wie ihn Fürst Münster besaß.
Und dieser Fürst hat durch Haltung und Äußerungen bewiesen, daß er
kein Krautjunker und ebensowenig ein Bureaukrat ist, der gesonnen wäre,
im Schmieren von Berichten und Erweisen von Liebenswürdigkeiten den
Zweck seines Daseins zu erblicken.
Vor allem aber — und das ist das Allerwichtigste: die Engländer im-
ponieren ihm nicht.
Er hat der englischen Politik gegenüber in Wort und Schrift eine
Sprache geführt, die an Deutlichkeit nichts vermissen läßt, und die das ein-
zigste Mittel ist, um bei diesem Herrschervolk Respekt und im kaufmännisch-
politischem Sinn Vertrauen zu erwerben. Die anderen Botschafterkandidaten
wären wohl zumeist zu weich, zu herzlich entgegenkommend gewesen.
Eure Politik gegen Deutschland ist unmännlich und schädlich — das
ist aus jeder Zeile der Lichhowskyschen Veröffentlichungen herauszulesen;
das aber sind zwei, vielleicht die einzigsten Momente, für die der Engländer
höllisch hellhörig ist.
England ist zudem in diesem Augenblick nachdenklich; sein Impres-
sionalismus auf Italien hat böses Fiasko gemacht, und jetzt hat er eine
Deutschland näher als seit Jahren verbündete europäische Militärmacht in
der Flanke Ägyptens. Dahin hat es Italien nur gelangen lassen, weil es zur
Entente hinübergezogen werden sollte, — und nun?
Ein glücklicher Zufall hat es gefügt, daß die beraubte Türkei es Italien
zu danken hat, daß sie ihre ganze Militärmacht auch unter Heranziehung
der kleinasiatischen Reserven gegen die Balkanmächte einsetzen kann.
Beide Mächte in Zukunft einander politisch zu nähern, bei der bevor-
stehenden Erneuerung des Dreibundes eine Ausdehnung auf die östliche
Hälfte des Mittelmeers herbeizuführen, darin liegen Ziele für eine erneuerte
Levante- und nordafrikanische Politik, die nicht auf Ausbeutung und Unter-
jochung, sondern Kräftigung und Erhaltung gerichtet wäre.
Bremensis.
123
ANREGUNGEN UND AUSBLICKE.
Die Heeresvermehrung.
Kaum ist die Heeresvermehrung in
Kraft getreten, da werden in den nationalen
Zeitungen im Drange der Kriegsgefahr
Stimmen laut, die weitere Verstärkungen
verlangen. Merkwürdig, daß seinerzeit
nicht mehr gefordert wurde; der Reichs-
tag hätte — darüber hatte und hat nie-
mand (außer dem Kriegsminister) einen
Zweifel — damals alles bewilligt, ganz
sicher jedenfalls die fehlenden dritten
Bataillone. Noch immer gibt es 14 In-
fanterieregimenter zu 2 Bataillonen. Un-
verständlich aber ist es, daß am 1. Oktober
noch nicht einmal das Bewilligte im
vollen Umfang zur Durchführung ge-
kommen ist: die 106 bewilligten Ma-
schinengewehr-Kompagnien wer-
den vorerst noch nicht aufgestellt!
Warum in aller Welt? Sie sind doch
dringend nötig. Wir sind mit dieser wich-
tigen Waffe doch lange genug anderen
Staaten gegenuber erheblich im Rück-
stand geblieben. Das Fehlen der Unter-
kunftsräume kann nicht der Grund des
Zögerns sein, denn eine ganze Anzahl
der neu aufgestellten Formationen ist zu-
nächst auf längere Zeit, zum Teil auf
mehrere Jahre, auf Truppenübungsplätzen
untergebracht; da hätte sich für die Ma-
schinengewehr-Kompagnien mit ihrem ge-
ringen Bestand an Mannschaften und
Pferden wohl auch noch Platz gefunden.
Die Behauptung, es sei nicht möglich, in
so kurzer Zeit so viele Maschinengewehre
fertigzustellen, würde die deutsche In-
dustrie wohl mit einer Beleidigungsklage
beantworten. Also Gründe „finanztech-
nischer“ Art? Nun, die , altpreußische“
Sparsamkeit wird uns noch einen ver-
lorenen Krieg kosten. Jetzt endlich hat
man bei uns angefangen, einige neue
Stellen über den Etat zu schaffen, deren
Inhaber im Mobilmachungsfall bei Re-
serve- usw. Formationen Verwendung
finden. Aber noch immer wird im Kriegs-
fall fast der ganze Bestand anaktivenälteren
Kompagnie-Offizieren und Unteroffizieren
der Truppe, der sie im Frieden angehörten,
entzogen, weil sie anderswo noch nötiger
gebraucht werden. Der Truppenorganis-
mus ist ein künstliches und damit recht
empfindliches Gebilde; man kann ihm
nicht das Gerippe, das, was eigentlich
dem Gefüge den festen Zusammenhalt
gibt, plötzlich entziehen, ohne ihn —
mindestens auf geraume Zeit — gründ-
lich zu schädigen. Auch die Mannschaften
der auf Kriegsstärke gebrachten aktiven
Truppenkörper sind ja doch zu mehr als
der Hälfte Reservisten, die dem Dienst
entwöhnt und sicherer, geschulter Leiter
doppelt bedürftig sind. Frankreich ist in
dem Bereithalten aktiver Vorgesetzter
über den Friedensetat für die im Krieg
neu aufzustellenden Formationen längst
viel weiter gegangen als wir. Es gab
eine Zeit, da marschierte Deutschland
wenigstens mit seinen Heereseinrichtungen
an der Spitze der Nationen.
Ja, um alles in der Welt, wohinaus
soll denn das noch mit diesen ewigen
Rüstungen und Verstärkungen? fragt der
besorgte Staatsbürger und Steuerzahler.
Als Antwort eine Gegenfrage: Wohinaus
soll es denn ohne die Rüstungen? Un-
fehlbar dahin, wo die anderen (einstigen)
Konkurrenten Englands (Portugal, Holland,
Dänemark) heute stehen. Es kann doch
keinem Zweifel unterliegen, daß man uns
ans Leder will, daß man uns zu einer
Macht zweiten Ranges in Europa herab-
drücken möchte, daß wir außer Öster-
reich keinen Freund haben, aber zahl-
reiche mächtige Gegner; daß wir uns
eines Tages werden wehren müssen und
daß wir dazu eines starken, schlagfertigen
Heeres und kampikräfliger Schiffe be-
dürfen. Man braucht sich noch nicht „be-
rulsmäßiger Kriegshetzer“ oder „Panzer-
platteninteressent“ schimpfen zu lassen,
wenn man diesen Tatsachen offen ins
Gesicht sieht. Dagegen kann man füg-
lich den Leuten, die das Zucken und
Züngeln am politischen Himmel für harm-
loses Wetterleuchten erklären, weil ihm
der prasselnde Donner noch nicht folgte,
vorwerfen, sie trieben eine unverantwort-
liche Vogelstraußpolitik und eine Politik
kleinlich-krämerhafter Eigensucht dazu.
124
Dadurch, daß man den Krieg nicht wünscht,
sich mit friedlichem Gesäusel über jede
Gefahr hinwegzutäuschen sucht, ist diese
doch nicht beseitigt. An Wirklichkeits—
sinn, der Fähigkeit, das Tatsächliche alles
Wünschbaren entkleidet zu sehen, daran
fehlt es diesen Lammseelen; denn dazu
gehört vor allem Mut. Selig mögen sie
sein, die Sanftmütigen und Friedfertigen,
auch auf das Himmelreich mögen sie
nahe Anwartschaft haben, — das Erd-
reich werden sie nicht besitzen.
Ist es nicht eine Schande, daß der
große Scharnhorstsche Gedanke der all-
gemeinen Wehrpflicht heute nicht in
Deutschland, sondern in Frankreich am
folgerichtigsten durchgeführt ist, daß wir
schon längst einen namhaften Prozent-
satz unserer wehrfähigen jungen Männer
nicht mehr in das Heer einstellen können,
weil einfach die Räume dazu, die Regi-
menter, fehlen; daß wir somit gar keine
allgemeine Wehrpficht mehr haben?
Wie darf man sich bei uns über zu hohe
Militärlasten beklagen angesichts der Tat-
sache, daß die auf den Kopf berechnete
pekuniäre Anspannung für die Wehrmacht
in Deutschland weit geringer ist als in
den anderen europäischen Großstaaten
und daß — gemessen an der Bevölkerungs-
zahl — die persönliche Anspannung
im Kriegsfall in Frankreich fast doppelt
so groß ist wie in Deutschland?
Noch immer gibt es ehrenwerte Leute,
die da meinen, es könne niemand Arges
gegen uns im Schilde (sit venia dem
nicht mehr ganz zeitgemäßen Worte)
führen, wenn wir uns nur selbst aller
agressiven Politik enthielten und ein ge-
ruhliges und stilles Leben führten in aller
Gottseligkeit und Ehrbarkeit; und sollten
tückische Feinde doch etwas gegen unsere
gute und gerechte Sache unternehmen,
so müsse nach den Gesetzen der sitt-
lichen Weltordnung ihr politisches Ränke-
spiel nicht uns, sondern ihnen selbst zum
Schaden gereichen. Werden sie denn nie
alle werden, diese — Guten, die es nicht
lassen können, mit der unzulänglichen
Elle ihres posemukelhaften Rechtsbe-
wußtseins Geschichte und Politik zu
messen; die nicht begreifen wollen, daß es
eine von allem menschlichen Fühlen un—
abhängige geschichtliche Rechtsprechung
gibt, die ausnahmslos schließlich die Partei
des Stärkeren nimmt? Die Geschichte
der Menschheit lehrt das doch auf jedem
Blatt, und noch niemals ist von einem
der vielen Völker, die im Laufe der Jahr-
tausende „aufeinanderschlugen“, eine
Sache vertreten worden, die nicht „die
gute und gerechte“ gewesen wäre; auch
daß der liebe Gott vorzugsweise mit den
besseren Bataillonen sei, ist schon vor
geraumer Zeit von kompetenter Stelle
ausgeplaudert worden, — aber immer
wieder sträubt sich gegen die Anerkennung
solch brutaler Wirklichkeit die Ehrbarkeit
rechtlichen Bürgersinns. Die Kriege sind
seltener geworden, aber doch nicht, weil
der Sinn für Rechtlichkeit und die Achtung
vor dem guten Recht des Nachbarn unter
den Völkern gewachsen wären, sondern
wegen der ungeheuren Folgewirkungen
des modernen Massenkrieges. Die Träger
der kriegerischen Handlung sind ja nicht
mehr die gewerbsmäßig um Sold und
Kriegsbeute dienenden Haufen, auch nicht
die kleinen, gut geschulten Heere der
Fürsten, sondern die zu einheitlichem
Wirken zusammengefaßten Gesamtkräfte
der Völker. Ein heutiger Krieg, der die
ganze wehr- (d. h. arbeits-) fähige männ-
liche Bevölkerung unter die Fahnen ruft,
zieht alle Lebensäußerungen des Volks-
körpers stark in Mitleidenschaft und muß
eine Lähmung, stellenweise einen Still-
stand des wirtschaftlichen Lebens zur
Folge haben. Nicht jeder unbedeutende
Völkerstreit wird daher mit den Waffen
ausgetragen. Der Kampfeinsatz ist zu
hoch; er rechtfertigt sich nur, wenn es
sich um eine Lebensfrage oder die Ehre
der Nation handelt. Bis zu dieser Grenz-
linie — aber auch nicht weiter — reicht
die Wirkungsmöglichkeit von Kongressen,
Konferenzen, Schiedsgerichten und dergl.
Hinter dem Spruch des Richters darf die
vollstreckende Gewalt nicht fehlen, soll
er nicht Gefahr laufen, zur Farce zu
werden.
Man soll es sich heute dreimal über-
legen, das Schwert zu ziehen, man darf
aber keinen Augenblick in dem Eifer
nachlassen, es zu schärfen.
Es hilft also nichts: wir müssen, —
oder noch besser: wir wollen — sagten
die gut, das heißt heute: national Ge-
sinnten aller Parteischattierungen und ver-
blüfften In- und Ausland durch eine en-
bloc-Annahme der Regierungsforderungen;;
— da müssen sie alsbald zu ihrem Staunen
erfahren, daß gerade die wichtigsten der
als so dringend nötig bezeichneten Neu-
formationen vorerst noch gar nicht auf-
gestellt werden. Es ist 10 gegen 1 zu
wetten, daß sich die Volksvertretung das
nächste Mal von der „Dringlichkeit“ der
Forderungen nicht so ganz rasch wird
überzeugen lassen. Man kann es ihr
nicht verdenken.
M. O.
Bemerkungen zur Weltsprache.
Es ist ja gut, daß man eine Welt-
sprache schafſt, die ganz nach einfachen
Regeln gebildet ist, und die man in ein
paar Wochen erlernen kann. Eine solche
wird ihre guten Dienste leisten zur inter-
nationalen Verständigung in Gasthöfen
und im Handel, bei Angelegenheiten ein-
facher Art und bei denen der thetorische
oder gar künstlerische Wert der Sprache
ganz in den Hintergrund tritt.
Aber man schmähe deshalb nicht die
Unregelmäßigkeiten der vorhandenen
Sprache. Es ist dies gerade so, als wollte
man die Kompliziertheit einer viel ge-
brauchten Gerätschaft tadeln, z. B. daß
ein Löffel, der ja wesentlich nur aus Napf
und Stiel, oder eines Messers, das ja
wesentlich nur aus Klinge und Heft zu
bestehen braucht und nun doch eine sehr
viel verwickeltere Form, die sich dem
Gebrauche in allen Einzelheiten angepaßt
hat, aufweist. Es kommt eben bei so
einer Gerätschaft gar nicht darauf an, ob
seine Darstellung die doppelte oder drei-
fache Zeit kostet, da ja bei der zweck-
mäßigsten Form diese Zeit im Gebrauch
wieder hundert- und tausendfach gespart
wird. °
Gerade so ist es aber mit der Unregei-
mäßigkeit des Wortes z. B. in der starken
gegenüber der schwachen Konjugation.
„Ich log“ macht sehr viel mehr Eindruck
als „ich lügte“, und deshalb sind solche
125
auffallende Formen gerade bei den viel-
gebrauchten Zeitwörtern (bei den Hilfs-
zeitwörteın am allermeisten) im Gebrauch.
Da die ausdrucksvolle Rede wichtiger ist
als die bequeme Erlernung der Sprache
durch Ausländer. Die eigenen Sprach-
angehörigen aber erlernen das Unregel-
mäßigste ohne Mühe.
Auch die Kunstsprache, das Esperanto,
zeigt ein Bestreben sich zu entwickeln,
welches, da man ihm nicht nachgeben
wollte, zur Schöpfung des Ido führte,
und auch dieses wird neue Sprossen
treiben, wie sich alles Lebende und mit
dem Leben in Berührung Stehende immer
entwickeln muß.
Man nehme z. B. das Wort „Mensch“
mit dem sächlichen Artikel. Im Ido, wo
jeglicher Artikel wegfällt, werden wir ein
Wort für Mensch im Sinn von homo und
ein anderes im Sinne von unmoralischem
Frauenzimmer haben. Nun liegt aber in
dem Ausdruck Mensch mit dem säch-
lichen Artikel nicht bloß der Begriff des
unmoralischen Frauenzimmers, sondern er
ist deutlich nuanciert durch seine etymo-
logische Herleitung von Mensch mit dem
männlichen Artikel, und zwar so, daß die
Bedeutung des letzteren noch nachklingt,
indem man sich von einem Mensch mit
der Mehrzahl Menscher die Vorstellung
eines weiblichen Individuums macht, dem
nichts Menschliches in der schlechten Be-
deutung (schade, daß man dafür des üblen
Wohllautes wegen nicht „menschisch“
sagen kann) fremd ist.
So ist es mit dem Ausdruck Gentleman,
den wir aus dem Englischen herüber-
genommen haben, und mit tausend
andern. In seinem Laute klingt die Ab-
stammung nach, die die feine Nuance
bestimmt.
Merkwürdig, daß dieser einfache Zu-
sammenhang selbst durch Philologen
nicht immer begriffen wird. Ich kannte
einen, der sich selbst durch Sophokles-
Übersetzungen einen Namen gemacht hat
und der, da er in vorgerückten Jahren
noch Italienisch lernen wolite, sich furcht-
bar ärgerte über die Unregelmäßigkeiten
der italienischen Zeitwörter und gerade
solcher, die im Lateinischen noch regel-
mäßig gewesen waren. Trotz aller philo-
126
logischer Gelehrtheit begriff er eben nicht,
daß die Sprache nicht stillstehen konnte,
sondern notwendig die bleibenden Ein-
drücke der weiteren Entwicklung des
Volkes in sich aufnehmen mußte.
Das Ido wird darum den Natursprachen
gegenüber nicht sein wie ein „wohlge-
zimmertes Haus einer natürlichen Höhle“
gegenüber,*) sondern eher wie ein billiges
Universalwerkzeug, das Hammer, Meißel
Beißzange, Maßstab und noch einiges
andere sein will und doch keines recht
ist, das man freilich gebrauchen wird,
wenn der Raum in der Reisetasche man-
gelt, alle Einzelwerkzeuge mitzunehmen,
aber das, wenn es sich um hervorragende
Leistungen der Handwerkskunst handelt,
doch immer durch jene einzelnen und oft
noch ganz besonders als Tapezierhammer,
Klavierhammer, Steinhammer usw. indi-
vidualisierten Instrumente ersetzt werden
muß.
) Der Ausdruck Ostwalds.
Oder man könnte eine solche einfache
Weltsprache auch vergleichen mit jener
Musik, die durch einen einzelnen, der
gleichzeitig mit Armen, Beinen, Kopf und
Mund tätig ist, hervorgebracht, und die
vielleicht von einem ganz Unmusikalischen
auch mit einer Orchestermusik verwechselt
wird. Auch hier erspart man Arbeit (und
nach Ostwald ist ja Kultur die Ökonomie
der Energien), aber nur unter unendlicher
Einbuße der beabsichtigten Wirkung.
Der letztere Vergleich ist vielleicht der
allerbeste, denn in der Tat ist ja die
Sprache in ihrer feinen Ausbildung eine
Kunst und der echte Philologe halb
und halb eine Künstlernatur. Nur wenn
die Adepten dieser Wissenschaft selber
Banausen sind und sie das Mittel zum
Zweck als Selbstzweck betreiben, dann
verdienen sie die Kritik und die Ver-
achtung, die sie sich von Seiten Ostwalds
in so teichem Maße zugezogen haben.
Adolf Mayer.
Schluß des redaktionellen Teils!
— — nn
„Jj73J 0 %⅛ꝛ ⅛˙⅛ͤ1i¹b1 7²˙ ¹.. ¾—xN. 7 ½ 2s.
Verantwortlich für die Redaktion: S. D. Gallwitz, Bremen.
Einsendungen von Manuskripten (unter Beifügung von Ruckporto)
an die Redaktion Bremen, Am Wall 163. Tel. 6945.
Sprechstunden der Redaktion: Dienstag und Freitag von 1—2 Uhr.
Verlag: Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft in Bremen.
Druck: H. M. Hauschild, Hofbuchdruckerei, Bremen.
Neue Bücher.
Der Insel-Almanach auf das Jahr 1913.
Insel-Verlag zu Leipzig.
Wilhelm Mießner: Der Mann im Spiegel.
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig.
Woltgang Burghauser:
Philuzius Süßmeyrs alltägliche Geschichte.
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig.
Rolf Hjorth-Schoyen: Der Herrscher.
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig.
Curt Moreck: Jokaste die Mutter.
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig.
Max von Mallinckrodt: Mären und Märchen.
Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig.
Henriette Riemann: Pierrot im Schnee.
Erich Reiß Verlag, Berlin.
M. van Borst: Die Bekenntnisse einer glücklichen Frau.
Erich Reiß Verlag, Berlin.
Dr. Wilhelm Kosch: Menschen und Bücher.
Verlag der Dykschen Buchhandlung, Leipzig.
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Jedem Besucher BREMENS sei die Besichtigung
der Herstellungsanlagen des coffeinfreien
„Kaffeehag“
empfohlen.
Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft
Bremen-Holzhafen
Koffein und Kaffeol im Kaffee.
Von Universitätsdozent Dr. Viktor Grafe-Wien.
ie alle Genußmittel, deren der Kulturmensch zur Nerven-
anregung bedarf, und die ihre Wirksamkeit alle einem
mehr oder weniger giftigen Inhaltsstoff verdanken,
enthält auch die Kaffeebohne einen solchen. Alle Gifte haben
bekanntlich die Eigenschaft, in kleinen oder kleinsten Gaben
die Lebenskräfte zu höheren Leistungen anzuspornen, in größeren
sie zu hemmen und schließlich ganz zu vernichten. Das Koffein
der Kaffeebohnen freilich gehört zu den vergleichsweise harm-
losen, zu jenen, von denen erst größere Dosen schädlich wirken,
und doch kommen, besonders für den kranken Organismus,
jene Quantitäten, wie sie in starken Kaffeeaufgüissen vorliegen,
wegen ihrer Wirkung auf Herz und Nerven in Betracht.
Nicht die Nervenanregung aber ist es, wegen welcher die
große Masse gesunder Menschen ihren Morgenkaffee trinkt,
sondern die Geschmacks- und Aromastoffe, welche in der Kaffee-
bohne beim Rösten entstehen. Als deshalb die zunehmende
Nervosität des Jahrhunderts auch die »Entgiftung« dieses relativ
harmlosen Genußmittels verlangte, war es ein Problem, mit
dem Koffein nicht auch jene Stoffe der Bohne zu entziehen,
aus denen später beim Rösten Aroma und Geschmack hervor-
geht. Das Koffein ist nämlich an diese Substanzen chemisch
so fest gebunden, daß es erst durch einen von K. Wimmer
ersonnenen »Äufschließprozeß« gelang, diese Bindung zu lösen,
worauf das Koffein durch reinstes Benzol fast vollständig
herausgezogen werden konnte, ohne daß jene Stoffe Schaden
litten; das Benzol seinerseits wird durch nachfolgende Be-
handlung mit Wasserdampf vollkommen weggeblasen. Dieser
koffeinfreie Kaffee ist bekanntlich schon seit längerer Zeit unter
dem Namen »Kaffeehag« im Handel.
Nun ergab sich aber die merkwürdige Tatsache, daß der
Tee, obgleich er viel mehr Koffein enthält als der Kaffee (Tein
und Koffein sind identisch), wenn beide in gleicher Menge
aufgegossen werden, doch erfahrungsgemäß viel schwächer wirkt
als Kaffee. Die Antwort, welche die Wissenschaft auf diese
Frage gab, lautete dahin, daß eben im Kaffee nicht nur das
Koffein, sondern auch die Röststoffe, deren Gesamtheit man
»Kaffeola nennt, maßgebend sind; diese Antwort ist freilich
noch nicht endgültig, sondern wird von mancher Seite be-
stritten. Immerhin ist es nicht uninteressant zu sehen, woher
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Kurhaus und Pension Monte Brè
bugano-Ruvigliana Sve
mit Villa Ida und Villa Quisisana.
Anstalt für physikalisch-diätetische Therapie
zugleich größtes und schönstes Erholungsheim der Schweiz.
Infolge seines herrlichen Klimas hervorragende Erfolge bei fast allen
Krankheiten. Im Winter Riviera-Klima. Wegen seiner Höhenlage
(Seeklima) auch vorzüglich zu Sommer-Kuren geeignet. Laut
Statistik der meteorologischen Station die meisten Sonnenstunden
in Europa. Den ganzen Winter Sonnen- und Luftbäder. Modern
eingerichtet. 120 Betten. Zentral-Heizung. Anerkannt vorzügl. Diät.
Aerztl. Leiter: Dr.med. Oswald, Spezialarzt für phys.-diätet. Therapie.
Einer der bekanntesten Aerzte schreibt: Ein Eldorado
für Kranke, Nervöse und Erholungsbedürftige.
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Konkurrenzlos betreffs Lage und Klima. Aufenthalt gut mit Schweizer-
oder Italien-Reise zu verbinden. Altbewährte Leitung. Vorherige
Anmeldung nötig, da stets stark besucht. Man verlange illustrierte
Prospekte und Heilberichte vom Direktor MAX PFENNING.
1908 1909 1910 191
Besuch der Anstalt im Jahre: D ee
Für Passanten und Nichtkurbedürftige:
Dependance Hotel Casa Rossa.
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Lage und Einrichtung der Anstalt in Ruvigliana. el
liegt die Vorstadt Ruvigliana-Castagnola, welche durch den Monte Br& im Rücken
von Norden vollständig gedeckt ist und dadurch im Winter noch einige Wärme-
grade mehr aufweist als Lugano.
Ruvigliana hat infolge seiner günstigen Lage am südlichen Bergabhang noch
einige hundert Sonnenstunden im ar mehr als Lugano; während dort im Winter
die Sonne bald verschwindet, ist Ruvigliana noch stundenlang den Sonnenstrahlen
ausgesetzt. Die Sonne scheint im Winter ebenso warm wie an der Riviera,
Ruvigliana hat aber vor der letzteren den Vorteil, daß es von Deutschland nicht
so weit entfernt ist und das Klima hier nicht so verweichlicht. Im Sommer da-
gegen ist Ruvigliana durch seine Höhenlage (zirka 200 m über Lugano) kühler
und frischer als Lugano und eignet sich daher auch speziell für Sommerkuren.
Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß im Sommer hier italienische Hitze herrsche.
Einzig in ihrer Art ist die Lage der Anstalt mit dem Blick auf den wunder-
vollen See, in dem sich das Blau des ewig lachenden Himmels abgrundtief wieder-
spiegelt. „Man muß es gesehen haben vor dem Sterben, wenn man eine goldene
rinnerung mitnehmen will an die Herrlichkeit dieser Erde“, schreibt ein annter
Literat, der krank und müde des Großstadttreibens in Monte Br& Ruhe suchte
und seine volle Schaffensfreudigkeit wiederfand. Ein anderer schrieb: „Lugano
ist ein vom Himmel gefallenes Stückchen Erde.“ — Einer der hervorragendsten
Spezialärzte der phys.-diätet. Therapie, der wiederholt im Kurhaus Monte Bre
Erholung suchte, nennt die Anstalt „Ein Eldorado für Kranke, Nervöse und
Erholungsbedürftige“. ö | | AG;
Mit der elektrischen Straßenbahn von Lugano in 15 Minuten erreichbar, liegt
die Anstalt in halber Höhe des Monte Brè, zirka 200 m über Lugano, einen herr-
lichen Ausblick auf die Stadt, den See und den San Salvatore bietend.
Die Anstalt ist modern nach dem Muster der besten deutschen Sanatorien
eingerichtet, mit elektrischem Licht und Zentralheizung in allen Räumen, Korridoren
usw., ebenso wie mit Wasserleitung, Wasserspülung usw. versehen. Die Zimmer
sind geräumig, hoch, komfortabel und gemütlich eingerichtet: Die meisten Zimmer
haben Doppeltüren, sind gut isoliert und die Fußböden mit Linoleum belegt;
sämtliche Jud und Ostzimmer haben schöne Balkons, alle Zimmer Reformbetten.
Jeder Gast erhält sein eigenes Zimmer, nur auf besonderen Wunsch werden Gäste
gemeinsam einlogiert. Nervöse und empfindliche Patienten empfinden es angenehm.
daß der Schritt der an den Zimmern Vorübergehenden durch Korridor- und
Treppenläufer gedämpft wird. In jedem Stockwerk ist ständig warmes Wasser |
vorhanden. Zahlreiche Lufthütten am Bergesrand mit prachtvoller Aussicht auf
den See stehen den Kurgästen ebenso wie eine Liegehalle (80 m? groß) zur |
Verfügung. Gut gepflegte Promenaden bieten Gelegenheit zu Spaziergängen. |
Die Anstalt liegt etwas seitwärts vom Dorfe Ruvigliana, so daß kein Lärm oder |
Geräusch die Gäste stört. Straßen und Umgebung des villenreichen Ruvigliana
sind trocken, fest und nachts elektrisch beleuchtet. Großstädtische Bequemlich- |
keit 17 5 hier demnach im Gegensatz zu andern italienischen Städten nirgends
vermibt. l
———
—
— nn M ppe ·
In den ersten Jahren wurde die Anstalt durch-
Besuch der Anstalt. schnittlich von zirka 200—3800 Gästen jährlich be-
sucht. Die Frequenz nahm aber durch die Erbauung des Hauptgebäudes einen
riesigen Aufschwung, so daß im Jahre 1910 über 700 Gäste hier weilten. Von
diesen machten zirka 60% Kuranwendungen und 40% waren als Erholungs-
bedürftige und Pensionäre da. Von den Kranken, die die Anstalt aufsuchten, |
wurden laut ärztlicher Statistik 80% als geheilt, 15% als gebessert und 5% als
nicht gebessert entlassen. Vertreten waren folgende Nationen: 60% Deutsche
20% Schweizer und 20 °/, Oesterreicher, Italiener, Russen, Holländer, Franzosen.
Finnen, Amerikaner und Afrikaner. Die Anstalt war wie folgt besucht: im Januar
rr
täglich von zirka 50, Februar zirka 75, März zirka 90, April zirka 90, Mai zirka S8 \
Juni zirka 75, Juli zirka 70, August-September zirka 75, Oktober zirka 80, November
zirka 80 und Dezember zirka 65 Gästen.
| Zur Anwendung kommt in der
Kurmittel und Anwendungsformen. Zur Anwend a
kalisch-diätetische Heilverfahren nach den Grundsätzen von Prof. Winternitz,
Prießnitz, Dr. Lahmann, e Hahn, Schroth, Rikli, Dr. Bircher-Benner (Haigs
Harnsäure-Theorie), Platen und Pastor Felke in streng individueller Weise. Milde
Kurformen werden durchaus bevorzugt. Es gehört zum Grundsatz der phys. -diätet.
Therapie, den ta allmählich einzuleiten und durchzuführen. Sogenannte
Kaltwasserkuren, durch die mehr Schaden als Nutzen gestiftet wird und die in, nach
wissenschaftlichen Grundsätzen geleiteten Anstalten längst der Wärmekultur ge-
wichen sind, werden in der Anstalt nicht vorgenommen. Mit Recht fürchten sich be-
sonders die Nervösen vor solchen Parforcekuren, die wohl vorübergehende Erfolge
zeitigen, weil sie das Nervensystem gleichsam anpeitschen, hinterher aber den
Zusammenbruch beschleunigen. Grundsatz der Anstaltsleitung ist das hygienische
Prinzip: „Was vom Patienten besonders unangenehm em funden wird, das schadet
ihm.“ Das Wasser kommt zur Anwendung in Voll-, Halb-, Rumpf-, Sitz- oder
Fußbädern, kühlen und warmen Douchen, Wechseldouchen, Kohlensäurebädern,
ferner in feuchten und trockenen Ganz- und Teilpackungen, in Umschlägen, Ab-
reibungen, Bett-, Rumpf-, Fuß-, Arm-, Dampf-, elektrischen Lohtanninbädern,
Kohlensäurebädern, Kneippgüssen usw. — Die Massage wird von geschultem
Personal, in schweren Fällen von der Anstaltsleitung selbst ausgeführt. Zur An-
| wendung kommt Hand-, Vibrations- und Thure-Brandt-Massage, sowie schwedische:
18 Heilgymnastik. Ferner elektrische Lichtbäder in weiß-blau-rot, Bestrahlung mit
I elektrischen und Sonnenlichtapparaten. In reichstem Maße werden den Gästen
I ferner Licht, Luft und Sonne zugänglich U Die herrlich eigenen Luft-
t und Sonnenbäder (je eins für Damen und Herren) können hier das ganze Jahr
l über genommen werden. Im Winter dienen dazu die in jedem Luftbade vor-
l handenen Glashallen, in denen selbst im Dezember und Januar die Temperatur
bis 45° ist. Direkt an die Anstalt schließt sich ein Kastanienwäldchen an, das den
w Gästen im Sommer er" Bir schattigen Aufenthalt bietet. In demselben ist
jetzt auch ein Waldluftbad eingerichtet.
Krankheiten, die im Kurhaus mit Erfolg behandelt
wurden: Krankheiten des Nervensystems, der Atmungsorgane, Erkrank-
I —— ungen des Gefäß-Systems, Herzfehler und reislaufstörungen,
konstitutionelle Leiden aller Art, wie Bleichsucht, Gicht, Rheumatismus,
Zuckerkranlcheit, Sexualerkrankungen usw., Erkrankungen der Unterleibs-
organe, chronische Vergiftungen und Frauenkrankheiten. — Geisteskranke
und Kranke mit ansteckenden Leiden werden nicht aufgenommen.
: „ An Ausflügen, Bergpartien und Spaziergängen bietet wohl selten
Ausflüge. eine Gegend so viel Abwechslung wie Lugano.
Nach Lugano ist die denkbar beste Verbindung. Fast
Af Verkehrswesen. von allen Gegenden Europas gehen direkte Wagen. Von
ii Ruvigliana nach Lugano ist alle 10 Minuten Tramverbindung. Man fährt von der
Anstalt in 15 Minuten nach Zentrum Lugano. — Postverkehr: Täglich dreimal.
1 Telegrammadresse: Pfenning, Ruvigliana-Lugano.
Der Pensionspreis beträgt für Kost (4 Mahlzeiten),
Tarif und Pension. Wohnung, Heizung, Luft- und Sonnenbäder mitDouchen,
‚Beleuchtung pro Tag Fr. 6.—, 6.50, 7.—, 7.50, 8.—, 8.50 und 9.—, je nach Wahl
des Zimmers und der Jahreszeit. Familien erhalten Extrapreise nach Vereinbarung.
— Bäder werden extra berechnet, doch werden auch Pauschalpreise vereinbart.
— Passanten erhalten ein Mittagsmahl (vegetarisch oder Fleischtisch) für Fr. 2.50,
Kaffee komplett Fr. 1.—, Abendessen Fr. 2.—, Logis Fr. 2.— bis 8.—, Frühstück
Fr. 1.—. Die Mahlzeiten sind reichlich und ist unsere Küche als vorzüglich be-
kannt. Dieselben sind nach den Grundsätzen von Dr. Lahmann geführt, doch
wird auf Wunsch auch Hotelkost verabreicht.
Die Anstalt ist von vielen Aerzten empfohlen und besucht.
Großer illustrierter Prospekt mit Dankschreiben und Heilberichten
2% gratis und franko.
ZZ
— —— —
Dankschreiben und Heilberichte.
Wir haben seit einer längeren Zeit von Jahren zahlreiche Reform- Sanatorien und vegetarische
Pensionen aufgesucht zu unserer Erholung und für unsere eigene Lebensreform Anregung und
Belehrung zu empfangen. — Unser Aufenthalt hierselbst am Monte Brè konnte leider nur en
kurzer sein, doch reichte er zur Erkenr*tnis aus, daß die Pfenningsche Anstalt nach Einrichtung
und Leitung der besten ihresgleichen willig * ist, sie durch Gunst des Klimas und der
Lage aber noch übertrifft. ir scheiden mit den besten Zukunftswünschen für Herrn und Frau
Direktor Pfenning! Medizinalrat Dr. B. aus Harburg a. E. nebst Gemahlin und 2 Kindern.
Gerne teile ich Ihnen mit, daß wir mit Vergnügen und Befriedigung an unsern Aufenthalt in
Lugano-Ruvigliana zurückdenken. Die e der Anstalt ist wunderschön, sonnig, frei unå mit
herrlichem Blick, die Zimmer sind freundlich und behaglich, die Kost der sehr gut und
sehr reichlich, so daß nichts zu wünschen übrig bleibt ir werden gerne einmal wiederkommen
Eisenach. Frau J. V., Oberstengattin-
Mir geht es sehr gut. Ich denke noch oft an Lugano und die Villa Ida zurück. Eine schönere
Lage mit so vorzüglicher Höhenluft läßt sich auch wohl kaum finden. Das habe ich so recht
eingesehen, W am Lago die Le mma am 12 o 1 lare — * N 2 keinen On
ugano gleich, wie es am Eingang des Prospektes hei ch ha ei Ihnen zugenommen.
Währscheinlich werde ich nn einmal einige Zeit in der Villa Ida verleben.
Stettin. Frl. E. G.
Hinsichtlich meines Kuraufenthaltes von Anfang Oktober bis Mitte Februar in der unver-
eichlich schon genen Anstalt Villa Ida in Ruvigliana-Lugano kann ich Ihnen der vollen Wahr-
eit entsprechend mitteilen, daß der Erfolg ausgezeichnet, ja die Nachwirkung der Kur
überraschend sich bemerkbar machte. Ich fühle mich so gesund, ohne die ngste
und ohne irgend welche Beschwerden, so daß ich sagen kann, die Kur war wohl angebracht unter
Ihrer streng individualisierenden Leitung.
Wiesbaden. Sekretär G. G.
Gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen herzlichen Dank ausspreche für die freundliche Be
handlung während meines Aufenthaltes in Ihrer Anstalt. Ich werde die schöne Zeit, die ich bei
Ihnen verlebte, in meinem Leben nie vergessen, werde Ihre Anstalt jedem Leidenden empfehlen
Indem ich nochmals meinen verbindlichsten Dank ausspreche zeichne
Eggenbühl. K. S., Kaufmann.
In Ruvigliana am schützenden Monte Br& hat es uns sehr gut gefallen und wir fühlten uns
äußerst wohl. Wenn es unsere Zeit erlauben würde, würden wir sehr e unsere November-
Nebeltage mit Ihrem sonnigen Klima dort vertauschen. Mit en Grüßen
Kiel, Ihr St. und Frau, Architekt.
Wir haben bei Ihnen eine sp nette Stätte gefunden, die durch Ihre und Ihrer Frau Gemahlin
n . 7 uns unvergeßlich bleiben wird.
Berlin, 6. Dezember. Frau A. M., Rentiere.
Sehr geehrter Herr Direktor! Es drängt mich, Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin, sowie Her
Dr. Oswald meinen aufrichtigsten Dank zu sagen. Als ich Mitte Mai nach dort kam, war mem
schweres Leiden, die Erkrankung des Zentralnervensystems, soweit vorgeschritten, daß ich zB
die Treppen hinauf und hinab immer nur unter Zuhilfenahme des Geländers gehen konnte. Nach acht
wöchentlicher Kur konnte ich ohne jede Hilfe und ohne Stock gehen. Wie ich ns in allen
Bewegungen jetzt eine größere Sicherheit besitze und hiermit auch wieder das
zurückgewonnen habe. Mit bestem Dank und freundlichen Grüßen
Berlin. Ihr ergebener Th. A.
Während meines zehnwöchentlichen Aufenthaltes in hiesiger Anstalt wurde ich von meiner
e schweren Neurasthenie vollständig befreit. Die vorzügliche Lage die klimatischen
Verhältnisse spielten bei der Heilung eine nicht zu unterschätzende Rolle. In sehr wohlwollender
Weise haben sich die Herren Direktor Pfenning und Dr. Oswald meiner stets — — um
mich wieder gesund zu machen, damit ich in meinem schweren Beruf als P noch
manche Jahre tätig bleiben werde. Mit gutem Gewissen kann ich daher die hiesige Anstalt allen
warm empfehlen,
Osnabrück. H. D., Sekretär.
Des Wassers heilige Kraft, des Lichtes belebende Wirkung, der Reiz fröhlicher
der vorzügliche Tisch und gewissenhafte Behandlung in Verbindung mit göttlichem F
haben mir in 5 Wochen die Gesundheit (Neurasthenie) wiedergegeben. Den Leitern des
Sanatoriums dafür aufrichtigen Dank! Möge die Anstalt gedeihen, möge sie vielen Leidenden
gleiche Dienste wie mir tun.
Barby. G., Lehrer.
Ganz wunderbar zu Ihrem Vorteil verändert, kam meine Nichte aus Ihrem Sanatorium zurück
und beeile ich mich, Ihnen und Herrn Dr. Oswald meinen und meiner Schwester Dank zu übermitteln.
Bayreuth. Th. v. T., Freifrau.
Unterzeichneter bestätigt hiermit, daß er von seiner schweren Krankheit (Nervenschwäche)
im Sanatorium Monte Br& vollständig geheilt wurde, nachdem er von mehreren Aerzten als un-
heilbar erklärt wurde. Herzlicher Dank.
Wien, 2 August 1911. K. B.
Nach einem fünf wöchentlichen Aufenthalte konnte ich diese nach meiner Ansicht erstklassige
Anstalt auf eigenen Füßen gehend verlassen, obwohl ich bei meiner Ankunft hineingetragen werden
mußte, weil mein Bein gelähmt war. Für gute Pflege und aufmerksame Bedienung danke ich
hiermit der Direktion und dem leitenden Arzt.
R., 19. Januar 1911. A. H., Ingenieur.
Habe mich nach vierwöchentlichem Aufenthalte hier wie noch in keinem anderen Sanatorium
aa. 4 1 2 wohlbefunden und gut erholt. Dem Herrn Direktor und seiner Frau meinen
ichsten Dank.
Mühlhausen i. E. P. L., Zahnarztgattin.
bruck von Wılneim Mösier, Uranienburg,
u ee Google
die Röststoffe stammen. Erdmann-Halle hat zunächst gezeigt,
daß man unter den Röststoffen die eigentlichen Aromasub-
stanzen von den physiologisch wirksamen unterscheiden kann;
die Hälfte dieser letzteren besteht aus einem Stoff, der Furfur-
alkohol genannt wird; er ist gleichzeitig der hauptsächlichste
Übeltäter unter ihnen, denn die Valeriansäure, die noch in
nennenswerter Menge vorhanden ist, übt kaum eine Wirkung
auf den Organismus aus. Bei der Vorbereitung zur Koffein-
entziehung wird der Rohkaffee mit gespanntem Wasserdampf
behandelt. Dieses Verfahren und die nachfolgende Anwendung
von Benzol bewirkt, daß große Klumpen einer schwarzen Sub-
stanz dabei abfallen, die hauptsächlich aus Staub, Schmutz,
Faserteilchen, Fett und Wachs aus der Kaffeebohne besteht
und die das entzogene Koffein einschließt.
In neuester Zeit hat man nun versucht, den Kaffee durch
Waschen und Bürsten mit lauem Wasser von den Muttersub-
stanzen der Röststoffe zu befreien; tatsächlich ist man erstaunt
zu sehen, daß auch schon dabei das Waschwasser trübe, fettig
und schließlich förmlich dick von abfallendem Kaffeewachs,
die Bohnen aber schön hell und glänzendrein werden. Aber
selbst wenn durch nachfolgendes Ausziehen mit Benzol jede
Spur von Verunreinigung entfernt ist, hat die Bohne wohl an
Appetitlichkeit gewonnen, die Muttersubstanzen der Röststoffe
aber nicht verloren. Diese sitzen eben nicht an der Ober-
fläche, zu ihrer Entfernung ist ein tiefer eingreifendes Ver-
fahren notwendig. Schon vor Jahren habe ich den Furfur-
alkohol als nie fehlenden Bestandteil der Holzsubstanz nach-
gewiesen und meine mit Kaffee angestellten Versuche haben
ergeben, daß er hier aus dem Zellstoff, der sogenannten Roh-
faser der Kaffeebohne, hervorgeht. Die Rohfaser beim Kaffee
ist nämlich besonders leicht veränderlich, dient sie doch dem
aus dem Samen sich entwickelnden Keimling der Kaffeepflanze
als Reserve-Nahrungsstoff. Beim Rösten entsteht zum größten
Teil aus ihr der Furfuralkohol. Wenn man Kaffeebohnen
einer Behandlung mit gespanntem Wasserdampf unterzieht, wie
das beim Aufschließprozeß des Koffein-Entziehungsverfahrens
der Fall ist, kann man eine starke Verminderung der Rohfaser
feststellen, und tatsächlich zeigt ein solcher Kaffee beim Brennen
auch parallelgehend eine starke Verminderung des Furfurols
unter den Röststoffen. Die Valeriansäure aber hat mit der
Rohfaser nichts zu tun, ihre Muttersubstanz wird auch durch
die Wasserdampfbehandlung nicht verringert, es hat sich viel-
mehr herausgestellt, daß sie aus dem Kaffeewachs entsteht, das
durch Waschen oder Benzolextraktion entfernt werden kann,
Der gewöhnliche Kaffee des Handels unterscheidet sich daher
betreffs seiner Extraktbestandteile und seines wirksamen Röst-
stoffgehaltes kaum von dem gründlich gewaschenen und ge-
bürsteten, selbstredend gar nicht betreffs seines Koffeingehaltes,
denn dieses kann erst recht nicht durch bloßes Waschen her-
ausgelöst werden. Die aus Fett und Wachs entstehenden
Röstbestandteile sind überdies flüchtig, gelangen also nur zum
geringsten Teil in den Aufguß, können schon aus diesem
Grunde kaum als wesentlich angesehen werden. Es ist gar
nicht sichergestellt, daß die Röstprodukte es sind, welche eine
Wirkung auf den Organismus üben oder die Wirkung des
Koffein unterstützen, aber wenn das der Fall ist, genügt es
nicht, daß ein Kaffee den Gesetzen der Reinlichkeit oder
Ästhetik Genüge leiste, um diese Wirkungen vermissen zu
Jassen, sondern Muttersubstanzen chemischer Stoffe können
auch nur durch chemisehe Operationen entfernt werden, wie
es beim Entkoffeinisieren und dem dabei geübten »Auf-
schließen« durch einen glücklichen Zufall oder einen glücklichen
Griff verwirklicht ist.
Lebensreize.
Die ersten Aufzeichnungen über einige unserer heutigen wichtigsten Ge-
nußmittel wissen deren Wert nicht hoch genug einzuschätzen. Tabak sowohl
wie Kaffee wurden als wahre Lebenselixiere gepriesen. Jahrhunderte hindurch
ward dieser Ruf nur wenig angefochten. Erst die letzten Jahrzehnte haben den
Glauben an die Zuträglichkeit von Nikotin und Koffein, wie auch von Alkohol
erschüttert. Eine Erklärung für diese merkwürdige Tatsache, daß so spät erst
die Schäden dieser Genußmittel auffallend genug hervortraten, um bemerkt zu
werden, ist wohl darin zu suchen, daß die früheren Geschlechter einesteils sich
durch eine robustere Gesundheit auszeichneten, anderenteils weniger Angriffen
auf ihr gemütliches und nervöses Gleichgewicht als die heutige Generation aus-
gesetzt waren. Nicht nur im Leben des einzelnen, sondern auch im Leben der
Allgemeinheit bewährt sich das Wort, daß erst Schaden klug macht. Erst der
Rückgang der Gesundheit und Widerstandskraft unseres Volkes im allgemeinen
hat die Frage nach seiner Ursache und das Bestreben nach seiner Abwehr wach-
gerufen.
Es sind etwa 20 Jahre her, daß man anfing, an die Stelle der künstlichen
Reizmittel zielbewußt die natürlichen zu setzen. Die Gerechtigkeit verlangt ein-
zugestehen, daß diese Bestrebungen anknüpfen an den Namen Lahmann. Et
war derjenige, der die da und dort sich hervorwagenden Reformversuche zu-
sammenfaßte und zeigte, daß man in Luft und Wasser, in naturgemäßer Ernährung
und Kleidung dem erschöpften Körper hinreichend Reize zur Erholung, Kräftigung
und Genesung zuführen und künstliche, besonders chemische Reize, die doch
nur wie eine Peitsche wirken, für gewöhnlich entbehren könne. Seit jener Zeit
i
traten neben die Badeorte, die dem Hilfesuchenden nur einen Heilfaktor dar-
bieten, die Sanatorien, die sich von jenen dadurch unterscheiden, daß sie die
Heilung von den verschiedensten Seiten aus fördern wollen, und es entwickelte
sich eine vielseitige Industrie zur Herstellung zweckmäßiger und gesunder
Nahrungs- und Genußmittel, sowie eine riesenhafte Literatur, unter deren Einfluß
heute schon ganz andere Anschauungen über das, was dem Leib frommt, in die
breitesten Schichten eingezogen sind.
Unter diesem Gesichtspunkt eines in seinem bescheidenen Teil mitwirkenden
Faktors bei der Regeneration des deutschen Volkes möchten die nachfolgenden
Zeilen die Bestrebungen der Kolonie Südstrand auf Föhr und ihres Sanatoriums
würdigen. Bei ihrer Gründung vor 14 Jahren wurde Dr. Gmelin von dem Ge-
danken geleitet, daß die von der Natur im Nordseeklima in so reichem Maße
dargebotenen Heilkràfte bisher weder in richtiger Art noch in genügendem Um-
fange ausgenützt worden seien. Er hatte gesehen, welch verblüffende Erfolge
die Lahmann-Kuren im Binnenlande erzielten. Er sagte sich, daß durch sie noch
mehr zu erreichen sein müsse im Nordseeklima, das an sich schon unbezweifelte
Wirkungen hervorrufe. Er ging ferner auf Benecke zurück, der durch die Ver-
suche einer Überwinterung Kranker an der Nordsee bewiesen hatte, daß das
Seeklima nicht nur im Sommer, sondern auch im Herbst und Winter heilsam
sei. Die Richtigkeit dieser Voraussetzung hat inzwischen die Entwicklung des
Unternehmens bewiesen. Wo ehedem vegetationsarme Heide sich dehnte, steht
heute ein Park mit weitverschlungenen, windstillen Wegen, die die vielen Häuser
des Sanatoriums untereinander verbinden oder zum Strand mit seinen Liegehallen
und Promenaden führen. Wenn im benachbarten Badeort Wyk die Hotels sich
längst bis auf die Restauratlonsräume geschlossen haben, zeigt der Südstrand
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tag, wenn der Spiegel der See in friedlichem Glanz sich breitet, sondern auch
wenn der feuchtwarme Südwest Wolke auf Wolke vorüberjagt, wird man inne,
daß diese Seeluft einen der mächtigsten Lebensreize darstellt. Mit sanfter, aber
unwiderstehlicher Gewalt bringt er den vom Großstadtleben verworrenen Stoff-
wechsel wieder in normalen Gang, regt Verdauung, Blutbildung, Herztätigkeit an
und beruhigt die Nerven, so daß das Gehirn in tiefem Schlaf und wohltuender
Apathie neue Kräfte sammeln kann.
Die Erfahrung, daß besonders dem jugendlichen Organismus das Seeklima
zuträglich ist, hat dann noch dazu geführt, dem Sanatorium, in welchem vor-
wiegend Erwachsene und Familien wohnen, Einrichtungen für die Jugend anzu-
gliedern. Ein Jugendheim ist bestimmt für erholungsbedürftige und kränkliche
Kinder, denen vergönnt ist, ihren Aufenthalt nur zur Erholung zu benutzen. Das
Nordseepädagogium dagegen ist eine höhere Schule mit Real- und Gymnasial-
abteilung bis zum Einjährigen und verbunden mit Internat. Hier arbeiten Arzt,
Lehrer und Erzieher Hand in Hand an gleichzeitiger geistiger und gesundheit-
licher Förderung. In Zeit von vier Jahren hat sich das Pädagogium einen Ruf
in ganz Deutschland und bis hinein nach Österreich und Rußland erworben, so
daß die Zahl der Schüler auf etwa 100, die der Lehrer auf 16 gestiegen ist.
Für den Volksfreund ist es eine Freude, hier die Industrie in der Her-
stellung gesunder Nahrungs- und Genußmittel, wie des koffeinfreien „Kaffehag‘,
dort die Ärzte in der Schöpfung gesundheitgebender Einrichtungen am Werk zu
sehen, und es wird eine Zeit kommen, die den Anfang des 20. Jahrhunderts
nicht nur als die Renaissance der Weltstellung von Deutschlands Handel, Industrie
und Wissenschaft, sondern auch der Gesundheit und Kraft des deutschen Volkes
bezeichnet.
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Jahrgang
Hefi 4
Januar 1913
18
[i Berlao: Kaſſee 6 ag Bremen
Die
Sülden kammer
Herausgeber:
S. D. Gallwitz - G. F. Hartlaub · Hermann Smidt
Dr. Albrecht Wirth, Am Balkan.
s war ein dramatischer Tag in der Weltgeschichte, als ein
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werde.
Als Napoleon und Alexander I. nach Tilsit die Erde unter-
einander verteilten, forderte der Zar den Besitz Konstantinopels.
„Niemals!“ rief der Korse, „das bedeutet die Herrschaft der Welt!“
Darüber kam es zu dem Bruche mit Rußland, zum Brand von
Moskau und schließlich zum Sturze des ersten Bonaparte. Auch
heute handelt es sich um den Besitz Konstantinopels, sowie um die
Eröffnung der Dardanellen. Auch heute handelt es sich um eine
Weltfrage.
Dazu ist noch ein anderes Problem gekommen. Der Vor-
marsch des Deutschtums nach dem Ägäischen Meere, nach Vorder-
asien, soll verhindert werden. Und an der Adria ringen Italiener,
Deutsche und Slaven um den Vorrang.
Die Verhältnisse an den Dardanellen werden keine durch-
greifende Änderung erfahren; die Türken bleiben dort die Herren.
Wohl aber geht der Westbalkan einer völlig neuen Zukunft ent-
gegen. Albanien wird unabhängig.
Wer sind die Albaner? Sie haben mit allen sie umgebenden
Nachbarn gar nichts zu tun, haben nichts mit Griechen, Italienern
und Serben, und am allerwenigsten mit den Türken gemeinsam.
| Sie sprechen eine indogermanische Sprache, die jedoch ganz ver-
j einzelt ist, untermischt mit baskischen Urworten. Auch nicht als
„ |
194 Dr. Albrecht Wirth:
Nachfahren der Illyrier können die Albaner gelten, höchstens als
deren Neffen, denn die Lautung des heutigen Schkip ist von der
Gebahrung des Illyrischen, das wir durch Inschriften und viele
Ortsnamen kennen, verschieden. Das Schkip ist ziemlich einheitlich;
die Hauptmundarten, das Toskische im Süden und das Geghische
im Norden, weichen weniger von einander ab, als Platt- und Hoch-
deutsch. Dagegen wird sonst das albanische Volk durch die mannig-
faltigsten Gegensätze des Glaubens und der Bildung zerklüftet. An
der Küste die alte Kultur Venedigs; im Hochgebirge Zustände ur-
tümlicher wie bei den Germanen des Tacitus; der Osten von Serben
und Türken beeinflußt. In einem Tagesritte kommt man aus dem
Gebiete höchster neuzeitlicher Zivilisation in das Land der Blut-
rache und der finsteren Kulas. Selbst Innerafrika ist geographisch
besser erkundet, als manche Striche Inneralbaniens. Dazu Gegen-
sätze der Religion. Im Süden griechisch-uniert, im Norden römisch-
katholisch, im Osten moslimisch. Freilich sind es schlechte Mo-
hammedaner, Anhänger des pantheistischen Ordens der Bektaschi,
und auch die Christen sind zwar sehr kirchlich, aber tyrannisieren
vielfach ihre Priester. In neuester Zeit werden jedoch die Klüfte
überbrückt, der albanische Gedanke erhebt sich mit siegreicher
Kraft. Zunächst sollte die Einheit des Volkstums in einem einheit-
lichen Alphabete zum Ausdruck kommen. Bisher gab es nämlich
drei verschiedene Systeme von Schriftzeichen, dazu wollten die
Jungtürken noch die arabischen Buchstaben einführen, womit sie
allerdings gescheitert sind. Bei meiner jüngsten und fünften Reise
in Albanien wurde ich mit einem Gedichte bekannt, das ganz so
aussieht, als sollte es einmal zur Nationalhymne der Schkipetaren er-
wachsen. Darin ist es deutlich gesagt, daß in Zukunft die Gemein-
bürgschaft des Volkstums höher, heiliger, hehrer sein soll, als die
trennenden Gegensätze des Glaubens und der Lebensführung. Die
zwei letzten Strophen lauten:
Tschonju, djelm, per nder t'atdheut!
Shjena ma ne koh te flaschk
Nen beirak te Skenderb&ut.
Tosk e Gegh mblidhna baschk.
Brift e hodsch baschku t’uroine
Krytschali edhe dintar
Din e fe mos t'na trasoine
Jemi vlasen Shkypetar.
Das bedeutet: „Auf, ihr Jungens, zur Ehre des Vaterlandes! Es
ist keine Zeit mehr, schwach zu sein. Unter dem Banner Skander-
begs mögen sich Tosken und Geghen vereinen! Gemeinsam sollen
Priester und Hodschas segnen sowohl Christen als auch Mo-
—
Am Balkan. 195
hammedaner. Kreuz und Islam trennen uns nicht mehr, wir sind
Brüder, Schkipetaren!“
Anfang Dezember wurde durch Ismail Kemal Bey die Un-
abhängigkeit Albaniens verkündet. Die Grundlagen zu einer solchen
Unabhängigkeit sind nicht nur in der tiefen Sehnsucht des Volkes,
sondern auch in der jetzigen militärischen Lage vorhanden, denn
gerade Albanien hat auf dem ganzen Balkan den erfolgreichsten
Widerstand geleistet. Zwar sind die Serben bis zur Adria vor-
gedrungen und haben auch Berat besetzt, allein ihre rückwärtigen
Verbindungen sind keineswegs sicher; sind im Gegenteil oft unter-
brochen, und man kann sagen, daß eine zusammenhängende, feste,
unzerstörte Stellung der türkisch-albanischen Truppen auf eine Ent-
fernung von acht Tagereisen halbmondförmig sich von Skutari,
das offenbar mit der Außenwelt noch in Verbindung steht, durch
die Alpenkette des Schwarzen und des Weißen Drin bis nach Janina
und den Grenzgebirgen am Busen von Arta erstrecke. Auch ist
noch nicht das mindeste Anzeichen dafür vorhanden, daß eine von
cen beiden Festungen an den Enden der Halbmondlinie zu fallen
drohe. Besonders in Janina sind noch nicht einmal die Lebens-
mittel knapp, und die Belagerer sind in weit üblerer Lage als die
Belagerten. Über die Zusammensetzung der Verteidigungstruppen
ist nichts Zuverlässiges bekannt, jedoch die meisten Nachrichten
weisen darauf hin, daß die Mehrzahl der Truppen aus Schkipetaren
bestehe. So wird schon jetzt Albanien von den eigenen Söhnen
verteidigt und der Freiheit entgegengeführt.
Während der Anfänge des Friedenskongresses in London sorgten
die Griechen für die Unterhaltung Europas. Auf dem Schauplatze
ihrer ältesten und stolzesten Erinnerungen, in der Nähe von Do-
dona, wo noch jetzt Ruinen stattlicher Tempel ragen, und von
Korfu, der Heimat der Phäaken, führen sie Krieg zu Wasser und
zu Lande. Allein das Schicksal ging gegen sie, sowohl in Santi
Quaranta, der einzigen Stadt Albaniens, die Kaiser Wilhelm be-
sucht hat, als auch bei Janina. Es gibt höchstens drei Deutsche,
die Janina besucht haben. Da ich zu diesen dreien gehöre, möchte
ich mir erlauben, hier ein Bild von der Lage zu entwerfen. Die Stadt,
die von etwa 40000 Leuten bewohnt ist, sich jedoch, da sehr eng
gebaut, nur auf etwa zwei Kilometer erstreckt, liegt an einem großen
See, ungefähr wie der Tegernsee, nur breiter. Hinter dem See er-
hebt sich die Zagora, ein zerklüftetes, steinernes Meer von hoch-
alpinem Wurf. Auf drei Seiten ist Janina von einer welligen
Ebene umgeben. Unmittelbar am Rande der Ebene, im Süden, er-
heben sich andere Alpen. In der Stadt türmt sich ein sehr steiler,
196 Dr. Albrecht Wirth:
aber nur ganz niedriger Hügel auf; er ist von einem ausgedehnten
Fort bekrönt, das zur Zeit Ali Tepelenlis gewiß sehr stark war,
jedoch gegen heutige Kanonen keinen Schutz bietet. Die Schwierig-
keit ist aber gerade die, Kanonen gegen Janina in Aufstellung zu
bringen; denn das beherrschende Gebirge ist doch recht weit ent-
fernt, nicht unter sieben bis acht Kilometern, und außerdem ist es
schier unmöglich, auf dem unwegsamen Gelände große Kanonen
zu transportieren. So ist die Ebene eigentlich das einzige An-
griffsfeld für einen Feind, und gerade eine Ebene ist die beste
Schutzwehr für eine Festung, wie schon Moltke bemerkte, be-
sonders jedoch eine kahle Ebene, auf der ein Heranrücken außer-
ordentlich erschwert wird. Das wußten wohl auch schon die
Gegner von Macbeth, als sie beim Sturm auf dessen Burg Bäume
vor sich hertrugen. Freilich handelt es sich bei Janina, wie schon
berührt, nicht um eine tischgleiche Ebene, und ein geschickter
Gegner könnte die Unebenheiten des Bodens mit Vorteil ausnützen.
Das haben nun offenbar die Griechen bisher nicht verstanden. Da-
bei standen und stehen den Griechen nicht weniger als drei Wege
offen, um Janina zu berennen. Der eine Weg führt über Metsovon
durch einen äußerst schwierigen Engpaß, der für große Kanonen,
namentlich zu jetziger Jahreszeit, vollkommen ungangbar ist. Es
ist die berühmte Straße (ich habe sie auch zurückgelegt), die von
Thessalien nach Epirus führt und die schon vor zwei Jahrtausenden
von den Soldaten Cäsars benutzt wurde. Der zweite Weg, den
kürzlich die Hellenen einzuschlagen versuchten, geht von Santi
Quaranta über Delvino. Ein dritter Weg kommt von Prevesa her
und vereinigt sich in ziemlicher Entfernung von der Stadt mit noch
einem anderen, der das Lurostal quer durch das Hochgebirge mit
dem Busen von Arda verknüpft. Obwohl zuerst in Athen allerlei
Vertuschungskünste verübt wurden, kann jetzt kein Zweifel mehr
darüber sein, daß die Griechen im Vilajet Janina drei mehr oder
weniger bedeutende Niederlagen erlitten haben.
Der Umkreis des von den Türken bei Janina besetzten Ge-
bietes kann noch gut und gern auf zweihundertzwanzig Kilometer ge-
schätzt werden. Weit geringer ist der Umkreis, den sie bei Skutari
innehaben, nämlich 25—30 Kilometer, aber er bietet jedenfalls Raum
genug, um den Vorteil der inneren Linie voll auszunutzen. Ich kenne
Skutari von mehreren früheren Reisen gut, und hatte bei der
letzten — es war Anfang November — den Vorteil, vom König
zu einer Dampferfahrt eingeladen zu werden, die, bei einem strahlenden
Tage und durchsichtiger Klarheit der Luft es aufs beste ermög-
lichte, einen Einblick in die Gesamtlage zu erhalten. Auch vor
Skutari dehnen sich zwei Ebenen, die eine, größere, im Süden,
Am Balkan. 197
nach der Richtung von Alessio zu, die andere, kleinere, im Osten
und Nordosten der Stadt nach den Vorbergen der Malsia zu. Bei
der Stadt selbst, die sehr weitläufig gebaut ist, und die sich wohl
auf sechs bis sieben Kilometer erstreckt, erheben sich drei mäßige Hügel
steil über der Fläche. Der eine Hügel trägt ein altes, venezianisches
Fort, die anderen sind in neuzeitltcher Art befestigt. Die Ebenen im
Osten und Süden werden von den Hügeln aus mühelos bestrichen.
Außerdem wird die Südebene von zwei großen Flüssen durch-
strömt, von der sehr langsamen, aber sehr breiten Bojanna, die
den Skutarisee entwässert, und dem schmäleren, jedoch außer-
ordentlich reißenden Drin. Auf ebenen Flächen gegen eine Festung
vorzurücken, ist, wie soeben ausgeführt, ungemein mißlich. Die
Montenegriner, die Meister des Nachtgefechts sind, versuchten dem-
gemäß verschiedene nächtliche Überrumpelungen, aber derartige
Überfälle werden durch die Flüsse stark gehemmt. So ist denn
bisher noch kaum ein nächtlicher Überfall erfolgreich gewesen.
Unmittelbar am Gegenufer der Bojanna beginnt der Tarabosch,
dessen Hänge steil in die Wasser des Sees hinabfallen. Bis zu der
Höhe des Berges sind etwa vier, höchstens fünf Kilometer Luftlinie.
Der Tarabosch, dessen blutiger Name sicherlich in der Kriegsgeschichte
in gleicher Furchtbarkeit weiterleben wird, wie der düstere Name
des Malakoff von Sewastopol, hat nicht weniger als neun Spitzen,
die indessen an Höhe nicht sehr voneinander abweichen. Als die
Montenegriner die höchste, die zugleich am weitesten von Skutari
entfernt liegt, besetzt hatten, sahen sie sich durch das Feuer der
feindlichen Kanonen von den anderen Spitzen dermaßen be-
strichen, daß sie es vorzogen, in die steilen Hänge des Tarabosch
hinabzugleiten und sich dort mit ihren Geschützen einzubauen.
Die Türken folgten aber nach und gingen sogar noch tiefer, so daß
sie nach meiner Schätzung auf nur anderthalb oder höchstens zwei
Kilometer Entfernung ungefähr 120 Meter in die Höhe schossen. Von
den 40 oder 48 montenegrinischen Geschützen — ganz genau
konnte man das begreiflicherweise nicht erfahren — sollten nur
sehr wenige sein, die weiter als vier Kilometer, und nur zwei, die
weiter als acht schossen.
Den Skutarisee muß man sich etwa vorstellen, wie den Boden-
see, nicht so lang, aber in der Nordhälfte breiter, und in jedem
Falle unvergleichlich viel großartiger. Der kritische Punkt an dem
See ist bei Kruda, dort wo die montenegrinischen und türkischen
Stellungen mit dem freien Albanien zusammenstoßen. Zuerst waren
die Schkipetaren die Freunde Nikitas, seit November jedoch, und in
steigendem Maße seit der Unabhängigkeitserklärung Anfang De-
zember, wendeten sie sich von ihm ab und wurden aus Freunden
198 Dr. Albrecht Wirth:
zu Feinden. Die Ansprüche der Zrnagorzen auf halb Nordalbanien
sind eben mit den Hoffnungen der Schkipnia selbst unvereinbar.
Die Erbfeinde der Albaner sind die Serben. Sie haben die
Welt durch ihre Siege überrascht. Dazu hat die ungeahnte Größe
ihres Aufgebotes beigetragen. Unsere Kenner sagten: 90 000 Ge-
fechtsstärke, 120 000 Mann Verpflegungsstärke. Die Serben brachten
jedoch 300 000 Mann auf die Beine. Verpflegung? Die Herren
Serben lösten das Problem auf die eleganteste Weise von der Welt,
indem sie einfach nicht verpflegten. Hungernd und bettelnd sah
man schon während der Mobilisation, also noch vor dem Kriege,
die Rekruten des dritten Aufgebotes durch die Mauern Belgrads
schweifen. Der Gedanke der Regierung war ungefähr der, der
auch die Franzosen vor 1792 und 1796, vor der Schlacht bei
Valmy und den Siegen in Oberitalien beseelte; die zerlumpten, bar-
fußen und verhungerten Rekruten der Levee en masse Carnots
sollten alles Nötige aus Feindesland nehmen. Auch die Serben
setzten alles auf eine Karte und spielten va banque. Auch sie
hofften, daß ihre Soldaten Nahrung und Kleidung im Feindes-
lande finden würde, und die Hoffnung hat nicht getrogen. Dazu
erbeutete man noch unermeßliche Munition, genug, um ein ganzes
Armeekorps ein Vierteljahr lang damit auszustatten. Auch die
Pferde der Serben, sowohl bei der Reiterei als auch bei der Be-
spannung der Batterien war weit besser, als erwartet. Tatsächlich
ist die serbische Kavallerie die einzige, die während des ganzen
Balkanfeldzuges etwas geleistet hat, und von ihrem schönen Ge—
schützparke konnten die Serben mehrfach an ihre Verbündeten ab-
geben, die sofort diese Hilfe wohltätig empfanden. Man braucht
deshalb die Errungenschaften der Serben nicht zu überschätzen,
denn schließlich eroberten sie so manche Städte, die gar nicht
verteidigt wurden, und hatten fast überall mit einem von vorn-
herein weichenden Feinde zu tun.
Auch von den Staatsmännern Belgrads hatte ich keinen
schlechten Eindruck. Die Ruhe eines Lazar Patschu und eines
Draschkowitsch fiel angenehm auf. Am bedeutendsten ist jedenfalls
Wladan Georgiewitsch, der es vortrefflich versteht, eine patri-
archalische Würde mit südlicher Lebendigkeit zu vereinen. Freilich
stimmt die Rechnung in einem nicht: Georgiewitsch, den man „Das
Orakel Serbiens“ nennt, ist gar kein Vertreter des echten Serben-
tums, sondern ein Zinzare, d.h. Zigeuner. Weniger Gutes kann
man von Paschitsch sagen. Er ist ein Mann der schleichenden
Umtriebe auf der einen Seite und plumper Offenherzigkeit auf der
anderen Seite. Einst tat er sich heimlich mit Kapitalisten zusammen,
Am Balkan. 199
um einen Corner in Brot zu bilden. Als das gelungen und der
Mehlpreis schon um 80 % gestiegen war, ließ er sich zum Mi-
nister des Innern machen, und siehe da! in einer Woche war die
Teuerung beseitigt und Paschitsch war der große Mann.
Von den Eigenschaften der Türken jetzt, so halb und halb
post festum, zu reden, ist ja billig, immerhin glaube ich es mir
noch eher als andere herausnehmen zu dürfen, da ich in einer
Broschüre schon vor einem halben Jahre den Zusammenbruch
des osmanischen Reiches vorausgesagt habe. Uber die kriegerischen
Fähigkeiten der Türken waren zwei Meinungen verbreitet. Die
eine, die vor dem Sturze Abdul Hamids im Schwange war, be-
sagte: Die Türken haben ein recht gutes Heer, ihre Soldaten sind
so ziemlich jedem anderen Soldaten der Erde gewachsen. Die
andere Meinung wurde nach dem Sturze des alten Sultans verlaut-
bart: Die türkische Armee ist bis ins Mark verrottet und bedarf
dringend der Reformen. Es liegt auf der Hand, daß eine dieser
beiden Ansichten falsch sein mußte. Vor dem gemeldeten Sturze
konnte man ein Regiment sehen, das fünfundzwanzig Obersten,
lauter Günstlinge des Padischah, hatte, da konnte man einen blut-
jungen General sehen von vielleicht nur 26 Jahren, die Brust mit
Orden geschmückt, und daneben einen Oberleutnant von 60 Jahren,
der nicht avancierte, weil er es nicht verstand oder sich nicht
dazu verstehen wollte, sich bei den Günstlingen des Großherrn
zu schustern und seine Kameraden zu denunzieren. Weder rich-
tige Manöver, noch Scharfschießübungen wurden abgehalten.
Warum kein scharfes Schießen? Weil der Padischah argwöhnte,
das Scharischießen könnte sich einmal gegen ihn selber richten.
Daß der Argwohn nicht so ungerechtfertigt war, haben die Ereig-
nisse 1908 und 1909 gezeigt. Von neuzeitlicher Taktik und Strategie
war keine Spur. Vollends im argen lag die Marine, die mehr als
andere Waffen von der Korruption angefressen war. Ein einziger
Marineminister soll 32 Millionen Mark für seine eigene Tasche
gespart haben. Sehr schlimm war und ist ferner das Sanitätswesen.
Es ist trotz der Anstrengungen so mancher hochverdienter Aus-
länder noch immer unter Null. Die Ausbildung der Ärzte ist
höchst mangelhaft, und dann fehlt es an den nötigen Anschalfungen.
Einige glänzende Ausnahmen bestätigen die Regel. Nicht minder
vernachlässigt ist seit Jahrhunderten die Reiterei, was bei dem
einstigen Steppen- und Reitervolke besonders auffallen muß. Da-
gegen zeigt das Steppenvolk, ebenfalls schon seit Jahrhunderten,
eine merkwürdige Begabung für Artillerie. Schon die Schlacht von
Chaldiran, durch die Nordwestpersien an Selim den Grimmen ge-
fallen ist, wurde lediglich und allein durch die Artillerie gewonnen.
200 Dr. Albrecht Wirth: Am Balkan.
Das war vor vierhundert Jahren, und auch heute ist die Artillerie
die wirksamste Waffe der Osmanen.
Nach dem mehrfach erwähnten Sturze Abdul Hamids hat sich
mancherlei gebessert. Richtige Manöver und scharfes Schießen
wurden eingeführt, das Offizierkorps wurde gereinigt und verjüngt.
Die Flotte wurde ganz beträchtlich gehoben. Durch starke An-
käufe bei Krupp wurde die Artillerie vermehrt. In steigendem
Maße gingen osmanische Offiziere ins Ausland, fremde Instruk
teure wurden eingestellt. Und trotzdem dann der Mißerfolg! Wi:
kam das? Die Hauptschulc trägt das jungtürkische Komitee mit
seiner unaufhörlichen Verhetzung, deren Folgen auch heute noch
nachwirken, eine andere Schuld die Untätigkeit und Sorglosigkeit
der Türken, die an keinen Krieg glaubten und in dieser Ansicht
von befreundeten, besonders auch deutschen Diplomaten bestärkt
wurden. Viel Panik und Verwirrung stiftete das Uberlaufen Tau-
sender von Christen. Gerade in den ersten Kämpfen wurden viel-
fach Reserven verwandt, die neuzeitlichen Geistes und moderner
Taktik keinen Hauch verspürt hatten.
Ein eigenes Wort wird über die vielberufenen Instrukteure am
Platz sein. Die deutschen Instrukteure haben schon seit 1883 ge-
wirkt. Sie haben zweifellos darin gefehlt, daß sie von der Tüch—
tigkeit des osmanischen Heeres ganz falsche Anschauungen er-
warben und weiter verbreiteten; da hilft keine Beschönigung. Zu
gute halten kann man ihnen jedoch ihre geringe Zahl, und die
Tatsache, daß man sie nur als Theoretiker, nicht als Praktiker ver-
wertete. Als die Zahl unserer Instrukteure am höchsten stieg, da
betrug sie 28; das ist ein viel zu geringer Sauerteig, um eine ganze
Armee zu durchsäuern; ein einziges Regiment hat ja mehr als
sechzig Offiziere. Dann hatten unsere Offiziere gar keine Kommando-
gewalt; noch nicht einmal zwanzig Mann durften sie über den
Rinnstein führen. Ein Tschausch (Feldwebel) hatte mehr Autorität
als sie. Auch unter dem neuen Regime ist es in der Hauptsache
dabei geblieben; erst in allerneuster Zeit ist es besser geworden
dergestalt, daß ganze Regimenter deutschen Offizieren anvertraut
wurden.
Das Bild wäre unvollständig, wenn wir nicht noch über die
Rumänen etwas sagten. Sie sind eines der zähesten, unverwüst—
lichsten Völker der ganzen Erde. Nichts anderem kann man sie
vergleichen, als einem Flusse des Karst, der eine ganze Zeit unter-
irdisch fließt, um dann mit vermehrter Kraft ans Licht der Sonne
wieder hervorzubrechen. Ein halbes Jahrtausend waren die Ru-
mänen vollständig verschollen. Dann aber tauchten sie auf einmal
auf und überfluteten gleich alle sie umgebenden Völker. Auch im
Dr. Carl Hagemann: Probleme der Opernleitung. 201
jüngsten Menschenalter sind sie fortwährend noch im Wachsen be-
griffen. Die Zahl der Rumänen dürfte zusammen mit der ihrer
Verwandten, der Kutzowalachen, 101, Millionen betragen.
Der Hauptkampf aber ist zwischen Deutschen und Slaven.
Die Serben stellen lediglich die vorderste Welle der allgemeinen
großen Slavenflut dar. Es handelt sich hier um eine weltgeschicht-
liche Entscheidung. Österreich, das in diesem Falle die Wünsche
und Hoffnungen der Deutschen vertritt, würde sich selbst aufgeben,
würde seine ganze Zukunft als Großmacht in Frage stellen, wenn
es hier nachgäbe. Denn auf den Hochstraßen des Weltverkehrs,
die von dem Schwarzen Meere zur Adria und von dem Ärmel-
kanale bis zum Persischen Goife gehen, treffen sich die Vorkämpfer
des Deutschtums und des Slaventums, und es fragt sich in Zu-
kunft: wer wem weiche!
Dr. Carl Hagemann: Probleme der Opernleitung.
I
s war bisher Brauch, als Direktor der Wiener Hofoper einen
E ausübenden Musiker, und zwar einen Kapellmeister anzu-
stellen. Und dieser Brauch war gut. Er hatte theoretisch
und praktisch durchaus seine Berechtigung. Der Theater-Direktor
muß gleichzeitig der erste, das heißt im besten Sinne dirigierende
Künstler seines Instituts sein — muß von Zeit zu Zeit an der Spitze
seines Ensembles fühlbar werden. Und da liegt wohl nichts näher,
als daß der Leiter eines Operntheaters imstande ist, selbst ans Pult
zu treten und die vereinigten Scharen seiner Sänger und Musiker
zur vollendeten Kunsttat hinanzuführen.
Ein Theater kann nicht allein vom Büro aus geleitet werden.
So etwas behaupten immer nur die Direktoren, denen künstlerische
Talente oder Lust und Fleiß zu ihrer Betätigung fehlen. Sie machen
dann gewöhnlich aus ihrer Not eine Tugend und sagen, daß man
sich ja seine ausübenden Künstler, also auch die sogenannten Vor-
stände engagieren könne — selbst aber in einer Art von Halbgott-
Ähnlichkeit unentwegt auf dem Direktionssessel thronen solle, um
in jedem Augenblick mit möglichst großer Gelassenheit die oft alizu
erregten Wogen des praktischen Theaterbetriebes zu glätten und
202 Dr. Carl Hagemann:
auch sonst die vielen Entscheidungen aus der unentwegten Ruhe
des im Grunde Unbeteiligten heraus zu treffen. Aber gerade das
Umgekehrte ist richtig. Ich kann mir als Theaterleiter die nötigen
Verwaltungs- und Kassen-Beamten, wenn es sein muß, sogar einen
kaufmännischen Direktor halten. Nur der führende Künstler muß
ich selbst sein. Die Praxis der Geschäfts-Theaterdirektoren hat
noch nie zu großen Gesamtleistungen und zu neuen künstlerischen
Werten geführt. Was dabei heraus kam, war immer nur der Be-
trieb eines gutgehenden Kunst-Warenhauses.
Pollini in Hamburg und Hofmann in Köln beschäftigten zu
Zeiten gewiß sehr gute Star-Ensembles, hielten in ihrem trefflich
organisierten Gemeinwesen auf Ordnung und machten vor allem
glänzende Geschäfte. Die Theaterkultur weitergebracht aber haben
sie nicht. Nicht im mindesten. Im Gegenteil. Das Bayreuther Bei-
spiel wäre in den deutschen Provinzen viel früher durchgedrungen,
wenn nicht in den achtziger und neunziger Jahren grade an der
Spitze der großen Stadttheater Leute gestanden hätten, die aus
ihrem Geschäftsinteresse heraus das Gegenteil von dem anstrebten,
was Richard Wagner für die deutsche Bühne fordern zu müssen
glaubte. Die Direktoren von der Art Pollinis wollten ja gar-
keine Ensemblekunst, denn die kosteten Proben, und wollten gar-
keine stilvolle Ausstattung, denn die kostete Geld. Und wozu das
alles auch. Ihre Theater waren ja ohnehin voll. Die Leute gingen
der paar schönen Stimmen wegen hinein. Das Ganze: das Zu-
sammenwirken alles Einzelnen zum Ganzen, war ihnen im Grunde
einerlei. ee te
Solche Zustände sind nun gar nicht denkbar, wenn der Leiter
einer Bühne gleichzeitig als sein erster Regisseur wirkt. Ein echter
Künstler kann es ja garnicht mit ansehen, daß das Niveau seines
Theaters unter einen bestimmten Gradstrich sinkt. Vor allem wird
er zunächst einmal seine eigenen Aufführungen mit der größten
Sorgfalt herauszubringen suchen und damit einen Stamm erfolg-
reicher Abende schaffen, weil er in diesem Falle nicht nur als
Direktor, sondern auch als ausübender Künstler seine Haut zu
Markte trägt. Aber auch sonst ist es unbedingt nötig, daß der
Direktor von Zeit zu Zeit selbst vor und unter seine Mitglieder
tritt und mit ihnen, gleichsam als primus inter pares, für irgend-
eine Gesamtleistung der Bühne zusammenwirkt, also seine eigene
Künstlerschaft in die Wagschale legt. Ein Theaterleiter kann letzten
Sinnes nur auf diese Weise seine künstlerischen Persönlichkeits-
werte auf sein Ensemble übertragen — nur durch gemeinsames
Arbeiten, durch gemeinsames Ringen um den Preis einer ganz und
gar stilvollen und geschlossenen Kunstleitung das menschliche und
Probleme der Opernleitung. 203
künstlerische Vertrauen des gesamten Personals erringen und da-
mit den ganzen Betrieb des Instituts fest in die Hand bekommen.
Mit Anschlägen am schwarzen Brett und Verfügungen durch Rund-
schreiben an die Regisseure und Kapellmeister ist ein Theater, über-
haupt ein Kunstinstitut nicht zu leiten. Hier gilt allein das Bei-
spiel. Der Chef muß zeigen können, wie es gemacht wird und
wie es nicht gemacht werden soll. Er muß Mensch zu Menschen
und Künstler zu Künstlern sein. Das einzelne Mitglied muß seinen
Direktor vor allem auch künstlerisch spüren. Sein Wesen, sein
Wollen muß gleichsam im Theater umgehen. Der Künstler ordnet
sich im Grunde nur unter seinesgleichen. Vor allem der Bühnen-
künstler, der dem Laien und besonders dem nüchternen Geschäfts-
mann gegenüber immer sehr mißtrauisch ist.
Ich könnte da allerlei aus der ersten Zeit meiner Mannheimer
Intendanten-Tätigkeit erzählen, die ich damals als vollständiger
Neuling im Theaterwesen ganz plötzlich und ohne jede künst-
lerische Vorbereitung anzutreten hatte. Schon nach wenigen Tagen
fühlte ich, daß es meine erste Sorge sein müßte, mich Hals über
Kopf in praktische Inszenierungen zu stürzen, um dem Personal
zunächst einmal zu zeigen, daß ich das Theater wesentlich vom
Regietisch und nicht vom Direktionssessel aus zu leiten beabsichtigte.
So hätte also für ein Schauspielhaus der Direktor unbedingt
auch sein eigener erster Regiekünstler zu sein. Alles andere ist
Notbehelf. Der Kaufmann — der mit einer gewissen Kunst-
begeisterung und praktischen Kenntnissen des äußeren Theater-
betriebes ausgestattete Verwaltungsbeamte — der dilettierende
Hofmann oder der aus einer kunstbeflissenen Familie stammende
ehemalige Kavallerieoffizier — der allgemein beliebte, das Fach
der guten Rollen spielende Darsteller und dergleichen Anwärter
mehr taugen nicht in dem Maße für den schwierigsten Posten der
öffentlichen Kunstübung. Besteht schon einmal die Forderung, daß
ein Direktor sein Theater tatsächlich auch zu dirigieren, das heißt
fach- und sachgemäß aus eigenster Initiative heraus kunstfördernd
und -schaffend zu leiten hat, so muß er selbst ein, und zwar aus-
gezeichneter Bühnenkünstler sein — wenn die Aufgabe eines
Kulturtheaters, nämlich Kunst um der Kunst willen zu bieten,
erfüllt werden soll.
Deshalb ist auch für die Oper zunächst der wirklich musika-
lische Opernregisseur der gegebene Theaterleiter — immer natürlich,
und das versteht sich ja von selbst, wenn er die vielen übrigen
Eigenschaften für das Amt eines Theaterdirektors hat. Ich hebe es
ausdrücklich hervor: der wirklich musikalische Opernregisseur.
Denn die meisten unserer Opernregisseure sind nicht musikalisch
204 Dr. Carl Hagemann:
oder doch nicht musikalisch genug. Die Musik ist aber nun ein-
mal für die Oper die Hauptsache. Und deshalb kann zum zweiten
auch der Kapellmeister zum Operntheaterleiter berufen sein, wenn
er nicht nur ein universell-gebildeter, also höchst kultivierter Zeit-
mensch, nicht nur ein geschmack- und taktvoller Kunstfreund, nicht
nur ein tüchtiger Musiker mit ausgesprochener Dirigierbegabung,
sondern ein wirklicher Theaterfachmann und Theater-Kapellmeister
ist. Für diesen Fall scheint mir sogar der geborene Bühnenkapell-
meister noch geeigneter für den Posten eines Operndirektors zu
sein als der Regisseur. Denn das Grundwesen seiner Persönlich-
keit ist das Musikalische, wie eben das Musikalische auch das
Grundwesen der Opernkunst ist. Außerdem kann er als Kapell-
meister gelegentlich des Abends selbst die sichtbare persönliche
Führung des ganzen künstlerischen Apparates übernehmen, während
der Regisseur die einzelne Vorstellung ja immer nur vorzubereiten,
niemals aber selbst zu dirigieren vermag.
II
Richard Wagner empfand, dachte und schuf so ganz und gar
für das Theater, daß ihm die bühnenmäßige Erscheinungsform
seiner Werke einziger und letzter Zweck alles künstlerischen
Trachtens und Dichtens war. Das einzelne musikalisch- dramatische
Werk galt ihm keineswegs mit dem Abschluß der bis ins kleinste
durchgearbeiteten Partitur als vollendet oder auch nur als vor—
läufig vollendet. Mit nervöser Hast und großer Ungeduld suchte
er vielmehr alles daran zu setzen, um das innerlich Geschaute und
Gehörte möglichst bald in einer möglichst adäquaten Weise zur
Bühnendarstellung zu bringen und damit erst die ästhetische Total-
leistung in ihrer ganzen Fülle und Wirkungskraft zu liefern. Und
so rief er allsogleich nach den Bühnenkünstlern, die ihm dies
leisten konnten und wollten: nach dramatischen Sängern, nach
Regisseuren und Theaterkapellmeistern. Aber er fand sie nicht —
zunächst nicht und lange nicht. Und den Regisseur hat er nie
gefunden. p -4
Das deutsche Theater, dessen Betätigung sich damals (um die
Mitte des 19. Jahrhunderts also) in anderer Richtung und nach
anderen Grundsätzen bewegte, als es die von Wagner neu for-
mulierten und in seinem dramatischen Schaffen befolgten Grund-
sätze verlangten, lieferte ihm zunächst nicht einmal das Künstler-
material, aus dem er selbst den Leiter der szenischen Darstellung
hätte bilden können, wie er das ja bekanntlich in der Kapell-
meisterfrage mit so großem Erfolg getan hat. Und so blieb ihm
Probleme der Opernleitung. 205
nichts weiter übrig, als die sehr wichtige Aufgabe der Umsetzung
der Partitur in die Erscheinungsform der Szene ebenfalls selbst
in die Hand zu nehmen und sich selbst zum Theaterschöpfer,
Theaterleiter und Regisseur zu bestellen, wozu er um so mehr
das Recht hatte, als er auch für diese Funktionen hervorragend
begabt war.
Wir kennen seine Erfolge. Der mit einem Theatersinn sonder-
gleichen begabte Meister hat mit der Darstellungsart seiner Bühnen-
werke im Gegensatz zum damals Bestehenden zweifellos etwas
durchaus Anerkennenswertes geschaffen. Niemand kann bestreiten,
daß die Bayreuther Bühnenleistungen der Jahre 1876—1882 eine
bedeutsame Epoche in der Entwicklungsgeschichte der modernen
Inszenierungskunst darstellen, die nie und nimmer unterschätzt
werden darf. Die weitere Frage ist dabei nur, ob Richard Wagner
damals gleich die allerletzte und damit allerbeste Bühnen-Dar-
stellungsiorm seiner Werke gefunden — ob er, der das Kunst- und
Kulturprinzip des deutschen Worttondramas erdacht und durch
bedeutende Schöpfungen ein für allemal mit der letzten überhaupt
möglichen Konsequenz demonstriert hat, die Universalität seines
Kunstfühlens und Kunstkönnens so weit zu treiben vermochte,
daß die Anweisungen der Regie-Partitur damals schon ohne Rest
in die Darstellungsformen der Bühne aufgingen. Und diese Frage
muß wohl verneint werden und darf verneint werden, ohne daß
dem Schöpfer und Meister der tragischen Bühne in Bayreuth seine
ungeheuren Verdienste um die Kultur unseres Volkes und Landes
dadurch irgendwie geschmälert werden.
Es ist Wagner und seinen Mitarbeitern in der Tat nicht
geglückt, den musikalisch-malerischen Stil der bühnenmäßigen
Gesamtdarstellung seiner Worttondramen zu finden. Was wir
Bayreuther Stil nennen, ist die nach Maßgabe der musikalischen
Phrasenwerte angelegte Durchbildung des einzelnen Sängers und
der Ensemble- und Chorgruppen, wobei mehr die musikalisch-for-
male Struktur der einzelnen Phrasen, als ihr intensiver Stimmungs-
gehalt und ihr inneres Verhältnis zum dramaturgischen Verlauf des
Ganzen maßgebend war. Diese Stilprinzipien, die sich gewiß aus
der Art und Anlage der neuen Werke ergeben, wurden in den
Bayreuther Probesälen nun allerdings mit so viel Eıfer und Ge-
schmack, mit solcher Liebe und vor allem mit so absolut verläß-
licher Kenntnis der logischen und psychologischen Zusammenhänge
betrieben, daß der künstlerische Wille des Dichter-Komponisten in
verhältnismäßig hohem Grade zum Ausdruck kam und eine große
Wirkung nicht ausbleiben konnte.
206 Dr. Carl Hagemann:
Die Bayreuther Leistung also in Ehren. Es ist aber falsch,
sich dabei zu bescheiden und bedauerlich, daß dıes mit der im
Theaterleben nun einmal typischen Lässigkeit und Schwerfälligkeit
bis heute geschehen ist und immer noch geschieht — durchaus im
Gegensatz zum Meister selbst, der sowohl mit der Art, Form und
dramatischer Intensität der Darstellung im einzelnen, als auch mit
der Durchbilcdung des dekorativen Rahmens und der Kostüme
durchaus nicht so zufrieden gewesen ist, wie man häufig glaubt,
ohne daß er damals allerdings recht wußte, wie man das alles
hätte anders machen können. Hier zeigte eben auch dies phäno-
menale Genie seine Grenze.
Wir dürfen uns also heute nicht mehr verhehlen, daß Richard
Wagner weder die künstlerisch adäquaten Schauplätze für die Ge-
schehnisse seiner Dramen nach Maßgabe ihrer letzten musikalisch-
malerischen Werte gefunden, noch die Kostümfrage nach denselben
Grundsätzen zur endgültigen Lösung gebracht hat — daß also
die Ausschöpfung des dramatisch- musikalischen Gehaltes der
einzelnen Szenen mit allen der Bühne zur Verfügung stehenden
Mitteln und gleichsam ihre letzte Verschmelzung zu einer schlechter-
dings überwältigenden Totalwertung nicht erzielt worden ist, um
so weniger, als auch die zur Charakter- Darstellung berufenen
Opernsänger, zum größten Teil wenigstens, den rein schauspiele-
rischen Anforderungen der neuen Stilprinzipien nicht gewachsen
waren. Wenn wir es einmal ganz schroff ausdrücken wollen, so
hat Wagner seine Worttondramen schließlich doch einfach mit den
derzeit üblichen Mitteln der Opernbühne inszeniert — nur daß er
einige allzugrobe Geschmacklosigkeiten der damaligen Praxis ver-
mieden und auch sonst mannigfache Besserungen angebracht hat,
deren Bedeutung wir, wie gesagt, durchaus nicht schmälern dürfen.
Das System aber blieb, im Kern wenigstens, das alte, und streng
genommen ist zwischen dem Aufführungsverfahren der großen
Pariser Oper und des Festspielhauses auf dem Bayreuther Hügel
kein fundamentaler Unterschied. Brückner malte mit noch größerer
Sorgfalt wie sonst, aber im übrigen ganz wie immer, die ver-
schiedenen Bögen und Prospekte, in denen man auch ebensogut
jedes andere, gerade passende Stück hätte spielen lassen können.
Und die ersten „Ring“ Kostüme sind so verfehlt, daß ihre Figurinen
heute geradezu komisch wirken.
Ich will dabei allerdings nicht verkennen, daß es in den letzten
Jahren manchmal so scheinen wollte, als ob Siegfried Wagner sich
in diesem Sinne strebend bemüht hätte. Irgendeinen entscheidenden
Wurf hat man aber in Bayreuth bis heute nicht gewagt. Die Auf-
gabe, den Aufführungsstil für die ästhetische Totalität des Wort:
Probleme der Opernleitung. 207
tondramas zu finden, ist dort jedenfalls bis heute nicht gelöst. Und
wieviel wir alle Bayreuth auch verdanken — ich habe hier nicht
von den wundervollen Orchester-, Chor- und Einzelleistungen unc.
von den technisch ausgezeichnet vorbereiteten Aufführungen zu
reden — so dürfen wir uns doch nicht länger gegen die gewiß
sehr bedauerliche Erkenntnis sträuben, daß sich Bayreuth in dem
Kampf um den Fortschritt der modernen Bühnendarstellungskunst
selbst ausgeschaltet, also seine Mission nicht erfüllt hat.
Es muß also über Bayreuth hinausgeschritten werden, und es
ist schon einmal darüber hinausgeschritten worden. Allerdings nur
vorübergehend, zum größten Schaden der Kulturmenschheit nicht
nachhaltig, nicht dauernd, genug: durch Gustav Mahler, den
Direktor der Kaiserlichen Hofoper in Wien — in zehnjährigem,
unheimlich intensivem Ringen und (trotz aller Schmähungen) mit
beispiellosem Erfolg.
Die Freunde und Kenner der modernen Schaubühne wissen,
daß die sogenannten Bayreuther Festspiele als moderne Bühnen-
kunstleistungen von manchen unter Mahler in Wien veranstalteten
Opernaufführungen weit übertroffen worden sind und daß uns von
eben diesem Mahler, im Verein mit Roller und dem selbstbestellten
und eingeschulten Personal, sicher der Operndarstellungs-Stil unserer
Zeit geschaffen worden wäre, wenn er nicht frühzeitig seine Arbeit
an dieser eminenten Kulturtat hätte abbrechen müssen. Gustav
Mahler war durchaus der Mann, das Lebenswerk eines Richard
Wagner zu erfüllen: das heißt nicht nur den Stıl für das deutsche
Worttondrama zu finden, sondern die vielseitigen Opernaufgaben
der modernen Bühne, jede einzelne für sich, stilistisch zu fundieren, _
nach den verschiedenen, in ihnen ruhenden ästhetischen Gesetz-
mäßigkeiten verschieden anzufassen und zu inszenieren. Richard
Wagner hat ja darin viel weiter, tiefer und freier gedacht und ge-
fühlt als die, die sich heute seine Jünger nennen und zum Teil
sein Erbe verwalten. Mahler hätte es leisten können — der Theo-
retiker und Kapellmeister-Regisseur: der durch und durch gebildete
Kulturmensch und der feingeistige Künstler — der Organisator,
Lehrer und Führer, der, selbst begeistert, auch Andere zu be-
geistern vermag, der, selbst dem Kunstwerk dienend, leicht auch
die Anderen in dies allein richtige Verhältnis zu zwingen versteht
— der geniale Musiker und Operndramaturg, der Mann mit den
Bildneraugen — der Kunstjünger und Bühnenherrscher. Er war
berufen und auserwählt, wie wenige in der Kunst überhaupt, wie
keiner auf dem Gebiete des Opernwesens. Daß Mahler seine
Mission nicht fortführen konnte, ist eine Kulturtragödie. Ich wüßte
heute augenblicklich keinen, der ihm nachfolgen und uns in diesem
Sinne helfen könnte. |
208 Dr. Carl Hagemann: Probleme der Opernleitung.
III
Mahler hatte sich als Direktor die Aufgabe gestellt, die klassischen
Werke unserer Opern-Literatur szenisch und musikalisch von Grund
aus zu erneuern. Er war eben von der Erkenntnis durchdrungen,
daß für die großen Kunstwerke auch des musikalischen Dramas
eine neue Form, nämlich die Bühnenform unserer Zeit und unseres
Empfindens geschaffen werden müßte. Er begann bei älteren
Werken in jedem einzelnen Fall zielbewußt mit einer dramaturgischen
Bearbeitung der Oper — wich bei der Besetzung, seiner ehrlichen
Überzeugung nach, meist von der konventionellen Verteilung der
Rollen auf die Vertreter der üblichen Hauptfächer ab — studierte
den Einzelnen, auch dem letzten Darsteller, seinen Part mit einer
nie erlahmenden Gründlichkeit selbst ein und legte schon dabei den
Grund zu der eigentlichen dramatischen Stilleistung, die dann
später in ihrer Geschlossenheit als Ganzes auf der Bühne erstand.
Inzwischen hatte der ihm geistes- und kunstverwandte Roller nach
den gleichen stilistischen Grundanschauungen die Bühne herge-
richtet, sodaß Mahler dann für die szenischen Proben einen Rahmen
vorfand, in den er seine Menschen entsprechend bewegen und
singen lassen konnte.
Was Mahler in den zehn Jahren seiner Wirksamkeit in dieser
Hinsicht erreicht hat, ist ja als Ganzes unvollendet geblieben. Die
Zeit reichte dazu nicht aus. Im einzelnen aber haben die Wiener
Theaterfreunde Aufführungen erleben dürfen, die als durch und
durch moderne und dabei höchst persönliche Kunstwerke weder
vorher noch bis heute nachher in der ganzen Kulturwelt wieder
erreicht worden sind. Schon weil Mahler — ganz abgesehen von
seiner eigenen überragenden Persönlichkeit und seinem ebenso
genialen wie im Grunde folgsamen Mitarbeiter — über das erste
Orchester der Welt, einen großen Stamm hervorragender Gesangs-
und Darstellungskünstler und vor alleın über die reichlichsten Geld-
mittel verfügen konnte. Gebändigt und dann wieder beflügelt von
der hinreißenden Gewalt des Mahlerschen Willens, gelang es
auf diese Weise, dem gesamten künstlerischen Organismus des
Wiener Hofoperntheaters trotz des fortlaufenden Repertoirbetriebes
eine epochemachende Inszenierung nach der andern abzuringen.
Bei seinem Abgang lag der ganze Mozart, etwa die Hälfte der
Wagnerschen Dramen, vor allem der Tristan und die ersten drei
Abende der Nibelungen, die Aulische Iphigenie, der Fidelio und
dazu noch eine ganze Anzahl anderer deutscher und französischer
Opern in durchweg vollendeten und eigenartigen Neuschöpfungen vor.
Und eines Tages ging Mahler. Er mußte gehen wie in solchen
Fällen immer. Irgendeine belanglose Streitsache fegte ihn hinweg.
Hegner: Das Opfergleichnis. 209
Damit nur ja ein großes Kunstwerk nicht vollendet würde. So
scheint es fast. Die Menschheit verträgt eben ihre Genies nicht.
Und Wien schon gar nicht. Und ein Anderer kam und ging bald
wieder, nachdem er sich herostratisch an den Werken Mahlers ver-
gangen hatte. Und der Nächste ist noch an der Arbeit, das heißt
er inszeniert mit Bienenfleiß und großem Theatergeschick mondäne
französische Opern und macht Kasse. Daß das wundervolle Re-
pertoir des ersten deutschen Operntheaters dabei ganz und gar ver-
kümmert, stört ihn nicht. Und daß er im Grunde nicht aus dem
Geiste der Musik heraus, sondern geradezu gegen die Musik in-
szeniert, hat auch nichts zu sagen. Es ist, als ob Mahler nie ge-
lebt und gewirkt hätte.
J. J. Hegner: Das Opfergleichnis. Eine Negersage.
Barunganeger. Unter den Söhnen der Nacht war eine Frau,
die hieß Tschigujane.
Mit verschränkten Händen stand sie vor ihrer Hütte. Ihre
Wangen glänzten verzwickt, und ihr getupftes Scheiteltuch über—
schnitt genau den Dachrand. Sie war etwas größer als die Tür
zu ihrer Behausung, doch auch viel schmäler als diese schmale
Tür. Aber kein Mund war weiter als der ihre. Die Lippenwülste,
rote Feuer, brannten, selbst wenn sie lächelte, weit hinaus, und
sie lächelte immer. Sie freute sich über den buntgewürfelten Kattun
ihres Rockes. Ihr schwarzer Kopf, ihre überkreuzten schwarzen
Arme, ihre nackten schwarzen Füße — wie Steinkohlenilöze ragten
sie aus dem bedruckten Linnen: und wie ihre Füße, wie ihre
Hände, reichte ihr Gedächtnis in die schwarze Vorzeit. Sie wußte
alle Sagen, und manche Sage wußte von ihr.
Am Abend, nach Sonnenuntergang, wenn die Feldarbeit ruhte
und das Vieh in der Hürde, wurce sie von Männern und Frauen
umringt. Sie baten: Beginne, Tschigujane.
Sie setzten sich um sie herum, klatschten in die Hände; immer
leiser, immer gedämpfter perlten ganz leichte Gaumengeräusche
und entlockten durch diesen seltsamen Urlärm gesprochne Menschen,
gesprochne Bäume, gesprochne Tiere: denn ihre Geschichten waren
sehr neugierig. Sie erzählte jede immer wieder anders. Wenn die
1 Süden Afrikas, gegenüber Madagaskar, liegt das Land der
210 J. J. Hegner:
Lachenden vermeinten, sie zu kennen, merkten sie am Ende, dab
sie die Mutter dieser Geschichte gekannt hatten oder die Groß-
mutter, aber nicht diese neue.
Einmal in ihrem Leben, einmal und nicht wieder, erzählte sie
die Sage Likanga:
Es war einst ein wunderbar gestalteter Jüngling. Er war schöner
als die andern jungen Leute im Land. Er besaß, viele Rinder und un-
geheure Reichtümer. Alle Mädchen wollten ihn heiraten. Er war
ohne Vater und Mutter, ein Waisenkind.
Seine Schönheit riß ein junges Mädchen hin, und sie verließ
ihr Haus. Sie hatte sich aufs prächtigste geschmückt. Sie wollte
seine Frau werden. Als sie in die Nähe seines Dorfes kam, war
da auf dem Weg ein Bretterverschlag. Ein altes Weib winkte und
machte das Zeichen: Tritt ein. Es war eine häßliche Alte, schmutzig
und voll Ungeziefer. Die hinzog, grüßte nicht und blieb nicht
stehn. Stolz ging sie vorüber. Sie verachtete das alte Weib.
Als sie bei dem Schönen eintrat, empfing er sie mit großer
Wärme und fragte, warum sie zu ihm käme. „Ich bin gekommen,“
sagte sie, „um deine Frau zu werden.“ „Gut,“ gab er zur Ant—
wort, „und Recht so, meine Gefährtin!“ Er zeigte ihr seine Schätze,
seine vielen Lebensmittel, seinen Reis und das Übrige.
Sie ging ans Kochen. Sie fand alles, was sie brauchte, und
alles in Überfluß. Sie schälte und schnitt und hackte. Sie blies
und rührte um und schöpite ab. Während die Speise gar sott,
ließ, er sie nicht aus den Augen. Er überwachte sie heimlich. Sie
wollte sich einen Löffel voll nehmen und ein wenig kosten. Da
hielt er ihr den Arm zurück und sagte: „Nein! Deine Aufgabe
ist, Nahrung zu bereiten; sie zu essen, ist nicht deine Aufgabe.“
Dann ergriff er den Topf und verschlang die ganze Brühe. Kein
Bissen, kein Tropfen blieb dem jungen Mädchen. Zu Mittag ge-
schah das gleiche und am Abend auch. Da mußte sie also ver-
hungern. Ein paar Schritte von ihm war ein unermeßlicher Ab-
grund. Dorthin schleppte er sie an ihren Füßen und stürzte sie
hinab.
Nach ihr erschienen andre junge Mädchen und begehrten ihn
zu heiraten. Sie alle scheuten sich, bei der Alten zu verweilen,
und wenn sie den Jüngling erreicht hatten, starben sie wie die
erste. Ihre Eltern beunruhigten sich nicht. Sie sagten: „Nun sind
sie seine Frauen. Ein Wunder, wenn sie sich wieder blicken
ließen: sie leben ja mit ihm! Sie vergessen uns, weil sie glücklich
sind, oder sie wollen nicht an die Zeit gemahnt sein, an die Jahre,
wo er ihnen noch unbekannt war.“ Auf diese Art verschwanden
die Mädchen des Landes eine nach der andern, und die von weit-
Das Opfergleichnis. 211
her anlangten, erlitten dasselbe Schicksal. Der bodenlose Ab-
grund begann sich zu füllen.
Eines Tags kam aus einem fernen Land ein junges Mädchen,
auch sie, um sich mit dem Jüngling zu verbinden. Die Alte rief
ihr. Die Junge wandte den Kopf, folgte dem Wink und lief hin
zu der Alten. „Ah,“ sagte die Greisin, „du bist ein wahres Glücks-
kind! Du wenigstens wirst entrinnen. Alle die feinen Dinger, die
bis jetzt die Straße lang trabten, haben mir steinerne Gesichter ge-
schnitten, weil ich uralt, zerlumpt und von Ungezieſer geplagt
bin, und nun sind sie tot. Du aber, meine schwarze Taube, bist
nicht an mir vorbei geflogen. Dafür sollst du wissen, wie du dich
zu verhalten hast. Dieser Mann hat sie durch Hunger getötet.
Wenn sie die Nahrung anrühren wollten, hat er sie daran ge-
hindert. Doch wenn er dich vom Essen wird abhalten wollen,
dann sprich zu ihm bloß die Worte: „Warum verwehrst du mir
das, mein Gatte Likanga?“ Du wirst sehn, was sich danach er-
eignet.“
Das junge Mäcchen fürchtete sich. Sie sagte: „Wenn mir aber
der Name entfällt?“
„So sing ihn unterwegs,“ riet die Alte.
Sie verbrachten die Nacht miteinander, und am Morgen reiste
das Mädchen weiter. Sie wurde von dem schönen Jüngling sehr
freundlich aufgenommen, er gab ihr gute Worte und sagte: „Gern,
meine Frau! blick auf meine Reichtümer! sieh meine Kochtöpfe!
und sie gehören dir, meiner Gattin.“ Er befahl ihr, für das Mahl
zu sorgen. Als sie es aber kosten wollte, stieß er sie zurück. „Das
Essen,“ sprach er, „ist nicht deines Amtes; du hast nur zu kochen.“
Sie erwiderte: „Lasse doch! Ich bitte dich darum, mein Gatte!
Warum verbietest du mir das Essen, mein Gätte Likanga?“ Sowie
er seinen Namen nennen hörte, überfiel ihn ein heftiges Zittern,
er rannte in seine Hütte, hüllte sich in seine schmucksten Gewänder,
tanzte hervor, um sie herum, und spielte dazu auf seiner einzig-
saitigen Bogenharfe. „Wer hat,“ sang er: „Wer hat es dir ver-
raten, meinen Namen dir verraten, o du meine Gattin?“
Sie antwortete: „Was treibst du da? Hast du den Verstand
verloren, mein Gatte Likanga?“ Bei der Wiederholung dieses
Namens geriet er noch mehr außer sich, sang immerfort und riß
dazu die begleitenden Töne auf seiner Harfe, seiner einzigssaitigen
Bogenharfe: „Wer hat es dir verraten, diesen Namen dir verraten,
o du meine Gattin? lch geh mich töten, ich stürz mich hinunter,
ich steig in den Fluß!“
Er sprang fort über die Wiesen ins Röhricht. Sie folgte ihm
mit den Worten: „So laß doch! Aber laß doch! Ich bitte dich
212 Gustav Hübener:
darum, mein Gatte Likanga!“ Er eilte ins Wasser. Sie hängte sich
an ihn und sagte: „Warum willst du dich umbringen, mein Gatte
Likanga?“ Von neuem, sowie er das Wort vernahm, drang er
vor, in das Stillströmende, fast Stillstehende, und weiter zur sanften
Tiefe. Im Wasser noch hörte man ihn auf seiner Harfe spielen,
und aus dem Wasser noch seinen Gesang erstickt aufrauschen:
ERE | TTET 3 N N 3 g
Sie ließ nicht von ihm, sie erfaßte ihn an seinem Kleider-
saum, wollte ihn retten und bat: „Mein Gatte Likanga! mein Gatte
Likanga!“ Aber er war schon tot.
Da ging sie nach Haus. Das Dorf war verlassen. Sie suchte
sich einen großen Sack, tat alles hinein, was ihr gefiel, und kehrte
heim zu den Ihren. „Es ist nicht schad um ihn,“ meinte sie, „nicht
schad, daß er gestorben ist. Denn wie viele sind durch ihn um ihr
Leben gekommen!“
Das ist die Geschichte Likangas, des Schönen.
Eine häßliche Negerin hat sie häßlichen Negern erzählt.
Und was aber wäre geschehn, wenn die Letzte, Bescheidne,
Vorsichtige, Feige nicht auf die gewitzte Alte geachtet hätte und
die folgende auch nicht und keine von denen, die noch hätten
kommen können, und wenn sich der unermeßliche Abgrund gefüllt
hätte und kein Abgrund mehr dagewesen wäre? Wie hätte Likanga
dann geheißen? Was hätte Likanga dann getan?
Längst vielleicht gäb es keine Neger mehr.
Gustav Hübener: Husserl, Bergson, George.
geworden, als ein tiefgehendes Mißtrauen gegen unsere
Erlebnisse selbst. Argwöhnisch betrachtet unsere Zeit alle
Erkenntnisse und Einsichten, die sich als endgültig und absolut
ausgeben. Diese Vorsicht ist ihre Klugheit. Aber das eine scheint
ihr gewiß trotz der Fragwürdigkeit, dem Problematischen aller
Fundamente des Wissens und Glaubens — welche Zeit hatte mehr
Probleme? — das eine nämlich, daß alles anders ist als — nun
eben — als wir es erleben. Bei aller Skepsis bleibt ihr das sichere
Bewußtsein, daß unsere Erlebnisse gar nichts Letztes sind, das als
solches unbesehen hinzunehmen ist; nein, sie ist voll kühler Reserve
ihnen gegenüber und sagt sich, gewissermaßen mit einem höflichen
N: ist für die ganze Haltung unseres Lebens bezeichnender
Husserl, Bergson, George. 213
Achselzucken gegen sie, man könnte nie wissen. .. irgendwie
wäre alles zu erklären und zu interpretieren. Sicherlich stecke immer
noch etwas dahinter, und zwar immer ein höchst ernüchternder,
einfacher Grund, ein sehr irdischer.
Es ist uns nicht nur die Gabe eines reinen Schauens verloren
gegangen. Wenn wir fortsehen, vorbeischielen an dem Reichtum
der Phänomene, wie sie uns im Erlebnis gegeben sind, auf ihre
Verursachung und Entstehung, so sehen wir nicht mehr einen
tiefen, göttlich bedeutenden Grund, sondern irgendeine stets sehr
triviale und enttäuschend einfache Ursache oder Motivation, etwas
das nicht größer, bedeutungsvoller, gewissermaßen noch wirk-
licher ist als diese Wirklichkeit, in der wir sind; nein, im Gegen-
teil, die unendliche Fülle der Welt erscheint als Illusion, als läge
ihr eigentlich zu Grunde eine geradezu hausbackene Einfachheit.
Das Wort „eigentlich“, gesprochen mit einem sehr weisen, fast
blasiertem und etwas traurigen Tone, wäre geeignet, die herrschende
Denkform unserer Zeit zu bezeichnen. Es ist so weit gekommen,
daß man nicht mehr nach dem Wesen der Erlebnisse fragt, sondern
ausschließlich nach ihrer Entstehung. Ja, in der Beantwortung der
letzten Frage scheint einem die der ersten mitgegeben.
Eine Betrachtungsweise, die das Wesen von der Genesis der
Erlebnisse scheidet, die nicht die Inhalte der Welt nach einem ein-
heitlichen Prinzipe irgendwie deutet, sondern in ihrer qualitativen
Verschiedenheit intuitiv zu erfassen sucht, birgt heute, ohne es zu
wollen, eine Kritik der hervorragendsten Erscheinungen des Geistes.
Darüber nämlich muß man sich klar bleiben, daß dem An-
spruch der Naturwissenschaft, — um sie zuerst zu betrachten —
das organische Leben aus dem Mechanismus der anorganischen
Natur ausschließlich zu erklären, es ganz unter die kausalen Ge-
setze zu stellen, die im Raume gelten, vorausgesetzt ist, daß die
Verschiedenheit der Erlebnisse, wenn wir ein Pferd springen oder
einen Stein fallen sehen, „eigentlich“ nicht besteht, oder daß die
Welt, die wir mit dem inneren Sinn in uns wahrnehmen, zu Un-
recht uns eigentümlich erscheint und verschieden von der toten
Welt, die uns umgibt. Man darf nie vergessen, daß der Anschauung
cer Naturwissenschaft, die ihrer Einstellung auf die anorganische
Natur bequem ist, ein eigentümliches Mißtrauen gegen das Be-
wußtsein zu Grunde liegt, das uns eine vollkommen verschiedene
Erscheinungsart von den Bewegungen toter Körper oder lebendiger
Wesen aufweist, von unserem inneren Sein und dem der Steine.
Denn — um nur das auszuführen — wenn wir nicht „erklären“,
sondern unser Leben betrachten, so wie es sich einer inneren Ein-
214 Gustav Hübener:
sicht gibt, so erkennen wir, daß wir jetzt sind, wozu uns die Ver-
gangenheit gemacht. In dem zurückliegenden Flusse unseres Be-
wußtseins durchdringen sich alle Momente, indem die Vergangen-
heit fortwirkt und färbt in der Gegenwart. Die gesamte Vergangen-
heit steht immer gegenwärtig hinter uns. In der Geschichte eines
Steines dagegen findet kein Durchdringen vergangener Momente
mit späteren statt. Er verharrt für uns im Erlebnis als derselbe.
Er altert nicht. Wir gehen jeden Tag als andere an ihm, dem
immer gleichen, vorbei.
Unsere Seele und der Stein sind uns im Erlebnis als wesent-
lich verschieden gegeben. Man pflegt heute diese Verschiedenheit
nach irgendeinem einheitlichen Prinzip zu deuten, sozusagen fort-
zuinterpretieren. In der Art dieser Interpretation nun liegt das-
selbe „eigentlich“, wie in dem besonderen Geiste unserer Gelc-
wirtschaft oder gewisser sozialistischer Ideen. Es ist stets genau
dieselbe Haltung zur Welt im innersten Wesen, die sich so ver-
schieden offenbart. Darauf hinzuweisen, scheint nicht überflüssig.
Wie die mechanische Naturansicht, die die Erlebnisse, in denen
die tote und lebendige Welt qualitativ verschieden erscheinen, durch
ihr einheitliches Prinzip dieser verschiedenen Qualitäten beraubt,
wie überhaupt die mechanische Betrachtungsweise selbst der an-
organischen Natur wohl eine praktisch wissenschaftliche Methode
ist, niemals aber mit ihrer kausalen Zerlegung das volle sinnliche
Anschauungserlebnis zu rekonstruieren vermag, genau so hat die
Geldwirtschaft, der besondere Geist des Geldes, die Eigentümlich-
keit, die unendliche Fülle der Werte, die wir erleben, fortzuinter-
pretieren mit seinem „eigentlich“. Es liegt in seinem Sinne, daß
alle Werte, selbst die höchsten, nichts an sich sind, sondern „eigent-
lich“ alle zurückzuführen sind auf den farblosen, abstrakten Mittel-
wert des Geldes, die Erlebnisse selbst werden nicht mehr rein hin-
genommen, man schielt hinter sie auf das Mittel ihrer Verwirklichung
par excellence, auf das Geld: „was hat die Sache eigentlich gekostet?“
Die Seele, die von dem Geiste des Geldes besessen ist, zweifelt
immer an der Realität und der Selbständigkeit der Werte ihrer Er-
lebnisse, sie sieht immer hinter ihnen den einen Geldpreis, den
Wert, auf den die höchsten wie niedrigsten Lebenswerte zu redu-
zieren sind. Georg Simmel*) hat in seiner ausgezeichneten „Philo-
sophie des Geldes“ nachgewiesen, wie sowohl der Zynismus als
auch die Blasiertheit unserer Geldkultur entstehen aus demselben
*) Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Leipzig 1907. Vergl. Max
Scheler, Über Selbsttäuschungen, Zeitschrift für Pathopsychologie, Jahrgang 1,
1. Heft.
Husserl, Bergson, George. 215
Bewußtsein: „Alles ist für Geld zu haben.“ Und zwar zieht der
Zyniker daraus die grimmige Freude, daß dem Würdigsten die
idealsten Güter versagt bleiben, wenn er mittellos ist, dagegen Ehre
und das Heil der Seele, Tugend und. Schönheit eingesetzt werden
für Geld. Aus dem objektiven Sachverhalt, daß Werte, die jede
Schätzung außer an ihren eigenen Idealen ablehnen, dennoch ihren
Marktpreis in Mark und Pfennig erhalten, nimmt der Zyniker seine
besondere subjektive perverse Genugtuung. Aus demselben Sach-
verhalt quillt dem Blasierten der Grund für seine müde, gelang-
weilte Lebensanschauung. Die Tatsache, daß alles käuflich ist,
entleert ihm die Welt ihrer qualitativen Fülle, sie erscheint ihm
yrau in grau, weder zur Bejahung noch zur Verneinung, zu keiner
Tat mehr reizend. Beiden jedoch, dem Zynismus wie der Blasiert-
heit, liegt zu Grunde die besondere Einstellung dem Leben gegen-
über, diese skeptische Distanz zu ihm, dieses Nicht-für-voll-nehmen,
das wir als den Geist des modernen „eigentlich“ bezeichneten. Denn
bevor wir dazu kommen, irgendwie unser Leben nach einem so
abstrakten Wertmaßstab, wie es das Geld ist, zu orientieren, sei es
mit einer zynischen oder blasierten Antwort, müssen wir abge-
kommen sein von einem unbesehenen Vertrauen zu den Werten,
die das Leben selbst in seiner Wirklichkeit in sich schließt. Einem
gesunden Geiste irrt der Blick nicht ab von der blühenden Wirk-
lichkeit auf das blasse Wertschemen des Geldes. Muß es nicht
ein tiefer, dem religiösen direkt konträrer Drang sein, der hinter
cder sinnlichen Fülle der Welt die mechanische, monistische Einfach-
heit sieht, ebenso wie hinter allen, mannigfaltigen Werten, des
Lebens die Trivialität des Geldes?
Es dünkt uns, wie gesagt, daß. aus ihm, aus derselben Wurzel,
der die monistische und kapitalistische Rationalisierung und Sim-
plifizierung des Lebens entspringt, zum dritten jene Tendenz des
modernen Geistes entstammt, jede Mannigfaltigkeit in den Stellungen
der Menschen zueinander fortzudenken und auszugleichen, ge-
wissermaßen durch eine vollendete Mechanisierung des Lebens so-
wie Herrschen und Dienen auch alles Mitleid und Liebe und sonstige
Gefühle einfach überflüssig zumachen. Welche Formen auch immer
dieser Trieb annimmt, der nicht mit berechtigten Motiven, wie Spar-
samkeit, Ordnungs- und Gerechtigkeitsliebe zu verwechseln ist,
immer liegt ihm ein Fortsehen von dem Erlebnis einer Macht auf
irgendein erniedrigendes Moment, das sie „eigentlich“ bedeuten
soll, zu Grunde. Man vertraut nicht mehr darauf, daß die echte
Macht stets Ausdruck für: ein Können ist, sondern sieht mißtrauisch
in ihr nur Gewalt, unrechtmäßige Aneignung. Und doch ist der
Mächtige gerade der, der keine Gewalt nötig hat. Macht und Herr-
216 Gustav Hübener:
schaft gründen sich unmittelbar auf das Bewußtsein des Könnens
und es ist uns als solches wie eine Gloriole um den Träger stetig in
ihrem Erlebnis gegeben. Und dieses trügt ebensowenig wie das
Erlebnis einer sittlichen Autorität. Es ist Unsinn zu sagen, daß
eine solche überflüssig sei, da jeder sich selber ein Werturteil bilden
könne. Es liegt hierin eine Überschätzung der individuellen Ein-
sicht. Alle Urteile über sittliche Tatsachen sind unbeweisbar, und
da vom Begehren und vom Streben her die Täuschungsquellen fast
unaufhaltsam die Erkenntnis der objektiven sittlichen Werte trüben,
ist die Einsicht des sittlichen Genius, der seltener ist als jeder
andere, maßgebend für die gewöhnlichen Sterblichen. Macht und
Autorität sind nicht fortzudeuten aus dem Leben, durch kein
„eigentlich“.*)
Es ist bei der Verbreitung dieser mißtrauischen Haltung des
modernen Geistes dem Leben gegenüber nötig, dieses zu betonen.
Denn wir haben so sehr das Zutrauen und die Kraft zur Wirklich-
keit verloren, daß, wir jedem, der sie uns durch ein neues „eigent-
lich“ vereinfachen will, nur zu geneigt sind, Glauben zu schenken.
Es ist so verkehrt wie möglich, die herrschende Denkrichtung unserer
Zeit als „wirklichkeitssicher“ und „praktisch“ zu bezeichnen, sie ist
in ihrer seltsamen mißmutigen Weise phantastischer als alle Romantik.
Wenn wir die Fülle der Erscheinungen überblicken, in denen
sich der Geist des modernen „eigentlich“ offenbart, so stellt sich
seine Herrschaft als ein unrechtmäßiges Übergreifen zweier wissen-
schaftlicher Einstellungen auf ihnen nicht zugehörige Gebiete
rein prinzipiell dar, und zwar der kausalen und der histori-
schen Betrachtungsweise.
Es ist die Aufgabe der Naturwissenschaft, die auf die phy-
sische Welt gerichtet ist nach außen, gesetzmäßige Zusammenhänge
von Ursache und Wirkung zu erforschen. Es wird hierbei von der
Wirkung, die in der Funktion des Anzeichens zur Ursache steht,
auf letztere geschlossen, und durch den naturwissenschaftlichen Be-
weis, das Experiment, wird dieser kausale Zusammenhang selbst zur
Einsicht gebracht. Dieses ist selbstverständlich. Es ist aber unserer
Zeit scheinbar in Vergessenheit geraten, daß. dieser Erkenntnisakt, der
die naturwissenschaftliche Einstellung bestimmt, etwas wesentlich
Verschiedenes ist von dem Verstehen, durch das wir Einsicht er-
halten in alles Geistige. Ein Lächeln ist nicht Anzeichen für
Freude, sondern ihr Ausdruck. Wir schließen nicht aus dem
Lächeln natürlicherweise umständlich auf die Freude, sondern wir
erfassen intuitiv direkt in dem Lächeln die Freude. Ebenso sind
*) Vergl. die demnächst erscheinende Ethik von Max Scheler, München,
Husserl, Bergson, George. 217
alle idealen Zusammenhänge (selbst daß zwei mal zwei vier ist)
nicht zu beweisen, sondern zu verstehen. Es ist eine Uber—
schätzung des naturwissenschaftlichen theoretischen Beweises und
des logischen Erkennens, die zu einer Mißachtung alles reinen
Schauens und intuitiven Verstehens geführt hat. In dem Strom
des Bewußtseins steht niemals — so viel sei hier angedeutet —
eines als Anzeichen für ein anderes, die Phänomene des Bewußt-
seins sind letzte Gegebenheiten, es ist in ihrer Sphäre kein
Schließen möglich, sondern nur ein geistiges Sehen, kein Beweis,
sondern nur ein Hinweis. Ein Fortblicken von dem, was seelisch
präsent ist auf eine Ursache, auf irgendein „eigentlich“ zerstört
den Charakter des Seelischen sofort. Es sei in Parenthese bemerkt,
daß dieses zu tun die herrschende „Lehre von der Seele“, die
experimentelle Assoziationspsychologie, sich eifrig bemüht.
Zum andern zeigt sich prinzipiell der Geist des „eigentlich“ in
der verkehrten Verallgemeinerung der geschichtlichen Betrachtungs-
weise; z. B. besonders auffallend auf dem Gebiete, das jeden am
nächsten angeht, dem ethischen. In allen Schichten des Volkes
kann man heute die Ansicht zu hören bekommen, daß es keine
ſesten, absoluten sittlichen Werte gäbe, mit der Begründung, man
habe doch in allen Zeiten anders über solche Dinge gedacht.
Sittlichkeit sei „eigentlich“ Geschmackssache. Die Werte, die uns
als letztes in den Edebnissen gegeben seien, wären eigentlich sub-
jektiv, relativ auf alles mögliche, Eigennutz, Herdenbewußtsein
der Rasse, des Volkes oder, wie die Aufklärung meinte, das
„Allgemein- menschliche“. Man liebt in folgender Weise zu argu-
mentieren. Wie könnte noch irgend jemand an objektive Werte
glauben, wenn man wüßte, daß die Fidschiinsulaner die Tötung
von Fremden für lobenswert halten und die Spartaner kleine
Kinder aussetzen? Dennoch liegt in der Anwendung der sitt-
lichen Werte mit ihrer Verschiedenheit, die die Sittengeschichte
herausstellt, durchaus nicht die Relativität der Werte schlechthin.
Die Fidschiinsulaner kennen denselben absoluten negativen Wert
des Mordes wie wir, nur erscheint er ihnen nicht an denselben
Handlungen wie uns. Sie verbinden ihn nur mit der Tötung von
Stammesgenossen. Nicht die \Verte sind relativ, sondern nur ihre
Anwendung und das Maß der Einsicht in ihre objektive Fülle.
Immer neue Werte können entdeckt werden oder aus besonderen
Lebenseinstellungen die Werte falsch gesehen werden; dieses sind
Momente der Relativität in der sittlichen Einsicht. Doch wer ein-
mal den objektiven Wert selbst richtig gesehen hat, der weiß, daß
er auf festem, absolutem Grunde wurzelt und vermag ihm getreu
zu bleiben, wäre selbst alle Welt gegen ihn.
218 Gustav Hübener:
Wir können nicht der relativistischen Richtung des „eigentlich“-
Geistes in alle Winkelzüge folgen. Es ist bekannt, wie sie sich
bemüht, alle absoluten Fundamente des Lebens aufzulösen, wie
dem Pragmatismus nur Wahrheit ist, was sich bewahrheitet hat,
was auf dem jeweiligen Standpunkte der Entwicklung für das
Leben von Interesse ist und wie der Psychologismus in der Logik alle
rein logischen Gesetze relativ auf das Gehirn setzt, so daß bei
dessen fortschrittlicher Entwicklung es unseren Nachkommen
vielleicht blüht, daß zwei mal zwei zu fünf wird. Wir haben
diesen flüchtigen Überblick über den Umfang der Erscheinungen,
in denen sich das Mißtrauen unserer Zeit gegen das Leben zeigt,
jetzt so weit geführt, daß wir die Bedeutung der geistigen Be-
wegung verstehen können, die sich kritisch gegen das moderne
„eigentlich“ richtend und zugleich neues Vertrauen und Kraft zur
Wirklichkeit weckend heute beginnt ihre wachsenden Kreise zu
ziehen.
Es liegt in der philosophischen Arbeit Henri Bergsons in
Paris und Edmund Husserls in Göttingen, sowie der Weltan—
schauung des Kreises, der sich um den Dichter Stefan George in
München geschlossen, bei völliger Unabhängigkeit voneinander
eine solche Gemeinsamkeit der Grundrichtung vor, daß man jenen
tiefsten Zusammenhang zu ahnen und anzudeuten versucht wird,
den man bei der gleichzeitigen, ganz selbständigen Entstehung be-
deutsamer Werke mit den Worten zu bezeichnen pflegt: „Die Zeit
war reif für sie.“ Diese tiefste innere Verwandtschaft zeigte sich,
rein historisch genommen, in dem frühen Verständnis und den
Anregungen, die die Bewegungen, die von den drei genannten
Männern ausgingen, gegenseitig austauschten. So wirkte Bergson,
der erst heute anfängt in Deutschland bekannter zu werden, schon
früh durch den Berliner Philosophen Georg Simmel auf den
Georgeschen Kreis, sein Einfluß zeitigte die prinzipielle Klarheit
in der geschichtlichen Methode des Buches Friedrich Gundolis:
„Shakespeare und der deutsche Geist“, und wurde ausdrücklich
bekannt und offenbart in den drei Jahrbüchern, die bisher von
Gundolf und Friedrich Wolters herausgegeben sind. Andererseits
steht dem durch Bergson intutivistisch interessierten philosophischen
Paris durch Vorträge des Sorbonneprofessors Delbos die Husserl-
sche Phänomenologie näher als der offiziellen Philosophie Deutsch-
lands, die Kant nachfolgt oder sich es angelegen sein läßt, die
monistisch-mechanische Haltung der Naturwissenschaft für sich
selbst mit dem Anspruch letzter philosophischer Gültigkeit zu
rechtfertigen.
Husserl, Bergson, George. 219
Die gemeinsame Tendenz der Bewegung erhellt allein schon
aus einem Vergleich der Stellungnahme zu jenem alten tiefen Triebe,
den wir in seinen neuen Erscheinungen als den Geist des modernen
„eigentlich“ bezeichneten, einer Stellungnahme, die, wenn auch
rein negativ bestimmend, sehr charakteristisch für ihre yanze
Orientierung ist. Nur auf diese gemeinsame Tendenz wollen wil
hinweisen.
Nach Bergson ist die Seele vor allem, rein praktisch interessiert,
gerichtet auf den Raum und den Stoff, der ihn erfüllt. An dem
Stoff und den ihn beherrschenden mechanischen, kausalen Gesetzen
hat sich der Verstand, die logische Erkenntniskraft ausgebildet und
darum gibt die Verstandesanschauung, auch solange sie auf den
Raum nach außen gerichtet ist, eine richtige Erfassung der ab-
soluten Wirklichkeit. Wir dürfen uns aber durch die Vorherrschaft
der Verstandeskraft, die im weitesten Sinne genommen unser prak-
tisches Handeln ermöglicht und dem Leben den toten Stoff unter-
wirft, wir dürfen uns durch sie nie dazu verleiten lassen, sie nach
innen gewandt zur Erkenntnis des Seelischen zu verwenden. Denn
während im Raume eines dem andern äußerlich ist und ein Zer-
legen durch den Verstand zuläßt, durchdringt sich alles im Be-
reiche der Seele. Die Naturwissenschaft also, die von vornherein
eingestellt ist auf den Stoff, kommt dazu, wenn sie dessen kausale
Gesetze in die Seele und das Leben hineinsieht, die lebendige
Einheit in Mechanismen aufzulösen. Das Wesen der Seele
und alles Lebendigen ist allein in unmittelbarer Intuition zu
erfassen. Bergson geht soweit, alle Wissenschaft vom Lebendigen
prinzipiell für unmöglich zu erklären, da sie stets nur einen Aus-
schnitt, ein pragmatisches Bild ihres Gegenstandes übermittelt.
Allein im Erlebnis ist der Erkennende eins mit dem Lebendigen.
Schon die Sprache, die in ihren Bildern und der Auswahl des Be-
deuteten räumlich und logisch orientiert ist, verfälscht das be-
sondere Wesen des in der Intuition Gegebenen. Nie müde wird
der große französische Philosoph, hinzuweisen auf das Erlebnis
als das Fundament eines rein geschauten Weltbildes, das in steter
Gefahr ist entstellt zu werden durch eine einseitig verstandsmäßige
Erklärung, durch das kausale „eigentlich“.
Ist dem französischen Philosophen der böse Geist des Miß-
trauens: die „Logik“, die allein den toten Stoff beherrschen sollte,
in ihrer Anmaßung allgemeiner Geltung, so dem Georgeschen
Kreise: der „analytische“ Geist, der alle „Substanzen“ Gott, Seele
den Leib und den toten Körper, die wesentlich verschiedenen Fun-
damente der Welt wie sie rund als lebendige Wirklichkeit gegeben
ist, auflösen will in „Beziehung“. Es ist ihm der Geist des Werk-
220 Gustav Hübener:
zeugs, das sich verselbständigt hat, das nicht mehr dem Menschen
dient, sondern ihn beherrscht. Und er sieht ihn darin, daß seit der
Zeit der Renaissance die intellektuellen Begriffe, die dazu dienen
sollten die Wirklichkeit zu beherrschen, die überwältigende Masse
der wissenschaftlichen Erfahrungen zu ordnen, immer mehr für
Wirklichkeit selbst genommen werden. Allein die Denkbarkeiten,
die man aus der Wirklichkeit abstrahiert hatte, um diese zu be
meistern, oder ihre erdrückende Fülle abzurücken von sich, sie
allein werden als das „eigentliche“ erlebt. Man erlebt nicht mehr
rein das Wesen der Welt, sondern sieht nur noch versetzbare Ab-
straktionen; das bedeutet so gut wie in der Wirtschaft die kapita-
listische Loslösung der Werte von den Dingen, in der sozialistischen
Ethik die willkürliche Bindung des Menschen auf Grund erdachter
Prinzipien. Überall tendiert der moderne Geist dahin die Mittel.
die dem Leben dienen sollten, als wirklicher zu nehmen als das
Leben selbst, als den „eigentlichen“ Zweck sie auszubilden. Dafür
ist nichts bezeichnender als die umsichgreifende Knechtung des
Menschen durch die Technik. Segensreich ist die Technik, solange
sie dem Menschen wirklich Kräfte erspart, die er zu seiner all-
seitigen menschlichen Ausbildung verwertet. Jetzt aber scheint die
Prophezeiung des klugen, alten, englischen Utopisten Samuel Butler
in Erfüllung zu gehen, daß die ersparten Kräfte nur wieder ver-
wandt würden zur Konstruktion neuer Maschinen, daß der Mensch
in seiner Entwicklung aufhören und arbeiten würde allein als Sklave
in der Fron jener rapide wachsenden, stummen, anspruchsvollen
Wesen, die er einmal Werkzeuge nannte. Die ganze Idee des Fort-
schritts als Selbstzweck zeigt unsere Abhängigkeit von der tech-
nischen Kultur. Denn allein sie schreitet fort. Das neue Stadium
einer exakten Wissenschaft wirkt entwertend für das frühere, ein
neuer Lokomotivtypus für den alten. Aber die Werte des Heiligen
bleiben ewig, die geistige Kultur schreitet nicht fort, sie wächst.
die klassischen Werke eines Platon oder Aristoteles veralten nie.
Es ist besonders das Verdienst Friedrich Gundolfs,“) den Maschinen-
geruch, den die alles beherrschende Idee des Fortschritts trägt, ge-
spürt zu haben und das Zerstörende, das Lebensfeindliche dieser
Herrschaft aufzuweisen. Aber gegen den Geist des Werkzeugs zu
kämpfen auf allen Gebieten, wo das Maß nicht von ihm, sondern
von dem Leben gegeben werden soll, wieder einmal zu sagen, daß
die Arbeit um des Menschen willen und nicht der Mensch um der
Arbeit willen da ist, daß Religion, Kunst, Heldenverehrung und
*) Friedrich Gundolf: Wesen und Beziehung. Jahrbuch für die geistige
Bewegung, 1911.
Husserl, Bergson, George. 221
Patriotismus nicht „Atavismen“ sind, weil sie nicht mit dem Ver-
stande zu zerlegen, solches hat seit dem Rembrandtdeutschen Julius
Langbehn niemals ein einzelner gesagt und seit langem nicht ist
es die Stimme einer ganzen tiefen Bewegung gewesen, wie es die
zu sein verspricht, die von George ausgeht.
Als Ausdruck für eine neue Kraft zur Wirklichkeit, als Streben,
die Fülle der Erlebnisse nicht zu vereinfachen in eine Rechnung
mit bekannten, wesensgleichen Faktoren, sondern sie in dem über-
wältigenden Reichtum zu sehen so wie sie sind und wie sie stets
zu sehen die großen Dichter die Kraft hatten, ist neben Bergson
und Georges das Husserlsche Werk zu begrüßen. Während Bergson
seine Philosophie hinstellte en bloc wie eine fertige Kathedrale und
wir uns nun durch die einheitliche Bewegung ihrer Strebepfeiler und
Türme erheben lassen aus den Niederungen einer fortschrittlichen
und aufklärerischen Zeit, während George durch sein großes Pathos
uns einen neuen Willen zur Wirklichkeit verspricht, hat Husserl
in der tiefen, stillen Arbeit, die deutsche Gelehrte auszeichnen kann,
durch eine systematische Kritik des „eigentlich“- Geistes in dessen
besprochenen wissenschaftlichen Erscheinungen den Grund gelegt
zu einem philosophischen Werk, das mit absoluter Forderung den
Reichtum der Welt wieder zu sehen lehren will. Und ist solches
nicht, über allen Zweifel, der beste Anfang ihn wieder zu er-
leben? Denn wenn uns der Weg gewiesen ist, der von den
Worten und Begriffen, wie sie sich uns in Sprache und Wissen-
schaft angehäuft haben, hinführt zu dem lebendigen Grunde, aus
dem sie ihre Bedeutungen empfingen — und die Husserlsche Philo-
sophie tat schon dieses — wenn uns das Wesen der Phänomene,
wie sie im Erlebnis gegeben sind, zur intuitiven Einsicht gebracht
ist, dann ist die Hoffnung gewisser, daß wir den Mut finden werden,
sie auch in ihrer ganzen Fülle zu erleben, den Mut und die Kraft,
gie sicherlich einer Zeit fehlen, die wie die unsrige noch mit ihrem
traurigen „eigentlich“ an cen absoluten Gegebenheiten des Lebens
vorbei zu sehen bemüht ist.
222
Rudolf Borchardt: Auf den Feldern von Marengo.
Samstag vor Ostern 1175.
Matt auf Marengos Felder fällt Mondenlicht wie spukend,
Vom Bormida bis hin zum Tran heult Wald und wirft sich zuckend
Ein Wald von Hellebarden, von Roß und Mannen stählern,
Die fliehn von Alessandria fort aus den Unglückstälern.
aP
Hoch lohend Alessandria bergab von Apenninen
Wirft Lichter in die Flucht des goldgekrönten Ghibellinen.
Die Bundesfeuer antworten von Osten her entiachten |
Und also schallt das Siegeslied hin durch das stille Nachten.
Fest sitzt der Leu von Schwabenland in den Lateinerscheren,
Sagt’s Feuer an den Bergen, den Hügeln, Tälern, Meeren
Morgen ist Christ erstanden, auf wieviel Ruhmeswonne
Der Römer Ur-Ur-Enkelschaft herblickst du morgen, Sonne.
Es hört’s das greise Reckenhaupt am Knauf des Schwerts, des guten,
Und denkt bei sich der Herrn von Zollern: So verbluten
Von Hand der Krämersäcke, die gestern erst sich schnallten
Um ihren feisten Mißwanst den Stahl, den Ritter halten!
Von Speyer drauf der Bischof, dem hundert sonnige Bühle
Die Bütten füllen und hundert Dompfaffen das Chorgestühle,
Knurrt: Ei, ihr schönen Türme ob meinem Münster fern,
Wer wird dort Messe singen zur Weihnacht unsres Herrn?
Pfalzgraf Diepold der Junge, dem golden überm schlanken
Gebräunten Halse jugendhell die schweren Haare schwanken, |
Denkt still: Nun geht der Elfen Ton rheinaufwärts durch die blaue
Verwunschne Nacht; was kommt, was schlüpft, was hebt den Fuß
im Taue?
Auf den Feldern von Marengo. 223
Dann spricht Erzbischof Christian: Zur Seiten meiner Wehre,
Dem guten Morgenstern, trag ich das Öl der heil’gen Zehre.
Für jeden was. O, wärt nur ihr jenseits der Alpenpässe,
Saumtiere mein, von welschem Gold beladen bis zur Hesse.
Und von Tirol der Graf: Mein Sohn, dich morgen noch schlafmüden
Begrüßen über Alpen die Sonn und meine Rüden:
Dein beides. Ich, ein edler Hirsch, von feigem Pack gehetzt,
Soll fallen hier im grauen, im wälschen Sumpf vermetzgt!“
Einsam zu Fuß im mitten Feld, am Zügel sein Walleiser
Streitroß versichernd, blickte gen Himmel noch der Kaiser.
Er sah die Sterne wandern ob seinem Haupte. Schwarz wie Nacht
Rauscht hinter ihm das Reichspanier im Winde, der es bauschen macht.
Von Böheim rechts, von Polen links zwei Könige erhoben
Des heilgen Reichs Kleinodien, Szepter und Schwert, nach oben,
Als schwächer das Gestirn verblich und Morgenrot die Zinnen
Der Alpen nördlich schienen, der Kaiser sprach: „Von hinnen,
Zu Roß ihr Treuen alle, Ott Wittelsbach laß wehen
Das heilge Banner ins Gesicht den Städten, daß sie's sehen,
Nun rufst du Herold: Platz dem Imperator Romanus,
Des großen Julius Enkelsohn, Kronfolger des Trajanus.“
Hei, hell wie hell und nah wie nah erscholl mit Jubilieren
Durch Troß und Trab Trompetenton vom Strom des Po zum Tran,
Als angesichts des Kaiseraars mit Herzen und Panieren
Italia die Kniee bog und Cäsar hatte Bahn.
(Nach einem Gedicht von Giosué Carducci.)
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224
Paula Becker-Modersohn:
Briefe und Tagebuchblätter.
I. Berlin, 1896.
s ist eine riesengroße Neuigkeit, die ich zu melden habe.
E Ich fange nächste Woche mit Farben an! Ich
hatte mir bei meinen Maiskolben riesige Mühe gegeben.
Da kam Dettmann gestern zu mir und sagte: „Gut, gut, sehr gut!“ —
Dann sagte er, daß ich nächste Woche malen dürfe. Mein Herz
jubelte! Denkt nur Montag an mich! Hab' ich etwas gut gemacht,
denk ich an Euch und freue mich für Euch. Geht es schlecht und
traurig bei mir her, höre ich im Geist Eure ermunternden Trost-
worte.
Wie ich mich auf die Ölfarben freue!
Entschuldigt meine Flüchtigkeit. Ich bin den ganzen Tag bei
meiner Arbeit so ernst, daß alle meine Flüchtigkeit sich in meine
Briefe flüchtet. A
*
Abends im Akt hatten wir einen famosen Kerl. Zuerst, wie
er so dastand, bekam ich einen Schrecken vor seiner magern
Scheußlichkeit. Als er aber eine Stellung einnahm und plötzlich
alle Muskeln anspannte, daß es nur so auf dem Rücken spielte,
da ward ich ganz aufgeregt!
Daß ich das haben darf! Daß ich ganz im Zeichnen leben
darf! 's ist zu schön! Wenn ich es nur zu etwas bringe! Aber
daran will ich gar nicht denken, das macht nur unruhig.
Neulich erlebte ich etwas Spaßiges: Ihr nahmt doch den weib-
lichen Akt mit dem schönen, schwarzen Haar nach Bremen. Dies
selbe Wesen zeichnete ich wieder. Sie trug ein schwarzes Kleid
mit weißem Kragen wie ich, nur war das ihre von schickerem Sitz.
Ihren hübsch beschuhten Fuß streckte sie kokett heraus, während
ich meine etwas schrummeligen Untertanen bescheiden einzog. Als
die junge Dame mit den sanften Taubenaugen zum andernmal er-
schien, hatte sie sich statt der rabenschwarzen Mähne schönes
kastanienbraunes Haar zugelegt. Erzählte irgendeine Fabel von
Haarwaschen und sich in der Flüssigkeit vergriffen zu haben.
*) Die jung gestorbene Malerin Paula Becker-Modersohn hat ein
Lebenswerk an Gemälden und Studien hinterlassen, das erst heute, wo man
die französischen Meister, an denen sie gewachsen war, auch bei uns
in Deutschland würdigt, in seiner vollen Bedeutung erkannt wird. Eine
sehr wertvolle Ergänzung zu diesem reichen Nachlaß bilden ihre Briefe
und Aufzeichnungen, die in der Unmittelbarkeit und Kraft des Empfindens
ein einzig dastehendes Menschheitsdokument einer starken durch und durch
weiblichen und geschlossenen Persönlichkeit bilden. Wir bringen eine Auswahl
derselben aus den verschiedenen Entwicklungsstadien der Künstlerin.
Briefe und Tagebuchblätter. 225
Ja, ja, die Welt! die Welt!
Von Frombergs Ball muß ich noch erzählen: es war einfach
ideal! Max Grube und die Lindner führten einen Prolog zur Ein-
weihung des Hauses auf. Wir drei Malerinnen hatten lustige Ge-
sellschaft an zwei Malern und zwei Bildhauern. Der Maler Müller-
Kurzwelly forderte mich zur Frangaise auf, aber denkt nur mein
armes Herze: den ganzen Tanz durch pries er mit strahlendem
Gesicht die schönen Augen und die fabelhafte Toilette der uns
gegenübertanzenden jungen Frau Petschnikow.
Bis drei schwebte man im siebenten Himmel, nahm immer Ab-
schied, wurde aber nicht fortgelassen. Ich schließe in der Schule.
Es ist Pause, um mich herum summt und surrt es wie ein Bienen-
korb. Es wird ein Klassenausflug geplant. Jeder brennt darauf,
der versammelten Gesellschaft einen besonders schönen Vorschlag
zu machen. Ich trompete immer Schlachtensee, weil ich dort zu
Haus bin.
Aber die Pause ist aus und ich muß zu meinem kleinen Back-
fischmodell zurückkehren.
* 5 *
Am Sonntag ging ich zur Probe des Stückes, in welchem mit-
zuwirken ich versprochen habe. Jetzt wünschte ich mir aber lieber
meine freie Zeit zurück, denn ich habe Frau N. nicht gern, das
Stück nicht gern und den umarmenden Assessor nicht gern.
Macht Euch keine Sorgen, daß ich so viel Antipathien in einem
Augenblick hege! Ich gehe groß und heldenhaft dagegen an, in-
dem ich Frau N. anlächle, das Stück schon gelernt habe und den
Assessor treulich umarme. Letzteres allerdings mit einem heim-
lichen Fluch.
Montag war ich bei Du Bois Reymonds. Lucie sprach über
ihre Bremer Tätigkeit und zeigte mir einige der dort angefertigten
stylisierten Muster. Dann gab es ein feines Gespräch über Zeichnen
und Malen. Sie sind gar nicht modern und verteidigen sehr den
Kontur. l
Bei Jeanne Bauck zeichnete ich einen alten Mann. Ihre Methode
ähnelt der von Albert, doch legt sie das Fundament viel gründ-
licher. Beide haben in Paris studiert, deshalb vielleicht die Ahn-
lichkeit.
Bei Hausmann haben wir jetzt ein drolliges Modell, eine echte
Berliner Portiersfrau mit den dazu gehörigen Redensarten. Sie hat
noch nie Modell gesessen, wir haben sie in Ermangelung eines
Bessern von der Straße aufgegriffen. Als wir sie anredeten, blickte
sie entsetzt an ihren malerisch verblichenen Kleidern hinunter und
226 Paula Becker-Modersohn:
meinte, sie müsse sich doch erst feinmachen. Als sie zum zweiten
Male kam, hatte sie wirklich eine unausstehlich blanke Schürze um-
gebunden.
Es war zu komisch, welch einen Einfluß das Sitzen auf dieses
cholerische, schnellatmige Weiblein hatte. Nach einer Stunde rief
sie aus: „Nee! ick hatte immer jedacht, dat Nixduhn wär dat
Scheenste. Es is ja aber viel, viel schlimmer als arbeeten.“ Am ersten
Tage verließ sie die Bildfläche mit den großen Worten: „Lieber
drei Stuben scheuern!“
M . *
Ich freue mich stets auf meine Stunden bei Jeanne Bauck.
Nachdem ich mich an ihre erste „Wüschtigkeit“ gewöhnt habe, mag
ich sie gar zu gern anseh’n. Ihre Züge sind gerade so interessant
wie ihre Malerei, ich kann mir immer wieder den kleinen pikanten
Bogen ihres Nasenlochs anschau’n. Ihr Mund hört so nett plötz-
lich auf, als ob der Herrgott mit einem feinen Pinselstrich drüber
gefahren wäre.
Es ist Abend. Ich bin allein und habe mich mal wieder ge-
pinselt. Ich habe einen langen Tag hinter mir und erlaube mir
von Herzen müde zu sein. Darum verlangt nicht mehr viel von
meiner Seele, die eigentlich noch ganz in Farben sitzt. Es ist eigen-
artig; ich lebe so intensiv am Tage, daß ich abends, wenn ich
schreibe, immer eine Reaktion verspüre. Und eigentlich ist das
Schönste meines Lebens viel zu fein und zu sensibel, als daß es
sich aufschreiben ließe. Das, was ich schreibe, ist nur das Gefäß,
darin der Duft vieler köstlicher Augenblicke ruht.
** *
*
1897.
Worpswede! Worpswede! Worpswede! Versunkene Glocke-
Stimmung. Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schönes,
braunes Moor, köstliches Braun. Die Kanäle mit den schwarzen
Spiegelungen, asphaltschwarz. Die Hamme mit ihren dunkeln
Segeln; 's ist ein Wunderland, ein Götterland!
Ich habe Mitleid mit diesem schönen Stück Erde, seine Be-
wohner wissen nicht, wie schön es ist. Nein, Paula Becker, hab’
es lieber mit Dir, daß Du nicht hier lebst. Und das auch nicht.
Du lebst ja überhaupt, Du Glückliche, lebst intensiv, das heißt:
Du malst! Ja, wenn das Malen nicht wäre.
Und weshalb Mitleid haben mit diesem Land? Es sind ja
Männer da, die ihm Treue geschworen haben, Maler, die an ihm
hangen mit unendlicher, fester Mannesliebe.
Briefe und Tagebuchblätter, 227
Da ist zuerst Mackensen, der Mann mit den goldenen Me-
daillen in den Kunstausstellungen. Er malt Charakterbilder von:
Land und Leuten. Er versteht den Bauern durch und durch, er
kennt seine guten Seiten und kennt seine Schwächen.
Mir däucht, er könnte ihn nicht so gut verstehen, wäre er
nicht selbst in kleinen Verhältnissen aufgewachsen. Daß der Mensch:
es doch nie ganz verwindet, wenn er einmal um den Groschen: ge:
kämpft hat, auch später nicht, wenn er im Wohlstand lebt, der edle’
Mensch wenigstens nicht. Ihm sind die Flügel beschnitten; ohne
daß er’s merkte, weil die Schere täglich nur eine Ahnung ab-
schneidet. Das Große, Unbefangene, das unabhängig Stürmende,
das Stück Prometheus im Manne ging verloren. So ist’s auch bei
Mackensen. Er ist ein ganzer Mann, geklärt in jeder Beziehung,
hart und energisch, zärtlich weich zu seiner Mutter. Doch das
Große, das unsagbar Große ist seiner Kunst verloren gegangen.
Der Zweite im Reigen ist Heinrich Vogeler, ein reizender Kerl,
ein Glückspilz! Das ist mein ganzer Liebling. Er ist kein Wirk-
lichkeitsmensch wie Mackensen, er lebt ganz und gar imeiner Welt
für sich.
Er trägt in seiner Tasche „Walther von der Vogelweide“ und
„Des Knaben Wunderhorn“. Darin liest er fast täglich. Er träumt
darin täglich. Im Atelier in der Ecke steht seine Guitarre. Darauf
spielt er verliebte alte Weisen und träumt mit seinen großen e
Musik.
Er hat sich die altdeutschen Meister zum Vorbild genommen.
Er ist ganz streng, steif streng in der Form. Sein Frühlingsbild:
Birken, zarte junge Birken mit einem Mädchen dazwischen, die
Frühling träumt. Es rührt mich zu sehen, wie dieser junge Kerl
seine drängenden Frühlingsträume in diese gemessene Form kleidet.
Dann ist noch der Modersohn da.
Ich habe ihn erst einmal flüchtig gesehen, habe nur die Er-
innerung an etwas Langes im braunen Anzug und an einen röt-
lichen Bart. Seine Landschaften, die ich auf Ausstellungen sah,
haben tiefe Stimmung in sich: heiße, brütende Herbstsonne oder
geheimnisvoll süßer Abend.
Ich möchte ihn kennen lernen, diesen Modersohn! Overbecks
Landschaften sind tollkühn in der Farbe, doch haben sie nicht die
Modersohnsche Empfindungskraft.
Hans am Ende zeigte uns viele seiner Skizzen und vorzügliche
Radierungen. Er ist eine feine Künstlernatur, und die zarte Art,
wie er mit seiner jungen Frau spricht, hat mich ganz für ihn ein-
genommen, auch wie er mit wenig Worten einen ganzen Menschen
beschreiben kann. Ä
228 Paula Becker-Modersohn:
An unserm Mittagstisch sehe ich die Malerin Fräulein v. Fink.
Man hatte mich vorbereitet, ich war also nicht erstaunt, sie in Hosen
zu Tische kommen zu sehen. Sie hat in Paris studiert, ich möchte
gern ihre Arbeiten sehen.
Leben! Leben! Leüen!
* *
x
Bin ich nicht ein Mägdelein,
Wandelnd hin durch Frühlingswiesen,
Bin ich nicht ein Mägdelein,
Die das Glück hat auserkiesen?
Frew mich, daR die Blumen blühn,
Daß die weißen Wolken ziehn,
Bin so durch und durch zufrieden,
Scheint mir Gutes nur beschieden,
Weiß ich, komm ich um die Ecke,
Liegt das Glück mir in der Hecke.
* x
*
Worpswede, August 1897.
Ihr Lieben!
Ich bin glücklich, glücklich, glücklich. - Nur ein paar Zeilen,
Euch dies zu melden, denn es schlägt zehn Uhr. Früher konnte
ich mich draußen nicht vom Monde trennen. Gestern und heute
malten wir in Südwede an einem ganz blauen Kanal.
Am Abend stakten uns die drei Vogelerbrüder auf der Hamme.
In der Dämmerung leuchteten die saftigen Hammewiesen. Dann
zogen von Zeit zu Zeit diese ernsten, schwarzen Segel mit ihrem
unbeweglichen Steuermann vorüber.
Dann kam ganz leise der Mond. Ich dachte an Euch und
dann wieder gar nichts, sondern fühlte bloß.
Ganz Worpswede schlummert schon. Nur auf der gegenüber-
liegenden Kegelbahn poltern noch einige unruhige Geister. Die
Nacht ist wundervoll sternklar.
Heute habe ich mein erstes Pleinairporträt in der Lehmkuhle
gemalt. Ein kleines, blondes, blauäugiges Dingelchen.
Es stand zu schön auf dem gelben Sand. Es war ein Leuchten
und Flimmern. Mir hüpfte das Herz! Menschenmalen geht doch
schöner als eine Landschaft. |
Merkt Ihr’s, daß ich nach langem, fleißigem Tage todmüde bin?
Aber innerlich so friedlich, fröhlich!
*
*
Briefe und Tagebuchblätter. 229
Mutter, der Fouragezuwachs war himmlisch.
„Und der leere Kasten schwoll.“
Jetzt haben wir genug bis ans Ende unsrer Tage! |
Und wie verbrachte ich meinen Sonntag? Morgens Modell-
malen nach meinem lieben Blondköpfchen Anni Brotmann in der
Lehmkuhle. Hernach Treffen mit den Vettern und gemeinsame Wan-
derung mit reicher Beute von Brombeeren und Motiven.
Ein Abendgang durchs Dorf. Bei Welzel ist Tanzmusik. Wir
blicken hinein. Großer Abtanz der Tanzstundenkinder, reizend an-
zusehn in weißen Kleidern.
Der Tanzlehrer, eine urgelungene Fuchsphysiognomie, eröffnet
zierlich gespreizt den Reigen.
Wir wandern weiter. Von neuem treffen kräftige Paukentöne
unser Ohr. Wir gucken zur Tür hinein: es ist Bauernhochzeit.
Die Braut duselt unter ihrem Kranz ungefähr ein. Er gähnt. Auf
der andern Seite des Saales Bauernquadrille. Im Hintergrunde
die fürchterliche Blasmusik, rechts die Ruhköpfe.
Beim nächsten Walzer mache ich mit dem Brautvater die Runde.
Er brüllt mir beseligt in die Ohren: „Wir beede könnens fein!“
Ich nicke nur zu ihm oben hinauf.
Hinterher hat man uns ausgelacht, daß wir dort getanzt
haben. Das Brautpaar sei ein bischen dösig. Sie hätten vorigen
Winter im Armenhaus gesessen und kämen nächsten Winter auch
wieder hinein.
Dann machten wir noch einen Abendbesuch bei meinen Modell-
kindern in der Hütte uns gegenüber. Es sind ganz arme Leute,
aber heute wohnte das Glück in aller Augen. Der älteste achtzehn-
jährige Sohn war von einer Seereise nach Hause gekommen. Ein
fixer, aufgeweckter Blondling. Der erzählte der staunenden Familie
von fremden Zonen und Menschen. Alle die blonden blauäugigen
Geschwister scharten sich dicht um ihn.
*
*
— — — Wieder ist es Nacht, eine schöne, stille, feierliche.
Ich habe wieder einen Göttertag hinter mir.
Am Morgen malte ich einen alten Mann aus dem Armen-
haus. Es ging fein. Er saß wie ein Stock mit dem grauen Himmel
als Hintergrund. Das Mittagessen an unserm Weibertisch wird
mit großem Appetit eingenommen.
Die Hosendamen, es hat sich noch eine zweite hinzugeseltt
bewiesen ihre Männlichkeit durch jungenshaften Heißhunger. Es
macht mir großen Spaß, diese Individuen innerlich und äußerlich
zu betrachten. Ich glaube, sie bilden sich wirklich ein, sie seien
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230 Paula Becker-Modersohn:
nicht eitel und gäben nichts auf Äußerlichkeit. Und doch sind sie
auf ihre Hosen so stolz wie unsereins auf ein neues Kleid. Ich
muß mit dem alten Weisen sagen: Es ist alles eitel. Ich sonne
mich in der Welt und Eurer Liebe!
Euer Kind.
* *
x
Ich zeichne jetzt den alten von Bredow aus dem Worpsweder
Armenhause. Der hat ein Leben hinter sich! Er hat studiert, ist
an den Trunk geraten, war Totengräber in Hamburg während der
Cholera, dann wieder sechs Jahre Seefahrer, hat überhaupt wohl
doll gelebt.
Jetzt führt er die Kuh vom Armenhause auf die Weide und
schafft sich dadurch eine Lebensaufgabe. Sein Bruder wollte ihn
vor Jahren in die ordentliche gesetzte Welt bringen. Der Alte hat
aber seine Kuh und sein Träumen so lieb gewonnen, davon läßt
er gar nicht mehr.
Er erfreut sich auch eines gewissen Ansehens im Armenhause,
gilt als eine Art heimlicher Millionär. Die alten Weiblein ver-
trauen mir heimlich mit scheuer Ehrfurcht: „O Fräulein, de is
reich!!! De hett hu—u—u—nnert Mark!!!
* *
*
Neulich habe ich Vogelers Martha besucht. Die ist auf allen
seinen Bildern, er zeichnete sie schon, als sie noch zur Schule ging.
Jetzt stickt sie mit ihren schönen, schlanken Händen Wandschirme
und Mappen für ihn und lebt sich tief hinein in den Geist seiner
Kunst.
Sie sitzt tagelang in seinem Atelier und er zeichnet sie un-
aufhörlich oder er sitzt still neben ihr in der Wohnstube ihrer
Mutter und zeichnet sie. Jetzt geht sie auf die Kunstgewerbeschule
nach Berlin und was dann wird? Er hat sein Haus vergrößern
lassen. Für mich ist das Verhältnis zu zart und zu träumerisch,
als daß es so einen Allerweltsschluß haben sollte.
En *
Morgens zeichne ich eine junge Frau aus dem Rusch. Die
hat vier Wochen gesessen, weil sie und ihr Mann ihr uneheliches
Kind schlecht behandelt haben. Eine strotzende Blondine, ein
Prachtstück der Natur. Sie hat einen leuchtenden Hals in der
Form der Venus von Milo. Sie ist sehr sinnlich. Aber muß natür-
liche Sinnlichkeit nicht mit dieser zeugenden, strotzenden Kraft
Hand in Hand gehen. Diese Frau mit den vollen Brüsten scheint
ein Bild der großen Mutter Natur zu sein. Auch fühle ich, Sinn-
lichkeit bis in die Fingerspitzen, gepaart mit Keuschheit, ist das
einzige Wahre, Rechte für den Künstler.
w
*
Briefe und Tagebuchblätter. 231
Heute kam meine Blondine wieder, diesmal mit dem Jungen
ander Brust. Die mußte als Mutter gezeichnet werden, das ist ihr
einziger wahrer Zweck. Köstlich dies Leuchten der weißen Brüste
in der brennend roten Jacke. Das Ganze hat etwas Großes in
Form und Farbe.
* *
Hier in der Einsamkeit reduziert der Mensch sich auf sich
selber.
Es ist ein sonderliches Gefühl, wie all das Bunte, Anerzogene,
Geschauspielerte, was ich besaß, wegfällt und eine vibrierende Ein-
fachheit entsteht.
Ich arbeite an mir. Ich arbeite mich um, halb wissentlich,
halb unbewußt. Ich werde anders. Ob besser? Jedenfalls vor-
geschrittener, zielbewußter, selbständiger.
Ich habe jetzt eine gute Zeit, fühle eine feine, junge Kraft in
mir, die mich jauchzen und jubeln macht.
Ich arbeite fleißig, ermüde nicht und habe abends noch einen
klaren Kopf, der etwas auffassen kann. Ich bin jetzt stolz und
doch bescheidener als je, wenig eitel, da wenig Zuschauer vor-
handen sind. Das Leben ist mir gleich einem kräftigen, knusprigen
Apfel, in welchen die jungen Zähne mit Vergnügen beißen, sich
ihrer Kraft bewußt und ihrer froh.
Mackensen sagt: Die Kraft ist das Allerschönste; am Anfang
war die Kraft.
Ich denke und erkenne es auch und doch wird in meiner
Kunst die Kraft nicht Leitton sein. In mir fühle ich es wie ein
leises Gewebe, ein Vibrieren, ein Flügelschlagen, ein zitterndes
Ausruhen, ein Atemanhalten. Wenn ich einst malen kann, werde
ich das malen.
u
Schnee und Mondgeschimmer.
Schlanke Bäume schreiben
Zitternd, ahnend, suchend
Hin das Abbild ihrer Seele
Auf das weiße Winterlaken,
Legen fromm ihr holdes Wesen
Nieder auf den keuschen Boden.
Wann kommt mir der Tag,
Daß in Demut einen Schatten
Hin auf reinen, keuschen Boden
Ich kann werfen,
Einen Schatten meiner Seele.
K
232 Paula Becker-Modersohn: Briefe und Tagebuchblätter.
Carl Vinnen war auf zwei Tage in Worpswede. Er ist
Künstler mit Leib und Seele und ein wertvoller Mensch. In Bremen
hat er eben eine Reihe Bilder ausgestellt, große, schöne Sachen,
entstanden aus inniger Liebe zur Natur. Und doch fühlt man
heraus: der Mensch steht über den Dingen, das gibt ihm diese
große, einfache Anschauung.
Vinnen gab gestern ein Fest im Atelier von Otto Modersohn.
Es war mein hübschester Abend hier draußen unter den Künstlern.
Überall den Blick auf Modersohnsche Birken und Kanäle ruhen
zu lassen, das ließ, ich mir gefallen. Zudem war der Raum so
fein gemütlich. Schummerbeleuchtung mit Papierlaternen. Zwei ge-
deckte Tische, einen für die Erwachsenen und einen Kindertisch.
An letzterem Clara Westhoff und ich, Heinrich Vogeler, Mackensens
jüngerer Bruder und Alfred Heymel. Ich habe gerade Heymels
Gedichte gelesen, die ich als solche nicht so hoch schätze, als daß
mir der Geist gefällt, der aus ihnen spricht, die junge Kraft, die
sich selbst spürt und beweisen möchte.
Jetzt gibt er mit seinem Vetter Rudolf Alexander Schröder eine
neue Zeitschrift heraus: Die Insel, und sitzt in München zwischen
unsern feinsten, modernsten Künstlern, die seine Mitarbeiter sind.
Nach Tische nahm Vogeler seine Guitarre und sang. Dann
wurden die Tische beiseite geschoben und wir tanzten.
Heymel hatte eine Idee vom Tanz, dachte sich Ringelreihen
aus, daß ich nie genug hatte. Dazu das weibliche Gefühl, daß
mein neues grünes Sammetkleid mir gut stand und daß. sich einige
an mir freuten. |
Heute früh besuchte mich Vinnen undd schaute dh meine
Sachen an. Daß solch ein Künstler mich ernst nimmt, ist mir eine
Riesenfreude. Er lobte das Malerische, Tonige und war mit vielem
zufrieden.
* *
.
Im Dezember 1899 die erste Ausstellung meiner Bilder in der
Bremer Kunsthalle.
Arthur Fitger donnert alles in Grund und Boden.
(Fortsetzung folgt.)
233
Dr. E. Benedikt: Ein Jahrzehnt in der Aviatik.
Is zu Anfang: des Jahrhunderts die Gebrüder Wright die ersten
Ä dürftigen Flugversuche machten und der unglückliche
Lilienthal seit den Zeiten des Ikarus als erster Pionier fiel,
da schien es sich um eine interessante und gefährliche Spielerei zu
handeln, besten Falles schien die Möglichkeit eines neuen Sports
zu winken. Aber mit einer viel schnellern Entwicklung als seiner-
zeit das Fahrrad und das Automobil hatten, ist es vorwärts ge-
gangen. Aus den Schranken des Aerodroms heraus flog die Flug-
maschine von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von Land zu
Land, schließlich über Gebirge und Meere. Nach nur zehn Jahren
ist man heute schon so weit, daß wenigstens in einigen Beziehungen
schon erreicht ist, was praktisch wünschenswert /und verwendbar ist.
Angesichts einer so außerordentlich schnellen Entwicklung
kann man es verstehen, wenn der Vater der neuen Kunst des
Fliegens, Orville Wright, in die Worte ausbricht: „Als ich vor zehn
Jahren die ersten Versuche in dem abgelegenen Dayton unternahm,
dachte ich nicht von ferne an eine so schnelle Entwicklung. Gegen-
wärtig ist das Fliegen schon sicherer als das Automobilfahren,
denn was wollen doch die paar Dutzend Opfer bedeuten gegen die
Tausende und Tausende, die jährlich beim Autofahren verunglücken!
Das Fliegen hat aber auch eine enorme kommerzielle Zukunft.
Denn der Transport durch die Luft wird sehr viel billiger zu
stehen kommen als der auf ebener Erde, und wird sogar sicherer
sein. -In kurzer Zeit wird man Maschinen haben, die bei einer
Schnelligkeit von hundert Kilometern ein Dutzend Personen trans-
portieren. Die Zeit wird kommen, da jedermann seine Flug-
maschine haben und diese Automobil und Eisenbahn ausgestochen
haben wird.“
* *
*
Orville Wrights Prophezeiung wird vielleicht einmal in Er-
füllung gehen. Aber offenbar sind wir noch weit entfernt von
diesem Punkte der Entwicklung. Zwar die Skeptiker, die in der
Erfindung nur eine Spielerei oder höchstens einen neuen Sport
sahen, dürften heute eine verschwindende Minderheit sein. Sie
sind schon durch die offenbare militärische Bedeutung der
neuen Kunst widerlegt. Noch unter Louis Philippe, ein Jahrzehnt
nachdem der greise Goethe, der die neue Erfindung cer Eisen-
bahnen noch erlebte, Eckermann gegenüber den merkwürdigen
Ausspruch getan, die Erfindung werde im Verein mit den andern
gesteigerten Verkehrsgelegenheiten den Zusammenschluß Deutsch-
lands zu einem Staatenbund herbeiführen, blamierte sich Monsieur
234 Dr. E. Benedikt:
Thiers in der französischen Kammer mit der Bemerkung, die Eisen-
bahnen seien ganz nutzlos und obendrein „ungesund“, man werde
bald nichts mehr von ihnen hören. Solche Monsieur Thiers haben
sich auch der neuen Erfindung gegenüber bloßgestellt; unter den
Einsichtigen hingegen zweifelt niemand mehr, daß wir mit der
Flugmaschine wirklich und wahrhaftig ein neues Werkzeug im
großen Geschichtsstil haben werden, eine von den Erfindungen,
die den Gesamtaspekt des Lebens verändern. Aber offenbar ist die
Erfindung noch primitiv und in ihrer heutigen Gestalt so wenig
geeignet eine neue Furche auf dem Acker der Geschichte zu ziehen
als einst Fultons Dampfschiff, das mit einem gut bespannten Post-
wagen gerade noch konkurrieren konnte.
Vor allem müßte eine viel größere Sicherheit erzielt werden.
Daß das Fliegen heute schon sicherer sei als das Automobilfahren
dürfte schwerlich statistisch nachzuweisen sein. Immerhin ist
richtig, daß die Zahl der Unglücksfälle bei weitem nicht so hoch
ist wie man nach den Berichten der Presse allgemein glaubt. Die
Art der Berichterstattung, die sensationelle Behandlung der Fälle
bringt es mit sich, daß der Eindruck besteht, es sei eine Toll-
kühnheit überhaupt zu fliegen. Aber die Sicherheit ist viel
größer als allgemein angenommen wird. Es sind im Jahr 1911
insgesamt 36 Menschen beim Flugsport ums Leben gekommen,
und diese Ziffer war nicht halb so groß wie die der Opfer, welche
alljährlich der Bergsport fordert, hinter dem keine große Kultur-
hoffnung als weihendes, versöhnendes Moment steht. Und dabei
ist zu bedenken, daß die Vorführungen vielfach in Akrobatie aus-
geartet sind; um das Interesse wach zu halten, müssen sich die
Aviatiker in tollen Wagnissen überbieten.
Was die neue Kunst für unser Gefühl vorläufig noch etwas
unheimlich macht, ist weniger die tatsächliche Gefahr, die bei
richtiger Überlegung sehr zusammenschrumpft, als die Rätselhaftig-
keit der meisten Unglücksfälle. Der Mensch ist nun einmal ein
solches Ursachentier, daß er über schlimme Dinge schon halb ge-
tröstet ist, wenn er nur hinsichtlich des Warum klar sieht. Es
ist ein Schiff in den Grund gefahren. Nun, es hat eben ein Leck
bekommen durch Auffahren an einen Eisberg. Damit ist der Fall
erledigt und man besteigt das nächste Schiff, ohne viel an das
verunglückte zu denken. Hingegen, wenn eine Flugmaschine ab-
stürzt, so bringen es in der Regel die berufensten Fachleute nicht
zu einer Übereinstimmung in der Erklärung. Allein das liebe
Leben einem Apparat anzuvertrauen, der „seine Tücken hat“, einer
Maschine, in der man drin sitzt wie in einer Mausefalle, das
geht gegen allen gesunden menschlichen Instinkt.
Ein Jahrzehnt in der Aviatik. 235
Ferner ist beim heutigen Stand der Dinge noch viel zu viel
auf die Kunst und Besonnenheit des Piloten abgestellt, als daß,
daran zu denken wäre, die Flugmaschine zu einem allgemeinen Ver-
kehrsmittel zu machen. Der Italiener Leonino di Zara, der seit
Jahr und Tag auf seinem eigenen großen Operationsfeld' bei Padua
fast täglich Übungen macht, berichtet über ein kleines Erlebnis
beim Abfliegen wie folgt: „Man sinkt beim sog. vol plane sehr
schnell, man stellt sogar den Motor still, um die Schnelligkeit
nicht allzusehr zu vergrößern. Bei schiefgestellter Maschine fährt
man in schiefer Richtung bis nahe an den Erdboden; in einigen
Metern Entfernung muß man dann schnell die Maschine horizontal
stellen, denn würde man schief zur Erde fahren, so würde Zer-
schmetterung eintreten. Ich übte mich nun eines Tages im Ab-
fliegen, flog sogar mit angezündetem Motor, um Versuche zu
machen wie man im engsten Raume landen könne. Nun, als ich
in der Entfernung von etwa zehn Metern von der Erde auf den
Äqudibrator drückte, versagte er mit einem Male. Es war dies
einer von den peinlichen Augenblicken, wo der Mensch in einer
Sekunde sein ganzes Leben nochmals durchlebt. Ich hatte die
Vorempfindung der Katastrophe und in meinen Adern kreisten die
Schauer des Todes. Aber ich nahm mich zusammen, drückte mit
verstärkter Kraft nochmals und die Maschine richtete
sich auf. Ah, es war wirklich eine starke Emotion!“ Und der
junge Mann verstummte einen Augenblick, tief Atem holend, um
cann zu schließen: „Es ist Ruhe nötig, kaltes Blut, vollständige
Beherrschung der Nerven. Ohne diese Eigenschaften wäre es eine
Narrheit, fliegen zu wollen.“ So ein anerkannter Meister, der
übrigens auch wie Wright überzeugt ist, daß die neue Kunst
über kurz oder lang „jeden Anschein von Sport verlieren“ und
ins praktische Leben eintreten werde.
Ein besonderer Übelstand ist noch, daß der angehende Avia-
tiker nicht die Vorteile genieß, die dem angehenden Automobil-
fahrer sein Handwerk erleichtern. Dieser übt sich erst auf ebener
Straße bei geringer Schnelligkeit, um allmählich zu schwierigeren
Aufgaben überzugehen. Der Flieger hingegen muß gleich die
ganze Summe von Risiko übernehmen, die das Luftmeer bietet.
Und das Luftmeer scheint, wie das andere, seine besonderen Tücken
zu haben, die eben auch nur durch lange Erfahrung und viele
Opfer gekannt und von den Menschen gebändigt werden können.
Ist es doch mit der Beherrschung des Ozeans nicht anders ge-
gangen. Dem antiken Menschen war das Meer, das er ohne
Kompaß und die modernen Schutzvorrichtungen befahren mußte,
fürchterlich. „Verräterisch“ und „treulos“ sind bei den antiken
236 Dr. E. Benedikt:
Dichtern die beliebtesten Adjektive zur Charakterisierung des
Meeres, das uns modernen Menschen lieb und vertraut geworden
ist, weil der Mensch es durch Geist erobert hat und durch Er-
fahrung meistert. So wird uns wohl auch einmal das Luftmeer,
das „mare infidum“ des modernen Menschen, lieb und vertraut
werden.
** x
Es müssen wesentliche, fundamentale Verbesserungen kommen,
wenn die Flugmaschine ein allgemeines Verkehrsmittel mit der Zeit
werden soll. Übersieht man die heutigen Apparate bloß mit dem
von keinen technischen Kenntnissen beschwerten simplen Menschen-
verstand, was eine gute Augenprobe immer ist, so fällt ihre Un-
fertigkeit, Vorläufigkeit in die Augen. Oder sollte es nicht eine
sehr vorläufige Lösung des Problems sein, wenn beispielsweise bei
dem beliebten Eindecker der Pilot und der schwere Motor so
hoch placiert sind, daß der Schwergewichtspunkt des Ganzen über
den Flügeln liegt, so daß die Maschine gar kein stabiles Gleich-
gewicht hat? Auf dem Eindecker fährt der Aviatiker durch das
Luftmeer ungefähr wie weiland die Galathea auf der Meeresmuschel
stehend über cie Wogen fuhr! Aber das ist eine Attitüde für
Götter, solche freie Kühnheit ist sterblichen Menschen nicht er-
laubt. Der Schwergewichtspunkt müßte sehr viel tiefer zu liegen
kommen und der ganze Apparat müßte so arrangiert werden, daß
er beim Fallen der Fallschirm seiner selbst würde.
Geradezu lächerlich ist es sodann, daß bei vielen Apparaten
der Chauffeur so placiert ist, daß er zwar cie Sonne oder auch
die Sterne mit Muße betrachten kann, hingegen nicht bequem neben
und unter sich sehen kann, so daß er in Gefahr ist Hindernisse
anzufliegen, am Ende gar einen Kollegen und mit ihm zusammen
zu stürzen, wie dies bei einem Wettfliegen in Mailand vorgekommen
ist. Ebenfalls lächerlich ist, wie bei vielen Apparaten der Flieger
wie in einem Käfig eingesperrt ist, umgeben von Drähten und
Latten, so daß er beim Landen nicht bequem bei Seite springen
kann und im Falle eines Unglücks in Gefahr ist vom Motor er-
drückt zu werden. Oder daß die Luftschraube sich bei der ge-
ringsten Störung in diese Drähte verfängt und so die Katastrophe
herbeigezogen wird. Dann gar die Placierung bei den Maschinen
mit mehreren Personen! Unlängst berichteten die Blätter es sei
einer aufgeflogen mit vier Personen; davon mußten sich zwei platt
wagerecht hinlegen und durften auf den Erdboden gucken, einer
mußte dem Flieger im Rücken stehen und sich an ihm festhalten.
Das alles ist primitiv und komisch auch für das technische Laien-
gemüt. |
Ein Jahrzehnt in der Aviatik. 237
Ferner fällt dem simplen Menschenverstand das Mißver-
hältnis zwischen dem zarten, luftigen Apparat und den Kraftmotoreh
mit ihren riesigen Pferdestärken auf. Einer der ersten Virtuosen
der neuen Kunst, Farman, hat sich darüber geäußert: „Die
Schnelligkeit tötet uns. Es sind die großen Motoren, auf so ge-
brechliche Dinger gesetzt, die die meisten Unglücksfälle herbei-
ziehen. Und man will auf diesem Wege noch weiter gehen! Das
würde und müßte die Aviatik diskreditieren.“ Für die Zukunft sei
die Sicherheit alles, die Schnelligkeit zweiten Ranges; diese werde
mit der Zeit von selber kommen. Ich denke, daß man sie schon
hat! Eine italienische Zeitschrift hat ausgerechnet, daß beispiels-
weise von Rom aus jeder italienische Ort in sieben Stunden schon
jetzt erreicht werden kann. Von Rom nach Turin könnte man in
fünf Stunden gelangen, nach Neapel würde es nicht einmal eine
Stunde brauchen, während die schnellsten Bahnzüge vier Stunden
nötig haben. Für den praktischen Verkehr würden solche Schnellig-
keiten genügen.
Sodann war, wenigstens bis auf die letzte Zeit und in Frank-
reich, die Ausführung der Apparate vielfach leichtsinnig, so daß
eine Autorität wie Savorgnan de Braza in einer Studie über die
Unglücksfälle der letzten Jahre zu dem Schluß kam, daß die Hälfte
der Unglücksfälle auf schlechte Konstruktion zurückzuführen sei.
Die Sache muß schlimm gestanden haben, wenn die Luftschiffer-
brigade des italienischen Heeres bei einer von der berühmten Fabrik
Farman hergestellten Maschine ohne weiteres alle verbindenden
Drähte und Seile ausbrechen und durch neue ersetzen ließ. Man
verwendet noch vielfach Holz, wo Metall angezeigt wäre, Drähte,
wo Drahtseile nötig wären etc.
Überhaupt war die bisherige Entwicklung vom Standpunkt
der Verbesserung der Maschinen nicht vorteilhaft. Die Aviatiker
ließen sich einseitig leiten von der Ruhmsucht und Gewinnsucht.
Nach einer Statistik des französischen Aeroklubs wurden im Jahre
1911 4750000 Fr. Preise gewonnen, wovon ein Paulhan allein
350 000 Fr. erhielt. Seither ist freilich das Fieber zurückgegangen,
weil das Interesse an den bloßen Sportflügen immer mehr zurück-
geht. Aber bis dahin haben doch die Maschinenbauer das Haupt-
augenmerk auf immer größere Schnelligkeit und längere Flug-
dauer gelegt statt auf die Sicherheit. Und man kann ihnen kaum
einen Vorwurf daraus machen, denn sie erfüllen einfach die
Wünsche ihrer Kunden, der Aviatiker. Besser wird es erst jetzt
werden, wo die praktische Nützlichkeit der Flugmaschinen vom
militärischen Standpunkt erwiesen ist und damit die ganze Sache
in die rechten Hände kommt.
238 Dr. E. Benedikt:
Jedenfalls sind die jetzigen Eindecker und Zweidecker nicht
das letzte Wort der Entwicklung. Man wird sie schon in einem
Jahrzehnt vielleicht mit der Rührung und dem Spott betrachten,
mit dem wir in alten Gartenlauben die erste Eisenbahn und das
erste Dampfschiff ansehen. Auch angenommen, daß man bereits
prinzipiell auf dem rechten Wege sei, ist eine ungeheure Arbeit
nötig das Prinzip in alle Verzweigungen auszubauen, eine Arbeit,
die nur in unserer Zeit so recht gründlich gemacht werden kann,
wo für eine die Allgemeinheit interessierende Aufgabe die besten
Köpfe der Kulturwelt zusammenarbeiten können. Allein in den
Vereinigten Staaten sind viele tausend Patente für die Flugmaschine
gelöst, die alleangebliche oder wirkliche Verbesserungen beschlagen!
Auf diesem Wege wird es rasch vorwärts gehen.
21: x
Alles wirklich Produktive, Neue, zieht Kreise nach allen Seiten,
hat unabsehbare Folgen. So auch die neue Errungenschaft des
Menschengeschlechts, die Eroberung des Luftreiches. Schon heute
erstrecken sich diese Folgen weit in das Gebiet des praktischen
Lebens hinein. Die Militärs sind zur Stellungnahme gezwungen,
ebenso die Juristen, und bald werden es die Volkswirtschafter
sein. Über kurz oder lang wird fast jedermann direkt oder in-
direkt ein Verhältnis zu der neuen Erfindung haben.
Nur flüchtig sei darauf hingewiesen, wie sehr schon jetzt die
Rechtswissenschaft engagiert ist. Es finden Kongresse über Kon-
gresse statt, nationale und internationale, zur Regelung des Luft-
rechtes. Eigentlich müßten die Juristen jetzt endlich einmal die
seit dem ältesten juristischen Gedcnken pendente Frage lösen, wem
eigentlich der Raum über einem Grundstück gehöre .... Denn dies
ist offenbar Fundament einer grundsätzlichen Lösung überhaupt.
Das römische Recht ging, entsprechend seinem krassen Eigentums-
begriff, hier sehr weit, sogar so weit als möglich, es vindizierte
dem Eigentümer eines Grundstückes das Eigentumsrecht „a coelo
usque ad inferos“. Aber darüber sind wir längst hinaus. Die Be-
sitzer von Minen z. B. haben ohne weiteres das Recht, auch unter
dem fremden Grundstück zu bohren; aus Gründen öffentlichen
Nutzens muß Drahtleitungen über dem Boden Durchlaß gewährt
werden etc. etc. Nach römischem Recht hingegen hätte der Be-
sitzer auch das Recht das Überfliegen seines Grundstückes zu ver-
bieten. Das hat natürlich der Staat an sich gezogen, cer sich ja
überhaupt jenseits von Gut und Böse des Individuums längst be-
haglich eingerichtet hat. Der Privatmann kann das Überfliegen
seines Grundstückes so wenig hindern, wie das Passieren Herzischer
Ein Jahrzehnt in der Aviatik. 239
Wellen über seinem Acker. Aber der Staat verlangt die Juris-
diktion, ja die strenge Herrschaft über den Luftraum. Wie weit
soll aber diese Jurisdiktion gehen? Auf dem Meere geht sie so weit
wie ein Kanonenschuß reicht, was wirklich eine symbolische Be-
deutung hat: das Recht geht so weit, als die Macht reicht! Aber
in der Luftschicht? Soll man dem unten liegenden Staat zum Ge-
horsam verpflichtet sein usque ad coelum! Darüber werden die
Juristen streiten und natürlich alles unerledigt lassen.
Hingegen müssen wenigstens die drängendsten Fragen des
praktischen Lebens irgendeine Erledigung in der Gesetzgebung
und in der Rechtswissenschaft finden. Inwieweit ist der Konstruk-
teur verantwortlich für nachlässig gebaute Maschinen und daraus
fließendes Unglück, der Flieger für angerichteten Schaden? Und
sollen diese Fragen national oder international geregelt werden?
Vorläufig wird das alles noch „von Fall zu Fall“ erledigt, der „Zu-
stand“ ist noch nicht da, dem die Rechtswissenschaft „beschreibend“
zu folgen hätte. Dringender ist das Militärrecht! Die Notwendig-
keit fester internationaler Abmachungen für den Gebrauch der neuen
Erfindung als Waffe im Krieg springt in die Augen. Im öster-
reichischen Parlament hat ein Abgeordneter jüngst beantragt, es
sei das Werfen von Explosivstoffen aus der Luft überhaupt zu
verbieten. Darauf würden die Italiener jedenfalls nicht eingehen.
Gar die Franzosen! Ein französischer Offizier hat unlängst
den Bürgermut gefunden, dem jetzigen nicht unbedenklichen
Flugmaschinen-Taumel mit der Erinnerung entgegenzutreten, daß
man ähnliches auch schon erlebt habe, daß 1870 die Mi-
trailleusen und Chassepots nach Berlin hätten führen sollen, und
zwanzig Jahre später die Torpedos den sicheren Sieg im Seekrieg
verbürgen sollten, während man jetzt deren 360 in den französischen
Häfen habe, „die im Kriegsfall an einer Entscheidungsschlacht
nicht teilnehmen könnten“. Die Franzosen würden offenbar auf
keine Einschränkung im Gebrauch einer Erfindung eingehen, von
denen sie sich versprechen, was sie sich 1870 von den Mitrailleusen
verbürgen ließen... Im deutsch-französischen Krieg, beiläufig be-
merkt, hatte man schon eine internationale Aviatikerfrage. Als näm-
lich die Ballons aus Paris aufflogen erhob sich die Frage, ob die
Luftschiffer als Soldaten oder als Spione anzusehen seien. Trotz
Bismarcks Widerspruch wurde das erstere angenommen.
Für den praktischen Transport von Waren und für den Trans-
port von Touristen ist es bis jetzt zu keiner wesentlichen Ver-
wendung gekommen. Ein Versuch, eine Luftpost in England ein-
zurichten, wurde schnell wieder aufgegeben. Auch von dem Plan
der französischen Regierung, schwierige Punkte in der Sahara
—— — u
240 Dr. E. Benedikt:
und in Madagaskar durch Aviatik zu verbinden, ist es wieder
still geworden. Das liegt an der Unvollkommenheit und dem teuren
Preis der Maschinen. Aber berufene Fachmänner verkünden uns,
daß wir binnen einem Jahrfünft Maschinen von 2000 bis 5000
Mark haben werden, die sogar sicherer sein werden als die jetzigen,
weil sie nicht auf das Dahinrasen durch die Lüfte berechnet sein
werden, sondern auf wirklichen Menschen- und Warenverkehr mit
leichteren Motoren. Sollte es so kommen und noch gar eine Er-
findung gemacht werden, welche die Stabilität verbürgen würde,
so wäre alsdann ein ganz rapider Aufschwung, eine schnelle Aus-
breitung für den Menschen- und Warenverkehr sicher. Denn es
ist eben doch prinzipiell richtig, was Orville Wright sagt: ein
solcher Verkehr müßte schneller und namentlich billiger sein als
der auf ebener Erde! Denn die Flugmaschine braucht — abgesehen
vom Tagelohn für den Piloten — nur das bischen Benzin und
fährt viel schneller als Wagen, Automobil, Velo und selbst Eisen-
bahn. Auch cie Abnutzung müßte, verhältnismäßig wenigstens,
nicht größer sein. Luftkutschen, die zehn Personen transportieren
können, sind seit Jahr und Tag gebaut und werden immer wieder
verbessert.
Es wäre aber für die allgemeine Volkswirtschaft ein Novum
von unberechenbarer Bedeutung, wenn zehn Zentner Waren wesent-
lich schneller und billiger transportiert werden könnten! Ich nehme
ein Beispiel. Man hat berechnet, daß der italienischen Volkswirt-
schaft jahraus jahrein etwa achtzig Millionen Lire verloren gehen,
weil die in jedem kleinsten Dörfchen der endlos langen Küste emsig
tätige Fischerbevölkerung das gewonnene Procukt nicht richtig ver-
werten kann, indem es an den im Norden — aber auch in Spanien —
schon längst eingeführten Vorrichtungen der Kälteindustrie für
Konservierung fehlt. Dann auch wegen Mangel an Verkehrs-
mitteln. Wenn man nun in einer halben Stunde vom Meeresufer
nach Rom, in einer Stunde von Ancona nach Florenz zehn Zentner
Fische mit einem einzigen Apparat transportieren könnte, und
dann auch in alle die kleinen Städtchen des Landes hinein, so käme
diese Fischerbevölkerung zu einem rechten Verdienst und das
italienische Volk zu einer starken Verbilligung und zugleich Ver-
besserung der Ernährung. Aber auch dort, wo die Einrichtungen
für die Konservierung musterhaft sind, sind sie doch nur ein Not-
behelf. Durch das Einsalzen, Einpökeln, Einräuchern wird das
zarte Fleisch doch geschädigt. Die Fische ganz frisch ins Land
hineinschicken zu können wäre offenbar ein Vorteil, und es könnte
der unermeßliche, noch kaum recht ausgenutzte Reichtum des Welt-
meeres an bester, phosphorhaltiger Nahrung erst recht für alle
|
Ein Jahrzehnt in der Aviatik. 241
nutzbar gemacht werden. Dann die Südfrüchte! Wie sind sie doch
meist ohne Frische, wenn sie im Norden zum Verkauf ausliegen!
Die Orangen z. B. müssen unreif gebrochen werden für die
Spedition nach dem Norden. Und mit den Trauben ist es nicht
anders. Es kann die völlige Ausreifung nicht abgewartet werden.
0
x
Lassen wir einmal — immerhin in den Grenzen der Vernunft
und kühler Überlegung — dem Aviatikeroptimismus ein wenig
die Zügel schießen. Nehmen wir einmal an, daß die Männer vom
Fach recht haben, die uns prophezeien, daß binnen einem Jahr-
fünft ganz billige Flugmaschinen zu haben sein werden, für 2000
bis 3000 Mark, Maschinen, die an sich schon sicherer wären als
die jetzigen, weil sie auf das Dahinrasen durch den Luftraum ver-
zichten und bloß das praktische Fliegen beabsichtigen. Statten wir
diese Maschine auch gleich mit dem automatischen Stabilisator aus,
der schon heute jeden Monat wenigstens einmal erfunden wird.
Dann würde binnen einem oder zwei Jahrzehnten die Voraus-
sagung Orville Wrights in Erfüllung gegangen sein, daß jedermann
seine Flugmaschine habe, wie heute jedermann ein Velo hat. Denn
die Konkurrenz würde die Preise aufs äußerste herabdrücken, wie
beim Velo, und andrerseits wäre die Nützlichkeit viel größer, denn
abgesehen von dem Umstand, daß man mit einer solchen Maschine
sozusagen gratis immer die herrlichsten Vergnügungsreisen machen
könnte, die heute jede Familie viel Geld kosten, so würde ein
solches Verkehrsmittel Unzähligen, die heute in die teuren Stadt-
wohnungen eingepfercht sind, das Ausfliegen aus der Stadt und
die Ansiedlung auf dem Lande erlauben. Nehmen wir dann ferner
an, daß dieser Apparat mit der Zeit das roh Mechanische abstreife,
daß mindestens die verwegene und bedenkliche Kraitiuhrwerkerei
in den Lüften mit dem Benzin und der Explosionsmaschine dahin-
gelallen sei, daß man den so lange gesuchten leichten elektrischen
Akkumulator endlich doch noch gefunden habe, und also mit der
Kraft statt mit dem Benzin in die Lüfte gehen könne. Oder, da
Wünsche als Gedanken Zollfreiheit genießen, nehmen wir lieber
kurz und gut gleich an, daß der Traum des Menschengeschlechts
in Erfüllung gegangen sei, den schon Leonardo da Vinci zu ver-
wirklichen suchte, und nach ihm in neuester Zeit der unglückliche
Ingenieur Lilienthal, daß man also ohne Motor überhaupt fliegen
könne, daß die Kraft der Arme und Beine, verbunden mit der
Kraft des Windes, zum Fliegen genügen, wie beim Segelflug des
Kondors eine bloße zweckmäßige „Einstellung“ des Vogels auf die
Luftbewegung genügt ihn fast ohne Flügelschlag stundenlang
242 Dr. E. Benedikt:
schwebend zu erhalten. Man hat ja freilich wissenschaftlich be-
rechnen zu können geglaubt, daß dies ein- für allemal unmöglich
sei. Aber das streichen wir jetzt vorläufig aus. Für die wissen-
schaftlichen Menschen ist Irren so menschlich wie für die andern,
und gerade hinsichtlich des Flugproblems haben sie sogar vom
allgemeinen Menschenrecht des sich Blamierendürfens reichlich Ge-
brauch gemacht. Genug, daß Männer wie die Gebrüder Wright,
die uns die erste brauchbare Flugmaschine geschenkt haben, uns
noch in der letzten Zeit eine solche Flugmaschine ohne Motor
positiv versprachen, ja in nahe Aussicht stellten. Es ist bekannt,
daß die Gebrüder Wright letztes Jahr sich wieder auf die ein-
samen Felder von Dayton zurückgezogen hatten, wo sie in aller
Heimlichkeit die erste Flugmaschine ausprobierten zu Anfang des
Jahrhunderts, und daß sie dort Versuche machten mit einem Flug—
apparat ohne Motor und ohne Schraube. Nach ihren Erklärungen
haben sie bereits einen solchen Apparat, der soviel vorläufig leistet,
daß sie neun Minuten und fünfundvierzig Sekunden damit „ganz
trefflich“ haben fliegen können. Die „Times“ und nach ihr andere
Blätter, hat auch die Zeichnung des Apparats gebracht, der in
Gegenwart vieler amerikanischer Journalisten probiert wurde bei
einem so starken Wind, daß die Zuschauer sich niederlegen mußten,
um besser beobachten zu können. Der Apparat erhob sich wie
ein Adler und blieb mehrere Minuten ganz unbeweglich in der
kolossalen Luftströmung, um dann ruhig niederzufliegen. Die Er-
finder versicherten den von dem erstaunlichen Schauspiel begeisterten
Journalisten, daß sie gute Hoffnung haben das Problem des
Fliegens völlig lösen zu können mit einem nach ganz neuen Grund-
sätzen gebauten Apparat.
Es ist klar, daß bei einer solchen Entwicklung das Fliegen
nahezu allen andern Sport rein aufzehren würde! Wer würde noch
Lust haben radelnd oder automobilfahrend den Staub der Land-
straße zu schlucken, wenn er wie ein antiker Gott durch die Lüfte
sausen könnte! Oder wer würde seine Körperkräfte und seinen
Spieltrieb verzetteln wollen in der Fußlümmelei des Football, in
dem kindischen Golf oder Criquet und in den zwanzig andern
nutzlosen, rein spielerischen Ubungen des Tätigkeitstriebes, wenn
eine Leibesübung da wäre, ja sich als soziale Notwendigkeit einem
jeden aufdrängen würde, die alle Kräfte des Körpers, Muskelstärke,
Gewandtheit der Arm- und Beinbewegung, Sicherheit des Auges
und darüber hinaus die moralischen Potenzen, Mut, Willensstärke,
Selbstbeherrschung, Entschlußfähigkeit in einer vernünftigen und
zugleich höchst genußreichen Betätigung vereinigen könnte? Wer
würde Lust haben, auf dem Turnplatz eine abstrakte Bauchwelle
Ein Jahrzehnt in der Aviatik. 243
zu schlagen, bloß weil die Schulmeister sich das so ausdachten
und die Griechen auch geturnt haben, wenn er seinen Körper sinn-
voll, nützlich und genußreich zugleich üben könnte? Oder den
Montblanc hinaufpendeln, wenn man hinauffliegen kann! Nicht
nur der subalterne Sport, sondern auch der größte Teil unseres
Turnens würde ohne weiteres absorbiert. Es wäre geradezu ein
neues und ideales Können des Menschen, das alle zu einem ge-
meinsamen Tun vereinigen und doch einem jeden die größte Frei-
heit, vom rein praktischen Dilettantismus bis zur höchsten Virtuosi-
tät, als ein wahres Göttergeschenk darbieten würde.
Es gibt einen ästhetischen Rausch der Leibesbetätigung, der
Neger hat ihn, wenn er stundenlang dem Tanze sich hingibt, die
Schwalbe stellt ihn dar, wenn sie des Abends „tollt“ und sich im
immer neuen entzückten Dahinschweben nicht genug tun kann.
Dem modernen Menschen ist dies fast abhanden gekommen! Denn
auch unser Tanzen, selbst wenn es durch die Musik gesteigert und
in eine höhere Sphäre transponiert ist, gibt nur einen schwachen
Abglanz! Denn unser Tanz steht nicht auf dem reinen Natıwboden
sondern ist, wie das Turnen, intellektuell zurechtgezirkelt. Und
dann ist es gesellschaftlich und „sittlich“. Das genügt! Sittlich
statt dionysisch! Sapienti sat!
Doch genug der Zukunftsmusik! Die wenigen Jahre des neuen
Jahrhunderts haben uns — neben anderm — dieses Erstaunlichste
schon geschenkt: daß der Mensch fliegen kann. Was die Jahr-
tausende ersehnt, wir greifen es mit Händen. Es ist kaum zu
fassen! Auch das Reich der Lüfte hat der Mensch schließlich er-
obert, auch dem Vogel hat er seine Kunst abgelistet und einen
neuen, grandiosen Kommentar gestellt zu dem ewigen Ausspruch
des Sophocles: „Vieles Mächtige lebt auf Erden, doch nichts ist
mächtiger als der Mensch!“ Es ist ein Anfang, dem Strampeln
des Kindes vergleichbar bei den ersten Gehversuchen. Aber die
prinzipielle Möglichkeit ist bewiesen durch die Tat, und das Ziel
ist zu verführerisch schön, als daß der Mensch sich Ruhe geben
könnte, bis die letzte Vollendung erreicht ist.
244
Otto Flake: Disharmonien.
1. Die kleine Engländerin.
ie Pariser Zeitungen bringen folgenden Bericht: „Ein junges Mädchen
von 17 Jahren, blond, hübsch, ganz in einen großen, grauen Mantel
eingehüllt, wurde gestern in der Rue de Constantinople angetrofien,
wie sie heiße Tränen weinte. Aufs Kommissariat des Invalides geführt,
weigerte sie sich, sowohl den Grund ihres Kummers als auch ihren Namen
und ihre Adresse anzugeben. Die Kleider trugen die Marke eines englischen
Magazins. Sie wurde auf die Permanence du dépôt gebracht, man stellt Nach-
forschungen an, wer sie sein kann.“
Obwohl ich die Notiz zur Seite legte, ließ sie mich kalt; denn wohin
(erstens) käme man, wenn man sich bei Dingen aufhielte, die so alltäglich
sind? Wie sentimental ist es (zweitens), mitleidig bei dem kleinen, wenn sicher
auch schweren Herzenskummer eines Mädchens zu verweilen, wo niemand
mehr dem anderen in der Großstadt Mitgefühl entgegenbringt und jeder mit
sich selber genug zu tun hat? Wie unwichtig ist es (drittens), daß ein
Mädchen bittere Tränen weint, weil es von einem eleganten Pariser Schwätzer
verführt und sitzen gelassen worden ist — in einem halben Jahre wird sie
sich getröstet haben und finden, daß das Erlebnis gar nicht so schlimm war,
weil Erlebnisse, auch wenn man sie nicht alle zuletzt segnet, immer not-
wendig waren.
Und doch, eine Woche später passierte es mir, daß ich mitten in der
Nacht aufwachte und an etwas dachte, dem ich gewiß keinen Gedanken
während der ganzen Zeit geschenkt hatte, an die kleine arme Engländerin.
Es ist nicht das erste Mal, daß ich so aufwache und nachträglich da-
durch, daß ich mir in der Dunkelheit der Nacht Rechenschaft über sie gebe,
Versäumnisse gutmache, die die Hast des Tages verschuldet hat. Die Nacht
ist die Wiederkehr des Ewigen und die Hemmnisse sind weggefallen. Auch gut
sein ist ein Ewiges, und die Seele hilft sich selbst und stellt ein Gleichgewicht
wieder her, wie die Natur sich selbst hilft und notwendigen Funktionen des
Moralischen wieder zu ihrem Rechte verschafft. Aber was das Bedenkliche
ist: warum ist man der Güte nur noch durch Rückschläge fähıg? Warum be-
stimmt es einen nicht mehr immer, unaufhörlich? Warum ist man so, wie
hier in dieser Weltstadt voller Vergangenheit und Vererbungen alle Menschen
sind: gleichgültig, egoistisch, unbereitwillig ?
Wenn ich in diesem Zwiespalt nicht schon bewandert wäre, hätte ich
mich am nächsten Morgen mit der Überzeugung erhoben, diese kleine Er-
schütterung bedeute eine Wendung, einen Durchbruch ursprünglicher Natur,
eine Mahnung: ich hätte mich in diese neue Herzensregung vertieft und sie
vielleicht zu einem jener Ausgangspunkte gemacht, die die großen Bekehrungen,
die großen Erlebnisse der Demut, der Hingabe, der Selbstentäußerung und
der Religiosität einleiten. Ich sehe wohl den ungeheuren Weg, der hier ge-
gangen werden könnte und in ferne Ebenen der Erkenntnis führt, aber ich
schwanke keinen Augenblick, daß ich ihn nicht beschreiten werde, weil ich
weiß, daß ich ihn wieder zurückgehen würde, denn auch er führt, statt in das
Leben hinein, nur aus ihm fort, zum mindesten führt auch er nicht in den
Mittelpunkt des Lebens.
Kein Weg, der je begangen ist und je begangen wird, führt in den
Mittelpunkt des Lebens.
Disharmonien. 245
Alle führen nur in ein einzelnes Gebiet, wie man in der Großstadt: nur
in einem Viertel wolınen kann, und verlangen, daß man sich in ihm häus-
lich niederlasse. Ich weiß, dort in dem neuen Land würde ich Heimweh be-
kommen nach der Kühle, ja der Kälte, nach der Hartherzigkeit, mit der man
mitten in dem rücksichtslosen Kampfe, der sich um einen abspielt, alle Ge-
fühle, alles Leid und alle Freude der anderen betrachtet.
Keiner dieser beiden Standpunkte ist das Ganze, aber jeder ist die Er-
gänzung des anderen, und ist es Zerrissenheit, wenn man klar genug sieht,
um keinen entbehren zu wollen? Doch ich weiß auch, dieser Wunsch, zwei
Gegensätze zu umfassen, ist nur im Gedanken oder auf dem Papier Lösung
und Ausweg. In der Wirklichkeit ensteht in der Tat etwas wie Zerrissenheit.
Wer hat die Formel, wie man aus Hingabe und Ablehnung, aus Liebe und
Mißachtung eine organische Einheit gewinnen kann? Ich habe noch immer
gefunden, daß die Menschen von Natur aus oder durch Entschluß sich dem
einen Extrem zugewandt haben, daß selbst die Harmonischsten Perioden er-
lebt haben, in denen sie ihrer Auffassung müde und überdrüssig geworden
waren, daß der Beste oder der Schlimmste vor ein Erlebnis gestellt worden
ist, in dem er sich für das Extrem entscheiden mußte, daß die Kurve eines
jeden Lebens noch immer ein Auf und Ab gewesen ist.
Die gepriesensten Auswege sind problematisch, die konsequentesten
Naturen zersetzen sich. Flaubert war ein gütiger Mensch und haßte doch
den Bürger, den er niederträchtig und schmutzig nannte; sein Ausweg, nur
dem Gedanken zu leben und auf alle Betätigungen zu verzichten, ist eine Flucht,
denn was wäre aus dem Verfasser von „Bouvard und Pécuchet“, diesem Buche
trostlosen Jammers über das Suchen und Wollen der Menschheit, geworden,
wenn er in Paris und den Tagesereignissen hätte leben müssen? Er wäre
zermalmt worden: das ist die Unfreiheit, die auch bei Flaubert wohl erschließ-
bar ist. Und machte nicht Maupassant, der bittere, illusionslose Menschen-
verächter, eine Wandlung, die doch so unerfreulich ist und nicht einmal ver-
gessen läßt, daß in ihm ein Gran zuviel eines brutalen, ja rohen Zynismus,
einer Unfähigkeit gelten zu lassen, vorhanden gewesen war?
Ist nicht in jeder Liebesgeschichte, in jeder Lösung eines Verhältnisses,
in jedem Auseinandergehen, in jeder Selbstbesinnung ein letzter Kern von
Egoismus? Es ist Gemeinheit, Gewöhnlichkeit, eine niederziehende und für
immer vergiftende Lebensgier und Materialität darin. Glauben wir doch
nicht, daß die großen und verzweiflungsvollen Symbolisierungen, die die
Menschheit für diesen Zwiespalt gefunden hat — religiöse Inbrunst und Selbst-
entäußerung einerseits, brutale Vergewaltigung der Menschenrechte durch
Krieg, Sklaverei, Despotismus und Mißachtung jeder fremden Existenz anderer-
seits — jemals überlebt sein könnten. Wir greifen nicht mehr so derb und
deutlich auf sie zurück, weil wir eingesehen haben, daß auch sie versagen,
aber die Disharmonie der Instinkte bleibt ewig bestehen.
Es ist schon so: über jede Aufklärung triumphiert zuletzt ein erkennender
Bkeptizismus.
2. Die Tote.
Als sie über die Brücke gingen, sahen sie unten am Ufer Menschen
einen Kreis um einen Körper schließen, der auf dem gemauerten Bett der
Seine lag.
Es war eine tote Frau, die man eben aus dem Wasser gezogen und
auf den Bauch gelegt hatte. Der Rock, unter dem sie nichts mehr trug, war
—5—i—
246 Otto Flake:
schamlos bis zu den Hüften zurückgeschlagen. Das Wasser hatte die Beine
aufgequollen, und sie war wie eine riesenhafte Statue, die man herabgenommen
und umgelegt hat, sie war gigantisch und voll Majestät. Die Schenkel waren
grün angelaufen, aber von da oben sah es nur wie eine Patina aus, die
Patina des Todes.
Es dauerte lange Zeit, bis einer der Agenten kam, deren Amt es ist,
eine Leiche in die Morgue schaffen zu lassen; er betrachtete sie mit derselben
Gleichgültigkeit wie die Umstehenden, dann schob er mit seinem Stiefel den
Rock über die Beine der Toten zurück.
Sie gingen nach Hause und wandten sich jeder dem zu, was seine
Arbeit war. Keiner hatte ein Wort über die Tote gesagt, und so taten sie _
auch weiterhin, als dächten sie nicht an sie. Aber am Abend, nachdem sie
sich schweigend lange gegenübergesessen hatten, kam es heraus, daß sie beide
voll von ihr waren.
Sie waren ein junges Paar, das sich noch nicht lange gefunden hatte,
und ihr Gefühl hatte noch nicht den Punkt der Sättigung erreicht. Sie waren
sich noch neu, und die Liebe war vor allem dem Mädchen neu, das noch
nichts von den Herzensgeschichten anderer wußte und nur fand, sein Gefühl
sei unerschöpflich und groß. Und doch war es nun, weil sie fünf Minuten
auf den Leichnam einer Frau hinabgeschaut hatte, nicht anders, als sei,
durch ihre oder des Geliebten Schuld, der erste Atem eines jener Stürme
über sie hinweggegangen, die die Herzen austrocknen und bewirken, daß
zwei Menschen sich voneinander wie Bretter lösen, aus denen man die
Nägel gezogen hat.
Sie war in einem jungen und glühenden, in einem mänadenhaften Da-
hinstürzen plötzlich angehalten worden, und dieses heftige Stehenbleiben er-
schütterte und machte elend. Sie sah, daß der Körper verwest, und sie, die
sich in ihrer Liebe so tief als Körper fühlte, wurde von einem Ekel ergriffen.
Alles, was zur großen Materialität gehört, war schmutzig und nieder-
ziehend: Essen, Verdauen, Sichnähren, Säfte haben, und nun — nun gehörte
auch Sichlieben dazu. Sie lehnte sich gegen ihren Körper auf, sie suchte
sich von ihm freizumachen und sah, daß sie in ihn eingeschlossen war.
Nie hatte sie sich klar gemacht, warum sie für einen Augenblick gleich-
sam die Augen hatte schließen müssen, so oft sie sich hingab; nun ahnte sie,
daß sie sich über einen Punkt hatte hinwegsetzen müssen, der ein Herab-
schreiten bedeutete, ein Herabschreiten zur Lust; sie ahnte, daß alle Lust eine
Lüge enthält, weil man glaubt, sich um eines anderen willen zu überlassen,
und sie doch um seiner selbst willen sucht.
Und seltsam mischte sich eine andere Empfindung hinein: ein Respekt
vor der Toten und eine Billigung, daß sie den Tod gesucht hatte. Vielleicht
war sie im Leben nur eine elende Kreatur voller Schwäche und Feigheit ge-
wesen, aber daß sie dann zuletzt sich ausgelöscht, hob alles Schlimme auf.
Nicht weil sie sich nicht mehr verteidigen konnte, gewann sie Achtung,
sondern weil sie sich befreit hatte, indem sie — schien es dem Mädchen —
jeden Widerstand gegen die Materialität aufgab, hinging und zu einer ver-
wesenden und fürchterlichen Masse wurde. Aber wenn in den Tod gehen
groß war, dann mußte auch am Ende alles Lebens Qual und Überdruß stehen?
Ein Grauen erfaßte sie, ihr Blick wandte sich der Ferne des eigenen
Schicksals zu und wandte sich hilflos zurück zu dem, der ihr doch noch
gegenübersaß, dem Geliebten. Und der bemerkte, daß etwas Feindseliges in
ihre Augen kam, eine kalte und verzweifelte Prüfung.
Disharmonien. 247
Er stand auf und legte den Arm um sie. Die ganze Nacht hielt er sie
im Arme und suchte sie fühlen zu lassen, was er fühlte — daß es vor den
großen Mächten, die keine guten Götter, sondern finstere und alte Gottheiten
der Materie sind, nur eine Rettung gibt: sich zusammentun und, zwei arme
Kinder, einander mit einem demütigen Trotz in den Arnıen halten, nicht
weiterschweifen, sondern ineinander ausruhen und sich helfen, ein Bruder
und eine kleine Schwester.
3. Ein verlorenes Idyll.
Wenn der Abend sich auf die Stadt senkt und der Himmel unsichtbar
wird, als schlösse er wie ein Laden zur Feierabendstunde seine Fenster, ver-
lasse ich mein Zimmer und streife durch die Volksquartiere des Temple und
der Bastille.
Eine Zeitlang verlockten mich die vornehmen Viertel hinter der Oper,
aber sie sind nur elegant und langweilig. Das Leben zieht sich in ihnen
schon hinter die Häuser zurück, in ihnen werde ich nicht mehr an die große
Materialität des Daseins erinnert, nicht an die Arbeit und den Unterhalt,
nicht an den harten Zwang des Tages. |
In den Volksquartieren sind Haus neben Haus Läden. Die Läden
sind eng, manchmal so eng, daß man sich nicht in ihnen umdrehen kann,
denn sie sind nur ein Verschlag in einem Hausgang, ein abgezwungenes
Winkelchen einer Straßenecke, in dem eine Frau, in ihren Schal vermummt,
auf einem Schemelchen sitzt und den Kartoffeln die Augen aussticht, um sie
in einem riechenden Fett zu braten und dann für einen Sous in einem
Zeitungsfetzen an einen hungrigen Lehrbuben, einen rußigen Arbeiter zu ver-
kaufen. Im Fleischerladen steht der Mann und hackt die Knochen ausein-
ander, und sein Weib sitzt im Kontor und läßt prüfend die Geldstücke auf
der Marmorplatte klingen. In den Bäckerläden stehen an allen vier Wänden
ganz lange und ganz schmale Brote in Reih und Glied; in einer Garküche
flammt ein mächtiges Feuer und sieben Hühner zischen an einem Spieß; in
den Charcuterien ringeln sich Bratwürste wie gefleckte Schlangen auf einem
runden Weidendeckel; in einer muffigen Bude steht ein alter Jude und bietet
alles feil, was Menschen gebraucht haben; in einem Bücherverschlag verkauft
ein Bursche Kolportagehefte, die schon durch zehn Hände gegangen sind.
Alle Läden gehen bis auf den Bürgersteig hinaus; der Fleischstücke,
der Grünwaren, der getrockneten Fische, die aus Island kommen, der Käse,
der Stiefel, der Tuchreste sind gigantisch viele und es ist wie im Schlaraffen-
land, nur mit dem Unterschied, daß für einen Armen nicht ein Bröselchen
abfällt.
Die Menschen hasten. Sie fahren in Kutschen, in Omnibussen, in
Dampfwagen, auf Rädern und Karren; wenn man stehen bleibt, zittert der
Boden den die Untergrundbahnen durchrasen. Jämmerliche Mütter tragen
halbtote und kranke Kinder auf den Armen; die Kokotten schreiten gc-
schminkt, wiegend und &beutelüstern aus den Seitengassen in die Lichter des
Fahrdamms; ein Stelzfuß späht lange Zeit aus, um die Straße überschreiten
zu können; der Agent dirigiert mit dem weißen Stab den Verkehr, der sich
verfilzt und unentwirrbar erscheint. Viele Gesichter sind gemein, gereizt und
abgespannt, es ist keine Freude in ihnen und das Leben ist hart. Aber einige
tragen doch Züge, die von Ernst und Menschlichkeit sprechen, und allen
diesen Leuten gebührt Achtung, denn sie arbeiten. .
248 Richard Strauß’ Vollendung.
Vor einer kleinen Druckerei bleibe ich stehen und sehe zu, wie Visiten-
karten und Geschäftsempfehlungen gedruckt werden. Eine saubere, intelligente
Maschine, die auch ich verstehe, hat drei Walzen, die über eine Farbfläche
laufen und die Druckfläche befeuchten; diese senkt sich nach vorne und
schmiegt sich mit einem sanften Druck für eine Sekunde an ein weißes Stück
Papier, dann tritt sie zurück, und das Papier ist mit schwarzen Zeilen be-
deckt. Ein junger Bursche steht vor der Maschine und bedient sie. Es ist
in seiner Haltung etwas, das mich rührt. Es läßt sich schwer beschreiben,
es ist etwas Ruhiges und Würdiges, und die Würde ist nicht streng — es
ist die richtige Haltung, die man bei der Arbeit haben muß. Die Arbeit gibt
ihm selber Brot und dem, der sie bestellt hat, Nutzen. Es ist eine Auffassung,
die nicht mehr in die Weltstadt paßt; die Weltstadt hat das Persönliche auf-
gehoben und kennt nur noch die Bestellung, die durch viele Hände geht: sie
macht unlustig.
Er macht eine Wendung, und ich sehe auch sein Gesicht; es ist sanft
und trotzig. Der Bursche erinnert an einen jungen Meister, wie sie in ver-
gangenen Jahrhunderten in einer deutschen Reichsstadt lebten und bei der
Arbeit vor dem Amboß, dem Leisten sich mit einem bescheidenen Selbst-
gefühl der festen Grenzen ihres Lebensbezirkes bewußt waren. Gewiß sahen
so die Drucker der Humanistenzeit aus, die wohl fühlten, daß sie mit ihren
geschwärzten Händen Wissen in die Welt trugen. Aber heute ist das nur
ein verlorener Posten.
Richard Strauß’ Vollendung.
er Tonkünstler Richard Strauß hat es auf eine fast verhängnisvolle
Weise gut gehabt bei seinem Eintritt in die Welt. Ein Unmaß
höchsten Zutrauens zu seiner musikalischen Sendung wurde ihm,
dem genial Begabten, entgegengetragen, als er anfing sich künstlerisch aus
sich herauszusetzen; und weiterhin wurde die Fortentwicklung der Tonkunst
und ihrer Möglichkeiten bestimmt und festgelegt je nach den Richtungen, die
seine Wege nahmen. Nach den ersten Werken für die Bühne („Guntram“
und „Feuersnot“) meinte man das Ziel klar zu sehen: der Schritt über
Richard Wagner hinaus mit Richard Wagners eigenen Mitteln war getan;
die Welt erlöst von dem lähmenden Gefühl des Zuendegekommenseins mit
einer Kunstform, von der man sich große Entwicklungen versprochen hatte..
Aber Richard Strauß kehrte sich ab vom Dramatischen und der Symphonie
zu und alsobald wurde ein Programm und eine Ästhetik auf diesen
Wechsel aufgebaut. Es wurde auseinandergelegt, daß der echte Tonkünstler
sich nicht mehr mit dem Wort der Bühne verbinden, daß er die Mög-
lichkeit freien Gestaltens durch die Musik nur aus dem unsichtbaren dichte-
rischen Gedanken empfangen könne. Doch blieb es in den symphonischen
Werken Straußens nicht bei dieser Unsichtbarkeit; mächtig trat das Programm
in den Vordergrund.... Dann wieder eine Wendung, die das Bisherige
verwarf; Schlag auf Schlag: Salome, Elektra, Rosenkavalier und jetzt die
Ariadne auf Naxos.
Heute vermögen wir rückschauend die Wege zu übersehen, die Richard
Strauß in der Tonkunst gegangen ist; es liegen keine Unklarheiten und
Richard Strauß’ Vollendung. 249
keine Nebel mehr über ihnen. Das waren nicht Wege, auf denen es
galt, in starkem Ringen das Kunstwerk aus sich heraus zu gestalten — es
waren helle Straßen, die einer dahinschritt, der ein reiches Erbe, einen großen
Schatz von Fähigkeiten und Gaben in der Sonne glänzen ließ. In einem
noch besonderen Sinne ist die Kunst diesem Tondichter ein Spiel. Richard
Strauß ist ein so leicht und sicher Schaffender, ein so unfehlbar Sicherer in
allen Fragen des Geschmackes und des Stiles, daß er niemals nötig gehabt
hat, langsam etwas zu einer Reife des Ausdrucks kommen zu lassen. Seine
Musik wächst nicht schwer und stark aus tief in den Untergründen ruhenden
Wurzeln in die Höhe — sie gleicht einem reichen Rankengewächs, das mit
der leuchtenden Uppigkeit seiner Blüten den Stein so dicht überkleidet, daß
er mit ihm eins geworden zu sein schein. Aber das ist kein innerliches
Einssein; sehr leicht vermag man das kunstvolle Tongebilde wie eine Decke
abzulösen. Diesen Komponisten — das ist das sehr Merkwürdige — drängt
es zu engem stofflichen Anschluß und doch bleibt er dem Stoff gegenüber
immer der reine Musiker, der darin nur einen Spielball sieht. Stünde
dieser starken und reichen Begabung des Ausdruckes eine ebenbürtige ton-
dichterische gegenüber, so würden Wunder der absoluten Musik hervor-
gehen und wir hätten dann mit Richard Strauß den großen Schritt aus dem
Epigonentum heraus getan. Aber nun ist er einer, dem die letzte Kraft fehlt,
um das frei aus sich herausrollende Rad zu sein; er bedarf der Anstöße so-
wohl wie der Stützen und nicht immer ist er wählerisch, wo er sie her-
nimmt. f
Sein Bühnenwerk steht im Gegensatz zu deni tiefsten Ideal wahrhafter
musikalischer Dramatik (mögen wir diese nun bei Wagner oder bei Mozart
aufsuchen): daß die Musik uns mehr sagt als die Handlung und mithin
um so stärker wird, je innerlicher und andeutender die Vorgänge werden.
Bei Richard Strauß wird die Musik um so interessanter und beredter,
je erschöpfender es auf der Szene hergeht. Dieser intellektuellste aller Ton-
künstler von Gottes Gnaden hat nicht das Musikalische schlechthin zum Ziel,
sondern das äußerliche musikalische Problem. Das Entlegene und scheinbar
Unvereinbare ineinander zu wirren und wieder zu entwirren ist den Fähig-
keiten dieses Schaffenden gerade das Rechte. Dieses Prinzip war die Will-
kür und der Reiz in seinen symphonischen Werken und jetzt hat es sich in
der Ariadne auf Naxos gleichsam selbst ein synibolisches Denkmal gesetzt.
Der Künstler, der die eigene Kunst nicht mehr ernst nimmt!..... Wäre es
der Fall, wäre die Ariadnemusik, die echter Strauß ist (wenn auch mehr
als sonst das stark Gefällige und leise Banale seiner Melodik in ihr hervor-
tritt), dem Tondichter aus dem Herzen geflossen, so würde der Ariadneakt
über die Stilkunst des Tanzspieles den Sieg davongetragen haben missen.
So aber blieb es hier bei einem leeren Pathos und einiger Sentimentalität;
die Musik reicht künstlerisch nicht entfernt an die vorhergegangenen archai-
sierenden und pantomimischen Teile heran. Auch während dieser ernsten
und tiefen Handlung wurde die Lustspielstimmung nur ganz vorübergehend
aufgehoben; wir waren und blieben Mitgäste des Molièreschen Herrn Jourdain
und wir wurden durch diesen Umstand und was damit zusammenhing in
gehörigem Abstand von der Empfindungswelt der Ariadnedichtung gehalten,
in der Hofmannsthal so viel auf Musik Wartendes gegeben hat. Es war, als
sagte der Komponist zu uns: in Wahrheit habe ich mit diesem Teil so wenig
wie mit den früheren zu tun.
Eines ist dabei erreicht: das komplizierte Verhältnis der Moliereschen
Komödie mit dem Ariadneakt und einer witzigen musikalischen Harlekinade
250 Politische Rundschau.
ist als Einheit gerettet. Richard Strauß hat mit diesem Werk das geist-
vollste Stück seines Schaffens gegeben und als Künstler des Stiles seinen
Höhepunkt erreicht. Immer plastischer arbeitet sich seine Physiognomie
nach dieser Seite hin aus. Vielerlei Stile beherrschen, vielerlei Töne
treffen können — dazu gehört die Voraussetzung, daß man mehr ein
Vielseitiger als ein Einseitiger, mehr ein Differenzierter als ein Ganzer ist.
Auch daß man kühlen Herzens fernesteht und seine Puppen tanzen läßt...
Grade hierin ist Richard Strauß der Typus der Kunst unserer gegenwärtigsten
Zeit und immer wieder blickt diese Zeit mit einem Interesse sondergleichen zu
ihm hin wie zu ihrem Spiegel. Um dessenwillen aber, weil er dieser Typus
ist und in seiner Entwicklung immer mehr und mehr die Zeitgemäßheit her-
vortritt, wird es schwer, die Hoffnung es könne uns das Kunstwerk der
Zeit von ihm kommen, noch festzuhalten.
Ä S. D. Gallwitz.
Politische Rundschau.
in Monat ungewöhnlicher Spannungen und Ereignisse liegt hinter
i uns.
Vor der Größe weltgeschichtlichen Geschehens treten Ereignisse
in den Hintergrund, die sonst das Interesse der politischen Welt auf lange
hinaus in Spannung gehalten hätten. Vor seinem Ablauf ist der Dreibund
überraschend erneuert worden. Damit sind alle Versuche, Italien von seinen
Verbündeten abzuziehen, die von Barrère so geschickt geleitet wurden, ge-
scheitert und erledigt.
Das Mittelmeerproblem hat dadurch eine bedeutsame Klärung erfahren,
Italien ist eine selbständige Macht geblieben, ist nicht in den britischen
Mittelmeerkonzern getreten. Wiederum hat sich erwiesen, daß das künstliche
Gespinst der von England gewobenen Ententen schwächer ıst als das reale
und heute auch real erfaßte Interesse der europäischen Mächte.
Italien erkannte, daß es vor allem den russischen Treibereien auf dem
Balkan sich entgegenstemmen müsse, um die Freiheit des Adriatischen Meeres
zu erhalten. Die Straße von Otranto, an der sich das Adriatische vom Mittel-
meer trennt, mißt von Valona herüber, wo die Griechen sich eben häuslich
niedergelassen haben, 65 Kilometer!
Italien hat eine schlechte Ostküste, während die Westküste des Kon-
tinents von Dalmatien bis hinunter nach Griechenland Hafenplätze die Menge
bietet; vortrefflich in den Händen englischer und russischer Vasallenstaaten!
Hier lag auf einmal ein gemeinsames greifbares Interesse Italiens und Öster-
reichs, stark unterstrichen durch die nahen Beziehungen des italienischen
Stammes zu den Nachbaren über See, den Albanern, und die lebhafte Be-
sorgnis der österreich- ungarischen Monarchie, durch ein Großserbentum den
künstlichen Verband seiner Staaten und Völker gesprengt zu sehen und durch dies
plötzlich wieder in die Tageshelle der Geschichte tretende Volk im Süden be-
droht zu werden, mehr noch durch diese kleine, aber ehrgeizige Macht vom
übrigen Balkan und dem Handelswege nach Saloniki abgeriegelt zu werden.
Ein großer Fehler der österreichischen Politik, dessen Tragweite aller-
dings wohl weder Freund noch Feind damals im vollen Umfange geahnt
haben, tritt zu Tage: die Räumung des Sandschaks Novibazar in den Tagen
Politische Rundschau. 31
der bosnischen Krise. Eine kleine Schwäche, aus der wie immer ein großer
Nachteil erwachsen ist.
Wir haben den Dreibund nicht nur erneuert, wir haben ihn, was kaum
bemerkt wurde, sehr erheblich erweitert. Nur ein von Rußland angegriffenes
Österreich hat Anspruch auf unsere Hilfe. Wenn aber Österreich gegen
Serbien offensiv werden und dadurch den Angriff Rußlands sich zuziehen
sollte, dann ist es wohl militärisch, aber nicht mehr im Sinne des Völker-
rechts der angegriffene Teil. Unsere Option aber war richtig. Die größte
Sorge, und zwar gerade um den Frieden im Augenblick, mehr noch um die
Zukunft unserer Politik bestand darin, daß wir Österreich nicht hielten und
es mit zweifelloser Konsequenz erlebt hätten, daß es von uns abgezogen
und in die Ententegruppe hinübergezogen wurde — dann hätte Grey wie
Kaunitz vor dem siebenjährigen Krieg jubeln können, daß er uns nun so
viele Mächte über den Hals gezogen und uns so isoliert hätte, daß wir zu-
sammenbrechen müßten, wie einst das Reich Henrici leonis.
Wir sind mit heiler Haut aus der Affäre herausgekommen und haben
die Front des Dreibundes erhalten, das ist alles, der Bereitschaft zum Fechten
haben wir die Erhaltung des Friedens zu danken. Zum Jubel liegt kein
Grund vor. |
Nur um eine große Erfahrung sind wir reicher.
Wenn die seit mehr als einem Jahrzehnt gegen uns betriebene englische
Politik einen Sinn hatte, so doch nur den, uns im Schraubstock zwischen
Rußland und Frankreich festzuklemmen, um in der Nordsee der englischen
Seepolitik eine neue Auflage zu geben und wie früher die spanische, nieder-
ländische, dänische und französische, heute die stahlgraue deutsche Flotte mit
der für englische Angriffe erforderlichen Übermacht zu zermalmen.
Anfang November mußte der Krieg gewiß scheinen. Rußland, das
1906, 1808 und 1911 unschlüssige und zaudernde, hatte nun einmal einen
Grund zum Kampf, sein Herrenrecht auf dem Balkan zu wahren und seinen
Balkanrivalen Österreich zu werfen. Frankreich, im Fieber wegen seiner
fraglosen Erfolge in der Aviatik und — die deutsche Nordseeküste im
strategischen Ausbau und Umbau, Helgoland so angreifbar wie in Jahren
nicht!
In diesem Augenblick wird Mr. Grey zum Hamlet und verliert die
Farbe der Entschließung.
Vor aller Welt liegt offen zu Tage, daß der Triple-Entente die
Aktionskraft fehlt, ohne die sie nichts ist. Für diesen Wandel gibt es keine
andere Erklärung, als die des Versagens des Willens der Durchführung der
antideutschen Politik Englands, — ein großer Aufwand schmählich ist vertan.
Jetzt ist es Zeit, in allen internationalen Kaffeekränzchen den Sieg des
Friedensgedankens, die machtvolle Kundgebung des internationalen Prole-
tariats in Basel zu feiern und mit diesen Künsten der politischen Astrologie
Zusammenhänge außerhalb von Ursache und Wirkung zu finden.
Unter uns gesagt, die internationale Sozialdemokratie hat nur ihre ab-
solute Machtlosigkeit bewiesen, soweit ihre Führer nicht wie in Italien und
Österreich die direkte Unterstützung der Regierung zusagten oder sich nicht
auf deklamatorische Besonderheiten in der französischen Phraseologie be-
schränkten, hat sie geschwiegen und dieses Schweigen war in Deutschland
Gold.
Man kann bei deutschen Menschen der temperamentlosen, aber so
ehrenhaften Sorge unseres Reichskanzlers gegenüber, für den Frieden prak-
252 Politische Rundschau.
tisch zu wirken und doch nicht untreu zu werden am Geist unserer Bünd-
nisse, nicht mit der maschinell wiederholten Behauptung durchkommen, wir,
ausgerechnet wir, seien die Kriegstreiber und wenn man dafür auch die ge-
samte von England geleitete internationale Presse der letzten zehn Jahre ab-
schreiben konnte!
Man darf gespannt sein, welche Erklärung die aus 111 Köpfen be-
stehende sozialdemokratische Fraktion sich demnächst im Reichstage abringt.
England, das auszog, um uns das Gruseln zu lehren, zeigt augen-
blicklich ein nicht sehr geistreiches Gesicht.
Wieder einmal ist nicht englisches Blut — mit dem man sparsam ge-
worden ist, aber „die englische Ehre aus allen Poren geflossen.“
England, das Rom unserer Tage, das weltumspannende Reich angel-
sächsischer Weltbeherrschung, die Beherrscherin der Meere, muß hören, daß
seine Bündnistreue von Herrn Poincaré in Zweifel gezogen, daß sie der
Kritik des Franzosenparlaments unterworfen wird.
Eine ungeheuerliche Demütigung des englischen Stolzes! Die auf die
Einkreisung, Lähmung und Beschneidung Deutschlands gerichtete englische
Politik zeigt ihren irrealen Charakter auch darin, daß sie Frankreich als
gleichberechtigte Macht behandeln muß.
Langsam oder schneller wird in den englischen Köpfen die Erkennt-
nis aufdämmern, daß es nur eine Macht gibt, die imstande wäre, das bri-
tische Weltreich zu halten, das Land, das durch die Entwicklung seiner In-
dustrie, seines Handels, auch in seiner volkswirtschaftlichen Struktur ihm
immer ähnlicher wird und das nicht zuletzt auf denselben kulturellen Grund-
lagen des Germanentums aufgebaut ist, mit dem es nur rivalisierende, keine
entgegengesetzten Interessen hat — Deutschland.
Wir aber stellen nur eine Bedingung, gleichberechtigt neben das Angel-
sachsentum zu treten, dem wir nicht in allem gleichartig, aber gleichwertig,
ja in vielem überlegen sind.
Wir können warten, früher oder später wird uns England kommen,
wenn es die gigantische Länge seiner Grenzen nicht mehr zu decken vermag!
Das zukunitsreichste der lateinischen Völker scheint nicht Frankreich,
sondern Italien werden zu sollen; seine auswärtige Politik, die aus den ge-
gebenen Gegensätzen des europäischen Staatensystems die Folgerung zieht,
sich derjenigen Gruppe anzuschließen, die ihm weniger gefährlich werden
kann, um von den Seemächten im Mittelmeer, gegen die es seine Küsten aui
absehbare Zeit nicht wird decken können, um so mehr umworben zu werden,
verrät die Meisterschaft, für die Rom auf vielen Gebieten berühmt ist.
Italien ist bei seinem Macchiavellismus in der Geschichte nicht gut
gefahren, ein neues Moment in seiner auswärtigen Politik ist der Ausweis
kriegerischer Fähigkeiten, die man ihm nach den Erfahrungen der letzten
Jahrhunderte nicht mehr zutraute. Es ist verblüffend, mit welcher leichten
Selbstverständlichkeit es die Blutsteuer des Krieges um Tripolis auf sich ge-
nommen hat.
Wo wäre Frankreich wohl, wenn es seine Raubzüge an der nord-
afrikanischen Küste nicht mit ausländischen Söldnern und mit dem brutali-
sierten Gesindel aus Algier, vom Senegal und sonst woher führen sollte.
Die von Frankreich unter dem Decknamen von „kolonisieren“ be-
triebene Korrumpierung der von ihm besetzten überseeischen Länder wächst
sich immer mehr zu einem internationalen Skandal aus. Gegen diesen Un-
fug einzuschreiten, würde wohl die erste Aufgabe eines englisch-deutschen
Politische Rundschau. 253
Zusammengehens sein; England fühlt sich doch sonst als internationalen
Polizisten allen „atrocities“ gegenüber, das heißt, wenn es seiner augenblick-
lichen Politik paßt, sei es in Armenien, am Kongo oder neuerdings sogar
in Peru.
Der lateinischen Rasse wohnt ganz ofienbar eine Schrankenlosigkeit
inne, sie sind geborene Absolutisten und Imperialisten. Dieser Geist verrät
sich auch in den uns stets beunruhigenden Tendenzen des römischen Stuhles.
Die Unfehlbarkeit war nur die Ausprägung dieses Geistes im Dogma, der
Papst wurde dadurch, was der Cäsar des alten römischen Kaiserreichs stets
gewesen war: (rouos &uyvyos), das atmende Gesetz. Politisch prägt sich dieser
Geist in dem hierokratischen System einer Oberherrschaft des Papstes über
sämtliche Staaten aus. Ein merkwürdiges Beispiel des Herrschaftswillens !
Die römische Kirche teilt sich mit der slavischen griechisch-katholischen und
der fast rein germanischen protestantischen Kirche aller Richtungen in die
Versorgung der christlichen Welt, nur sie aber wagt den erstaunlichen An-
spruch, die Stellvertretung Gottes auf Erden zu besitzen und alle Getauften
sich zuzurechnen.
Der lateinischen Rasse macht diese Problemstellung nicht viel Kopf-
zerbrechen, in Frankreich drückt die nicht minder absolutistische Demokratie
die Kirche gewaltsam nieder, in Italien macht dem Volk ein Parallelismus
zwischen seinen vaterländisch italienischen Ideen und seiner Ergebenheit für
die im Kampf mit dem Staat stehenden Kirche gar keine Pein.
Schwierig aber liegen die Dinge bei uns. Das deutsche Gewissen
unserer katholischen Mitbürger kommt aus dem Konflikt zwischen seinen
konfessionell-kirchlichen und national-staatlichen Gefühlen nicht hinaus, wird
nie hinauskommen, weil ihm die italienische und gallische Oberflächlichkeit,
die diesen Konflikt gar nicht kennt, fehlt. Deshalb wäre der Kamp'orden des
lateinischen Absolutismus, der Jesuitenorden, für unsere katholischen Mit-
bürger eine große Gefahr.
Nicht minder aber kommt in Frage, daß unser Staat selbstverständlich
der katholischen Kirche eine Freiheit geben muß, an welche die lateinischen
länder dem Protestantismus gegenüber niemals auch nur denken würden,
aber auch für die protestantische Mehrheit kann ein steter Angriff auf den
ethisch-religiösen Ideeninhalt ihrer Prägung des Christentums unerträglich
werden.
Endlich aber droht dem Staat selbst Gefahr, wenn von einer inter—
nationalen Macht wie dem Jesuitenorden direkt und indirekt das selbständige
Recht des Staates über oder neben der Kirche als eine Usurpation bekämpft
wird.
Eine nationale Politik des Zentrums wäre es, unablässig und nach-
drücklich Rom gegenüber zu betonen, daß das christliche und nationale In-
teresse für Deutschland Besonderes erheischt, und wenn es eine politische
und nicht eine konfessionelle Partei wäre, das Recht des Staates, das Recht
der Nation gegen den vom Jesuitismus getragenen kirchenpolitischen Ab-
solutismus zu verfechten.
Ob damit nicht auch der katholischen Kirche bei uns der beste Dienst
erwiesen würde, das zu entscheiden ist allerdings Sache der Katholiken.
Das Schlimme an dem heutigen Geiste des Katholizismus aber ist, daß
er in seinem absolutistischen Zentralismus jede Diskussion über die Frage
der Zulassung der Jesuiten ausschließt.
— >
254 Industrielle Reservearmee und innere Kolonisation.
Päpste und Bischöfe, Kleriker und Laien haben sich früher gegen
diesen Orden, welcher der Verwaltung der Bischöfe ja auch unbequem sein
muß, ausgesprochen — ein Katholik, der sich heute in diesem Sinne aus -
spricht, stellt sich fast schon außerhalb seiner Kirche.
Ob in einer so organisierten und dogmatisierten Kirche das religiöse
Leben schließlich noch zu atmen vermag, ob dieser Absolutismus mehr Glück
haben wird, als alle gleichartigen Erscheinungen in der Geschichte, das
wird die Zukunft lehren.
Vielleicht bewahrheitet sich an ihr das Wort ihres Lehrmeisters
Aristoteles, daß alle Herrschaft durch die Übertreibung ihres Prinzips zu
Grunde gehe.
In Bremen hat man die Verhandlungen des preußischen Landtages
über den Emdener Ausgleich mit dem Wunsche verfolgt, daß diese querelles
allemandes nun endlich ruhen mögen. Daß den Partikularisten unter dem
Banner eines preußischen Nationalinteresses gegenüber auch die Sprache der
Billigkeit und der deutschen Wirtschaftsinteressen dort nicht verstummt ist,
haben wir mit Oenugtuung der Rede des freikonservativen Abgeordneten
Graf Moltke entnommen.
Nun aber ist es an der Zeit, auch unsere gravamina zu einer ge-
rechten Lösung zu bringen. Kann Preußen wirklich den Ruhmestitel: Preußen
in Deutschland voran, beanspruchen, wenn wie in den trübsten Zeiten des
Deutschen Bundes die Vertiefung der Weser nicht ein Ziel, sondern ein
Handelsobjekt der Uferstaaten ist, wenn der Bau eines oldenburgisch-bremi-
schen Kanals Campe Dörpen von Preußen nicht gefördert, sondern durch
zehnfache Steigerung der Abgaben auf dem Emskanal verhindert wird ?
Unser Wahlspruch soll sein: Deutschland in Bremen, in Oldenburg
und in Preußen voran!
Bremensis.
Industrielle Reservearmee und innere Kolonisation.
er die soziale Frage lösen will, muß ein Mittel finden, die in-
dustrielle Reservearmee aufzulösen, denn diese allein ist es, die
die kapitalistische Ausbeutung ermöglicht. Eine Verständigung
über die soziale Frage hat also unbedingt mit einer Verständigung über die
Herkunft der industriellen Reservearmee zu beginnen. Marx nahm bekannt-
lich an, daß das Kapitalverhältnis, wenn es erst einmal durch außerökono-
mische Gewalt gesetzt sei, sich automatisch in den und durch den kapitalisti-
schen Produktionsprozeß reproduzieren müsse, und zwar durch einen Mecha-
nismus, den er genau dargestellt und als das „Gesetz der kapitalistischen
Akkumulation“ bezeichnet hat. Es sagt folgendes: Das Kapital als „kon-
stantes Kapital,“ d.h. in seiner Gestaltung als Maschinerie, „setzt in steigendem
Maße Arbeiter frei,“ wirft sie aus ihrer Beschäftigung; diese Freigesetzten
bilden die Reservearmee“, die durch ihre Hungerkonkurrenz den Lohn der
Beschäftigten niederhält und niemals, selbst unter den günstigsten denkbaren
Umständen, so hoch steigen läßt, daß die Proletarier selbst genügende Er-
sparnisse machen können, um Produktionsmittel zu erwerben und der Mehr-
wertpresse zu entrinnen. Dieser Erklärung hat Dr. Franz Oppenheimer eine
andere entgegengesetzt und durch eine Reihe von Schriften begründet. Sie
Industrielle Reservearmee und innere Kolonisation. 255
lautet: Die industrielle Reservearmee stammt vom Lande. Der Lohn des
Landarbeiters ist gleich dem Ertrage des von ihm bebauten Landes abzüg-
lich eines Teiles, den er dem Eigentümer seines Produktionsmittels abtreten
muß, der an den Großgrundeigentümer fallenden Grundrente. Durch seine
Konkurrenz zerrt er die städtischen Tagelöhner fast auf das gleiche Niveau
herab, und so bleibt, da alle Arbeit gleicher Art den gleichen Ertragswert
haben muß, auch dem Eigentümer der städtischen Produktionsmittel an dem
Lohne jedes Arbeiters ein entsprechender Gewinn, den man Profit nennt.
Ermöglicht wird die Konkurrenz zwischen ländlichen und städtischen Tage-
löhnern durch die Freizügigkeit. Da nun die Wanderung vom Lande überall
um so stärker ist, je mehr in der betreffenden Gegend das große Grund-
eigentum vorwiegt, so ergibt sich daraus, daß diese Wanderung und die
Bildung der industriellen Reservearmee nicht die Folge der kapitalistischen
Bewirtschaftung sein kann, sondern die Folge der Bodenbesitzverteilung
sein muß.
Offenbar ist der Oppenheimerschen Erklärung, wenn sie richtig ist,
eine außerordentliche Bedeutung beizumessen; sie müßte bei ausreichender
Propaganda in proletarischen Kreisen der Arbeiterbewegung eine ganz neue
Richtung geben.
Daß sehr viele offenkundige Tatsachen mit ihr übereinstimmen, kann
schon jeder Laie erkennen. Die Industrie setzt, als Ganzes genommen, über-
haupt keine Arbeiter frei, sondern eröffnet im Gegenteil viel mehr neue
Arbeitsstellen, als dem Wachstum der Gesamtbevölkerung entspricht; während
z.B. die deutsche Bevölkerung zwischen zwei Zählungen um 14 Prozent
wuchs, wuchs die städtische Arbeiterschaft um mehr als das Dreifache, näm-
lich 44 Prozent. Die Zuwanderung war aber noch stärker als die gewaltig
wachsende Industrie, so daß immer noch eine Reservearmee übrig blieb. Es
ist jedoch allgemein bekannt, daß die Landflucht als Massenerscheinung be-
schränkt ist auf die Gebiete mit Großgrundeigentum. In Deutschland z.B.
nehmen die dichtbesiedelten kleinbäuerlichen und mittelbäuerlichen Bezirke
des Südens und Westens regelmäßig und zum Teil bedeutend an Bevölkerung
zu, während die viel schwächer besiedelten großbäuerlichen Bezirke des
Nordwestens in sehr beträchtlichem, und die äußerst dünn besiedelten Groß-
gutsbezirke des deutschen Ostens in einem ganz ungeheuerlichen Maße ihren
Nachwuchs abstoßen, so daß die letztgenannten vielfach, trotz großer Frucht-
barkeit ihrer Bewohner, absolut an Volkszahl verlieren. Zwischen den Jahren
1885 und 1890 hat z. B. der Süden und Westen Deutschlands 13 %, der Nord-
westen 30 %, der Osten 75% seines Geburtenüberschusses in die Industrie-
bezirke abgegeben.
Wie die Abwanderung aus europäischen Großgüterdistrikten die Löhne
in unserm ganzen Kulturkreise herunterzerrt, läßt sich am besten in Amerika
wahrnehmen. Weniger als 20 Hundertstel aller Arbeitskräfte in Bergwerken
und Fabriken sind dort geborene Amerikaner. In manchen Industriezweigen
sind 75 Hundertstel der gesamten Arbeiterschaft Einge wanderte. Von den
Arbeitern in den Kohlen- und Eisenbergwerken sind sogar nur der zehnte
Teil geborene Amerikaner. Die Hälfte der Industriearbeiter fremder Her-
kunft sind Süd- und Osteuropäer, vor allem Nord- und Süditaliener, Polen,
Kroaten, Griechen, Litauer, Russen, Portugiesen, Slovenen und Juden. Das
ist das Ergebnis einer Entwickelung von 30 Jahren.
Man nehme an, in einer belagerten Stadt sei genug Korn und Mehl
vorhanden, um die Bevölkerung ein Jahrzehnt lang reichlich zu ernähren,
256 Die Finanznöte der Balkanstaaten.
und sie habe in spätestens drei Monaten bestimmt Entsatz zu erwarten. Ist
der Vorrat auf alle Haushaltungen gleichmäßig verteilt, so kann es keine
Teuerung und Hungersnot geben. Wenn aber der ganze Vorrat in dem Be-
sitz eines oder weniger Händler ist, so können diese ihn aussperren; sie
weigern sich, das Korn zum normalen Preise zu verkaufen und geben es
nur mit einem Extragewinn ab, d.h. sie verwandeln es in ein Monopolgut.
Ähnlich verhält es sich mit der Bodenbesitzverteilung. Es gibt in Deutsch-
land 32 Millionen ha landwirtschaftlicher Fläche und nur rund 17 Millionen
landwirtschaltlicher Bevölkerung. Da durchschnittlich 1 ha pro Kopf und
5 ha pro Familie unter den Verhältnissen westeuropäischer Kultur hinreichen,
um den Landwirten eine anständige, mittelständische Existenz zu gewähren,
so könnten alle diese Menschen als selbständige mittelständisch-gedeihliche
Bauernfamilien seßhaft sein und fast die Hälfte des gesamten Nutzlandes
bliebe noch unbesetzt, 15 Millionen ha, eine Fläche, die noch auf überaus
lange Zeit ausreichen würde, um dem Nachwuchs der Landbevölkerung Raum
zu geben. In Wirklichkeit nährt das deutsche Nutzland von den 17 Millionen
landwirtschaftlicher Bevölkerung nur höchstens 7½ Millionen anständig,
wenn man unterstellt, daß auch die kleinsten Parzellenwirte ohne Neben—
erwerb schon anständig leben können, was natürlich nur in Ausnahmefällen
möglich ist. Mindestens 10 Millionen von den 17 leben als Proletarier, weil
sie entweder zu wenig oder gar kein Land besitzen. Für innere Kolonisa-
tion gibt es also selbst im dichtbevölkerten Deutschland noch großartige
Möglichkeiten. Zweifellos kann, wenn auch in andern großen Kulturländern
großzügige innere Kolonisation betrieben würde, auf solche Weise schließ-
lich die Boden-Monopolisierung zerbrochen und der Kapitalismus entwurzelt
werden.
Otto Corbach.
Die Finanznöte der Balkanstaaten.
Über allen Balkangipfeln ist Ruh. — Die Kanonen haben gesprochen,
und der Kriegstanz wird auf der Londoner Reunion seinen Abschluß finden.
Allmählich haben sich auch die Rentenkurse der kriegführenden Mächte
wieder etwas gehoben, nachdem sie beim ersten Aufflammen der Kriegsfackel
in die tiefsten Tiefen gestürzt waren. Sie teilten dies Schicksal mit den übrigen
Anlagewerten. Das Publikum, das bei den Hiobsposten vollständig den Kopf
verloren hatte, erinnerte sich plötzlich wieder, daß alle die Länder auf der
Balkanhalbinsel bereits eine bedenklich hohe Schuldenlast zu tragen hatten.
Reminiszenzen aus der Jugendzeit jener Staaten, die sich jetzt unwillkürlich
aufdrängten, konnten nicht dazu dienen, das gesunkene Vertrauen zu befestigen.
Dank einer längeren Friedensperiode hatten sich dort unten die finanziellen
Verhältnisse allmählich etwas konsolidiert. Durch den Ausbruch des Krieges
wurden alle Erfolge wieder aufs Spiel gesetzt.
Und wie gering waren diese Erfolge gewesen. Griechenland hat heute
noch nicht die Coupons der notleidenden Renten voll bezahlt. Selbst daß der
Schuldendienst unter internationale Finanzkontrolle gestellt wurde, half wenig.
Wo nichts ist, hat eben der Kaiser sein Recht verloren und die Gläubiger
ihre Zinsen. Auch die Inhaber serbischer Staatspapiere haben schon trübe
Erfahrungen hinter sich. Bevor die auswärtige Schuldenverwaltung im Jahre
1895 unter die Kontrolle der autonomen Monopol-Verwaltung gestellt wurde,
Die Finanznöte der Balkanstaaten. 257
mußten sie sich eine Zwangskonversion ihrer Schuldtitres gefallen lassen.
Seitdem sind allerdings die Zinsen pünktlich bezahlt worden, und Serben-
renten haben auf den internationalen Märkten an Beliebtheit bedeutend ge-
wonnen. l
Verhältnismäßig am widerstandsfähigsten erwiesen sich in der all-
gemeinen Deroute die Anleihen der Türkei. Auch dieser Staat steht bekannt-
lich schon seit langem unter internationaler Finanzkontrolle, deren Organ
— die Dette publique — von den Gesamtschulden in Höhe von 134 Millionen
türkischen Pfunden, ungefähr 76 Millionen Pfund kontrolliert, für deren
Zinsendienst die Zoll- und Steuereinkünfte bestimmter Provinzen verpfändet
sind. Auch der nicht kontrollierte Schuldenrest ist durch Monopole gesichert.
Die Türkenanleihen haben denn auch die geringsten Einbußen erlitten, zu-
mal auf diesem Markt die Deutsche Bank, die im Osmanenreich stark engagiert
ist, durch Interventionen den Kurssturz milderte.
Nun hat der gegenwärtige Krieg ungeheure Summen gekostet, so daß
man sich wundern muß, wie die nötigen Geldmittel überhaupt noch beschafft
werden konnten, nachdem z. B. Bulgarien die Aufnahme einer neuen Anleihe im
Auslande durch den Ausbruch des Krieges mißlungen war. Jedenfalls sind
jetzt alle Kassen leer, die der Sieger und die der Besiegten. Die Fortführung
des Krieges ist zu einer Geldfrage geworden, und der Mangel an dem roten
Metall dürfte viel dazu beigetragen haben, den Waffenstillstand perfekt zu
machen.
Jetzt, da des Krieges Stürme schweigen, ist der weitere Geldbedarf
besonders der siegreichen Staaten sehr bedeutend. Auf eine Kriegsentschädi-
gung seitens der Türkei werden sie nicht allzu große Erwartungen setzen
dürfen. Im Gegenteil, wenn Mazedonien verteilt wird, werden die neuen
Besitzer auch die Schulden, deren Zinsen aus den Einnahmen dieser Landes-
teile zu bestreiten sind, mit übernehmen müssen. Die Zölle und Monopole,
welche der Dette publique verpfändet sind, dürfen ihr nicht entzogen werden,
wenn auch die europäischen Landesteile, aus denen sie bisher zum größten
Teil flossen, dem Halbmond verloren gehen. Für eine solche Eventualität ist
durch den Frieden von Ouchy bereits ein Präzedenzfall geschaffen. Hier
mußte sich Italien verpflichten, für den Zinsendienst der ottomanischen An-
leihen einen jährlichen Zuschuß von 2 Millionen Francs an die Dette publique
zu leisten, weil die tripolitanischen Zölle nicht mehr in die türkische Staats-
kasse flossen. Zu einer solchen Zahlung werden sich auch die Staaten des
Balkanbundes verstehen müssen, um so mehr, als ein großer Teil der Gelder,
welche die ottomanische Regierung durch Ausgabe von Anleihen aufnahm,
für die eroberten Gebiete Verwendung gefunden hat.
In finanzieller Hinsicht also werden sich die Balkanstaaten des Krieges
wohl kaum freuen können. Sie haben bisher nur Opfer gebracht und werden
weiter welche bringen müssen. Ob der Siegespreis groß genug sein wird,
um dieselben aufzuwiegen?
Hugo Kloß.
Schluß des redaktionellen Teils.
+
Verantwortlich für die Redaktion: S. D. Gallwitz, Bremen.
Einsendungen von Manuskripten (unter Beifügung von Rückporto)
an die Redaktion Bremen, Am Wall 163. Tel. 6945.
Verlag: Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen.
Druck: H. M. Hauschild, Hofbuchdruckerei, Bremen.
Entgiftung der Genußmittel.“
je Herstellung des koffeinfreien Kaffees und die Er-
D fahrungen mit ihm in der Praxis haben die Disskusion
über Ersatzgetränke und Surrogate neu belebt. Der
Fall des koffeinfreien Kaffees liegt so eigenartig, daß er die
Frage in eine ganz neue Beleuchtung rückt und einige allge-
meine Bemerkungen über sie rechtfertigen mag.
Die Gegner aller Ersatzgetränke gehen von der Voraus-
setzung aus, daß sämtliche Genußmittel lediglich ihrer physio-
gischen und psychischen Wirkung wegen genossen werden.
Deswegen sei es ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen,
für die alkoholhaltigen Getränke wie für den Kaffee oder die
Zigarre einen unschädlichen Ersatz schaffen zu wollen. Wenn
die Voraussetzung richtig ist, ist der Schluß durchaus zwingend.
Aber ich bestreite die Behauptung der Voraussetzung ganz
entschieden, selbst für einen großen Teil des täglich vertilgten
Alkohols und erst recht für den Kaffee und Tee, ja zum Teil
auch für die Zigarre, und ich behaupte, daß die warm getrun-
kenen kaffeeartigen Getränke fast ausschließlich ihres Wohl-
geschmacks und gar nicht der physiologischen Wirkungen
wegen genossen werden.
Die Frage der Ersatzgetränke gewinnt von diesem Stand-
punkt ein ganz anderes Gesicht. Es handelt sich zunächst
gar nicht darum, dem, der die berauschende Wirkung des
Alkohols oder die exzitierende des Koffeins sucht, dieses Ver-
langen damit abzugewöhnen, sondern zunächst ist die Aufgabe,
der großen Anzahl von Personen, denen die physiologischen
Wirkungen gleichgültig und zum Teil sogar unerwünscht sind,
einen Ersatz zu bieten in Gestalt einesebenso wohlschmeckenden,
aber giftfreien Getränks.
Nun taucht natürlich die Frage auf, ob der Wohlgeschmack
an die Giftstoffe gebunden ist. Denn wenn das der Fall ist,
sind die Bestrebungen natürlich aussichtslos, soweit sie dahin
gerichtet sind, die Getränke nicht nachzuahmen, sondern sie zu
entgiften. Das aber ist selbstverständlich der Nachahmung
vorzuziehen. Einmal wird die Nachahmung wirklich niemals
vollkommen sein, und dann bringt sie schon der allen Surro-
gaten anhaftende Geruch des Unechten in Mißkredit und ihre
Einführung ist erschwert.
) Der „Zeitschrift für physik. u. diätet. Therapie‘ Bd. XIII entnehmen wir
diese Ausführungen von Dr. Semi Meyer, Danzig, über das interessante und
moderne Problem der Genußmittel-Entgiftung.
Wenn schwacher Kaffee schlechter schmeckt als starker,
so sind in ihm doch alle andern Bestandteile ebenso stark ver-
dünnt wie das Koffein, also ist damit doch nicht etwa erwiesen,
daß der Geschmack auf denselben Stoffen beruht wie die
Nervenwirkung. Das ist aber die stillschweigende Voraus-
setzung, wenn man einer Entgiftung zuwider redet. Und
da lehrt uns nun die vor kurzem gelungene Herstellung des
koffeinfreien Kaffees ganz unzweideutig, daß der Wohlgeschmack
durchaus unabhängig vom Gehalt an Alkaloid ist. Der koffein-
freie Kaffee hat denselben Grundgeschmack wie der koffein-
haltige und kann am Geschmack nicht erkannt werden. Das
schmeckende Prinzip des Kaffees kann also das Koffein unmög-
lich sein, denn es ist mit ihm nicht aus den Bohnen entfernt.
Die zurückbleibenden Spuren von Koffein können den Ge-
schmack nicht ausmachen, denn er ist durchaus nicht abge-
schwächt. Ich habe im Sanatorium sofort den koffeinfreien
Kaffee eingeführt, es haben ihn viele als gewöhnlichen Kaffee
getrunken und den Unterschied gar nicht bemerkt. Ich hatte
schon früher die Überzeugung, daß der Geschmäck nicht auf
dem Koffein beruhen kann. Daß es aber so völlig gleich-
gültig für den Geschmack ist, wie sich jetzt erwiesen hat,
habe ich doch nicht erwartet, und die Tatsache ist auch
eigentlich überraschend. Sie wirft ein Licht auf die Spezifität
der Sinnesorgane. Es ist durchaus nicht dasselbe, was auf
das Zentralnervensystem und was auf bestimmte Sinnesorgane
einwirkt.
Die Frage der Entgiftung der Genußmittel aber ist jetzt
in ein ganz neues Stadium getreten. Die Tatsache der Unab-
hängigkeit des Geschmacks von der physiologischen Wirkung
bei diesem wichtigen Genußmittel ist für sie von unüberseh-
barer Bedeutung. Der Kaffeegeschmack, das wissen wir jetzt
genau, ist ganz zweifellos vom Koffein ganz unabhängig, er
beruht höchstwahrscheinlich auf dem Gehalt des fertigen Ge-
tränks an Röstprodukten und Gerbsäureverbindungen, die
zusammen Geschmack und Aroma, die ja stets erst in ihrer
unzertrennlichen Verbindung den Geschmack einer Speise er-
geben, und damit dem Kaffeegeschmack seinen Charakter
geben, während das Koffein damit gar nichts zu tun hat,
während umgekehrt die physiologischen Wirkungen und damit
die Schädlichkeit des Getränks lediglich auf dem Koffein
beruhen.
Ob die Menschen von vornherein auf die Kaffeebohne
des Wohlgeschmacks wegen oder der Nervenwirkung wegen
aufmerksam geworden sind, ist eine Frage, die nicht damit
zusammenhängt, weshalb sie jetzt den Kaffee lieben. Und
übrigens steht es wohl kaum so sicher fest, wie immer wieder
behauptet wird, daß sie die Wirkung gelockt habe. Aber mag
es auch so sein, jedenfalls haben wir gelernt, die Kaffeebohne
so zuzubereiten, daß sie ein wohlschmeckendes Getränk gibt,
und die Züchtung der Pflanze, die so viele Spielarten ergeben
hat, wird sich auch nach dieser Richtung bewegt haben. Und
nun wird der Kaffee in erster Linie des Wohlgeschmacks
wegen gesucht und geliebt, und wenn es gelungen ist, die
physiologischen Wirkungen auszuschalten unter Erhaltung des
Wohlgeschmacks, so ist das ein Fortschritt der Technik, den
wir Ärzte gar nicht genug begrüßen können.
Das Bedürfnis nach einem derartigen Getränk wie der
Kaffee ist nun einmal geschaffen, und an etwas Gutes gewöhnt
sich der Mensch so, daß es schwer ist, auf eine andere Weise
fhn davon zu entwöhnen, als daß man ihm einen vollen Ersatz
bietet. Das hat ja leider der Kampf gegen die Genußmittel
immer wieder gezeigt. Wir sind nicht mehr an die Morgen-
suppe gewöhnt und wir werden sie nie wieder einführen
können, und wir wollen auch nachmittags ein warmes Getränk,
das nicht weiter nährt, nachdem wir uns schon mittags satt-
gegessen haben, sondern das den entstandenen Durst stillt und
in heißem Zustande gut schmeckt. Der natürliche Kaffee ist
hier noch von besonders zweifelhaftem Werte wegen seiner
Einwirkung auf die Magentätigkeit. Bei den meisten Nervösen
schädigt das Koffein die Magenverdauung so bemerkbar, daß
wohl auch bei Gesunden eine Hemmung der Magentätigkeit an-
zunehmen sein wird. Koffeinfreier Kaffee istauch in dieser Be-
ziehung unschädlich, wie ich mich immer wieder überzeugt habe.
Für den Sanatoriumsbetrieb ist mit der Herstellung des
koffeinfreien Kaffees eine schwierige Menufrage glücklich gelöst.
Die Kurgäste sind an ein heißes Vespergetränk von Hause
aus gewöhnt, und ich kann es ihnen nicht entziehen. Wo
Fettansatz erstrebt wird, geben wir natürlich Milch oder Milch-
kakao, aber wo wir den Ansatz vermeiden wollen, waren wir
bisher in Verlegenheit. Das Bedürfnis nach einem kaffee-
artigen Getränk ist nun einmal da, und kein anderes kann
selbstverständlich das Bedürfnis so gut erfüllen, wie der Kaffee
selbst, der bei uns so eingebürgert ist wie das tägliche Brot.
Wo ich den koffeinfreien Kaffee empfohlen habe, ist er fast
immer gern getrunken worden, und ich glaube, es ist dem
Getränk eine große Zukunft zu prophezeien.
Hag-Rundschau.
Die Leser unserer Zeitschrift und die Freunde unseres Unter-
nehmens wird es gewiß interessieren, in die Werkstätte einer
modernen Verkaufs- und Propaganda-Organisation Einblick zu er-
halten. Wir werden daher für die Folge an dieser Stelle einzelne
Vorkommnisse erwähnen, die den Erfolg unserer Bemühungen
erkennen lassen oder sonst geeignet sind, die Anteilnahme weiterer
Kreise für unser Unternehmen zu wecken.
Verkaufstag Ihrer Königlichen Hoheit der Großherzogin von Hessen und
bei Rhein in Worms.
Unsere Beteiligung mit einem Kaffee-Ausschank an dieser Veranstaltung
wurde erst durch die ablehnende Haltung des Komitees erschwert, welches
glaubte, der — in besseren Kreisen leider noch zu wenig verstandenen und ge-
schätzten — Reklame wegen absagen zu müssen. Ein Hinweis auf die Tatsache,
daß am großherzoglichen Hof unser Kaffee Hag seit Jahren ständig in Verwen-
dung ist, und daß beispielsweise Ihre Exzellenz die Frau Reichskanzler in Berlin
gelegentlich der Wohltätigkeitsfeste im Reichskanzler-Garten nur Kaffee Hag im
Hag-Porzellan ausschänken läßt, brachte uns auch aus Worms die Zutrittserlaubnis in
Form eines Telegrammes: „Ihr Anerbieten zum Verkaufstage mit Genehmigung
der Großherzogin nunmehr angenommen.“
Der Verlauf der Festlichkeit war auch für uns ein glänzender. In
wenigen Stunden wurden 2400 Tassen ausgeschänkt. Die großherzoglichen
Herrschaften selbst priesen die Erfindung des coffeinfreien Kaffees und lobten
den vorzüglichen Kaffee Hag.
Wohltätigkeitsbazar in Dessau,
Eine ähnliche Veranstaltung fand auf Veranlassung der Herzogin
von Anhalt in Dessau statt, bei der ca. 800 Tassen verabreicht wurden. Wie
aus dem Dankschreiben der Palastdame hervorgeht, fand der Kaffee Hag
nicht nur allgemeinen Beifall, sondern brachte auch dem wohltätigen Unter-
nehmen eine hübsche Summe ein.
Organisation.
Ein Berliner Handelsschullehrer, der zu Studienzwecken alle größeren
kaufmännischen Unternehmen besichtigt, äußerste sich über unsere Geschäfts-
organisation, daß er noch nirgends einem so systematisch eingerichteten und
bis zur Vollendung ausgebauten kaufmännischen Betriebe begegnet sei. Falls
er Oelegenheit hätte, mit jungen Kaufleuten oder Hochschülern eine Studien-
reise zu unternehmen, würde er nur die Kaffeehag besichtigen und sich stunden-
lang in unserem Kontor aufhalten.
„Die Güldenkammer“.
In der „Augsburger Abend-Zeitung“ vom 14. Dezember 1912 lesen wir:
„Unsere Zeit bringt merkwürdige Erscheinungen. Im dritten Jahrgang
erscheint nun schon diese gehaltvolle und interessante Zeitschrift, deren Ver-
leger eine Kaffeegesellschaft ist. Aber nicht konsumierende Kaffeemenschen
haben dies Unternehmen geschaffen, sondern Kaffeeproduzenten, und die
Zeitschrift entsprang — das wird ganz offen zugestanden — dem Verlangen,
dem Kaffee eine billige und wertvolle Reklame zu geben. Man bietet für
billiges Geld gute Literatur, bringt im redaktionellen Teil einen gediegenen
Stoff, sogar teure Namen, rur um im selben Blatt bei den Annoncen für
den eigenen Kaffee arbeiten zu können. Dieser Stil ist amerikanisch, aber es
liegt doch ehrliche Offenheit in dem Anerbieten: Ich gebe dir eine wertvolle
Zeitschrift, wenn du auch im Reklameteil etwas über unseren Kaffee lesen magst.“
Photo-Hilfsmittel.
Soweit diese Bezeichnung auf chemische Hilfsmittel Anwendung findet,
darf man wohl mit Recht behaupten, daß sie von der Mehrheit der Photo-Amateure
nicht in dem Maße gewürdigt und beachtet resp. benutzt werden, wie sie es im
Interesse der Erzielung vollkommener Bilder verdienen. Auch bei Verarbeitung
der leistungsfähigsten Negativ-Materiallen, bei sachgemäßer Hervorrufung und bei
Benutzung einwandfreier Papiere ist nicht immer ein Bild gewährleistet, das bei
hohen Ansprüchen in jeder Beziehung genügt.
Schon beim Kapitel „Fixieren“ wird vielfach gesündigt, weil man diesem
Teil der photographischen Arbeit eine zu geringe Bedeutung beimißt. Verwendung
ungeeigneter Materialien kann hier sehr viel schaden. Ferner wird häufig eine
geschickt angewendete teilweise oder allgemeine Verstärkung bezw. Abschwächung
Wirkungen zu Tage treten lassen, die den Eindruck des Bildes ungemein erhöhen.
Das Lackieren der Negative trägt außerordentlikh zu deren Konservierung bei.
Auch die Wahl der Ton-Fixiermittel vermag das Gelingen oder Mißlingen wesent-
lich zu unterstützen.
| Es kann deshalb dem fortgeschrittenen Amateur sowohl wie dem Anfänger
nicht genug ans Herz gelegt werden, diesen Punkten größte Beachtung zu
schenken und beim Einkauf in der Wahl der Fabrikate recht umsichtig zu sein.
Die Lektüre des sehr lesenswerten „Agfa*-Handbuches (150 Text-, 8 Bildseiten,
geschmackvoller Leinenband, Ladenpreis 30 Pfg.) wird vor Enttäuschungen be-
wahren, wenn sie zur Anwendung der renommierten „Agfa*-Hilfsmittel, wie
„Agfa“-Fixiersalz, „Agfa*-Schnellfixiersalz, „Agfa“-Tonfixiersalz oder -Bad, „Agfa‘-
Negativlack, „Agfa“-Verstärker, „Agfa“-Abschwächer führt, die mit wertvollen Ge-
brauchsvorschriften in den Handel kommen. Da mehr als 20jähriges Bestehen
der „Agfa“ einwandfreie Produkte verbürgt, so können wir die Benutzung der-
selben nur angelegentlich empfehlen.
Das Sprungbrett, Verband deutscher Autoren.
Berlin W. 35, Am Karlsbad 21. Tel.: Nollendorf, 675.
„Das Sprungbrett, Verband deutscher Autoren“, ist eine auf genossen-
schaftlicher Basis begründete Schriftstellervereinigung, deren Reingewinn den
Mitgliedern zufließt. Sie bezweckt die Förderung schriftstellerischer Talente durch
Verlag ihrer Werke, durch deren Vertrieb an Zeitungen und Zeitschriften, durch
Unterstützung junger Autoren bei der Umarbeitung stofilich interessanter, aber
formal noch unbeholfener Arbeiten, durch Mitarbeit an der Verbandszeitschrift,
durch Vortragsabende und Vorlesungen vor einem größeren Publikum im Lessing-
Museum zu Berlin usw. Der Jahresbeitrag für ordentliche Mitglieder beträgt 20 Mk.
Außerordentliche Mitglieder zahlen einen Beitrag von 5 Mk. Jedes ordent-
liche und außerordentliche Mitglied erhält jährlich kostenlos nach seiner Wahl
ein Werk aus den Veröffentlichungen des Verbandsverlages, sowie monatlich die
Verbandszeitschrift.
Nähere Auskunft erteilt bereitwilligst schriftlich und mündlich die Geschäfts-
stelle, von der aus kostenlos Prospekte und Satzungen zu beziehen sind.
Name ar mare
SANATORIUM am GOLDBERG
Modernes Kurheim für diätetisch-physikal. Heilweise. Radium-Emanatorium.
Höchstzahl 50 Kurgäste. Sommer- und Winterkuren. Fernruf Nr. 44. Sehr ge-
eignet für Erholungsbedürftige, Rekonvaleszenten. Gute Erfolge bei Nervösen,
Frauenleiden, Herz-, Stoffwechsel- und Magenkranken.
Ausgeschlossen: Geisteskranke u. Tuberkulöse. Prospekte frei. Dr. Kari Schulze.
BAD BLANKENBURG, Thüringerwald.
NAAN ANAN NINAN.
Münchner Illustrierte Zeitung (Süddeutsche Woche.)
Die im Verlag der Süddeutschen Zeitungsgesellschaft m. b. H.,
München, Ludwigstraße 25, erscheinende illustrierte Wochenschrift tritt mit 1913
in das 6. Jahr ihres Erscheinens. Sie versendet aus diesem Anlaß in einer Spezial-
mappe eine Sammlung von Nummern des laufenden Jahrganges, welche aufs
neue bestätigen, daß die Zeitung ihr Programm als illustrierte Chronik für aktuelle
Ereignisse, künstlerische und gesellschaftlich bemerkenswerte Erscheinungen In
München, in Bayern und Deutschland wie auf der ganzen Weltbühne in hervor-
ragender Weise zur Durchführung bringt.
Die Münchener Illustrierte Zeitung, die auch textlich sehr Vieles und Gutes
bietet, gehört unstreitig zu den reichhaltigsten aller photographisch-aktuellen
Wochenzeitungen, woraus sich ihre stets wachsende Verbreitung und ihre Beliebt-
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Heft 5
Februar 1915
Herlag: Kaſſeehag Bremen
INHALTS-VERZEICHNIS,.
Dr. Fritz Wertheimer:
Politische Leistungen und Aufgaben in China ...... 259
Erich Kramer: Die Schneeballhexe. Erzählung........... 272
Lothar Brieger: l
Von der Notwendigkeit des Uberllüssigen n
Alexander Ular: Eine moralische Katastrophe ..... — 288
Paula Becker-Modersohn: Briefe und Tagebuchblätter II. 297
Otto Flake: Aus vier Wochen „ een 305⁵
Wilhelm Hausenstein: Die Puppen . 308
Bremensis: Politische Rundschau ...:....... “adressen 11
Prof. Dr. Ludwig Fränkel: Süddeutschlands geplante Groß-
schiffahrtsverbindung und der Anschluß nach Norden.. 315
Hugo Kloß: Ein Urteil ............... en A l a 319
Nachdruck der Belletristik verboten. Nachdruck der übtigen Artikel unter
genauer Quellenangabe gestattet.
BEZUGS- BEDINGUNGEN.
Durch sämtliche Buchhandlungen, Postanstalten oder direkt vom Verlag:
jährlich Mk. 8.—, vierteljährlich Mk. 2.—, Einzelheft: Mk. 0.80.
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Dr. Fritz Wertheimer:
Politische Leistungen und Aufgaben in China.“
seki sich einmischte und sich mit den Bedingungen dieser
Abmachung zwischen Japan und China nicht einverstanden
erklärte, erfreute es sich des Beistandes von Frankreich und Deutsch-
land. Im Gefühl seiner Ohnmacht gab Japan nach. Es war da-
mals nach einem verlustreichen und kostspieligen Krieg, in dem
die Chinesen trotz unglaublich schlechter Organisation sich recht
gut geschlagen hatten, nicht imstande, mit den Waffen zu pro-
testieren; so wurde die Kriegsentschädigung Chinas an Japan um
30 Millionen auf 230 Millionen Taels erhöht, und die verabredete
Abtretung der Liaotung-Halbinsel an Japan unterblieb. Japan hat
diese Einmischung Rußlands längst vergessen. Es hatte ja Ge-
legenheit, seine Rache an diesem Staate gründlich zu kühlen, und
der spätere Sieg Japans im Kriege 1904/05 steigerte den Ruhm
Japans als einer Großmacht mehr, als die Einmischung in den
Frieden von Schimonoseki imstande gewesen war, das Ansehen
Japans zu schwächen. Rußland, Japan und China sind die drei
Machtfaktoren, die um die Vorherrschaft in Ostasien zu ringen
hatten. Im Jahre 1895 mußte eben Japan trotz allen Stolzes über
den Sieg im Kriege mit China einsehen, daß es noch hinter Ruß-
land rangiere. Es nahm diese Tatsache hin, und die folgende zähe
diplomatische und militärische Arbeit, cie von den Palastkämpfen
in Seoul zu den Schlachtfeldern der Mandschurei führte, beweist,
wie jene Erkenntnis aneifernd und belebend auf die Japaner ge-
N Rußland nach dem Abschluß des Friedens von Schimono-
) Über „Deutsche Leistungen und Aufgaben in China“ in Politik, Handel
und Industrie erscheint in diesen Tagen bei Julius Springer in Berlin eine größere
Studie des Veriassers.
260 Dr. Fritz Wertheimer:
wirkt hat. Nach dem Frieden von Portsmouth war das japanische
Ziel der unbestrittenen Vormacht in Ostasien erreicht. Eine gewisse
Entspannung des Verhältnisses zu Rußland konnte eintreten. Wie
schnell ostasiatische Entwicklungen schreiten können, dafür gibt
das heute fast intime Verhältnis der beiden Kriegsgegner sieben Jahre
nach blutigen Kämpfen Zeugnis. Gleichwohl weiß die japanische
Politik, daß Japan zwar gegenwärtig die Vorherrschaft im Osten
hat, daß aber in diesem Besitze durchaus keine Gewähr für die
Zukunft liegt. Rußlands Kraft in Ostasien ist durch die letzte
Niederlage, abgesehen von dem materiellen Verlust der Liaotung-
Halbinsel und der Anwartschaft auf eine überragende Stellung in
Korea, eher angeregt als vernichtet worden. Wladiwostok ist als
Festung an die Stelle Port Arthurs getreten. Die sibirische Bahn
wird in ihrem zweigleisigen Ausbau in Bälde vollendet sein, die
vollständig russische Amurbahn wird trotz erheblicher Schwierig-
keiten energisch gefördert. Die militärische Organisation im Osten
ist stärker geworden, auch wirtschaftlich hat sich manches gebessert.
Vor allem aber hat sich die Wirtschaftslage auch des europäischen Ruß-
land verändert, und der Widerstand Rußlands in einem künftigen
Kampfe würde erheblich kräftiger und ausdauernder sein als im
Jahre 1904/05. Man wird auch damit zu rechnen haben, daß mit
dem Sinken des Einflusses Rußlands auf dem Balkan, mit der poli-
tischen Selbständigkeitserklärung des Balkanbundes, die notwendiger-
weise ein Freimachen von der russischen Bevormundung enthält,
Rußlands Aktivität nach anderer Richtung sich steigern wird,
da in Armee und Marine ein Gefühl der Beschämung über die
erlittene Niederlage im russisch- japanischen Kriege und ein Gefühl
der Rache noch nicht ausgelöscht ist. All das macht die russisch -
japanische Freundschaft etwas zurückhaltend, wenn auch vor der
Hand das Interesse beider noch darin konform geht, sich gegen
ein erwachendes China vorzusehen. In der ungeheuren Kraft des
Landes und des Volkes China steckt, wenn beide erst einmal richtig
entwickelt sind, die sicherste Anwartschaft auf die Führerrolle im
fernen Osten. Es ist ein natürliches Bestreben Rußlands und
Japans, heute, wo diese Kräfte noch schlummern und unentwickelt
sind, sich Außenteile des chinesischen Reiches anzugliedern, um
den späteren Kampf um die ostasiatische Vorherrschaft mit einem
beträchtlich verkleinerten China, selbst um dessen reiche Außen-
provinzen aber gestärkt, führen zu können. Da Rußland fürchten
muß, bei einseitigen Raubversuchen Japan an Chinas Seite zu
sehen, und da Japan ebenso eine Verstärkung Chinas durch Ruß-
land zu gewärtigen hat, kam eine gewisse Verabredung der beiden
Länder gegen China zustande, die eine Verständigung über Mor
Politische Leistungen und Aufgaben in China. 261
golei und Mandschurei in sich schließt. Darin liegt die Uber-
zeugung, daß eine Vergrößerung der Reibungsflächen zwischen
Rußland und Japan durch Umwandlung der bisherigen Einfluß-
Sphären in wirklichen Besitz unbedenklicher ist, als ein Erstarken
Chinas, das beiden Gegnern gefährlich werden kann. Es wäre
müßig, heute zu untersuchen, wie die drei ostasiatischen Macht-
faktoren sich entwickeln werden und welchen Krieg gegeneinander
die Schnelligkeit dieser Entwicklung zur Folge haben wird, oder
auch die Frage zu stellen, ob ein Ausbalancieren des heutigen
Gleichgewichts auf die Dauer den Frieden in Ostasien verbürgen
kann, wofür freilich die Expansionslust unserer Tage in Ostasien
wenig zu sprechen scheint.
Wasaber haben in diesem offenen oder versteckten Kampfe um die
Vorherrschaft im fernen Osten andere Staaten zu tun, wie erklärt
sich die Einmischung Frankreichs und Deutschlands an der Seite
Rußlands in die ostasiatischen Händel. Die Engländer führten
ihren Opiumkrieg der Jahre 1840-42 zu einem wirtschaftlichen,
wenn auch zu einem unmoralischen Zwecke. Dieser, wie auch der
Lorchakrieg der Jahre 1856-60 waren außerdem zu dem nationalen
Zweck der Anerkennung Englands als einer China gleichberechtig-
ten Macht im Gegensatze zur chinesischen Staatsdoktrin unter-
nommen. England war zudem der Mandatar Europas, wenn es in
seinem Friedensschlusse die Öffnung chinesischer Häfen für den
fremden Handel erzwang, freilich ohne bewußt an diese altruistische
Arbeit auch für andere Nationalitäten zu denken. Frankreich konnte
sich auf keine reelle wirtschaftliche Unterlage stützen, als es sich
an dem zweiten Kriege beteiligte, sein Handel mit China war höchst
unerheblich, und auch die Ermordung eines französischen Missio-
nars konnte keinen Grund zu einem derartigen Kriege abgeben, der
nur des Kriegsruhmes halber geführt wurde. Die Einmischung
Frankreichs in den Schimonoseki-Frieden erklärt sich wohl auch
nicht aus dem Verfolg seiner Interessen in Ostasien selbst, sondern
es ist einer der ersten äußeren historischen Beweise dafür, daß die
ostasiatische Politik und das ostasiatische Wirtschaftsleben immer
mehr auch in die europäische Mächtekonstellation eingreifen und
sie beeinflussen. Es war eine Freundlichkeit und Gefälligkeit, die
dem Zweibundgedanken entsprang, und die ja im Laufe der Zeit
auch zu einer Stärkung des Zweibundverhältnisses ihr Teil beige-
tragen haben mag. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern,
daß Frankreich später für den China erwiesenen Dienst seine Rech-
nung präsentierte und sich im Jahre 1898 neben Eisenbahnkon-
zessionen und kleineren Landabtretungen versprechen ließ, daß in
seiner Interessen-Sphäre keine Landabtretung an andere Nationen
En
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* m v- 1 — — — — —
262 Dr. Fritz Wertheimer:
erfolgen werde. Japan konnte ja die Einmischung Rußlands im
Jahre 1895 leicht verstehen, und es war ihm auch einigermaßen be—
greiflich, daß dessen Verbündeter, Frankreich, sich dem Vorgehen
anschloß, besonders da man später in Japan an Hand des englisch-
japanischen Bündnisses ein Idyll der Nibelungentreue propagierte,
das eine Art von Entschuldigung auch für Frankreich bieten
konnte, wenn auch Japan selbst von England später darin grausam
enttäuscht worden ist.
Nur, was Deutschland bewogen haben könnte, sich an Ruß-
lands und Frankreichs Seite zu stellen, das ist in Japan nie be—
griffen worden und wird auch so schnell nicht verstanden werden.
Wohl hat Fürst Katsura mir vor zwei Jahren einmal erklärt, die
wirklich politischen Köpfe könnten keine Feindschaft aus diesem
Grunde gegen Deutschland hegen. Denn rückblickend müsse man
erkennen, daß der volle Erwerb der Liaotung-Halbinsel durch
Japan im Jahre 1895 kein Segen gewesen wäre. Es wäre höchst
wahrscheinlich daraus schon damals ein russisch-japanischer Krieg
entstanden, den Japan zu jener Zeit noch nicht habe gewinnen
können. Japan könne also sogar fast dankbar sein, daß man es
damals zum Aufgeben dieses Landerwerbes gezwungen habe, weil
nur dadurch ein neues Volk in Waffen habe erstehen können, das
einen siegreichen Krieg mit Rußland ein Jahrzehnt später führen
konnte. Und weil, darf man hinzufügen, cie Russen inzwischen
ein Jahrzehnt lang eine kolonisatorische Arbeit auf der Liaotung-
Halbinsel vollbringen konnten, wie sie in solcher Großzügigkeit
Japan niemals hätte schaffen können und die nachher vollkommen
als Siegespreis den Japanern überliefert wurde. Derartig politische
Erwägungen aber stellt das japanische Volk als solches nicht an.
Es sieht in der deutschen Handlung einen willkürlichen Akt, der
weder durch wirtschaftliche Interessen, noch durch allgemein po-
litische ostasiatische oder europäische Konstellation bedingt war,
es versteht ihn auch nicht als das, was er doch in Wirklichkeit
war, eine theatralisch-heroische Geste, um sagen zu können, wir
sind auch dabei gewesen, unternommen ohne klare Zielsetzung und
ohne weitere Überlegung, sondern das japanische Volk sieht immer
noch in jener Handlung einen mißgünstigen neidvollen Schritt
gegen ein Deutschland unsympathisches Wachstum Japans, und es
spricht für die Empfindlichkeit des nationalen Stolzes in Japan, daß
man das auch nach fast zwei Jahrzehnten nicht vergessen hat
Unsere Handelsbeziehungen zu Japan sind dadurch zweifellos ge-
stört, unsere allgemeinen und politischen Beziehungen getrübt
worden, ohne daß in China auf der anderen Seite ein Aktivum in
der Bilanz zu ziehen wäre. Wir waren nicht so uneigennützig, die
Politische Leistungen und Aufgaben in China. 263
Dienste für China unentgeltlich zu tun, was vielleicht eine starke
Sympathie in China für Deutschland hätte wachrufen können, eine
Sympathie, die später in Warenbestellungen und in Bevorzugung
im Handelsgeschäft ihren Ausdruck hätte finden können. Daß aber
der Gewinn der Liaotung-Halbinsel durch jene Einmischung ein
Segen für China gewesen wäre, kann füglich nicht behauptet werden,
wenn man bedenkt, daß die hilfsbereiten Chinafreunde bald darauf
nicht nur die gleiche Halbinsel, sondern auch Kiautschou, Kuang-
schou nebst Eisenbahnkonzessionen und andere Rechte für sich
beanspruchten und dadurch auch England zur Wegnahme von
Weihaiwei veranlaßten. Vielleicht wäre das alles auch ohnehin ge-
kommen, aber daß es im Anschluß an Schimonoseki kam, trug
sicherlich nicht dazu bei, diesem Schritte ein besonders freundliches
Gedenken in China zu sichern. Tatsächlich ist die deutsche Hilfe
für China im Lande so gut wie spurlos vorübergegangen, oder wo
sie einmal moralisch erobernd gewirkt haben mag, längst wieder
vergessen.
Auf der anderen Seite ist hier zu sagen, daß der Erwerb von
Tsingtau und Umgebung — wie man richtiger sagen sollte, um
falsche Größenvorstellungen zu vermeiden, die mit der Bezeich-
nung „Deutsch-Kiautschou-Gebiet“ unwillkürlich verbunden sind —
dem deutschen Ansehen in China nicht geschadet hat. Wohl ge-
nießen heute die territorial uninteressiertesten Amerikaner am
meisten Kredit von allen fremden Nationalitäten, aber es ist doch
fraglich, ob sie das allein der mehr negativen Tatsache, keinen
chinesischen Boden unter ihrer Herrschaft zu haben, verdanken,
oder nicht vielmehr recht positiven Arbeiten, als da sind die Tätig-
keit ihrer Missionen, der Verzicht des auf Amerika entfallenden Teiles
der Boxer-Entschädigung zu Gunsten der Entsendung von 80
Studenten jährlich zum Studium auf amerikanischen Hochschulen,
der Knox’sche Vorschlag, die Bahnen der von Rußland und Japan
hart bedrängten Mandschurei zu neutralisieren, um sie dadurch für
politische Erwerbszwecke der beiden Nationen auszuschalten —,
ein Vorschlag, dessen Scheitern infolge des Widerspruchs der beiden
betroffenen Nationen man in Amerika sicherlich voraussah, den
man aber doch machte, um sich in China Sympathien zu erwerben,
und den man später durch die große mandschurische Industriali-
sierungs-Anleihe in anderer Form doch noch zu verwirklichen suchte.
Machtentfaltung und Machtbenutzung allein schaden in den Augen
der Chinesen nichts, könnten eher nützen. So hat es den Amerika-
nern nichts geschadet, daß sie während der verflossenen Revolutions-
wirren eine übermäßig große Zahl von Truppen auf chinesischem
Boden stehen hatten, und es hat den Deutschen nichts genutzt, daß,
264 Dr. Fritz Wertheimer:
sie etwas eilig ihre frühere Besatzungsbrigade aufgelöst haben und
während’ der Revolution so gering durch Truppenaufgebot in China
vertreten waren, daß es im Ernstfalle nicht einmal zum Schutze der
allerwichtigsten deutschen Interessen ausgereicht hätte. Die Portu-
giesen macht beispielsweise nicht der Besitz der Kolonie Macao den
Chinesen verhaßt, sondern die miserable Verwaltung und die Aus-
gestaltung des Platzes zu einer großen Opium- und Spielhölle,
während man zu gleicher Zeit in China den beiden Lastern energisch
zu steuern sucht. Und wenn auch den Chinesen der englische,
französische, russische, japanische und deutsche Besitz chinesischen
Bodens nicht erfreulich sein mag, wenn ein künftiger Nationalstolz
und Chauvinismus auch in Zukunft einmal zur Rückgewinnung
allen chinesischen Landes für die Chinesen drängen wird, so
würden wir heute durch ein von uns ausgehendes freiwilliges Vor-
wegnehmen: solcher künftigen Ereignisse nichts gewinnen, als Spott
und Hohn, und Alles verlieren.
Das Eine aber darf hier ausgesprochen werden, daß Tsingtau
keine territoriale Erwerbung, keine Kolonie im eigentlichen Sinne
darstellt. Dazu ist es viel zu klein und in sich zu schwach. Es ist
ein Stützpunkt und eingroßer Ausstellungsraum für unsere Leistungen
in Städtebau, Anlagen, Schulen, Verwaltung und allgemeiner Kultur,
nichts weiter. Der Gedanke, Schantung als deutsche Interessen-
Sphäre zu betrachten, ähnlich wie Japan Korea lange als seine
Interessen-Sphäre behandelte, um es später zu besitzen, ist immer
mehr aufgegeben worden, jemehr der Gedanke einer allgemeinen
Aufteilung Chinas unter die Mächte verschwand. Immerhin ist zu
sagen, daß ein konzentrierter Angriff Englands, Frankreichs, Ruß-
lands und Japans gegen chinesischen Boden, ein Zusammengehen,
für das die Anzeichen sich mehren und das die Lostrennung der
Außenteile der Mongolei und Tibets, aber auch der Mandschurei
und Yünnans erstrebt, auch andere Mächte in die Notwendigkeit
versetzen müßte, zum Schutze ihrer Interessen geeignete'Maßnahmen
zu ergreifen. Für heute ist festzustellen, daß Deutschland und
Amerika die beiden einzigen Nationen sind, die China gegenüber
politisch nur das Interesse gegenseitiger Achtung und Freundschaft
haben, und deren Politik nicht durch den Wunsch von Landerwerb
in dieser oder jener Richtung beeinflußt wird. Beiden Nationen
kann nur an wirtschaftlichem Aufschwung und guten Handels-
beziehungen liegen, das wird allerdings bedingt durch Ruhe im
Innern Chinas und auch von außen her, und so sind diese beiden
Mächte neben China selbst die Hauptinteressenten an einer völligen
Integrität Chinas, besonders aus der Erwägung heraus, daßin den
von fremden Mächten okkupierten Teilen chinesischen Bodens das
Politische Leistungen und Aufgaben in China. 265
Prinzip der offenen Tür zumeist nur auf dem Papier besteht, da
nicht überall die deutsch-chinesische Organisation des Seezoll-
Dienstes, die in Tsingtau besteht — dort befindet sich ein chinesi-
sches Seezoll-Amt, und alle eingehenden Waren bezahlen Eingangs-
zoll; für die im Schutzgebiet verbrauchte Ware wird ein bestimmter
Prozentsatz der reinen Einnahmen des Seezolles der deutschen Ver-
waltung zurückgezahlt, der Ausgang aus dem Schutzgebiet ins
chinesische Hinterland ist aber frei und ungestört — akzeptiert
worden ist. Freilich gibt es neben dem Interesse an Landerwerb
auch ein allgemeines politisches Interesse des Ansehens und des
Einflusses, das sich später zu Lieferungsvergebungen und Kon-
zessionen zu verdichten pflegt. Ein solches allgemeineres Interesse
hat naturgemäß Deutschland mit allen anderen Mächten, weil es
seiner Industrie den gebührenden Anteil an der Deckung der
Riesenzukunftsbedürfnisse eines kommenden China sichern muß.
Solchen Einfluß und solches Ansehen gewinnt man durch hervor-
ragende Leistungen, aber auch durch persönliche Beziehungen.
Niemand kann sagen, daß, was die offizielle diplomatische Ver-
tretung angeht, Deutschland hier besonders günstig gestellt sei.
Der deutsche Gesandtschaftsposten in Peking wird als Posten
zweiter Gattung nach der Anciennität und der Reihenfolge, nicht
nach der besonderen Eignung der Inhaber vergeben. Nirgends
aber erfordert die Leitung einer Gesandtschaft einen selbständigeren,
kenntnisreicheren, gebildeteren und gewandteren Diplomaten als
gerade in China. Ein Gesandter, der es nicht in seinen wichtigsten
Provinzen kennt, wird hilflos Situationen gegenüberstehen, deren
Grundlage die psychologische Einschätzung der Bewohner mancher
Provinzen bildet. Er wird verständnislos oder doch zum mindesten
erfolglos arbeiten, wo es sich um wirtschaftliche Verschiedenheiten
von Nord und Süd, Ost und West handelt und ein Ausgleich selbst
deutscher weit auseinander gehender Interessen verlangt wird. Er
wird die größten Schwierigkeiten haben, der rasch wechselnden
chinesischen hohen Beamtenschaft gegenüber, die sich aus Pro-
vinzialen aller Schattierungen zusammensetzt, Kenntnisse, Unter-
scheidungsvermögen und Urteilsfähigkeit zu besitzen. Der aller-
eründlichste Kenner Chinas wäre gerade gut genug. Es soll
keine Kritik der Persönlichkeiten damit verbunden sein, wenn
hier die Tatsache festgestellt wird, daß der gegenwärtige deutsche
Gesandte, der China vorher nicht kannte, kaum ein halbes Jahr
auf seinem Posten in Peking war, als die Revolution losbrach,
daß der erste Attaché dieser Gesandtschaft mitten während
der Wirren seinen Posten verließ, um auf Urlaub zu gehen und
später nach Incien versetzt zu werden, daß der erste Dolmetscher
ee A ——
266 Dr. Fritz Wertheimer:
auf Heimatsurlaub war und niemand daran dachte, ihn zurückzu-
rufen, daß der zweite Attaché Peking in den Anfangsstadien der
Republik verließ, sodaß die wirkliche Kenntnis von China und
Land und Leuten in entscheidender Zeit bei zwei Dolmetschern lag.
Darin und in der Tatsache, daß verschiedene deutsche Konsulate
während der Hauptereignisse nicht mit ihren Leitern, sondern mit
Ersatzleuten besetzt waren, daß man nicht wie in Kriegszeiten alle
Männer auf ihren jetzt besonders verantwortungsvollen Posten be-
ließ oder sie schleunigst hinberief, liegt aber eine solche Desorgani-
sation und Gleichgültigkeit, daß man sich nicht wundern darf,
wenn die hervorragend wichtigen Posten eines Beraters des Präsi-
denten der Republik, eines Beraters im Finanzministerium, im
Unterrichts ministerium und in der Militärverwaltung mit Angehörigen
anderer Nationen besetzt wurden, während Deutschland leer aus-
ging. Denn daß ein Deutscher die wichtige Stelle eines Reorgani-
sator% der Salzzölle (auf deren künftigen Einnahmen die Tilgung
der Boxerentschädigung und des Anleihedienstes für die neue große
Reformanleihe zumeist beruht) bekommen solle, ist noch nicht be-
stätigt, und selbst wenn es so sein sollte, so wäre das ein gewisser-
maßen passiver Posten, während den übrigen Beratern ein direkter
Einfluß auf Geistesrichtung und auch auf Lieferungsvergebungen zu-
stände. Es ist erfreulich, festzustellen, daß dieses System bei der
Marineverwaltung Tsingtaus nicht zu beobachten war. Abgesehen
davon, daß der neue Gouverneur erst spät ernannt wurde und erst
zu Beginn des November 1911 auf seinem Posten eintraf, dessen Ob-
liegenheiten er durch früheren langen Aufenthalt in China kannte,
waren die verantwortlichen: Leiter der Ressorts alle zur Stelle, und der
moralische und materielle Erfolg, den das deutsche Schutzgebiet
während der Revolution zu verzeichnen hat, ist sicherlich mit auf
die stetige und energische Arbeit aller Beteiligten gerade in der
für China so schwierigen Übergangszeit zurückzuführen.
Das, was der Zentralstelle in Peking mangelt, eine enge
Fühlungnahme mit chinesischen Kreisen, das hat sich nach einigem
Zögern bei der Verwaltung des Pachtgebietes gerade im Verlaufe
der Revolution eingestellt. Es ist ja einigermaßen schwer für den
einzelnen und entsprechend schwerer für eine bureaukratisch or-
ganisierte Verwaltung, sich in den Umschwung hineinzudenken,
der in einem Jahrzehnt sich in China vollzogen hat. Die dauernden
Amputationen am chinesischen Reiche, die gleichmäßig von allen
Fremden vorgenommen wurden, führten noch im Jahre 1000 zu einem
leidenschaftlichen Ausbruch der Volksstimmung. Damals gelang es
ohne Mühe den herrschenden Kreisen, das, was an Dynastie-Feind-
lichkeit in dieser Bewegung von Anfang an steckte, und was in
Politische Leistungen und Aufgaben in China. 267
allen Bewegungen der letzten 200 Jahre steckte, abzulenken auf die
Fremden, insbesondere auf die Missionare, die man nicht zu un-
recht an manchen Orten mehr als politisch wirtschaftliche Emissäre
ihrer Länder, denn als unpolitisch friedliche Verbreiter einer reli-
giösen Lehre ansah. Die Folge war der Kriegszug gegen die
Boxer. Wo die Truppen sprechen, hört aber die Diplomatie auf.
Die kriegerische Behandlung der Chinesen in der Feldzugszeit färbte
auch auf die später wieder friedlicheren Beziehungen der Fremden
zu den Chinesen beträchtlich ab. Es herrschte eine Stimmung, die
einer Ausschließung der Chinesen nicht nur von den Wohnorten
der Fremden in ihren Niederlassungen, sondern auch von der Ge-
sellschaft günstig war. Dann kam ein großer wirtschaftlicher Auf-
schwung, die jungchinesische Strömung wuchs empor, die nur in
der Übernahme europäischer Machtmittel und technischer Vervoll-
kommnung einige Aussicht auf Wiedererlangung der chinesischen
Weltgeltung sah. Der Warenhandel hob sich, die Aussicht auf
Konzessionen und Eisenbahn- und Militärlieferungen stieg. Im
gleichen Maße stieg wieder die Achtung vor den Chinesen, und ein
förmliches Wettrennen um ihre Gunst, nicht immer würdevoll und
achtungerwerbend, gab den Chinesen in weniger Jahren zurück,
was ihnen die Boxerunruhen genommen hatten. Die Kaufmann-
schaft der Fremden machte eine solche rasche Sinnesänderung natür-
lich aus Geschäftsrücksichten und aus dem täglichen innigeren Ver-
kehr mit der chinesischen Geschäftswelt leichter mit. als die Ver-
waltungen. Es erhob sich ein Sturm der Entrüstung in der
deutschen Kaufmannschaft von Tientsin, als das Auswärtige Amt
in Berlin noch im Frühjahr 1912 den weiteren Verkauf von Grund
und Boden und Häusern in der deutschen Niederlassung an Chinesen
(es handelte sich um mandschurische Prinzen, die sich hier in
Sicherheit bringen wollten, und zwar um frühere Machthaber,
deren Persönlichkeit und Vermögen ein wirklicher Gewinn für die
Niederlassung hätten sein müssen) verbot, nachdem zuerst zwei
derartige Verkäufe anstandslos gestattet worden waren. Man ent-
schied eben in Berlin noch auf Grund der aktenmäßigen Kenntnis
der chinesischen Verhältnisse, und darin war vielleicht von dem
inneren Umschwung der Dinge wenig zu finden. Der wichtige
Konsulatsposten von Tientsin war in der entscheidenden Revolu-
tionszeit, wo es galt, Symptome zu erkennen und weniger nach den
Ereignissen, als nach den inneren treibenden Kräften, nach den
Stimmungen zu urteilen, durch einen Verweser besetzt, da der
Konsul auf Heimatsurlaub war. Zu der gleichen Zeit, da sich dies
in Tientsin ereignete, geschah in Tsingtau alles, unı möglichst
schmerzlos und unauffälig mit den veralteten Sitten und Vor-
268 Dr. Fritz Wertheimer:
stellungen zu brechen. Man gestattete den Chinesen ohne weiteres,
wenn sie nur die baupolizeilichen Bestimmungen erfüllten, inmitten
des ihnen bisher weniger de iure, als de facto verschlossenen Stadt-
teiles der Deutschen zu wohnen. Man wußte durch eine äußerst
geschickte Tätigkeit auch wirklich vermögende Chinesen nach der
Kolonie zu ziehen, obgleich bisher gerade der Widerstand gegen
die deutsche Kolonie — in Hongkong war das seit Jahrzehnten
anders gewesen — gute und geachtete Chinesen beseelt hatte und
darin eine gewisse Gefahr für die Weiterentwicklung des Hafens
gelegen war. Im April gab es in Tsingtau etwa 10 General-
gouverneure, Gouverneure und frühere Minister, und einige 20
höhere Provinzialbeamte, die den Schutz der deutschen Ordnung und
guten Verwaltung der Unsicherheit der innerpolitischen Entwick-
lung in ihrer eigenen Heimat vorzogen. Die Grundstücksverkäufe
an Chinesen mehrten sich, und es war Aussicht, daß diese Chinesen
nicht nur in Tsingtau Schutz suchten, sondern auch hier neue ge-
schäftliche Unternehmungen begannen und damit ein wertvolles
Glied in der Verbindung des Hafens mit dem Hinterlande und
seinen Hilfsquellen werden würden.
Es waren aber nicht nur die Deutschen, denen ein solcher
Unterschied in der Politik zwischen Tsingtau und Tientsin auffiel,
der nicht zum Heile des Ansehens des gesamten Deutschtums in
China sein konnte. Es fehlte hier ebenso an einer Einheitlichkeit
und vorherigen Verständigung über eine großzügige Politik zwischen
Gesandtschaft, Tsingtau-Verwaltung und Generalkonsulat, wie auch
in anderen Fällen ein Nebeneinanderarbeiten dieser drei Instanzen
zu bemerken war.
Dazu kommt, daß die Organisation des deutschen Konsulats-
dienstes derjenigen Voraussetzungen entbehrt, die zu einer günstigen
Betätigung in China unerläßlich sind. Englands Konsulardienst in
China weist unter 30 Plätzen, an denen England konsularisch ver-
treten ist, 8 Generalkonsulate auf, von denen Schanghai naturge-
mäß das größte ist (unter den 13500 Fremden dieser Nieder-
lassung befanden sich Ende 1910 im ganzen 4500 Engländer), die
aber in Canton, Tschengtu, Hankau, Kaschgar, Mukden, Tientsin
und Yünnanfu im Mittelpunkte von Provinzen von solcher Größe
und Eigenheit liegen, daß die englische Verwaltung mit Recht der
Ansicht ist: zur Beobachtung des Wirtschaftslebens eines derartigen
Gebietes ist ein selbständiger, auch äußerlich mit allen Befugnissen
ausgestatteter Generalkonsul nötig, dem seine Stellung alle Mittel
an die Hand gibt, entsprechend aufzutreten. Die tatsächlichen Ver-
hältnisse sind naturgemäß für Deutschland die gleichen, nur daß
ihnen das Verwaltungssystem nicht Rechnung trägt. Es soll hier
Politische Leistungen und Aufgaben in China. 269
weniger Gewicht darauf gelegt werden, daß nach diplomatischem
Gebrauche überall der Generalkonsul im Range den Vortritt hat
vor den Vertretern der übrigen Nationen, wenn sie nur Konsuln
sind. Auch dieser Umstand ist nicht zu unterschätzen. Denn der
Doyen des konsularischen Korps hat manche Gelegenheit zu be-
sonderem Verkehr mit den Behörden, und wenn man einem noch
so dienstalten deutschen Konsul diese Möglichkeit nimmt, nur weil
ein beträchtlich jüngerer englischer Kollege den Titel Generalkonsul
führt, so begibt man sich damit mancher kleinen Vorteile, mögen
sie noch so geringfügig sein, weil ja mehr als das Amt und die
äußere Stellung die innere Tüchtigkeit des Inhabers wiegt. Wesent-
licher ist schon, daß an Orten, wo der deutsche Handel überwiegt,
oder dem englischen ebenbürtig ist, wie in Hankau und Tientsin,
Mukden und Canton, der deutsche Konsul im Range diese Eben-
bürtigkeit nicht zum Ausdruck bringt. Endlich ist es das Wich-
tigste, daß die Stellung der Konsuln selbst durch dieses System un-
sicher wird. Gerade die letzten politischen Ereignisse haben be-
wiesen, wie selbständig und selbstverantwortlich ein Konsul in
China zu manchen Zeiten handeln muß. Hankau war während der
wichtigsten Revolutionstage von jedem Verkehr mit der Außenwelt
abgeschnitten. Der Konsul war während dieser Zeit völlig auf sich
selbst angewiesen, ohne aber doch die innere Selbständigkeit zu
haben, die ihn von dem Generalkonsulat in Schanghai völlig los-
löste. Die einzelnen Teile dieses Riesenreiches sind eben wirtschaft-
lich, klimatisch und psychologisch so verschieden voneinander, daß,
jeder nur nach sich in erster Linie und erst dann nach der Zu-
sammengehörigkeit zum großen Ganzen beurteilt werden will.
Dazu ist die bureaukratische Zentralstelle in Schanghai völlig außer
Stand. Die Inhaber des unter solchen Umständen doppelt verant-
wortungsvollen Generalkonsulats kennen aus eigener Anschauung
zumeist nicht den zehnten Teil des Gebietes, über das sie ihre zu-
sammenfassenden Berichte nach Deutschland senden sollen, wo man
an und für sich dem höheren Beamten mehr Glauben schenken
wird, als dem kenntnisreicheren Unterbeamten. Mit der schon seit
langer Zeit befürworteten Änderung der Konsulatsorganisation in
China, die an allen wichtigen Punkten eigene Generalkonsulate er-
iorderte, zum mindesten überall da, wo der in China vorhandene
Gegensatz zwischen Nord und Süd und zwischen Provinzen und
Reich politische und wirtschaftliche Unterschiede allerschärfster Art
geschaffen hat, soll keineswegs eine weitere Dezentralisation des pe-
samten Chinadienstes gefordert werden, die ja heute schon in dem
oft verbindungslosen Nebeneinanderbestehen von Gesandtschaft,
Generalkonsulat und Pachtgebietsverwaltung keinen wünschens-
—
2. — — —
— — —
rw —
270 Dr. Fritz Wertheimer:
werten Zustand darstellt. Es soll nur vorhandenen Zuständen besser
Rechnung getragen werden, wobei als Krönung des ganzen Baues
eine Zentralstelle gedacht ist. Wir kennen heute in China drei Stellen:
die Gesandtschaft in Peking, die mehr theoretisch- diplomatischen Wert
hat, das Generalkonsulat in Schanghai, das als die Vertretung des
gesamten Konsulatsdienstes gilt, und das Pachtgebiet Tsingtau.
Von diesen drei Faktoren wird der letzte zweifellos, bei all seinem
Wert als besonderem Stützpunkt, als Einfalls- und Ausfalls-Pforte
für Handel und Kultur in seiner Gesamtstellung und Wichtigkeit
für die deutschen Interessen in China heute etwas überschätzt. Die
Beliebtheit der Marineverwaltung und die Unbeliebtheit des Aus-
wärtigen Amtes in der Heimat mag daran eine gewisse Schuld
tragen. Jedenfalls wird zu oft vergessen, daß in Tsingtau doch nur
ein bescheidener Teil der deutschen Interessen in China kulminiert.
Und wenn auch einige Vorrechte für diesen Faktor angemessen sein
mögen, weil der Wert der ganzen Musterausstellung Tsingtau sicher-
lich moralisch auch für das Ansehen des Deutschtums und den
Handel an anderen Plätzen der Küste ins Gewicht fällt, so ent-
spricht doch die heutige Einschätzung nicht den wirklichen Ver-
hältnissen. Der Sitz des Generalkonsulats in Schanghai aber
wiederum verlegt den Schwerpunkt der Handelsinteressenten unbe-
rechtigterweise ganz nach Schanghai und läßt Schanghai immer
noch als den allein ausschlaggebenden Hafen für Export und
Import erscheinen, der er längst nicht mehr ist. Daß dem so ist,
dafür genügt ein einziges Beispiel: das deutsche Reich unterhält
beim Generalkonsulat in Schanghai einen „Handelssachverständigen
für China“, und ohne die Persönlichkeit dieses Herrn irgendwie
berühren zu wollen, darf darauf hingewiesen werden, daß es ein
früherer Schanghaier Kaufmann ist, der an diesem Platz groß ge-
worden ist und die Handelsverhältnisse dort zweifellos kennt, der
aber während seiner dreijährigen Amtsdauer auch nicht eine ein-
zige Reise auch nach anderen Hafenplätzen des Riesenreiches oder
ins Innere unternommen hat. Von den einzelnen Beamten dieses
Generalkonsulats gar nicht zu reden, die ja natürlich nicht dauernd
in China herumreisen können, um sich die zu ihrem Urteil uner-
läßlichen Unterlagen an persönlichen Kenntnissen der Verhältnisse
zu schaffen.
Es ist ganz charakteristisch, daß sich Engländer und Fran-
zosen längst da eine gute Presse geschaffen haben, wo unter
den heutigen Verhältnissen ein Einfluß auf Regierungs- und Be-
amtenkreise zu gewinnen ist. Die fremde Kaufmannschaft in
Schanghai besitzt ihre Zeitungen und Zeitschriften, und Deutschland
ist da durch eine der besten, wenn nicht die beste Wochenschrift,
8
1
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2
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Politische Leistungen und Aufgaben in China. 271
den Ostasiatischen Lloyd, vertreten. In Tientsin aber, und insbe-
sondere in Peking, wo sich die Dinge entscheiden, sind wir gegen-
über guten und vorzüglich geleiteten englischen und französischen
Zeitungen nur durch ein völlig bedeutungsloses kleines Tageblättchen
vertreten, das keine eigene Meinung hat, geschweige denn für deren
Eindringen in die Köpfe chinesischer Beamten und Regierender
Sorge tragen kann. Es fehlt auch hier an einer gleichmäßigen
Kräfteverteilung in China. Wenn freilich die Zeitungspolitik
erwähnt wird, muß auch eine Unterlassungssünde der deutschen
Presse berührt werden. Von einer einzigen Ausnahme abgesehen,
bei der es sich um ein deutsches Blatt handelt, das als politisch
kaum angesprochen werden kann, hat die deutsche große politische
Presse keinen selbständigen eigenen Vertreter in Peking, der durch
das Gewicht seiner Persönlichkeit, durch den Einfluß seines Blattes
in der Heimat und durch seine umfassende Tätigkeit die Politik
der offiziellen Vertretung seines Landes so stützen und fördern
könnte, wie das die außerordentlich hoch bezahlten und zu groß-
zügiger Repräsentation in Stand gesetzten, auch von den diploma-
tischen Vertretungen ihrer Länder rein äußerlich sehr hochgestellten
journalistischen Vertreter großer amerikanischer und englischer
Zeitungen tun können.
Politisch ist der weitaus größte Teil unserer Aufgaben in
China erst noch zu erfüllen. Es ist freilich fast noch wichtiger,
in der Heimat erst einmal dasjenige Interesse für den fern-Öst-
lichen Zukunftsmarkt wachzurufen, erst einmal das Interesse von
den Lieferanten und industriellen Exporteuren und Importeuren
weg auf die große Masse des Volkes so zu verbreitern, daß Volk
und Volksvertretung sich um diese Dinge kümmern, ihr Augen-
merk auf China und die deutsche Arbeit dort lenken, womöglich
sich persönliche Kenntnisse des Gebietes verschaffen und Vergleiche
mit fremden Nationen und ihrer Arbeit anstellen, die uns erst zum
Bewußtsein bringen können, was wir selbst geleistet haben und
was uns zu tun noch übrig bleibt.
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272
Erich Kramer: Die Schneeballhexe.
anz am letzten Ende der Stadt, wo sich der sandige Fahr-
weg zwischen Scheunen und Speichern in das flache Land
hinauswindet, steht auf einem niedrigen Erdwall ein
schmales, einstöckiges Haus. Man müßte es für einen Gemüse-
keller oder Holzschuppen halten, den sich ein armer Kätner aus
Abbruchmaterial dürftig zusammengeleimt hat, wenn nicht hinter
den dunklen Scheiben des Straßenfensters bunte Kattungardinen
herabhingen, neben der Tür aber ein rostiger Klingelzug und am
Schwellenrand ein verbogenes Kratzeisen für die Schuhe angebracht
wären.
Fast jeder Ziegel in den schiefen Wänden zeigt eine andere
Farbe. Einer ist hellrot, einer tabaksbraun, ein dritter schwarz
wie verkohltes Holz, ein vierter grauweiß wie mit Mehl gepudert
und wieder ein anderer dunkelgrün, als hätte er im Schlamm eines
Ententeiches gelegen, bevor man ihn einmauerte. Der Mörtel, der
zu feinem Sande zerfallen ist, rieselt unaufhörlich aus den Fugen
und wird vom Wind über den Vorplatz gejagt. Drei Krüppel-
weiden streuen im Sommer ihren dünnen Schatten, im Spätherbst
ihr verschrumpftes Laub auf das bucklige Dach. Rechts liegt von
einem Stacheldraht umzäunt die städtische Müllgrube, mit Haufen
gelber Asche, mit Lumpen und Scherben gefüllt, und auf der
anderen Seite dehnen sich unabsehbar weit Kartoffel- und Rübenäcker.
Aus diesem Hause trat an einem Septembermorgen ein kleiner
Junge, sprang mit einem Satz den Erdwall hinunter und lief in
klappernden Holzschuhen auf der Landstraße nach der Stadt zu.
Seine Augen blinzelten verschlafen und ein wenig ängstlich unter
der braunen Wollmütze, sein Kopf duckte sich fröstelnd zwischen
die Schultern. In der einen Hand trug er ein Pack Hefte und
Bücher, deren Ecken umgebogen und von vielen Fingerabdrücken
blankgescheuert waren, und aus der Tasche des erdgrauen, ver-
tragenen Röckchens stak ein Federpennal heraus.
Er trabte eifrig, ohne sich umzusehen, und die freie Hand
dicht vor den Mund haltend und mit seinem warmen Atem hinein-
hauchend, immer geradeaus auf die Stadt zu. Doch bei den ersten
Häusern verlangsamte er seinen Schritt. Dort war zwischen zwei
Fachwerkscheunen eine hohe Zaunplanke, ein fauliger Kellergeruch
strömte durch die Luft, und ein seltsames Knarren und Gemecker
tönte hinter den moosgrünen Brettern. Der Kleine schlupfte aus
den Holzschuhen, nahm sie in die Hand und schlich langsam vor-
über. Er hatte hier einmal ein wildes Schreien und Schimpfen
gehört, und als er in zaghafter Neugier stehen geblieben, war
Die Schneeballhexe. 273
plötzlich ein dicker, blutiger Knochen vor seine Füße herabge-
flogen. Seit der Zeit glaubte er, hinter dem Zaun müßte etwas
recht Unheimliches sein. Er fragte einen älteren Jungen um Rat,
und der erzählte ihm, dort stünden lange Holzkisten voll toter
Männer, die ein Kerl mit einem Ziegenkopf in lauter kleine Stück-
chen zersäge. Nun hätte er zu gern durch die Spalten der Planke
geguckt, wenn er aber vorsichtig näher heranging, tönte das
Knarren und Gemecker so gräßlich laut, daß er kopfüber fort-
rannte. Erst hundert Schritte davon wagte er aufatmend stehen
zu bleiben und seine Holzpantoffeln anzuziehen.
Dann ging es im Schaukeltrab weiter an den Bäcker- und
Fleischerläden vorbei. Er machte ein pfiffiges Gesicht, daß er es
diesmal wieder so gut überstanden hatte, ließ seine Sohlen derb
aufs Pflaster knallen, schwang das Bücherpaket in der Luft und
hieb mit der Faust an die Blechröhren, die vom den Häusern in
den Rinnstein hinunterhingen. Die Kirchenuhr fing eben zu
schlagen an, da gab er sich einen Ruck und fuhr polternd über
den Marktplatz mitten in die offene Schultür hinein.
In dem niedrigen, weißgetünchten Klassenzimmer steuerte er
sofort auf seinen Platz los, ohne sich um das vielfältige Summen,
Lachen und Gezeter der anderen zu kümmern, ordnete seine Bücher,
legte die Hände gefaltet aufs Pult und wartete.
Plötzlich brach der Lärm jäh ab wie das Froschgequake,
wenn ein Stein in den Sumpf geworfen wird. Ein dicker, grau-
bärtiger Mann mit einer spiegelblanken Glatze schritt rasch durch
das Zimmer.
„Munter, Kinder,“ sagte er, „munter; den Choral vierund-
sechzig, Vers drei bis fünf.“
Ein älterer Junge strich die Geige, deren Töne scharf und
hart ins Ohr schnitten, und die Schüler sangen mit weit aufge-
rissenem Mund und ein wenig schleppend. Der Kleine aus der
Ziegelkate wunderte sich oft über die seltsamen Worte von de-
mütigen Göttesknechten, von Not und Trübsalspein, die im Liede
standen und die ihm so verzwickt und geschnörkelt vorkamen, wie
das alte Schloß draußen am Schultor. Er dachte, während er ernst-
haft sang, darüber nach, was sie wohl bedeuten möchten. Einige
hörten sich sehr komisch an, man mußte sie mit lauter Stimme
herausschreien, damit nicht das Lachen, das unten den Leib zwickte,
in die Kehle fahre, andere wieder hatten etwas Unheimliches,
Drohendes und machten das Herz beklommen, und vor einem
Verse zitterte er geradezu, denn sobald dieser gesungen wurde,
konnte er sicher sein, daß er im Laufe des Vormittags ein paar
Hiebe mit dem flachen Lineal aufgezählt bekam.
274 Erich Kramer:
Das Frage- und Antwortspiel begann. Die Finger schnellten
in die Höhe, schrille Stimmchen leierten hastig ihre Aufgabe oder
stockten angstvoll, zappelten noch ein wenig, bis sie mutlos in
einem Tränenerguß und sanften Geheule untergingen.
Der Kleine hielt den Blick starr auf den blanken Kahlkopf des
Kantors gerichtet, der wie eine Kugel aus dem spärlichen Haar-
kranz heraussteckte. Das freundliche, wohlwollende Lachen und
die aufmunternden Worte, mit denen der dicke Mann ungerührt
durch Bitten und Klagen das Lineal schwang und die Strafen aus-
teilte, flößten ihm einen ungeheuren Schrecken ein. Er glaubte, daß
nun gleich an ihn die Reihe käme und daß er dann alles vergessen
hätte. Aber es ging meist über Erwarten gut, nur die Stimme
zitterte etwas. Doch wenn er nach Luft schnappend auf seinen Sitz
plumpste, konnte er kaum die Tränen hinunterwürgen.
In den Pausen stand er, die kleinen Arme auf dem Rücken ver-
schränkt, unter der Schultür und sah ernsthaft und nachdenklich zu,
wie die anderen sich balgten.
Endlich schlug die Mittagsstunde. Der Kantor ließ sich seinen
grauen Pelerinenmantel hereinbringen, und die Jungen stoben
lärmend nach allen Seiten fort.
Der Kleine trödelte vergnügt zur Stadt hinaus. Vor jedem
Ladenfenster blieb er stehn und musterte die roten Zichorienstangen,
die Kaffee- und Tabakspakete oder die schwarzen Tuchmützen mit
blanken Lederschirmen. Dann kam wieder die Zaunplanke, aber es
fiel ihm nicht ein, jetzt Furcht zu haben, die Sonne schien so hell,
Fuhrwerke rasselten, Leute gingen auf der Straße, und von weiten
winkte das buntscheckige Ziegelhaus mit den drei Krüppelweiden.
Er sah etwas Dunkles und darüber einen roten Fleck sich hin und
her bewegen wie ein Stehaufmännchen; das war seine Mutter, die
in ihrem kleinen Krautgarten wirtschaftete. Er fand die Tür ange-
lehnt, sprang über den Flur an der Bodentreppe vorbei in die
Küche und holte sich sein Schüsselchen mit Kartoffeln und Speck-
sauce von der Herdplatte herunter. Nach dem Essen, das er lang-
sam und umständlich zu sich nahm, ging er hinaus, kniete wort-
los neben der Mutter hin und begann ihr bei der Arbeit zu helfen.
Die Mutter war eine große, hagere Frau, schon ein wenig ge-
bückt, schweigsam und unermüdlich schaffend, seit ihr trunksüch-
tiger Mann bei einer Schlägerei ums Leben gekommen. Während
der ersten Stunden des Vormittags wusch und scheuerte sie in
fremden Häusern, und am Nachmittag besorgte sie ihre eigene
kümmerliche Wirtschaft. Der Junge hatte ein unbegrenztes Zu-
trauen zu ihr, das sich mit einer leisen Furcht paarte. Sie be-
handelte ihn weder freundlich noch besonders streng, doch konnte
Die Schneeballhexe. 275
es manchmal geschehen, daß sie, von Not und Ärger gepeinigt, in
stummer, grundloser Wut über ihn herfiel und ihm eine Tracht
Prügel verabſolgte. Dann duckte er sich, barg den Kopf unter den
erhobenen Armen und ließ die Schläge ohne einen Schmerzenslaut
auf seinen Rücken fallen, bis die Mutter endlich innehielt und ihn
unwillig fortstieß, mehr über sich selber und ihr hartes Lebenslos,
als über den Kleinen ergrimmt, der kaum je etwas Übles tat. Er
sah sie verwundert und mit trockenen Augen an und schlich in
einen Winkel.
Nachdem draußen die Gartenarbeit unter dem kühlen Wolken-
himmel bei Wind und Sonnenschein beendet war, bekam er seinen
Vesperkaffee in einem bestoßenen Emailtöpfchen und eine dicke
Schnitte rauhrindigen Schwarzbrotes, die er bedächtig bis zum
letzten Krümchen aufknusperte. Dann stieg er die schmale Boden-
treppe empor, um oben in der Dachkammer seine Schularbeiten zu
machen. Diese war eigentlich der Vorratsraum der Witwe, der zu-
gleich die Bettstati des Jungen enthielt. Auf dem Fenstersims
reihten sich grüne Steinguttöpfe mit Sauerkraut und Salzgurken ge-
füllt, in der Ecke lag ein Haufen Kartoffeln, und an der Wand
hingen unter einem blaugedruckten, zerrissenen Kattunbezug die
Winterjacken aus Schafsiell.
Der Kleine setzte sich an den Tisch, der vorne nur durch
zwei wacklige, dünne Stelzen gehalten mit dem anderen Ende auf
dem Fensterbrett lag, klappte seine Bücher auf und begann emsig
zu lernen, den Kopf zwischen beiden Fäusten und halblaut vor
sich hinmurmelnd. Die schwarzen Schriftzeichen mit den dicken
Schleifen, den feinen Häkchen und Strichen erschienen ihm wie
lebende Dinge, die mürrische oder vergnügte Geräusche machten.
Das hochmütige K knarrte wie ein hölzerner Schraubengang, das
schöne, vornehme L lispelte sanft und das windige S ringelte sich
zischend wie eine Peitschenschnur. Bei einer solchen anschau-
lichen Lernweise konnte es nicht fehlen, daß er bald seine Sprüche
im Kopfe hatte.
Nun kam der schwierigste Arbeitsteil: das Schreiben. Zögernd
klappte er sein Heft auseinander, und beim Erblicken der leeren,
weißen Seite, die er vollschreiben sollte, faßte ihn ein ängstliches
Schwindelgefühl. Er tauchte die Feder ein, sah gewissenhaft nach,
ob auch nicht zuviel Tinte daran hänge, damit es nicht klexe, und
malte darin, mit gespreizten Ellbogen auf dem Tisch liegend und
den schräge gehaltenen Kopf dicht über dem Papier, die ersten
Worte hin. Trotz aller Vorsicht kratzte die alte Feder bisweilen
boshaft, er fuhr erschrocken in die Höhe, und obgleich ihn für
diesmal das Unglück eines schwarzen Spritzregens verschont hatte,
276 Erich Kramer:
traute er sich doch erst nach einer geraumen Zeit weiter zuschreiben.
Langsam füllte sich Linie auf Linie mit plumpen, zur Seite kip-
penden Buchstaben. Endlich, als schon die Dämmerung wie ein
feiner Aschenregen auf das weiße Papier fiel, endlich war der letzte
Strich getan. Er drückte behutsam das Löschblatt darüber, schloß
das Heft und schnürte seine Bücher zusammen.
Die Mutier war fort, um ein paar Einkäufe zu machen.
Er ging in die Küche hinunter, setzte sich ans Fenster und
guckte hinaus. Die Wolken zogen schwer und dunkel, der Wind
sauste in dem Krüppelweiden, und fern in der Stadt blinkten die
ersten Lichter auf. Manchmal schob ein Lastwagen seine breiten
Räder durch den Sand der Straße, die Pferde trotteten müde mit
hängenden Köpfen und losem Geschirr, und der Fuhrknecht saß
hoch oben auf dem strohgepolsterten Brett in eine gelbe Decke ge-
wickelt und hielt die Leine achtlos zwischen den Fäusten, die in
dicken, grauwollenen Handschuhen staken.
Der Kleine lehnte die Stirn an das kühle Fensterglas und
wagte nicht, sich umzusehen. Hinter ihm im Hause war es toten-
still. Wenn nun plötzlich, dachte er, die Türglocke läutete und
draußen stünde der Mann mit dem Ziegenkopf und er müßte ihm
aufmachen.
Endlich sah er seine Mutter im schwarzen Umschlagetuch,
einen Korb am Arm die Landstraße herunterkommen. Er hielt sich
ganz still, denn vielleicht war der Ziegenköpfige schon in der Küche
hinter dem Spind versteckt und erwischte und zersägte ihn noch
im letzten Augenblick. Die Mutter bog vom Wege ab und kam
auf das Haus zu. Er hörte sie die Füße über den Schuhkratzer
streifen, hörte, wie der Schlüssel hastig ins Schloß fuhr, aber er
rührte sich nicht. Dann: trat sie herein, stellte den Korb auf den
Tisch und verwahrte ihr Tuch im Schrank.
Nun wurde der Kleine lebendig. Er glitt vom Stuhl auf den
Boden, lief an den Herd und öffnete das eiserne Türchen zum
Feuerloch. In der Asche glimmten noch ein paar rote Kohlen. Er
legte Reisig und Späne auf und blies die schwache Glut an. Gelbe
Flämmchen zuckten empor und sprangen knisternd am Holz ent-
lang. Jetzt schob er große Torfstücke hinein, und einen Augen-
blick schien es, als wollten die schwarzen Klumpen das Feuer er-
sticken. Ein weißer Rauch quoll durch die wacklige Eisentür, aber
bald fing es drinnen an zu prasseln, der rote Schein flog über die
Wände, und der dunkle, kantige Schatten des Herdes rückte bis
zur Decke auf.
Der Kleine tappte zufrieden mit seinem Werk über den glut-
bestrahlten Boden nach dem Fensterplatz. Doch jetzt blickte er
*
w — — —
2 —
Die Schneeballhexe. 277
nicht mehr hinaus. Der Himmel war düster wie ein Teerbottich
auf die Welt gestülpt und die Krüppelweiden schwankten un—
heimlich im Winde wie lange Männer mit plumpen Köpfen. Er
drehte den Rücken nach dem Fenster und sah seiner Mutter zu,
die am Herd mit Schüsseln und Pfannen hantierte. Ihre Schürze
glühte grellrot, während das Gesicht als weißer Fleck im Schatten
verschwamm.
„Mach Licht,“ sagte die Mutter.
Er kletterte auf einen Stuhl, holte das zerbeulte, öltriefende
Blechlämpchen vom Bordbrett und entzündete den schwarzen, runz-
ligen Docht.
Die Mutter stellte den Suppennapf und die Kartoffelschüssel
auf den Tisch, und beide begannen schweigend zu essen.
Später nahm jedes eine Arbeit vor; die Mutter flickte Wäsche,
und der Kleine saß auf einem Fußbänkchen am Herd und schnitzte
an ein paar Brettchen herum, aus denen ein Wagen werden sollte.
Doch oft ließ er das Messer sinken und blickte mit hochgezogenen
Brauen starr durch die Ritzen des eisernen Türchens ins Feuerloch.
Die Glut war zusammengefallen und beleuchtete nur schwach die
rußigen Lehmwände. Gelbe Aschenbrocken lagen auf dem Rost,
von glimmenden Adern durchzogen; hie und da sprang noch ein
Flämmchen in die Höhe und zuckte und wackelte wie ein neu-
gieriges Gesicht. Er sah in der sterbenden Glut Straßen und
Häuser mit Kuppeln und Säulen, eine ganze Stadt aus brennendem
Gold aufgebaut. Dort wohnten die kleinen Flammenmänner. Aber
immer mehr losch die Glut dalıin, nur winzige rote Pünktchen
glimmten noch unter der Asche. Er dachte, nun sind die Flammen-
männer schlafen gegangen und haben die Lampen in ihren Gold-
häusern ausgeblasen.
Die Mutter legte die Näharbeit fort und sagte, daß es Zeit
sei, ins Bett zu gehn. Sie leuchtete ihm in die Dachkammer hin-
auf und blieb dort, bis er sich ausgezogen hatte. Sie mochte ihm
selbst kein Licht anvertrauen aus Angst, er könnte einmal Feuer
machen.
Der Kleine deckte sich bis an die Ohren zu und schloß sofort
die Augen. Er hörte die Mutter die Treppe hinuntergehn und
unten im Flur den Riegel vorschieben. Dann knarrte noch ein-
mal die Küchentür, und es wurde still im Hause. Er hätte jetzt
um alles in der Welt nicht mehr die Augen öffnen mögen.
Längs der Wand ging ein Rascheln und Kratzen, das waren
die Äste der Krüppelweiden, die der Wind hin- und hertrieb. Er
dachte nach, ob wohl noch immer der Kerl mit dem Ziegenkopf
hinter der Planke die toten Männer in Stücke zersägte. Dann fing
gruen ve de
6 —
2 — *
278 Erich Kramer:
er leise an zu zählen. Wenn er bis hundert gekommen wäre, müßte
er eingeschlafen sein. Doch plötzlich schien es ihm, als nähme er
die Zahlen aus einem Kasten heraus und reihe sie vor sich an einer
Schnur auf. Aber die Zahlen wurden so groß und schwer, daß er
sie kaum halten konnte, und mit einem Mal liefen sie wie Reifen
davon und er jagte ihnen nach über eine grüne Wiese. Er stol-
perte, er fiel in ein schwarzes Loch, er hörte neben sich ein
wunderliches Knarren und Gemecker und wollte mit einem Satz
wieder herausspringen, da war sein Hemd ringsherum am Boden
festgenagelt. Plötzlich ergriff ihn ein Zugwind und wirbelte ihn
in die Höhe, und er saß rittlings auf einer Wolke, die aber eigent-
lich nichts anderes war, als seiner Mutter großes, schwarzes Um-
schlagetuch, und segelte durch die Luft. So fuhr er über die Stadt,
über den Marktplatz und das Dach der Schule hin und sah unten
den Herrn Kantor im grauen Pelerinenmantel stehn, winzig klein
wie eine Puppe und mit der Hand heraufwinken. Dann hörte er
in ganz weiter Ferne die Stimme seiner Mutter, die ihm zuriei.
Er ging jetzt mit eiligem Schritt über eine breite Hlügelkuppe; die
Erde war ausgedörrt und zerborsten, und aus den Spalten quoll rotes,
fließendes Feuer. Ein schwarzer Himmel wölbte sich über ihm,
doch als er genauer hinsah, waren es nur die rußigen Lehmwände
des Herdes und der Hügel ein gelber Aschenbrocken. Nun tönte
die Stimme ganz laut in seiner Nähe. Da fuhr er aus dem Schlaf,
Gas trübe Morgenlicht schien durchs Fenster, die Mutter stand
neben seinem Bett und rief ihm zu, daß es Zeit zum Aufstehen sei.
So gingen die Tage und Nächte hin voller Gefahren, Abenteuer
und Träume.
Das welke Laub fiel von den Krüppelweiden, der Spätherbst-
wind heulte und schwere Wolken und Nebel zogen über das
flache Land. Die Mutter hängte einen Strohkranz um die Flurtür
und klebte die Fensterritzen mit Pappstreifen zu.
Einmal — es war schon Anfang Dezembers — beim Nach-
mittagsunterricht, der im Sommerhalbjahr wegen der Ernte aus-
gefallen, nach den Herbstferien aber wieder begonnen hatte, guckte
der Kleine vom Buch auf. Er wunderte sich, daß es schon so früh
dunkel würde; man konnte kaum noch die Schrift lesen. Da sah
er an den Scheiben weiße Flocken immer dichter und dichter her-
abwirbeln.
„Kinder, es gibt Schnee,“ sagte der Kantor. Nun drängte sich
alles an die Fenster und guckte in den Himmel hinauf. Die Abend-
sonne brach durch die Wolken und warf ihren blassen, gelben
Schein über die Häuser des Marktplatzes, die dicke Wattehauben
trugen.
Die Schneeballhexe. 279
Es war noch eine Viertelstunde bis Schulschluß, aber keiner
mochte mehr aufmerken. Da klappte der Kantor sein Buch zu
und schickte die Jungen nach Hause.
„Pelzflicker, Pelzflicker.“
Fünfzig kleine erstaunte Gesichter streckten die Nasen in die
Höhe, sperrten ihre Mäuler auf und ließen die Flocken hinein-
fallen. Dann kam ein großer Bengel auf den Gedanken, den Schnee
zu probieren, ob er schon klamm sei. Der erste Ball wirbelte
durch die Luft und zerplatzte an einer Pudelmütze. Gleich darauf
war die Schlacht in vollem Gange. Der Kantor stand in seinem
grauen Pelerinenmantel in der Tür und sah lachend zu.
Die Sonne ging unter, es wurde schon ein wenig dämmerig,
und ein paar arg zerzauste, weißbeschüttete Duckmäuser schlichen
sich fort. Aber die meisten blieben noch.
Der Kleine hatte sich an der Ecke des Schulhauses aufgestellt
und beobachtete das Treiben. Da sah er plötzlich, wie ein selt-
sames, gebücktes Wesen in ein großes, schwarzes Fransentuch ge-
wickelt, das hinten am Boden nachschleppte, und eine feuerrote
Haube auf dem Kopf mitten durch die balgenden Jungen hum-
pelte. Keiner schien es zu bemerken, obschon es an seinem Stock
langsam wie eine Schnecke hinschlich. Nun drehte es sich ein
wenig, und er sah unter dem Tuch ein verschrumpftes Altweiber-
gesicht, an dem das dünne Haar grau und zottlig wie Baum-
flechten herabhing. Die Stirn nahm über die Hälfte des Gesichts
ein, und Augen, Nase, Mund und Kinn klebten an ihr wie durch
einen Druck zusammengepreßt.
Der Kleine wunderte sich, wo das häßliche Wesen herkäme,
es ärgerte ihn, daß es so langsam und gelassen durch die Schlacht-
ordnung tappte, da griff er in den Schnee, rollte einen großen
Ball und warf ihn der Alten mitten ins Gesicht.
Im selben Augenblick schleuderte ihn ein heftiger Stoß zu
Boden, er fühlte, wie sich etwas schwer auf ihn setzte und lange
Finger hart und dürr wie vertrocknete Äste ihn an der Brust
packten und unbarmherzig kniffen. Er war von dem Stoß ein
wenig betäubt und glaubte, daß ihm irgendwer von den Schul-
kameraden ein Bein gestellt habe, doch als er die Augen aufschlug,
sah er über sich den grinsenden Kopf des alten Weibes. Da fing
er entsetzlich zu schreien an. ö
Die Jungen hörten mit der Balgerei auf, liefen herzu und
drängten sich um ihn. Er lag am Boden, das Gesicht dunkelrot,
fuchtelte mit den Armen und schrie immerfort in einem hellen,
langgezogenen Ton, der wie das Pfeifen einer Dampfsirene klang.
Die Kinder umstanden ihn ratlos und ängstlich, bis einer sich ein
280 Erich Kramer:
Herz faßte und ihn an den Schultern aufhob. Er schien aus einem
Traum zu erwachen, blickte verwirrt umher und atmete hastig, den
Rücken gegen die Mauer gelehnt. Dann klopfte er den Schnee von
den Kleidern, nahm sein Bücherpaket und trat wortlos den Heim-
weg an.
Ein kaltes Frösteln durchschüttelte ihn. Der Markt, die er-
leuchteten Schaufenster, die dunklen Vorstadtgassen, die Zaun-
planke, die Scheunen und Speicher glitten schattenhaft vorbei.
Aber die Geräusche der Stadt, das Rädergeknarr, das Trappeln der
Schritte und die Gespräche der Fußgänger drangen von allen
Seiten scheltend und drohend auf ihn ein, und er ging zwischen
ihnen hindurch wie von Mauern umstellt, die immer höher
wuchsen und immer enger heranrückten. Endlich sah er das rote
Fensterviereck der Ziegelkate aus der Dunkelheit winken.
Draußen im freien Feld pfiff ein leiser Wind und trieb die
Aste der Krüppelweiden hin und her. Und der Ton des Windes
und das Geflüster der Weiden wurden plötzlich zu Stimmen, die
eindringliche Worte redend auf ihn zu kamen, immer näher, immer
näher, fühlbar und körperlich wie hohe, weiche Lasten, unter
denen man ersticken mußte.
Er trat in die Küche und setzte sich in seine Ecke. Die Mutter
stand am Herd und kochte den Vesperkaffee. Auch dort war es
dasselbe. Das Rasseln der Töpfe, das Knattern des Feuers, alle
Geräusche wurden zu Stimmen, die mit immer lauteren Scheltreden
auf ihn eindrangen.
Er ließ sein Essen stehn. Die Mutter fragte, was ihm fehle,
doch er sah nur ängstlich zu ihr auf, denn ihre Stimme hatte einen
so drohend harten Klang angenonmen.
Sie brachte ihn ins Bett, deckte ihn gut zu und ging dann
wieder an ihre Arbeit.
Nun lag er allein in der Dachkammer, bald fieberheiß glühend,
bald von eisigem Frost geschüttelt. Und plötzlich fing die Stille
um ihn her zu tönen an. Aus dem Dunkel kamen Worte und
wälzten sich riesengroß und schwer auf seine Brust. Und immer
neue Worte kamen, häßliche, drohende Worte; die ganze Stube
war von ihnen erfüllt. Sie rückten die Wände weit auseinander,
sie hoben das Dach in die Höhe. Der Kleine glaubte, in einem
meilenlangen Kirchenschiff zu liegen, durch das die Stimmen lang-
sam zu unerträglicher Stärke anwachsend auf ihn zu rollten. End-
lich überkam ihn der Schlaf.
Am nächsten Tage fühlte er sich etwas besser. Die Mutter
hatte wegen seiner Krankheit ihre Vormittagsgänge unterlassen,
Die Schneeballhexe. 281
doch als sie ihn so frisch sah, wollte sie am Nachmittag das Ver-
säumte einholen. |
Sie trat, in ihr schwarzes Umschlagetuch gewickelt und die
rote Wollhaube auf dem Kopf, noch einmal in die Dachkammer
und sagte mit rauher Freundlichkeit, er möchte nicht bange sein,
da sie schon beim Dunkelwerden zurückkäme.
Nun lag er ein wenig müde und still wartend in dem ein-
samen Haus. Die Wintersonne schien durch die Scheiben, brach
sich im Spiegel einer Wasserschüssel und warf zitternde Goldringe
an die Wand, die sich zu einem breiten Teppich verwoben. Draußen
vor dem Fenster lag ein dicker Schneestreif, und ab und zu kamen
ein paar graue Sperlinge herangeschwirrt, pickten ans Glas, zwit-
scherten und stoben wieder davon. Doch die Farben des Gold-
teppichs verblichen nach und nach, die Dämmerung fiel in Schleiern
von der Decke herab und aus den Winkeln erhoben sich dunkle
Schatten und krochen über den Boden, wie Raubtiere, die ihre
breiten, weichen Tatzen lautlos vorwärtsschieben.
Der Kleine dachte, daß nun bald seine Mutter kommen müßte.
Da hörte er plötzlich unten die Flurglocke tönen, ganz leise, als
hätte sie ein abgebröckeltes Kalkstückchen gestreift. Behutsame
Schritte gingen die Treppe herauf, die Tür öffnete sich langsam,
und er sah im dämmrigen Licht über das Fußende des Bettes fort-
blickend eine dunkle Gestalt mit einer roten Haube im Türrahmen
stehn. Gott sei Dank, die Mutter war schon zurück. Aber sie
sprach ja kein Wort, und es dauerte so schrecklich lange, bis sie
an sein Bett trat.
Er richtete sich auf. Am Boden kroch ein kleines Wesen auf
allen Vieren, in ein schwarzes Fransentuch gewickelt, das hinten
nachschleppte, und auf dem Kopf eine feuerrote Haube.
Der Kleine fiel steif wie ein Stück Holz in das Bett zurück.
Er hörte ein hastiges Rascheln und merkte, wie sich etwas schwer
auf ihn setzte. Er öffnete die Augen und sah ein gelbes Alt-
weibergesicht, an dem das Haar grau und zottlig wie Baumflechten
herabhing. Die Stirn nahm fast über die Hälfte des Gesichtes ein,
und Nase, Mund und Kinn klebten an ihr wie durch einen Druck
zusammengepreßt. Und dann packten ihn lange Finger hart und
dürr wie abgestorbene Aste und kniffen ihn unbarmherzig.
Die Mutter fand bei ihrer Rückkehr den Kleinen in heftigem
Fieber liegen. Sie erschrak, setzte sich mit der Lampe an sein
Bett und horchte angstvoll auf jeden Atemzug. Aber bald wurde
er wieder ruhiger und sank in tiefen Schlaf.
An einen Schulbesuch war jetzt nicht mehr zu denken. Der
Kleine wurde von Tag zu Tag immer blasser und abgezehrter.
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282 Erich Kramer: Die Schneeballhexe.
Mit dem Hereinbrechen der Dämmerung befiel ihn jedesmal eine
grenzenlose Furcht, und die Mutter durfte keinen Schritt von seiner
Seite gehen. Dann fing er plötzlich an, mit den Händen um sich
zu schlagen, sein Gesicht wurde dunkelrot, und die Augen traten
aus ihren Höhlen. Aber er schrie niemals, so groß auch die
Schmerzen sein mochten, die er litt. Allmählich wurde er wieder
ruhiger und fiel erschöpft in einen tiefen Schlaf.
Der Armenarzt, ein dicker, eilfertiger Herr, erschien in der
Dachkammer. Seine hohe, vom Rauhfrost verbrämte Pelzmütze
stieß, fast an die Decke, und seine kleinen Augen zwinkerten miß-
vergnügt hinter den beschlagenen Gläsern der Goldbrille. Er
brummte etwas vor sich hin, verschrieb Medikamente und ging
wieder. Auch der Kantor kam. Sein Kahlkopf glänzte freundlich
und spiegelblank, und der graue Pelerinenmantel erfüllte wehend
die Stube. Der Kleine saß schmal und dünn wie ein Schatten in
seinem Bett und lächelte teilnahmslos. Man hätte meinen sollen,
daß. die schwache Wintersonne mit ihrem Licht durch ihn hindurch-
dringen könnte, wie durch ein trübes, gläsernes Gefäß. Er redete
iast nie ein Wort und aß nur wenig. Doch, wenn die Däm-
merung herabsank, überfielen ihn die Krämpfe.
Einmal stand die Mutter bei einer wichtigen Arbeit in der
Küche, so daß es unversehens Abend wurde und sie noch immer
den kurzsichtigen Blick auf ihre Hände geheftet hielt. Da hörte ste
plötzlich aus der Dachkammer einen langgezogenen, hellen Schrei,
der wohl drei Minuten ohne Unterbrechung anhielt. Ihr aber
schien er eine Ewigkeit zu dauern, und sie mußte sich an der
Tischkante halten, um nicht umzusinken. Dann riß der Schrei mit
einem Geräusch, als ginge etwas in Scherben, jäh ab.
Als sie zitternd die Lampe angesteckt hatte und auf den Flur
gestürzt war, glaubte sie zu bemerken, daß die Bodentür ein wenig
offen stünde. Aber es war nur Täuschung, sie fand die Tür fest
eingeklinkt.
Sie trat in die Kammer, blieb einen Moment stehen und
lauschte angstvoll. Drinnen rührte sich nichts.
Da hob sie die Lampe über das Bett.
Der Kleine lag starr ausgestreckt, ein seltsames Lächeln um
den Mund und die Augen weit e glanzlos und erloschen
wie gefrorene Teiche.
283
Lothar Brieger:
Von der Notwendigkeit des Überflüssigen.
n Berlin hat sich ein neuer Verein gegründet, der eine alte Devise
I auf seine Fahne schrieb: Die Reform der Herrenkleidung. Der
Kampf gilt nicht allein dem modernen Beinkleid (das verdrängt
werden soll, jetzt, da endlich seit ein paar Jahren die Schneider es
zu machen verstehen), auch der steife Hemdkragen soll mit ihm
fallen und alles, was, wie die Fanatiker es nennen, zwecklos und
überflüssig ist. Die Bewegung enthüllt sich als ein Teil der großen
puritanistischen Ebbe, die gerne wieder die noch kärglichen Welt-
chen unserer beginnenden Kultur brechen möchte. Von neuem wird
das Wort „notwendig“ geheiligt und gesalbt. Und seine be-
geisterten Priester vergessen darüber ganz, daß es für die Kultur
nur eine Art notwendiger Dinge gibt, die überflüssigen, daß der
Snob, so karikaturistisch er immer wirken mag, wenigstens schon
ein Zerrbild der Kultur ist, und daß, hätten ihre Voreltern gedacht
wie sie, die Menschheit noch heute von Eicheln und rohem Fleisch
leben würde. In den Augenblicken, da ein verfeinertes Geschöpf
— heute gerne als psychopathisch bezeichnet — etwas ganz Über-
flüssiges, im allgemeinen Sinne Zweckloses eben um seiner schein-
baren Überflüssigkeit halber wollte und erstrebte, ging durch die
ganze Rasse ein fühlbarer Ruck nach aufwärts. Ich stand einmal
— in Paris — vor dem Geschäfte Galles und neben mir ein junger
schäbiger Franzose, der mit einer kleinen prächtigen Vase lieb-
äugelte..e Die Hand hatte er in die Tasche gesenkt, man sah, wie
sie Geldmünzen zählte. Dann gab er sich einen Ruck und ging in
den Laden, eine Minute später verschwand die Vase aus dem Schau-
fenster. Sicher, sie wird für die nächsten Tage des jungen Narren
Mittag- und Abendessen gebildet haben. Aber nie fühlte ich so
sinnlich deutlich, warum die Franzosen uns „über“ sind und warum
sie, in einer künstlerisch so unfruchtbaren Epoche, einen so großen
Künstler wie Rodin hervorbringen konnten.
* **
*
Mustergültig im Notwendigen sind ganz allein die Tiere. Es
nimmt fürwahr nicht wunder, daß gerade die Apostel der modernen
Religion des Praktischen und Notwendigen, Darwin und seine
Jünger alle, immer wieder voll zärtlicher Liebe auf sie zurückgriffen
und sie uns als Muster hinstellen, so daß man sich in der Tat bald
mehr als ein entartetes, denn ein entwickeltes Tier erscheint. Sicher
ist ja auch, wenn die Herren konsequent sein wollen, irgendeines
Menschen Vorliebe für Dante oder Rembrandt nicht minder psycho-
284 Lothar Brieger:
pathisch im Hinblick auf die Notwendigkeit, als etwa Goethe Herrn
Moebius in bezug auf die übrige Menschheit psychopathisch erschien.
Das Tier ist darauf gestellt, das Notwendige zu wollen und
zu erreichen. Sein ganzer Körper ist so gebaut, daß es die not-
wendige Nahrung erwirbt; es hat den notwendigen Winterpelz
— den wir so teuer bezahlen — ohne viel Sorgen ganz umsonst,
seine Gliedmaßen sind für Kampf und Hausbau ohne stehendes
Heer und Architekten geschaffen. Ja, es besitzt sogar die Schutz-
färbung und oft für alle Fälle einen Schutzsaft, den es verspritzt,
wobei es in all diesen Dingen durch die psychopathischen Finessen
von schön und häßlich, duftend und weniger duftend im Gleich-
maß seines Wesens nicht gestört wird.
Dieser materiellen Überlegenheit gegenüber mag denn wohl
den trockenen Herren der Mensch als ein merkwürdiger Dekadent
erscheinen. Seine körperliche Kraft und Gewandtheit entsprechen
nicht seiner eigentlichen Position, was schon bedenklich ist, er hat
auch. weiche Stellen am Körper und Gemüt da, wo solche keines-
wegs zweckmäßig, sondern viel eher schädlich sind, seine Waffen
empfängt er von außen her, und wenn er einen Schutzsaft ver-
spritzt, über dessen Qualität sich streiten läßt, so halten sich die
Psychopathen um ihn her die Nase zu. Die Schutzfärbung, die er
annimmt, betrachtet er doch gerne in einem äußeren oder inner-
lichen Spiegel auf ihre ästhetische Wirkung hin, auch vererbt er
dergleichen nicht, woraus sich dann die merkwürdige Tatsache er-
klärt, daß gerade die bedeutendsten Exemplare des Genus oft ganz
nackt und schutzlos in die Welt hinausgingen, ja sogar verwunder-
licherweise die vernünftigsten Mahnungen, an das Notwendige und
Praktische zu denken, mit Entrüstung zurückwiesen.
Hingegen läßt sich die Tatsache schwer leugnen, daß gerade
die auf das Notwendige bedachten Praktischen oft höchst lang-
weilige und weniger Liebe als Achtung erwerbende Naturen sind,
immer sich selbst und meist auch anderen ein wenig zur Last, die
schließlich dahinschwinden, ohne eine Leistung und dementsprechend
eine Lücke zu hinterlassen. Das Bewußtsein der Erfüllung des
Notwendigen gewährt ihnen im Grunde nur einen geringen Trost
für die graue Leere ihres eigenen Daseins, und die Zufriedenheit
mit der Tugend ist eine schwere Sache, auf die Dauer, wenn man täg-
lich sehen muß, wie das Laster — in diesem Sinne natürlich — den
Genuß des Lebens und das lieblichste Lächeln der Frauen für sich hat.
Es gibt hierfür einen Trost individueller Natur so alt wie die
Menschheit, Sokrates hielt bereits gerne dem freilich wohl nicht
immer ganz gassenreinen Alkibiades die gute alte Zeit entgegen
(und das im Zeitalter des Perikles!). Ebenso alt ist der Brauch,
die Künstler als interessante Ungesellschaftliche zu betrachten und
Von der Notwendigkeit des Überflüssigen. 285
zu behandeln (unterste Klasse in Platos Staat!). Auch dieser
korrekte Weg verliert aber seine Gangbarkeit, wenn die Kultur
ausschließlich zu einer Sache des Künstlers wird. Und in
diesem Stadium stehen wir.
22
Des Künstlers Stellung zur Kultur ist eine ganz eigenartige,
bedingt durch seine sonderbare Natur, nach der er zugleich ein
Konservativer und ein Anarchist ist. Konservativ, weil er ohne
gefestigte kulturelle Tradition nicht denkbar ist; Anarchist, weil die
Stärke seiner Kunst von dem Grade abhängt, in dem er seine
Persönlichkeit gegen diese Tradition durchzusetzen vermag. Darum
vermag sich eine Künstlergestaltung ihrer kulturellen Güter nur
eine kulturell durchaus ausgereifte Zeit zu leisten, da nur sie Gewähr
für gleichmäßiges Auswiegen der Kräfte bietet. Sie ist ebenso stark
wie die Kunst, ihr Gehalt ist durch die Form nicht mehr zu unter-
drücken. Die Kunst ist nur ein Gipfel, kein Weg, noch weniger
eine Ruhebank auf einem Wege.
Und wir sehen nun, wenn wir unsere Zeit betrachten, mit
einigem Erstaunen, daß die Dinge heute ganz anders zu liegen
scheinen. Nicht mehr der Kulturzustand der Epoche schafft den
Künstler, sondern es ist die Unmöglichkeit eingetreten, daß der
Künstler, das individuellste Individuum, eine sogenannte Kultur
macht, noch mehr: die Rechte der alten Kultur wahrt. Die Künstler
beginnen über Gesellschaftsformen zu schreiben, sie wollen Regeln
des Benehmens und der Kleidung diktieren, greifen in die
Politik über, bestimmen unsere Wohnungen, diktieren den Kunst-
sammlern Gesetze, bestimmen, was in den künstlerischen Leistungen
als gut und schlecht zu werten ist (mit all diesen materiell ja ganz
guten Dingen ist ihnen eine Last aufgelegt, die ihre positive Un-
fruchtbarkeit und den allgemeinen Journalismus zur Genüge er-
klärt). Mit anderen Worten: das Individuelle, in guten Zeiten des
allgemeinen Gesetzes höchstes ausübendes Organ, will plötzlich zu
diesem Gesetz selber werden. Dieser positiv durchgeführte Wider-
sinn muß Häuser ohne Fundamente bauen, weil er gar nicht anders
kann, und führt zu einem verschwommenen Kulturkonglomerat, da
nun einmal die Kunst immer nur die Konsequenz, nie der agent
provocateur der Kultur sein kann. Wir haben eine Kultur der
interessanten Einzelheiten, aber keine Kultur der Allgemeinheit,
also keine wirkliche Kultur.
Und unter diesen traurigen Verhältnissen müssen sie beide
verrohen und sich gegenseitig kulturell vernichten: die Kultur und
die Künstler. Die Kultur wird zu einer Willkür und der Künstler
wird zum Journalisten.
286 | Lothar Brieger:
Wenn erst die Erkenntnis allgemein würde, daß wir zu solchem
traurigen Ence lediglich durch unsere verzweifelt praktische Welt-
anschauung gelangt sind, dann wäre vieles erreicht und immerhin
wieder die Möglichkeit eines Weges offen, die zu einer Kultur,
d. h. zu einem schöpferisch fruchtbaren Zustande der Allgemeinheit
führen könnte. Nicht das Erkläarliche ist das Schöne und Schöpferische,
es ist vielmehr platt, in dem Unerklärlichen, der sinnlichen Freude
an der Erscheinung ohne Absicht und Zweck, den Luxusgefühlen,
die aus mathematisch nicht ausgerechneten Tiefen steigen, ruhen die
Fundamente aller Kultur. Je praktischer wir werden, desto mehr
verarmen wir. Die moderne Klugheit ist die größte Gefahr, die der
Menschheit seit langem drohte, und gescheite Professoren sollen
nicht sie, sondern gegen sie lehren. Nichts ist uns überflüssiger
als das Notwendige, nichts notwendiger als das Überflüssige!
Hat denn nicht die Natur bereits blind den richtigen Weg ge-
wiesen, den wir in unserer praktischen Beschränktheit nur nicht
erkennen wollen? Alle die Schutz- und Anpassungsmöglichkeiten
der Tiere wurden uns genommen, daß wir dennoch an die herrische
Spitze der Schöpfung gelangten, beweist, wie überflüssig alles Not-
wendige für uns ist. Alles Stärkste und Fördernste in uns: der
Ehrgeiz, der Glaube, die Menschheitsliebe, die seelischen Neigungen,
die Freude an der Schönheit sind Luxusgefühle, Gefühle, die zur
praktischen Existenz absolut nicht notwendig sind (schädlich oft im
Gegenteil) und den praktischen Tieren völlig fremd. Aber aus
ihnen flammte das Dreigestirn des Staates, der Religion und der
Kunst auf, unter dessen Leuchten aus dem tierischen Urmenschen-
tum die Kultur wurde. |
Das neue Bemühen geht dahin, das alles zu zerstören, weil es
nicht notwendig ist, und an Stelle dessen den Kommunismus (Ur-
zustand), die materielle Notwendigkeit und die Technik (Biber,
Ameise etc.) zu setzen. Ein Erfolg dieses Bemühens ist auf die
Dauer nicht möglich, weil glückhafterweise der Mensch eben Mensch
ist. Wohl aber ein dauernder Hemmungszustand, unter dessen Er-
scheinungen wir bereits heute als unter einem Alpzustande
schwerer atmen.
Wir müssen uns auf die Notwencigkeit des Überflüssigen be-
sinnen, mag solches als Evangelium auch immerhin etwas schroff
erscheinen. Begegnen wir einem Manne, der durch ein widriges
Geschick mißgünstig abseits der Kultur verschlagen wurde, an der
er sonst seinen Anteil nahm, so werden seine Klagen immer über
das Materielle als ein immerhin noch zu Ertragendes hinweggehen,
um sich schließlich an alles Überflüssige zu hängen: an die Ent-
behrung von guten Bildern, Büchern und guter Musik, sowie des
klugen Gesprächs über Weltanschauungsfragen als ein Unentbehr-
Von der Notwendigkeit des Überflüssigen. 287
liches. Aus welcher jeglichem bekannten Tatsache wir dann ohne
weiteres ersehen, daß eben just die überflüssigen Dinge für den
Menschen seiner ganzen Natur nach die unbedingt notwendigen
sind, während er in bezug auf des Leibes Notdurft erstaunlicher
Entsagung ohne Murren fähig ist. Denn eben aus diesem Über-
flüssigen kristallisiert sich das, was wir Deutschen mit einem über-
aus prägnanten Ausdrucke „den inneren Halt“ nennen, und diese
Kultivierung des Uberflüssigen, diese recht eigentliche Zusammen-
setzung unseres besten Wissens daraus präzisiert den Abgrund
zwischen Kulturmensch und Tier, während alle Wertungen mit
dem Maße des Notwendigen das Tier fast gleich, oft genug sogar
überlegen erscheinen lassen.
Wenn darum, wie gegenwärtig, eine Strömung durch das
deutsche Leben geht, die es gerne von allem Überflüssigen und der
Freude daran losreißen möchte, um es einzig und allein an die
praktische Durchführung des Notwendigen zu setzen, so erweist
uns diese im Grunde wenig Freundlichkeit. Sie legt die Axt an
einige wirkliche Schäden, die altdeutsche Stubengelehrsamkeit und
Weltfremdheit, aber daneben gedeihen gleich die Volkseigenart,
seine Ethik und seine Kunst, und wenn der ganze Wald abgeholzt
wird, wie man das ja beabsichtigt, so werden wohl auch von
ihnen nur einige historische Stumpfen stehen bleiben.
Man hat gerade mir einmal den Vorwurf gemacht, ich sei ein
kritikloser Anglomane, weil ich für das Gute, das wir von England
lernen, Freude und Gebrauch unseres eigenen Körpers (statt lauter
Brillenträger), vernünftigen, gemeinnützigen Egoismus, Kultur der
äußeren Umgangsiormen stets überzeugt eintrat. Es ist auch kein
Grund einzusehen, warum sich all dies init unserem eigentlichen
Wesen nicht recht gut vertragen sollte. Wohl aber müssen wir
uns hüten, die Göttin der Vernunft nun als einzig gesetzgebenden
Gott zu vergötzen. Und kluge Eltern werden von vornherein dafür
sorgen, ihren Kindern recht viel Freude am Unpraktischen, Über-
flüssigen mit auf den Weg zu geben, schon damit ihnen, wie mir
eine gescheute Mutter einmal sagte, das Leben überhaupt erträg-
lich wird.
Denn das Uberflüssige deckt sich im wesentlichen eben mit
dem Idealen, und nichts ist notwendiger als dieses. Das Leugnen
seiner Notwendigkeit hat gerade unleugbar unsere Kultur zerstört
und uns das bedauerliche Surrogat einer Künstlerkultur gebracht,
die wieder der Kunst hinderlich im Wege steht. Volksprediger
sollten hinausziehen und das Evangelium von der Notwendigkeit
des Überflüssigen als neue deutsche Religion verkünden. Erst wenn
das wieder jedem in Fleisch und Blut sein wird, können wir das
so viel mißbrauchte Wort „Entwicklung“ auch auf uns anwenden.
288
Alexander Ular: Eine moralische Katastrophe.
R
uhige Zeiten sind langweilig für die Handelnden wie für die
Denkenden. Nicht nur die wüsten Draufgänger wie Ulrich
von Hutten sollten jenen Zeitläuften „Es ist eine Lust zu
leben“ zuruſen, in denen alles wankt, wenn nicht gar alles drunter
und drüber geht. Denn erst bei großen Erschütterungen der Lebens-
bedingungen kommen die seelischen Wahrheiten zum Vorschein,
die sich in der Alltäglichkeit unter der Isolierschicht der Heuchelei
oder, weit öfter noch glücklicherweise, der Interesselosigkeit und
des Stumpfsinns verstecken. — Ruhige, und viel mehr noch mit
Mühe und Not beruhigte Zeiten haben nicht nur theoretisch das
Entsetzliche an sich, daß sie, wie Schopenhauer es so schön be-
zeichnet, den „verruchten“ Optimismus selbst bei Skeptikern groß.
züchten, eine Menschheit, eine Menschlichkeit, eine innere Ent-
wicklungshöhe menschlicher Individuen und Kollektivitäten vor-
täuschen, die nichts ist als eine Fata morgana über dem Sumpf
vorzeitlicher Untermenschlichkeiten, der unter der schönen Illusion
um so prachtvoller weiterstagnierte, als er saniert geglaubt wurde.
Wenn dann der große Ruck kommt, der das Menschentum in seiner
jeweilig wirklichen Verfassung zeigt, dann konstatieren natürlich die,
die an einen inneren Fortschritt glaubten, daß eine
seelische Kollektivkatastrophe eintritt. Allerdings nur eine Kata-
strophe ihres Optimismus; eine Katastrophe der Idee, daß doch
zum mindesten die sogenannte Kulturwelt jene großen Prinzipien,
die der Menschheit seit Jahrtausenden von Weisen und Religions-
stiftern als Grundlage jedes vernünitigen und annehmbaren mensch-
lichen Zusammenlebens gelehrt wurden, allmählich aus dem Stadium
des Ideals in das realer Wirksamkeit erhebt.
Wir stehen augenblicklich vor einer solchen Katastrophe. Und
jeder, der hinter den konkreten Tatsachen das viel wichtigere All-
gemeine sieht, regt sich darüber auf. Wenn uraltes folk-lore richtige
Dinge sagte, wäre ich überzeugt, daß gegenwärtig in den Gräbern
der Philosophen reges Leben herrscht. Die einen nämlich drehen
sich zweifellos in denselben herum, während die anderen sich die
Hände reiben. Die einen sind die absoluten, ganz ehrwürdigen,
allverehrten Weisen von Konfuzius über Sokrates bis Schopenhauer
und von Gotamo über Jesus bis Tolstoi, die daran glaubten, es
gäbe etwas Wahres und etwas Gutes an sich, und denen es ge-
lungen war, Völkern und selbst Denkenden die Idee einzupflanzen,
daß nichts Festeres und Sicheres und Untrüglicheres im Leben
existiere als die Moral. Die anderen dagegen sind jene Lästerer, deren
lachende Skepsis sich nicht entblödete, alles, was dem guten Bürgers-
Eine moralische Katastrophe. 289
mann heilig ist, in den Staub zu ziehen, der Moral jeden wirk-
lichen, geschweige denn absoluten Wert abzusprechen, und sie wo-
möglich als den jeweils wechselnden Vorwand auszugeben, den
Herrschende benutzen, um sich möglichst mühelos den Fährnissen
des Lebens anzupassen.
Immerhin ist es unter allen Umständen ziemlich blamabel, wenn
diese Lästerer einmal offenkundig recht behalten, und somit das
Gebäude unserer angeblichen sittlichen Kultur miserabel ins Wanken
gerät. Denn wenn ganze Völker und selbst ihre intelligentesten
und besten Wortführer heute als himmlisches Recht verfechten, was
sie gestern als infamstes Verbrechen gegen alle göttliche und mensch-
liche Moral verdammt hatten, so ergreift jeden gesunden Menschen-
verstand denn doch schließlich ein Gefühl, als seien die heiligsten,
den Menschen aufgeschwatzten Prinzipien nichts als hinter Auguren-
lächeln verstecktes Gerede, und als vermöchte die Menschheit sich
gegen die schlimmsten Attentate auf ihre höchsten Grundsätze, so-
bald sie nur erfolgreich durchgeführt werden, nicht anders zu
wehren, als — indem sie diese als ganz besonders moralische
Heldentaten ausgibt.
Das Interessanteste und sicherlich für Europa Wichtigste anı
Balkankrieg ist die plötzliche Zerstörung einer Reihe von Prinzipien
internationaler und sonstiger Moral, die allmählich, wenigstens
bei Kulturvölkern, immer festeren Boden zu finden schienen. Wenn
seit fünfzehn Jahren weder der englisch-französische Afrikazwist,
noch der furchtbare englisch-russische Kampf um Asien, noch die
unselige Marokkosache zu einer materiellen Katastrophe für die
Kulturwelt geführt haben, so war der einzige Grund nicht etwa
das Gefühl gegenseitiger materieller Schwäche, sondern einzig
und allein die Furcht vor der moralischen Verantwortung leitender
Männer; denn — allzumenschlich — : die Völker hätten Siege ver-
ziehen, weil materieller Vorteil, wenn er nur groß genug ist, alle
Prinzipien immaterieller Art vernichtet; aber Niederlagen wären
durch die Immoralität des Konfliktes erklärt, und demgemäß vom
wütenden Volke gerächt worden, wie das russische versucht hat,
den mandschurischen Unfug am Zarismus zu rächen.
Aber Mißverständnis oder Gefühl: soviel ist sicher, daß der
Balkankrieg und alles, was damit zusammenhängt, nunmehr als
absoluter Beweis dafür gelten wird, daß ein für allemal die hypo-
thetische Moral des Menschen etwas ganz anderes zu sein hat, als
die reale Moral der Völker. Diese Weisheit läuft praktisch ge-
nommen, darauf hinaus, daß, wenn eine Menge Menschen sich zu-
sammentun, um etwas zu begehen, was jedereinzeln als Verbrechen
F
|
290 Alexander Ular:
empfinden würde, dieses vielfache Verbrechen von dem Augenblicke
an eine bewunderungswürdige Tat wird.
Am offensten wurde diese plötzlich wieder zu Ehren ge-
kommene Moral der ruhmreichen Gewalttat vor einiger Zeit von
einem jener Männer proklamiert, die die verantwortungsvollsten
Funktionen in Europa ausüben. Der sonst so vorsichtige, richtig
denkende und an Selbstbeherrschung gewöhnte Poincaré tat unter
der zwingenden Suggestion des Milieus und der von ihm nicht be—
herrschten Verhältnisse einer tausendköpfigen jubelnden Menge
folgende neue moralische Wahrheit kund: „... Aber die glänzenden
Erfolge der Verbündeten und die schweren Opfer, die sie sich auf-
erlegt haben, gaben ihnen jeden Tag neue Rechte, die nie-
mand mehr ihnen streitig zu machen gedachte.“
Also: der Erfolg schlechtweg, wie immer er auch erlangt sei,
und jedenfalls wenn er durch massenhaften Totschlag, Mord-
brennerei und Hinterlist gesichert wird, gibt neue Rechte. Auch
die „Opfer“, die man sich freiwillig auferlegt, um eine Gewalttat,
d. h. etwas gegen das Rechtsempfinden jedes einzelnen Ver-
stoßendes — durchzuführen, also vor allem der Wille, sein Leben
zu riskieren, schafft Rechte. Und solche „Rechte“ gedenkt niemand
streitig zu machen, sei es, daß niemand es wagt, sei es, daß
jedermann solche „Rechte“ für wohlerworben hält, also den
Hintergedanken hat, er wolle gelegentlich ähnliche „Rechte“ auf
ähnliche Weise erwerben. Wäre Poincaré nicht ein Mensch, dessen
Geistigkeit hoch über der Politik steht, aller der Methoden, die die
Moral der einzelnen Menschen verdammt, so müßte man sagen,
daß kein Zyniker jemals zynischere Prinzipien einer angeblichen
Kulturwelt zugeschrieben hat.
Es ist in der Anwendung dieser Prinzipien ja alles und jedes
verlogen: das Rassenprinzip, nach dem die Bulgaren zu Bulgarien,
die Serben zu Serbien usw. gehören sollen; das Religionsprinzip,
nach dem Exarchisten zu den Bulgaren, die Patriarchalisten zu den
Griechen usw. gehören sollen; das Racheprinzip, nach welchem
die Türkei verdient zerstört zu werden wegen der zahllosen
Mordtaten — die die „Verbündeten“ fast ausschließlich unter-
einander begangen haben; das Rechtsprinzip, nach dem jedes Volk
iiber sich selbst verfügen soll; das Nationalitätsprinzip, nach welchem
die Nationen, mit ihrer nationalen Regierung identifiziert, einen
nationalen Interessenprozeß mit Kanone und Bajonett plädieren
dürfen.
Denn wer wendet diese Prinzipien an und wie werden sie ge-
handhabt? Sonderbare „nationale“, mit dem Volke identische Re-
gierungen!
N u. u EEE EEE —
Eine moralische Katastrophe. 291
Wenn es noch internationale Fürsten gibt und wenn noch mon-
archisch gesinnte Nationen existieren, die da vermeinen, der Fürst
müsse um so mehr zur Nation gehören und in ihr ein Würdiger
sein, als er ihre Spitze sein soll, so muß dieses balkanische vier-
blättrige Kleeblatt große Illusionen zerstören. Denn diese Fürsten
sind international und interkonfessionel. Man denke sich einen
Russen oder einen Mohammedaner auf dem deutschen Kaiserthron,
einen protestantischen Zaren, einen Engländer in Rom regierend!
Und doch stand man schon vor dieser Vaudeville-Szene: die Auf-
erstehung der Bourbonen als Zaren von Byzanz. Und niemand lachte!
Aber wenn es sich hier um Lustspiele handelt, welche stets
an Individuen geknüpft sind, so fehlen uns in den sozialen
Wesenheiten des moralischen Zusammenbruchs am Balkan die Tra-
gödien nicht. |
Es ist z. B. gelungen, der ganzen Welt aufzuschwatzen, das
türkische Regiment sei in Europa so furchtbar gewesen, daß jede
Missetat sich durch berechtigte Rachsucht entschuldige. Das hat
die große Presse fertig gebracht. Aber die Presseleute wissen, wie,
zu welchen Zwecken und aus welchen Motiven, aus dem Nichts,
wenn nicht direkt aus dem Gegenteil „Öffentliche Meinung“ mit
durchschlagendem Erfolge fabriziert wird. Schade um die öffent-
liche Meinung! Schade um die Leser! Und schade für die Presse,
wenn das Publikum wüßte, wie es gemacht wird!
Wer hat je vor einigen Jahren von türkischen Metzeleien
gehört? Und jetzt glaubt jedermann, daß die Türken in Maze-
donien die Mordbrenner waren und verdienen ausgerottet zu
werden. Und warum? Weil die Türkei deutscher Hauptposten inı
Orient war; weil deshalb die Türkei zu Grunde gehen sollte, und
weil in Rußland durch Gewalt, in Frankreich und England durch
oft nur zu melodiöse — um nicht zu sagen klingende — Über-
redung die Presse unter dem Vorwande „right or wrong, my
country“, Nationalregierungen, dient, während in Deutschland,
das an journalistischer Geschicklichkeit enorm zurücksteht, kein
Gegengewicht geschaffen werden kann, erstens weil die Presse nicht
regieren kann wie in Frankreich und England und deshalb ihre
Auslassungen nur theoretischen Wert haben, zweistens weil sie
sich trotz aller scheinbaren Gründlichkeit nur zu oft aus zweiter
Hand informiert und daher ihr Gewicht im Ausland hundertmal
geringer ist, als der Einfluß der englischen und französischen Presse
in Deutschland. Sonst wäre es nicht möglich geworden, daß selbst
in Deutschland die Verlogenheit hätte triumphieren können, die von
anderer Seite in der Behandlung des Balkanproblems zum Prinzip
wurde. |
292 Alexander Ular:
Es ist ja ungeheuerlich, zu behaupten, die Türken hätten seit
Jahrzehnten Mazedonien mit Blut übergossen. Man kann den
Türken alle möglichen Vorwürſe machen, aber diese Verleumdung
war längst widerlegt. Man kann ihnen sagen, sie haben zwei-
hunderttausend Armenier gemordet: und sogar das ist falsch; denn
nur Abdul-Hamid, der von Verfolgungswahn ergriffen, in den
Armeniern (mit Recht) die Agenten englischer Zersetzungsarbeit
und (mit Unrecht) den wesentlichen Kern der Revolution gegen
seinen Terror sah, hat diese Scheußlichkeiten persönlich ange-
ordnet und durch persönliche Diener ausführen lassen. Und was
die Bulgaren, Griechen usw. betrifft, so sei es mir verstattet, zu
konstatieren, daß ich genau vor vier Jahren in meinem Buche vom
„Verlöschenden Halbmond“ die nötigen offiziellen Dokumente ver-
öffentlicht habe, die mir aus griechischen, bulgarischen, russischen
und türkischen Geheimarchiven zuflossen, um unwiderleglich nach-
zuweisen, daß nicht die Türken, sondern die Bulgaren und die
Griechen die Mordbrenner waren — d.h. nicht diese Nationalitäten,
sondern die Angehörigen der bulgarisch-orthodoxen Exararchats-
kirche und die der griechisch-orthodoxen Patriarchatsorganisation —
und auch, daß die Wendung, die das jungtürkische Regime nahm,
schon vier Monate nach der Revolution unweigerlich binnen vier
Jahren zur Abtrennung der türkischen Christen und zur Auflösung
der europäischen Türkei führen mußte. Wesentlich ist, daß doku-
mentarisch bewiesen wurde, wie nicht die Türken, sondern die tod-
ſeindlichen Bulgaren und Griechen Organisatoren der Metzeleien
waren, und daß die Türken, praktisch, wegen der widerstreitenden
ausländischen Erpressung, Englands für die Griechen, Rußlands
für die Bulgaren, den Verhältnissen gegenüber ohnmächtig waren
und nur in den allerschlimmsten Fällen intervenierten. Und wie
sollten sie dies tun, wenn nicht durch drakonische Repressalien
wider die Mittäter der schuldigen Banden? — Daß die Verhält-
nisse jetzt in jedermanns Auge umgekehrt erscheinen, ist ein
wunderbares Meisterwerk praktischer Journalistik.
Sicher waren die Jungtürken verbohrt und moralisch zweifel-
haft. Wenn portemonnaieschmächtige Revolutionshelden plötzlich
als Inhaber reizender (von Abdul-Hamid gespendeter) Villen und
Regierungspfründen in die Erscheinung traten und ihre Idee des
osmanischen, alles vertürkenden Nationalstaates weder unter guten
Worten, noch unter Schnaps aufgeben wollten, so war eine weitere
türkische Katastrophe sicher. Aber warum war man damals auch
in Berlin unwissend und verbohrt? Warum holte man damals
Marschall von Bieberstein nicht fort, der unter Abdul-Hamid ein
Genie gewesen war, aber nun das deutsche Prestige nur durch
Eine moralische Katastrophe. 293
Unterzeichnung aller jungtürkischen Torheiten retten zu können
glaubte? Warum schickte man damals nicht v. d. Goltz als Bot-
schafter hin, den einzigen Menschen der Welt, der den Jungtürken
hätte plausibel machen können, daß ihr Nationalstaat totgeboren
sei und daß nur das förderative Prinzip, die autonome Organisation
aller Nationalitäten unter osmanischer Führung hätte die Türkei
retten können? Oder wenigstens dann, als man in Paris, London
und Petersburg bereits wußte, daß die Jungtürken die Türkei
auflösten. Weshalb wußte man in Berlin davon nichts
und ließ das wesentliche Element der Hegemonie des
Dreibundes in den Abgrund rasen....?
Fast schlimmer noch als in der Frage der türkischen Ver:
gewaltigungsmoral aber ist die Verlogenheit Europas in der Frage
der Nationalitäten aufgetreten. Das aus der Verschwörung der vier
„nationalen“ Balkanfürsten geborene „Recht“ soll das der Na-
tionalitäten sein. Und alle Welt findet das sehr schön und gerecht.
Ja, und die Polen in Deutschland, die Finnen, Polen, Kleinrussen,
Georgier usw. in Rußland, die Ruthenen und Kroaten in Österreich-
Ungarn? Ist es nicht bezeichnend und furchtbar, daß jeder zu
sagen scheint: „Ja, Bauer, das ist etwas ganz anderes?“ Noch
schlimmer aber wird diese moralische Antinomie dadurch, daß
man wenigstens ganz genau weiß, was ein Pole, ein Finne, ein
Georgier, ein Kroate oder Ruthene ist und sich nicht entrüstet,
wenn man von deren nationalen „Rechten“ redet, während man sich
für das „Recht“ von Bulgaren, Griechen und Serben begeistert, ob-
wohl niemand, und sogar sie selbst nicht wissen, und nicht wissen
können, was sie eigentlich sind.
Man weiß ja absolut nicht, wenn von Bulgaren, Griechen,
Serben und Albanern die Rede ist, ob es sich um rassische, sprach-
liche oder nicht einfach kirchliche Zusammengehörigkeit handelt.
Man frage einmal auf dein Markte von Usküb, der „moralischen
Hauptstadt Serbiens“, ein paar Dutzend Leute, welcher Nationalität
sie sind. Man wird staunen.
Da trifft man offenbare Albaner, die serbisch zur Muttersprache
haben, und behaupten, sie seien Bulgaren, denn sie sind unter der
Fuchtel der Popen des Exarchats. Waschechte Bulgaren dagegen
halten sich für reine Griechen, da sie die patriarchische Kirche
nicht verlassen haben. Auch findet man massenhaft unzweifelhafte `
Serben, die sich für Albaner ausgeben, weil sie nämlich Moslim
sind. Und so weiter. Die Begriffe der Konfession, der Sprache
und der Rasse, von Nation ganz zu schweigen, gehen fortwährend
durcheinander. Und wenn man bedenkt, daß wenigstens bis jetzt
jedenfalls das Konfessionelle alles andere dominiert hat, daß nicht
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294 Alexander Ular:
das bulgarische Volk, sondern die bulgarischen vom Patriarchat
griechischer Observanz und Kirchensprache abtrünnigen Popen die
bulgarische Hetze geschaffen, großgezüchtet und durchgeführt haben;
daß nicht bulgarisches und griechisches Volk, sondern ohne Unter-
schied der Volkszugehörigkeit die Pfarrkinder exarchischer und
patriarchischer Pfaffen und Mönche sich gegenseitig umgebracht
und ein „Nationalbewußtsein“ angelogen haben, so kann man sich
einen Begriff davon machen, was das Nationalitätsprinzip in diesem
Wirrwarr zu suchen hat. Es ist ja nur der Deckmantel dynastischer
und oligarchischer Interessen. Jedermann weiß. daß, wenn es über-
haupt auf der Welt eine wirklich albanische Stadt gibt, keine andere
diese Bezeichnung so vollkommen verdient wie Skutari. Und doch
haben sich die Halbwilden der Schwarzen Berge nicht entblödet,
diese Stadt für sich zu verlangen — unter dem Vorwande des Na-
tionalitätsprinzips. Wenn es irgendwo in Europa je eine türkische
Stadt gegeben hat, so ist es Adrianopel, wo nicht drei Prozent
Bulgaren leben; und doch war sie von Anfang an das vornehmste
Objekt bulgarischer Gier. Wenn es je in modernen Zeiten eine
Judenstadt gegeben hat, eine Mischstadt, in der das jüdisch-rassische
Element dominiert, so ist es Saloniki, und doch wollen die Griechen
sie geradezu als Nationalhauptstadt auſputzen.
Die verschworenen Zauberlehrlinge sind natürlich unfähig ge-
wesen, die entfesselten Gewaltinstinkte ihrer Massen zu bannen —
wollten es aber wahrscheinlich auch gar nicht. Jetzt heißt es nicht
mehr Brüder beireien, sondern andere unterjochen. Und wenn Berg-
banditen bei Cettinje nicht Skutari rauben, das mehr wert ist, als
sie alle zusammen, so wird ihr Hauptmann trotz kaiserlicher und
königlicher Verwandtschaft mit Spott und Hohn davongejagt werden.
Wenn der französisch katholische Chef des bulgarischen Exarchats
seinen Leuten nicht die türkische Stadt Adrianopel zur Beruhigung
in den Rachen werfen kann, riskiert er, wie sein ebenso „bulgarischer“
Vorgänger, höflich aber energisch abgeschoben zu werden. Mit
dem dänischen Protestanten, der die griechisch-orthodoxen Macht-
gelüste als sein Ideal ausgibt, steht es nicht anders.
Und Europa, seine Diplomaten, seine Monarchen, und sogar
seine vergiftete öffentliche Meinung finden es schön und womöglich
gerecht, daß jetzt die Hauptverschworenen, um sich persönlich der
Treue ihrer Mittäter und Gefolgsmannschaften zu versichern, die
hoch und heilig vorgeschützten moralischen Prinzipien in den
Schmutz werfen, und anstatt Nationen zu befreien, aus purem
persönlichen Interesse Nationen unter jochen wollen.
Die namenloseste Schmach aber ist, daß sämtliche Kultur-
staaten, die vor zwei Monaten schworen, sie würden alles beini
— — — —
an r 3 8
Eine moralische Katastrophe. - 295
Alten lassen, die dann sich ein erstes Mal verleugneten und heuch-
lerisch das Nationalitätsprinzip als Entschuldigung vorschützten,
schließlich ein zweites Mal an sich selbst Verrat begingen und ge-
meinsam mit über den Schwächeren herfielen, um ihn zu zwingen,
ungeachtet aller Nationalitäten, aller Religionen, aller Sprachen,
Kulturen und sonstigen Zusammengehörigkeitsprinzipien, alles und
jedes, noch nicht einmal mit Gewalt genommene, den Angreifern
bis zur völligen Sättigung ihrer plötzlich entfesselten Gewaltherren-
instinkte zu überlassen. Es ist als ob Polizisten, die eine Räuber-
gesellschaft in flagranti ertappen, wütend ihre Revolver herauszögen
und — auf das Opfer richteten, um es zu zwingen, außer seiner
Uhr und seinem Gelde auch noch seinen Rock, sein Hemd und
womöglich seinen Kopf zu lassen.
Die praktischen Konsequenzen der systematischen Volksver-
giftung, die dieses neue Evangelium wie eine greuliche Epidemie
über die Kulturwelt verbreitet, werden furchtbar sein. Was soll
denn in Zukunft das Volk in Dingen internationaler — und inner-
halb gemischtrassiger Staaten in Dingen nationaler Moral denken?
Der Beweis ist ja geliefert, daß auch mitten in der Kulturwelt unter
allen Umständen Gewalt vor Recht geht, im Erfolgsfalle selbst alle
Vorwände zur Gewalt über Bord geworfen werden, die bis zum
Brechen volle Sättigung kollektiver Gier als gerecht betrachtet wird
und — der Rest der Welt dem eklen Schauspiel Beifall klatscht.
Wer dürfte es in Zukunft noch wagen, gegen die hinterlistigsten
Anschläge und die skandalösesten Vergewaltigungen zu pro-
testieren? Ist es nicht geradezu unglaublich, daß mehrere Groß-
mächte mit ihrer gegenwärtigen Haltung die Basis ihrer gesamten
Politik untergraben, die in der Überzeugung und in dem Prinzip
wurzelt, „Europa werde nicht erlauben“, daß dieser oder jener
Großstaat zerschmettert werde? Europa erlaubt ja alles, und wenn
es irgendwie schief geht, sucht jeder noch von dem kannibalischen
Bankett einige Knochen zu erwischen.
Und die wirklichen Folgeerscheinungen der moralischen Balkan-
katastrophe? Steigerung des Militarismus in ganz Europa und
mithin steigende wirtschaftliche Belastung, steigender innerer Un-
friede überall; Gemütsverrohung, die das absolute Pochen auf
rohe Gewalt, die Umwandlung internationaler Politik in fort-
gesetzte internationale Erpressungsversuche notgedrungen mit sich
bringt; schließlich womöglich eine Wiederholung im Großen der
Verschwörung von Sofia.
Von der moralischen Einbuße, die Europa als Ganzes und
mehr noch jeder einzelne Staat im Reste der Welt erleidet, kann
a TER TITTEN u
296 Alexander Ular: Eine moralische Katastrophe.
man füglich schweigen. In Anıerika, in Indien, China und Japan
lacht man.....
Was denn hätte geschehen sollen? — Daß die Bulgaren,
Griechen und Serben die türkische Verwaltung loswerden wollten,
war natürlich und fast vernünftig. Aber das Wesentliche in höherem
Sinne war gar nicht, daß die europäische Türkei zerstört werde,
sondern wie sie zerstört werde. So hätten, was alles Wichtige be-
trifft, die Fragen der Verwaltung, des nationalen Selbstbestimmungs-
rechtes usw. ebensogut unter dem moralischen Druck eines ver-
einigten Europas aus der Welt geschafft werden können. Und
wenn den Großmächten etwas an ihrer gegenseitigen Sicher-
heit läge, so hätten sie dazwischenfahren und unter äußerlich
ähnlichem Schein, aber innerlich ganz anderen Motiven das Werk
des Berliner Kongresses wiederholen, den Angreifern ihre Beute
nötigenfalls mit Gewalt wieder abnehmen, und dann selbst zur
gründlichen Neuordnung der Dinge schreiten müssen.
Natürlich ist das eine Utopie. Aber sie ist der unmittelbare
Ausdruck des moralischen Entwicklungsgrades, den der normale
moderne Mensch vorgibt zu besitzen, und den er oft aus seinem
Christentum zu schöpfen behauptet. Hat das Christentum etwa
gelehrt: Gewalt schafft Recht? Und doch sind alle Regierungen
und Volksmassen, die heute das Evangelium der Gewalt wieder an-
beten, Christen und modern. Die einzigen aner, die es von sich
weisen und ihm zum Opfer fallen, sind Mohamedaner, also un-
christlich und unmodern.
Darin liegt der moralische Niederbruch Europas.
297
Paula Becker-Modersohn:
geb. 1876, gest. 197. Briefe und Tagebuchblätter.
II.
Paris, Boulevard Raspail, 1900.
Iso jch sitze am französischen Kamine! Am Montag ging
A ich etwas eisenbahnmüde zu Bett, um aus süßen Träumen
von Klara Westhoff herausgeklopft zu werden. Wir redeten
bis zum Morgen, sie ist so voll von allem!
Draußen sieht und lernt man bei jedem Schritt. Das braucht
man auch, man muß immer innerlich arbeiten. Ist man zu müde
und kann nicht mehr, so empfindet man einen großen Degout.
Denn die Welt ist hier zu zu zu dreckig. Scheußliche Absinth-
gerüche und Zwiebelgesichter und eine wüste Sorte von Frauen.
Ich habe uns noch nie so geschätzt wie in diesen Tagen. Bis-
her fühlte ich nur unsre Fehler deutlich, und jetzt spüre ich mit
aller Macht alles, was wir haben, und das macht mich stolz.
Diese Woche brauche ich zur Orientierung und Sammlung.
Auf dem Klavier meines Nervenlebens wird fortwährend forte ge-
trommelt. Daran muß es sich erst gewöhnen.
Antiquarläden gibt es hier zum Jauchzen. In jedem vierten
aus ist solch ein Tohuwabohu von interessanten Gegenständen.
Ich trete mit immer erneutem Staunen davor, innerlich sprechend
wie jener kleine Knabe: „Wenn i jetzt so a Kettle hätt, da tät i a
Eichhätzli dran, — wenn i eins hätt.“
Der Montag führte mich in meine Akademie. Cola Rossi, die
Haare ins Gesicht geschnitten, strich das Geld ein und brachte dem
Akt irgendeine Pose bei. |
Leider posieren die Modelle hier alle. Ein jeder hat ein halb
Dutzend Stellungen, die er allmählich an den Mann bringt. Ich
werde hoffentlich allerhand lernen, namentlich da ein wundervoller
Anatomieunterricht, der in der Ecole des Beaux Arts unentgeltlich
erteilt wird, meine mangelhaften Kenntnisse ergänzt.
An Präparaten und schematischen Tafelzeichnungen wurde uns
vestern das Knie auf eine lichtvolle Weise erklärt. So etwas wird
uns Mädeln nirgend geboten wie hier.
Den Sonntag verbrachte ich mit Klara Westhoff bei Uhlemanns
in Joinville bei Vincennes. Das ist eine höchst interessante Familie,
nicht gerade heiter wirkend, mehr wie ein Stück lbsen.
Die Mutter, Witwe, ist völlig taub. Sie führt auf diese Weise
ein Leben für sich. In ganz weltliche Gespräche fällt sie dann mit
ihren kleinen naiven Fragen. Das wirkt rührend. Mit den Augen
liest sie die Antworten ab, mit Augen, die das Leben ein wenig
298 Paula Becker-Modersohn:
traurig ausgelöscht hat. Sie ist den ganzen lieben Tag im Hause
tätig. Sie kann nicht ruhig sitzen. Dann kommt die Traurigkeit
über sie, und sie muß weinen.
Der Mittelpunkt der Familie ist der 23jährige Sohn, ein talent-
voller Mensch. Er spricht acht Sprachen fließend, ist an einer
Zeitung tätig und hat sich hier in Paris mit einer vierzigjährigen
Frau verbunden. Er gehört zu denen, die über alles schelten,
Menschen und Dingen kein gutes Haar lassen.
Im Grunde haben sie alle ein kinderweiches Gemüt, dessen sie
sich fast schämen und das sie selten ans Licht treten lassen. In
die Augen wagt es sich noch am ersten.
Eine zwanzigjährige Tochter lernten wir kennen, früh gereift,
klug, nüchtern, mit grauer Lebensauffassung. Dazu kam diese
Woche Paula Uhlemann, die bei Frau Erdmannsdörfer in München
Musik studiert, — sehr sensitiv, fast blutlos.
Klara Westhoff wirkt dort mit ihrer braunen Gesundheit und
Riesenhaftigkeit sehr amüsant. Geistig und wirklich warf sie bei
jeder Bewegung einen kleinen Tisch oder einen Stuhl um.
Joinville liegt an der Marne, die ihre gelben Wasser durch
müde, dunkle Wiesen wälzt, an den Ufern strenge Pappeln. Wir
sahen es bei Regenhimmel. Bei blauer Luft muß es böcklinisch
wirken.
Im ganzen stimmt Paris mich ernst. Es gibt hier so viel
Trauriges. Und was für die Pariser lustig sein soll, das ist das
Allertraurigste. Ich sehne mich manchmal nach einem Moor-
spaziergang. Dennoch genieße ich meine Zeit, nehme viel in mich
auf und komme weiter.
* dl
*
Heute hatte ich bei Courteois Coccectur. Er trifft den Nagel
auf den Kopf, kurz und bündig. Er hat im Auge das, was ich
will, und reißt mich nicht wieder nach einer andern Seite. Ich
habe heute viel bei ihm gelernt und bin sehr froh.
Ich habe in der Akademie vormittags Aktzeichnen belegt. Da
kommen am Anfang der Woche Girandot oder Collin und korrigieren
auf die Richtigkeit hin. In der zweiten Hälfte der Woche kommt
Courteois, der das Malerische hauptsächlich im Auge hat, Ton-
werte USW.
Man hat das Doppellehrer-Verfahren hier als gut erprobt, auch
die Académie Julian hat diese Einrichtung. Mir ist es auch sehr an-
genehm. Nachmittags ist ein Kursus Croquis, auch Akt, der
während zwei Stunden in vier verschiedenen Stellungen gezeichnet
wird. Das ist lehrreich für die Auffassung der Bewegung.
*
*
Briefe und Tagebuchblätter. 299
Heut will ich Euch von dem Atelier im besonderen erzählen.
Nicht von der Grundidee, dem Ernst und der Arbeit, sondern vom
Drum und Dran. Drum und dran ist hier nämlich viel. Vieles
zum Lachen und zum Verwundern.
Also die Rue de la Grande Chaumière ist eine kleine Straße
mit kleinen Häusern. In zweien hat Cola Rossi sein Atelier aufge-
schlagen, — er ist König in dieser Straße.
Früher Modell, ist er jetzt ganz Gentleman. Sehr smart an-
gezogen, sehr ritterlich gegen Damen, versucht er die Miene eines
grand seigneur zu behaupten. Sein Vater ist ihm ähnlich. Nur
sieht man es dem an, daß er sich in allerhand Ecken umhergetrieben
hat, wo es nicht ganz sauber war. Die beiden scheinen sich gut
zu verstehen, sitzen überhaupt manches miteinander aus.
Das Faktotum des Hauses, das dafür sorgt, daß cie Ateliers in
ihrem würdig gewordenen Schmutze beharren und die Ofen schlecht
brennen, dies besagte selbst verschimmelte, verschmutzte, verbogene,
verschmitzte Faktotum heißt — Angelo!
Angelo ist die Fee, die hier waltet. Der hält die erste Zwie-
sprache mit den Modellen. Ist meist von drei, vier reizenden Däm-
chen angecirct, damit er ein gutes Wort für sie einlege. Er läßt
sich alles schmunzelnd gefallen.
Und nun der ganze Hofstaat von Schülern und Schülerinnen.
Darunter auch viel merkwürdiger Schwindel.
Viele Maler sehen hier in Paris aus wie man früher dachte,
so müßten sie aussehen: mit langen Haaren, braunen Sammet-
anzügen, mit seltsamer Toga auf der Straße, mit wehenden Shlipsen,
im ganzen ein wenig wunderlich.
Unter den Schülerinnen gibt es auch seltsame Gestalten. Die
meisten machen mit ihrem Haar unglaubliche Sachen und allerlei
Wippchen mit ihrer Kleidung. Im großen und ganzen wird ziem-
lich schlecht gearbeitet.
Mein Haushalt läuft glatt. Am Sonntag schrubbt mir eine
femme de menage für dreißig Centimes. Meine mädchenhaften und
häuslichen Tugenden gedeihen mannigfaltig. Ungefähr mein erstes
Möbel (das erste war mein Bett), also das zweite war ein Besen.
Hand-, Trocken- und Wischtücher sind schon nach Kräften wirksam.
Ich habe eine Crömerie entdeckt, wo ich mit allerlei kleinen Leuten
zu Tisch esse. Pariser kleine Leute sind nun zwar etwas anders
als bei uns, mehr wie bei uns die großen Leute nach der einen
Richtung hin. Unter diesen Weltkindern bin ich dann der Waisen-
knabe. Sie sind aber ganz niedlich mit mir, machen nur manchmal
aus meinem Französisch etwas zweideutig scheinende Wortspiele.
Ich verstehe sie aber nicht und lasse mir auch keine grauen I laare
300 Paula Becker-Modersohn:
darüber wachsen. Das Grauehaarewachsenlassen muß man hier
verlernen. Es gibt zu Mannigfaltiges nach jeder Richtung hin,
bald hört man auf sich zu wundern.
Ich genieße das Straßenleben ungeheuer. Es gibt im Volke
viel originelle Typen, die sich um Gott und die Welt nicht kümmern,
sondern aussehen, wie sie gerade Lust haben. So begegne ich auf
meinem Schulwege immer einem rührenden Alten, der sich eine
leuchtend lila Steppdecke umgebunden hat und einen Hund von
zweifelhafter Rasse führt.
In der Anatomie werden uns jetzt an zwei lebenden Modellen
und an einer Leiche die Muskeln erklärt. Äußerst interessant, nur
macht die Leiche mir leider jedesmal Kopfweh.
Wie hier alles beieinander liegt. Lachende Gesichter, amour,
amour, und tiefstes Elend. Manchmal ist es mir ein wenig viel.
Dann nehme ich meine Guitarre zur Hand. Die ist mein David hier.
*
Ich möchte gut Französisch können, denn die Leute sind alle
so geistreich. Esprit gibt es hier in ungeheuerlichen Quantitäten,
daß mir armen Bäuerlein oft Sinn und Zunge stille stehen. Auch
in der Kunst gibt es viel Esprit. Die Art des Farbenauftrages
ist äußerst geistreich. Das Unterste, Letzte, Feinste, das haben sie
nicht. Das ist eben dasselbe, was ich instinktiv im Cyrano de
Bergerac fühlte.
Mit meiner sogenannten Studentenwirtschaft ist es wirklich
nicht schlimm. Es ist ganz ordentlich und reinlich. Narzissen unc
Mimosen stehen auf dem Tisch. Die ganze vorige Woche habe ich
mich an einem achtköpfigen Rosenbündel gelabt. Man muß ein
wenig reine Natur sehen, wenn das Komplizierte und der Verfall
einen schwindlich gemacht haben. Oft erfreut mich schon ein Hund
oder unser großer, langschwänziger Hauskater. Jetzt schnell mein
Abendbrot und dann geht es von 7—10 in den Abendakt.
Anbei ein paar Akte. Es wäre interessant, wenn Ihr Euch als
Gegenstück die Berliner Akte vom Boden holen wolltet. Ihr werdet
linden, daß alles mehr an der richtigen Stelle sitzt, überhaupt
mehr drin ist.
Hier saß der Frühling schon in jedem Strauch, er lag in der
Luft und dem Menschen im Herzen. Die Pariser scheinen Auf-
lassung für den Frühling zu haben. Wenn man mittags aus der
Schule kam, herrschte allgemeine Freudigkeit auf der Straße. Die
hat sich nun wieder verzogen und hinter Winterjacken und Pelze
versteckt.
Briefe und Tagebuchblätter. 301
Aber den vorigen sonnigen Sonntag verlebte ich mit Klara
Westhoff in Joinville. Da lag die Marne breit und groß in ihrem
Bett und spielte um die Füße der alten ernsten Pappelriesen. Oben
in den Bäumen aber sang und zwitscherte es. Der Frühling kommt
hier in einem berauschenden Überfluß. Er nahm uns ganz ge-
langen und wir sagten und sangen all unsre deutschen lieben
Frühlingslieder.
Dicht an dem Fluß hin strecken sich alte verwunschene Gärten,
über deren graues Gemäuer der blaubeerige Efeu quillt. Drinnen
im Grün versteckt schimmert es von efeuumrankten Vasen aus der
Zeit der Ludwige. Es ist ein eigenartiger Eindruck so nahe der
grogen Stadt diese üppige Wildnis.
Paris ist seinen Bewohnern gleich. Neben maßloser Ver-
dorbenheit eine kindliche Freude am Leben, ein Sichgehenlassen,
wie es die Natur am liebsten hat, ohne viel zu fragen, ob es gut
oder schlecht ist. Wir Deutschen können schon darum nicht so
viel aussitzen als die Franzosen, weil wir hinterher an unserm
moralischen Katzenjammer zu Grunde gehen würden. Den scheinen
die Leute hier nicht zu kennen. Sie beginnen mit jedem Tag ein
neues Leben. Das hat natürlich seine Licht- und Schattenseiten.
*
x
Also ich habe eine Medaille und bin in der Schule ein großes
Tier geworden. Die vier Professoren haben sie mir zugesprochen.
Zwar damit, was ich hier in der Schule gelernt habe und noch
lernen werde, damit hat die Medaille nichts zu tun. Das sitzt viel
tiefer. Innerlich ist mir aber froh. Ich fühle mich erstarken und
weiß, daß ich durch den Berg hindurchkomme und über ihn hin-
weg. Und wenn ich ihn erst hinter mir liegen habe, werce ich
mich einen Augenblick umschauen und sagen: Das war nicht
leicht. Wohl werden vor mir neue Berge liegen. Aber das ist ja
verade cas Leben und dazu hat man seine Kräfte.
Wie sehr ich diesem Pariser Aufenthalte innerlich dankbar bin!
Eigentlich ist es nur ein fortgesetztes Worpswede: ein stetes Arbeiten
und Denken an die Kunst. Aber mir haben sich neue Perspektiven
aufgetan, Ergänzungen und Erläuterungen zu dem Alten, und ich
fühle, daß es was wird. Es ist eben auch hier bald Frühling.
x j *
Osterferien gibt es hier nicht. Die Welt lebt unentwegt weiter,
und wer des Sonntags arbeiten will, findet auch des Sonntags auf
den Akademien ein Modell. ich tue das nie, das ist eins der wenigen
christlichen Dinge, die mir geblieben sind. Mein Brief war Euch
auf die Nerven gefallen. I. ieben, ich bin ja doch nicht so! Aber
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302 Paula Becker-Modersohn:
das ist eine der charakteristischen Seiten von Paris, das ist die
Mischung. Reines Gold gibts nicht. Und gerade die Mischung
als solche zu erfassen, das ist fein. Stark genug sein, den Fehlern
/ eines Freundes, den Fehlern des Weltalls offen ins Auge zu schau’n,
| ebenso wie den eigenen Fehlern, — das ist Wahrheit.
Rodin hat eine Bildhauerschule eingerichtet, die Klara Westhoff Ä
besucht. Zwar hat sie monatlich nur eine oder zwei Korrekturen =
von ihm, sonst kommen seine Schüler. Aber sie ist eben ein |
Mensch, der überall lernt. Sie ist solch kräftige Natur, die alles, |
was an sie herantritt, ergreift, es unwissentlich dreht und wendet, ;
bis sie es verwenden kann. Solche Menschen können überhaupt
nicht unglücklich werden. Was ihr auch zustößt, immer wird es i
zu ihrem Besten sein. :
Und wann kriege ich wieder einen Grauen von meiner Mutter? ;
Du hältst mich kurz, Liebe. Soll ich erst untugendhaft werden? :
Das ist hier nämlich nicht allzu schwer.
Wißt Ihr, wenn ich morgens über die Boulevards gehe und :
die Sonne scheint und es wimmelt von Menschen, dann sage ich
laut in meinem Herzen zu ihnen: Kinners, so etwas Schönes, wie E
ich es noch vor mir habe, habt Ihr doch alle miteinander nicht. :
Und dann liebe ich das Leben sehr!
x a *
Am Sonntag hatte ich einen berauschenden Tag mit Klara
Westhoff. Er endete in Velizy, einem kleinen Dörflein, wo wir in
einer Frühlingslaube bei Windlicht Postkarten an unsere großen
Männer schrieben: die Worpsweder, Klinger, Karl Hauptmann.
Es war eine verzauberte Stimmung, Mondschein über einem
kleinen Dorisee, das Gutshaus und kleine verfallene Hütten daneben.
Und aus dieser Dämmerabendluft schimmerten weiße Enten. Dieser i
Friede und diese Ländlichkeit so nahe der großen Stadt, das ist
der große Reiz von Paris.
i 227: *
| Wir kennen jetzt einen ganzen Schwarm junger deutscher
Künstler. Mit denen ziehen wir allwöchentlich über Land, tanzen,
rudern, singen in der Dämmerung deutsche Lieder — sind über-
haupt deutsch, was hier im Welschlande von Zeit zu Zeit gut tut.
Es ist ein prächtiger Schlag: zuverlässig, arm und kindlich, sie
| sind sehr anders als die jungen Franzmänner.
1
T pt
Briefe und Tagebuchblätter. 303
Wißt Ihr, Barbaren sind wir ja gegen die Franzosen, und ich
verstehe, daß sie uns als solche empfinden. Aber Kraft und Jugend
sitzt dahinter.
Sonnabend und Sonntag waren wir draußen bei Uhlemanns
in Joinville. Die alte taube Dame denkt nur daran, wie sie andern
Freude bereiten kann. So wollte sie uns diesmal die Schwelgerei
eines wirklichen echten Bettes genießen lassen und kochte mit
eigener, liebevoller Hand für uns. Das genießt man doch sehr
nach den sieben magern Jahren. Dann haben wir eine schöne
Ruderfahrt gemacht auf der Marne, über uns blühende Bäume und
Nachtigallen, denn der Frühling ist hier jetzt mächtig im Gange.
Und wenn nicht von Zeit zu Zeit ein Lüftlein weht, so wirkt er
betäubend mit seinen tausendfältigen Düften.
Kennt ihr Klingers Radierungen: Eine Liebe! Er ist es selber,
auf mehreren Blättern mit einer reizvollen Frau zusammen inmitten
eines Übermaßes von blühenden Kastanien. Die Leidenschaft in
den Blättern, die duftgeschwängerte Luft, das ist französischer
Frühling.
Geht man jetzt durch den Jardin du Luxembourg, so sitzt auf
jeder Bank ein Pärchen und schnäbelt sich. Es ist eine andere
Schnäbelei als unsre deutsche: lachender, weniger sentimental und
etwas zerstreut. Es sieht aus, als ob beide Teile schon wieder
andre Rendez-vous im Sinne hatten. |
22˙
Großartig beherrscht der Montmartre die Stadt. Auf steiler
Straße zwischen kleinen Häusern steigt man zu ihm hinauf. Alte
Frauen sitzen vor der Tür und flicken, und die jungen werfen die
Augen rechts und links, denn hier ist wieder ein Malerviertel.
Schließlich kommt man auf einen kleinen Markt, die Hühner laufen
über den Weg. Dann steht man vor der schönen Kirche Sacre
Coeur, die ernst auf das bunte Paris hinabschaut. Wir betraten
sie abends halb neun. Es wurde das Abendgebet gesprochen. Hier
und da ein Lichtlein, der rötliche Schein der ewigen Lampe und
tiefes Schweigen.
Wir speisten zu Abend im refectoire unter lauter alten Bet-
schwestern. Die eine, Valentine, achtzig Jahre alt, mit furchtbaren
Mienen und Gesten, wollte uns sogar bekehren. Die ist aber auch
erst fromm geworden, als alles andere nicht mehr ging. Sie fragte
nach unsern petits noms und wollte uns nie vergessen und liebte
uns „trotz alledem“, nahm jede unsrer Hände zwischen ihre zwei
großen, fleischigen, und schlürfte von dannen.
2 — Ea — ll — A
304 Paula Becker- Modersohn: Briefe und Tagebuchblätter.
Vielen Dank für das Geld. Es kam im gegebenen Augenblick.
Es war eine halbe Stunde vor unsrer Ferientour und Klara Westhoff
und ich hatten gemeinschaftlich nur zwei Sous in der Tasche. So
gütig griff das Schicksal ein.
ii ik
*
Also ich bin in der Ausstellung gewesen, dreimal. Sie ist
noch schöner und lehrreicher, als ich mir gedacht habe, kolossal
lehrreich. Das Schönste sind die Franzosen: Cottet, Simon, Jean
Pierre. Die haben miteinander gemeinsam eine ungeheure Tiefe der
Farbe. Sie schildern die Bretagne.
Wir Deutschen stehen daneben etwas spießbürgerlich und
philisterhaft. Viel Begeisterung und Eifer und zu wenig Studium.
Den Cottet habe ich besucht. Ein feiner, rothaariger, rot-
bärtiger, urgesunder Mensch, voll tiefer Empfindung. Als er ein-
mal an mein Pförtlein klopfte, war ich leider nicht zu Hause,
sondern fand nur sein Autogramm.
Wißt Ihr, die paar französischen Großen sind ganz ohne
Konvention. Sie wagen naiv zu sehen. Man kann kolossal von
ihnen lernen.
Es ist wunderbar, wie ich jetzt Land und Leute mit andern
Augen betrachte. Abends im Akt wissen die Französlein vor
Frühlingsgefühl und Frühlingsübermut gar nicht mehr wohin und
singen ein chanson nach dem andern. Sie sind Champagner. Nur
werden sie auch so leicht schal.
(Schluß folgt.)
305
Otto Flake: Aus vier Wochen.
ine deutsche Neigung, der man in dieser Stadt Berlin, in der so viel
Stellung genommen und gedacht wird, jeden Tag begegnen kann, ja die
deutsche Grundneigung besteht darin, dal} man einen zu großen, sirius-
haften, absoluten Maßstab an den Tag, die Bedürfnisse und Leistungen des Tages
anlegt. Der Deutsche ist von einer beispiellosen Kritik alle dem gegenüber.
was den kleinen Schritt bedeutet. Er trägt eine geniale und doch verhängnis-
volle Liebe zur Ewigkeitsleistung in sich. Jeder ist mit dieser Atmosphäre
nicht nur durchtränkt, sondern auch noch auf einen Meter im Umkreis um—
geben, und deswegen gelingt es so selten, mehrere oder viele oder gar alle
Menschen der Nation in eine gemeinsame Atmosphäre einzuhüllen. Deswegen
sind wir keine Politiker, die sich mit Lust und restloser Hingabe in den
Augenblick stürzen; deswegen sind wir gesellschaftlich steif und so schwer
für einen Abend harmlos, beweglich, Leute unter Leuten, sondern schielen
imnier über die Köpfe hinweg zur Tür, durch die wir nachher treten werden,
um wieder allein zu sein. Und doch ist dieser Zustand lächerlich, weil er
so unpraktisch ist: man existiert doch nur einmal und soll von der Ver-
gangenheit nicht mehr wissen, als daß sie uns hervorgebracht hat, und von
der Zukunft nicht mehr, als daß sie sich von selbst ergeben wird, wenn wir
an der Gegenwart arbeiten.
Man sehe die unvergleichliche Kontinuierlichkeit des französischen
Lebens: die Väter, die Lebenden, die Enkel, das stellt sich jeder frisch und
klug in den Vordergrund und bringt so spielend den großen Zusammenhang
zustande, während wir uns immer damit abmühen, eine Stabilität zu kon-
struieren, gerade weil wir nie ganz bei der Sache des Alltags sind, sondern
iınmer eine letzte Zurückhaltung üben — einem Begriff des Höchsten zuliebe,
der uns nicht gelohnt wird. Ich traf hier einen Mann, der an der Spitze der
deutschen Weltproduktion steht und außerdem inı Besitz der selbständigsten
und umfassenden Innenkultur ist. Er hat sich, „angewidert von den Halb-
heiten unserer Literatur und Kunst“, zurückgezogen in eine hohe Landschaft,
deren Gipfel Homer, Aeschylus, Dante, Goethe und so weiter heißen. Es ist
ein typischer deutscher Ausweg, den dieser Mann gefunden hat. In Paris
macht niemandem die Frage das Herz schwer, ob Goncourt und Bourget, an
den absoluten Repräsentanten der Menschheit gemessen, standhalten; Goncourt
und Bourget und sie alle waren da, brachten ihre Zeit zum Ausdruck und
förderten jenes Verständnis, das da drüben bei unseren Nachbarn jedem
Jungen zuteil wird, der einen Schritt weitergeht, der sein Recht auf Dasein
vertritt. |
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Der Umstand, daß bei uns dagegen sich noch immer keine Literatur-
atmosphäre bilden kann, hat zur Folge, daß Literaten, die sich bemühten, sie
zu schaffen, immer im Verlaufe ihres Lebens an einen Punkt kommen, wo
sie sich abwerfen lassen und sich selbst aufgeben. Denn sie können sich auf
die Dauer dem geheimen hohen Maßstab, an dem bei uns alles gemessen
wird, nicht entziehen. Sie beginnen entweder selbst an ihn zu glauben und
fühlen sich unglücklich — wer hielte durch, wenn man ihn nicht gelten läßt? —
oder sie sind unehrlicher und suchen zu erzwingen, was ihnen versagt wird.
Sie verlieren den Halt, werden nervös und versuchen es mit einer gehetzten
Geistreichigkeit, die nun erst unfruchtbar wirkt.
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306 Otto Flake:
Ich wehre mich dagegen, denen beizustimmen, die in Alfred Kerr einen
Beweis für diese Tatsache sehen wollen und behaupten: man kann sich in
Deutschland keine dauernde Stellung als Kritiker schaffen, auch bei Kerr
pochte das Gespenst des produktiven Menschen an und verwandelte sich in
einen Alp; der Verfasser des Neuen Dramas, das für uns alle ein Grund-
buch war, ist in Gefahr, ein wenig einheitlicher und wenig geschickter
Glossator zu werden. — Ich will hier nur erwähnen, daß Kerr jüngst etwas
geschrieben hat, was ihm viele verdenken: eine Kritik der Fiorenza von
Thomas Mann. Eine Kritik, die in ihrer durcnkomponierten Bosheit un-
gerecht ist, weil Thomas Mann über sein mühevolles Schaffen nie einen
Zweifel gelassen hat. Mann erzählt in seiner neusten Novelle „Der Tod in
Venedig“ von der Selbstzucht, die es ihn, einen nicht stark Konstitutierten,
kostet, um seinen Nerven die Sätze und Seiten seiner Werke abzuringen. Er
ist. kein lachender Siegfried, aber er ist ein ehrlicher Mensch, der sich nicht
selbst aufgibt, sondern sich eine Lebensaufgabe vorgesetzt hat und sie durch-
führt. Kerr redet hohnvoll von dem Körperteil, dem Mann seinen Erfolg
verdankt. Wie billig und wie ungerecht von einem Kritiker, der Über-
menschliches geleistet hat, so oft es galt, die Schwächen, das Fragmentarische
eines anderen, Gerhart Hauptmanns, zu verdecken und hinwegzudisputieren —
mit einer Liebe und eineni Verstehen wollen, die etwas Grandioses hatten,
aber auch zu einen Vergleich herausfordern. Thomas Mann ist wahrlich
weder ein Schmock, noch ein Poseur, hätte also Anspruch auf Gerechtigkeit,
wenn ihm die Freundschaft versagt wird.
* *
x
Man sprach in einer Gesellschaft von den Vorträgen, die Meier-Graefe
und Osborn über die neuesten Phasen der Kubisten und Futuristen und die
Direktionslosigkeit unserer Kultur gehalten haben. Es fehlt uns ein deutscher
Ruskin, sagte jemand, und nun erörterte man, welche Eigenschaften ein solcher
Praeceptor Germaniae nötig hätte. Es ist klar, daß wir einen Moralisten
nicht brauchen könnten, sondern einen universalen, einen wahrhaft deutschen
Versteher. Er müßte, erstens, so sehr Deutscher sein, daß er, sei es histo-
risch, sei es seelisch, noch einmal allen Bedürfnissen der deutschen Rasse
nachgeben könnte, die zu dem ästhetisch-philosophischen System unserer
Klassiker geführt haben, und er müßte, zweitens, so sinnlich, so formal sein
können, daß er sich doch entschieden mit einer grundsätzlichen Gerechtigkeit
auf die Seite unserer Literaten und Experimentierer stellt, Selbst wenn sie von
Goethe nicht viel wissen wollen, weil sie den letzten Rest von absoluten
Standpunkten von sich geworfen haben. i
Man darf ihre Verachtung der Ruhe und der. Distanz nicht mit einem
Achselzucken abtun; unsere Lebensverhältnisse haben ich seit dem Deutschland
der Klassiker geändert, an Stelle der beschaulichen Kleinbürgerlichkeit ist die
Hast, die Hetze, die soziale Unerbittlichkeit der Großstädte getreten; die Er-
kenntnis, daß jede Existenz nur ein Zufall, ein bedingtes, abhängiges, rein
irdisches Wesen darstellt, ist an die Stelle getreten. Selbstzerstörer wie
Verlaine, wie Rimbaud, wie Strindberg, wie Wedekind, wie Kleist wären
oder waren dem alten Goethe ein Greuel, aber in Wirklichkeit repräsentieren
sie nicht nur den ewigen Fluß des Lebens, das nie stillsteht, sie repräsentieren
auch die viel heftigere, distanzlosere Energie, mit der die Fragen angegriffen
werden wollen, soll eine neue Ausgeglichenheit zustande kommen. Ein
Aus vier Wochen. 307
Shakespeare der Zukunft wird von ihnen allen etwas besitzen, von ihren
Grellheiten, Verzerrtheiten, ihrem Untertauchen in die Wogen des Lebens,
von ihrer demokratischen Gleichgültigkeit dagegen, wie diese Wellen gefärbt
und verfärbt sind.
* a.
r *
Es steht im Leben auf alleni eine Strafe, auch auf dem Dichten. Jener
Hegelianismus, der keine historische Schule, sondern eine an keine Zeit ge-
bundene Charaktereigenschaft ist, wird auch das gut finden, und von dem
inneren Ausgleich reden. Und ich gestehe, daß ich mich bisweilen ganz gern
auf seine Seite stelle, z.B. wenn ich an Sudermann denke, dessen „Guter
Ruf“ wie ein Skandal, wie eine Katastrophe gewirkt hat. Es ist Buße, es ist
innere Gerechtigkeit, daß an den Ruhm, Sudermann zu sein, wenigstens einer
nicht glauben kann, Sudermann selbst. Man stelle sich, vorausgesetzt natür-
lich, daß er nicht einfach ein verlogener Bursche ist, den Gemütszustand vor,
in dem sich seit zwanzig Jahren Herr Sudermann befindet. Der Ehrgeiz,
nicht nur von Frauen, denen ein Walzer von Lehär und eine Kußszene von
Recznizek das Köpfchen verwirrt, als Held dazustehn, sondern auch die ernste
Kritik und die strengen Kulturwärter zu erobern, ist eine Hölle; auch um
Kitsch zu machen, genügt es nicht, sich an den Schreibtisch zu setzen, man
muß seinen ganzen Willen anstrengen, und im Grunde gibt jeder, was er
kann. Selbst ein Sudermann muß sich Mut abringen, Beklemmungen ab-
schütteln und die geheime Vorarbeit voll auf sich nehmen, die das Schwerste
und Wichtigste am Produzieren ist: mit sich selber in Einklang zu kommen.
Vielleicht wüßte er ein Lied zu singen, wenn auch einmal die Schriftsteller
eine Warnung vor ihrem Berufe erließen, wie wir sie von Zeit zu Zeit von
Ärzten und anderen lesen. Es gibt kein größeres Lotteriespiel als das
Dichten. Der Aufwand von Energie, von Entsagungsfähigkeit, von Hoffnung
und Zähigkeit ist ungeheuerlich, und selbst wenn sich der äußere Eriolg ein-
stellt, beginnt erst das Zersetzende, das Verlangen nach Ewigkeit, nach
Größe, nach hoher Kunst. Und je weiter man sich hineinarbeitet, desto aus-
sichtsloser wird der Fall, man kann nicht vorwärts und nicht rückwärts, man
kann sich nicht mehr auslöschen und doch der Welt nicht aufzwingen —
man trägt sein Schicksal.
308
Wilhelm Hausenstein: Die Puppen.
as Marionettentheater leistet das Unglaubliche: die Rechtfertigung
der Romantik. Das Absurde der Romantik lag in der wirklichen
Verbindung des Überschwänglichen mit den Banalitäten, in denen
wir leben. Das Feierliche erschien mit dem verrückten Anspruch aui Natür-
lichkeit. Das Natürliche wollte sich in natura zum Ungewöhnlichen hinaus
heben. Der Zirkel sollte viereckig, das Viereck rund sein.
Das sogenannte große Theater hali sich auf die bequemste Art der
Welt: es strich die Romantik und entwickelte aus dem Banalen einen Stil,
der den Namen des Stils mitunter schwerlich verdiente — oder es strich die
Wirklichkeit und entwickelte einen besonderen Stil aus dem Erhabenen, der
von Mißtrauen und Hohngelächter verfolgt wurde, weil er, so oft er die
reine Außergewöhnlichkeit bewunderte, einem Geschlecht naturwissenschah-
licher Sachenmenschen als eine Sünde wider den heiligen Geist der Aul-
klärung erschien und weil er, wenn er sich mit den berlinischen Wirklich-
keiten von 1890 versippen wollte, so lächerlich aussah wie ein mythologisch
glänzendes Flügelpaar an einem zusammengeschundenen Fiakergaul. Kurzunı
Wirklichkeit und Aufschwung gingen nicht zusammen. Sachlichkeit
und Enthusiasmus, Realität und Religion, Zivilisation und Romantik, Thackerav
und Delacroix — Sancho Pansa und Don Quichote hoben einander auf.
Rettung war nur möglich, wenn sich Realismus und Romantik, Gegen-
ständlichkeit und Dichtung auf das Gemeinsame besannen. Sie mußten sich
daran erinnern, dal) sie schließlich beide Form sind. Sie mußten ihre natür-
liche Stofflichkeit zu Gunsten der geformten Gestalt aufgeben. Die Dialektik
des Realismus und der Romantik mußte sich aus einer Dialektik der unver-
söhnlichen Inhalte zu einer Dialektik vrrschiedener formaler Kräfte entwickeln.
Von da aus war Neues zu hoffen.
Die Aufhebung der peinlichen stofflichen Dialektik war aber nur der
Puppe möglich. Sie allein konnte die Fülle der Kunst befreien.
Wenn wir die Puppe aber kennen lernen wollen, dann sollen wir nich!
zu ihren literarischen und ästhetischen Gevattern gehen. Nicht einmal zu
Maeterlinck; eher zu Pocci und noch eher dahin, wo die Puppe ganz gewil
statt aller ästhetischen Fiktion das ganz wirkliche Kind eines dichtenden
plebejischen Volksgeistes ist: zum richtigen Guignol. Formulieren heißt nich!
notwendig so viel wie literarisch sein. Es gibt eine formulierende Distanz
der urkräftigsten Naivität eines versammelten Volksgeistes. Und diese Distanz
von den Dingen ist besser als alles, denn sie ist eine objektive Tatsache,
wo Distanz des Ästheten ein durch subjektives Selbstbewußtsein abgesch wächter
Behelf ist.
Ahnungslose Kraftbiederleute, die deutsch heißen, halten Meier-Graefe
bekanntlich so sehr für einen Ästheten, als sie es heimlich gern selber sein
möchten. Nun ist er ungefähr das direkteste Gegenteil eines Astheten. Er
nimmt die Kunst fast wie ein Junker ein Rassepferd: mit dem spontanen
Schariblick und mit dem starken Schenkeldruck des Vollblütigen, dem es
nicht einfällt, Kultur und Kunst in wehmütiger Ergriffenheit anzubeten. Wie
die Alten, die geneigt waren, im Meister des Kunstwerks eher einen Banausos
als einen Gott zu sehen, empfängt er in der Kunst das schönste Lebensmittel
seiner Menschlichkeit.
Die Puppen. 309
Soeben brachte Meier-Graefe seine Nachdichtung einer romantischen
neapolitanischen Puppenkomödie heraus, die ein Volksgedicht gewesen ist
trotz einem Homer und einem Nibelungenlied.“) Wer ihn nicht kennt, muß
ihn hier begreifen. Er fordert nicht dünnblütige Kunstgebete und auch keine
gar pädagogische Kunst- und Kulturkinderwärterei. Er verlangt, daß das
Handwerk der Kunst den zuschauenden Herrn ergötze, wie das Publikum ini
Teatro Stella Cerere zu Neapel erwartete, vom rasenden Roland und der
schönen, zuweilen auch ergötzlich nackichten Angelica wie ein Seigneur mit
Kunst bedient zu werden, und wie dies Publikum sogar dem großen Kaiser
Karl, deni wilden Ferrau von Spanien und allen Paladinen aus Paris die
Kunst auf den Leib kommandierte, die es haben wollte. Kunstbegeisterung,
liebe Zeitgenossen, ist ein mittelmäßiger literarischer Ersatz für ein richtiges
pantagruelisches Vergniigen.
Wir erwachsene Besucher erwachsener Theater sind mit Vergunst ehr-
fürchtige Simpel. Wir lassen es uns höchst undemokratisch gefallen, daß uns
die Logik des Dramas beherrsche. Was geht uns aber die aristotelische
Philologenangst vor der Logik der Sachen an? Das Publikum vom Teatro
Stella Cerere wußte nichts von dieser ästhetisch submissesten Professoren-
ordnung unter die verschiedenen Einheiten und allerlei andere Unver-
schämtheiten dramatischer Sächlichkeiten. Es setzte vielmehr den Dingen die
herrschaftlich dichtende Unverschämtheit des Publikums gegenüber. Und
Personen, Dinge, Ereignisse, Szenen wurden zu Puppen in den Händen der
bildnerischen Willkür des göttlichen Demos.
Diese Willkür ist aber viel gerechter, viel logischer als der berühmte
Gang der Handlung mit seinem Objektivitätsdünkel. Welch ein künstlerisches
Gleichgewicht in diesem Marionettenspiel von Orlando und Angelica! Die
heroische Exzentrizität purzelt mit irgendeinem ausgerutschten Ausdruck
wieder in die Niederung der erreichbaren irdischen Möglichkeiten. Die
heldische Gemütsmetaphysik verwandelt sich unversehends in eine neapoli-
tanische Hafenzote. Die ganze Weltgeschichte von Hektor und Astyanax an
wird durch die tollste aller Tarasconaden zum Familienleben des Kaisers
Carolus, und er selber wird als „Onkel Karl“ zum Spezl aller neapolitanischen
Lazzaroni. Kann man poetischer gerecht sein? Kann eine Dramaturgie die
Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit gründlicher respektieren? Was ist
die Logik der Dinge, vor der sich das unentwegt natürliche Zeitalter des
Herrn Du-Bois-Rey mond theologischer als alle Theologen beugte, wenn er
erklärte, daß seinen morphologisch geschulten Geist eine Sphinx ästhetisch
unerträglich sei — was ist die Logik der unerbittlichsten Deszendenztheorie,
der unbarmherzigsten Gravitationslehre, der grausanısten Kosmogonie mit allen
ihren Nebelflecken gegen die göttliche Frechheit des dichtenden Demos, wenn
er darauf pfeift?
Hier sind die Dinge auf ihre rein formale Vergnüglichkeit gebracht.
Es leben die Formen; sie sind es, die renommiieren, und sie sind. es, die sich
gegenseitig ironisieren und totschlagen und umarmen. Sie sind es, die den
Launen des dichtenden Demos parieren; und durch sie beherrscht er die Welt.
Was wollen wir erhabene Dichtung? Hier ist sie. Was wollen wir
Romantik? Was Naturalismus? Hier sind sie beide und raufen so trefflich.
daß man bekennen muß: man habe nie so konzentrierte Kunst gesehen.
0) Juhus Meier-Graefe und Erich Klossowski: Orlando und Angelica. Berlin, Paul Caaalrer,
40 Mark. Yorsugsausgaben zu 300, 800 und 1000 Mark.
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310 Wilhelm Hausenstein: Die Puppen.
Ich wüßte auch nicht, ob sich etwas künstlerisch Reineres denken ließe
als das, was in den glänzenden Illustrationen Klossowskis an prinzipiellem
Wert enthalten ist. Diese Blätter spielen die Spiele der Farbe, des Lichts,
der hochbarocken Bauschungen, der gestenhaft quirlenden Linien. Sie sind
so abstrakt wie möglich: so abstrakt wie die lithographische Kurve bei
Daumier. Das sagt schon, daß sie viel schöner sind als Slevogts Litho-
graphien mit dem etwas aufgelegten impressionistischen Tric. Sie sind
restlos zum reinen Ansichsein gesteigerte künstlerische Gebärden. Nicht
weil diese Lithogramme Puppen darstellen, sondern weil sie selber als
Form, als Farbe Puppen sind. Sie leben von dem Imperativ des
Künstlers, als sein sehr erquickliches Spielzeug. Es ist nicht Zufall,
daß man bei ihnen just an Callots hochiormale, ganz in zeichnerischen
Geist übersetzte Capricci in den Uffizien denken muß und dann an Watteaus
ballethaft springende Kavalier zeichnungen im Louvre. Mein sehr seriöser
Leser, glaubst du noch an Rousseau und an die Rückkehr zur Natur? Glaubst
du noch an Darwin? Du bist gefoppt. Nicht der natürliche Mensch ist aus-
erwählt. Auserwählt ist nur die Puppe. Nicht die Kunst ist die Freude des
Menschen, die sich mit Ergebenheit in die Dinge bemüht, natürlich auszu-
sehen, sondern die andere, die unnatürlich ist: die Kunst als Puppe. Nur als
Marionetten unserer Hand gehören die Schönheiten der Dinge uns; nur als
Marionetten gehören wir uns Schöpfern selber. Nur als Marionetten haben
wir die greifbaren Späße und die greifbare Verzweiflung. Alles, was nicht
Marionette ist, ist Hilflosigkeit, ist Phrase. Darum: es lebe das aktuellste
künstlerische Principium — es lebe die Puppe!
Innen und Außen.
Ein Mensch, der sehr viele Seelen besitzt, gelangt leicht vor lauter inneren
Erlebnissen zu keinem Erleben.
* *
*
Die psychopathische Erotomanie eines großen Teiles unserer Literatur er-
innert an eine Gesellschaft von Greisen, die Histörchen erzählend bei einander
hockt. So täuscht man sich über den Mangel an Positivem fort.
* *
*
Es kommt gar nicht darauf an, einen neuen Gedanken zu denken. Wie
wäre denn dergleichen überhaupt möglich! Aber einen ane neu denken.
das ist die große Kunst der Wenigen.
* Br
*
Man darf in seinen nächtlichen Träumen nicht allzu oft König oder Millionär
sein, sonst verlernt man das rechtzeitige Zugreifen im wirklichen Leben.
Lothar Brieger-Wasservogel.
311
Politische Rundschau.
ie Liquidation der europäischen Türkei ist mit dem Streit um Adrianopel
auf einen toten Punkt gelangt; auch der aus dem Aufflammen des
soldatischen Ehrgefühls geborene Putsch Enver Beys wird daran kaum
etwas ändern, schwerlich wird Krieg um des Besitzes von Adrianopel willen wieder
entbrennen. Eine Neuorientierung der Großmächte hat sich noch nicht vollzogen.
Tastende Annäherungsversuche Rußlands an Deutschland, keine Lösung, aber
ein fühlbares Erkalten der Beziehungen der Mächte der Triple-Entente einerseits
und andererseits ein näheres Aneinanderrücken der Dreibundmächte.
Mit Marschall und Kiderlen-Wächter sind zwei Männer dahingesunken,
von denen viel erhofft, aber letzten Endes nicht viel erreicht ist, ob mit oder
ohne ihre Schuld, das kann erst die Zukunft aufklären. Beide gehörten dem
kleinen Machtzentrum des konservativen preußischen Adelsverbandes nicht
an, beide, vor allem aber Marschall, haben mit diesen Kräften nicht immer
erfolgreich zu ringen gehabt.
Solche Hemmungen hat der neue Staatssekretär des suain Amtes,
v. Jagow, nicht zu erwarten; wenn er die besten Eigenschaften des Preußen-
tums: Nüchternheit, Festigkeit und wenn es sein muß, Tapferkeit beweist,
soll er uns recht sein.
In diesem Augenblick äußerer Entspannung darf sich unser Blick auf
das Gebiet der inneren Politik, die deutsche Parteipolitik richten. In diesem
Gegensatz der deutschen Parteipolitik zur äußeren Politik ist gleich auf die
erste und merkwürdigste Eigenart unseres Parteiwesens hingewiesen; keine
deutsche Partei hat ein Programm der äußeren Politik. Äußere Politik ist
innerpolitisches Demonstrationsobjekt, um die Herrlichkeit der eigenen Partei-
politik in erfreulichen Gegensatz zu den stets mangelhaften Leistungen der
Regierungen zu stellen, oder das Mittel, die nationale Saite vibrieren zu
lassen, und die Bereitwilligkeit, die „notwendigen Rüstungen“ zu bewilligen,
in rauschenden Wählerversammlungen in tönenden Worten zu proklamieren.
Politik ist Zielsetzung. Unsere Parteien setzen sich keine Ziele der
auswärtigen Politik. In den grohen Zeiten des nationalen Liberalismus, da gab es
solche Ziele der auswärtigen Politik, da hat Paul de Lagarde, der radikal-
konservativ sein wollte, die germanische Besiedelung der Donauländer ge-
fordert und Friedrich List eine deutsche Orientpolitik, und auch die nationale
Einheit war für einen Bennigsen notwendigerweise ein Ziel der auswärtigen
Politik seines Staates, und so erging es allen den über die Grenzen ihres
engeren Heimatstaates hinausblickenden nationalen Politikern.
Die Schaffung der ersten deutschen Flotte war nicht als Belustigung
für Stunden der patriotischen Wallung gedacht, mit ihr wollte man zunächst
den Dänen zu Leibe gehen, und wenn England den berüchtigten Entschluß
proklamierte, die Piratenflagge nicht dulden zu wollen, so geschah das nicht,
um spätere deutsche Geschlechter über die angetane Schmach ergrimmen zu
lassen, sondern um die Ansätze einer deutschen Seemacht beizeiten zu zer-
stören. Das bedeutete viel eher eine Anerkennung als eine verliöhnung der
deutschen Macht.
So wenig greifbare Aufgaben der auswärtigen Politik die deutschen
politischen Parteien sich stellen, um so mehr sind sie von außerdeutschen
Verhältnissen und Problemen orientiert.
Die sozialdemokratische Doktrin ist durchaus französisches Gewächs,
der lateinische Absolutismus für das Proletariat angerichtet, auch darin die
französische Küche verratend, daß das Gericht mit der üblichen Sauce von
312 Politische Rundschau.
Weltbeglückungsphrasen serviert wird. Französisch ist auch die in Deutsch-
land bisher ungewohnte Art, seine politischen Tiraden in einem Fieber des
Hasses vorzutragen, wie das in jedem sozialdemokratischen Blatt, von
jedem Agitator geschieht: die Aufpeitschung der Massen. Verbreitung konnte
diese Lehre in Deutschland allerdings erst erlangen, nachdem Karl Marx sie
auf den Boden des historischen Materialismus gestellt hatte. Ein Materialis-
mus, der historisch, selbstverständlich auch philosophisch, nicht minder auf
Verlangen ethisch war — der mußte was sein.
Karl Marx ist einer der wirklich großen Irrlichter der Menschheit ge-
wesen, auf den wohl überhaupt die ganze Richtung der Behandlung unserer
Volkswirtschaft zurückgeht, sie nicht entweder „exakt“ auf Grund von Tat
sachen-Beobachtung und Würdigung, oder politisch als praktische Maßnahme
zu behandeln, sondern als ein Anwendungsgebiet der spekulativen Philosophie.
Freilich, den „dialektischen Prozeß“ in der Welt des wirtschaftlichen
Geschehens aufzuspüren — nachzuweisen nennt man das natürlich, ist der
sozialdemokratischen Lehre vorbehalten geblieben.
Da auf irrationaler Grundlage aber nichts sein und werden kann, so
muß die sozialdemokratische Sekte alle selbständigen volkswirtschaſtlich ver-
anlagten Köpfe ausscheiden und deshalb vollzieht sich das je nach dem
Jefühlsstandpunkt komische oder traurige Schauspiel, daß alle brauchbaren
Leute hinausgeworfen werden, den Calwer, Schippel, Hildenbrand werden
andere folgen! Die Volkswirtschaftslehre der Halbbildung muß rein erhalten
werden.
Die Stärke und damit auch die Zukunft dieser Bewegung beruht allein
auf ihrer Organisation, die es vermocht hat, die Entstehung eines politischen
Proletariats, d.h. einer politisch abhängigen Wählermasse für Zwecke selbst-
süchtiger politischer Interessengruppen zu verhindern, dem Lohnarbeiter das
Gefühl und die Möglichkeit zu retten, nicht Objekt, sondern Subjekt der Ge-
seizgebung zu sein.
Die Bekämpfung der Sozialdemokratie geht nicht durch eine Ver-
stärkung der Bureaukratie, wie die Regierung Bethmann Hollwegs offenbar
meint, nicht durch eine Konzentration des Bürgertums gegen die Arbeiter-
schaft, sondern lediglich durch Offenhaltung jeder Möglichkeit des Aufstiegs
der Arbeiterschaft als solcher und jeder in ihr sich regenden individuellen
Intelligenz. Die sozialdemokratische Bewegung wird die Grundfesten unseres
Staates nicht erschüttern, unsere nationale Zukunft nicht, wie die Engländer
bisher immer, bis ihnen selbst die sozialistische Faust im Nacken saß, hofften,
untergraben, wenn — nun wenn keine Dummheiten gemacht werden, d.h.
wenn weder vor ihr kapituliert, noch von oben gestaatsstreichelt wird.
Daß die in Deutschland entstehende Industriearbeiterschaft sich politisch
nicht national zu orientieren vermochte, ist fraglos dem Mangel führender
Persönlichkeiten zuzuschreiben. Lassalle und Schweitzer wollten diese
Richtung und zu ihnen wird die Entwicklung später einmal wieder zurück-
kehren, wenn ein führender Geist in der Sozialdemokratie aufsteht — freilich
kein Revisionist, der ins Mauseloch kriecht, wenn einer seiner Freunde auf
dem Parteitag zu dem permanenten, aber erfreulicherweise kalten Scheiter-
haufen geschleppt wird.
Daß eine aufkommende politische Bewegung sich nach einem aus-
ländischen Vorbild zunächst orientiert, ist kein Fehler, auch das mit dem
Liberalismus in die politische Arena eintretende Bürgertum blickte auf das
Ausland, vorwiegend auf England. Der ältere bremische Liberalismus war
Politische Rundschau. 313
insbesondere von wirtschaftlichen und politischen Idealen nach dem englischen
Vorbild erfüllt, gedieh doch der hanseatische Überseehandel nur im Schatten
des: englischen, fürchtete man doch, in der politischen Entwicklung eine
Lähmung durch binnenländischen Bureaukratismus — nur so ist das Ver-
halten Bremens dem Zollverein gegenüber erklärlich, das uns heute so selt-
sam anmutet.
Die im „Freisinn“ und „Fortschritt“ zur Geltung gekommene Richtung
des deutschen Liberalismus hat bei allem proteusartigen Verschwinden und
Wiederauftauchen in Parteigruppen sonder Zahl doch immer das Gesicht
englischer und damit leider deutscher Ideologie getragen, sein Blick haftete
wirtschaftspolitisch an dem Idol des Freihandels, politisch an dem des Par-
lamentarismus, der Volksherrschaft nach englischem Muster.
Das deutsche Staatsleben aber wird durch die Existenz einer von der
Partei grundsätzlich — wenn auch nicht. immer tatsächlich — unabhängigen
Regierung bestimmt, die auf den festen Boden der Monarchie, besser und
richtiger des deutschen Königtums gestellt ist.
Eine deutsche politische Partei, die diesen grundsätzlichen Charakter
des deutschen Staatslebens nicht sehen kann, oder nicht anerkennen will, ist
zum ewigen Protest, zur Machtlosigkeit verurteilt, sie kann die unzufriedenen
Elemente außerhalb der Sozialdemokratie aufsammeln und dadurch große
Stimmenzahlen registrieren, praktischer Einfluß ist ihr versagt. Der Teil des
Liberalismus, der auf den Boden unseres deutschen Staatslebens bewußt sich
stellt und die mühsame Aufgabe, dem deutschen in Handel, Industrie und
Wissenschaft stürmisch vorwärtsmarschierenden Bürgertum die ihm ge-
bührende Berechtigung zu erkämpfen, lösen will, ist ihm ein Greuel.
Zwischen der riesenhaften Sozialdemokratie und den starken Mächten
eines aus der alten bureaukratischen und feudalistischen Verfassung der
deutschen Einzelstaaten erwachsenen Konservatismus einerseits und dem
auf konfessionellen Mißbrauch des katholischen Volksteils aufgebauten Zentrum
andererseits könnte nur ein unbedingt auf den Boden der durch die Ver-
fassung geschaffenen neudeutschen Ordnung der Dinge geschlossener Li-
beralismus sich durchsetzen. Diesen Liberalismus nicht zur Entstehung ge-
langen zu lassen durch Schürung jeglichen Haders in seinen Reihen, haben
seine Feinde allzeit vortrefflich verstanden.
In dieser verworrenen Lage der deutschen Parteipolitik versagt ein
Element gänzlich — die Gebildeten. In welchem Maße diese Klasse un-
politisch ist, ist einfach ein Skandal, jede englische Dame versteht mehr von
Politik, als der durchschnittliche deutsche Bildungsphilister. In diesem Ver-
sagen der Gebildeten ruht der Grund unserer politischen Rückständigkeit
und in letzter Linie auch der des Versagens unserer äußeren Politik; wer von
ihnen steht heute nach dem schönen Wort Fichtes „aufhorchend, ob ihn der
Strom lebendigen Lebens ergreifen werde, das Nichtige entschieden fallen
lassend.“
Sauer sehen und besser wissen hat noch kein Volk vorwärts gebracht,
nicht die liberale Parole: leben und leben lassen, sondern sich „leben lassen“,
dem Leben der Nation und ihren Kämpfen nicht als ein Nachtwandler oder
höhnischer Beurteiler gegenüberstehen, sondern die Geschicke der Nation
als die eigenen empfinden, die nationale Ehre als die eigene, das nationale
Interesse als das eigene! Nicht von der Einführung von Gefrierfleisch und
Aufhebung aller indirekten Steuern — nein, Verzeihung, ihrem „Abbau“ —
hängt unsere Zukunft ab, sondern von der Überwindung des politischen
„ .
—
314 Politische Rundschau.
denk- und schaffensfaulen Philistertums unserer so unendlich hochstehenden
„gebildeten Schichten.“
Nicht der Arbeiter, nicht der Bauer und Handwerker und selbstver-
ständlich nicht der dreimal vermaledeite Junker läßt es so vollständig an sich
fehlen, als der „geistige Arbeiter“, der seine Spannkraft wohl beim Hürden-
rennen über die Heckenzäune der Examina verbraucht hat. Goethe soll sich
einmal über die Bemerkung auf einem alten Stich sehr amüsiert haben, daß
die Chinesen ein den Deutschen sehr verwandtes Volk seien.
„Von der Einwirkung der Literaturseuche und der Examina auf die
politische Urteilsfähigkeit“ wäre kein schlechter Stoff für eine „kritische
Untersuchung“. Tröstlicherweise wird sie . angestellt werden, weil sie
gänzlich un wissenschaftlich wäre.
Hinter diesem Problem aber steht die ernste Tatsache, daß nur ein
aus politisch unabhängig denkenden und handelnden Einzelnen zusammen-
gesetzte Nation Aussicht hat, sich in der Welt der Zukunft politisch und
wirtschaſtlich durchzusetzen.
England schlägt uns noch heute politisch — nicht wirtschaftlich, wissen-
schaftlich oder kulturell — weil es auf der politischen Einzelerziehung auf-
gebaut ist.
Der einzelne und der Staat ist das Thema der politischen Parteien.
wenn sie diesen Namen verdienen. Nicht die Auflösung des Staates in einen
demokratischen Urbrei, noch die Verhärtung des Staates durch bureaukratische
oder feudalistische Frontstellung gegenüber dem „Volk“, sondern die Er-
füllung des Staatsbürgers mit dem Gedanken des Staates und des National-
interesses selber — nur so ist „der Bürger der edelste Stoff.“
Bremensis.
—
315
Prof. Dr. Ludwig Fränkel: Süddeutschlands geplante Groß-
schiffahrtsverbindung und der Anschluß nach Norden.
politische Thema jüngst bedeutsam behandelt. Auf der ersten großen
Winterversammlung, die der Württembergische Bezirksverband des
Verbandes deutscher Diplomingenieure zur Eröffnung einer fortlaufenden Reihe
von Vortragsabenden aus allen Gebieten der Technik zu Stuttgart hielt, stand
die Großschiffahrtsverbindung Rhein-Donau und ihre Bedeutung
auf der Tagesordnung. Die Grundlage der eingehenden Erörterung dieses
bedeutsamen Themas bot der Vortrag des Regierungsbaumeisters Schleicher-
Heilbronn, der auch die ergiebige Diskussion leitete. Er kennzeichnete zu-
nächst die Bedeutung des Transportwesens für die Volks- und Weltwirtschaft
an den Eisenbahnen und hierbei die preußische Eisenbahnpolitik von Bismarcks
Reichseisenbahn- Projekt, das an den sonderpolitischen Bedenken der
süddeutschen Bundesstaaten scheiterte, bis zur preußisch-hessischen Eisen-
bahngemeinschaft und süddeutschen Eisenbahngemeinschaft unter Würdi-
gung der Vorteile der daraus entstandenen Eisenbahnoberhoheit Preußens,
deren wichtigster die Tarifgestaltung ist. Dadurch hat Preußen einen be-
deutenden Einfluß auf das deutsche Verkehrs- und Wirtschaftsleben auch in
Süddeutschland gewonnen. Daher sprachen sich die Handelskammern in
Stuttgart, Dresden und Leipzig für einen Anschluß an die preußisch-hessische
Eisenbahngemeinschaft aus. Bayern sieht sein Heil in der Kanalisierung des
Mains von Aschaffenburg aufwärts, womit es sich unabhängig von sämtlichen
Eisenbahnnetzen machen zu können glaubt. Daran scheiterte auch bisher eine
Vereinbarung Bayerns mit Preußen wegen der Mainkanalisierung, und erst
das preußische Wasserstraßen-Gesetz brachte 1905 Erkenntnis
und Einigung. Auch für Württemberg mit seiner nord- und nordwest-
wärts weisenden Neckarstraße ist diese neue Lage von Wichtigkeit durch die
geplante Schaffung eines Großschiffahrtsweges vom Rhein (über den Neckar)
zur Donau. Die moderne Wirtschaftsgestaltung Württembergs und Bayerns
läßt schließen, daß die Produktiv-, Gewerbe-, Handels- und Kapitalkraft beider
mehr und mehr hinter dem allgemeinen Aufschwunge des Deutschen Reiches
und den wirtschaftsgeographisch günstiger gelegenen Bundesstaaten zurück-
bleibt. Vor allem übt die Rhein-Main-Wasserstraße eine große Anziehungs-
kraft aus, was den Wunsch nach einem Großschiffahrtsweg in das Land
hinein um so dringender macht, für Württemberg sowohl wie für das rechts-
rheinische Bayern.
Eng zusammen mit dieser Frage hänge das Neckar-Donau-Projekt,
das schon ein Jahrhundert alt ist, in Württemberg aber erst im letzten Jahrzehnt
eine solche Förderung erfuhr, um seine Verwirklichung in absehbarer Zeit
erhoffen zu lassen. Bayerns neuere unablässige Kanalbestrebungen und sein
Aufwand hierfür verdienen eine viel ernstere Aufmerksamkeit in der öffent-
lichen Diskussion, als sie bisher meistens gefunden. Fast unbeachtet hat man
z.B. bis dato die militärische Bedeutung eines solchen Kanals gelassen, die
in der Sicherung der Zufuhrmöglichkeiten aus dem Südosten (Österreich,
Ungarn, Rumänien) und in der Unabhängigkeit von Zufuhr von der Seeseite
im Norden und Nordwesten liegt. Diese Lage drängt zu der Ansicht, daß,
da sich die in den letzten Jahren mächtig erstarkte politische Interessen-
gemeinschaft zwischen dem Deutschen Reich, Österreich, Rumänien und der
B drei maßgeblichen Anlässen wurde dies hochwichtige, verkehrs-
316 Prof. Dr. Ludwig Fränkel:
hoffentlich kräftig werdenden nunmehr asiatischen Türkei auch in gewissem
Sinne in eine wirtschaftliche umsetzen wird, die diese Staaten verbindende
internationale Wasserstraße mit der Zeit eine stetig steigende Bedeutung er-
langen wird. Die Produktionskraft Württembergs und Bayerns würde ge-
steigert, ein Wechselverkehr von Kolile und Eisen vom Rheingebiet zur Donau
und von animalischen Rohstoffen von der Donau zum Rhein würde hervor-
gerufen und für die deutsche Volkswirtschaft im Kriegsfalle von außerordent-
licher Wichtigkeit sein.
In ganz ähnlichem Sinne sprach sich in einer Vollversammlung der
Handelskammer zu Ulm a. D. deren Präsident, Kommerzienrat Magirus,
aus, und zwar auf Grund seiner unmittelbaren Eindrücke beim jüngsten Tag
des Bayerischen Flußschiffahrtsvereins. Auf dieser Tagung wurde
die dringliche Notwendigkeit einer alsbaldigen Regulierung der mittleren Donau
entschieden betont und dem Vertreter Ulms als derjenigen Stadt, wo die ernst-
liche Benutzung der Donau als Verkehrsstraße einsetzen muß und soll, die feste
Zusage einer bezüglichen Herrichtung des ungleichmäßigen 'Flußbettes abwärts
nach Bayern hinein gegeben. Auch wurde mitgeteilt, daß ein Haupthindernis,
die berühmte steinerne Alte Brücke zu Regensburg, seitens dieser Stadt-
gemeinde ausgeschaltet wird, indem oberhalb ihrer ein eigenartiger Aufzug
in Tätigkeit tritt, die bergwärtsgehenden Fahrzeuge zu heben. Man darf aul
diesen originellen Versuch, ein ehrwürdiges, wahrzeichenartiges Bauwerk lden
Forderungen der Verkehrsära nicht zu opfern, billig gespannt sein.
Wenn auch aus den oben schon angedeuteten Ursachen immer noch
problematisch genug, nimmt doch unter den großen wirtschaftlichen Plänen
der Gegenwart die Ausgestaltung eines Großschiffahrtsweges vom
Obermain zur Nordsee, welcher dem mittleren und südlichen Bayern
den Zugang zur Wesermündung erschließt, einen ersten Platz ein. Der Verein
zur Schiffbarmachung der Werra gab dazu wohl den nächsten Antrieb
und seitdem fördert er ihn nach Kräften. Welch starke Teilnahme weite Kreise
diesem weitschauenden Plan widmen, bewies kürzlich die Hauptversammlung
des eben genannten Vereins zu Eisenach. Der Vorsitzende, Senator Meyer
(Hameln), legte dar, daß im Werragebiet 23 Talsperrprojekte ausgearbeitet
seien, fertig zur Bauausführung. Gemäß dem Kassabericht wurden bis jetzt
58000 Mark ausgegeben. Preußen überwies dem Verein neuerdings 10 000
Mark, die Kaliwerke 6000. Um die Vorarbeiten durchzuführen, sind noch
etwa 40 000 Mark erforderlich, und diese hofft man durch Zuschüsse der be-
teiligten Staaten und Interessenten aufzubringen. Über die Werra-Main-Ver-
bindung berichteten Baurat Contag (Berlin) und Oberingenieur Jünger
(Mannheim). Die etwa 90 Kilometer lange Kanalstrecke soll oberhalb Mei-
ningen bei Untermaßfeld von der Werra abzweigen und bei Bamberg den
Main treffen. Die 358 Meter hohe Wasserscheide soll entweder durch Scheusen-
anlagen und Hebewerke oder durch einen Tunnel von 9 Kilometer Länge
überwunden werden, der 48 Meter unter dem Gebirgsscheitel und nur 20 Meter
über der Werra und 80 Meter über dem Main liegt. Ein Schiffahrtstunnel,
zwischen Ritschenhausen und Römhild angelegt, erspart 5 Hebewerke und die
Kanalstrecke erfährt dadurch eine wesentliche Verkürzung. Besondere geo-
logische Schwierigkeiten stehen der Tunnelanlage nicht im Wege. Täglich
könnten nach beiden Richtungen auf Grund des Tunnelprojekts je 36 Schiffe
mit insgesanıt 55 000 Tonnen verkehren. Man beschloß das Projekt der
Durchtunnelung baufertig durchzuarbeiten und bewilligte zu diesen: Zwecke
15000 Mark. Sehr wichtig ist die vom Bayerischen Kanalverein versprochene
Sůddeutschlands geplante Großschiffahrtsverbindung etc. 317
tstkräftige Unterstützung. Die Kosten der Werra-Main- Verbindung ver-
anschlagen sich freilich auf rund 200 Millionen Mark. jedenfalls sollte die
Versammiung, die unter Teilnahme der dazu eingeladenen preußischen Land-
tags mitglieder nach Berlin ins Abgeordnetenhaus berufen werden soll, den
Ausbau des großzügigen Unternehmens auch über die Pläne, Entwürfe und
Beschlüsse hinaus zugunsten des deutschen Verkehrs- und Wirtschaftslebens
nachdrücklich fördern. Das neue Staatsoberhaupt Bayerns, Prinzregent
Ludwig, steht ja mit allerwärmster Sywpathie auf der Seite dieser Pläne
und Ansätze.
Schon war vorstehender Artikel gesetzt und in der Korrektur erledigt,
de kommt der genaue Bericht über einen hochbedeutsamen allerjüngsten Vor-
trag zu meiner Kenntnis, zweifellos so inhaltsreich, daß eine völlige Ver-
nachlässigung in unserem Zusammenhange eine Lücke ausmachen würde. Am
16. Januar 1913 nämlich sprach Ingenieur Rosemeyer-Köln daselbst in
einer großen Versammlung vor Vertretern des Magisirats, der Handels-
kammer, der Elektrotechnischen Gesellschaft, des Kölner Bezirksvereins
deutscher Ingenieure, des Architekten- und Ingenieur-Vereins für Rheinland
und Westfalen und des Vereins der Industriellen des Regierungsbezirks Köln
über sein Projekt eines „Rhein-See-Kanals von Köln bis Emden.“
Dasselbe Thema war erstmalig im November 1912 vor dem „Verein zur
Förderung des Baues eines Großschiffahrtsweges vom Rhein zur deutschen
Nordsee“ im preußischen Abgeordnetenhause zu Berlin eingehend behandelt
worden. Der jetzt von Rosemeyer aufgestellte Vorschlag nun darf wie eine
unbewußte Fortsetzung jener süd- und südwestdeutschen Kanalpläne ange-
seiten werden. Verschiebt doch Rosemeyer, entgegen dem älteren Entwurfe
der Bauräte Herzberg und Taaks, die ihren gleichzielenden Kanal erst bei
Wesel abzweigen, den Ausgangspunkt viel höher rheinaufwärts, und zwar bis
nach Wiesdorf unterhalb Kölns. Dadurch erreicht er den Vorteil des natür-
lichen Wasserzuflusses und beschränkt die Zahl der in Betracht kommenden
Schleusen auf drei. Außerordentlich glücklich erscheint sein Gedanke, durch
das natürliche Gefälle elektrische Energie zu erzeugen, welche industrielle
Verwertung findet und gleichzeitig eine Rentabilität der ganzen Anlage
sichert. Wichtig ist, daß sich auf dieser geplanten Wasserstraße mit 70 Meter
Spiegelbreite und 8 Meter Tieſe der Verkehr von Seeschiffen mit 5—6000
Formen Ladefähigkeit bis nach Köln hinauf bewerkstelligen lassen wird.
Dies ergibt die Möglichkeit, den jetzt in Rotterdam zusanımenlaufenden nord-
westdeutschen Verkehr auf deutschen Boden hinüberzulenken und auf diese
Weise der deutschen Volkswirtschali geradezu riesige Beträge zu erhalten.
Für die m Betracht kommenden Rheinhäfen Köln, Düsseldorf, Duisburg-
Ruhrort wili der Vater dieses feindurchdachten Großunternehmens ausgedehnte
Rhem-See-Hafenanlagen schaffen und die Städte Neuß, Krefeld und Wesel
durch Zweigkanäle anschließen. Ganz entsprechend plant er eine Wasser-
verbindung mit dem Gebiete der rheinisch-westfälischen Kohlenindustrie,
was wiederum den Eisenbahnverkehr entlasten würde. Ein solcher Rhein-
See-Kanal erschlösse die Moor- und Odländereien, die seitwärts der Trasse
liegen. Nach seinen Berechnungen erzielt Rosemeyer durch den Verkauf der
— pad
318 Süddeutschlands geplante Großschiffahrts verbindung etc.
vorerwähnten elektrischen Energie einen jährlichen Überschuß von 2, 3 Millionen
Mark. Dieser Überschuß soll den Bau eines Kriegskanals bezw. die Er-
weiterung des bisherigen Ems-Jade-Kanals ermöglichen. Die Gesamtkosten
seines Entwurfs veranschlagt er auf 275 Millionen Mark. Die überaus
fesselnden Ausführungen des Redners, das Ergebnis langen Nachdenkens,
Prüfens und Vergleichens, nahmen die mannigfach interessierten anwesenden
Fachleute außerordentlich beifällig auf. Die Versammlung faßte eine Re-
solution an die preußische Staatsregierung: den Teilnehmern der Versammlung
erscheine die Schaffung einer deutschen Rheinmündung dringend erwünscht
und eine bezügliche tätige Förderung der darauf hinzielenden Bestrebungen
entschieden erforderlich.
Sodann wurde die Frage der Neckarkanalisation in der
württembergischen Abgeordnetenkammer zu Stuttgart anı
25. Januar offiziell behandelt. Minister des Innern Dr. von Fleisch-
hauer führte in Beantwortung einer sozialdemokratischen Anfrage über den
Stand der Neckarkanalisation aus, die württembergische Regierung
wünsche dringend baldige Inangrifinahme der Kanalisation des Neckars, die
aber nach dem jetzigen Stand der Angelegenheit nur unter Mitwirkung des
Rheinstrombauverbandes ausgeführt werden könne. Die Inkraftsetzung des
Reichsgesetzes für das Strombaugebiet des Rheins sei abhängig von einer Ver-
ständigung mit den Niederlanden über Einführung von Schiffahrtsabgaben. Die
württembergische Regierung habe an zuständiger Stelle der Reichsregierung
das Interesse Württembergs an baldiger Inkraftsetzung des Reichsgesetzes
zum Ausdruck gebracht. Wie sich Baden und Hessen zur Finanzierung der
Neckarkanalisation innerhalb eines Reichsgesetzes stellen, wisse die württem-
bergische Regierung nicht. Württemberg hätte auch die Kosten für Kanali-
sation auf badischem und hessischem Gebiet zum überwiegenden Teil zu
übernehmen. Mit dem Aufwand für einen Hafen in Heilbronn ergäben sich
dabei für Württemberg 3613 Millionen Mark. Die Einnahmen aus dem Ver-
kehr würden sehr gering, aus der Verwertung der Wasserkräfte wesentliche
Einnahmen nicht zu erzielen sein, zumal Baden meine, daß Wasserkräfte
innerhalb seines Gebiets ausschließlich ihm zur Verwertung stehen. Unter
diesen Umständen rechne Württemberg mit einem solchen Defizit, daß Über-
nahme der Finanzierung bei der jetzigen Lage der Staatsfinanzen nicht in
Betracht käme. Die Anregung, vor Inkrafttreten der Schiffahrtsabgaben mit
Baden Verhandlungen einzuleiten, könne man nicht befolgen. Der Vertrag
zwischen Württemberg, Baden und Hessen sei so weit gediehen, daß nach
dem Inkrafttreten des Reichsgesetzes nicht mehr viel Zeit erforderlich wäre,
um zum Abschluß zu gelangen. Der technische Entwurf für die
Kanalisation der Strecke Mannheim-Heilbronn liege fertig vor:
auch habe sich die badische Regierung bereit erklärt, die Kanalisation auf
badischem Gebiet auf Kosten Württembergs auszuführen. Eine ähnliche
Zusage habe Hessen gegeben. In einer zweiten Rede führte der Minister
aus, die württembergische Regierung könne ihre Haltung zur Frage der
Neckarkanalisation gegenwärtig nicht ändern. Wenn die Stellungnahme
Hollands zu den Schiffahrtsabgaben allzulange warten lasse, dann sei es
allerdings möglich, daß man in Württemberg neu prüfe, wie ohne Mitwirkung
des Strombauverbandes der Neckar zu kanalisieren sei. Redner der Fort-
schrittlichen Volkspartei billigten die Haltung der Regierung vollkommen.
Der Abg. K. Haußmann riet der Sozialdemokratie, an ihren Parteifreund
Frank in Mannheim zu appellieren, daß er seinen Einfluß einsetze, die
e ia gaa Tp —é r å pe
2 3 EN — War
Hugo Kloß: Ein Urteil. 319
Schwierigkeiten, die in Baden der Neckarkanalisation entgegenstehen, beseitigen
zu hellen.
So streben Süd- und Westdeutschland ani Ansange des 20. Jahrhunderts
nachdrücklich nach erfolgreicher Verbindung und Nutzbarmachung der natür-
lichen Wasserwege, wie sie das östliche und das mittlere Norddeutschland
längst vor dem Zeitalter des Verkehrs, im 18. und 19. Jahrhundert, freiwillig
durch den preußischen Staat, teilweise bekanntlich gegen einseitig agrarische
„Kanalrebellen“, gutenteils schon erhalten hatten. Wie freilich die Nieder-
länder sich zu den Schiffahrtsabgaben am Niederrhein stellen werden, wo
sie den gewaltigen Einnahme-Ausfall durch die vorschwebende Verkehrs-
ablenkung ab Köln befürchten müssen, ist eine andere, sehr heikle Frage!
Hugo Kloß: Ein Urteil.
on einem preußischen Gericht ist vor kurzem eine Entscheidung ge-
fällt worden, die man zwar nach ihren Beweggründen verstehen,
aber trotzdem nicht billigen kann.
Es handelt sich um folgenden Fall: Der Angestellte einer Großbank
hatte seine Stellung daselbst im Laufe des Jahres verlassen und klagte nun
vor dem Kaufmannsgericht auf Auszahlung eines entsprechenden Teils der zu
Weihnachten fälligen üblichen Gratifikation, die ihm von der betr. Bank ver-
weigert wurde, da er sich zu Weihnachten nicht mehr bei ihr in Stellung
befand. Die Frage, ob in diesem Falle der Angestellte noch einen Rechts-
anspruch auf Weihnachts- und Abschlußgratifikation hat, ist heiß umstritten,
und die Entscheidungen der Gerichte sind ebenso häufig wie widerspruchsvoll.
Es gibt wohl keinen unter den Chefs und Angestellten, der die Streitfrage
nicht zu seinen Gunsten auslegte und eine endgültige Regelung dürfte wohl
nur durch eine reichsgesetzliche Maßnahme herbeizuführen sein.
Im vorliegenden Falle lehnte nun der Vertreter der beklagten Groß-
bank einen Beisitzer des Kaufmannsgerichts als befangen ab, da derselbe ein
Vorstandsmitglied des Deutschen Bankbeamtenvereins wäre. Dieser Verein aber
habe zu der beregten Frage stets zu Gunsten der Angestellten Stellung ge-
nommen, so daß ein Vorstandsmitglied dieser Korporation über die vom Oe-
richt zu entscheidende Frage bereits eine vorgefaßte Meinung haben müsse,
also unmöglich unparteiisch urteilen könne.
So bestechend diese Argumentation auch auf den ersten Blick ist, das
Kaufmannsgericht erklärte doch den Ablehnungsantrag für unbegründet und
wies ihn zurück. Erst als die Bank den Streitfall vor das Landgericht
Hrachte, drang sie mit ihrer Ansicht durch.
Diese Gerichtsentscheidung berührt umso merkwürdiger, als sie mit
anderen Urteilen (auch des Reichsgerichts) schwer in Einklang zu bringen
ist. Wiederholt schon ist z. B. entschieden worden, daß die Unparteilichkeit
eines Richters noch nicht angezweifelt werden könne, weil er zu der Rechts-
frage, die zur Entscheidung steht, bereits früher in Prozessen, literarisch
oder sonstwie Öffentlich Stellung genommen hat.
Vor allen Dingen aber spielt die Frage der Unparteilichkeit des einzelnen
Richters bei den Kaufmannsgerichten eine ganz andere Rolle als bei den
ordentlichen Gerichten, wodurch sich auch der abweichende Entscheid des
Landgerichts von dem Erkenntnis des Vorgerichts erklären läßt. Bei den
— —
320 Hugo Kloß: Ein Urteil.
ordentlichen Gerichten steht der Richter über den Parteien, bei den Kauf-
mannsgerichten mit ihrem Laienrichterpersonal steht der Richter zwischen
den Parteien. Da fällt es dem einzelnen schon bedeutend schwerer, strenge
Unparteilichkeit zu wahren. Das hat auch der Gesetzgeber anerkannt, als er
bestimmte, daß sich die Beisitzer je zur Hälfte aus Arbeitnehmern und Arbeit-
gebern zusanımensetzen müssen. Sie sollen sich mit ihren widerstreitenden
Interessen die Wage halten. Denn daß in den meisten Streitiragen, die vor
den Kaufmannsgerichten verhandelt werden, ein Gegensatz zwischen Arbeit-
gebern und Arbeitnehmern klafit, läßt sich nicht ignorieren. Es hieße von
den Beisitzern der Kaufmannsgerichte unmögliches verlangen, wenn man
ihnen, die im praktischen l.eben stehen, und nicht wie der Berufsrichter un-
abhängig von der Parteien Hall und Gunst sind, wenn man diesen Leuten
zumuten wollte, sie sollten ihre Interessen selbstlos verleugnen, sobald sie
auf der Richterbank sitzen. Eine derartige Forderung lag auch gar nicht in
der Absicht des Gesetzgebers. Denn wenn er an eine strenge Objektivität
— selbst nur in der Theorie — geglaubt hätte, wozu denn dann die Zu-
sammensetzung des Richterkollegiums aus zwei verschiedenen sozialen
Klassen? Streng objektiv könnte — in der Theorie — auch der Arbeitgeber
oder der Arbeitnehmer allein urteilen, ohne daß sie sich beim Finden des
Rechts gegenseitig unterstützen. Weil aber in der Praxis schwerlich genügend
Männer aufzutreiben sein würden, die das Recht nur vom objektiven, nicht
von ihrem, dem Arbeitgeber- resp. Arbeitnehmerstandpunkt zu finden wüßten,
weil jede Gruppe einzeln für sich allzu parteiisch urteilen würde, deshalb
schreibt das Gesetz vor, daß beide, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, das
Richterkollegium bilden müssen. Durch gemeinsame Arbeit der Beisitzer, die
sich aus verschiedenen Parteien zusammensetzen, hoffte der Gesetzgeber, eine
möglichst parteilose Rechtsprechung der Kaufmannsgerichte zu erzielen. Denn
er kalkulierte ganz richtig, daß sich schlielilich die entgegengesetzten
Meinungen auf der goldenen Mittelstraße zusammenfinden würden, die den
Weg des Rechts darstellt.
Von einer parteilosen Judikation kann man also bei den Kaufmanns-
gerichten nicht sprechen. Im Gegenteil, hier ist alles Partei. Darin liegt der
große Unterschied zwischen diesen und den ordentlichen Gerichten. Man
kann also auch den Beisitzer eines Kaufinannsgerichtes wegen seiner Partei-
lichkeit nicht befangen nennen. Wollte nian dies, so träfe das nicht auf einen
einzelnen, sondern auf den ganzen Gerichtshof zu. Wenn das Berliner Land-
gericht den eingangs erwähnten Entscheid fällte, so befand es sich dabei in-
sofern in einem Irrtun, als es den großen Unterschied zwischen ordentlichen
und Kaufmannsgerichten vollkommen verkannte. Eine konsequente Durch-
führung dieses Urteilsspruches müßte unweigerlich zur Zertrümmerung der
Kaufmannsgerichte in ihrer heutigen Form führen, eine Folge, die wohl
allseitig unerwünscht wäre, solange man an Stelle des Alten nichts Neues
setzen kann, das besser ist.
Schluß des redaktionellen Teils.
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Verantwortlich für die Redaktion: S. D. Gallwitz, Bremen.
Einsendungen von Manuskripten (unter Beifügung von Rückporto)
an die Redaktion Bremen, Am Wall 163. Tel. 6945.
Verlag: Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen.
Druck: H. M. Hauschild, Hofbuchdruckerei, Bremen.
* *
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Verlag Vita, Deutsches Verlagshaus, Berlin— Charlottenburg.
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Friedrich Meyer: Maler Müller Bibliographie.
Verlag Friedrich Meyer Buchhandlung, Leipzig.
Max Krüger: Über Bühne und Bildende Kunst.
Verlag R. Pieper & Co., München.
Fritz Müller: Die andere Hälfte. Verlag Egon Fleischel & Co., Berlin.
Dichter und Geschäftsmann.
In einem Aufsatz (Frankfurter Ztg. Nr. 295), der die Grundlagen unseres
Wirtschaftslebens erörtert, kommt Frederik van Eeden zu einer Schlußfolgerung,
die das Heil der Zukunft in einem neuen eigenartigen Zusammenwirken der
Geschäftsleute mit den Dichtern erblickt. Dieser Zukunftstraum findet seinen
Ausdruck in den Sätzen:
‚Leicht wäre es, alles Elend der heutigen gesellschaftlichen Zustände
darauf zurückzuführen, daß der Geschäftsmann zu wenig Dichter ist und seine
Kraft verbraucht für unwürdige Zwecke, ohne große und schöne Lebens-
anschauung, ohne Phantasie, ohne höhere Freude, — während der Dichter-
Utopist dagegen wieder zu wenig Geschäftsmann, zu wenig Wirklichkeitsmensch
ist, um seine sozialen Visionen praktisch auszuführen.
Der Geschäftsmann lacht ein wenig über den unpraktischen Dichter, zuckt
die Achsel über seine Begeisterung, seine Ideale und versteht nicht, daß seine eigene
Arbeit etwas Höheres und Schöneres sein könnte, daß auch er unendlich höhere
Entzückungen kennen würde, wenn er sein Schaffen mit dichterischer Idealität
erfüllte — der Dichter dagegen sieht verächtlich auf das Treiben der Geschäfte,
das ihm banal und widerlich vorkommt, ohne zu verstehen, daß sein höheres
Seelenleben nur Wert und Bedeutung bekommt, wenn es durch geduldiges ge-
schäftliches Wirken das ganze tägliche Leben der Menschheit durchdringt.
Solange die beiden, Dichter und Geschäftsmann, einander feindlich und
mißtrauisch gegenüberstehen, solange der Dichter sich als Ästhetiker in seinem
Stolz zurückzieht und auf den niedrig gesinnten Geschäftsmann schimpft, der nur
für faden Gelderwerb und rohe Genüsse zu arbeiten scheint — und solange der
Geschäftsmann nichts weiter ins Auge faßt als seine Privatinteressen und alles
höhere Seelenleben nur als etwas Untergeordnetes und Überflüssiges betrachtet,
solange er nicht sieht, daß nur der Dichter ilın lehren kann, wie er sein Geschäft
zu einer schönen Schöpfung und sich selbst zu einem gesegneten und segens-
reichen Menschen ausbilden kann — so lange bleibt die Menschheit in Elend.
Denn nur immer Geld verdienen und das Geld dann nachher wieder
philanthropisch verschenken — das genügt nicht für eine würdige Menschen-
existenz. Und hübsche Verse machen, auf den Philister schimpfen und dann
sich doch wieder vom reichen Geschäftsmann unterhalten und beschenken lassen,
das genügt nicht für ein würdiges Dichterleben.
Um eine neue Menschenwelt zu schaffen, brauchen wir Geschäftsleute, die
das Lenken der menschlichen Aktivität als einen hohen Beruf, als eine wirkliche
Schöpfung auffassen, und wir brauchen Dichter, die die ganze Menschheit so
feurig lieben, daß sie sich nicht von ihr zurückziehen trotz aller Philister, und
sich sehr tüchtig darum kümmern, wie sie lebt und was sie treibt, um für aich
und andere Nahrung, Kleidung und Wohnung zu schaffen — welche Sachen die
meisten Dichter bekanntlich auch nicht gern entbehren.“
C
Gewohnheitsgifte.
je heutige Richtung der Medizin geht von der Erkennt-
D nis aus, daß jeder Krankheitsherd in den Säften des
Menschen zu finden ist. Die Folge davon ist natur-
gemäß, daß der Erneuerung dieser Säfte die größte Aufmerk-
samkeit zugewendet und hierzu die Ernährungsfrage als solche
aufgerollt werden muß. Dank der Bemühungen fortschritt-
licher Ärzte ist es denn auch heute Allgemeingut des Publikums
geworden, daß eine einseitige Ernährung schädlich ist und
neben der Fleichnahrung der Pflanzenkost breiter Raum ge-
währt werden muß. Weniger beachtet wird aber, daß es ebenso
wichtig ist, den Körper vor der Zuführung schädlicher Stoffe
zu bewahren. Hiergegen wird täglich und stündlich in un-
verantwortlicher Weise gesündigt, und die heutige Generation
hat sich so sehr an den Genuß gewisser Gifte gewöhnt, daß
schwer dagegen anzukämpfen ist. Als gefährlichstes dieser
Gewohnheitsgifte ist sicherlich das Koffein anzusehen, und
zwar besonders darum, weil der Kaffee, in dem es enthalten
ist, zu unseren verbreitetsten Genußmitteln zählt und bei dem
größten Teil unserer Bevölkerung zur Tageskost gehört.
Nicht etwa nur die Arbeiterklasse und der Mittelstand
frönen dem Genuß des Kaffees, nein, auch in den exklusivsten
Kreisen behauptet er seinen Platz. Und überall wirkt er im
gleichen Maße gesundheitsschädlich. Es kommt beim Kaffee-
genuß natürlich auf den Prozentsatz der Bohnen an, die man
zur Bereitung des Getränkes verwendet. Wenn also eine
Kleinbürgerfrau täglich etwa zwei Liter Kaffee trinkt, den sie
sich unter Verwendung von nur 2% Bohnen bereitete, so wird
sie genau so viel Gift zu sich nehmen wie die verwöhntere
Dame, die zwar nur ½ Liter Kaffee pro Tag verbraucht, zu
diesem aber 8% Bohnen benutzt! In allen Kreisen sehen wir
demnach dem Körper ganz regelmäßig ein bestimmtes Quan-
tum Gift in Gestalt des im Kaffee enthaltenen Koffeins zu-
führen, von dem ein Teil naturgemäß in die Körpersäfte dringt.
Wenn die Giftmenge auch nicht groß genug ist, um eine
augenblicklich merkliche Wirkung herbeizuführen, so wirkt
doch gerade die Beharrlichkeit des Gebrauches und die stete
Gewöhnung um so bedenklicher. Es ist erwiesen, daß der
menschliche Körper mit geringerer Schädigung einen ein-
maligen stärkeren Angriff verträgt, als ständig wiederkehrende
geringere Beeinflussungen. Die Körpersäfte wehren sich gegen
diese eindringenden Gifte und stoßen sie zunächst wieder aus.
Wiederholen sich aber die Angriffe ständig, so werden die
Körpersäfte immer mehr verschlechtert und verlieren die Macht,
sich energisch ihrer zu entledigen. Bedenkt man nun, daß
der Kaffeegenuß besonders der weiblichen Bevölkerung so un-
entbehrlich geworden ist, daß sie ihn selbst bei beginnender
Mutterschaft nicht aussetzt, und daß er zum regelmäßigen Ge-
tränk der nährenden Frau gehört, dann wird man vor der sich
hieraus ergebenden Tatsache erschrecken, daß schon dem in
der ersten Entwicklung begriffenen Kinde auf diesem Wege
schwere Schädigungen zugefügt werden. Man wird sich dabei
auch der Überzeugung nicht verschließen können, daß im
Kaffee tatsächlich das verbreitetste Gewohnheitsgift zu er-
blicken ist.
Leider war nur recht wenig dagegen auszurichten. Selbst
die Ärzte mußten damit rechnen und standen häufig ratlos
Patienten gegenüber, bei denen selbst die gebieterische Not-
wendigkeit nicht vermochte, sie vom Kaffeegenuß abzubringen.
Allerdings macht dies der angenehm pikante Geschmack, das
liebliche und starke Aroma des Kaffees recht erklärlich, und
es ist ja auch trotz ständiger Versuche und ernster Studien
nicht gelungen, ihn durch ein einigermaßen gleichwertiges Ge-
tränk zu ersetzen.
Nun hatte man zwar schon längst festgestellt, daß gerade
das Koffein vollständig ohne Einfluß auf Geschmack oder
Aroma des Kaffees ist, aber trotz jahrelanger Versuche gelang
es nicht, einen gangbaren Weg für seine Entfernung zu finden.
Dies glückte erst vor einigen Jahren der mühevollen Arbeit
einiger Fachmänner. Sie haben ein Verfahren gefunden, durch
welches der Kaffeebohne das Koffein entzogen wird, ohne daß
irgendeine Veränderung mit ihr vorgeht, ja, es hat sich die
ganz merkwürdige Tatsache ergeben, daß der vom Koffein be-
freite Originalkaffee an Aroma und Geschmack der gleichen
Qualität unbearbeiteten Kaffees noch überlegen ist.
Die Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft in Bremen hat die
Verwertung dieses Verfahrens übernommen, und die von ihr
errichtete Fabrik ist sowohl der Großartigkeit der Anlagen
nach, als auch durch die Ausnutzung der neuesten technischen
Errungenschaften eine Sehenswürdigkeit. Der unter der Be-
zeichnung »Hag« und kenntlich durch das Warenzeichen
»Rettungsring« in den Handel gebrachte koffeinfreie Kaffee
ist heute in weitesten Kreisen verbreitet. Die Ärzte haben
freudig das Produkt verordnet und viele Hunderttausende
Nerven- und Herzleidende, Blutarme, Lungen-, Nieren- und
Magenkranke können heute wieder ohne die geringste Schädi-
gung dem ihnen unentbehrlichen Kaffeegenuß frönen. Aber auch
unter den körperlich vollständig Gesunden hat sich der koffein-
freie Kaffee Hag eine ungeheure Anhängerschaft erworben,
und es gibt heute kein Hotel von Ruf, kein besseres Café und
kein elegantes Restaurant, in denen nicht Kaffee Hag zu haben
wäre. In den besseren Kreisen ist es heute Sitte geworden,
nach Tisch neben dem üblichen Kaffee auch giftfreien Kaffee
Hag zu reichen; man kann dabei immer wieder die Erfahrung
machen, daß Zweifler, die bei solcher Gelegenheit zu einem
Vergleich veranlaßt werden, zu ihrer eigenen Verwunderung
zugeben, daß der Kaffee Hag besser mundet und ein feineres
und dabei volleres Aroma hat als der nicht entgiftete Kaffee.
Eine schöne Schrift.
Ein erfolgverheißender Weg ist vor einiger Zeit von einer Schreib-
maschinen-Fabrik eingeschlagen worden, als sie mit einer anscheinend gering-
fügigen, aber doch für den Absatz nicht unwichtigen Neuerung herauskam,
zu der ihr die ihrer Maschine eigene Kissenfärbung die Möglichkeit bot; mit
der schönen großen, fetten, der im Buch- und Steindruck üblichen ähnlichen
Schrift, die hauptsächlich für Reklamezwecke (Offertbriefe usw.) und überall,
wo es auf bestechendes und neuartiges Aussehen eines Schriftstückes an-
kommt, ihrer Wirkung sicher ist. Wenn die Vertreter der in Rede stehenden
Maschine und die Reisenden den Vorteil geschickt wahrzunehmen verstehen,
der in dieser Neuerung liegt, so wird der klingende Erfolg gewiß nicht aus-
bleiben.
Die Zeiten, in denen der deutsche Kaufmann ängstlich knauserte und jeden
Groschen dreimal in der Hand umdrehte, ehe er ihn au«gab, sind vorüber. Welt-
blickende Geschäftsleute schaffen heute schon für bestimmte Zwecke Spezialschreib-
maschinen an, und das wird in Zukunft immer mehr geschehen. Jeder Kundige
weiß, das Oiferten in Schreibmaschinenschrift heute vielfach mit sehr mißtrauischen
Augen betrachtet, wenn nicht gar ungelesen beiseite gelegt zu werden p'legen,
weil der Empfänger immer den Argwohn hat, es könne sich um ein Massenerzeugnis
handeln. Manche Geschäftsleute, die auf eine vornehme briefliche Pro-
paganda angewiesen sind, beginnen sich deshalb für diesen Zweck schon von
der lange Zeit bevorzugten Schreibmaschine abzuwenden und kehren zur
Handschrift zurück, während andere durch geschickte Benutzung aller
Neuerungen auf dem Gebiete des Schreibmaschinenwesens mit der viel
billigeren Propaganda durch Schreibmaschinenbrieie immer noch die ge-
wünschte Wirkung erzielen. Unter diesen Umständen ist eine Maschine, die
eine eigenartige, formvollendete, bestechende, dabei aber doch gut lesbare
Schrift liefert, vielen, die das Interesse der Empfänger ihrer Briefe auf den
Inhalt ihrer Mitteilungen zu lenken bestrebt sind, höchst willkommen.
Es handelt sich um die Imperial-Schrift der „Yost“, der Schreibmaschine
der schönsten Schrift.
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Hag- Rundschau.
Erholungen im Zeitungsbetriebe.
Man lese, welche Freude der Kaffee Hag den vielgeplagten Leitern
und Angestellten der Redaktionen, Expeditionen und Druckereien —
Betriebsstörungen ausgeschlossen! — bringen kann. Unter Dutzenden
heute zwei Beispiele nur:
„Und sie tranken immer noch eins!“ die Damen in unserem Betriebe
nämlich, die mit allen anderen Angestellten der Halleschen Zeitung vom Vertreter
der Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft Koffeinfreier Kaffee Hag aus Bremen
gestern Dienstag zu einem „Schälchen Heeßen“ eingeladen worden waren. Da-
men sind die zuständigsten Beurteiler in Kaffeegeschmacksfragen, und wenn sie
immer von neuem und immer wieder nach einer frischen Tasse Kaffee Hag
verlangten, so ist damit schon der Beweis geliefert für den Wohlgeschmack von
Kaffee Hag. Aber sie genossen nicht nur, sie priesen auch in allen Tönen den
braunen Trank, so daß die männlichen Trinkgenossen, die natürlich den Damen
in der Verkündigung der vorzüglichen Eigenschaften des Kaffee Hag den Vor-
tritt hatten lassen wollen, nun nicht mehr anstanden, ebenfalls in dieses Lob
einzustimmen. Auch sie fanden, daß Kaffee Hag trotz seiner Koffeinfreiheit
durchaus den vollen Kaffeegeschmack besitzt und darin den feinsten Sorten
nichts nachgibt. Dazu kommt, daß er durch die Entziehung des giftig wirkenden
Koffeins durchaus unschädlich und der Gesundheit dienlich ist. Er wirkt anregend,
aber nicht aufregend. In vielen Kaffeehäusern unserer Stadt wird er bereits ver-
abfolgt. (Hallesche Zeitung, 28. Januar 1913.)
„Vor einigen Tagen konnten wir mit Kaffee aufwarten. Es gab keine ge-
wöhnliche Sorte, sondern etwas ganz Vorzügliches, den berühmten Kaffee Hag.
Eigentlich hätten wir ja alle guten Freunde dazu einladen müssen, um sie mit
Kaffee und Pfernüssen zu bewirten, denn jedem Leser eine Portion „entgifteten®
Mokka in die Wohnung zu schicken, ging nicht gut an, zumal die Vertilgung
an Ort und Stelle ganz gewaltig war. Krischan, der in seinem Kampfe mit den
Mächten der Finsternis und des Lichtes, das ihn schließlich wieder auf die richtige
Bahn der Engel gebracht hatte, etwas an seinen Nerven gelitten hatte, vertilgte
allein fünf Tassen, und nur seine in allen Stücken anerkannte Bescheidenheit
ließ ihn von dem Grundsatze abgehen: Mehr als sieben trink ich nie! Es wurde
ihm auch vorgehalten, daß er nicht aus Sachsen sei und sich deshalb in seiner
Beschränktheit als Meister zeigen müsse. Daß die Tippdamen, Telephonistinnen,
Stenogräfinnen, Kasseusen, Pfalzgräfinnen usw. von dem braunen Trank der Levante
kosten wollten, war ihnen nicht zu verdenken, denn der Duft der Druckerschwärze
und Angsttranspiration der gehetzten Schriftleiter wurde angenehm versetzt mit
den aromatischen Düften, die aus dem immer frisch gefüllten Kaffeetopfe auf-
stiegen und bis in die fernsten Räume drangen.“
(Braunschweiger Allgemeiner Anzeiger, 18. Januar 1913.)
Eine Zeichenvorlage.
Einen erneuten Beweis, welch großer Beliebtheit die bekannte Hagpackung
mit dem Rettungsring sich erfreut, liefert die Äußerung eines Zeichenlehrers, der
an einem süddeutschen Lehrerseminar tätig ist. Dort wird die Hagpackung in-
folge der einfachen und künstlerischen Ausführung im Zeichenunterricht als
ständige Vorlage benutzt.
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Auch eine Volksgefahr.
Die Agitation gegen den Kaffee wird lange nicht mit derselben Heftigkeit
geführt wie gegen den Alkohol, und doch ist es eine längst bekannte Tatsache,
daß das Koffein die Haut blutarm, die Eingeweide aber blutreich macht und
daß Kaffee und Tee den Menschen, die zu nervöser Relzbarkeit neigen, weit
schädlicher sind als z. B. Biergenuß in mäßigen Grenzen. Wenn nachts in den
‚Großstädten die Bierrestaurants schließen, füllen sich die Kaffeehäuser, und bei
rauschender Musik verscheucht der aufregende Kaffee die angenehme Müdigkeit,
die ein vorhergegangener Biergenuß vielleicht erzeugt hat und deren der Mensch
für den stärkenden Nachtschlaf bedarf. Und eine unruhige Nacht rächt sich
bitter an der Arbeit des folgenden Tages. Wenn man in unserer Zeit so oft von
einer fortwährenden Zunahme der Nervosität spricht, so sollte man nicht unbe-
achtet lassen, daß diese mit dem Anwachsen des Koffeingenusses parallel läuft.
Auf Grund offizieller Statistiken und unter Zugrundelegung des prozentualen
Koffeingehaltes von Kaffee und Tee stellt sich der Verbrauch von Koffein im
deutschen Volke jährlich auf mehrere Millionen Kilo, welchem Koffeinverbrauch
ein Verbrauch von etwa neunzigmal soviel Millionen Kilo Kaffee selbst entspricht.
Ohne Zweifel ist die Zunahme gewisser Krankheiten des Herzens und des
Nervensystems auf diesen sehr gesteigerten Koffeingenuß zurückzuführen. Wer
dünnen Kaffee trinkt, tut das zumeist so reichlich, daß er trotzdem eine ganz
gehörige Portion Koffein im Laufe eines Tages in sich aufnimmt, und gerade die
nervösen Menschen, die ein solches Reizmittel meiden sollten, sind darin am
unmäßigsten. Frauen trinken im Durchschnitt mehr Kaffee als die Männer, und
besonders unter ihnen ist die Zahl der Nervösen eine sehr beträchtliche.
(Aus der „Düsseldorfer Zeitung“, 19. Jan. 1913
„zur Hygiene der Kolonialwaren.*
Ein unter diesem Stichwort veröffentlichter Aufsatz in der „Produkten-
Börse“ enthält folgenden Absatz:
‚Da, wie allgemein bekannt, Bohnenkaffee unter Umständen, namentlich
wenn er im Überfluß genossen wird, leicht Gesundheitsstörungen erzeugen kann,
was auf das Konto des Koffeins zu schreiben ist, so hat man ja auch auf dem
Wege eines besonderen Aufschließungs- und Extraktionsverfahrens den koffein-
frelen Kaffee hergestellt, ohne die Form, das Aussehen, das Aroma und den
Geschmack des Kaffees zu beeinträchtigen. Bieiben doch dem Kaffee die
Extraktivstoffe und Kaffeeöl, die dem Kaffee Geschmack und Aroma verleihen,
erhalten. Ja, es scheint fast, als ob Aroma und Geschmack der Kaffeebohnen
noch verbessert und verfeinert würden. Solchen Kaffee vertragen auch Herz-
und Nervenkranke gut, ohne daß irgendwelche Empfindlichkeit und Störung
sich zeigt, die sonst beim Genuß von koffeinhaltigem Kaffee öfters sich einstellt.“
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Heft 6
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Gerhard Ouckama Knoop: Familien kunde 336
Paula Becker-Modersohn: Briefe und Tagebuchblätter III. 341
Emil Waldmann: Römische Kaiserphysiognomien ........ 348
Otto Corbach: Volksempfinden und answärtige Politik ... 353
Joseph Aug. Lux: Reform der Männertracht ............. 360
Max Oehler: Soldatenlieder............... e
Bremensis: Politische Rundschau ....... a
Curt Stoermer: Paula Becker-Modersohn ........ l
Wilnelm Hausenstein: Neues in der Münchener Kunst 381
Hugo Kloß: Konjunktur oder Kr isis. r
Nachdruck der Belletristik verboten. Nachdruck der übrigen Artikel anter
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S. D. Gallwitz - G. F. Hartlaub - Hermann Smidt
Charles Baudelaire:
Tröstliche Maximen über die Liebe.
eder, der Maximen schreibt, liebt Ubertreibungen; die Jungen
schminken sich Runzeln, die Alten spielen Adonisse. —
Die Welt, dieses ungeheure System von Widersprüchen, hoch-
achtet ja jede Hinfälligkeit — also schnell, malen wir uns
Falten; das Gefühl wird ja im allgemeinen so gut ertragen, also
verzieren wir unser Herz wie ein Frontispiz! Doch wozu? — Wenn
ihr keine echten Menschen sein könnt, seid richtige Tiere. Seid
naiv, und ihr werdet mit Notwendigkeit einigen nützlich oder an-
genehm sein. Mein Herz — schlüge es selbst zur Rechten, —
wird unter den drei Milliarden Wesen, die die Nesseln des Gene
abweiden, wohl tausend finden, die Parias sind wie ich.
Wenn ich zuerst von der Liebe rede, so geschieht es, weil
die Liebe für alle (man möge es nur leugnen) das Wichtigste im
Leben ist!
Ihr alle, die ihr einen unersättlichen Geier nährt — hoff-
mannische Dichter, die die Harmonika in kristallnen Regionen
tanzen läßt, denen die Violine das Herz zerreißt wie eine Klinge,
die nach ihm gezückt — süchtige, gierige Betrachter, die selbst das
Schauspiel der Natur in gefährliche Extasen versetzt: Euch sei die
Liebe ein Beruhigungsmittel!
Diesen Aufsatz schrieb Baudelaire als — Student der Liebe, mit 24 Jahren.
Er lat für seine Art zu denken, für seine paradoxe Auffassung vom Wesen der
Liebe und seinen so oft gerühmten und gerügten Hang zu Mystifikationen
ebenso wesentlich wie wertvoll und charakteristisch. Er erschien 1846 in einer
längst vergessenen Zeitschrift und ist erst kürzlich wieder ausgegraben worden.
Der Übersetzer.
322 Charles Baudelaire:
Seelenruhige, objektive Dichter, edle Vorkämpfer der Me—
thode, Architekten des Stils — Politiker, die ihr eine tägliche
Aufgabe zu erfüllen habt: euch sei die Liebe ein Reizmittel, ein
stärkender, tonischer Heiltrank und die Gymnastik des Vergnügens
eine ständige Aufmunterung zur Tat!
Diesen der Schlaftrunk, jenen — Alkohol.
Ihr aber, für die die Natur grausam und die Zeit kostbar ist,
euch sei die Liebe ein animisches, brennendes Kordial.
Man sei also wählerisch in den Passionen der Liebe.
Ohne jenes plötzliche Aufblitzen der Liebe zu leugnen (was
unmöglich ist — siehe Stendhal, Über die Liebe, Buch I, Kap. 23)
— muß man annehmen, daß. das blinde Schicksal eine gewisse Elasti-
zität besitzt, die menschliche Freiheit heißt.
Wie den Theologen die Freiheit darin besteht, die Gelegen-
heit zu Versuchungen mehr zu fliehen, als ihnen zu widerstehen,
ebenso besteht in der Liebe die Freiheit darin, die Kategorien ge-
fährlicher, d. h. für uns gefährlicher, Frauen zu meiden.
Deine Geliebte, die Frau deines Himmels, wird dir durch
jene natürlichen Sympathien, die von Lavater, der Malerei imd
der Bildhauerkunst bestätigt sind, eindringlich genug angekündigt
werden.
Die physiognomischen Kennzeichen wären unanfechtbar, wenn
man sie nicht nur insgesamt, sondern auch gut kennen würde. Ich
vermag hier nicht, alle physiognomischen Kennzeichen der Frauen
anzugeben, die ewig und immer mit diesem oder jenem Manne
zusammenstimmen. Vielleicht werde ich dieser ungeheuren Auf-
gabe später einmal in einem Buche nachkommen, das ich „Kate-
chismus der geliebten Frau“ nennen werde. Ich halte es aber
für sicher, daß jeder, von seinen gebieterischen, unbestimmbaren
Neigungen geleitet und von der Beobachtung geführt, in einer
gewissen Zeit die Frau finden kann, die ihm nottut.
Im übrigen sind unsere Sympathien nicht allgemein gefähr-
lich; die Natur macht uns beim Essen wie in der Liebe selten das
schmackhaft, was uns nicht bekommt.
Da ich das Wort „Liebe“ im umfassendsten Sinne verstehe,
bin ich verpflichtet, einige besondere Maximen über delikate Een
niederzuschreiben. . .
... Mann des Nordens, leidenschaftlicher, in Nebel verlorener See-
fahrer, Fahnder nach nördlichen Morgenröten, die schöner sind
als die Sonne, unermüdlicher nach Idealen Dürstender: du liebe
die kalten Frauen.
— . — ———— —U Pö— A —Ä—ü—c . —
Tröstliche Maximen über die Liebe. 323
Liebe sie sehr, denn des Herzens Not ist größer und herber,
und du wirst eines Tages vor dem Tribunal der Liebe, das jenseits
der blauen Unendlichkeit thront, mehr Ehre finden.
Mann des Südens, dem die klare Natur nicht den Hang nach
Geheimnissen und Mysterien geben kann — leichtfertiger Mensch,
aus Bordeaux, Marseille oder Italien: Mögen dir die leidenschaft-
lichen, heißblütigen Frauen genügen; auf diese Beweglichkeit und
Lebenslust hast du ein natürliches und vergnügliches Recht.
Junger Mann, der du ein großer Dichter sein willst, hüte dich
vor dem Paradox in der Liebe. Laß die von ihrer ersten Pfeife
trunkenen Anfänger das Lob der wohlbeleibten Frauen aus vollem
Halse singen; überlasse diese Lüge den Neophyten der pseudo-
romantischen Schule. Wenn die beleibte Frau manchmal eine reizende
Laune ist, so ist die magere Frau ein Brunnen düsterer Wollüste.
Rede niemals schlecht von der großen Natur, und hat sie dir
eine Liebste ohne Brüste zuerkannt, so sage einfach: Ich habe einen
Freund — mit Hüften, und gehe hin in den Tempel und sage den
Göttern Dank!
Wisse selbst aus der Häßlichkeit Vorteil zu ziehen; aus deiner
eigenen ist es gar zu leicht. Jeder weiß, daß Trenck, „la gueule
brülee“,*) von den Frauen verehrt wurde: von seiner Frau. Das
ist zwar seltener und schöner, aber die „Ideenassoziation“ wird
es verständlich und natürlich machen.
Ich nehme an, dein Idol ist krank. Seine Schönheit ist unter
der Blattern schrecklichen Schorf begraben, wie das Grün unter
der schweren Eisdecke des Winters.
Du bist von den langen Ängsten und dem wechselnden Ver-
lauf der Krankheit erregt und betrachtest auf dem Leibe der ge-
nesenden Liebsten traurig die unverwischbaren Male. Da hörst du
auf einem Mal eine ersterbende Melodie in deinen Ohren, die der ver-
zückende Bogen Paganinis spielt, und diese seelenverwandte Me-
lodie spricht dir von dir selbst und scheint dir das innerste
Gedicht deiner verlorenen Hoffnungen zu erzählen. — Von nun
an werden die Spuren der Blattern einen Teil deines Glücks aus-
machen und deinem gerührten Blick Paganinis geheime Melodie
singen. Sie werden von nun an nicht nur ein Gegenstand heim-
licher Sympathie, sondern auch psychischer Wollüste sein, wenn
du eben einer jener empfindsamen Geister bist, für die die Schönheit
vor allem ein Versprechen des Glücks bedeutet. Also ist be-
*) Eine etwas übertriebene Bezeichnung Baudelaires, die schwer zu über-
setzen ist. „Une tête brûlée" bezeichnet einen leichtlebigen Instinktmenschen,
der allen Eingebungen der Leidenschaft sofort nachgibt. „Gueule* ist etwas
gröber, plitoresker, wenn man will. Der Übersetzer.
324 Charles Baudelaire;
sonders die Ideenassoziation die Erregerin der Liebe zu Häßlichen;
denn wenn deine pockennarbige Geliebte dich verrät, läufst du sehr
leicht Gefahr, dich nur mit einer pockennarbigen Frau wieder trösten
zu können.
Für gewisse Geister, die begieriger und abgestumpfter sind,
rührt das genießende Schönfinden der Häßlichkeit von einem noch
geheimnisvolleren Gefühl her: vom Durst nach dem Unbekannten,
vom Hang zum Schrecklichen. Das ist jenes Gefühl, dessen Keime,
mehr oder weniger entwickelt, jeder in sich trägt, das gewisse
Dichter in die Amphitheater und Kliniken und die Frauen zu
öffentlichen Hinrichtungen treibt. Ich müßte den lebhaft bedauern,
der nicht begreifen würde; — eine Harfe, der eine wichtige Saite
fehlt.
Was den Mangel an orthographischen Kenntnissen betrifft,
der für gewisse Dummköpfe einen Teil moralischer Häßlichkeit
ausmacht, so ist es nicht überflüssig zu erklären, wie sehr er ganz
und gar ein naives Gedicht von Erinnerungen und Genüssen sein
kann! Der bezaubernde Alcibiades stammelte so nett, und die
Kindheit hat ein so göttliches Kauderwelsch! Hüte dich also,
junger Adept der Wollust, deine Freundin richtig sprechen zu
lehren — sofern du nicht ihr Lehrer sein mußt, um ihr Geliebter
zu werden.
Es gibt Leute, die erröten, eine Frau geliebt zu haben, wenn
sie eines Tages merken, daß sie kreuzdumm ist. Das sind eitle
Besserwisser, die der liebe Gott schuf, um die unreinsten Disteln
der Schöpfung abzugrasen oder der Gunst eines Blaustrumpfs zu
verkuppeln. Die Dummheit ist sehr oft die Zierde der Schön-
heit; sie gibt den Augen jene trübe Flüssigkeit schwärzlicher Weiher
und jene ölige Ruhe tropischer Meere. Die Dummheit ist immer
die Konservierung der Schönheit, sie entfernt die Falten; sie ist
ein göttliches Schönheitsmittel, das unsere Angebeteten vor den
Furchen bewahrt, die der Gedanke uns vorbehält — häßliche Weise
die wir sind!
Es gibt auch Leute, die es ihren Liebsten übelnehmen, wenn
sie verschwenderisch sind. Das sind Wucherer oder Republikaner,
die die Anfangsgrundsätze politischer Ökonomie nicht kennen.
Einer Nation größte Reichtümer sind ihre Laster. Andere wieder,
gesetzte Leute, vernünftige und gemäßigte Deisten, die Mittelpartei
des Dogmas, geraten in Wut, wenn sie sehen, wie ihre Frauen fromm
werden. Oh, die Ungeschickten, die niemals ein Instrument zu spielen
fähig sein werden. Oh, die dreimal Dummen, die nicht sehen, daß
die anbetungswürdigste Gestalt, die die Religion annehmen kann
— ihre Frau ist! Was für eine köstliche Versuchung liegt darin,
Tröstliche Maximen über die Liebe. 325
einen Ehemann zu bekehren! Welche schöne verbotene Frucht ist
eine große Gottlosigkeit — in einer stürmischen Winternacht am
wärmenden Feuer bei Wein und Trüffeln — ein stummer Lobgesang
auf das häusliche Glück, ein Sieg über die harte Natur, der selbst
die Götter zu lästern scheint. Ich würde nicht so bald zu Ende
kommen, wenn ich alle schönen und guten Seiten der Eigenschaften
aufzählen wollte, die man Laster und moralische Häßlichkeit nennt.
Doch oft bietet sich Leuten von Herz und Einsicht ein Fall dar,
der verwickelt ist und beängstigend wirkt wie eine Tragödie; wenn
sie z. B. zwischen dem ererbten und väterlichen Geschmack an: der
Moralität und dem tyrannischen Geschmack einer Frau stehen, die
man verachten muß. Zahlreiche schändliche Treulosigkeiten, nie-
drige Gewohnheiten, schandbare Geheimnisse, die zu unpassender
Zeit entdeckt werden, flößen einem Abscheu gegen die Angebetete
ein, und es kommt oft vor, daß man vor der eigenen Freude er-
schauern muß. Da ist man in seinen platonischen Vernünfteleien
sehr beunruhigt. Tugend und Stolz rufen einem zu: Fliehe sie!
Doch die Natur sagt einem ins Ohr: Wohin willst du vor ihr
fliehen? O, diese schrecklichen Verlegenheiten, in der die stärksten
Seelen die ganze Unzulänglichkeit unserer philosophischen Er-
ziehung zeigen! Die Geschicktesten, die sich von der Natur ge-
zwungen sehen, den ewigen Roman der Manon Lescaut und des
Leone Leoni zu spielen, finden sich mit der Selbsttröstung ab, daß
die Verachtung ganz gut neben der Liebe zu existieren vermag. — Ich
werde jetzt ein sehr einfaches Rezept geben, welches dich nicht
nur von den schimpflichen Rechtfertigungen entbinden, sondern dir
auch gestatten wird, deinem Idol nicht die Hörner abzustoßen und
unsere Kristallisation“) nicht zu benachteiligen.
Ich nehme an, die Heldin deines Herzens ist, nachdem sie mit
dem „fas und nelas“ Mißbrauch getrieben, an die Grenzen der
Verderbnis angelangt, und hat, nachdem sie — als letzten Treu-
bruch und höchste Qual! — die Macht ihrer Reize an ihren Be-
wachern und Richtern versucht.**) Wirst du das Ideal so leicht
abschwören oder, wenn die Natur dich treu und weinend in die
Arme dieser bleichen Guillotinierten treibt, wirst du im tiefgekränk-
ten Tone der Resignation sagen: Verachtung und Liebe sind natür-
liche Geschwister? — Nein, keineswegs, denn das sind die Para-
doxen eines verängstigten Herzens und dunklen Verstandes. — Sage
*) Baudelaire bezieht sich hier, wie auch an anderen Stellen, auf Stendhals
„de amour“.
8 So wie „Der tote Esel“. Ch. B. — „Der tote Esel oder die guillotinierte
Frau“ ist ein Roman von Jules Janin, dem bekannten französischen Kritiker,
auf den Baudelaire hier anspielt. Der Übersetzer,
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326 Charles Baudelaire:
vielmehr kühn und mit der Offenheit des wahren Philosophen
Weniger verbrecherisch wäre mein Ideal nicht vollkommen gewesen
Ich betrachte es und unterwerfe mich; die große Natur allein weiß,
was sie aus einer so mächtigen Schurkin machen will. Gipfel des
Glücks und der Vernunft! Resultante der Gegensätze! Ormuz und
Ahriman, ihr seid dasselbe!
Und so kommt es, daß dich die Bewunderung, dank eines
synthetischeren Anschauens der Dinge, ganz auf natürlichem Wege
zur reinen Liebe zurückführen wird, zu jener Sonne, deren Leucht-
kraft alle Makel wegbrennt.
Sei also eingedenk, daß man sich vor allem vor dem Para-
dox in der Liebe hüten muß. Die Naivität errettet, die Naivität
macht glücklich, und wäre deine Liebste häßlich wie die alte Mab,
die Königin der Schrecken! Im allgemeinen existiert die Liebe für
die Leute der Gesellschaft — ein geschickter Moralist hat es ge-
sagt — nur als Liebe zum Spiel, als Liebe zum Kampf. Das ist
grundfalsch. Liebe muß, stets Liebe sein; Kampf und Spiel sind
nur als Politik in der Liebe erlaubt.
Das schwerste Unrecht der modernen Jugend ist, sich Illu-
sionen zu machen. Ein guter Teil der Verliebten sind eingebildete
Kranke, die für Arzneibücher viel Geld ausgeben und die Herren
Fleurant und Puragon reichlich bezahlen, ohne das Vergnügen
und die Privilegien einer wirklichen Krankheit zu haben. Man
achte darauf, wie sie ihren Magen durch alberne Arzeneien un-
geduldig machen und die verdauende Fähigkeit zu lieben ver-
brauchen.
Obwohl man mit seiner Zeit gehen muß, hüte man sich sehr,
dem berühmten Don Juan nachzuäffen, der zuerst, wie bei Moliere,
nur ein ganz ungeschliffener Schurke war, mit der Liebe verbrüdert
und wohlbewandert in Verbrechen und Spitzfindigkeiten: — dann
ist er, dank Alfred de Mussets und Theophile Gautiers, ein künst-
lerischer Flaneur geworden, der an allen dunklen Orten die Voll-
kommenheit sucht und schließlich nicht mehr ist als ein alter
Dandy, hüftlahm von all seinen Fahrten und ein Erzdummkopf
in Gesellschaft einer anständigen Frau, die in ihren Gatten ver-
liebt ist.
Summa summarum: hüte dich in der Liebe vor dem „Mond“
und den „Sternen“, hüte dich vor der Venus von Milo, vor den
Seen, den Guitarren, den Strickleitern und vor allen Romanen,
selbst dem schönsten — und wäre er von Apollo selbst geschrieben!
Sondern liebe, die du liebst, inbrünstig, verwegen wie die
Orientalen und wild; deine Liebe — die Harmonie wohlverstanden
mit einbegriffen — quäle nur nicht die Liebe einer anderen; deine
Tröstliche Maximen über die Liebe. 327
Wahl verstoße nicht gegen das Bestehende. Bei den Inkas liebte
man seine Schwester; du begnüge dich mit deiner Cousine. Er-
steige niemals Balkons, beleidige niemals die Öffentliche Gewalt;
raube deiner Liebsten nicht die Anmut, an die Götter zu glauben,
und wenn du sie in den Tempel begleiten wirst, wisse deine Finger
geziemend in das reine frische Wasser der Weihkesselschale zu
tauchen. k | |
Da jede Moral von dem guten Willen der Gesetzgeber zeugt
— da jede Religion ein erhabener Trost für alle Trübseligkeiten
ist — da jede Frau ein Stück des Frauenwesens ist — kurz, da die
Liebe das Einzige ist, wofür es sich lohnt, ein Sonnet zu schreiben
oder reine Wäsche anzulegen: verehre ich alle diese Dinge mehr als
irgend jemand, und ich denunziere als Verleumder jeden, der aüs
diesem Fetzen Moral einen Beweggrund zu Bekreuzigungen und
eine Speise des Ärgernisses machen würde. — Eine schillernde
Moral, nicht wahr? Farbige Gläser, die die ewige Lampe der
Wahrheit zu stark färben, die dahinter leuchtet? Nein, nein! Hätte
ich beweisen wollen, daß alles aufs beste bestellt ist in der besten
aller möglichen Welten, so würde der Leser recht haben, wenn er,
wie zu dem Affen von Genie, sagt: Du bist ein Bösewicht!
Aber ich habe beweisen wollen, daß alles aufs beste bestellt ist in
der schlechtesten aller möglichen Welten. Also wird mir viel ver-
ziehen werden, weil ich viel geliebt habe — — — meinen Leser oder
meine Leserin.
Einzig berechtigte Übersetzung von Erich Oesterheld.
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328
Dr. phil. Richard Hennig:
Die Verkehrswege nach China.
er gebildete Deutsche, der von Marco Polo etwas gehört hat,
betrachtet die Leistung dieses Venetianers, der mit seinem
Vater und Oheim volle 23 Jahre, von 1272 bis 1205, von
seiner Vaterstadt abwesend war und dann, als er längst totgeglaubt
war, mit Schätzen beladen in die Heimat zurückkehrte, als ein ganz
einzig dastehendes Ereignis, dem bis zum Beginn der neueren Zeit,
bis zur Ära der großen Entdeckungsreisen, nichts Ähnliches an die
Seite gestellt werden kann. Tatsächlich waren ja, soweit wir
unterrichtet sind, die Polos die einzigen christlichen Reisenden, die
während des Mittelalters bis zum fernsten Osten gereist und glück-
lich wieder zurückgekehrt sind, aber bei näherer Betrachtung des
Weltverkehrs im Altertum und Mittelalter muß man doch zu der
Überzeugung kommen, daß die Leistung Marco Polos und seiner
Verwandten durchaus nicht etwas gar so Außergewöhnliches
war. Ohne das Verdienst Marco Polos schmälern zu wollen, dessen
berühmte Reisebeschreibung einen unschätzbaren Wert für die
richtige Beurteilung des bereits erstaunlich hoch kultivierten mittel-
alterlichen China hat, muß denn doch gesagt werden, daß die be-
liebte Charakterisierung Marco Polos als des „größten Reisenden
des Mittelalters“, als „Herodot des Mittelalters“ sich einer gewal-
tigen Übertreibung schuldig macht. Marco Polo kann vielleicht
mit Recht als der größte christliche Reisende des Mittelalters be-
zeichnet werden, aber wenn man auch die nichtchristlichen, vor-
nehmlich jüdischen und mohammedanischen, mittelalterlichen Rei-
senden in den Kreis der Betrachtung zieht, so war Marco Polo
nur einer unter vielen, und ganz gewiß nicht derjenige, der
die umfassendste und großartigste Reise zurückgelegt hat.
Die Beziehungen der Mittelmeervölker und der in Südwest-
asien ansässigen Völkerschaften zu den Chinesen gehen schon bis
in die allerälteste Zeit zurück.
Die neuen Forschungen der Assyriologen haben uns gelehrt, daß
schon etwa im dritten vorchristlichen Jahrtausend zwischen Assyrien
und China ein unregelmäßiger Handelsverkehr stattfand. Die Phönizier,
deren berühmte Handelsstadt Sidon etwa 1600 vor Christi Geburt
ihre größte Blüte erreicht hatte, folgten dann den Spuren der
Assyrer. Natürlich wird dabei nur ein oft wiederholter Tauschver-
kehr über zahlreiche Zwischenglieder einen Austausch von Waren
zwischen Asiens äußerstem Westen und äußerstem Osten ermög-
licht haben, obwohl schon seit 700 vor Christi Geburt regelmäßig
Die Verkehrswege nach China. 329
chinesische Seide nach Europa gelangte. Albrecht Wirth sagt
über diese Beziehungen in einem bedeutsamen Aufsatz über „Ver-
kehrsbeziehungen zwischen dem alten Rom und China“ (in der
Monatsschrift „Weltverkehr und Weltwirtschaft“, April 1911 Seite 34):
„Die ersten Beziehungen Chinas mit westlichen Ländern mögen
schon in das zweite Jahrtausend vor Christus fallen. Töpferei
dieses Zeitalters, die man in China fand, weist auf europäische
Muster. Ein regelmäßiger Handel mit westlicheren Völkern ist seit
dem sechsten Jahrhundert nachzuweisen.“
Und Albert Herrmann bestätigt dies:
„Schon seit den ältesten Zeiten hat ein Handelsverkehr zwischen
China und Vorderasien bestanden; er war oft unterbrochen, und
die Waren gingen von Hand zu Hand, so daß die Verfertiger der-
selben nicht wußten, wer schließlich der Empfänger war.“
Wir können auch den Weg mit einiger Sicherheit verfolgen,
den dieser ungeahnt frühzeitige Handelsverkehr des östlichen Mittel-
meeres mit dem fernsten Osten, mit China und Indien, eingeschlagen
hat. Er lief zunächst von der syrischen Küste nach Mesopotamien,
dann quer durch Persien, Nord-Afghanistan und Buchara nach
Ferghana.
Der weitere Weg nach China von Ferghana ging auf
schwierigen Gebirgspfaden über den Terek-dawan-Paß und andere
Pässe des Pamir-Plateaus nach Ostturkestan, etwa über Kaschgar
hinweg, und dann durch das Tarimbecken auf einer bis ins späte
Mittelalter, wenn auch mit Unterbrechungen, vielbenutzten Kara-
wanenstraße, am Lobnor vorbei, durch ein heute von der Wüste
erobertes Gebiet nach dem chinesischen Osten. Der Mittelpunkt
dieses antiken Handels war der heute ganz unbedeutende Ort Balch
im nördlichen Afghanistan, das alte Baktra, das etwa 1½ Jahr-
tausende lang einer der wichtigsten Knotenpunkte des Welt-
handels war. i
Wie Albert Herrmann in seiner wertvollen Monographie:
„Die alten Seidenstraßen zwischen China und Syrien“ (Quellen
und Forschungen zur alten Geschichte und Geographie“, Heft 21),
nachgewiesen hat, hat der westlich-östliche Verkehr über die Tarim-
Route seit dem Jahre 115 vor Chr. Geburt einen ersten Höhepunkt
seiner Entwicklung erreicht.
Die Festigung der wirtschaftlichen Beziehungen ging Hand in
Hand mit einer Annäherung der politischen Grenzen. Im Jahre
101 vor Chr. nämlich eroberten die Chinesen Ferghana und suchten
nun engere Beziehungen mit den westlich wohnenden Völkern, zu-
nächst vor allem mit den Parthern, in der Folge aber auch mit den
Römern, anzuknüpien. Eine chinesische Gesandtschaft ging an die
330 Dr. Richard Hennig:
am Aralsee wohnenden Aorser, erschien in Ktesiphon und Seleukia
und gelangte wahrscheinlich auch bis nach Syrien. Ein starker
Aufschwung des Handelsverkehrs mit den Parthern war die Folge.
Nachdem die bedeutenden chinesischen Eroberungen im Westen um
die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts eingestellt worden
waren, erfolgte in der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen
Jahrhunderts ein neuer, noch kräftigerer Vorstoß. Das chinesische
Reich erweiterte damals seine Grenzen bis an den Aralsee, und der
große chinesische General Pantschao soll ums Jahr 100 nach Chr.
sogar einen Angriff auf die römische Weltmacht geplant haben. Im
Jahre 98 entsandte er einen Späher zur Erforschung der westlichen
Länder, der auch bis an den persischen Meerbusen gelangte. Aber
dessen Bericht über die außerordentlichen Entfernungen scheint
den chinesischen Eroberer doch stutzig gemacht zu haben, so daß
der Angriff aufgegeben wurde. Vielleicht haben auch die Parther
dabei mitgewirkt, die ihre Stellung als Zwischenhändler bei den
Seidelieferungen nach Rom bedroht sahen, wenn zwischen der Welt-
macht des Ostens und der des Westens eine unmittelbare Be—
rührung kriegerischer oder friedlicher Natur erfolgte. Jedenfalls
suchten damals die Parther und die von ihnen abhängigen Völker
in auffälliger Weise die Gunst der mächtigen Chinesenherrscher zu
erwerben; sie sandten Dolmetscher und wiederholt Tribut an sel-
tenen Gaben (z. B. Löwen, Gazellen, Straußeneiern) an den
Himmelssohn. Bald darauf, ums Jahr 120, kamen sogar syrische
Gaukler und Spielleute zur Residenz des Chinesenkaisers, und im
Jahre 166 verzeichnen die chinesischen Annalen als besonders denk-
würdiges Ereignis die Ankunft einer Gesandtschaft von Kaufleuten
aus Antiochia in Canton (dem Cattigara der Römer), die sich für
Beauftragte des römischen Kaisers Mare Aurel ausgaben — ob mit
Recht oder Unrecht, muß dahingestellt bleiben. Es war dies die
erste unmittelbare nachweisliche Berührung zwischen Mittel-
meervölkern und Chinesen, die bis dahin mehrfach, aber immer
vergeblich angestrebt worden war, wie eine aus dem dritten Jahr-
hundert stammende chinesische Quelle, ein Bericht über Pan—
tschaos Taten, ausdrücklich bezeugt: „Der Ta-tsin- (Abendland =
Rom) König wünschte immer mit Han (China) Gesandtschaftsver-
kehr zu eröffnen, allein Ansih (das Parther- oder Anthenreich)
wollte seinen Leuten chinesische Seide verkaufen, und so ward er
verhindert, bis Antun (Antonius — gelegentliche Bezeichnung für
Marc Aurel), König von Ta-tsin, über Jihnan einen Gesandten ab-
ordnete. Die Han- Bevollmächtigten früherer Zeiten kehrten alle von
Wuyih (Hyrkanien?) um; keiner erreichte Tiatchi (Mesopotamien).“
(Albr. Wirth.) Wenn dann im Jahre 166 nach Chr. gelang, was
nn nn —
— — —
Die Verkehrswege nach China. 331
so oft zuvor vergeblich versucht worden war, die Ausschaltung der
Partner im Verkehr zwischen Ost und West, so war die Haupt-
sache hierfür offenbar der erfolgreich geführte Partherkrieg der
Römer (162—163) und die Eroberung von Ktesiphon und Se-
leukia durch Lucius Verus. Den Höhepunkt des transasiatischen
Handelsverkehrs im Altertum stellten, nach Herrmann, die Jahre
114 vor Chr. bis 23 nach Chr. Geburt und 87 bis 127 nach Chr.
Geburt dar. Damals sollen zuweilen in einem Jahr ein Dutzend
Karawanen, jede aus Hunderten von Menschen und Lasttieren be-
stehend, die Tarim-Route passiert haben. Auch in der Folge blieb
jedoch ‚der Verkehr Chinas mit dem Abendland lebhaft genug.
Auch die Kenntnis des Sererlandes (China) wurde immer voll-
kommener; so erwähnt Ammianus Marcellinus im vierten
Jahrhundert bereits die chinesische Mauer.
Der Verkehr der Mittelmeervölker mit Indien war sicherlich
noch bedeutsamer als der mit China, doch spielte er sich, anscheinend
wenigstens, seit den letzten vorchristlichen Jahrhunderten seltener
auf dem Landwege als zur See ab. Meist scheinen die Mittel-
meerschiffe nur den Nil aufwärts bis nach Koptos oberhalb von
Theben gefahren zu sein. Von hier wurden die Waren auf dem
Landwege durch Kamelkarawanen in sieben Tagen nach Myos
hormos oder in 12 Tagen nach Berenike (beim heutigen Bender
Kebir) befördert, wohin Ptolomäus II. Philadelphos bereits 225 vor
Christi Geb. einemitmannigfachen Karawansereien und Brunnen aus-
gestattete Straße von Koptos hatte anlegen lassen. Von der Küste
des Roten Meeres ging dann die Fahrt nach Indien. Von Berenike
oder Myos hormos liefen die Schiffe im Juli aus, erreichten in 30
bezw. 40 Tagen zunächst Okelis auf der arabischen Seite der Straße
von Bab el Mandeb und trieben dort in weiteren 40 Tagen mit dem
Südwestmonsun nach Indien. Die wichtigsten Hafenplätze daselbst
waren Muziris (Mangalore), Nelkynda (Nelisseram), Kottonarike
(Cochin) und Barygaza. Über Indiens Südspitze ging dieser Ver-
kehr jedoch lange nicht hinaus.
Von einem Seeverkehr bis nach China war bis zur Haupt-
glanzzeit des römischen Kaisertums keine Rede; vielmehr scheint
die Landverbindung für den Austausch der Waren allein benutzt
worden zu sein. Ein griechischer Kaufmann, namens Alexander,
soll dann der erste gewesen sein, der, seinem großen Landsmann
Pytheas von Massilia an Wagemut gleichend, zu Schiffe über
Indien hinaus zunächst zum „goldenen Chersonnes“ (Malakka)
und dann noch weiter nach dem Osten vordrang. Es geschah dies
etwa zur Zeit Neros. Von dem „periplus maris Erythraei“ (mare
Frythraeum heißt ursprünglich der ganze Indische Ozean) dieses
332 Dr. Richard Hennig:
Alexander ist eine Beschreibung auf uns gekommen, und von dieser
geographischen Tat an ist der Gesichtskreis der Griechen und Römer
ganz bedeutend gegen Osten erweitert. Wirth sagt hierüber in
seinem erwähnten Aufsatz:
„Mit dem Periplus und Ptolomäus kommen wir in eine Zeit,
da den Griechen schon sämtliche südasiatischen Meere und Küsten,
bis Madagaskar im Süden, bis Jabadin-Java, so von einer Pflanze
jaba genannt, im Südosten und bis Formosa und Hangtschou im
Nordosten bekannt waren. Die Fokienstraße hieß griechisch der
Theriodes-Golf, Formosa die Insel der Satyroi, ohne Zweifel, weil
dort Wilde mit Zierschwänzen lebten. Die Philippinen nennt
Ptolomäus „die zehn Inseln Maniola“, wovon der heutige Name
Manila. Auch im Innern des asiatischen Festlandes weiß Ptolemäus
gut Bescheid... Er kennt ferner Hinterindien und seine Städte
und Völkerschaften; die Namen, die er verzeichnet, lassen sich in
heutigen Lauten noch wiederfinden.“
Der „Periplus“ hatte die westlichen Schiffe schon bis zur
chinesischen Küste, nach „Thinai“ getragen, und ganz flüchtig
taucht in der Beschreibung jener Reise „wie ein glänzendes Meteor“
(Thiessen) die Vorstellung auf, daß man vielleicht damit zu Wasser
das gesegnete Land der „Serer“ (Chinesen) erreicht habe, von dem
Europa seit Jahrhunderten so viele, unschätzbare Kostbarkeiten be-
zog. Doch fiel dieser Gedanke, dessen weitere Verfolgung mög-
lichenfalls unabsehbare kulturhistorische Konsequenzen nach sich
gezogen hätte, wieder vollkommen der Vergessenheit anheim, ob-
wohl der Verkehr Chinas mit dem Abendlande in den folgenden
Jahrhunderten an Bedeutung zunahm.
Seit dem sechsten: Jahrhundert erleiden die Beziehungen zwischen
den Europäern und Chinesen einen raschen, schließlich, seit dem
achten Jahrhundert, einen rapiden Niedergang. Den ersten Stoß
versetzte dem lebhaften, aber für die abendländischen Finanzen
nicht sehr erfreulichen Handel die kluge Maßregel Kaiser Justinians,
die Seidenzucht auch in Europa einzuführen.
Eine ungleich ärgere Störung aber, als der Verfall des Seiden-
handels, bedeutete für die Beziehungen zwischen Ost und West das
Auftauchen einer neuen Völkermacht im Gebiet der alten Handels-
wege, einer Macht, die, wie dereinst das Partherreich, eine Mauer
zwischen Ost und West aufrichtete, die aber für Jahrhunderte die
Kraft besaß, ihre Reichtum schaffende Zwischenhandelsstellung
gegen jeden Angriff siegreich zu behaupten. Diese Macht bildeten
die Araber und die von ihnen im südwestlichen Asien geschaffenen,
rasch zu erstaunlicher Blüte gelangenden Reiche. Da die Araber
auch den Seeverkehr im Roten Meer, Persischen Golf usw. be-
Die Verkehrswege nach China. 333
herrschten und eifersüchtig darüber wachten, daß niemand ihnen
ihr Monopol streitig mache; so waren sie vom achten bis zum
dreizehnten Jahrhundert die nahezu ausschließlichen Vermittler des
Warenaustauschs zwischen Ost und West, die zu Lande wie zu
Wasser den Handelsverkehr ostwärts mit Indien, Hinterindien und
China, westwärts mit allen Mittelmeerländern, mit Byzanz, Ost-
europa und selbst mit den Ostseeländern und dem Normannenvolke
vermittelten. Erst als in den Mongolenstürmen des dreizehnten Jahr-
hunderts Bagdads und Balsoras Herrlichkeit zerstampft und der
Glanz der Kalifenreiche erloschen war, sank die hemmende Mauer
dahin, und unternehmende Europäer und Nordafrikaner, zumeist
Juden, jedoch vereinzelt auch Christen (Polo), zogen wieder bis
zum äußersten Osten ungehindert dahin.
Wir kennen die damals vom Handel benutzten Hauptverkehrs-
wege recht genau. Nicht die uns vertrauteste Literatur der europäi-
schen Christenheit belehrt uns darüber, denn die römischen Christen
verabscheuten die friedliche Berührung mit den „ungläubigen“ Be-
kennern des Islam, obwohl sie die ihnen von Byzantinern und
Juden zugetragenen Schätze des Orients, insbesondere die Gewürze,
außerordentlich hoch schätzten. Aber die großen arabischen Geo-
graphen und Reisenden in der Zeit vom zehnten bis vierzehnten Jahr-
hundert unterrichten uns ganz genau über die wichtigsten Handels-
wege jener Zeit sowie über die Zeitdauer, die deren Zurücklegung
beanspruchte.
So berichtet uns der im Anfang des elften Jahrhunderts lebende
Ibn Chordadbeh in seinem Werk „Kitab als -Masalik wa'l Mamalik“
(Ausgabe de Goeje, Leiden 1889, S. 116), daß französische und
spanische Kaufleute entweder durch Europa oder durch Nordafrika
über Balch nach China reisten.
Die ganze Reise vom Roten bis zum Gelben Meer konnte
man zu Lande im ungefähr 8 Monaten zurücklegen. — Der
zweite Weg hingegen zwischen Europa und China ist uns aus der
Reiseschilderung Marco Polos wohlbekannt; sein östlicher Teil,
zwischen Persien (Mesched) und China, fällt mit dem vorgenannten
zusammen. Während aber in Mesched der Weg nach dem Roten
Meer und zur syrischen Küste südwestwärts durch Persien in der
Richtung auf Bagdad abzweigte, lief die wichtigste direkte Straße
nach Europa westwärts nach Rey weiter, einer wichtigen Stadt in
der Nähe des heutigen Teheran, von hier nach Djordjan am Süd-
ufer des Kaspischen Meeres. (Nach Abulfeda a. a. O. S. 298
dauerte die Reise von der Ostküste Chinas bis zum Kaspischen
Meer 4 Monate.) Von Djordjan ging es zu Schiff nach Itil
(= Astrachan) an der Wolgamündung und dann die Wolga hin-
p en
— — nr Be
334 Dr. Richard Hennig:
auf bis zur Gegend des heutigen Zarizyn im Wolgaknick. Hier
teilte sich der Weg abermals. Der eine ging über den uralten, schon
von Diodor (II § 56) erwähnten Schleppweg (Wolok) zwischen
Wolga und Don in den letzteren Fluß und durch das Asowsche
und Schwarze Meer entweder nach Byzanz oder durch die Donau,
den Dnjestr oder Dnjepr nach West-, Mittel- oder Nordeuropa, der
andere hingegen erstreckte sich wolgaaufwärts bis zu der hoch-
wichtigen mittelalterlichen Handelsstadt Bulgar unter dem fünfzigsten
Breitengrad und von dort westwärts nach Nowgorod, zum Fin-
nischen Meerbusen und nach Skandinavien.
Daß auch auf die größten Entfernungen kostbare Waren aus-
getauscht wurden, beweist die Tatsache, daß die von den Ein-
wohnern Bulgars in Nordrußland eingehandelten Tierfelle in
Massen nach Indien gingen, wo sie sehr geschätzt waren und
teuer bezahlt wurden, beweist ferner der Bericht eines Arabers, der
im zehnten Jahrhundert in Mainz Gewürze von den Sunda-Inseln
und Münzen aus Samarkand antraf, beweist schließlich der in
allerjüngster Zeit gemachte Fund kostbarer Stickereien von chinesi-
scher Herkunft, den man im schwedischen Dalekarlien gemacht hat.
Neben der Landverbindung wurde natürlich der Seeweg oder
eine kombinierte Land- und Seereise viel benutzt. Dabei gelangten
sowohl arabische Schiffe nach China, wie die chinesischen bis
zur Euphrat- und Tigrismündung. Ja, schon zur Zeit Ibn Chor-
dadbehs war den Arabern nicht nur die chinesische Küste bekannt,
sondern auch Japan (Wäkwäk) und Korea (Schylä). Wie genau
die Araber, mehrere Jahrhunderte vor Marco Polo, auch über die
chinesischen Einrichtungen im allgemeinen unterrichtet waren, geht
aus Masudis eingehender Beschreibung (Ausg. Paris 1841 in
Kap. XV, I, S. 286—325) klar hervor. Nach desselben Autors
Schilderung pflegten Juden aus dem Frankenlande übers Mitiel-
meer nach Farama bei Pelusium zu reisen, dann ihre Waren auf
Tieren in fünf Tagen nach Colzom am Roten Meer zu schaffen
und von dort zu Schiff nach Indien und China zu reisen, um
schließlich mit Muskat, Aloe, Kampfer und ähnlichen Gaben des
Orients nach Europa zurückzukehren. Oft auch reisten sie bis zur
Orontes- Mündung und dann über Antiochia und Bagdad nach
Obollah an der Tigrismündung und von dort auf dem Seewege
weiter nach China. |
Die Erbschaft der Araberreiche suchten später die Venezianer
zu übernehmen, die jedoch nicht entfernt in der Lage waren, den
Handelsverkehr mit dem fernen Osten regelmäßig oder gar so
großzügig wie die Araber zu betreiben. Der sich seit den Kreuz-
zügen stetig verschärfende Gegensatz zwischen Christen und Mo-
Die Verkehrswege nach China. 335
hammedanern, die siegreichen Fortschritte der Türken, die schließ-
lich sogar Konstantinopel eroberten, und andere Faktoren faten
einem systematischen Handel Venedigs mit dem fernen Osten sehr
fühlbaren Abbruch; die Auffindung des Seewegs nach Indien ge-
lang den italienischen Handelsstädten nicht, obwohl die Brüder
Vivaldi aus Genua schon 1201 das Kap der guten Hoffnung um-
segelten; ebensowenig glückte die schon damals zeitweilig geplante
Wiederherstellung einer Wasserstraße zwischen dem Mittelländischen
und dem Roten Meer, und schließlich liefen die Portugiesen, nach
Vasco de Gamas großer Tat, allen andern Nationen im Indischen
Ozean den Rang ab und wachten nunmehr eifersüchtig über
ihr Handelsmonopol daselbst. Den Spaniern glückte es zwar, von
Amerika aus einen leidlich regelmäßigen Schiffsverkehr mit China
ins Leben zu rufen, aber die anderen europäischen Nationen, vor
allem England und Holland, sahen sich von dem einträglichen
Handel mit dem fernen Osten nahezu ganz abgeschnitten. Kein
Wunder, wenn sie nun auf neuen Wegen das vielbegehrte China
zu erreichen suchten, wenn Hunderte von mutigen Männern, meist
Engländer, jahrhundertelang ihr Leben opferten, um die „nord-
östliche“ und „nordwestliche Durchfahrt“ aufzufinden.
Herbersteins berühmtes Werk über das Rußland des sechzehnten
Jahrhunderts, das die Behauptung aufstellte, der sibirische Ob ent-
springe aus einem bei Peking gelegenen See, erweckte dann einen
gewaltigen Eifer, zu Schiffe zur Obmündung und durch diesen
Strom nach China zu gelangen. Selbstverständlich blieben diese
Bemühungen vergeblich. Der Seeweg ums Kap und später, seit
1869, der durch den Suezkanal, gelangten für den Verkehr Europas
mit China zwischen 1500 und 1900 zur alleinigen Bedeutung, und
erst, seitdem die große sibirische Bahn eröffnet ist, also seit 1901,
hat sich wieder auf einem früher ganz unbekannten Wege ein zu-
nächst noch verhältnismäßig bescheidener Landverkehr entwickelt,
der sich aber im Laufe der nächsten Jahrzehnte, zumal wenn man
erst von dem Baikalsee geradenwegs durch die Wüste Gobi nach
Peking gelangen kann, zweifellos eine wachsende Bedeutung er-
ringen wird.
Ss En A
— ie nn nn — —
336
Gerhard Ouckama Knoop: Familienkunde.
uf meinem Schreibtische liegt ein englisches Buch: A Bremen
A By Georgina Meinertzhagen. — Die Familie
Meinertzhagen stammt aus der Gegend von Köln und
blühte in dieser Stadt im 15. und 16. Jahrhundert; nach dem
30jährigen Kriege kam sie nach Bremen und hier sogleich in eine
ehrenvolle Stellung, welche sie auf die Dauer behauptete — ähnlich
wie mehrere gleichzeitig eingewanderte und noch jetzt in Bremen
einheimische Familien. Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts
verschlechterte sich die pekuniäre Lage, der letzte Meinertz-
hagen zog sich mit dem Rest seines Vermögens ins Privat-
leben zurück und schickte seinen Sohn nach England, wo
dieser später Partner und Schwiegersohn des bekannten Friedrich
Huth wurde. Die Verfasserin übt in den Mitteilungen über die
Ihrigen einige Zurückhaltung; die Hauptsache in dem etwa 300
Seiten starken Bande sind zwei große Reisetagebücher, das eine
von einem Daniel Meinertzhagen aus den Jahren 1756—57, das
andere von dessen gleichnamigem Sohn 1798—99. Und in der Tat
zeigt sich wenigstens dieser zweite Tagebuchschreiber ganz lebhaft
und amüsant; außerdem führt er wieder einmal den Beweis, daß
die alten Bremer keineswegs so steif und philisterhaft waren, wie
sie es nach der verbreiteten fable convenue gewesen sein sollen.
Nun läßt sich die Reserve der Herausgeberin wohl verstehen;
doch wäre vielleicht mancher ihr dankbar gewesen, hätte sie aus
dem reichen Schatz ihrer Papiere noch freigebiger das Persönlichste
der verflossenen Tage geschöpft, das uns so selten genau und un-
gefärbt geboten wird, fast nie in Romanen und Biographien, selbst
nicht in Autobiographien, und höchstens in historischen Museen
oder ganz unliterarischen Briefsammlungen.
Doch auch so schon stellt sich zwischen der Familie Meinertz-
hagen und dem wohlwollenden Leser eine Art freundschaftlicher
Verbindung her. Frau Meinertzhagen besorgt die Vorstellung kurz,
d. h. sie gibt den Stammbaum der Ihrigen in der knappsten Zu-
sammenfassung; sie meint, jede in leidlichen Umständen lebende
Familie könne sich dergleichen leicht ausarbeiten; eine Sammlung
von Namen, von Geburts-, Hochzeits- und Sterbedaten aber besitze
keinen Wert, wenn darin nicht Menschen hervortreten, die einmal
eine Rolle spielten, und über die sich etwas sagen läßt.
Ohne Zweifel ist das bis zu einem gewissen Grade ein-
leuchtend. Dennoch darf man es begrüßen, wenn der Sinn für
Familienforschung sich auch da belebt, wo keine Aussicht besteht,
auf historische Figuren unter den Vorvätern zu geraten. Nichts ist
*
Familienkunde. 337
zwar törichter, als ein aufs Äußerliche gerichteter „Ahnenstolz“,
und keine Untugend großdenkenden Gemütern so zuwider wie die
Eitelkeit. Wer, um dieser banalsten aller Schwächen zu frönen, in
den Archiven sucht, dem geschähe es recht, wenn ihm alle seine
Dokumente im Meere versenkt würden, wo es am tiefsten ist. —
Anders aber ist es mit dem, den Ehrfurcht und keusche Wißbegierde
zu den Quellen treibt; was er auch finden möge, er wird immer
einen Gewinn davontragen.
Das durchschnittliche Resultat wird ja wohl stets sein, daß wir
alle einen Tropfen Königsblut und gar manchen Tropfen Bettler-
blut, ebenso wie Ricords berühmten Tropfen Quecksilber in unseren
Adern haben. Das ist jedoch nicht das Wesentliche. Bildend und
fördernd ist hier, wie auf den meisten Arbeitsgebieten, mehr die
Beschäftigung selbst, als das durch die Beschäftigung Erreichte.
Das Suchen im eigenen Blute kann die Vergangenheit wieder be-
seelen und gewissermaßen das eigene Dasein nach rückwärts ver-
längern und damit dem Geist eine höhere Reife geben. Und wir
heutigen Europäer sind wohl sehr vorgeschritten, aber reif sind
wir eigentlich nicht; das hängt ohne Zweifel damit zusammen, daß
unsere Epoche wohl mehr als irgendeine frühere die lebendige Be-
ziehung zu der Vergangenheit verloren hat, wie groß das rein
antiquarische und wissenschaftlich-fachliche Interesse an dem einst
Gewesenen immer sein mag.
Familiensinn wurde in Deutschland vielfach als ein Vorrecht
des Adels betrachtet; wo er sonst auftrat, suchte er sich vor der
Öffentlichkeit schamhaft zu verbergen. Dieser seltsamen Befangen-
heit wird man so recht inne, wenn man eine französische Todes-
anzeige in Händen hat: wie da, außer den allernächsten Angehörigen,
Onkel und Tanten nebst ihren Ehegatten, Vettern und Cousinen mit
ihren unmündigen Kindern, alle die verwandten und verschwägerten
Familien sich nennen, um sodann miteinander den Tod eines der
Ihrigen zu melden. —
Nun, heutzutage gilt es auch bei uns nicht mehr ohne weiteres
als „Arroganz“, einen Porträtmaler in Nahrung zu setzen — ob-
wohl man ja Photographien hat — und so kann wohl auch ein
einfacher Bürger Kirchenbücher und dergleichen nach Vorfahren
durchstöbern, ohne darum für größenwahnsinnig verschrien zu
werden.
Bei den meisten wird die Sache ohnehin bald ein Ende haben;
vor der Einwanderung in ein? bestimmte Stadt werden sich die
Spuren schnell verlieren, auf dem Lande werden je nach der
Gegend die Aufzeichnungen früher oder später fehlen; und den
Sturm des 30jährigen Krieges haben nur wenige bürgerliche
338 Gerhard Ouckama Knoop:
Stammbäume ausgehalten. Mancher wird auch in seiner Neugier
abgeschreckt sein, wenn er unter den Seinen auf Hexen und Ver-
brecher, auf verfolgte Juden und gequälte Leibeigene stößt. Und
besitzt er die törichte Eitelkeit nicht, sich solcher Vorfahren zu
schämen, so wird er doch in solchen Fällen selbst bei gutem Willen
kaum weiter kommen.
Indessen, nicht nur leichter ist es, sondern auch lehrreicher,
den Verästelungen der Wurzel in die Breite zu folgen, als dem
Wurzelstock in große Tiefen. Denn die Verzweigung und gegen-
seitige Durchschlingung gibt trockenen Geschlechtsregistern erst
Wert: jedes einzelne von ihnen ist belanglos, in großen Mengen
bilden sie hingegen ein treffliches statistisches Material. Was für
den Adel, also in einem eng und einseitig begrenzten Kreise, schon
bis zu einem hohen Maße geschehen ist, das könnte auch für große
Teile des Bürger- und Bauerntums geschehen; die einzelnen
Familienlisten müßten zu größeren Komplexen vereinigt werden,
die den Druck lohnen; und indem diese sich summierten und er-
gänzten, ließen sich vielleicht unerwartete Einblicke in die innerste
Struktur unseres Volksorganismus tun.
Zu einer wahren Erweiterung unserer Menschenkenntnis aber
müßte es führen, wenn von jeder aufgezeichneten Person außer
ihrem Dasein die hauptsächlichsten körperlichen und seelischen
Eigenschaften angegeben würden, begleitet von einem möglichst
guten Porträt. Solche Zusammenstellungen setzen freilich eine Fülle
dokumentarischer Belege voraus und könnten wohl nur von einem
Teile des Adels geleistet werden, der denn auch mit einem guten
Beispiel vorangehen möge; doch sind Anfänge solcher Unter-
suchungen und Veröffentlichungen, wie ich glaube, schon unter
dem Patriziat gewisser Städte gemacht, z. B. in Mülhausen i. E.
Was für wundervolle Aufschlüsse über Vererbung könnten uns die
systematisch durchgeführten Vergleichungen zwischen den Gliedern
derselben oder einer Reihe verwandter Familien in den verschie-
denen Generationen liefern!
Scheinbar würden die Regentenhäuser ja den besten Stoff für
die Erforschung der Vererbungs- und Entwickelungsvorgänge in
der Folge der Generationen bilden; aber leider gehören sie zu sehr
der Weltgeschichte an, und wo die Geschichte anfängt, hört die
Wahrheit auf.
Man spricht so viel von Rassenmischung; ist es so, daß die
Rasse (auch in ihren geistigen Eigenschaften) sich immer wieder
aus der Mischung neu auferbaut, wie man es nach den viel-
genannten Versuchen von Mendel denken sollte?
Mir ist es immer aufgefallen, daß unter den holländischen
Bildnissen des 17. Jahrhunderts verhältnismäßig so wenig auege-
Familienkunde. 339
sprochene Blondköpfe sind; beruht das nur auf einem Nachdunkeln
der Farben?
Die Fragen häufen sich, auf die eine neue Erfahrung ant—
worten soll.
Inzwischen ist unser Blick heutzutage entschieden, beinahe wie
hypnotisiert, nach vorwärts gerichtet, das Entschwundene wird
rasch vergessen, das Kommende wird mit überschwänglichen Hoff-
nungen, mit unendlichem Vertrauen erwartet, ja, es hat sich fast
eine Religion ausgebildet der Hoffnung eines künftigen Zustandes
der Glückseligkeit auf Erden — und bei dieser Stimmung wird es
auch wohl bleiben, so lange es uns so gut geht, wie es uns jetzt zu
gehen scheint.
Allerdings liegt da nun der Einwand nahe, was uns denn eine
Zeit bedeute, die wir nicht mehr erleben werden; und ebenso
nahe liegt andererseits der Wunsch, uns mit ihr doch in irgend-
einer Verbindung zu wissen.
Unsere Generation — oder muß man das von allen Ge-
nerationen sagen? — überschätzt sich selbst und unterschätzt die
Väter. Wie nun aber, wenn wir selbst zu den Vätern heimge-
gangen sind?
Es ist ein natürliches Gefühl, daß wir uns bei den Enkeln in
Erinnerung bringen, von ihnen anerkannt sehen möchten. Und
dazu haben wir bis jetzt im ganzen wenig getan. Es kann einem
traurig zu Mute werden, wenn man sich unter den modernen
Schöpfungen der Gesamtheit wie der einzelnen umblickt nach
Dingen, die das Altern vertragen könnten. Straßen, die 20 Jahre
stehen, starren uns schon so entgeistet und innerlich verfallen an
— und wer mag nociı Bücher lesen, seit deren erstem Erscheinen
ein Dezennium verflossen ist — es müßte sich denn um die ge-
wählteste Lyrik handeln.
Dennoch — was unsere glücklichen Nachfahren leisten werden,
das verdanken sie zu einem guten Teile uns. Der einzige Triumph,
den wir uns unter ihnen zu verschaffen imstande sind, ist die Ge-
wißheit, daß sie uns kennen, daß sie damit ihre Abhängigkeit von
uns fühlen werden.
Kahle Stammbäume werden ja leicht zu konstruieren sein, in
unseren bureaukratischen Tagen ist für genaue Buchführung über
das Menschenmaterial gesorgt. Aber es liegt an uns, mehr zu
tun: wir könnten etwas von unserer Individualität hinterlassen.
Wenn unsere Gräber in kurzer Zeit verfallen, weil auf der Erde
kein Raum mehr für die Toten ist, so könnten wir statt eines
Leichenhügels Reliquien hinterlassen, die von Leben durch-
tränkt sind.
340 Gerhard Ouckama Knoop: Familienkunde.
Ich denke mir das so: eine schöne Sitte wäre es — warum
sollte man nur Sitten zerstören und nicht auch solche auferbauen?
— daß für jedes Kind bereits ein Kästchen bestimmt würde, ge-
wissermaßermaßen als ein Fach für das den Nachkommen zu Über-
liefernde. In dieses Fach kämen einige gute, dauerhafte Photo-
graphien aus verschiedenen Lebensperioden, etwa auch eine Aul—
zählung der wichtigsten Körpermasse; ein kurzer Lebensabriß mit
Erwähnung der wichtigsten Krankheiten; ferner an Papieren, was
ein Charakterbild des Individuums geben kann. Dazu gehören
heutzutage Briefe nur noch in seltenen Fällen, demgemäß würde
es sich um Briefe zumeist nur in einer sehr knappen und sorg-
fälligen Auswahl handeln; hingegen wäre vielleicht ein und der
andere Schulaufsatz einzufügen, etwa die Kopie eines Testaments,
ein Ausgabenbuch, unter Umständen Mitteilungen eines Vereins,
vielleicht auch das Verzeichnis der allmählich angeschafften Bücher.
Diese Kästchen müßten nicht zu groß sein, um nicht beschwer-
lich zu fallen, sie sollten einen gewissen künstlerischen und
stofflichen Wert besitzen, um geschätzt zu werden, und übrigens
am besten in der allgemeinen Form nach einem gleichmäßigen
Schema gebaut sein, damit sie sich auf Gestellen passend unter—
bringen ließen, etwa wie Bücher. Und auch der Inhalt sollte,
soweit das bei verschiedenen Individuen und Lebensschicksalen an-
gängig ist, nach den gleichen Grundsätzen gewählt und geordnet
werden. So würden unseren Enkeln von uns wahre Menschen-
bibliotheken überkommen, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn
diese Bibliotheken nicht auf ihre Besitzer eine starke, geheimnis-
volle Anziehung ausüben sollten. Was aber an Kenntnis des
Menschenwesens damit gewonnen sein würde, das ist noch gar
nicht abzusehen... .
Das liebenswürdige, anspruchslose Buch der Frau Meinertz-
hagen hat mich auf weit abliegende Gedanken gebracht. Das mag
meinetwegen unbegründet sein. Gefreut hat es mich doch, daß ich
mich ohne besondere literarische Verführung für die Mitglieder einer
mir gänzlich fremden Familie interessieren konnte, die mit der
meinigen wohl niemals irgend etwas anderes gemeinsam gehabt
hat, außer anderthalb Jahrhunderte lang die Vaterstadt.
Man sagt, wir leben in einer eminent sozialen Epoche. Zu
einem sozialen Sinn gehört aber nicht nur, daß man dem Nächsten
höheren Lohn, ordentliche Wohnung und einiges Vergnügen gönnt,
sondern vor allem auch, daß man an fremder Persönlichkeit Anteil
nehme. Und sollte einer mit meinen Äußerungen nicht einverstanden
sein, so wollte ich es mir gern gefallen lassen, daß er sie von den
Toten auf die Lebenden umdeutete.
341
Paula Becker-Modersohn:
geb. 1876, gest. 197. Briefe und Tagebuchblätter.
III.
h fange an, Paris zu überwinden. Ich finde mich selbst wieder und
Ter innere Ruhe; habe in der letzten Woche schöne, volle, tiefe
Tage gehabt. Die Eindrücke werden einzelner, man rückt ihnen
näher und kann sie gesammelt in sich aufnehmen. In den ersten
Wochen meines Hierseins jagte ein Eindruck den andern. Sie
ängstigten mich in ihrer ungeheuren Zahl. Nun werden es all-
mählich alte liebe Bekannte, die einen nicht mehr außer Fassung
bringen. Ich habe das schöne Gefühl, daß ich tüchtig weiter
komme, mich nach einer andern S.ite hin strecke und wachse. Das
ist ein tiefes, ernstes Glücksgefühl.
* *
*
In mir erzittert es,
Ich ging durch die Mondnacht;
Ich saß unter lachenden, fröhlichen Menschen,
Und in mir zittert es.
Leise klingt es
Und singt es,
Summt es,
Tönt es in mir.
Es sehnen sich Pulse, Lippen und Schläfen
Fort in die Einsamkeit.
So lebe ich fühlend
Und ahnend und sehnend,
Bis daß die große Stunde des Glücks
In mir erzittert.
x X
*
Sehr amüsant wirkt jetzt die eine Ecke des Jardin du Luxem-
bourg, wo die Studenten hausen. Pärchen neben Pärchen fristen
sie da ihre Nachmittage. Und da sie in ungeheuren Scharen auf-
treten, fühlt jedes sich wieder allein und unbewacht. Da sitzen sie
unter den blühenden Kastanien, sagen nicht viel, denken nicht
viel, träumen nicht viel, — aber amour! amour! Ich komme aus
dem Abendakt. Diese Frühlingsmondscheinnächte sind berauschend.
Die ganze Rapinière jauchzt Frühling. Mandoline und Geige klingt,
selbst ein Cello läßt sich hören und ein Deutscher singt: „Auch
ich war ein jüngling mit lockigem Haar.“ Dazu leuchten die
weißen Kastanienblüten aus dem Nachbargarten und der liebe
342 Paula Becker-Modersohn:
Mond. Und vor mir stehen duftende Maiglocken. Und zwischen
dieser Pracht freu ich mich auf die Heimat. Hier ist alles so hell,
daß ich oft ungeduldig werde. Bei uns ist der Klang tiefer ge-
stimmt, voller, ernster. j
Ich bin seit Tagen traurig, tief traurig und ernst. Ich glaube,
die Zeit des Zweifels und des Kampfes wird kommen. Ich wußte,
daß sie kommen mußte. Ich habe sie erwartet. Mir ist nicht bang
davor. Ich weiß, sie wird mich reifen und weiterbringen. Aber
mir ist ernst und schwer, ernst und traurig. Ich gehe durch diese
große Stadt, ich blicke in tausend, tausend Augen. Ganz selten
finde ich da eine Seele. Man winkt sich mit den Augen, grüßt
sich, und ein jeder geht weiter seinen einsamen Weg. Dann gibt es
andere. Mit denen spricht man viele, viele Worte, man läßt das
Bächlein ihres Geredes über sich fließen, hört den Brunnen ihres
Gelächters und lacht mit. Und in der Tiefe fließt der Styx tief
und langsam, und weiß nichts von Bächlein und Brunnen. Ich bin
traurig, und um mich lagern schwere, duftdurchschwängerte Früh-
lingslüfte.
Ich war gestern und heute in der Ausstellung; diese Tage
bilden einfach eine Epoche in meinem Leben. Alle Nationen sind
wundervoll vertreten, aber das Schönste für mich sind die Franzosen.
Der Cottet sagte mir: „Unser Volk ist eines der Dekadenz,
aber einige Naturen leben innerhalb dieser Dekadenz unab-
hängig davon. Und das gestaltet ihre Kunst zu einer völlig
eigenen.“ Und er hat recht. Wir kleben in Deutschland zu sehr
an der Vergangenheit. Unsere ganze deutsche Kunst steckt zu sehr
im Konventionellen. Otto Modersohn, das ist einer, der sich durch
den Berg der Konvention hindurchgearbeitet hat. Die andern ver-
stehe ich vielleicht nicht und gebe mir keine Mühe.” Denn ein
Menschlein, das so im Wachstum begriffen ist, wie ich im Augen-
blick, das muß zuerst an seine eigenen Arme und Beine denken.
Ich habe ziemlich schwere Wochen hinter mir. Ich habe mich
so gequält, da war es mir gestern in der Ausstellung wie eine Er-
lösung. Ich glaube wieder an die Kunst in ihrer ganzen Größe
und auch, daß mein Feuerlein einst ein wenig Wärme geben wird.
* m a1.
Auf der Akademie malt man fast ohne Farbe. Das A und das
O sind die Valeurs, das andre ist alles Nebensache. Jetzt merke
ich, wieviel ich da noch lernen muß. Ich dachte, die Valeurs wären
meine gute Seite, aber ich bin furchtbar ausgescholten worden. Zwei
Briefe und Tagebuchblätter. 343
Wochen lang wird an einem halblebensgroßen Akt gemalt, das
heißt, Licht und Schatten in den rechten Valeurs hingesetzt.
Malen darf man das eigentlich nicht nennen. Aber das Form-
gefühl wird dabei verfeinert.
X
21:
eek Überhaupt halte ich mehr von einem freien Menschen,
der die Konvention bewußt von sich tut. Ich meine, er muß sie
besessen haben und sich in Selbstzucht und Maß geübt haben.
Dann kann er sich von ihr abwenden. Redet einer gegen Konven-
tion, der sie nie besessen hat, da denke ich leicht: „Fuchs, die
Trauben hängen dir zu hoch!“ Mit dem sogenannten Ausleben ist
es doch eine wackelige Sache.
Doch weiter von der Ausstellung, wenn auch nur in Splittern.
Denn in mir purzelt noch alles durcheinander wie im Kaleidoskop,
durch das wir als Kinder schauten.
Cottet hat ein Tryptichon ausgestellt (vom Luxembourg an-
gekauft): Au pays de la mer. In der Mitte, beim Schein einer hän-
genden Lampe, Frauen und Kinder beim Abendbrot mit traurig
wartenden Gesichtern. Durch die Fenstern schimmert blau das
Abendmeer. Links ein Stück Boot mit Schiffern auf stürmenden
Wellen, rechts der abendliche Strand mit harrenden Frauen und
Kindern. Diese Tiefe der Farbe! Dabei ornamentale Größe, ge-
paart mit zarter, seelischer Auffassung.
Ein andrer Cottet: Ein Schimmel auf einer Abendwiese. Ein |
dritter: Drei schwarze Frauen am Strande.
Der Cottet selbst ist ein feiner Kerl: rothaarig, rotbärtig,
voller Leben!
Der Lucien Simon hat mir auch imponiert. Der hat ein eigen-
artig naives, gesundes Formengefühl und Velasquez-Töne in seinem
Weiß und Schwarz. In dem Bilde „Männer am Meere“ von Jean-
Pierer ist eine kleine Ecke, die drückt das aus, worauf ich strebe;
eine tiefe, farbige Leuchtkraft in der Dämmerung, farbiges Leuchten
im Schatten, Leuchten ohne Sonne, wie im Herbst und Frühling
in Worpswede. Blauer Himmel, große, weiße Wolkenballen und
keine Sonne.
Wie sehr ich mich auf die Heimat freue! Das, was für mich
das Schönste ist: das Tiefe, das Satte in der Farbe, sehe ich nicht.
Es ist ein helles, heiteres, graziöses Land.
Innerlich sehr nah treten mir die nordischen Völker, nicht so
sehr durch die Art des Ausdrucks, als durch den Geist, aus welchem
sie schaffen.
— = abai ĩðĩ⁊Jm b I Tue ³˙ ne, E
344 Paula Becker- Modersohn:
Finnland zeigt höchst originelle Formauffassung. Zwar stört
mich jetzt ein wenig der Mangel an Konstruktion all dieser nor-
dischen Menschen. Stört ist nicht der rechte Ausdruck, aber ich
sehe ihn, während ich ihn früher nicht sah. Das ist ein Pariser
Fortschritt.
Segantini ist vertreten mit großen, ernsten Bildern, ein wenig
hart, aber aus tiefer Seele geschaffen. Ach, was ist man glücklich,
dies alles schauen zu dürfen! Das Leben ist voll und schön, und
ich fühle es wundervoll vor mir liegen.
Da will ich mich gerne schinden und plagen, wenn dann von
Zeit zu Zeit meine Seele ein Abendlied singen kann.
Mein Korbstuhl streikt, er will diese sündige Hülle nicht länger
(ragen, ich sitze nächstens auf der Erde. Überhaupt, was den Kom-
fort des Lebens betrifft, kann ich manch fröhlich Liedlein singen,
das lieblicher in der Vergangenheit als in der Gegenwart zu
singen ist.
Eine kleine Amsel habe ich aber. Die zwitschert vor meinem
Fenster, und ein Gewitter hatte ich auch nach Sommerschwüle, und
nun herrscht wieder Frühlingsduft.
Und kleine deutsche Maler haben wir auch, mit denen wir
tanzen und rudern und deutsche Volkslieder singen. Und eine
ungarische Musikkapelle gibt es mit Walzern!!!! Spottet aller Be-
schreibung. Sie spielen sogar unsern Worpsweder „Dreifuß“ und
„O — Komm Karlineken!“
Zweimal haben wir hier schon nächtlicherweile auf dem Asphalt-
pflaster getanzt. Die Leute hier tanzen los, wenn’s ihnen Spaß
macht. Die warten nicht, wie bei uns in Worpswede, bis zum
nächsten Schützenfest.
.. . Also das Fest. Es verlief von Anfang bis zu Ende in allge-
meiner Glückseligkeit und Stimmung. Der Nachmittag vorher brachte
die großen Vorbereitungen. Clara Westhoff und ich fabrizierten in
den Festräumen einen Pudding mit „Mandelgeschmack“ und einen
mit „Erdbeergeschmack“ und ordneten mit häuslicher Hand das
Küchenfestinventar.
Indessen malte die edle Männlichkeit Friese. Im Salon, der
ganz mit weißem Papier ausgeschlagen war, entstand ein famoser
Centaurenfries. Im Alkoven, wo die verschiedenen Matratzen und
Kissen gehäuft waren, ein „Gefilde der Seligen“ Fries. Stühle gab
es nicht. An Räumlichkeiten gab es noch einen Empfangssalon
und ein Toilettenzimmer mit lebensgroßem Spiegel. Dies der
Tummelplatz der großen Fête. Alle Welt kostümiert, alle Welt guter
Stimmung, oder vielmehr auf Höhepunktstimmung. Tanz mit
Mandoline und Guitarrebegleitung. Künstlich waren aus starkem
Briefe und Tagebuchblätter. 345
Draht zwölf Wandleuchter hergestellt. So prangte der Salon
in Kerzenbeleuchtung. Im Alkoven schummrige Lampionstimmung.
Als wir am Morgen, nachdem M.’s Kaffeemaschine liebliche Dienste
geleistet hatte, die fünf Grundsteinflaschen unserer Bowle zählten,
ergab es sich, daß wir nur 114 Flaschen getrunken hatten. Das
andere war alles Jugend und Trunkenheit ohne Wein. Das machte
mir Spaß.
Ein Heimweg in unsern Kostümen durch das morgendlich
dämmernde Paris. Als ich in mein Kemenatlein kam, war es ganz
hell. Draußen ein Rausch von blühenden Akazien, Vogelmorgen-
stimmen und gurrenden Tauben. Ich legte mich lange nicht schlafen,
obgleich ich frei von inneren Beschwerden und Herzaffektionen war.
Nächsten Morgen 8 Uhr Lever. Akademie. Um 12 Uhr
Katerfrühstück in den Festräumen bei frohem Schnack.
Und die Hauptsache schreibe ich Euch zum Schluß. Am 10.
kommen die Worpsweder: Modersohn und Overbecks. Sie bleiben
10—14 Tage. Und dann fahren wir miteinander heim. Hurrah.
Euch allen einen Kuß.
*
21:
Nach einem sonnigen Pfingstsonntag-Kirchenbummel, nach
etlichem Ungemach wegen mangelhaften Omnibusverkehrs kam ich
etwas flügellahm zu Hause an. In solchen Augenblicken hat diese
Stadt etwas Furchtbares. Man fühlt sich so machtlos ihr gegen-
über. Was sie nicht freiwillig mit überströmenden Händen hergibt,
das ist ihr nicht abzuringen.
Im Louvre, der auf längere Zeit wegen Umhängung der Bilder
geschlossen war, sind neue Säle eröffnet. Ich gehe wieder trunken
durch alle diese Herrlichkeit. Ich bin sehr froh zu bemerken, daß
mich dieses halbe Jahr im Verständnis der alten Meister ein gut
Stück weiter gebracht hat. Daran messe ich meinen innerlichen
Fortschritt.
Der Bildhauer Rodin hat eine Sonderausstellung eröffnet, das
große, ernste Lebenswerk eines Sechzigjährigen. Er hat das Leben
und den Geist des Lebens mit enormer Kraft gebannt. Für mich
ist er nur mit Michelangelo vergleichbar und doch steht er mir in
einigen Sachen näher. Daß es solche Menschen auf Erden gibt,
das macht es wert, zu leben und zu streben.
Donnerstag abend Tanz bei „Bullier“. Kennst Du dies große
Tanzlokal des Quartier Latin, lieber Vater? Ein buntes Bild, un-
glaublich viel zu sehen: Studenten und Künstler, hübsch und lustig
in ihren gelungenen Sammetanzügen und Schlapphüten, mit ihren
kleinen Mädchen, von denen einige Radfahrhosen anhaben, andere
346° Paula Becker-Modersohn:
Seidenroben und andere Sommerblusen. Es sind meistens Cou-
turieres und Blanchisseuses. Und dann gibt es eine eitel Kinder-
fröhlichkeit, und um 141 Uhr wird das Gas ausgemacht und die
Leute gehen nach Haus. Weit in den Morgen hinein erstreckt sich
das Cafeleben hier überhaupt wenig. Um 2 Uhr ist meist alles
veschlossen.
Und Montag kommen die Worpsweder! Das ist die Haupt-
riesenfreude. Überhaupt: Dort ist allezeit mein Sinn. Ich kann
Euch sagen, manchmal dürste ich nach Heimat.
Worpswede, Juli 1900.
lch lausche in die dunkle Ecke meiner Kammer,
Wie große, stille Augen schaut es wieder,
Wie große, weiche Hände, die mir den Scheitel streicheln.
Und Segen fließt durch jede Ader meines Seins.
Das ist der Friede, der hier bei mir wohnet.
Zur Seite brennt vertraulich mir die Lampe,
Schnurrt wie im Traum an ihrem Lied des Lebens,
Aus dem Gedämmer schimmern weiße Blumen,
Sie zittern schauernd, denn sie ahnen Zukunft.
Mit leichtem Flügelschlag umkreist
Die Fledermaus mein Lager.
Und meine Seele schaut des Lebens Rätsel,
Zittert und schweigt und schaut.
Und neben meinem Lager surrt die Lampe
Ihr Lebenslied.
*
7. x
Mir kommen heute beim Malen die Gedanken her und hin.
Und ich will sie aufschreiben für meine Lieben. Ich weiß, ich
werde nicht sehr lange leben. Aber ist das denn traurig? Ist ein
Fest schöner, weil es länger ist? Und mein Leben ist ein Fest,
ein kurzes, intensives Fest. Meine Sinneswahrnehmungen werden
feiner, als ob ich in den wenigen Jahren, die mir geboten sein
werden, alles, alles noch aufnehmen soll.
Mein Geruchssinn ist augenblicklich erstaunlich fein. Fast
jeder Atemzug bringt mir eine neue Wahrnehmung von Linden,
von reifem Korn, vom Heu und Reseden. Und ich sauge alles in
mich ein und auf.
Und wenn nun die Liebe mir noch blüht, vor dem ich scheide,
und wenn ich drei gute Bilder gemalt habe, dann will ich gerne
scheiden, mit Blumen in den Händen und im Haar.
Briefe und Tagebuchblätter. 347°
Ich habe jetzt wie in meiner ersten Kinderzeit große Freude
am Kränzebinden. Ist es warm, und bin ich matt, dann sitze ich
nieder und winde mir einen gelben Kranz, einen blauen und einen
von Thymian.
Ich dachte heute an ein Bild von musizierenden Mädchen bei
bedecktem Himmel, in grauen und grünen Tönen, die Mädchen
weißgrau und bedeckt rot.
Ein Schnitter, im blauen Blusenhemd, der mäht all die Blüme-
lein ab vor meiner Tür. — Ich weiß jetzt zwei andere Bilder, mit
dem Tod darauf, ob ich die wohl noch male?
x
* x
Und es dauert doch noch lange. Ich bin gesund und stark
und lebe. Heil! — |
Dr. Karl Hauptmann ist auf eine Woche hier. Er ist eine
große, starke, ringende Seele, einer, der schwer wiegt. Ein großer
Ernst und ein heiliges Streben nach Wahrheit ist in ihm. Er gibt
mir viel zu denken.
Er las aus seinem Tagebuche: Gedankliches und Lyrisches.
Deutsch hart im Wortlaut, schwer und unbeweglich, doch groß und
tief. Lege die Eitelkeit ab und sei Mensch. Die Eitelkeit setzt Mauern
auf zwischen dir und der Natur. Du kommst nicht zu ihr hindurch.
Die Kunst leidet dadurch. Vertiefen, von innen nach außen leben,
nicht von außen nach innen. Deshalb gegen Paris für mich. —
Daneben Rainer Maria Rilke, ein feines, lyrisches Talent, zart und
sensitiv, mit kleinen, rührenden Händen: Er las uns seine Gedichte,
zart und voller Ahnung. Süß und bleich. Die beiden Manner
konnten sich im letzten Grunde nicht verstehen.
*
x *
— Mir ist, ich wäre in der Einsamkeit,
Und meine Seele waget kaum zu atmen.
Mit enggeschlossnen Flügeln sitzet sie
Und lauschet großen Auges in das Weltall.
Und über mich kommt eine sanfte Milde,
Und über mich kommt eine große Kraft,
Als ob ich weiße Blumenblätter küssen wollte,
Und neben großen Kriegern große Kämpfe fechten.
— Und ich erwache vor Bewundrung erschauernd:
So klein, du Menschenkind, und doch die Wogen
So riesengroß, die deine Seele schaukeln. —
nern — — Fr
348
Emil Waldmann: Römische Kaiserphysiognomien.
Stock. An den Wänden stehen auf Börten, in zwei Reihen
übereinander, die Büsten römischer Cäsaren und ihrer Frauen,
aus vier Jahrhunderten: Jünglinge und Männer, Greise und Kinder.
Römer, Italiker, Asiaten und Afrikaner. Alles in allem die Ver-
sammlung jener Menschen, in deren Händen die größte Macht der
Welt vereinigt war, die es je gab, und von der auch Alexander
der Große einst nur hatte träumen können.
Der Bedeutendste unter ihnen, Augustus, steht unauffällig in
einer Ecke. Ein feiner Kopf mit großen, schönen Augen, scharfen
Formen von edlem Bau, mit dünner Haut. Der Blick besonnen,
aber gütig, der Ausdruck ein wenig kränklich, nicht ganz so ge-
lassen wie in jener Feldherrnstatue, die sich Livia in ihrem Witwen-
sitz zu Primaporta aufgestellt hatte, nicht ganz so kaiserlich. Aber
auch noch nicht so durchaus vergeistigt, wie in dem Londoner
Kopf seiner Alterszeit, wo er aussieht wie Friedrich der Große als
Greis, unendlich verstehend, ein wenig bekümmert und ein wenig
resigniert: der Mann, der in späten Tagen Furcht hatte vor der
Größe der eigenen Herrschaft und seinem ungeliebten Erben Tibe-
rius riet, er solle das Reich nicht noch mehr ausdehnen. Man
möchte wissen, woher diesem wahrhaft edlen Antlitz das Kummer-
volle kam, ob durch diese letzte skeptische Erkenntnis des Weisen,
oder durch den Gram über die fürchterliche Schande seiner laster-
haften Tochter Julia, die sich in ihrem Wahnwitz nicht scheute,
seine Rednertribüne zur Statte ihrer mehr als öffentlichen Buhlerei
zu machen. Vielleicht war es auch Schuldbewußtsein — er sagte
sich doch, daß er Tiberius unglücklich gemacht hatte dadurch, daß
er ihn zur Ehe mit diesem entarteten Geschöpf zwang. Doch das
bleiben Rätsel. Das letzte Wort hat Augustus nie gesagt, in keinerSache.
Tiberius, sein Nachfolger, ein Mensch von andrer Rasse. Ein
harter, intelligenter Soldatenkopf mit hohem, breitem Schädel.
Äußerlich dem Augustus etwas ähnlich, mit der scharfen Nase und
dem energischen Kinn, aber nicht so menschlich, etwas unfrei und
ohne Glauben an sich selbst. Stramm, undurchdringlich, sehr
leidenschaftlich und verschlossen, wenn auch nicht ganz ohne Güte.
Aber doch eine Physiognomie, der man es ansieht, daß diesem
Menschen alles um Befehlen und Gehorchen geht, der beides kann,
der aber doch in der Einfachheit seiner verbitterten Soldatennatur
entsetzlich betrogen und am Ende zum Bösen getrieben wird von
Günstlingen und Weibern. Doch der Wahnwitz, der dann, aut
Capri, in Todesangst und tolle Mordlust ausartet, ist in seinen
E Eckzimmer des kapitolinischen Museums, oben, im ersten
Römische Kaiserphysiognomien. 349
Bildnissen noch nicht sichtbar. Vielmehr bleibt dieser imposante
Kaiserkopf der Idealtypus, nach dem für lange Zeit hinaus die
Bilder der Cäsaren stilisiert werden.
Neben ihm steht seine Stieftochter Agrippina, das Kind der
verhaßten Julia und des merkwürdigen Agrippa. Eine kalte Schön-
heit, ursprünglich vielleicht mit gewissem herben Reiz oder doch
mit dem Reiz kaltnasiger Koketterie. Aber durchaus dem Gesicht
sein Gepräge gibt ihr alberner, nackensteifer Hochmut sowie die
eisige Herrschgier in den brutalen Augen und den verzogenen Lippen.
Dann kommt Caligula, ihr Sohn. Er sieht seinem Großonkel
Tiberius ähnlich, mit dem schönen, hohen Kopf und dem feinen,
nicht großen Mund. Der Wahnsinn, der Tiberius nur am
Ende seines Lebens heimgesucht hatte, lauert hier schon von
Anfang an, auch in den schönen Jugendbildnissen, in der bösen,
wüsten Stirn und den kleinen, tief versteckten und wohl tückisch
ſunkelnden Augen. Der bleiche junge Mann mit den eingesunkenen
Schläfen muß das Entsetzen Roms gewesen sein, wenn er, wahn-
witzig vom Spieltisch auffahrend, heimlich den Befehl gab, einen
reichen Mann ermorden zu lassen, um schnell ein paar Millionen
zu verdienen; wenn er sich nackt auf Haufen gestohlenen Goldes
wälzte oder wenn er seine schöne Schwester Drusilla zur Göttin
ausrief, weil er, der Gott, sich mit ihr „vermählt“ hatte. Man will
sich schaudernd abwenden von diesem Ungeheuer, dessen einzige
wahre Leidenschaft das Massenmetzeln war, und das glücklicher-
weise vor dem dreißigsten Lebensjahre von der Erde verschwand
— da grinst einen sein Nachfolger an, Claudius, ein triefäugiger
Narr mit grobem, wackelndem Kopf, widerlich großen Ohren und
ekelhaften Lippen, ein öder Fresser und kümmerlicher Weiberheld.
An Stelle des Wahnsinns nun der Schwachsinn, als Nachfolger eines
tollen Ungeheuers nun der „Dümmste unter den Dummen“. Dies
war das Schlimmere. Wenn bei Caligula doch hinter allem und trotz
allem noch gewisse bedeutende Züge sind und in den Anfängen
doch noch gewisse Leistungen, an die sich Hoffnungen knüpften,
hier in diesem rein durch Zufall auf den Thron gekommenen
Idioten ist das Deprimierendste verkörpert, was je in der Reihe der
Cäsaren auftrat. Noch seine Idealporträte sehen aus wie Karika-
turen auf Tiberius, und vor der realistischen, abscheuerregenden
Kolossalstatue im Vatikan fragt man sich, ob sich hier der Bild-
hauer habe schadlos halten wollen für die vielen Idealportrtäts, die
er ihm zu Lebzeiten machen mußte — so, wie sich Seneca in der
über alle Maßen boshaften „Himmelfahrt des Claudius“ gerächt hat
dafür, daß man ihn zwang, ihm die panegyrische Leichenrede zu
verfassen. Daß ein Wahnsinniger Menschen umbringen läßt, begreift
350 Emil Waldmann:
man zur Not; aber daß ein Dummkopf fast vierhundert Ritter und
Senatoren zur Strecke bringt (ungezählt die vielen gemordeten
Frauen), mußte schließlich selbst Seneca erbittern, der ihn dann in
eben dieser „Himmelfahrt“ zum rohen Henkersknecht avancieren läßt.
Ihm zur Seite, womöglich noch uninteressanter und plumper,
schön frisiert, mit aufgeworfenen, gemein lächelnden Lippen, seine
Frau Messalina. „Doch das ist ein weites Feld,“ sagte der alte
Fontane in Fällen, wenn etwas nicht der Rede wert war. Lohnender
die andere Frau, Agrippina die Jüngere, seine Nichte, die aus ihrer
ersten (?) Ehe einen Sohn, den Nero, mitbrachte. Ein schöner
großer Kopf mit vollen Formen, ein echter römischer Adelskopf
mit feiner, stolzer Nase, herrlichen, weit offenen Augen und großem
Munde, zu dem nur die schmal gezogenen Lippen nicht recht
passen wollen. Sehr begabt und bedeutend; stark sinnlich und
unkeusch auch sie, aber nicht gemein, sondern mit höheren Zielen:
Der klare Wille zur Macht. Eine tragische Person, schließlich doch
elend untergegangen unter den Knüppelhieben der Mörder, die ihr
Sohn Nero ausgeschickt hatte; noch im Sterben schreiend, es könne
nicht ihr Sohn gewollt haben; — sie hatte alles für ihn getan und
alles geopfert.
Da steht er selber mit seinem riesigen Haupt auf dem mäch-
tigen Cäsarenhalse. Im dämonischen Antlitz, von bacchisch schönen,
schlangenartigen Locken umspielt, noch die Züge des wahnsinnig
und schamlos verschleuderten Talentes, geniale Nase wie Balzac,
‚dickes, bedeutendes Kinn, scharfe, heftige Linien im ganzen Profil,
von der Stirn angefangen in kurzen Stößen herunterfahrend. In
den übernatürlich großen Augen und in den Winkeln des üppig
schmeckenden Mundes lauert ein böses Lachen. So kann er ausge-
sehen haben in jener Nacht, als er angesichts des brennenden Roms
wie ein irrer, trunkener Mime den Untergang llions zur Harfe
deklamierte. j
Vielleicht ist es ein Zufall, daß hier im Museum dieses ent-
setzliche Lachen sich gegen eine seiner Frauen richtet, Sabina
Poppäa, die er bei Gelegenheit dann mit einem Fußtritt umge-
bracht hat. Vielleicht ist auch diese Büste überhaupt eine Fälschung
aus der Empirezeit. Aber dies Beieinander ist dennoch unendlich
yielsagend in seinem Kontrast. Der dämonisch lachende Wüstling,
und dieses Königin-Luisen-Gesicht mit dem Madonnenscheitel über
dem süßen Profil und den träumerischen Augen, dieses holde
Antlitz, das aber durchaus nicht echt war, sondern eine geschickte
Maske; die Maske einer kalten, depravierten Schönheit, die sich
durch Prüderie teuer macht und doch nichts zu bieten hat als ein
wenig Geist, ein wenig Gewandtheit und einen Haufen Unzucht.
Römische Kaiserphysiognomien. 351
Nun kommt ein neues Geschlecht, ein anderer Schlag, die
Flavier. Tüchtiger, ohne die großen Verbrecher. Vespasian muß
ein kleiner Mann gewesen sein, wahrscheinlich dick und asthma-
tisch. Ein breiter, voller Kopf mit lebendigem, ewig bewegtem
Mienenspiel, Redner mit ausgearbeiteten Zügen, etwas schlemmer-
haft, dabei voll von gesundem Menschenverstand. Und der einzige
in der ganzen Reihe, der witzig aussieht. Titus, sein Sohn, als
Kronprinz liederlich und angesteckt von Neros Künstlerfratze,
wirkt nachher etwas düster und rechnerisch, auch wie sein Vater
etwas sarkastisch. Domitian gediegen und sehr bürgerlich. Von
Frauen sieht man nicht viel. Da ist eine, die vielleicht mit Un-
recht Titus Tochter genannt wird, Julia die Jüngere, eine Hof-
dame mit hoher, künstlicher Lockenfrisur, ein reizendes Köpfchen
auf feinem, schmalem, etwas gebogenem Hals, vollen, schönen Lippen
und sehr edler Nase. Im Ausdruck ein wenig empfindsam; die
könnte einen Salon gehabt haben.
Die Linie der Tüchtigkeit, so in der flavischen Dynastie be-
gonnen, steigt weiter. Nerva, ein verspäteter Republikaner, beugt seinen
scharfen Greisenkopf mit der Hakennase und der herausgeschobenen
Unterlippe weit vor, spähend, wie Houdons Voltaire, nur ohne
Bosheit. Trajan, der Größte seit Augustus, ist das Genie der
höchsten, anständigsten Sachlichkeit. Mit der geraden Stirn, der
scharfen Nase und dem festen, runden Kinn sieht er mehr wie ein
hervorragender Beamter aus als wie der bedeutende, ehrliche, weit-
blickende Kaiser, der er war. Seine Frau Plotina neben ihm gütig,
reizlos und ein wenig leidend.
In Hadrian, von dem vielleicht die meisten Bildnisse überhaupt
existieren, tritt die äußerliche Genialität in Erscheinung. Ein inter-
essanter Kosmopolitenkopf, klug, ohne Weisheit, vielseitig, aber ohne
Tiefe. Unangenehm die zu spitze Nase und das zu spitze unter einem
kurzen Vollbart versteckte Kinn, und trotz allem etwas gewöhnlich.
Die Ehe mit Sabina wird kaum sehr glücklich gewesen sein. Sie
war schön, in klassisch reinen Linien; doch ohne jeden Charme,
so wie kinderlose Frauen leicht werden, und man glaubt ihr eine
gereizte Bitterkeit anzusehen.
Um sich ein wenig zu sammeln für die endlose Reihe der
Herrscher, die einem noch bevorsteht, tritt man ans Fenster und
schaut hinab auf den Kapitolsplatz, Michelangelos herrlichem, aus
drei Fassaden und einer wundervollen Treppe aufgebauten Platz.
Da reitet im Sonnenlicht, funkelnd in Grün und Gold, auf seinem
mächtig drängenden Pferde Marc Aurel, mit ruhig gebietender Ge-
bärde. Von hier oben sieht man seinen Kopf am besten, diesen
häßlich gewordenen, aber so unendlich sympathischen Denkerkopf.
352 Emil Waldmann: Römische Kaiserphysiognomien.
Ein Mann der strengsten Pflichterfüllung, bei weitem nicht so be-
deutend wie Trajan, nicht einmal so glänzend begabt, wie Hadrian,
aber dennoch groß und ehriurchterregend. (Man denkt an Kaiser
Wilhelm den Ersten.) Merkwürdig, wie es zugegangen sein mag,
daß er häßlich wurde in diesem Leben voll Arbeit und philosophi-
scher Betrachtung. Als junger Mann war er hübsch, ein heiteres,
offenes Kindergesicht unter bezaubernden Locken. Mozart als
Knabe mag so ausgesehen haben; nur die weit vorliegenden flachen
Augen stören die holde Lieblichkeit. Auch hier wieder, wie immer
in der Welt, die schmerzende Erkenntnis, daß das Gleichgewicht
der Seele nur unter Schmerz und Verzicht errungen wird, vielleicht
auf Kosten persönlichen Glückes. Seine Frau, Faustina die Jüngere,
scheint eine ernste, stille Gefährtin gewesen zu sein, geistig be-
deutend, schlicht und streng.
Unter den Späteren nur wenige Charakterköpfe. Septimius
Severus tut großartig, ist aber unerträglich aufgeblasen. Die schöne
Frau, Julia Domna, versteckt ihre wüste Herrschgier unter flacher
Schöngeisterei und ruiniert sich ihre Schönheit in schamlosen
Lüsten. Ihr Sohn Caracalla, mit dem berühmten wilden Ausdruck
in dem auf die Seite geworienen Antlitz, macht Nero und Älexander
den Großen nach und ist doch nur ein brutaler, größenwahnsinnig
gewordener Legionär. Das schauspielerhafte Herumwerfen des
Kopfes scheint nicht von einem Cäsarenbefehl begleitet, sondern
einem knurrenden, scheuchenden Soldatenfluch. Der Wahnsinn wütet
weiter in Heliogabalus, der vielleicht doch nicht nur ein unterge-
schobenes Kind war, sondern am Ende wirklich sein leiblicher Sohn.
Dieses Nachtgespenst mit den scheuen, großen Augen und den nach
einem nicht einmal zwanzigjährigen Leben voll wüster Aus-
schweifungen enttäuschten Mundwinkeln sieht in der Tat aus wie
das total verrückte Kind eines wahnsinng gewordenen Kriegs-
knechts. *
Doch das sind alles schon längst keine Römer mehr. Seit
Septimius Severus herrschen die Asiaten, und nun löst ein Barbar
den anderen ab, Angehörige alle der vielen Rassen, die das Im-
perium vereinigte. Nur ganz selten einmal ein feiner, bedeutender
Kopf. Herennius Etruskus, der Erbe eines alten adligen, starken
Italikergeschlechtes, und Philippus Arabs, ein edler Afrikaner
mit schwermütigen, ernsten Zügen, und Clodius Albinus, ein be-
kümmerter greiser Gelehrter, sind fast die einzigen erfreulichen Er-
scheinungen in der großen Reihe dieser Zufalls- und Soldatenkaiser,
die auf dem alten Throne der Cäsaren ihr Schattendasein führen
und den Untergang nur mühsam aufhalten.
*
353
Otto Corbach:
Volksempfinden und auswärtige Politik.
West- und Mitteleuropa hat es völlig verlernt, Volks-
empfindungen für die Tagespolitik zu berücksichtigen. Man
rechnet nur noch mit den vorhandenen Staatsformen, in die die
Völker meist wie in Prokustesbetten hineingezwängt sind. Nur 80
erklärt es sich, warum unsere Diplomaten und die in ihren Fuß-
stapfen wandelnden Zeitungspolitiker immer wieder überrascht
werden, wenn plötzlich irgendwo der „status quo“ sich ändert, weil
Völker oder Volksteile unerträglich gewordene Gewaltrechte brechen,
denen sie bisher gehorchten. Die englische auswärtige Politik hat
sich früher lange Zeit durch ein sicheres Gefühl und klares Ver-
ständnis für die tieferen, unbefriedigten Bedürfnisse fremder Völker,
für deren Leiden und Hoffnungen, die innere Verfassung ihrer Re-
gierungen und die Kräfte und Aussichten ihrer Freiheitsbewegungen
ausgezeichnet, aber auch sie ist entartet. Es ist nun gewiß kein
Zufall, daß die Fähigkeit der englischen Diplomatie, in den auf-
strebenden Kreisen anderer Völker Zuneigungen und vertrauen
durch tätige Teilnahme zu gewinnen, in demselben Maße zurück-
gegangen ist, wie ihre Fühlung mit den Bedürfnissen der bürger-
lichen Gesellschaft im eigenen Lande. Vor etwa 90 Jahren hatte
Fürst Metternich in Wien einmal Grund, über die Kritik verstimmt
zu sein, die im englischen Unterhause an den britisch-österreichi-
schen Beziehungen geübt worden war. Er wandte sich in seinem
Ärger an den britischen Geschäftsträger Sir Henry Wellesley; er er-
warte, erklärte er ihm, die Londoner Regierung werde sich an die
Haltung des Unterhauses nicht kehren. Sir Wellesley berichtete dem
damaligen konservativen Minister des Äußern, Canning, diesen
Zwischenfall; dieser jedoch antwortete ihm darauf, Fürst Metter-
nich irre, wenn er glaube, die Kritik des Hauses der Gemeinen
dürfe von den Ministern überhört werden; die britische auswärtige
Politik sei keineswegs eine bloße Angelegenheit des Kabinetts:
„Wenn wir unsern Einfluß im Auslande erhalten wollen, so muß
er den Quellen unserer Kraft in der Heimat entströmen, und die
Quellen unserer Kraft liegen hier im guten Einvernehmen zwischen
Volk und Regierung, in der Ubereinstimmung zwischen der öffent-
lichen Meinung und den öffentlichen Beratern, im gegenseitigen
Vertrauen und im Zusammenwirken des Hauses der Gemeinen und
der Krone. Wenn Fürst Metternich sich selbst glauben gemacht hat,
daß das Haus der Gemeinen nur ein Hemmschuh sei, ein Hindernis
DD ie Diplomatie und leider auch die öffentliche Meinung in
354 Otto Corbach:
für die Bewegungsfreiheit der Ratgeber der Krone, daß die Vor-
eingenommenheit des Parlaments gemildert, sein Eigensinn besänftigt
werden dürfe, aber die Haltung der Regierung von seinen An—
regungen unabhängig bleiben müsse, daß es, kurz gesagt, gelenkt,
aber nicht befragt werden solle —, so ist er im Irrtum. Es ist ein
ebenso wichtiger Teil der nationalen Beratung wie der nationalen
Autorität, und wehe dem Minister, der sich unterfinge, die Ge-
schäfte dieses Landes nach einem Prinzip zu lenken, das es ge-
stattete, den Lauf seiner auswärtigen Politik gemeinsam mit einer
großen verbündeten Macht zu bestimmen, und der sich darauf ver-
ließe, daß er deren Absichten verwirklichen könne, indem er ein
wenig Sand in die Augen des Unterhauses würfe.“ Das wurde im
Jahre 1823 geschrieben. Heute klingt es auch in England in den
Ohren der Machthaber fast wie eine revolutionäre Lehre, wenn
einer fordert, das Parlament solle befragt werden, bevor die Mi-
nister Bündnisse eingehen oder eine neue Wendung in der aus-
wärtigen Politik. Was unternommen wird, geschieht ohne Wissen
des Parlamentes und des Volkes; erst lange nach einer von den
Ministern heimlich ausgeführten Amtshandlung erfährt man darüber
Näheres, doch nur, um zu hören, daß die Nation für das ein-
stehen müsse, was in ihrem Namen von den Ministern im Dunkeln
mit fremden Mächten vereinbart wurde. Das ist alles wie bei uns.
Nur bäumt sich in England das Volksempfinden auch im Bürger—
tum gegen eine solche Autokratie des auswärtigen Amtes immer
wieder auf. Nicht nur durch Volksversammlungen, sondern auch
durch Beschlüsse von Handelskammern und Stadtverwaltungen.
Nur wer sich durch die glänzende Fassade des britischen Im-
periums blenden lassen kann, bezweifelt, daß die britische aus-
wärtige Politik unter Canning wahrhaft stark und groß war,
während sie heute schwächlich und kleinlich ist. Es war immer
viel Heuchelei dabei, wenn John Bull sich vor aller Welt für den
großen Vorkämpfer der Freiheit und der nationalen Unabhängig-
keit gab, aber es war früher doch nicht bloß Heuchelei; heute
kennen die rückständigsten Völkerschaften nur noch ein „perfides“
Albion. In Japan hat man schon lange nur noch für Eng-
land als vorläufig unentbehrlichen Geldgeber freundschaftliche Ge-
fühle. In China strotzen die Zeitungen gegenwärtig von Wutaus—
brüchen jungchinesischer Politiker über Englands Quertreibereien
in Tibet und sein sonstiges Verhalten. In Indien gährt es gewaltig
unter den 60 Millionen mohammedanischer Bevölkerung; man hat
an den letzten Schicksalen Marokkos, Persiens und der Türkei er-
fahren, wie verlassen islamische Völker sind, wenn sie sich auf den
Schutz Großbritanniens verlassen. Es ist ein sehr bemerkenswertes
’
1 ee
Volksempfinden und auswärtige Politik. 355
Zeichen der Zeit, daß das englische Kolonialamt für eine sehr
wichtige Gruppe von Kronkolonien und Protektoraten im fernen
Osten der früheren gesetzlichen Gleichberechtigung zwischen Far-
bigen und Weißen ein Ende gemacht hat. Im Jahre 1004 bestimmte
nämlich das englische Kolonialamt, daß in Hongkong, den Straits
Settlements und den verbündeten malaiischen Staaten für alle Unter-
tanen anderer als reiner europäischer Herkunft (auf beiden Seiten)
das bisher innegehabte Recht, im politischen oder Verwaltungsdienst
Ämter zu bekleiden, aufhöre. Dieser Bruch mit jener alten, weit-
herzigen Politik, die keine Unterschiede der Rasse vor den Ge-
setzen gelten ließ, beweist, daß sich auch in englischen Kron-
kolonien die britische Herrschaft nur noch mit starken, gewaltsamen
Mitteln aufrecht erhalten läßt. Man erwäge aber, daß es auf die
Dauer unmöglich sein muß, 350 Millionen Farbige von winzigen
Minderheiten weißer Beamten mit Gewalt in Schach zu halten.
Im Deutschen Reiche ist seit dem 70er Kriege „Realpolitik“
Trumpf. Auch die öffentliche Meinung in der bürgerlichen Ge-
sellschaft fordert von den leitenden Staatsmännern, daß sie als Real-
politiker nur mit Tatsachen rechnen. In diesem Sinne hat z.B. ein
Bäumchen als Tatsache neben einem Baum nicht viel zu bedeuten;
denn der Baum ist groß und das Bäumchen ist klein. Daß das
Bäumchen voraussichtlich ein großer, stattlicher Baum sein wird,
wenn der alte Baum morsch geworden ist, das bleibt außer Be-
tracht, das wäre „Zukunftsmusik“. So etwas Unreales wie Zu-
kunftsmusik aber überläßt der deutsche Bürger grundsätzlich der
Sozialdemokratie, die darum fast alle hinter sich schart, die noch
jugendliche Vorstellungskraft, gesunden Idealismus besitzen. Die
deutsche Diplomatie hat bisher fast immer nur mit gewordenen,
nie mit werdenden Machtelementen zu rechnen verstanden; sie
wankte daher stets in der falschen Richtung, sobald eine innerlich
morsche, alte, mit einer jungen, noch unbewährten, aber in aller
Stille erstarkten Macht in Kampf geriet. Sie mißachtete Japan, so
lange es Rußland noch nicht besiegt hatte, sie hatte vom Jung-
türkentum so gut wie keine Ahnung, so lange Abdul Hamid am
Ruder war, sie verkannte die Kräfte der Balkanslaven vor dem
jüngsten Kriege, und trotz all solcher Erfahrungen verwechselt sie
noch heute den Zaren und seinen Hof mit Rußland wie es ist und
sein wird.
Es gibt starke Staaten, zu denen schwache Völker gehören, und
starke Völker, zu denen schwache Staaten gehören. Die Lenker
moderner Staaten suchen den Völkern, von denen sie abhängen,
einzureden, daß diese sich am sichersten fühlen dürfen, wenn sie
möglichst viele Kräfte in Staatswerte, vor allem in Militarismus
356 Otto Corbach:
umsetzen. Indessen sind die Pioniere des Militarismus nie aus
wahrhaft starken, das heißt einer langen Dauer und weiten Ver-
breitung fähigen Völkern hervorgegangen, sondern immer aus
solchen, die, durch räumliche Beengung zu frühzeitiger Hyper-
trophie des Verstandes genötigt, ihren künstlichen Zeitvorsprung an
kultureller Entwickelung gegenüber vordrängenden rückständigeren,
aber kraftvolleren und massenhafteren Menschenhorden mit künst-
lichen Mitteln möglichst lange zu behaupten suchten. Frankreichs Ehr-
geiz, den Ruhm aufrecht zu erhalten, den es unter Napoleon als
unbewußten Erwecker schlummernder Energien in östlichen, phy-
sich stärkeren Völkern erworben hat, ist die Grundursache, warum
seine Erneuerungskraft zurückgeht. Dieser Ehrgeiz läßt die fran-
zösische Nation sich in der Produktion von Sicherheiten erschöpfen.
Ohne das Revanchebedürfnis würden die Milliarden französischen
Geldes, die dazu dienten und dienen, die Slaven Osteuropas zur
Bedrohung Deutschlands zu militarisieren, wohl überwiegend in
wirtschaftlichen Unternehmungen angelegt sein. Jeder Militarismus,
der aufhört, als ein Mittel der Machtausdehnung einer Nation zu
dienen, zehrt als ein fressendes Übel an den Kräften der eigenen
Nation. Der Instinkt der Selbsterhaltung in der Hohenzollern-
dynastie hat bisher die deutsche Politik genötigt, sich vorwiegend
auf Gebieten zu betätigen, wo ihr englische oder französische Be-
strebungen entgegenarbeiteten. In Westeuropa verliert aber der
Militarismus in dem Maße an Bedeutung, wie Handel und Verkehr
die wirtschaftlichen Interessen der Nationen miteinander verknüpfen
und ineinander verflechten. Darum frißt auch in Deutschland der
Militarismus nach innen. Das Anwachsen des Bureaukratismus und
die um sich greifende Veramtung des wirtschaftlichen Lebens,
sind hauptsächlich auf ihn zurückzuführen. Denn wenn der Mi-
litarismus, wie es seine ursprüngliche Bestimmung war, dazu
diente, dem Spielraum wirtschaftlicher Unternehmungen zu erweitern,
anstatt ihn durch unfruchtbaren Konsum zu verengern, so würde
es keinen Massenandrang zu den Beamtenlaufbahnen geben, und
das Ideal der an und für sich gewiß, erstrebenswerten sicheren Ver-
sorgung und Pensionsberechtigung würde nimmer private An-
gestellten- und Arbeiterkreise bei uns überwältigt, mumifiziert haben.
„Bureaukratisches Regime bringt unser Volksleben zum Absterben“,
sagte im Reichstage einmal Reichskanzler von Bethmann Hollweg.
Das Endergebnis wäre die völlige Knechtung des Volkes durch
seinen eigenen Staat, unfähig, diesen als sein Werkzeug zu hand-
haben, läßt es ihn schließlich in fremde Hände übergehen und sich
durch diese mit ihm ausbeuten. Staaten und Armeen sind künst-
liche Sicherheitsmittel; für die stärksten Völker sind aber die besten
Volksempfinden und auswärtige Politik. 357
künstlichen Sicherungsmittel nur Notbehelfe, die auf einen möglichst
kleinen Anwendungskreis beschränkt werden müssen; sie können
natürliche nie ersetzen, sie sind zu teuer. Darin beruht die unwider-
stehliche, friedenstiftende Wirkung des Völkerverkehrs. Es ist
billiger, sich zu verständigen, zu verbrüdern, als sich voreinander
durch Militarismus zu schützen.
Aus allen diesen Gründen bedeuten die modernen Militär-
staaten Eintagsfliegen im Vergleich zu Völkern, die sich mehr auf
ihre Erneuerungskraft, ihren Fleiß, ihren Unternehmungsgeist, ihre
Intelligenz verlassen, als auf eine politische Machtentfaltung. Die
Juden, die seit Jahrtausenden nicht mehr zu den staatenbildenden
Völkern gehören, haben schon viele Staaten überdauert, die sie
ausrotten wollten. Die Chinesen sind oft von feindlichen Nomaden-
stämmen unterworfen worden, die über ihnen einen Ausbeutungs-
staat errichteten; sie haben doch schließlich immer wieder jede Fremd-
herrschaft abzuschütteln vermocht und bilden heute den vierten Teil
der Menschheit. Es gibt kein polnisches Reich mehr, aber heute
mehr als doppelt soviel Polen als zur Zeit der Teilung Polens, und
die heutigen Polen breiten sich rasch gerade auf Kosten der Völker
aus, deren Staaten einst das polnische Reich unter sich teilten.
Kann es also kluge Politik sein, Beziehungen zwischen Staaten
für wichtiger zu halten, als solche zwischen Völkern, oder jene gar
allein zu beachten? Die deutsche Diplomatie hat seit dem russisch-
japanischen Kriege infolge österreichischer Initiative den Mut ge-
funden, dem Zarenreiche die Stirn zu bieten, aber sie ist sich dabei
doch nur selbst treu geblieben. Sie rechnet wieder nur mit Staaten,
nicht mit Völkern. Der russische Staat ist heute schwächer, als
vor dem letzten ostasiatischen Kriege, aber das russische Volk ist
viel stärker. Rußland ist die am wenigsten entfaltete, aber auch die
größte und am wenigsten erschöpfte Macht Europas. Was bei
anderen Nationen eine Frage um Sein oder Nichtsein bedeuten
würde, das ist für die Rüssen in der großen Politik nur eine
Episode. Ein Russe erzählt, ihm habe, als er vor zwei Jahren
auf einem japanischen Dampfer an Tsusima vorüberfuhr, ein ge-
bildeter Japaner sein Mitgefühl für die verlorene Seeschlacht kund-
zugeben gesucht. „Als ich ihm aber sagte, wir wünschten von
Herzen ein zweites Tsusima, da sah er mich mit völligem Unver-
ständnis an. Er hielt mich augenscheinlich für verrückt.“ Der ost-
asiatische Krieg war nur eine Welle im Meer russischer Geschichte;
der einzelne Russe empfindet ihn lediglich als eine starke Anregung
für seine Nation, sich ihrer schlummernden Kräfte bewußt zu werden.
Er zweifelt deswegen nicht im geringsten daran, daß Rußland einst
alle seine Gegner zerschmettern werde. Was bedeutet dagegen
358 Otto Corbach:
Osterreich? Einen starken Staat und ein Gemisch von Völkern ohne
starkes Zusammengehörigkeitsbewußtsein. Serbien schließlich ist
ein schwacher Staat, zu dem aber ein offenbar verhältnismäßig
starkes, opferfähiges, aufstrebendes, zielbewußtes Volk gehört. Wenn
wir nun Österreich in serbischen Streitfragen gegen Rußland
die Stange halten, so treten wir zum zweiten Male gegen Rußland
ausgerechnet in einem Falle auf, wo es in der Pose des Vorkämpfers
der Freiheit und Unabhängigkeit eines noch schwachen, aber tüch-
tigen slavischen Volkes auftritt, das unser Bundesgenosse in der
Vergangenheit politisch oder wirtschaftlich zu erdrosseln suchte.
Wenn die deutsche Regierung je sich dazu aufgerafft haben würde,
auch nur ein Wort des Protestes zu riskieren, wenn das Zarenreich
fremde Völker knechtete, wenn sie sich um das Schicksal der Deutschen
und der deutschen Kultur in Rußland gekümmert, oder die Ver-
gewaltigung Finnlands als einen Bruch des Völkerrechts gebrand-
markt haben würde, dann hätte sie in Deutschland selbst der So-
zialdemokratie imponiert und auch in Rußland hätte sie moralische
Eroberungen gemacht.
Kann das Deutschtum hoffen, das Slaventum auf die Dauer
mit politischen Machtmitteln in Schach zu halten? Es gibt nur eine
Möglichkeit, uns auf alle Fälle für absehbare Zeit die Rolle der
führenden Kulturmacht auf dem Festlande zu sichern; die besteht
darin, unsere politische Macht entschlossen für die Idee eines eu-
ropäischen Patriotismus einzusetzen, die langsam in den aufgeklär-
testen Köpfen Europas heranreift. Es gibt kein Volk, das mehr unter
der Uneinigkeit Europas leiden muß und das mehr durch eine
Einigung der Völker dieses Weltteiles zu gewinnen hätte, als das
deutsche. Wenn es der politischen Wirksamkeit der uns Regierenden
gelänge, bei unsern Nachbarn die Empfindung zu wecken, und zu
unterhalten, daß unsere militärischen Machtmittelh für alle Zukunft
nur bestimmt seien, das europäische Wirtschaftsleben vor Stö-
rungen bewahren zu helfen, statt es für einseitige deutsche Zwecke
selbst zu stören, dann wären die größten Hindernisse für jene Be-
strebungen beseitigt, die eine allmähliche zollpolitische Abrüstung
zwischen den europäischen Ländern bezwecken, und wenn einmal
die Zollschranken beseitigt wären, die den zwischenstaatlichen
Handel Europas behindern, so würden sich gerade für das deutsche
Wirtschaftsleben bei der Lage Deutschlands glänzende Aussichten
eröffnen. Die bisherigen Machthaber in Deutschland mögen oft
den besten Willen gehabt haben, eine das europäische Gesamt-
interesse fördernde äußere Politik der Versöhnung zu treiben; jeden-
falls haben sie dabei so gut wie keinen Erfolg gehabt. Das deutsche
Staatswesen ist im Auslande verhaßt. Engländer, Franzosen, die
r — 1 a
>" -i mai ine Be u
Volksempfinden und auswärtige Politik. 359
sämtlichen Südeuropäer, alle unsere Nachbarn, sogar die germani-
schen Bluts, wie Belgier, Holländer, Schweizer, Skandinavier, von
den nichtdeutschen Völkerschaften Gsterreich- Ungarns gar nicht
zu reden, teilen ein starkes Gefühl der Abneigung gegen das poli-
tische Deutschland. Der Verdruß hierüber kommt im deutschen
Volke dadurch zum Ausdruck, daß es das Interesse am nationalen
Prinzip im politischen Leben unter den Gefrierpunkt hat sinken
lassen. Verleger und Herausgeber stramm „nationaler“ Blätter
wissen ein Lied davon zu singen. So weit heruntergekommen ist
bei uns bereits der politische Wert nationaler Gesinnung, daß es der
Beifügung von „unabhängig“ bedurfte, um das Ansehen des Wortes
„national“ wieder etwas zu heben. Seitdem werden keine bloß
nationalen, sondern nur noch „unabhängig- nationale“ Blätter neu
herausgegeben. Als ob sich für alles wahrhaft Nationale das Un-
abhängige nicht von selbst verstünde.
Der deutsch-österreichische Dichter Emil Ertl läßt eine der
Gestalten in seinem Roman „Auf der Wegwacht“ die Ansicht
äußern, die geschichtliche Mission Österreichs bestehe gerade
darin, daß es kein nationaler Staat sei und sein könne: „Das
neunzehnte Jahrhundert steht unter dem Banne des nationalen Ge-
dankens. Ich verstehe ihn nicht nur, ich liebe ihn auch, ich selbst
hänge mit allen Fasern meines Herzens an meinem Volke. Aber
auch der nationale Gedanke bedarf noch der Läuterung. Wie die
Religion soll er aufhören ein Schwert zu sein. Gleich einer durch
edles Räucherwerk genährten Flamme brenne er im stillen Dämmer
des Allerheiligsten! Vielleicht wird die Zukunft es verlernt haben,
sich in nationalen Kriegen zu zerfleischen, so wie Religionskriege
heute undenkbar geworden sind. Vielleicht wird die Zukunft es
verlernt haben, sich in nationalen Rüstungen zu verzehren, und es
für einen Frevel halten, die besten Kräfte des Wohlstands den höher-
stehenden Aufgaben der Gesittung zu entziehen.“ Die habsburgische
Monarchie hat bisher wahrlich wenig im Sinne dieses Evangeliums
gewirkt, aber was hindert das Deutschtum daran, es zu übernehmen ?
Es würde sich dadurch besser gegen das Slaventum schützen, als
durch den stärksten Militarismus: Wer sein Leben wegwirft, der
wird es gewinnen.
360
Joseph Aug. Lux: Reform der Männertracht.
n sich sind Kleider weder schön noch häßlich, alles kommt
A den Träger an. Auch bei der vielgeschmähten heutigen
Männertracht. Man macht ihr den Vorwurf der Nüchtern-
heit — aber, ich bitte, ist das ein Fehler? Man nennt sie farblos
und einförmig — und übersieht geflissentlich, daß wir über eine
Unzahl von Nüancen und daß wir vom Festkleid bis zum Aviatiker-
kostüm über einen solchen Reichtum von Formen verfügen, wie
kaum eine Epoche der Kleidergeschichte vorher. Man findet sie
langweilig und geschmacklos — ihr Herren Reformer! — sollte die
Langweile und Geschmacklosigkeit nicht tiefer sitzen — in eurer
Brust? Wer sich innerhalb der heutigen Tracht nicht geschmack-
voll zu kleiden versteht — wird es in keiner anderen Tracht besser
können. Wer den schwarzen Frack mit weißer Krawatte nur lang-
weilig und trauermäßig empfindet, der hat eben noch nicht erkannt,
daß in dem unverwüstlichen Akkord von schwarz-weiß die sicherste
eleganteste und festlichste Wirkung liegt — die zugleich auf Zu-
rückhaltung beruht. Vorausgesetzt, daß der Frack gut sitzt! Man
vergißt aber, daß der einzelne Frack nicht entscheidet — das Ge-
samtbild entscheidet. Schwarz-weiß als Grundton, eine Musik auf
zwei Noten, auf der eich eine nüancenreiche Kantilene erhebt, die
schwelgerische, heiter sinnliche, von mitunter phantastischen und
bizarren Einfällen strotzende Melodie der farbenfrohen Damen-
toiletten. Die Instrumentation des Gesellschaftsbildes braucht diese
Kontrastwirkung.
Aber die Unentwegten zetern: Ofenröhren an den Beinen und
Armen! Indesen — Hosen und Ärmel scheinen nur dann als
Ofenröhren, wenn sie schlecht im Schnitt sind und wenn — der
häufigste Fall — der Träger solcher Ofenröhren nicht ordentlich
gehen kann. Die wenigsten Leute können gehen. Ich meine die
Männer — Frauen haben so viel Rhythmus, daß sie sogar zu
schweben scheinen — wie selten dagegen ein Mann, der sich zu
bewegen versteht, ohne affektiert oder unbeholfen zu sein. Man be-
obachte doch die Menschen, wenn sie einzeln durch einen großen
Saal zu schreiten haben. Am liebsten werden sie es vermeiden und
sich an der Wand hindrücken. Und fühlen sich arg geniert, wenn
sie durch die Mitte müssen. Mit den Händen weiß man nichts
anzufangen, unfehlbar in die Hosentaschen damit. Oder gar kreuz-
weise über das Gesäß gelegt. Der Gang wird unnatürlich und
steif. — Kaum einer von lıundert, der wirklich gehen kann. Daran
wird die Reform mit Kniehosen und Strümpfen nichts ändern. Das
erste, was der gesunde Gassenbubenwitz in der Schule an dem
Reform der Männertracht. 361
Professor entdeckt und verspottet, ist häufig die so linkische oder
lächerliche Art, mit der so mancher „Menschenbildner“ das Po-
dium besteigt. Leider geht der Gassenbubenwitz, der die Schwäche
so rasch entlarvt, den meisten wieder verloren, sie werden wie ihre
Vorbilder. Man sage nicht, daß es bloße Äußerlichkeiten seien —
alles Äußere hat auch seinen inneren Grund.
Es ist auffallend, daß meistens die Leute, die sich nicht mit Ge-
schmack zu kleiden wissen, am lautesten nach der Reform schreien.
Zuerst waren es die Apostel der Professor- Jäger-Normalwäsche,
die sich eine Tracht erfunden hatten. Man wird nicht behaupten,
daß es sehr geschmackvolle Menschen waren, die vor etwa zwanzig
Jahren in dem anormalen Normalkostüm herumliefen. Jetzt hat
sich in Berlin wieder eine Gruppe von Männern zusammen-
geschlossen, die „eine Gesellschaft für Reform der Männertracht“
gegründet hat und durch Herausgabe von Schriften und Heran-
ziehung von Künstlern und Kunstgewerblern Propaganda für ihre
Ideen treiben will.
Man erinnert sich, daß schon vor zehn Jahren ähnliche Re-
formen mit der Frauentracht versucht wurden und daß die weib-
lichen Reformkleider von damals ebenfalls auf gewisse ethische und
ästhetische Grundsätze gestellt waren, die in den Schlagworten von
der „wahren Schönheit“ in Verbindung mit der „wahren Zweck-
mäßigkeit“ heute wieder in der männlichen Bewegung dienen. Die
„wahre Schönheit“ der künstlerischen Reform-Frauentracht der
Sezessionsjahre offenbarte sich in häßlichen, schlafrockartigen Säcken
mit plumper, aufdringlicher Ornamentik, und die „wahre Zweck-
mäßigkeit“ bestand darin, daß die Stützpunkte des Kleides von den
Hüften weg ausschließlich auf die Schultern verlegt wurden, wo-
durch bei schweren Stoffen den armen Frauen eine äußerst un-
vorteilhafte und gesundheitswidrige Haltung anerzogen wurde, als
ob sie Lasten ziehen müßten; jede klagte über die furchtbare Er-
müdung, die schon nach wenigen Stunden infolge des Gewichtes
der nur von den Schultern getragenen schweren Kleider eintrat,
besonders wenn es Gesellschaftskleider mit Schleppe waren. Nur
Kunstprofessoren konnten solche Einfälle haben, die dem orga-
nischen und wohl auch psychischen Gesetz der Trachtenentwicklung
einfach ins Gesicht schlugen. Die Sache ist an der ihr eigentüm-
lichen „wahren Schönheit“ und „wahren Zweckmäßigkeit“ zu-
grunde gegangen. Die Dame von Geschmack war nicht zu be-
wegen, den Reformsack anzuziehen, und die Geschmacklosen, die
es taten, sahen deswegen nicht geschmackvoller aus. An einer ein-
zigen Pariser Schneiderin sind sämtliche reformierenden Kunst-
professoren zu Schanden geworden. Die Gattin eines bekannten
2 —
362 Joseph Aug. Lux:
deutschen Architekturtheoretikers, die damals in Reformkleidern
machte und auf Vortragsreisen mit Kleidermodellen in allen Städten
auftauchte, gestand mir nach einem ihrer Vorträge, daß sie selbst
die Reformkleider abscheulich fände. „Warum halten Sie dann Vor-
träge?“ fragte ich erstaunt. „Eigentlich würde ich lieber singen,“
sagte sie, „ich bin nämlich von Haus aus Konzertsängerin.“ Und
sie sang noch am selben Abend in demselben Saal und demselben
Kreis Cornelius und Mendelsohn und bewies ihre Schulung und
ihren Geschmack — als Sängerin. Reformkleider trug sie nur zu
Hause, wenn der Photograph kam, der Kunstzeitschriften wegen,
die ihr Porträt brachten zu kunstgewerblichen Propagandazwecken,
großblumige, biedermeierliche Stoffe im Hauskleiderschnitt — das
Großblumige paßte hübsch zu ihrem Gesicht.
Die Sache ist vergangen wie alle „Anregungen“, die mit in-
dividueller Geste den Mangel an positivem Können verhüllen
sollten — aber der sterile, quäkerhafte Puritanergeist ist geblieben
und hat ein neues Operationsield erkoren — die Männertracht. In
der Tat quäkerhaft ist das Idealkostüm, das als Gesellschaftskleid
vorgeschlagen werden soll: Kniehose, ein hemdartiger Rock, hoch-
geschlossen, mit einem Gürtel um die Mitte, wie ihn die russischen
Studenten tragen oder wie ihn die Handwerker des Mittelalters
trugen, wie man auf alten Holzschnitten ersehen kann, die ja auch
die langen Beinkleider als Arbeitstracht kannten. Solche Blusen
und Kittel tragen die Arbeiter in manchen Gewerben übrigens
heute noch. Als Arbeitskittel und Straßenanzug soll eine kurze
Jacke gelten, die wir von den Oxford Boys her kennen und in
einer gewissen Abart bei den Turnern und als Lodenjoppe bei
den Jägern antreffen — wie man sieht, eine Reform, die nicht ein-
mal Anspruch auf Originalität hat, weil sie als Uniform gewisser
Stände längst in zweckmäßigerer Verwendung vorhanden ist, auch
als Dienerlivree, und eine Dürftigkeit aufweist, gegen die unsere
angeblich so nüchterne Herrengarderobe üppig und als das Werk
einer verschwenderischen Phantasie erscheint. Nun ist gar nicht
zu bezweifeln, daß ein gut gewachsener Mensch in der Kniehose
vorteilhaft aussehen wird, wie andererseits nicht zu leugnen ist,
daß er in langen Beinkleidern ebenso ausgezeichnet wirkt, wofern
er es überhaupt versteht, sich elegant zu tragen. Überdies haben
wir die Kniehose bereits, sie bildet einen wesentlichen Bestandteil
unserer heutigen mannigfachen Sporttracht, die sich aus der Praxis
heraus entwickelt hat und von den Herren am grünen Tisch ziemlich
mißverständlich auch für die nichtsportlichen Gelegenheiten in An-
spruch genommen wird. Bei dem Reichtum an Kleidervariationen
wird auch der Einwand hinfällig, daß unsere Tracht seit hundert
Reform der Männertracht. 363
Jahren erstarrt sei und keinen Fortschritt mache. Sie macht im
Gegenteil sehr große organische Veränderungen durch und ist
einem natürlichen Gesetz des Wachstums unterworfen, wie alles,
das dem Leben dient und künstlich weder verändert noch durch
etwas ganz Anderes, Willkürliches, ersetzt werden kann.
Die Kniehose ist auch aus naheliegenden praktischen Gründen
nicht für alle Gelegenheiten das einzig zweckmäßige Kleidungs-
stück. Wer als Sportmensch die Kniehose getragen hat, empfindet
außerhalb des Sportbetriebes die langen Beinkleider, die leichter
und angenehmer sind, geradezu als Fortschritt. Dicke Männer
mit versulzten Waden sind kein erquicklicher Anblick in Kniehosen
und Strümpfen, ebensowenig Dickbäuche mit Spindelbeinen. Ver-
gönnen wir ihnen die Pantalons!
Es kann sich nicht darum handeln, die Vorschläge der Reformer
im einzelnen zu widerlegen — es streift ans Absurde, wenn unter
anderen ein bekannter Professor — Schnittlauch auf allen Suppen —
ganz ernsthaft eine Debatte über die Zweckmäßigkeit des Hosen-
schlitzes eröffnet und die altniodische Form des Hosenlatzes dringend
zur Einführung empfiehlt. Ein Arzt erklärt das Taschentuch als eine
unhygienische Einrichtung — er plädiert — nicht etwa für ein
reines Taschentuch, sondern — für das Schneuzen mit den beiden
Fingern — ohne Taschentuch. Und wieder meint der Professor
Suppenschnittel, warum tragen wir nicht als einzige Kopfbedeckung
die Kappe? Und warum ist die Kappe nicht aus Leder, dem
einzig zweckmäßigen Material? Er meint wohl, weil sie im Sommer
so hübsch heiß und schwer und im Winter sehr angenehm kalt ist.
Man erkennt aber aus den wenigen Beispielen, die ich hier anführe,
daß die „wahre Schönheit“ und die „wahre Zweckmäßigkeit“ auch
in der Männertracht unterwegs ist. Es läßt sich heute schon vor-
aussagen, daß es damit so ergehen wird wie mit der Frauen-
Reformtracht. Dieselbe Geschichte wie in der Fabel vom Pferd und
Kamel. Man wird so lange verbessern und die „Verbesserung“
wieder verbessern, bis man schließlich dort anlangt, wo die zeit-
gemäße Tracht heute steht.
Nicht daß etwa die heutige Männerkleidung keiner weiteren
Entwicklung fähig wäre. Sie ist konservativ und dennoch fort-
währenden Wandlungen unterworfen, wobei nicht der Modewechsel
gemeint ist. Die Mode ist eine Schneidererfindung, die Tracht ist
an die psychischen Voraussetzungen der Gesellschaft und des Volkes
gebunden. Sie wird nicht erfunden oder gemacht, weder von ein-
zelnen noch von einem Verein, sondern sie ist entstanden — ge-
wachsen, wie das Schneckenhaus wächst. Und ändert sich erst,
wenn sich die innere Verfassung der Allgemeinheit ändert. „Kleider
364 Joseph Aug. Lux: Reform der Männertracht.
machen Leute“ hat auch den Sinn, daß sich die gesellschaftliche
Zugehörigkeit äußerlich durch die Tracht ausdrückt. Der einzelne
unterliegt dem Kleiderzwang und hat es nicht in der Hand, will-
kürlich zu ändern, wenn er nicht der Lächerlichkeit oder der Achtung
verfallen will. Die Sucht aufzufallen, erregt Ärgernis, und es ist
immer verdächtig, wenn einer heute im Kostüm des Apostels Jo-
hannes oder Tolstois in den Straßen herumgeht oder sich die
Haare bis auf die Schultern wachsen läßt. Ich glaube nicht sehr
an die Echtheit und innere Bedeutung solcher Menschen, die sich
sozusagen die Haare über den Kopf wachsen lassen und in dem
Gefühl, daß man ihnen keine Monumente setzen wird, vor sich
selber Monument stehen. Die Bekannten reden deswegen von einem
solchen „Original“ nicht respektvoller und die Fremden sagen kurz
und bündig: Der Kerl ist ein Narr! Ich fürchte ähnliches für die
Reformtrachtler.
Es soll gar nicht geleugnet werden, daß unsere Herrentracht
in manchen Stücken verbesserungsbedürftig ist. — Der steife Hals-
kragen ist wirklich ein Übel. In der Sommertracht hat sich die
hübsche Neuerung eingeführt, daß die Kragen der weichen Hemden
über den Rock zurückgeschlagen werden und der Hals ganz bloß
liegt. — Das ging am Land und auch nur im Sommer, solange es
Klima und Wetter erlaubte. Vielleicht kommt von daher einmal
eine Besserung für die städtische Tracht, die, wie alle Trachten,
die Summe der Erfahrungen und Verbesserungen der Gesamtheit
sind. Es ist bisher keinem gelungen, an Stelle des steifen Kragens
eine Form zu setzen, die sich bewährt hätte. Wir müssen also
trachten, das Beste aus ihm und den Gesellschaftskleidern, die wir
haben, zu machen, und wer’s nicht glaubt, der sehe sich die Zeich-
nungen eines Reznicek an, um zu wissen, wie durchaus elegant
und ästhetisch befriedigend unsere Tracht sein kann. Wer aber im
Frack wie eine Vogelscheuche aussieht, dem kann ich garantieren,
daß er in jeder anderen Tracht auch nur eine Vogelscheuche sein
wird. Das ist der springende Punkt. |
365
Max Oehler: Soldatenlieder.
aß die im Liede zum Ausdruck kommenden Empfindungen des Volks
Beachtung verdienen, ist anerkannt. Seit der englische Bischof
Thomas Percy 1765 in seinen „Resten alter englischer Dichtungen“ die
erste nationale Volkslieder- und Balladensammlung schuf und damit einen weit-
reichenden Eindruck erzielte, ist in allen Ländern fleißig gesammelt worden,
und gerade in Deutschland haben die b sten Geister der Volkspoesie, „der
Muttersprache des Menschengeschlechts“, ihre Aufmerksamkeit gewidmet; es
genügt, an Hamann, Herder, Goethe, Heine, Arnim, Brentano, Uhland, Hoff-
mann v. Fallersleben, R. v. Liliencron, die Gebrüder Grimm zu erinnern. —
In der neuesten Zeit, deren bestimmende Tendenzen solchen Bestrebungen
wenig förderlich sind, ist zwar mit wissenschaftlichem Ernst, aber, wie es
scheint, mit weniger Liebe weitergesammelt worden; immer aber hat sich der
Sammeleifer vorwiegend auf die alten Volkslieder beschränkt.
„Sobald ein Volk anfängt, Kunst-Musik zu pflegen, ist es mit seinem
Volkslied vorbei“ — ein Satz, den man auf allen Gassen hört, der ganz
einleuchtend klingt und trotzdem falsch ist. Was weiß und merkt „das Volk“
eines Volkes von der Kunst-Musik? — Nichts. Es schert sich den Teufel
darum und macht und singt nach wie vor die Lieder, die es versteht: unge-
schickt im Ausdruck, plump in der Form, sprunghaft in der Gedankenfolge,
inhaltlich bald lyrisch, bald dramatisch bewegt, oft sentimental, manchmal
derb, nicht selten von überraschender Zartheit der Empfindung; die Melo-
dien melancholisch oder ausgelassen lustig, auch die traurigen oft mit Widi-
bummvalleras und Juchheirassas dekoriert, — alles genau dem Wesen des
Volkes entsprechend und. somit recht eigentlich Kunst; sofern nämlich eine
Kunst nur dann diesen Namen voll verdient, wenn die Erzeugenden wie die
Genießenden zu dem Geschaffenen in einem unmittelbaren Verhältnis stehen;
— ein Zustand, von dem unsere „gebildeten“ Kreise bekanntlich erheblich
weit entfernt sind, wenigstens betreffs der Dichtung und der bildenden
Künste, einschließlich der Architektur. Am besten steht es da noch mit der
Musik. —
Wo sind denn nun solche Perlen der Volkskunst, wirkliche Volkslieder,
heute zu hören? Überall, wo unverbildetes, unverhetztes und unabgehetztes,
in den Großstadt-Tingeltangels noch nicht verkommenes Volk lebt, d. h. da,
wohin die Leute, die den unaufhaltsamen Niedergang des Volksliedes ver-
künden, niemals kommen. Vielleicht aber die liebevollste Pflege, und zwar
ohne alle Anwendung von Zwangsmitteln seitens der Vorgesetzten, findet das
Volkslied im Heer. Soldaten haben zu allen Zeiten gern gesungen, — die
Menge der alten Volkslieder, die ausgesprochene Soldatenlieder sind, legt
Zeugnis dafür ab. Sie singen auch heute noch gern, auf dem Marsch, im
Biwak, beim Putzen, Gewehrreinigen und anderen langweiligen Beschäf-
tigungen. Die allgemeine Wehrpflicht macht das Heer zu einer zentralen
Erhaltungs- und Verbreitungsstätte des Volksliedes. Die Mannschaft der
jüngeren Jahrgänge lernt die Lieder von den „alten“ Leuten und gibt sie an
die nächste Generation weiter; in dem Gardekorps strömen Jahr für Jahr
Leute aus allen Teilen des Reichs zusammen; in den östlichen, wenig be-
völkerten, aber garnisonreichen Provinzen dienen Mannschaften aus den
westlichen, dichter bewohnten Gegenden, aus Schleswig-Holstein, Rheinland,
Westfalen, Hamburg; die Urlauber, die von den verschiedensten Truppen-
366 Max Oehler:
teilen an den Feiertagen in ihrem Heimatdorf oder Städtchen zusammen-
kommen, längere Zeit auf Übungsplätze, zur Schießschule, zum Lehrbataillou
usw. Kommandierte, — sie alle tragen zur Verbreitung ansprechender, leicht
faßlicher Lieder bei. Nur so erklärt es sich, daß eine große Zahl von
Liedern Gemeingut des ganzes Heeres ist und bleibt; man hört sie am Rhein,
in Thüringen, wie in Ostpreußen und Schlesien. Oft genug erhält man auf
die Frage, woher die Leute dieses oder jenes neu aufgetauchte Lied haben,
zur Antwort: Das hat der Gefreite N. von Urlaub mitgebracht, oder: Das
hat uns Sergeant X. (der von irgendeinem Kommando zurückgekehrt ist)
„gelernt“. Vor einigen Jahren hörte ich plötzlich von einer aus Hamburgern,
Westfalen und Westpreußen bestehenden Kompagnie oben im Nordosten des
Reichs mit Begeisterung ein Loblied auf Tirol singen: „Das schönste in
der Welt ist mein Tirolerland mit seinen stolzen Höh’n und seiner Felsen
wand“ usw. Ich bin überzeugt, nicht ein einziger von den Sängern wußte,
wo Tirol liegt. Nähere Nachforschungen ergaben, daß ein von einer süd-
deutschen Unteroffizierschule kommender Unteroffizier das Lied hier ein-
geführt hatte. Mit seiner hübschen, flotten Melodie bürgerte es sich rasch
bei fast allen Kompagnien des Regiments ein und wird heute noch gesungen.
Wie ein anderes Lied, in den das Schwabenland eine entscheidende
Rolle spielt, und das hier seit Jahren viel gesungen wird, sich nach dem
Norden verirrt hat, habe ich nicht ergründen können. Es lautet folgender-
maßen:
Auf dieser Welt hab’ ich keine Freud’, Und als ich kam über Berg und Tal,
Ich hab' nen Schatz, und der ist weit, Sah ich mein’ Schatz auf Schildwach
Er ist so weit, so weit, über Berg und Tal, stehn.
Daß ich ihn nicht mehr sehen kann. Mir sprang das Herz, mir tat’s so weh,
Und als Ich ging über Berg und Tal, Daß ich mein’ Schatz aufSchildwach seh.
Da sang so schön die Nachtigall, Und als ich kam in die Vorstadt hinein,
Sie sang so schön, so schön, sie sang Da schenkt er mir ein Ringelein,
so fein; Ein Ringelein an der rechten Hand,
Sie sang, ich sollte glücklich sein. Damit sollt ich ins Schwabenland.
Ins Schwabenland da will ich nicht,
Denn lange Kleider trag ich nicht;
Denn lange Kleider und spitze Schuh,
Die kommen keiner Dienstmagd zu.
Eines Tages hörte ich von vorwiegend aus Hamburg stammenden,
erst wenige Wochen dienenden Rekruten, die noch nie zusammen hatten
singen können, auf dem Marsch zum Schießstand ein bekanntes Soldatenlied.
Sie hätten es zu Hause oft von vorbeimarschierenden Abteilungen gehört,
sagten sie. Man kann häufig beobachten, daß die sich bei den Kasernen
herumtreibende Vorstadtjugend die in den Abendstunden aus den Kasernen-
fenstern erschallenden Lieder mit- und nachsingt; — ebenfalls ein wichtiger
Verbreitungsfaktor.
Was singen unsere Soldaten nun, wenn man sie singen läßt, was sie
wollen? Kürzlich hat man es für nötig erachtet, sich durch Verfügungen
des Marschgesangs im Heere anzunehmen und vor allem „Heil dir im
Siegerkranz“, „Ich bin ein Preuße“ und „Deutschland, Deutschland über
alles“ empfohlen. Man wird damit wenig Glück haben, denn derartige
Lieder sind gar nicht beliebt bei den Leuten: bald ist es der Text, bald
Soldatenlieder. 367
Rhythmus und Melodie, was ihrer Enıpfindungsweise nicht entspricht. Da-
gegen das Lied von dem Mädchen, das Brombeeren suchen ging und ganz
etwas anderes fand:
Es wollt’ ein Mädchen früh aufstehn,
Dreiviertel Stund’ vor Tag,
Im Wald wollt’ sie spazieren gehn,
Ju ja ju spazieren gehn,
Bis daß der Tag anbrach usw.;
oder: Kehr'n wir einst wieder
In unsrer Heimat ein,
Schwarzbraunes Mädel,
Du schenkst uns ein.....
oder: Setzt zusammen die Gewehre,
Legt ab des Tornisters Schwere,
Helm ab! hier ist Rendez-vous.
Laßt uns eins gemütlich singen,
Bald wird Horn und Trommel klingen,
Und vorbei ist's mit der Ruh.....
Das sind Lieder, die gern und freiwillig gesungen werden, die sich
jeder rasch aneignet, die nicht eingeübt zu werden brauchen; sie singen sich
von selbst, es sind Volkslieder. Es gibt viele Dutzende dieser Art, zuzeiten
verschwindet das eine oder das andere auf Jahre hinaus und scheint gänzlich
vergessen, da taucht es plötzlich wieder auf. |
Wer macht diese Lieder und ihre oft entzückenden Melodien, die so
untrennbar von dem Text sind, daß dem Kenner der Lieder immer eiwas
fehlt, wenn er sie geschrieben sieht, und daß er sie nur singend zu
lesen vermag? — Niemand weiß es. Es sind Volks-, es sind Soldatenlieder
der alten, echten Art: die alten, vertrauten Gestalten: der Jäger, der Wan-
derer, der Soldat auf einsamer Wacht oder zu Tode verwundet, der treue
Kamerad, das Mädchen, die Jägersfrau, die Frau Wirtin, die Müllerin; die
wohlbekannten Szenerien: der Wald mit Hirschen und Rehen und den
Vöglein, die so wunderschön singen und unter denen die Frau Nachtigall
den ersten Rang behauptet, Wiese und Garten, Blümlein und Bächlein, Berg
und Tal, ferne Straßen und blutige Schlachtfelder und die weite, weite Welt;
die uralten, ewig jungen Stoffe: Kampf und Tod für Freiheit und Vaterland,
Liebe, Treue und Untreue, Abschiedsweh, Verlassenheit und Wiedersehn,
Sehnsucht nach der Heimat und der Liebsten, Sterben und Begrabenwerden.
Von Gräbern und ihrem Blumenschmuck wird mit Vorliebe gesungen, 2. B.
in den folgenden hübschen Liedern:
Ist alles dunkel, ist alles trübe,
Dleweil mein Schatz 'nen andern liebt.
Ich hab’ geglaubt, sie liebet mich,
Aber nein, aber nein, sie hasset mich.
Was nützet mir ein schöner Garten,
Wenn andre drin spazieren gehn
Und pflücken mir die Blümlein ab,
Daran ich meine Freude hab.
N
Was nützet mir ein schönes Mädchen,
Wenn andre mit spazieren gehn
Und küssen ihr die Schönheit ab,
An der ich meine Freude hab'.
Ja, dort auf jenem Rasenhügel,
Da baut man mir ein einsam Haus,
Und wenn ich sie nicht lieben darf,
Dann kommen all die schwarzen Bruder
Und legen mich ins kühle Orab.
368 Max Oehler:
Die letzten Strophen des anderen Liedes lauten:
Ich muß wandern auf fremden Straßen, Auf meinem Grab, da könnt ihr's lesen,
Muß meinen Schatz einem andern lassen. Was für ein treuer Schatz gewesen,
Die ich hab so treu geliebt, Der hier liegt und der hier ruht.
Hat mich nun so sehr betrübt. Ach, sein Herz war treu und gut.
Auf mein Grab, da könnt ihr pflanzen
Viel schöne Blumen, schöne Pflanzen,
Auch die eine, die da spricht:
Leb wohl, leb wohl, vergiß mein nicht.
Doch nicht immer überläßt man sich der Trübsal, sondern gefällt
sich in Trotz und Hohn:
Sie sagt', ich sollt' sie nehmen,
Sobald der Sommer kommt.
Der Sommer ist gekommen,
Ich hab’ sie nicht genommen;
Scher dich weg von mir, scher dich weg von mir,
Scher dich weg von meiner Tür.“)
oder: Deine Schönheit reizt ınich nimmer,
Denn es gibt ja viele Frauenzimmer,
Die viel schöner sind wie du,
Die viel schöner sind wie du.
Es wäre nun wunderbar, wenn im Heer mit seiner Ununterbrochen-
heit der Entwicklung, seiner hohen Bewertung der Überlieferung, seinem
steten Anknüpfen an das Gewesene, — wenn in dieser Sammel- und Be-
wahrungsstätte des Volksliedes sich neben den neueren nicht noch Reste der
alten Lieder erhalten hätten. Und in der Tat bringt das Durchblättern
jeder beliebigen Sammlung alter Volkslieder den Beweis, daß es so ist. Ich
greife die deutschen Volkslieder „Von Rosen ein Krentzelein“ (K. R. Lange-
wiesche) heraus und stelle hier einige der alten Texte und ihrer neueren
Varianten zusammen. Es handelt sich bei den letzteren nur um solche, die
ich selbst in den letzten Jahren von Soldaten habe singen hören. Da ist
zunächst das alte Lied „Marlbruck“. Der Herausgeber der genannten Samm-
lung sagt darüber: „Das Lied verdankte seine Entstehung dem Gerücht, daß
Marlborough in der Schlacht bei Malplaquet 1709 gefallen sei... Seine Ver-
breitung in Deutschland bezeugen frühzeitig fliegende Blätter:
Alte Fassung:
Marlbruck zog aus zum Kriege, Sah ihren Pagen kommen,
Weiß nicht, kommt er zurück. Wie traurig kam er her.
Er kommt auf Ostern wieder, „Ach Page, lieber Page,
Längst Trinitatis noch. Was bringst du Neues mit?“
Trinite ist nun vorüber, „Das Neue, das ich bringe,
Marlbruck kam nicht zurück. Macht schöne Augen naß.
Madame stieg in die Höhe, Leg ab die rosigen Kleider
So hoch sie steigen kann, Und deinen Blumenschmuck.
*) Die weite Verbreitung des Liedes, dem diese Strophe entnommen Ist, und das zu den be-
liebtesten Soldatenliedern gehört, wird dadurch bezeugt, daß Tetzner in seinem Buch „Die Slawen
In Deutschland- (Braunschweig 1903) es unter den Hochzeitsliedern der Polaben anführt. Auch
zwei andere ausgesprochene und bekannte Soldatenlieder nennt er unter den Liedern der Kuren.
Soldatenlieder. 369
Dein Marlbruck ist gestorben, Sein großes Schwert ein dritter,
Tot und begraben schon. Der vierte, der trug nichts.
Ich sah'n zu Grabe tragen, Um seines Grabes Hügel
Vier Offiziers trugen ihn. Ist Rosmarin gepflanzt.
Der eine trug den Harnisch, Auf seinem höchsten Zweige
Der andre seinen Schild. Schlug eine Nachtigall.“
usw.
Neue Variante:
Ein Fähnrich zog zum Kriege, „Die Neuheit, die ich bringe,
Widibummvallera, juchheirassa! Macht dir die Auglein rot.
Ein Fähnrich zog zum Kriege, Dein Fähnrich ist erschossen,
Yes 1 87 nn er 1 9 ' Ist tot und lebt nicht mehr.
r weiß, kehrt er zurück ?*
ee Bene Ich hab’ ihn sehn begraben
Er liebt’ ein schwarzbraunes Mädchen, Von vielen Offiziers.
Die war so wunderschön. Der erste trug sein'n Küraß,
ER: Der zweite sein Gewehr,
Sie ging zum hohen Berge
Und schaute nach ihm aus. Der dritte seinen Degen,
Der vierte seinen Hut.
Sie sah einen Fähnrich kommen,
Über sein Grab wurde geschossen
Von Blut war er so rot.
Mit Pulver ohne Blei.
„Ach Fähnrich, lieber Fähnrich, Da droben auf jenem Hügel,
Was bringst du Neues mir ?* Da singt die Nachtigall.“
In dem sehr alten Lied von der schwarzbraunen Hexe, die von dem
wilden Jäger zu Tode gehetzt wird, heißt es am Schluß:
Es wuchsen drei Lilien auf ihrem Grab,
Es kam ein Reiter, wollt’s brechen ab.
„Ach Reiter, laß die Lilien stan!
Es soll sie ein jung frischer Jäger han!“
Dasselbe Motiv behandelt ein von den Soldaten viel gesungenes Lied:
Drei Lilien, drei Lilien, Und sterbe ich noch heute,
Die pflanzt’ ich auf mein Grab; So bin ich morgen tot,
Da kam ein stolzer Reiter Dann begraben mich die Leute
Und pflückt sie ab. Ums Morgenrot.
Ach Reitersmann, ach Reitersmann, Ums Morgenrot, ums Morgenrot
Laß doch die Lilien stehn; Will ich begraben sein,
Die soll ja mein Feinsliebchen Da bin ich bei meinem Feinsliebchen
Noch einmal sehn. So ganz allein.
Auch das zuerst 1560 in Augsburg gedruckte Lied vom Gretlein, das
von ihrem Liebsten von des Vaters Hof geführt wird, lebt noch heute unter
den Soldaten:
) Ich gebe die erste Strophe mit allen Wiederholungen, wie sie die einfache, im Marsch-
rhythmus etwas elntönig dahinfließende Melodie verlangt.
370 Max Oehler:
Alte Fassung:
Da nahm er's bei den Händen,
Bei ihrer schneeweißen Hand,
Er führt’ es an ein Ende,
Da er ein Wirtshaus fand.
Die Gret hub an zu weinen.
„Ach Gretlein, liebstes Gretlein,
Warum weinest du so sehr?
Reuet dich dein freier Mut
Oder reuet dich dein’ Ehr'?“
Es reut mich nicht mein freier Mut,
Dazu auch nicht meine Ehr’,
Es reuen mich meine Kleider,
Die werden mir nimmermehr.“
„Nun Wirtin, liebe Wirtin,
Schaut aus um kühlen Wein;
Die Kleider dieses Gretlein
Müssen verschlemmet sein.“
„Ach Gretlein, liebstes Gretlein,
Nun laß dein Weinen sein,
Gehst du mit einem Kindlein klein,
Ich will der Vater sein.“
usw.
Neue Variante:
„Lieb Mädchen, warum weinest du?
Weinst du um deinen stolzen Mut?
Oder weinst um deine Ehre,
Die du längst verloren hast?“
Ich ging einmal spazieren
In einem grünen Wald,
Da begegnet’ mir ein Mädchen
Von den Jahren achtzehn alt.
Ich nahm das Mädchen bei der Hand
Und führt’ sie in den grünen Wald,
In dem Walde, ja im Walde,
„Ich weine nicht um meinen Mut,
Auch nicht um meines Vaters Gut,
Doch ich hab’ hier was verloren,
In dem Wald in ein Wirtshaus rein.
„Frau Wirtin, schenken Sie mal ein
Für dieses Mädchen Bier oder Wein,
Denn sie hat ja Sammet und Seide
Und das muß versoffen sein.“
Und als das Mädchen das vernahm,
Und das finde ich nicht mehr.“
„Hast du etwas verloren? —
Einen Sohn hast du geboren,
Darum weinest du, darum weinest du,
Darum weinest du so sehr!* „
Ich dreht’ mich um und lacht’ sie aus
Und such’ mir eine andre aus.
„Ohne dich, ja ja, ohne dich, ja ja,
Ohne dich kann ich schon sein!“
Da fing sie sehr zu weinen an,
Ja sie weinte, ja sie weinte,
Ja sie weinte bitterlich.
Das Zwiegespräch: „Weinst du um deinen stolzen Mut,
Oder weinst um deines Vaters Gut,
Oder weinst um deine Ehre?“ usw.
kommt so oder ähnlich sehr häufig in den alten Liedern vor. Ich finde esin
der genannten Sammlung noch in „Ulrich und Ännchen“, „Stolz Sieburg“ und
„Das Mädchen und der Reiter“. Das letztere hat — wenigstens mit den
ersten Strophen — den Grundstock zu einem noch jetzt verbreiteten Soldaten-
lied abgegeben:
Alte Fassung:
Es ritt ein Reiter zum Berg hinauf.
Was sah er auf der Straße stehn ?
Ein junges Mädchen, und das war schön-
Er red’t mit ihr, er sprach zu ihr:
„Willst du nach meinem Willen tun?
Auf gruniger Heide zu jagen?“
Soldatenlieder. 371
„Nach eurem Willen tu’ ich nicht, „Und weinst du vielleicht über Geld
Auf gruniger Heide jag’ ich nicht, und Gut?,
Ich will eine Jungfrau bleibe. — — — — — — - — - - — —
Ich bin ein Mädchen von achtzehn Jahr
Und trage ein Kränzlein im schwarz-
braunen Haar,
Die Rosen will ich brechen.“
‚Ich weine um meine Ehre.
Und als sie die erste Rose brach, Ich weine um meinen Rosenkranz,
Da rannen ihr die Tränen 'rab, Der liegt zu Straßburg auf der Schanz,
Da fing sie an zu weinen. Den darf ich nicht mehr tragen.“
Neue Variante:
Es wollt' ein Jäger jagen Das tat den Jäger verdrießen,
Dreiviertelstund’ vor Tagen Er wollte das Mädchen erschießen
Wohl in dem grünen Wald. Wohl um das einzige Wort.
Da begegnet’ ihm auf der Heide Das Mädchen fiel ihm zu Füßen,
Ein Mädchen im weißen Kleide, Er sollte sie doch nicht erschießen
Die wollt' er haben zur Eh’. Nur um das einzige Wort.
Er tät’ das Mädchen wohl fragen, Er tät sich gleich wieder bedenken,
Ob sie ihm helfen wollt' jagen Er wollte das Leben ihr schenken
Ein Hirschlein oder ein Reh. Um Ihre süße Lieb’.
„Dir jagen helfen, das tu’ ich nicht, „Das Kränzlein sollst du bald tragen,
Das ist der Mädchen Arbeit nicht, Ein schneeweißes Häublein und Kragen.
Du bist ein schlechter Jägersmann!“ Und wirst meine Jägersfrau.“
Das traurige Lied vom jungen Grafen, dessen Liebste ins Kloster geht
und dem darüber das Herz bricht, läßt sich bis ins 15. Jahrhundert zurück-
verfolgen; es wird in veränderter Fassung überall im deutschen Heer viel ge-
sungen. Das Urteil Herders über die mir nicht bekannte alte Melodie:
„traurig und rührend; an Einfalt beinahe ein Kirchengesang“, paßt durchaus
auf die jetzige, die also im wesentlichen wohl unverändert geblieben ist. Die
neue Fassung lautet:
Es welken alle Blätter, ‚Ist eine reingekommen,
Sie fallen alle ab, So kommt auch keine raus.
So muß ich mein’n Schatz verlassen, Und wer drin ist, muß drin bleiben
Den ich geliebet hab'. Im dunklen Nonnenhaus.“
Ins Kloster wollt' sie gehen, Da kam sie an die Pforte,
Wollt' werden eine Nonn', Schneeweiß war wohl ihr Kleid,
So muß ich die Welt durchreisen, Und ihr Haar war abgeschnitten,
Bis daß ich zu ihr komm'. Zur Nonn' war sie bereit.
Am Kloster angekommen, Was trug sie in dem Körbchen?
Ganz leise klopft’ ich an: Zwei Flaschen roten Wein.
„Gebt heraus die jüngste Nonne, „So leb’ wohl, mein Herzallerliebster,
Die zuletzt ins Kloster kam!“ Das soll dein Abschied sein.“
Drauf hat er noch getrunken
Die zwei Flaschen roten Wein,
Und nach dreimal dreißig Stunden,
Starb er zu Köln am Rhein.
372 Max Oehler:
Alte Fassung (letzte Strophen):
Und da sie vor's Kloster kamen, Das Nönnlein kam gegangen i
Wohl vor das hohe Tor, In einem schneeweißen Kleid, :
Fragt’ er nach der jüngsten Nonne, Ihr Härl war abgeschnitten, l
Die in dem Kloster war. Ihr roter Mund war bleich.
Der Knab’, er setzt’ sich nieder,
Er saß auf einem Stein,
Er weint’ die hellen Tränen,
Brach ihm sein Herz entzwei.
Man muß es bedauern, daß bei einigen Liedern die neuere Fassung
eine gröbere, unkultiviertere Form zeigt als die alte.
* *
* i
In der Tagesliteratur tauchen hier und da Notizen auf, die das leb- 4
hafte Interesse weiter Kreise für die Volksdichtung bekunden. Es erstreckt
sich häufig gerade auf Soldatenlieder im engeren Sinne, so das schon seit a
Mitte des vorigen Jahrhunderts bekannte Reservistenlied: |
Was blinkt so freundlich in der Ferne?
Es ist das liebe Vaterhaus.
Wir sind Soldaten, sind es gerne,
Doch jetzt ist unsre Dienstzeit aus.
Drum, Brüder, stoßt die Gläser an,
Es lebe der Reservemann.
Wer treu gedient hat seine Zeit,
Dem sei ein volles Glas geweiht.
usw.
oder die alte „Rewelge“ (auch in der Sammlung „Von Rosen ein Krentzelein“),
deren Anfangsstrophe der Stamm eines neuen Textes geworden ist:
Des Morgens zwischen dreien und vieren,
Da müssen wir Soldaten marschieren
Das Gäßlein auf und ab,
Feinsliebchen schaut herab.
oder die merkwürdige, bei den Soldaten sehr beliebte Umformung des
wackeren „Ich hatt’ einen Kameraden,“ die jeder Strophe folgenden Refrain
angehängt hat:
Gloria! Viktoria!
Mit Herz und Hand
Fürs Vaterland!
Die Vöglein im Walde,
Die sangen so schön;
In der Heimat, in der Heimat,
Da gibt's ein Wiedersehn!
Es wäre zu wünschen, daß das offenbar vorhandene Interesse für den
Volksgesang sich auch betätigte. Es ist eine so kleine Mühe, derartige
Lieder auſzuschreiben; freilich muß durchaus auch die Melodie festge-
halten werden: mit dem Text hat man das Volkslied erst halb. In jeder
Provinz gibt es heute Vereine und Gesellschaften für Volkskunde, Landes-
geschichte usw. und zahlreiche andere Sammelstellen, die für jeden Beitrag
aus privaten Kreisen dankbar sind. Warum will unsere Zeit, der das
Sammeln doch so außerordentlich erleichtert ist, sich von späteren Ge-
Soldatenlieder. 373
schlechtern vorwerfen lassen, sie habe vor lauter Eifer für das Alte
bemerkenswerte Erzeugnisse der Gegenwart vernachlässigt, warum soll ihnen
die Entdeckung vorbehalten bleiben, daß es auch um 1900 herum ein
lebendiges Volkslied gegeben habe? — Pfarrer, Lehrer, Offiziere, Guts-
besitzer, Fabrik-Leiter — alle, die mit dem Volk noch in wirklich enge,
tägliche Berührung kommen, sollten sich verpflichtet fühlen, mitzuhelfen, daß
nicht Wertvolles unbeachtet am Wege liegen bleibe. Es singt und dichtet
nach wie vor im deutschen Volk; es kommt nur darauf an, daß man zu
hören versteht.
* *
*
Wenn von Soldatenliedern die Rede ist, muß ich stets eines unvergeß-
lichen Erlebnisses mit dem Dichter gedenken, der den einzigartigen Volkston
quellfrischer Ursprünglichkeit wie wenige zu treffen wußte, Detlev v. Liliencron.
Wir hatten eines Abends in Weimar scharf pokuliert und endigten in später
Stunde in einem Kaffeehaus. Das Gespräch kam auf Soldatenlieder und
plötzlich stand der damals, wenn ich nicht irre, 64jährige Dichter auf und
sang, begeistert wie ein Fähnrich und unbekümmert um die spärlich umher-
sitzenden Gäste mit halblauter Stimme:
Ein Schifflein sah ich fahren,
Kapitän und Leutenant;
Darinnen waren geladen
Zwei brave Kompagnien Soldaten,
Kapitän, Leutenant,
Fähnrich, Sergeant,
Nimm das Mädel, nimm das Mädel bei der Hand, vallera!
Kameraden, Soldaten,
Nimm das Mädel, nimm das Mädel bei der Hand.
Wenige Wochen später erhielt ich aus Alt-Rahlstedt bei Hamburg
folgenden, das warme Interesse des Dichters bekundenden Brief: „Recht
vielen Dank für die gütige Übersendung der Soldaten-(Volks-) Lieder, die mich
sehr interessiert haben. Die eine Strophe“)
Horch, „das Ganze“ wird geblasen!
Hahn in Ruh! — den grünen Rasen
Deckt manch tapfrer Kriegersmann.
Beim Appell wird mancher schweigen,
Und die blinden Rotten““) zeigen,
Daß der Feind auch schießen kann.
habe ich mir abgeschrieben.
Der Refrain des herrlichen, wahrscheinlich uralten Soldatenliedes:
„Ein Schifflein sah ich fahren“ heißt: Kamerade, Soldate; das n fehlt hier.
Wahrscheinlich stammt es aus Süddeutschland. In alten gedruckten Volks-
und Soldatenliedern steht es immer ohne n.
Ihr
sehr ergebener Kamerad
Liliencron.“
+) Aus dem oben erwähnten Lied: „Setzt zusammen die Gewehre.“
*) Rotte“ heißen zwei hintereinander stehende Leute in der Kompagnie; „blind“ ist eine
Rotte, bei der der eine Mann fehlt.
374
Politische Rundschau.
ie Welt ist wieder einmal aus den Angeln gegangen. Das Geschiebe
der Mächte gegeneinander lockert das Gefüge alter Verbindungen
und bringt neue in die Erscheinung. Der Anstoß ist durch die tat-
sächlich eingetretenen Machtveränderungen gegeben, wie sie der unerwartete
Zusammenbruch der Türkei zur Folge hat. Im Niederbruch der Türkei kündigen
sich die ersten Anzeichen der großen, westwärts gerichteten Bewegung des
Slaventums an. Hat die Größe des Russentums immer darin bestanden, un-
erschüttert zu bleiben, trotzdem es politisch oder militärisch so oft in seiner
Geschichte niedergeworfen wurde, so zeigen die Völker des Balkans eine
Energie und Aktivität, die man dem Slaventum glaubte absprechen zu können.
Unsere Militärs aber können mehr aus diesen Ereignissen lernen, als
Strategie und Technik, und zwar, daß es möglich ist, in der Spanne Zeit
von 1879 bis 1912, also in einigen dreißig Jahren, eine moderne Armee aus
dem nichts zu schaffen, wenn ein kriegerisches Volkstum bewußt in den
Dienst der Durchsetzung seines Willens sich stellt. Die gänzliche Enttäuschung,
welche die türkische Armee ihren deutschen Lehrherren bereitet hat, zeigt,
daß alle Instruktion nur einen militärischen Scheinorganismus ins Leben ruft,
wenn dahinter ein sieches, leidendes Volkstum steht, und daß daran auch durch
die physische Eignung des „Soldatenmaterials“ gar nichts geändert wird.
Wie nach Clausewitz der Krieg die Fortsetzung der Politik mit Mitteln
der Gewalt ist, so ist die Armee nur das Werkzeug, die Rüstung, die eine
Nation anlegt, um ihren letzten Willen durchzusetzen.
Der Militär, der nichts als Soldat sein will, und der Pazifizist glauben
das nicht, sie sehen beide in der Armee eine künstliche Gewaltorganisation,
die man sich schaffen kann oder die man abschaffen kann. Der Exerzierplatz-
soldat und der Paziſizist aber sind die gefährlichsten Elemente im politischen
Leben der Nationen.
Der Zusammenbruch Preußens im Jahre 1806 ist das größte Beispiel
dafür, wohin ein Volk 50 Jahre nach eiuer Heroenära größten Stils kommen
kann, wenn der humanitäre Geist die kriegerische Opferfähigkeit, die allein
den Soldaten macht, zersetzt hat und deshalb die formale soldatische Aus-
bildung zu einem taktischen Künstlertum ausgebildet ist.
Das sollten unsere Verantwortlichen, die leider so oft ganz unverant-
wortlich handeln und sind, in erster Linie prüfen, ob in unserer Armee nicht
wiederum ein Friedenssoldatentum zur Ausbildung gelangt ist, ob nicht die
2. B. symptomatische Einführung friderizianischer Paradegriffe bei der am
schwersten von solchem Geist betroffenen Garde nicht nur wertvolle, bei
zweijähriger Dienstzeit unentbehrliche Ausbildungszeit wegnemmt, sondern
auch den Geist moderner Fechtweise zerstört.
Das ist keine Pflege der Tradition: gewiß, die Helden von Mollwitz,
Hohenfriedberg, Kolin, Prag und Leuthen, die im taktmäßigen Marschschrilt
in den Feind avancierten, sie haben exerziert „wie die Puppen“, nicht aber,
um als Exerzierkünstler Vorstellungen zu geben, sondern um die Unvoll-
kommenheit ihres Gewehrs zum Ausgleich zu bringen, die „Griffe“ dienten
dazu, die vier Schuß in der Minute beim Avancieren „im währenden Char-
gieren“, für dessen Geschwindigkeit die Preußen berühmt waren, heraus-
zubringen.
Der alte Fritz hätte große Augen gemacht, hätte ihm jemand „rekom-
mandieren“ wollen, zur Pflege der Tradition seiner Infanterie etwa die
Exerziergriffe aus der Zeit des alten Derfflinger beizubringen — er hätte es
aber beim Augenmachen nicht bewenden lassen.
Politische Rundschau. 375
Meide auch den bösen Schein, ist ein sehr walıres Wort. Wenn heute
die Franzosen hoffen, uns in dem kommenden Kriege zu schlagen, so gründet
sich diese Hoffnung darauf, daß sie glauben, die deutsche Armee sei durch
ihr Friedenssoldatentum ruiniert. Droht uns diese Gefahr, so muß sie freilich
laut ausgerufen werden, das ist armselige Philisterpolitik geborener Geheim-
ratsseelen, daß man nicht das Vertrauen in die Heeresleitung erschüttern dürfte.
Das ist Chinesenpolitik, Gift für ein Volk der allgemeinen Wehrpflicht, aber
dieser vormärzliche Geist, dem alles Frühjahrsbrausen des Geistes von 1813
so ganz fremd ist, sitzt tief als Erbteil der bureaukratischen Zeit im Deutschen.
Die Gerichte darf man nicht kritisieren, denn das erschüttert das Vertrauen
in unsere Rechtspilege, den Kaiser darf man nicht kritisieren, denn das er-
schüttert das monarchische Gefühl; — die Regierung schwebt ja bekanntlich
zu dem Zweck, um jeder Kritik entzogen zu sein, über den Parteien im
lichten Blau und kann deshalb nicht „erschüttert“ werden, so daß einem
nichts mehr übrig bleibt, als selbst erschüttert diesem Geist gegenüberzustehen.
Nun können wir aber in Rechtspflege, Verwaltung und Regierung mit
noch so langsamer innerpolitischer Arbeit bestehende Fehler beseitigen, in
militärischen Fragen aber können wir Mängel unseres Heerwesens mit
unserer nationalen Existenz büßen müssen. Da ist laute Kritik nicht nur er-
laubt, sondern notwendig und für das Heer selbst das Beste. Wie oft hat
man nicht in früheren Jahren seine liebe Not damit gehabt, den lieben Nach-
barn davon zu überzeugen, daß, wenn an der Bemannung, an der Panzerung,
der artilleristischen Bestückung der englischen Flotte jenseits des Kanals
laute und unentwegte Kritik geübt wurde, das nicht das Eingeständnis ihrer
Minderwertigkeit wäre, sondern daß dort eine politisch durchgeschulte Nation
init eifersüchtiger Sorge darüber wachte, daß die Waffe der äußeren Politik
Englands nicht stumpf würde.
So und nicht anders müssen bei uns die patriotischen Organisationen,
nicht zuletzt der Wehrverein, wirken, der nicht dafür erforderlich ist, um uns
eine heute doch sichere Majorität des Reichstages für etwaige Militärforde-
rungen der Regierung zu gewinnen, sondern um die öffentliche Aufmerksanı-
keit auf diese Lebensfrage der Nation hinzulenken, sich bei sel»stzufriedenen
Erklärungen vor- oder nachgeordneter Stellen nicht zu beruhigen, sondern
sich zu überzeugen, ob an allen Enden das Nötige geschieht.
Das nennt man öffentliche Meinung in England, nicht die Meinung der
Vielzuvielen, die unsere Presse machen.
Dürfen wir aber ohne Sorge sein, wenn unser erster Kavallerist
v. Bernhardi aller Welt im Tag verkündet, daß unsere Kavallerie grundsätzlich
keine kriegsgeschichtlichen Studien triebe und ihre Offiziere sich mit Pferde-
dressur und der Tätigkeit des Reitlehrers zufrieden gäben, können wir ruhig
zusehen, wenn wir feststellen, daß für die Kavallerie äußerlich alles geschieht,
dagegen die heute so unendlich viel wichtigere Artillerie aus einer Animosität
heraus, die auch für eine sehr komische „Tradition“ erklärt wird, in ihrer
Bespannung, Organisation und dem Avancement ihrer Offiziere in höhere
Stellen zurückgesetzt wird, so daß ein höherer Offizier einmal vertraulich
äußerte, ein Artillerist kann nur vorwärts konmen, wenn er auf seine eigene
Waffe schimpft, dann beweist er nämlich, daß er ein eminent praktischer
Soldat ist. Ist die Überalterung unseres Offizierkorps, die Zurücksetzung
des bürgerlichen Elements, die nur Lakaien und solche, die es besser ge-
worden wären, leugnen können, nicht eine weitere Gefahr?
Besteht bei uns nicht eine herkömmliche Inversion des Begriffs „kriegs-
mäßig“, wenn alle unbequemen Neuerungen zunächst einmal als unkriegs-
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376 Politische Rundschau.
mäßig abgelehnt werden: so war es beim Fußgefecht der Kavallerie, dem
Rohrrücklauf und den Schutzschilden bei der Artillerie (wo wir es 1896 fertig
brachten, ein gänzlich veraltetes, nachher mit Riesenkosten umgeändertes Ge-
schütz einzuführen), und nicht zuletzt beim Luftschiffwesen.
Gewiß haben auch alle anderen Armeen ohne Ausnahme ihre tradi-
tionellen Fehler, und gewiß vertrauen wir, daß im Ernstfall die Güte unseres
Soldaten- und Offiziermaterials und der lebendige Geist kraftvoller Tüchtig-
keit der deutschen Nation alles durchholen wird, weil im Kriege die Spreu
von dem Weizen sehr schnell sich scheidet, aber einen förmlichen Kultus mit
unseren Einseitigkeiten brauchen wir doch nicht zu treiben. Alles Improvi-
sieren im Ernstfall aber ist heute schwieriger geworden, bei der gesteigerten
Technik ist es teilweise ganz ausgeschlossen.
Die Jahrhundertfeier von 1813 können wir auf diesem Gebiet vor-
trefflich im „Geist und in der Wahrheit“ tätig begehen.
In der äußeren Politik hat unsere Regierung schon wieder „Erfolge“,
und das ist nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ein nicht bedenken-
freies Symptom. Herr v. Jagow, dem unsere äußeren Geschicke anvertraut
sind, hat ein Kräutlein Rührmichnichtan in seinem Gärtlein gezogen, die
deutsch-englische Verständigung, und hat einen rechtzeitig noch umredigierten
Bericht über das plötzliche Aufblühen dieser Wunderblume veröffentlicht.
Tirpitz hat dann dieselbe hofinungsvolle Aussicht eröffnet, daß wir uns
mit einem Flottenverhältnis 10: 16 England gegenüber begnügen wollten —-
und England, ja England hat sich noch nicht erklärt, aber der Prinz von
Wales, Gott sei Dank der junge und nicht Viktorias biederer Sohn, wird
uns bei den Manövern besuchen! Altengland erwartet, daß jedermann in
Deutschland seine Pflicht tue.
Zunächst dürften diese Freudenbotschaflen doch auf ihren realen Ge-
halt zurückzuführen sein, der kein anderer ist als der, daß Deutschland Eng-
land gegenüber den Verzicht auf eine Rivalität zur See ausspricht. Das kann
sehr gut, sehr erfolgversprechend für die Zukunft sein, aber eins ist es nicht,
nämlich ein Erfolg, denn das Vergnügen hätten wir uns schon früher jeder-
zeit leisten können. Wir erkennen dadurch an, daß England uns durch die
Triple-Entente mattgesetzt hat, und es ist sehr die Frage, ob es nicht richtiger
war, in der trotzigen Haltung des eingekreisten Bären zu verharren, bis der
unnatürliche Bund England Rußland - Frankreich zerbrach. Fraglich ist
ferner, ob es gut war und ob darin nicht lediglich eine Fortsetzung des mit
Recht in deutschen Landen so unbeliebt gewordenen Zickzackkurses liegt,
daß man das so laut gepriesene Einverständnis mit Rußland wieder preisgab,
dessen Feindschaft sich auf den Hals zog, ohne auch nur die geringste
faktische Gegenleistung Englands zu erlangen.
Das sind Fragen, die nicht im bejahenden oder verneinenden Sinn hier
entschieden werden können und sollen, denn die Verschiebung hat sich eben,
wie am Eingang gesagt, außerhalb dieser Bündnisse durch das elementare
Ereignis des Zusanımenbruchs der Türkei vollzogen. Wer wie Schultze-
Gävernitz es in seinem Vortrage in Bremen in sehr geistreicher Weise getan
hat, unsere äußere Politik nur im Gegensatz zu England sieht, muß es als
Erfolg buchen, daß Verhältnisse eingetreten sind, durch die fraglos ein ge-
meinsames Bedürfnis geschaffen ist, dem Vordringen des von Rußland ge-
führten Slaventums ein Paroli zu bieten.
Realpolitisch ist die Situation aber doch die, daß mit dem Niederbruch
der Türkei ein Gegengewicht unserer Auslandspolitik gegen Rußland aus-
gefallen ist, daß Rußland mit seinen Hilfsvölkern Osterreich flankierend um-
Politische Rundschau. 377
laßt und wir bei unserem Angewiesensein auf Österreich diese Gefahr eines
über den Balkan führenden Vormarsches Rußlands als so groß und drängend
erkennen müssen, daß wir die Front dorthin nehmen müssen und uns die
Auseinandersetzung mit England nicht mehr leisten können. Dabei kommt
uns allerdings zustatten, daß England den russischen Vormarsch kaum weniger
ernst ansehen muß als wir: es ist wieder vor die wirklichen Probleme seiner
Politik gestellt und muß, wie hier stets betont worden ist, den starken Arm
Deutschlands gewinnen, als der einzigen Macht, die im Bunde mit Österreich
Rußland in Schach zu halten vermag.
Es ist ein bitterer Entschluß, wenn wir, um nicht überall ausgeschaltet
zu werden, wieder der Soldat Englands auf dem Kontinent nicht immer
rühmlichen Andenkens werden sollen. Wäre eine Lösung unserer Schwierig-
keiten durch Vereinbarung mit Rußland nicht leichter zu haben gewesen,
wird Rußland jetzt nicht bei der Regelung der Balkanherrschaft eine Öster-
reich und damit uns an Macht und Ansehen schädigende Politik weiter
treiben? Sollte bei der neusten Wendung unserer Politik nicht das einfache
Bedürfnis mitgespielt haben, aus der Isolierung herauszukommen ?
Jedenfalls bringt uns die neueste Entwicklung wieder der Gefahr eines
Krieges mit Rußland und Frankreich näher, den Frankreich neuerdings direkt
sucht. Das peinigende Gefühl will sich nicht von unserer Seele lösen, daß
wir unser Geschick wieder aus der Hand Englands empfangen. Wir haben
unsere ganze türkisch-muhammedanische Politik liquidiert, ohne einen Pfennig
aus der Masse zu erhalten, und das Lied von der deutschen Treue hat in
den Ohren der muhammedanischen Welt einen bösen Nachklang bekommen,
wer hätte den offenen Brief Enver Beys ohne Herzbeklemmung lesen können.
Mußten wir denn, um durchaus dabei zu sein, auch unter der Note der
Note der Mächte stehen, durch die den Türken der Rat gegeben wurde,
Adrianopel aufzugeben, so daß dann Konstantinopel einem späteren Angriff
offen liegt?
Wenn sich heute der Blick rückwärts wendet auf die versäumte Ge-
legenheit Preußens von 1805, so sicherte sich Preußen damals durch Opfer
an Prestige den Frieden, während sein Gebiet durch innerdeutschen und
polnischen Erwerb geradezu ungeheuerlich anschwoll. Die Kreuzzeitung be-
lehrt uns, daß jener Frieden ein erbärmlicher, der heutige ein ehrenvoller
sei — jedenfalls wurde er damals und heute durch ein Verzicht auf die
Durchsetzung erkennbarer Ziele der äußeren Politik erreicht.
Wir sehen eine unfruchtbare Politik, die sich in immer stärkere
Rüstungen hüllt. Hatte aber Goethe recht, der gesagt hat, daß kein Staat
auf die Dauer einen nur auf die Defensive gerichteten Zustand ertragen
könne, so fragt man sich, was soll dieses immer stärkere Anhäufen materieller
Mittel des Krieges, wenn nicht der Wille dahinter steht, sie einzusetzen.
Wieder beschleicht eine Sorge das Herz bes Patrioten, daß eine entschlußlose
Regierung den nationalen Willen ablenken will auf neue Wehrforderungen,
alle die gute Opferfreudigkeit unseres Volkes in Anspruch nehmen will, um
sich neue Werkzeuge in die Hand legen zu lassen, die totes Kapital sind,
wenn dadurch nur ein vollkommenerer Zustand des bewaffneten Friedens
herbeigeführt wird.
In solchen Zeiten bedarf man mehr als je des aus der geschichtlichen
Entwicklung geschöpften Vertrauens, daß auch die großen Staatsmänner nur
Vollstrecker des immanenten Stromes des nationalen Willens sind, der, wenn
er aus unversiegbaren Quellen strömt, seinen Weg gehen muß, und wenn ihn
das Stauwerk des Kleinmutes verlangsamt und das Blachfeld der Entschluß-
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378 | Curt Stoermer:
losigkeit in anscheinend planlosen Windungen dahinführt, schließlich zieht er
mächtig und unaufhaltsam und zielsicher seine Straße.
Das Jahr 1813 ist das größte geschichtliche Beispiel, wie der nationale
Wille fast ohne Leib, ohne militärische Organisation, ohne alle materiellen
Mittel gegen den Schaukelgang einer kopflosen Regierung seinen Weg sicli
gebahnt hat durch alle vornehme und minder vornehme Erbärmlichkeit zum
Stoß in das Herz seines Vergewaltigers. Ob unser Volk solcher Leistung
heute fähig ist, das liest sich nicht an den Stimmzetteln der staatserhaltenden
Parteien ab, das kann auch mit aus dem Zorn einer revolutionären Be-
wegung geboren werden, wenn sie nur echt war. Die Geschichte fließt stets
aus unterirdischen Quellen, die man nicht als politischer Moses aus den
Steinen schlagen kann, die aber die hellhörigen Kinder des Glückes zur
rechten Zeit erlauschen. Keine laute Feier darf uns im Jahre 1913 vereinen,
aber eine stille der inneren Einkehr, der Sammlung zum Entschluß — zur
rechtzeitigen Tat.
Bremensis.
Curt Stoermer: Paula Becker-Modersohn.
ast sechs Jahre vergingen seit ihrem Tode, seit jenen Tagen, da die
Werke der Lebenden noch dem allgemeinen Mißverständnis der
Öffentlichkeit begegneten. Inzwischen hat sich gezeigt, daß die
Aversion der Leute damals sogar ihr Gutes gehabt hat. Sie begünstigte das
Wachsen einer Stille, in der sich eine Gruppe von Menschen fand, die das
Wesen der Toten und ihre Kunst in sich entstehen ließen, einer Stille in
ihrem Angedenken. Indem diese Nachfühlenden all ihre Werke als Dokumente
eines wesentlichen Menschen erkannten und ihrem Werdegange folgten, er-
kannten sie als dessen Tendenz ein unbegrenztes Stilbewußtsein, alle gleich-
zeitigen und späteren Probleme umfassend, typisch für die ganze Entwicklung |
der neuen Malerei.
Da diese Schlußfolgerung durch die letzten Ausstellungen, in denen
neue deutsche Malerei zur Geltung kam, nur gefestigt wurde, entschloß man
sich, noch einmal mit einer umfassenden Sammlung von Werken Paula
Modersohns vor die Gemeinde hinzutreten. Man hatte eine freundlichere Um-
gebung gewählt, als sie die gewöhnlichen Kunstausstellungen bieten können.
Die Ausstellung findet im Folkwang-Museum in Hagen i. W. statt, jetzt im
Februar 1913.
Paula Modersohn war einige Jahre Schülerin von Mackensen. Man
fühlt diese Schule noch längere Zeit hindurch. Auch eine Beeinflussung Otto
Modersohns scheint anfänglich stark. Doch waren das Einflüsse, die zu ihr
gehörten gemäß Rasse und Charakter. In ihnen lag ein gefügiger Zusammen-
hang, dessen Umkreis noch weiter reicht über Leibl und die nordischen Rea-
listen der Literatur. Indessen diese erste natürliche Bestätigung ihres na-
tionalen Bewußtseins führte sie nicht weiter. Zuviel Schweres fand sie im
eigenen Bereich. Paula Modersohn verlangte aus dieser Schwere hinaus, die
ja allzuoft äußerlich und kleinlich ist. In Paris fand sie den Gegenpol,
zwischen beiden Polen läuft fortab ihre Entwicklung. Sie erlebte das un-
Paula Becker-Modersohn. 379
eingeschränkte Temperament der Franzosen, genoß ihre Art leichter
ästhetischer Lebensäußerung, ihre innere elastische Initiative den Dingen
gegenüber. Sie kehrte nach Worpswede zurück. Es entstanden gewisse Studien,
die uns zu ihrer Erkenntnis ganz besonders wichtig sind: Kinder, Tiere,
Köpfe, Landschaften, auf den ersten Blick eine Chronik beseligter Augen-
blicke, die sie erlebte und darstellte. Doch eben bei diesen Dargestellten
werden die meisten ihrer Bewunderer stehen bleiben, obwohl die dargestellten
Dinge verlangen, über sich selbst hinaus betrachtet zu werden, so wie ihre
Schöpferin sie gedacht hat: über sich selbst, über ihre Gegenständlichkeit hinaus
bedeutungsvoll als Teile einer neuen Monumentalkunst. — Das Monumentale,
Freskoartige kündigt sich schon äußerlich an in der Farbe und der Sicher-
heit des Aufbaues. Man mache die Probe und denke sich so eine Studie
mechanisch vergrößert und in eine Wand eingelassen. Hätten wir nicht ein
Fresko, jenes Fresko, das als heilsamer Gegensatz zu der in Deutschland
grassierenden äußerlich „dekorativen“ und ästhelizistischen Richtung wahr-
lich anbetungswürdig sein würde?
Drei Dinge sind heute im Gegensatz zu früheren Stilperioden unmög-
lich zu vereinbaren: „dekorative“ Malerei und Monumentalkunst. Alles
schlechte und unreife Künstlertum verwendet gallische Einflüsse ins „Deko-
rative“. Paula Modersohns Kunst ist eine Monumentalkunst.
Das innerlich Monumentale an ihr ist die Ursprünglichkeit des Er-
lebens. Darum erinnert uns die Art, wie sie einen Schimmel, ein Kind, einen
Baum malt, indem sie den einfachsten Eindruck solch eines Objektes gibt, so
oft an Künstler früherer Stilperioden, die Giotto, die primitiven Florentiner
und Franzosen, an jene Zeiten, da Menschen noch ihr Erleben schlicht und
deutlich bildmäßig gestalteten. Es ist bezeichnend, daß den Bildern Paula
Modersohns jede leidenschaftliche, aktive Geste fehlt. In ihren Porträts, Fi-
guren und Landschaften ist der Inhalt stets negativ, gewissermaßen selbstlos.
Aus dieser Fähigkeit, die Natur in edelster Simplizität zu schauen,
erklärt sich dem psychischen Analytiker ihre Vorliebe für die Geste des Mütter-
lichen, ihre Bevorzugung des fast konkret Weiblichen. Es gibt eine Anzahl solcher
Zeugnisse ihres Schaffens, die eben von dieser besonderen Innigkeit aus-
gehen. Da sind Mütter mit Kindern, da sind vor allem all die Säuglinge
in Kissen, Wiegen und Kinderwagen, ist der liegende Akt mit dem Kinde;
ein besonders monumentaler und überzeugender Ausdruck der innigen In-
tention. Die nackte Frau liegt in hockender Stellung auf einer weißen Fläche,
eng an ihrer Seite das Kind, oben ist der Raum durch eine bleigraue Fläche
abgeschlossen. Schon der Vorwurf ist außerordentlich suggestiv, doch die
Monumentalität des Werkes liegt nicht hier, sondern in der Art, wie dieser
Gegenstand gemalt ist. Alle Luft, alle räumliche Vorstellung ist
ausgestaltet. Die Darstellung des Stoffes ist eine rein plastische. Das
Gegenständliche realisiert sich in einem Ausdruck, der absolut Form ist,
Modulation der Flächen. Das gewaltig Plastische, die starke Synthese
des formlichen Erlebnisses schufen diese Objektivität und diese Erfüllung aus
dem Detail. Hier hat die Künstlerin ein zukünftiges Malproblem vorgeahnt,
ja mehr noch: gelöst! Ihre Stilleben zeigen besonders deutlich, wie bewußt
sie vorging, Luft und Perspektive durch rein malerische, kolo-
ristische Werte umzugestalten. Aus der kleinsten Fläche fühlt man
die Monumentalität eines Bildbaus und eine innere Struktur der
Farbe. Es gehört zu Paula Modersohns Besonderheit, auf der kleinsten
Wand monumental wirken zu können.
380 Curt Stoermer: Paula Becker-Modersohn.
Ihre Farbe hat schon recht früh bestimmte Werte. In den Studien ist
es zunächst ein goldwarmer Zusammenklang in Braun, Grau und Rot.
Es sind meist Kinder auf Moordämmen zwischen Birken, vollbelichtete Ge-
sichter gegen ein Stück Himmel, die sie so intensiv farbig und goldig malt.
Zum zweiten sind es grau-silberne Stimmungen, meist Dämmerungen mit
irgendwelchen Tieren, besonders einige Stilleben mit kalten, metallenen, glä-
sernen Dingen, wie das Stilleben mit dem venezianischen Spiegel (im Besitze
des Herrn Dr. Kırt Becker), welches wohl das Vollendetste dieser Art ist.
Es liegt bei der farbigen Wiedergabe von Erlebnissen stets eine feine
Gesetzmäßigkeit darin, daß ihr an reellen Verschiedenheiten in der Natur
nichts gelegen ist. Paula Modersohn malte nie sonnige oder dunkle Stim-
mung, Tag oder Dämmerung, sondern es war immer ihre mystische
Empfindung, die das Material der Farbe beansprucht. So malte sie Gold
oder Silber, so gab sie warm, grau oder kalt.
Später wird diese Gesetzmäßigkeit bewußt und gesteigert, breitet sich
über größere Flächen. Der gelbe Kinderakt zwischen Blumenvasen ist typisch
für diese Entwicklung. Bedingt wird hier die Farbe durch die strenge Schlicht-
heit des Aufbaus. Die Leuchtkraft ist fast dramatisch in das Gelb gehoben,
darauf liegen die Hände, braun modelliert. Der Hintergrund ist ein intensives
Grau-Blau. Alles scheinbar Bizarre in der Aneinanderreihung der Formen,
etwa des Kindes zwischen den Vasen und Blumen, ist nichts anderes, als
das Eigenartige, wahrhaftige Erlebnisse einer einsamen Natur, deren Freude
bei Kindern und Blumen war. Das Sinnlich-Naive ihrer Art, Malerisches zu
erleben, scheint uns dennoch ein innerstes Charakteristikum des Künstlertums
in dieser Frau.
Eines ihrer letzten Werke ist die Allegorie mit den beiden seitlichen
Genien. Das Bild blieb unvollendet. Eine leidenschaftslose, naive Ruhe liegt
in der Tendenz der Gestalten. Das Ganze ist rein bildmäßig aufgebaut und
wirkt, dem heutigen Ornamentalstil entgegen, höchst architektonisch mit der
inneren Vollendung eines griechischen Reliefs. Es ist Fragment geblieben, so
wie das Gesamtwerk Paula Modersohns im Verhältnis zu den immensen Aus-
blicken, die es dem aufbauenden Geiste gewährt, Fragment blieb. Es ist
zweifelhaft, ob sich die Offentlichkeit damit zufrieden geben wird. Wir wissen
nicht, ob man reif genug sein wird, diese Form eines Wachsens, das eminent
fruchtbar und ausdrucksvoll war, zu verstehen. Es ist fraglich, ob viele sein
werden, die zur Würdigung der so gehaltvollen Unausgeglichenheit dieses
Werkes genügend eigene Abgeklärtheit und gereiſte Aufnahmefähigkeit besitzen.
Denn nur vollständige innere Reife wird dem Wachstum ganz gerecht.
Wahrscheinlich wird die Zeit kommen, da auch die Offentlichkeit er-
kennt. Und dieses Erkennen wird voraussetzen, daß man inzwischen über
ein zielloses Beschauen von Einzelheiten hinausgekommen. Schließlich wird
man rein von sich selber dahin gelangen, wo jene Künstlerin endgültig steht.
Man wird finden, daß bei ihr eine monumentale Malerei angesetzt hat, die
nur durch ein reines, ursprüngliches Talent möglich wurde. Schließlich werden
auch die Historiker erkennen, daß Paula Modersohn die einzigste war, die
uns zwei Schulen in einer hohen stilistischen Form übersetzt hat: deutscher
Realismus und französischer Impressionismus sind in ihrem Werke zusammen-
geschlossen zur Monumentalkunst.“)
) Soeben erschien ein Katalog von Werken Paula Modersohns. Er enthält 6 Abbildungen
nach Gemälden, darunter ein Selbstporträt. (Horen-Verlag, Worpswede.)
381
Wilhelm Hausenstein:
Neues in der Münchener Kunst.
ie Bremer Kunsthalle hat unlängst eine Mappe ausgezeichneter Ra-
dierungen des Münchner Malers Franz Reinhardt angekauft. Sie
sind Beispiele des Künstlerischen an sich: notwendige und selbst-
verständliche Spiele einer Hand, die sich im Notwendigen und Selbstverständ-
lichen bewegt wie die eines Kindes.
Reinhardt ist eine der wenigen verheißungsvollen Persönlichkeiten im
Nachwuchs der Münchner Kunst. Er war von Haus aus Handwerker: Ge-
hilfe eines Dekorationsmalers. In seiner Lage gab es für ihn keine intellektuellen
. Wege zur Kunst. Wie viele werden Kunstmaler, weil zufällig ihr Milieu von
Kunstgeschichte, Ästhetik und allerhand reflektierender Kunstkultur erfüllt ist.
Nicht immer werden diese sozusagen gebildeten Künstler bedeutend. Rein-
hardt halte keinen andern Weg zur Kunst als den, der ihm von einem —
wenn man so sagen soll — drängenden animalischen Instinkten nach Ver-
geistigung seines Handwerks geboten wurde. Er fühlte, es müsse höher
gehen. Und so verließ er seine Heimat — er stammt aus dem Braunschwei-
gischen — und kam mit jenem schönen, naiven, begeisterten Aberglauben
nach München, der die Kunststadt München trägt. Hier arbeitete er als Schüler
Stucks und als wohlgelittener Schüler des prachtvollen alten Wilhelm von Diez.
Sein Brot verdiente er als ein rechter Geselle des Münchener Malerproletariats,
als Knecht eines jener zahllosen anonymen Künstlerschicksale: er mußte eine
Unmenge subalterner Arbeiten tun und aus der Welt seiner inbrünstigen Be-
geisterungen nicht selten zurückkehren, um an adlige Karossen Wappen mit
dem Lineal und mit jenem Pinsel zu malen, den er mit seiner breiten Fougue
am meisten haßt: mit dem spitzen.
Wenn man in sein Atelier konımt, ist der Eindruck zunächst etwa so,
wie in einer barocken Landschaft. Da ist absolut nichts, was verbindlich
aussieht. Da sind Bilder, die jedes ein Stück besinnungsloser, tiergewaltiger
Naturkrait bedeuten. Aber in ihrem Zusammenrauschen sind sie dann wieder
eine starke, geistige Kunstlogik. Hunderte von Skizzen und Bildern. Fast
alle ohne Modell gemalt. Schichtungen von erregten Fleischmassen, maßlose
Konture, heftige Motive wie Simson. Er malt mit besonderer Leidenschaft
Simson: nicht gerade aus biblischen Stimmungen, sondern unter dem Zwang
einer genialischen Brutalität. Da und dort in den feineren, differenzierteren
und ruhigeren Formeln, die man von Porträts mit Recht fordert, ein kräftiges
Bildnis, das die Modellrealität zugleich mit nachfſormendem Können und mit
selbständigem Malerwillen meistert.
Hat der Künstler in der Weißglut seiner Phantasie mehrere Tage ge-
arbeitet, dann setzt er sich wohl zur Ruhe hin und macht beim Lampenlicht
in der Laune eines Exzedenten Dutzende gepeitschter Federzeichnungen.
Äußerungen eines unglaublichen Temperaments, das in aller Not der Welt
vergißt und sich höchst unkaufmännisch in sich selber verzehrt, weil es muß.
Oder er gönnt sich einen guten Vormittag und radiert. Von seinem Atelier
aus sah man lange in das Chaos der hohen Neubauten im nördlichsten
Schwabing. Da saß er und radierte mit einer Nähnadel seiner Frau in die
blanke Kupferplatte direkt nach der Natur eine köstliche Baugerüstszene. Er
hat nie radieren gelernt. Aber er beherrscht die Technik so instinktiv, daß
382 Hugo. Kloß:
er ohne weiteres an die gelälrlichste Manier, an die der Kaltnadelradierung,
herantreten konnte.
Um die Jahreswende erschien von Reinhardt ein Buch mit Zeichnungen
Simsons.*) Links der klassisch robuste Text Luthers — eine Sprache, der
gerade Reinhardt sich wahlverwandt fühlen muß; rechts die Zeichnungen —
wilde Gebärden einer schöpferisch wühlenden, schlagenden, aufrichtenden,
ausbreitenden Hand, die zugleich die gebundenen Reize des dekorativ Schönen,
der Arabeske, der notwendigen Proportionierung von Schwarz und Weiß
haben, Dinge, die bei ihrer anpackenden Ursprünglichkeit, in ihrem zuckenden
Aufspringen, in der physischen Heftigkeit ihrer Reflexbewegungen, in der
tollen Verve der Handschrift nicht selten auch die beruhigende Wohltat einer
einfach vollendeten Geistigkeit, einer fertigen Abstraktion haben. Hier sind
in einem neuen IIlustrationssti! Ansprüche, die an das Erbe eines Daumier,
eines Delacroix anknüpfen wollen und das Temperament dazu haben, wenn
sie auch von der lateinischen Ausgeglichenheit, die selbst dem radikalsten
Franzosen eignet, weit entfernt sein mögen. Aber bei Reinhardt hat selbst
das Wüste den Wert der Schönheit.
Unter den jungen Münchener Malern, die wahrlich nicht allzuhäulig
Neues und Starkes versprechen, ist Reinhardt eine der Kräfte, die sich selber
die stärkste Bürgschaft für eine wachsende Zukunft enthalten. Er wird zu
den Bedeutenden zählen — wofern ihm die Welt die Entwicklung nicht er-
stickt. In München werden immerzu Malertragödien gelebt. Bei Reinhardt
wäre es ungewöhnlich erbitternd, wenn die Welt Echtes, das sich in der
Einsamkeit trotzig entwickelt, über dem Gefälligen und Gangbaren vergäße.
Hugo Kloß: Konjunktur oder Krisis?
eldknappheit — der Ausdruck gehört zu den Wörtern unseres Sprach-
schatzes, von denen dieser, wenn es nach den Wünschen der Mehr-
heit ginge, schleunigst gereinigt werden müßte. Wohl keine Melodie
klingt dem Ohre, wenn der Ultimo naht, weniger angenehm, als die vom
„Beutel schlaff und leer“, während sich die Seele in der Tat in den Himmel
zu schwingen scheint, „sobald das Geld im Kasten klingt“.
Ungefähr die gleiche Wirkung, die eine mehr oder weniger große
Fülle im Portemonnaie bei dem einzelnen hervorzurufen pflegt, übt sie auch
auf das Leben der Gesamtheit aus. Auch hier gibt es Zeiten, in denen Geld
so reichlich vorhanden ist, daß es in der Tat auf der Straße zu liegen scheint.
Ein solcher Goldregen wirkt immer außerordentlich befruchtend auf das
Wirtschaftsleben. Da blühen überall die Geschäfte; die Industrie ist mit
Aufträgen überhäuft, so daß sie allen Anforderungen, die an sie gestellt
werden, kaum gerecht werden kann; Neugründungen schießen wie Pilze nach
dem Regen aus dem Boden, und alles glaubt ewig zu atmen im rosigen
Licht. — Das ist dann der Wonnemond der Hochkonjunktur, die einzige
Atmosphäre, in der geborene Optimisten wachsen und gedeihen können.
Leider bleibt gewöhnlich, unter dem wechselnden Mond, der Himmel nicht
lange so freundlich. Das Wirtschaftsleben ist nicht stabil, sondern fluktuiert
unaufhörlich, und meist pflegt sich das Bild schnell gründlich zu verändern.
Herr von Gwinner, der Direktor der Deutschen Bank, hat für diesen Um-
9 Bei Piper. Preis 8 Mark.
Konjunktur oder Krisis. 383
schwung einst das Wort von der Woge der Konjunktur, die sich überschlägt,
geprägt, eine Bezeichnung, wie sie treffender kaum zu finden sein dürfte.
Man darf nie vergessen, daß jede Konjunktur bereits die Keime zu
ihrem Verfall in sich trägt. Zu einer Krisis kommt es glücklicherweise nicht
immer, sondern nur dann, wenn das Milsverhältnis zwischen Soll und Haben
in der Bilanz der Volkswirtschaft so groß geworden ist, daß es sich ohne
heftige Erschütterungen des Wirtschaftskörpers nicht mehr ausgleichen läßt.
Den Anlaß zur „Verflauung“ der Konjunktur gibt gewöhnlich das
Geld — dasselbe Geld, das zu ihrer Entstehung beigetragen hat. Der Prozeß
ist scheinbar ziemlich einfach und doch so kompliziert, daß man bisher noch
kein Mittel zu seiner gründlichen Beeinflussung entdeckt hat. Jede Konjunktur
frißt Geld, frıßt unheimlich Geld. Neugründungen, Vergrößerungen bestehender
Werke, eine wilde Effekteuspekulation, die gar bald den Boden der Tatsachen
verläßt, alles das verschlingt ungeheure Summen, größere Summen, als über-
haupt bar vorhanden sind. Unser weitgehend ausgebildetes Kreditsystem
fördert die schon bestehende Neigung, über den eigenen Geldbeutel hinaus
fremdes Kapital in Anspruch zu nehmen.
Das grohe Portemonnaie der Handelswelt ist die Reichsbank. Die hat
Mittel in der Hand, sich zu schützen, wenn die Ansprüche, die an sie ge-
stellt werden, zu groß sind. Dann kann sie den Diskont erhöhen und so
das Geld verteuern. Teures Geld aber ist der Tod der Konjunktur.
Schon länger als ein Vierteljahr laborieren wir jetzt an permanenter
Geldknappheit. Der Diskontosatz der Reichsbank hat mit 6 Prozent eine
Höhe erreicht, wie wir sie lange nicht erlebt haben. Noch ist kein Ende d's
unerfreulichen Zustandes abzusehen. In der Industrie geht das Geschäft noch
gut, aber an den Eifektenmärkten trauern die Kurse, und die Spekulation hält
sich ängstlich von allen Unternelunungen zurück, kein ermutigendes Zeichen!
Den Anstoß zu der trostlosen Verfassung des Geldmarktes hat diesmal
in erster Linie der Krieg auf dem Balkan gegeben. Er ist ein großes Er-
eignis, das seine Schatten nicht voraus, sondern hinterher wirft. In aller
Erinnerung dürfte wohl noch die Panik sein, die sein Ausbruch an den
meisten Börsen hervorgerufen hat. Seit deni Kurssturz, der damals einge-
treten ist, sind dem Geldmarkt Millionen entzogen worden. Die Leute haben
das Vertrauen zu ihren Papieren verloren. Es gibt jetzt nicht wenige, die ihr
Geld wieder in den Strumpf stecken, eine Methode, die alter Überlieferung
zufolge im Schwange war, als der Großvater die Großmutter nahm. Man
kann sich keinen Begriff machen von den Summen, die auf diese Weise dem
Verkehr entzogen werden und brach liegen. Sie tragen jedenfalls viel dazu
bei, die gegenwärtige Geldknappheit zu verstärken. Erst wenn das Vertrauen
in die absolute Sicherheit der Banktresors wieder zurückgekehrt sein wird,
kann man auf eine endgültige Erleichterung des Geldmarktes rechnen. Hoffen
wir im Interesse der deutschen Volkswirtschalt, daß die Nachwirkungen des
Balkankrieges möglichst bald überwunden werden und daß wir bald nicht
mehr, wie jetzt, zweifelnd zu fragen brauchen: Was wird die Zukunft bringen
— Konjunktur oder Krisis?
Schluß des redaktionellen Teils.
Verantwortlich für die Redaktion: S. D. Gallwitz, Bremen.
Einsendungen von Manuskripten (unter Beifügung von Rückporto)
an die Redaktion Bremen, Am Wall 163. Tel. 6945.
Verlag: Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen.
Druck: H. M. Hauschild, Hofbuchdruckerei, Bremen.
Kaffee und Treffsicherheit.
Von Rudolf Zeitler, Jagdschriftsteller, Barwies.
Kaffee, sondern Wein, guten, wenn ich kann, schlechteren,
wenn ich muß, stets aber Jieber etwas reichlicher als
zu wenig.
Was ich hier berichte, sind die Beobachtungen, die ein
Jagdfreund an sich und ich an ihm machte.
Er trinkt Kaffee bei der Arbeit im Bureau, weil er
abergläubischerweise behauptet, bei geistigen Getränken nicht
arbeiten zu können, und er trinkt ihn auf der Jagdhütte,
wobei ich allerdings zu seiner Entschuldigung bemerken
möchte, daß es dort nur Regenwasser gibt, welches immerhin
als Kaffee besser schmecken mag als im Naturzustande. Ich
glaube es wenigstens.
Seit Jahren trinkt mein Freund ausschließlich den koffein-
freien Kaffee Hag der Kaffee-Handels-A.-G. in Bremen und
behauptet, daß eine nervöse Aufgeregtheit nach langen Nacht-
arbeiten, deren Ursache er früher in der Überarbeitung und
im Rauchen suchte, auf weiter nichts als auf das im Kaffee
enthaltene Koffein zurückzuführen sei, und daß er nichts mehr
davon merke, seit er ausschließlich den koffeinfreien trinke,
und daß er es sofort merke, wenn er anderen genossen habe.
Ich hielt das für Einbildung.
Natürlich gab es auch auf der Jagdhütte nur Kaffee
Hag, und eines Tages, als die Gelegenheit günstig war, be-
schloß ich, ihn ad absurdum zu führen.
Der Wassertopf stand am Feuer, der Koffeinfreie war
gemahlen und in die Kanne getan, mein Freund hatte sich
für einige Zeit aus der Hütte entfernt. Schnell warf ich den
gemahlenen Kaffee Hag ins Feuer und ersetzte ihn durch
eigens zu diesem Zwecke mitgebrachten gewöhnlichen Kaffee.
Ahnungslos brühte er ihn auf und ahnungslos trank er ihn,
dann ging es zum Aufstieg ins Gemsrevier.
Schon wollte ich, während wir von einem Köpfl Aus-
schau hielten, ihm schadenfroh meine Sünden beichten. Hätte
ich es getan, so wäre ich um eine wirklich interessante Be-
obachtung gekommen, denn plötzlich erklärte mein Freund,
es sei ihm ganz lieb, daß keine Gemsen zu sehen seien, denn
ihm sei so eigentümlich zumute, es »schnatterten« ihm alle
Glieder, und wenn er jetzt schießen solle, so könne er für
eine große Patzerei mit voller Bestimmtheit garantieren. Er
konnte sich seinen Zustand nicht erklären, da er von der
E selbst, das will ich im voraus bemerken, trinke keinen
y
— — e 42 2
Vertauschung des Kaffees. ja nichts. ahnen konnte, und ieh
schwieg wohlweislich.
. Später legte sich seine nervöse Aufregung und wir müge
zwei Patronen weniger und dafür jeder eine Gemse zur Hütte.
Da es zu spät zum Abstieg war, beschlossen wir, oben
zu übernachten, und ich war niederträchtig genug, das Experi-.
ment von heute früh zu wiederholen. lch vertauschte wieder
den gemahlenen Kaffee in der Kanne, wir aßen zur Nacht
und mein Freund trank einige Tassen Kaffee, während ich, da
ich ebenfalls sehr durstig war, mir den Rest des mitge-
nommenen Weines mit Regenwasser etwas verlängerte.
Dann krochen wir ins Heu und ich schlief binnen fünf
Minuten wie ein Dachs, während mein Freund sich am
anderen Morgen nicht genug wundern konnte, daß er vor
drei Uhr nicht hatte einschlafen können.
»Wenn ich nicht selbst das Originalpaket aufgemacht und
den koffeinfreien Kaffee selbst heraufgetragen hätte, so glaubte
ich bestimmt, daß der Kaufmann aus Versehen gewöhnlichen
geschickt hätte,« meinte er.
Ich muß wohl ein wenig gegrinst haben, denn plötzlich
schien ihm ein ganzes Elektrizitätswerk mit Glühbirnen und
Bogenlampen aufzugehen und er benahm sich wie ein gut-
besuchter Kongreß von Rohrspatzen, beschimpfte mich als
gemeinen Kerl und heimtückischen Giftmischer, und nur der
Triumph, mich von der starken Wirkung des Koffeins un-
wissentlich, aber um so wirksamer überzeugt zu haben, brachte
ihn wieder in bessere Stimmung.
Dieser kleine Versuch aber gibt zu denken. Ich bin seit-
dem überzeugt, dass jeder, der einige Tassen Kaffee hinter-
einander trinkt, davon üble Folgen verspürt, ohne sich aber
der Ursache bewußt zu werden, weil er regelmäßig zu be-
stimmter Zeit ungefähr das gleiche Quantum genießt. Erst
wenn der Kaffee- oder vielmehr der Koffeingenuß*) zeitweilig
ausgesetzt wird, entdeckt ein guter Beobachter die Ursache,
d. h. wenn er weiß, welche Wirkung das Koffein hat.
Weiß er das nicht, so kommt er vielleicht sein Leben lang
nicht auf den Gedanken, daß eine gewisse Nervosität, Herz-
klopfen, die zeitweilige Unfähigkeit, das Gewehr ruhig an-
<
*) Koffein ist ein im Kaffee enthaltenes Alkaloid. Es ist ein starkes
Herz- und Nervengift, und die höchste Menge, die der Arzt davon als
Medikament verordnen darf, ist o, 5 gr, dieselbe Menge ist aber bereits
in 3 Tassen Kaffee mittlerer Stärke vorhanden! Aus dem koffeinfreien
Kaffee Hag ist dieser Stoff ohne Beeinträchtigung des Geschmacks und des
Aroma: entfernt,
zuschlagen und sicher abzukommen, von seinem gewohnten
Frühstücks- oder Nachmittagskaffee herrührt.
Ich bemerke ausdrücklich, daß mein Freund, der mir un-
freiwillig als Versuchskarnickel diente, nicht etwa ein »windiger
Stadtfrack«, sondern eine sogenannte Bärennatur ist, ein Mensch,
der es im Steigen mit fast allen Berglern aufnimmt, es sogar
den meisten zuvortut, und, trotzdem er fast ein halbes Jahr-
hundert auf dem breiten, sündigen Buckel hat, Sommer und
Winter mit »dekollettierten Knien« im Berg umeinandersteigt,
dazu raucht, als wenn ein kleiner Bauer Brot backt, kurzum,
so zäh ist, wie seine harzigspeckige Lederhose.
Ich selbst trinke, wie bereits erwähnt, so gut wie niemals
Kaffee. Wäre ich aber daran gewöhnt, so würde mich das
hier geschilderte interessante Experiment unbedingt zum koffein-
freien Kaffee Hag bekehrt haben.
Hag-Rundschau.
ee ee re Kapitalserhöhunig:
Die Generalversammlung vom 12. Februar genehmigte einstimmig die vor-
geschlagene Kapitalserhöhung um ½ Millionen Mark auf 3 Millionen Mark und den
Erwerb der Aktien der Kaffee-Patent-Aktiengesellschaft gegen Ausgabe von
1050 000 Mark Obligationen.
Herzhygiene:
Dr. med. H.L. Balder äußert sich im „Magdeburgischen Generalanzeiger“
Nr. 60 über den verderblichen Einfluß des Alkohols und des Koffeins auf die
Herztätigkeit:
„Von den Genußmitteln sind es insonderheit zwei, die dem Herzen ge-
fährlich werden: der Alkohol und das Koffein, indem sie, stete Tropfen, die
Herzkraft immer und immer wieder über Gebühr in Anspruch nehmen und in
ihrer verhängnisvollen Rück- und Wechselwirkung sich summieren, bis die Herz-
schwäche unheilbar geworden ist. Die Häufigkeit der Herzkrankheiten, des
Herzschlages gerade in den wohlsituierten Kreisen wird dadurch erklärlich. . .
Den Tropenkaffee sollen wir nur bei besonderen Gelegenheiten, in Aus-
nahmefällen trinken. Bei erschöpfender Kopfarbeit, bei Nachtwachen, bei sport-
lichen Höchstleistungen zur Anreizung und als Peitsche, wenn es sein muß.
Für den Hausgebrauch besitzen wir in dem koffeinfreien Kaffee ein vollwertiges
Ersatzmittel, das dem Kaffee an Farbe, Geschmack und Aroma nichts ge-
nommen hat.“
Hygienisches Institut der Universität Würzburg:
Auf Grund von zahlreichen, ausgedehnten und genauen Versuchen, die
in diesem Institut angestellt wurden, veröffentlicht Prof. Dr. K. B. Lehmann eine
ausführliche Abhandlung in der „Münchener Medizinische Wochenschrift“ Nr. 6
und 7 mit dem Titel „Die wirksamen und wertvollen Bestandteile des Kaffee-
getränks mit besonderer Berücksichtignng des koffeinfreien Kaffees Hag und des
Thum-Kaffees“, auf die besonders hingewiesen sei. Wir werden später Ge-
legenheit haben, auf diese Arbeit zurückzukommen.
„Die Naturwissenschaften‘“:
Diese „Wochenschrift für die Fortschritte der Naturwissenschait, der Medizin
und der Technik“ (Verlag Jul. Springer, Berlin) enthält in Heft 5 1913 S. 116.
einen lesenswerten ausführlichen Aufsatz von Privatdozent Dr. Victor Grafe, Wien,
über „Die Gewinnung und Entfernung von Naturstoffen durch Aufschließen*,
Künstlerische Fabrikarchitektur:
Zu den glänzendsten Aufgaben der Baukunst, an die noch vor einem Jahr-
zehnt kaum jemand dachte, ist jetzt auch der Fabrikbau geworden, gewiß ein
erfreuliches Zeichen dafür, daß die Architektur wieder Fühlung mit dem klopfenden
Pulsschlag des Lebens gewinnt. Der Fabrikbau [ist inž der Tat geeignet, ein
steinernes Dokument unserer Zeit zu werden. Wir sehen denn auch, daß die
ersten Künstler sich um die Eroberung dieses weit vorgeschobenen Postens
heiß bemühen. Vor der Hand ist die Zahl der wirklich überzeugenden Beispiele
allerdings noch nicht groß. Wagners Bau der Kaffee-Handels-Aktiengeselischaft
{Kaffee Hag) in Bremen muß man unbedingt hinzurechnen. Ganz in Beton er-
richtet, ist der umfangreiche Gebäudekomplex lediglich aus dem sich in ihm
abspielenden Fabrikationsprozeß heraus entwickelt und baut seine Masse in ein-
drucksvollem Rhythmus auf.“
(Aus einem Aufsatz von G. Brandes über den Bremer Architekten Hugo
Wagner in Heft 9 von „Niedersachsen“, Verlag Carl Schünemann, Bremen.)
Die Güldenkammer:
In Nr. 10 „Das Neue Leben, Zeitschrift für alle akademischen Kreise“
herausgegeben von Dr. C. Picht und G. Halm, Bonn, Verlag Oster & Joister,
Köln, lesen wir: l
„Die Güldenkammer hat jene glückliche Verknüpfung gefunden, zu der
die moderne Entwicklung uns hindrängt: Literatur und Industrie zu verbinden.
Erst wenn wir beide zu restloser Einheit werden verschmolzen haben — und
doch wieder so, daß nicht die eine, ihre Grenzen verkennend, in das Gebiet
der anderen übergreifen will, dann werden wir nicht weiter von seelenmordender
Industrie und weltentfremdeter Kunst zu reden brauchen.“
Weitere Kostproben im Zeitungsbetrieb:
Die Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen, die Herstellerin des koffein-
freien Kaffees, bot die Gelegenheit, die Vorzüge ihres Produktes kennen zu lernen,
indem sie durch ihren Vertreter einen Ausschank für das Personal veranstalten
ließ. Es konnte festgestellt werden, daß der coffeinfreie Kaffee im Geschmack
und Aroma von coffeinhaltigem Kaffee nicht zu unterscheiden ist. Da ferner das
Produkt durch die Coffeinentziehung vollständig unschädlich gemacht wurde, so
haben wir in diesem Kaffee ein Getränk, das allen im Zeitungsbetriebe tätigen
Personen, an deren Nerven nicht geringe Anforderungen gestellt werden, zu
empfehlen ist. (Hannoverscher Courier, 31. Januar 1913.)
Eine Kaffeeprobe veranstaltete die Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft (Hag)
in Bremen gestern vormittag für die Arbeiter und Angestellten der Schellschen
Buchdruckerei in unserem Rotationsmaschinensaal, die den vollen Beifall der
Konsumenten fand. Die Hag entzieht bekanntlich durch ein besondetes Verfahren
den Kaffeebohnen das so gefährliche Gift Coffein, welches namentlich die Nerven
und die Herztätigkeit ungünstig beeinflußt, und erreicht damit eine völlige
Unschädlichkeit des beliebten Getränkes. Durch die Entziehung des Coffelns
erleidet der Geschmack des Kaffees keinerlei Einbuße, er ist genau so aromatisch
und wohlschmeckend wie vorher, nur ist ihm die schädliche Nebenwirkung,
welche das Coffein ausübt, genommen. Es ist also ein richtiger Gesundheitskaffee,
den nicht nur alle Herz- und Nervenleidende unbedingt, sondern auch alle Kaffee-
trinker genießen sollten, welche auf ihre Gesundheit bedacht sein wollen. Der
von Jahr zu Jahr steigende Absatz des Kaffee Hag beweist, daß das Publikum
mehr und mehr die Vorzüge desselben In gesundheitlicher Beziehung einsehen
gelernt hat. (Neckar-Zeitung, Heilbronn, 14. Februar 1913.)
t
Haushaltungsschulen:
Mit welchem Interesse die Offentlichkeit die Einführung eines so vortreff-
lichen und unschädlichen Genuß mittels wie des koffeinfreien Kaffee Hag verfolgt,
geht aus einem Artikel aus dem Striegauer Anzeiger vom 26. Februar 1913
hervor. Nach der Beschreibung der Kostprobe in der Haushaltungsschule und der
Würdigung des verabreichten Genußmittels fährt der Artikel fort:
‚Die Entgiftung des Kaffees erfolgt im großen Maßstabe in einer nament-
lich in moderner hygienischer Hinsicht zu einer Sehenswürdigkeit gewordenen
riesigen Fabrikanlage der Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft in Bremen. Der
Leitung der hiesigen Haushaltungsschule gebührt Dank für ihr Bestreben, unsere
Jugend mit den Errungenschaften neuzeitlicher Nahrungsmittelchemie bekannt zu
machen, ihren schönsten Lohn findet sie sicherlich in der Beobachtung des
wachsenden Verständnisses und der Freude, mit der unsere zukünftigen Haus-
frauen in der schmucken Kochküche der Haushaltungsschule schalten und walten.“
Zahlreiche Haushaltungsschulen in ganz Deutschland haben sich in den Dienst
der gleichen Bestrebungen gestellt.
Schaffermahlzeit:
Am Schlusse dieser traditionellen Mahlzeit, welche Bremer Kaufleute, See-
leute, Reeder und hochstehende auswärtige Persönlichkeiten vereint, wird seit
Jahren neben koffeinhaltigem Kaffee auch der koffeinfreie Kaffee Hag verabreicht.
Zu unserer Freude konnten wir feststellen, daß die große Mehrzahl der anwesenden
Gäste, trotzdem sie durch das mit zahlreichen Reden gewürzte und aus alt-
renommierten Gerichten hergestellte Mahl um Jahrhunderte sich zurückversetzt
fühlen mußten, dem modernen koffeinfreien Kaffee Hag den Vorzug gaben.
Wweltumspannend wie der deutsche Handel
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1 ; : ,
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Schreibmaschinenkunde
Man wird wohl erstaunt sein zu erfahren, daß bereits Anfang des 18. Jahr-
‚hunderts der Engländer Henry Mill den Gedanken faßte, eine Schreibmaschine
zu bauen und im Jahre 1714 bereits ein diesbezügliches Patent. anmeldete. Lang-
sam reifte dieser Gedanke aus und 1866 erst gelang es einem Erfinder aus Alabama,
games Pratt, eine Maschine zu konstruieren, die auch einen praktischen Wert
besaß. Eine Beschreibung dieser Erfindung, die dem Drucker C. Latham Scholes
und dem Techniker Carlos Glidden in die Hände fiel, brachte diese Erfinder,
die mit der Herstellung einer Numerier- und Paginier-Maschine beschäftigt
waren, auf den Gedanken, ihre Numerlermaschinen auch mit Buchstaben zu
versehen. 1873 kam ihr erstes brauchbares Modell heraus. Man kann sich vor-
stellen, daß ein solches Modell vieler Verbesserungen fähig war. Einer der
ersten, die es sich zur Aufgabe stellten, die Schreibmaschine. zu der Vollkommen-
heit zu bringen, die sie jetzt besitzt, war der geniale Erfinder G. W. N. Yost.
Seine Hauptaufgabe sah er darin, die Schrift so rein und klar zu gestalten wie
eine Druckschrift. Er hatte nämlich die Beobachtung gemacht, daß die unklare
Schrift durch die Übertragung der Farbe mittels eines zwischen Type und Papier
befestigten Farbbandes verursacht wurde. Dabei verfiel er auf den Ausweg, das
Farbband zu entfernen und die Typen in der Ruhelage auf ein Farbkissen zu
legen, von dem die mit Farbe gesättigte Type unmittelbar auf das Papier auf-
schlägt. Der Buchstabe kam dadurch so klar und schattenfrei zum Vorschein,
wie etwa beim Buchdruck, der ja auch kein eee zwischen Satz und
Blatt kennt.
Eine zweite glanzende Idee Yosts war der Gelungene Versuch, die Typen
nicht wie bei anderen Maschinen durch ein Typenlager zu führen, sondern vom
Abdruckpunkte aus. Er konstruierte zu diesem Zweck den Zentralführer, der sich
bis zum heutigen Tage glänzend bewährt hat. Es ist von Interesse zu erfahren,
daß seit dem Jahre 1891, in welchem Yost diese Ideen verwirklichte, eine Ver-
besserung dieser Prinzipien nicht möglich war. Neben zahlreichen anderen
Vorteilen haben die beiden beschriebenen Eigenarten dazu beigetragen, der
Yost-Maschine den Ruf der vollkommensten Schreibmaschine und der Maschine
der schönsten Schrift zu erwerben.
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