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Phrenologie.
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Gustav v. Struve.
Mit ſechs lithographirten Tafeln und Text- Abbildungen.
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Leipzig:
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Die Grundlehren der Phrenologie - » » : 2...
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Einfluß der Gefundheitsverhältnifle. - - -» » - . . -
Die Phyſiognomik der Phrenologie. - » » - 2...
Eintheilung der Geiftesvermögen. . » 2 2.2...
J. Sinnlichkeit oder Triebe.
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Verheimlichungs trieb anbiete.
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II. Empfindungsvermögen oder Gefühle.
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12. Sorglichkeit oder Behutfamkeit. --. .» 2... .
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15. Die Faigteit . ee 8
16. Die Gewiſſenhaftig k 8!
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18. Gefühl für das Wund erbat
19. Das Schönheitsgefühl oder die Idealität . ...
III. Darſtellungsvermögen oder Talente.
20. Talent für mechaniſche Kunſt, Bautalent, Zuſam—
menſetzüngstal enn ME ae
21. Der Witz (Schez zz „
22. Nachahmungstal enn.
23. Das Ordnungs talen age
24. Tohſia . einein nne.
25. Der Wortſinn oder das Sprachtalentt . ..
IV. Erkenntnißvermögen oder Fähigkeiten.
26. Der Gegenſtandſinn t d Achaik ;
27. Geſtaltſinn ee eee see
28. Raumſinn oder Größenſinunu n
29: Gewichtſinn eee Sa sam -
30. Farbenſmnmnmnm a RE rat
31. Ortſinn z „ wur abe > ee
32. Zeitſfn nnn 8
33. Thatſachenſin nnn mne
34. Zahlenſin nn n,
V. Denkvermögen oder Gaben.
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35. Vergleichungs gabe er ee
36. Schluß vermögen de
Zweiter analytifcher Theil.
Einleitung.
Widerlegung der gegen die Phrenologie K Ein:
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Seite
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Inhalt. vu
Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Schädellehre,
Phyſiologie und zur alten Seelenlehre . . ... 237
Ueber das Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen
Seelenlehre, die verſchiedenen Combinationen, Grada—
tionen und die Geſetze der geiſtigen Thatigkeit . ...
—
—
*
J. Die Zuſtände der Einzelnen.
1. In ſynchroniſtiſcher Ordnung.
Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände. Allgemeine Vor—
bemerkungen. Freude, Unbehaglichkeit, Schmerz, Kum—
mer, Luft und Unluſt. Lebensliebe, Leidenſchaft. Geduld
und Ungeduld, Einbildungskraft hlWe 250
Fortſetzung: geſunder Menſchenverſtand, richtiger Takt,
guter Geſchmack. Willenskraft, Willensfreiheit. Auf—
merkſamkeit. Ideenfolge. Gewohnheit. Sympathie und
S le aa a an RE Auge 257
Schluß: Tugend, Laſter, bos und gut, Genialität, Ver:
nunft, Schlaf, Traum, Schamgefühl... .. 265
2. In chronologiſcher Ordnung.
Vorbemerkung Jeu guns 1
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II. Ueber die Zuſtände der Familie. 287
III. Ueber die Zuſtände der verſchiedenen Men—
FP AA ee u; 291
Dritter praktiſcher Theil.
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Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben 303
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Heilkunde 309
VIII
65.
Inhalt.
Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunſt . ..
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Geſchichte
dern Meyſchheitt . 79 Beide And ml.
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Erziehung
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Moral
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Religion
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte
Seite
317
32⁵
332
348
351
354
Verzeichniß der Abbildungen.
Tafel J. Gall. Titelbild.
Fig. 1 auf S. 11. Ein Nerv in vergrößertem Maßſtab.
Fig. 2 auf S. 15. Nervenſyſtem des menſchlichen Kör—
pers.
Fig. 3 auf S. 16. Das Rückenmark und die davon
ausgehenden Nerven.
Fig. 4 auf S. 18. Obere Fläche des Gehirns.
Fig. 5 auf S. 20. Schädel und Gehirn von oben nach
unten durchſchnitten. N
Fig. 6 auf S. 23. Ein Schädel mit Diploé und dura
mater.
Fig. 7 auf S. 24. Die Stirnhöhle.
Fig. 8 auf S. 29. Schädel eines neugebornen Kindes.
Fig. 9 auf S. 29. Schädel eines Erwachſenen.
Tafel II. zu S. 41. Die vier Temperamente.
Fig. 10 auf S. 55. Profil des Mörders Hare.
Fig. 11 auf S. 55. Melanchthon.
Tafel III. zu S. 66. Der phrenologiſche Kopf.
Fig. 12 auf S. 66. Geſchlechtstrieb groß. Der Mör-
der Linn.
Fig. 13 auf S. 66. Geſchlechtstrieb mäßig. Der Pfar—
rer M.
x Inhaltsverzeichniß der Abbildungen.
Tafel IV. zu S. 75. Maͤnnlicher und weiblicher Schaͤ—
del der caucaſiſchen Raſſe und Schiller's Schaͤdel.
Fig. 14 auf S. 79. Kinderliebe groß. Robert Burns.
Fig. 15 auf S. 79. Kinderliebe klein. Peruvianer.
Fig. 16 auf S. 85. Einheitstrieb groß. Robert Burns.
Fig. 17 auf S. 85. Einheitstrieb klein. Nordamerika—
niſcher Indianer.
Tafel V. zu S. 93. Verſchiedene Organe des Hin—
terkopfs. .
Fig. 18 auf S. 93. Bekämpfungstrieb groß. General
Wurmſer.
Fig. 19 auf S. 93. Bekämpfungstrieb klein. Ceyloni—
ſcher Knabe.
Fig. 20 auf S. 97. Zerſtörungstrieb groß. Der Mör—
der und Seeräuber Tardy von vorn.
Fig. 21 auf S. 97. Zerſtörungstrieb klein. Knabe von
der Inſel Ceylon von vorn.
Fig. 22 auf S. 97. Tardy von hinten.
Fig. 23 auf S. 97. Ceyloniſcher Knabe von hinten.
Fig. 24 auf S. 105. Verheimlichungstrieb groß. Hindu.
Fig. 25 auf S. 105. Verheimlichungstrieb klein. Cey—
loneſe.
Fig. 26 auf S. 108. Verheimlichungstrieb groß. Ein
alter Geizhals.
Fig. 27 auf S. 117. Selbſtgefühl mittelmäßig. Fran—
ois Cordonnier.
Fig. 28 auf S. 117. Selbſtgefühl groß. Hr. A.
Fig. 29 auf S. 127. Sorglichkeit groß. Knabe von
der Inſel Ceylon von hinten.
Fig. 30 auf S. 127. Sorglichkeit groß. Derſelbe Knabe
von oben. a
Fig. 31 auf S. 127. Sorglichkeit klein, von oben geſehen.
Fig. 32 auf S. 131. Wohlwollen groß. Robert Burns.
Fig. 33 auf S. 131. Wohlwollen klein. Der Mörder
Griffiths. |
Inhaltsverzeichniß der Abbildungen. N.
Fig. 34 auf S. 131. Wohlwollen groß. Euſtache, ein
Neger von St. Domingo.
Fig. 35 auf S. 132. Wohlwollen klein. Caraibe.
Fig. 36 auf S. 132. Wohlwollen klein. Nordamerika—
niſcher Indianer.
Fig. 37 auf S. 135. Wohlwollen und Feſtigkeit groß,
Ehrerbietung mangelhaft. Dr. Hette.
Fig. 38 auf S. 135. Ehrerbietung groß. Ein Mädchen.
Fig. 39 auf S. 136. Ehrerbietung groß. Hindu.
Fig. 40 auf S. 136. Ehrerbietung groß. Neger.
Fig. Al auf S. 137. Ehrerbietung ſehr groß. St. Jo-
hannes.
Fig. 42 auf S. 143. Feſtigkeit groß. Hr. M.
Fig. 43 auf S. 143. Feſtigkeit klein. Frau H.
Fig. 44 auf S. 148. Gewiſſenhaftigkeit groß. Frau H.
Fig. 45 auf S. 148. Gewiſſenhaftigkeit klein. David
Haggart.
Fig. 46 auf S. 148. Feſtigkeit und Gewiſſenhaftigkeit
klein. Ein lügenhafter Knabe.
Fig. 47 auf S. 149. Eskimaux-Schädel von hinten.
Fig. 48 auf S. 156. Gefühl für das Wunderbare groß.
Ein alter Grieche. i
Fig. 49 auf S. 156. Gefühl für das Wunderbare klein.
Ein Knabe von der Inſel Ceylon.
Fig. 50 auf S. 157. Gefühl für das Wunderbare groß.
Taſſo.
Fig. 51 auf S. 164. Bautalent groß. Alter Grieche.
Fig. 52 auf S. 164. Bautalent klein. Neuholländer.
Fig. 53 auf S. 171. Nahahmungstalent groß. Clara
Fiſcher.
Fig. 54 auf S. 171. Nachahmungstrieb klein. Jakob
Jervis.
Fig. 55 auf S. 176. Tonſinn groß. Händel.
Fig. 56 auf S. 176. Tonſinn klein. Anna Ormerod.
Fig. 57 auf S- 186. Gegenſtandſinn und überhaupt alle
Organe der Intelligenz groß. Michael Angelo.
VII Inhaltsverzeichniß der Abbildungen.
Fig. 58 auf S. 190. Geſtaltſinn groß. William Dobſon.
Fig. 59 auf S. 208. Gegenſtandſinn mäßig. That—
ſachenſinn groß. Vergleichungsgabe ziemlich groß. Wil—
liam Pitt.
Fig. 60 auf S. 208. Gegenſtandſinn groß. Thatſachen—
ſinn klein. Vergleichungsgabe ſehr groß. Thomas Moore.
Fig. 61 auf S. 208. Gegenſtandſinn groß. Thatſachen—
ſinn groß. Vergleichungsgabe ziemlich groß. Sheridan.
Tafel VI. zu S. 349. Bacon. Kant
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ſynthetiſcher Theil.
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Als Knabe hatte Galle) angefangen, ein Wechſelverhältniß
zwiſchen den Gaben ſeiner Geſpielen und der Bildung ihres
Kopfes wahrzunehmen. In ſeiner Kindheit überzeugte er
ſich ſchon von der Wahrheit, daß die Menſchen mit ver—
ſchiedenen Geiſtesanlagen geboren werden, und daß die an—
gebornen Geiſteskräfte, wenn auch durch Verhältniſſe und
Erziehung modificirt, im weſentlichen ſich nicht zu verändern
pflegen. Dieſe Gedanken folgten ihm von ſeinem Onkel im
Schwarzwalde, bei welchem er in einem Alter von neun
Jahren lebte, auf die Schulen zu Baden bei Raſtadt und
Bruchſal und auf die Univerſitäten Straßburg und Wien.
Hier fiel es ihm beſonders auf, nichts von den Verrichtun—
gen des Gehirns zu vernehmen. Er dachte, dieſe müßten — .
jedenfalls bedeutungsvoller ſein, als diejenigen von Lunge,
Leber und Magen, und doch hörte er zwar von deren Ver—
richtungen, aber nichts von denjenigen des Gehirns. So
wurde er mehr und mehr in der Ueberzeugung beſtärkt, daß
ſeine Gedanken über eine Wechſelbeziehung zwiſchen Gehirn—
und Charakter-Entwickelung Grund haben könnten. Allein
dieſe Gedanken ſtanden im Widerſpruch mit den hergebrach—
ten philoſophiſchen und phyſiologiſchen Anſichten, im Wider—
I) Geb. den 9. März 1758 zu Tiefenbronn bei Pforzheim im
Großh. Baden.
1 *
4 Einleitung.
ſpruch mit Allem, was ihm feine Lehrer über Gehirn- und
Schädelbau, über Geiſtesanlagen und Geiſtesfreiheit vor—
trugen. Indeß, einmal auf die Bahn der eigenen For—
ſchung, der emſigen Naturbeobachtung getreten, ließ er ſich
nicht irre machen durch die Zweifel, die in ihm rege wur—
den. Jahre lang arbeitete er im Stillen für ſich, raſtlos
die Natur befragend. Nur ſie, nicht die Schulweisheit der
Gelehrten, ſollte ſeine Zweifel löſen. Im Jahre 1785 hatte
er ſeine akademiſchen Studien vollendet. Nach eilfjährigen
angeſtrengten und unausgeſetzten Forſchungen fing er zuerſt
an, mündlich ſeine Anſichten über Gehirn- und Schädelbau
in größeren Kreiſen mitzutheilen. Bis zum Jahre 1802
ſetzte er dieſe Privatvorleſungen zu Wien vor einem zahl—
reichen und ausgeſuchten Publicum fort, als fie plötzlich im
Anfange dieſes Jahres, in Folge eines kaiſerlichen Cabinets—
billets, geſchloſſen wurden. Dieſer Befehl konnte jedoch
nicht hindern, daß ſich die neue Lehre bald im nördlichen
Deutſchland und unter allen gebildeten Nationen Europas
verbreitete und mit Enthuſiasmus aufgenommen wurde );
Gall ſelbſt zauderte lange Jahre, in Druckſchriften mit ſei—
ner Lehre vor das Publicum zu treten. Allein eine Menge
Schriften erſchienen von feinen Schülern.
Die erſte Nachricht?) von feiner Lehre hatte er aller—
dings ſelbſt dem größern Publicum in einem Briefe ge—
geben, welcher, an den Freiherrn von Retzer gerichtet, in
Wielands neuem teutſchen Merkur im Jahre 1798 No. 12
S. 311 ff. erſchien. Allein damals hatten natürlich ſeine
Entdeckungen noch nicht denjenigen Grad von Reife erlangt,
welchen ſeine ſpäteren Schriften bekunden. Es waren da—
1) S. Dr. Joſeph Gall's Syſtem des Gehirn- und Schädelbaues
von J. T. F. K. Arnold. Erfurt 1805. S. 8 ff.
2) Einige Andeutungen ſeiner Entdeckungen finden ſich übrigens
ſchon in ſeinen 1792 bei Gröſſer in Wien erſchienenen „Philoſophiſch—
medicinifchen Unterſuchungen über Natur und Kunſt im gefunden und
kranken Zuſtande des Menſchen.“ J. Bd. (Ein zweiter iſt nicht er—
ſchienen.)
Einleitung. 5
her hauptſächlich die Darſtellungen, welche feine Schüler
dem Publicum vorlegten, wodurch diejenigen, welche nicht
Gelegenheit hatten, die Vorleſungen des Meiſters zu hören,
von feinen Entdeckungen unterrichtet wurden ).
Mit Blitzesſchnelle verbreitete ſich die neue Lehre über
Deutſchland und die Nachbarländer. Gall konnte daher
hoffen, an andern Orten einen günſtigeren Boden für ſeine
Samenkörner zu finden, als in Wien. Schon früher hatte
ſich Dr. Spurzheim mit ihm verbunden und ihm in feinen,
namentlich anatomiſchen und phyſiologiſchen Forſchungen
Beiſtand geleiſtet. Im Jahre 1805 verließen beide zu—
ſammen Wien, beſuchten die bedeutendſten Städte Deutſch—
lands und der Nachbarländer, und hielten Vorleſungen in
denſelben. Man zollte den beiden Gelehrten zwar wohl
Achtung und Aufmerkſamkeit, allein man hielt ſie nirgends
feſt. Kleine Geiſter, neidiſche Gelehrte, Dichter, welche den
Maſſen zu lachen geben wollten, verbündeten ſich mit der
Intoleranz und der Bigotterie, und ſo wurden die beiden
großen Männer von dem deutſchen Boden verdrängt. In
Frankreich ſuchten ſie Schutz. Doch auch da blieb der Neid
nicht unbeſchäftigt. Ein Kaiſerwort Napoleons trat dem
Deutſchen, dem Ausländer, Gall, entgegen und vereitelte
ſeine Beſtrebungen, bei der franzöſiſchen Akademie Aner—
kennung zu finden. Auch dieſes brach den Muth der rü—
ſtigen Kämpfer für die Wahrheit nicht. Sie fuhren fort,
Vorleſungen zu halten, bis dieſe im Jahre 1814, in Folge
einer allgemeinen Verordnung, geſchloſſen wurden.
In England, Schottland und Nordamerika eröffnete
Spurzheim nunmehr ſeiner Wiſſenſchaft ein neues, groß—
artiges Feld der Thätigkeit. Im Jahre 1828 ſtarb Gall’)
1) Eine ziemlich vollſtändige Zuſammenſtellung jener, nunmehr
meiſt unpraftifch gewordenen Schriften findet ſich in Choulant's Vor—
leſung über die Kranioſkopie. Dresden 1844.
2) Seine Hauptwerke ſind:
Anatomie et Physiologie du Systeme nerveux en general et
6 Einleitung.
auf feinem Landgute Montrouge bei Paris, im Jahre 1832
Spurzheim!) in Nordamerika. Allein mittlerweile waren der
neuen Seelenlehre tüchtige Pfleger herangewachſen. Georg
Combe!) und fein Bruder Andreas?) wurden die kräftigen
Stützen der aufſtrebenden Wiſſenſchaft. Viele andere be—
du cerveau en particulier. Paris 1810-1819. (Die bei—
den erſten Bände ſind gemeinſchaftlich mit Spurzheim be—
arbeitet.)
Sur les fonctions du cerveau et sur celles de chacune de
ses parties. Paris 1822. Ins Deutſche auszugsweiſe über:
ſetzt unter dem Titel: Vollſtändige Geiſteskunde. Nürnberg
1827. 1833.
|
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|
|
I) Seine Hauptwerke find:
Physiognomical System. London 1815.
Outlines of Phrenology. London 1815. 1827.
Phrenology or the doctrine of the mental operations. Lon-
don 1815.
Philosophical principles of Phrenology. London 1825.
Examination of the objections made in Britain against the
Doctrines of Gall. London 1819.
Phrenology in connexion with the study of Physiognomy.
London 1826.
Anatomy of the Brain. London 1826.
Appendix fo the Anatomy of the Brain with remarks on
M' Charles Bells Animadversions on Phrenology. Lon-
don 1832.
2) Seine Hauptwerke find:
A System of Phrenology 4% Edit. 1839. Ins Deutſche
überſetzt von Dr. Hirschfeld.
Elements of Phrenology 5" Edit. 1841.
Outlines of Phrenology 6" Edit. Edinb. 1839.
3) Ich führe von feinen Werken hier an:
The principles of Physiology applied to the Preservation
of Health and to the improvement of Physical and men—
tal Education. Edinb. 10% Edit. 1841.
A treatise on the Physiological and moral management of,
infancy.
Einleitung. 1
deutende Männer ſchloſſen ſich ihnen an. Es entſtand eine
reiche Literatur), ganze Wiſſenſchaften wurden durch die neue
Seelenlehre regenerirt). Von der Hauptſtadt Schottlands
verbreitete ſich dieſelbe raſchen Schrittes über die drei ver—
einigten Königreiche und über Nordamerika. Die bedeu—
tendſten Städte Alt- und Neu-Englands gründeten phre—
nologiſche Geſellſchaften, und ſo wurde die neue Lehre, welche
den Namen Phrenologie mittlerweile angenommen hatte, auch
ins praktiſche Leben übergeführt. Bereits ſtehen in Schott—
land, England und Nordamerika mehrere Strafanſtalten und
Irrenhäuſer unter der Leitung der Phrenologen, gleichwie die
bedeutendſten mediciniſchen Zeitſchriften ) Englands ſich zu
Gunſten ihrer Wiſſenſchaft ausgeſprochen haben.
I) The Phrenological Journal Vol. I-17. Edinb. 1823-1844.
The Zoist, a Journal of cerebral Physiology and Mesmerism.
London 1843. 1844.
The American Phrenological Journ. Philadelphia 1838 —1842.
2) Spurzheim, Sketch of the natural laws of man. Lon-
don 1828.
G. Combe. The constitution of man considered in Re-
lation to external objects. 7 Edit. Ins Deutſche überf.
von Dr. Hirſchfeld. ;
Spurzheim, Elementary principles of education. Edin—
burgh 1821. 1828. Ins Franzöſiſche über. 1822.
James Simpson, The Philosophy of Education with its
practical application to a system and plan of popular
Education as a National object. 2 Edit. Edinb. 1836.
George Combe, Moral Philosophy or the duties of Man. 2"
Edit. Edinb. 1841.
Spurzheim, Observations sur la Folie. Paris 1818. Ins
Deutſche überſetzt von Dr. Embden.
Andrew Combe, Observations on mental derangement
being an application of the principles of Phrenology to
the elucidation ofthe causes, symptoms, nature and treat-
ment of insanity. Edinb. 1835.
Sampson, Criminal Jurisprudence considered in rela-
tion to mental Organization. London 1841.
3) The Medico-Chirurgical Journal. London quarterly.
es
Einleitung.
Die Reiſe, welche Georg Combe auf vielfache Einla-
dung in den Jahren 1838, 39 und 40 nach Nordamerika
machte), belebte dort aufs neue die phrenologiſchen Be—
ſtrebungen. Das Unterrichtsweſen vieler Städte, ja ſchon
eines ganzen Staates, des Staates Maſſachuſſets, mit einer
Bevölkerung von einer Million Menſchen, ſteht unter der
Leitung dieſer, in Deutſchland noch immer ſo wenig beach—
teten Wiſſenſchaft.
In Frankreich haben ſich Vimont!), Brouſſais ), Beſ—
ſieres), Foſſati, Voiſin, Dumoutier und Andere um die
Phrenologie große Verdienſte erworben, und in Paris be—
ſteht auch eine phrenologiſche Geſellſchaft. In Italien
wurde zwar der erſte Verſuch von Uccelli'), der Wiſſen—
ſchaft Eingang zu verſchaffen, in ähnlicher Weiſe bekämpft,
wie in früherer Zeit das Syſtem Galilei's; allein Ferra—
reſe“), Moloſſi '), Rigoni ), Zarlenga ), Dr. Caſtle “) und
The British and Foreign Medical Review. London quarterly.
The Lancet. London weekly.
1) Beſchrieben in feinem Werke: „Notes on the United states
of North-America. Edinburgh 1841.“
2) Traite de la Phrenol. humaine et comparée. Paris 1833—36.
3) Legons sur la Phrenologie. Paris 1836.
Hygiene morale ou application de la Physiologie a la mo-
rale et à l’&ducation. Paris 1834.
Rapport de la Phrenologie avec la Philosophie. Paris 1835.
4) Introduction a l’etude philosophique de la Phrenologie, et
nouvelle classification des facultes cerebrales. Paris 1836.
5) In feinem Compendium der vergl. Anatomie u. Phyfiologie,
6) Luigi Ferrarese, Memorie risguardanti la Dottrina Fre—
nologica. Napoli 1838. 2 Vol.
— , Quistioni di Psicologia Medico - forense. Napoli 1834.
7) Zu Mailand in verſchiedenen phrenologiſchen Abhandlungen.
8) Dr. Rigoni, Prof. der Phyſiologie an d. Univerfität zu Pifa-
9) Dr. Zarlenga zu Neapel.
10) Corso di lezioni sulla Frenologia. Milano 1841.
Einleitung. 9
Andere haben ſich dadurch nicht abſchrecken laſſen, auf dem Wege
der Wahrheit kühn voranzuſchreiten. In Dänemark haben Pro—
feſſor Dr. Otto) und Dr. Hoppe), in Schweden Dr. Schwarz
für ſie gewirkt, und auch in Deutſchland fängt ſie an, allmälig
ihr Haupt wieder zu erheben), wozu die im Sommer 1842
I) Tidskrift for Phrenologien udgivet af C. Otto. Kiöbenhavn.
Phrenologien af C. Otto. Kiöbenhavn.
2) Dr. Hoppe zu Kopenhagen in verſchied. phrenolog. Abhandlungen.
3) R. R. Nöel, Grundzüge der Phrenologie oder Anleitung zum
Studium dieſer Wiſſenſchaft. Dresden 1842.
Attomyr, Theorie der Verbrechen auf Grundſätze der Phre—
nologie baſirt. Leipzig 1842.
Georg Combe, Leitfaden zu phrenolog. Vorleſungen. Mann—
heim 1842.
Guſtav v. Struve, die Phrenologie in und außerhalb Deutſch—
land. Heidelberg 1843.
Derſelbe in v. Jagemanns und Nöllners Zeitſchr. für deutſches
Strafverfahren Jahrg. 1842. Hft. 2. Bd. III. S. 161 ff.
„Ueber das Verhältniß der Phrenologie zum Strafrecht.“
Derſelbe in eben dieſer Zeitſchr. Bd. III. H. 4. „Ueber die Zu—
rechnungsfähigkeit.“
Derſelbe, „Ueber Todesſtrafen, Behandlung. der Strafgefangenen
und Zurechnungsfähigkeit.“ Beil. zu Bd. I. H. J. der Zeitſchr.
für Phrenologie.
Derſelbe in Reyſcher's und Wilda's Zeitſchr. für deutſches Recht,
Bd. VIII. No. VII. S. 177—200. „Ueber den Einfluß der
Phrenologie auf das Recht.“
Derſelbe in der Zeitſchr. für Phrenologie Bd. II. H. 5. No. III.
„Ueber den Einfluß der Geſetzgebung auf den moraliſchen und
intellectuellen Zuſtand des Volkes.“
Derſelbe in Weil's conſtitutionellen Jahrbüchern Bd. III. „Ueber
die politiſchen Strebungen unſerer Zeit.“
Derſelbe in der Pädagogiſchen Revue von Dr. Mager, Dritter
Jahrg. Bd. 5. Oktoberheft 1842. Vierter Jahrg. Bd. 7.
Novemberheft 1843. Fünfter Jahrg. Bd. 8. Februarheft
1844, „Ueber die Erziehung nach phrenolog. Grundſätzen.“
Geh. R. Profeſſor Dr. Mittermaier in den Sächſiſchen Va—
terlandsblättern 1842 No. 131, „Die Phrenologie und ihre
Bedeutung in der Strafgeſetzgebung.“
10 Einleitung.
von Hrn. Georg Combe zu Heidelberg gehaltenen phrenolo—
giſchen Vorleſungen einen kräftigen Impuls gegeben haben.
Phrenologie (von 30 Seele und 76% s Lehre) iſt die
Lehre von der Seele, wie ſie ſich entwickelt aus der Betrachtung
ihrer körperlichen Organe und insbeſondere des unmittelbaren
Haupt-Organs ihrer Thätigkeit, des Gehirns. Sie unter—
ſcheidet ſich von der alten Pſychologie, wie das griechiſche
u von gen. Unter Pſyche verſteht man nämlich die
Seele ohne Rückſicht auf ihre Verbindung mit dem Körper,
unter Phren die Seele in ihrer Verbindung mit demſelben.
Bisher entbehrte die Seelenlehre jedes feſten Anhaltpunktes,
die Speculation der verſchiedenen Philoſophen fand verſchiedene
Seelenkräfte, jeder nahm bei ſeinen Beſtrebungen in der Re—
gel nur die eigene Individualität als Prototyp der Seelen
aller Menſchen an, und das Element der Erfahrung war
aus der Pſychologie ſo gut als ganz ausgeſchloſſen. Die
Phrenologie dagegen baut ihre Seelenlehre weſentlich auf
die Erfahrung, wie ſie ſich namentlich darſtellt in dem Bau
des Gehirns im Verhältniß zu der bekannten Thätigkeit
deſſen, dem es angehört. Sie vergleicht den Bau des Ge—
hirns der verſchiedenen Nationen, wie der verſchiedenen In—
dividuen der Erde mit ihren an den Tag gelegten Eigen—
ſchaften, und hat auf dem Grund dieſer Vergleichung, durch
Unterſuchungen der Phrenologie oder Gall'ſchen Schädellehre von
Prof. J. S. A. Grohmann. Grimma 1842.
G. Combe, Erfahrungen über die Wirkſamkeit der verſchiedenen
Pönitentiar-Syſteme in Nordamerika, in der krit. Zeitſchr.
f. Rechtswiſſenſch. u Geſetzgebg. d. Ausl. Bd. XV. H. 2. No. VII.
Guſtav v. Struve, Die Geſchichte der Phrenologie. Heidel—
berg 1843.
Zeitſchrift für Phrenologie von G. v. Struve und Dr. Hirſch—
feld. Heidelberg 1843. 1844.
Dr. M. Caſtle, Phrenologiſche Analyſe des Charakters des
Hrn. Dr. Juſtinus Kerner. Heidelberg 1844.
Derſelbe, Phrenolog. Unterſuchung des Hrn. Dr. D. Fr. Strauß.
Heilbronn 1844.
Einleitung. 11
eine Reihe unwiderleglicher und unleugbarer Thatſachen einen
Cauſalzuſammenhang zwiſchen dieſem und jenen aufgefunden.
Die Sammlung und Bewahrung der betreffenden Thatſachen
war die Arbeit von mehr als einem halben Jahrhundert, und
außer den oben (S. 6 ff.) genannten Männern haben wohl
noch Hunderte zu dieſen Zwecken mitgewirkt. Die Frage,
ob der Beweis der thatſächlichen Begründung der neuen
Seelenlehre gelungen iſt, kann natürlich hier nicht gelöft
werden. Denn nur vermittelſt der Prüfung aller vorhan—
denen phrenologiſchen Thatſachen und Reſultate und haupt—
ſächlich nur in Folge ſelbſt angeſtellter Beobachtungen kann ſie
beantwortet werden, da die Phrenologie weſentlich Erfahrungs—
wiſſenſchaft iſt. Hier können nur die gewonnenen Reſultate
und die ſie begründenden Thatſachen kurz angedeutet werden.
Die eigentliche Grundlage der Phrenologie bildet das
Gehirn und das Nerven-Syſtem überhaupt, und da dieſes
Werk nicht blos für Mediciner vom Fache beſtimmt iſt, ſo
iſt es erforderlich, hier einige allgemein verſtändliche Mit—
theilungen über jene ſo hoch wichtigen Theile des menſch—
lichen Körpers zu machen.
Ein Nerv iſt ein feſter weißer Strang, welcher aus
Nervenſtoff und zellenförmiger Subſtanz zuſammengeſetzt iſt.
Der Nervenſtoff beſteht in beſondern Fäden, welche durch
eine zellenförmige Membran verbunden ſind. Sie mögen
einem Büſchel Haare oder Fäden verglichen werden, welche
in einer aus der feinſten Membran beſtehenden Scheide ein⸗
geſchloſſen ſind.
Fig. 1.
Fig. 1 ſtellt einen ſehr vergrößerten Nerv dar, welcher
aus abgeſonderten Faſern beſteht. A der Nerv, von ſeiner
12 Einleitung.
membranartigen Scheide umſchloſſen; B einer der Fäden in
präparirtem Zuſtande.
Die Nerven ſind von verſchiedener Dicke. Einige ha—
ben den Durchmeſſer eines dünnen Fadens, andere denje—
nigen einer Peitſchenſchnur. Sie ſind über den ganzen
Körper verbreitet und erſtrecken ſich über jeden Theil, wel—
cher Empfindung, Bewegung oder eine mit anderen Thei—
len zuſammenwirkende Thätigkeit hat.
Die Subſtanz eines geſunden und im vollen Beſitze
ſeiner Thatkraft befindlichen Nervs iſt von einer dunkel—
weißen Farbe; ſie iſt weich und breiartig, in der Mitte
zwiſchen flüſſig und feſt, zu weich für die Sonde. Im Zu—
ſtande der Fäulniß erlangt ſie eine grüne Farbe, im trock—
nen Zuſtande wird ſie durchſichtig. Aetzendes Sublimat
und ſalzſaure Soda härten ſie; Alkali löſt ſie auf. Jedes
Nervenfäſerchen beſchreibt nicht eine gerade Linie, ſondern
eine gewundene Zickzacklinie, gleich dem aus einem Strumpfe
gezogenen Faden, welcher durch ſeine Geſtalt Elaſticität ge—
wonnen hat. Mangel an Uebung hat entweder zur Folge,
daß die Nerven-Subſtanz nicht in hinreichendem Maße aus—
geſchieden wird, oder ihr Ausſehen verändert, denn der Nerv
erhält dadurch einen gewiſſen Grad von Durchſichtigkeit.
Die Nerven ſind mit Arterien und Venen verſehen,
ſie bedürfen der Zufuhr von Blut, wie aus der Thatſache
erhellt, daß, wenn ein Glied ſeines Blutes beraubt wird
die Nerven ihre Kraft und mit dieſer ihre Empfindlichkeit
verlieren. Wenn ein Nerv zuſammengedrückt wird, ſo wird
zu gleicher Zeit ſeine Gewalt über die Muskeln und ſeine
Fähigkeit, Empfindungen zu vermitteln, unterbrochen; und
wenn der Druck aufhört, ſo iſt ein ſchmerzliches Zittern
die Folge. Das Gehirn, die Nerven des Auges und des
Ohrs, die Nerven der Empfindung und Bewegung werden
alle durch Veränderungen in der Circulation influencirt:
und zwar jedes Organ, nach Verſchiedenheit ſeiner Ver—
richtungen, in verſchiedener Weiſe.
Ein Nerv beſteht aus verſchiedenenen Faſern, obgleich
Einleitung. 15
die Scheidungslinien derfelben nicht wahrnehmbar find. Eine
Faſer dient zum Zwecke der Empfindung, eine andere zur Mus:
kelbewegung; eine dritte gehört zu dem Syſteme der Anre—
gung der Bewegung (excito-motory system). Die Ver—
richtung jeder einzelnen Faſer kann nur entdeckt werden,
wenn man ihr folgt und ihre Verhältniſſe, und insbe—
ſondere ihren Urſprung im Gehirn und dem Rückenmark
beobachtet. In ihrer Subſtanz zeigt ſich keine Verſchie—
denartigkeit. Alle ſcheinen gleichmäßig eine weiche, breiartige
Subſtanz zu enthalten, welche in eine zellenförmige Maſſe
eingeſchloſſen iſt und von einer Röhre dieſer Membran in
ſolcher Weiſe umgeben iſt, daß ſie eine fortlaufende Linie
breiartiger Nerven-Subſtanz darbietet, von dem Ende zu—
nächſt dem Gehirn bis zu demjenigen, welches in einer
Muskel oder in der Haut ausläuft.
Jede Nerven-Faſer hat ihre eigenthümliche Verrichtung,
unabhängig von den anderen, welche mit ihr in derſelben
Scheide ruhen, ihrer ganzen Länge nach. Einige Nerven
vermitteln die Empfindung, andere, eben ſo vollkommen
und zart gebaute beſitzen durchaus keine Empfindung. Die
Empfindung hängt von dem beſondern Theile des Gehirns
ab, mit welchem der Nerv an feiner Wurzel in Verbindung
ſteht. Wenn der Augapfel gedrückt wird, ſo fühlen z. B.
die äußeren Bedeckungen Schmerz, allein die Retina fühlt
keinen Schmerz, ſondern vermittelt nur die Wahrnehmung
von feurigen Ringen, welche vor dem Auge ſchweben. Die
Nerven, deren Aufgabe iſt, die Muskeln zu beherrſchen, ſte—
hen mit keinem Sinnes-Organe in dem Gehirn und mit
keinen äußeren Eindrücken in Verbindung, daher werden ſie
keine Empfindung und namentlich keinen Schmerz vermit—
teln. Nerven dieſer Art mögen die innigſte Verbindung
zwiſchen zwei Organen und ihr Zuſammenwirken begründen,
ohne daß ſie jedoch irgend einen Schmerz oder überhaupt
irgend ein Gefühl hervorrufen, wenn ſie gequetſcht oder
verletzt werden. Ihre Verrichtung iſt nur, die Befehle des
Willens zur Vollſtreckung zu bringen.
14 Einleitung.
Nahe bei der Vereinigung der Wurzeln der Rückgrats—
nerven finden ſich an den hintern Wurzeln kleine röthliche
Anſchwellungen, Ganglien genannt (S. D auf Fig. 3
S. 16). Ein Ganglion oder Nervenknoten gleicht an Ge—
ſtalt den kreisförmigen Anſchwellungen, welche ſich an dem
Stiel eines Strohhalms oder Rohrs zeigen; allein die Gan—
glien folgen ſich nicht in regelmäßigen Zwiſchenräumen, au—
ßer den mit dem großen ſympathetiſchen Nerv verbundenen,
welche bei den Wirbelthieren eine regelmäßige Folge auf
beiden Seiten des Rückenmarks bilden. Die Ganglien be—
ſtehen aus derſelben Maſſe, wie die graue Subſtanz des
Gehirns, und ſind, der Farbe nach, nur etwas röthlicher,
als die Nerven.
Alle Nerven der Bewegung kreuzen ihre Aeſte, bevor
ſie ſich in die Muskeln ſenken, und bilden ſo eine verſchlun—
gene Nervenmaſſe, welche Plexus (Geflechte) genannt wird.
Im Verhältniß zu der Zahl der Muskeln, welche mit Ner—
ven verſehen werden, und zur Mannigfaltigkeit der Verbin—
dungen, in welche ſie treten, iſt ein Plexus mehr oder
weniger verſchlungen. Die Nervenfäſerchen, welche nach
der Haut gehen, und die einfache Verrichtung haben, Em—
pfindung zu vermitteln, nehmen regelmäßig ihre Richtung
nach ihrer Beſtimmung ohne einen Plexus zu bilden. Von
der Floßfeder eines Fiſches bis zum Arme des Menſchen
wird der Plexus immer verwickelter, je mannigfaltiger oder
ausgedehnter die am Ende auszuführenden Bewegungen ſind.
Durch die Kreuzung der Faſern wird die Zuſammenwirkung
der Muskeln vorbereitet.
Verſchiedene Säulen von Nervenſtoff ſind vereinigt, um
das Rückenmark zu bilden. Dieſes iſt enthalten in der
Rückenmarkſäule oder dem Rückgrate. Zahlreiche Nerven
der Empfindung und Bewegung gehen und verzweigen ſich
nach verſchiedenen Gegenden des Körpers. Das Gehirn
und das Rückenmark geben jedoch den Nerven nicht ihre
Entſtehung. Die Nerven bilden ſich zuerſt in den verſchie—
denen Theilen, in welchen ſie ſich verzweigen, und dehnen
Einleitung. 15
fi) im Verhältniſſe ihres Wachsthums gegen das Gehirn
und das Rückenmark hin aus, bis ſie ſich mit denſelben
verbinden.
Erklärung.
Fig. 2. zeigt die Ver—
bindung der Nerven und
des Rückenmarks mit dem
Gehirn. A iſt das Ge—
hirn, welches durch die
N
8
N e N
N) N
bar wird. B ift das kleine
Gehirn. C das Rücken—
mark. DD die Nerven,
welche von dem Rücken—
marke aus nach dem Arme
zu gehen. E die Nerven,
welche nach den unteren
1 5 g
ü Entfernung des hintern
e Theils des Schädels ſicht—
71 Extremitäten verlaufen.
A| 0000 die Nerven der
670 Bruſt und des Unter—
| leibs. Obgleich dieſe Fi-
I gur auf äußerſte anato—
|
miſche Genauigkeit keinen
Anſpruch hat, giebt ſie
doch eine gute allgemeine
Anſicht von dem Zuſam—
menhang der verſchiedenen
* Theile des Nervenſyſtems.
Jeder Seitentheil des Rückenmarks beſteht aus drei
Strängen oder Säulen: einer für die freiwillige Bewegung,
einer für die Empfindung und einer für die unfreiwillige Be—
wegung; ſo daß das Rückenmark im Ganzen ſechs, aufs in—
nigſte verbundene, allein in ihren Verrichtungen verſchiedene
Man er r
16 Einleitung.
Stränge umfaßt. Das Kopfſtück dieſer zuſammengeſetzten
Säule bildet das verlängerte Rückenmark.
Die vordere Säule jedes Seitentheils des Rückenmarks
iſt für die freiwillige Bewegung beſtimmt; die Rückſeite für
die Empfindung; und die mittlere für die unfreiwilligen Be—
wegungen des die Bewegung erregenden Syſtems. Die zwei
erſteren erſtrecken ſich nach dem Gehirn und verlieren ſich darin;
denn ihre Verrichtungen ſtehen in Verbindung mit denjenigen
Organen des Gehirns, welche die Empfindung und die Willens—
kraft vermitteln ). Die letztere dagegen endet in dem ver—
längerten Rückenmark, da ihre Verrichtung unabhängig von
der Vernunft iſt, und ohne Verbindung mit dem Gehirn
fortbeſtehen kann.
1
0
A.
un
RL
NL
11
1 1.
A
ADB das Rückenmark, von vorn geſehen. Die Ab—
theilung in Seitentheile bezeichnet die Linie AB. Der
Nervenſtrang C entfpringt in der hinteren Seitenabtheilung
und vermittelt die Empfindung. Die Anſchwellung D iſt
deſſen Ganglion. Der Nervenſtrang E entſpringt in der
vorderen Seitenabtheilung und vermittelt die Bewegung.
Er hat kein Ganglion. Beide Stränge vereinigen ſich
beim Punkte F und gehen in einer Scheide bis zu ihrem
Endpunkte fort.
1) S. unten $ 7.
Einleitung. 17
Die Muskeln haben zwei Nerven, welche jedoch ge—
wöhnlich mit einander verbunden ſind. Bisweilen, wie z. B.
im Kopfe, trennen ſie ſich oben, und dann finden wir, daß
der eine Nerv die Empfindung und der andere die Bewe—
gung vermittelt.
Cruveilhier ſagt, das Verhältniß der Empfindungs— und
Bewegungs-Nerven des Menſchen ſei folgendes: bei den Nacken—
Nerven Empfindung 3, Bewegung 1. Rücken-Nerven fo ziem—
lich gleich. Lenden-Nerven Empfindung 2, Bewegung 1.
Vier Nerven kommen aus einem Strang oder einer Säule
des Rückenmarks (dem Mittelpunkte des Syſtems der Anre—
gung der Bewegung des Dr. Marſhall Hall), woraus weder
die Nerven der Empfindung noch diejenigen allgemeiner frei—
williger Bewegung hervorgehen. Verſuche beweiſen, daß dieſe
Nerven die mit dem Athmen in Verbindung ſtehenden Be—
wegungen anregen. Unter der Claſſe der Athmungsbewe—
gungen müſſen wir zwei Arten unterſcheiden: erſtens die
unwillkührlichen oder inſtinctartigen und zweitens diejenigen
Bewegungen, welche einen Willensact begleiten. Im Schlafe
werden wir uns des Wechſels zwiſchen Bewegung und
Ruhe nicht bewußt, welcher dem inſtinctartigen Athmen
eigenthümlich iſt. Dieſe Bewegung der Athmungs-Organe
iſt unabhängig vom Gehirne. Auf der anderen Seite
beruht das Athemholen aber auch bisweilen auf einem
Willensacte, z. B. wenn wir riechen, die Bruſt ausdehnen
oder einziehen wollen u. ſ. w. Sir Ch. Bell nimmt an,
daß es dieſe zuſammengeſetzte Wirkſamkeit der Athmungs—
Organe iſt, welche einen gewiſſen Grad von Verwickelung
in das Syſtem der Athmungs-Nerven einführt. Das Zu—
ſammentreffen der Nerven verſchiedener Syſteme iſt erfor—
derlich zu Bewegungen, welche auf den erſten Anblick ſehr
einfach ſind.
In demſelben Maße, als die Thiere auf der Stufen—
leiter der Schöpfung ſich erheben, ſind ihnen neue Organe
verliehen, und in demſelben Maße, als ihnen ueue Organe
und neue Verrichtungen zugetheilt werden, finden ſich auch
5)
u
18 Einleitung.
neue Nerven mit entſprechender Kraft der Bewegung und
der Empfindung.
Durch viele Verſuche iſt hergeſtellt, daß das Rücken—
mark und deſſen Verlängerung bis zu den Vierhügeln und
zum fünften Nervenpaar zur Vermittelung der körperlichen
Empfindung und der unfreiwilligen Bewegung weſentlich,
während die Gehirn-Lappen zu dieſem Zwecke nicht erfor—
derlich ſind ).
Das Gehirn iſt ein großes Nervengewebe, welches ver—
ſchiedene Falten bildet, wie |
Fig. 4.
zeigt. Hier ſehen wir deſ—
ſen obere Fläche, umgeben
von dem Schädel, deſſen
obere Hälfte jedoch durch
einen horizontalen Durch—
ſchnitt entfernt worden iſt.
Das Gehirn beſteht
aus zwei correfpondirens
den Hälften, welche He—
miſphären genannt wer—
den. Die Linie A B
trennt dieſelben. Die
Stirn iſt bei B. Die,
Fig. 4 deutlich ſichtba—
ren, Falten oder Windungen ſind von verſchiedener Tiefe.
Bei dem Erwachſenen ſpielt ſie zwiſchen einem halben und
einem ganzen Zoll. Die Hemiſphären bilden ſich vor der
Geburt von vorn nach hinten und von außen nach innen.
Zuerſt beſtehen fie nur aus einer dünnen membran (haut)-
artigen Schicht Nervenſubſtanz. Bei der Geburt ſind
I) Dr. Marshall Hall, Lectures on the Nervous-System and
its Diseases. London 1836. Solly, on the Brain — C. Combe,
System of Phrenology 5% Edit. Vol. I. p. 81-96.
Einleitung. 19
fie gewöhnlich drei bis vier Zoll lang und zwei Zoll
breit. Das Gehirn bildet ſich vor dem Schädel. In dem
Fötus iſt es bedeckt von drei Membranen, der ſ. g. pia
mater, arachnoidea und dura mater, und außerhalb der—
ſelben von einer knorpligen Membran, welche dazu beſtimmt
iſt, in den Schädel überzugehen. In dem ſiebenten oder
achten Monat nach der Empfängniß bilden ſich darin Ver—
knöcherungspunkte, welche ſich nach und nach über das ganze
Gehirn ausdehnen. Im Laufe von acht bis neun Jahren voll—
endet ſich der Verknöcherungsprozeß. Da jedoch der Schä—
del, wie jeder andere Knochen des menſchlichen Körpers,
Gefäße enthält, welche ihm ſeine Nahrung zuführen und
die verbrauchten Theile wieder entfernen, ſo unterliegt er
denſelben Wechſelfällen des Lebens, wie die übrigen Theile
des Körpers. Es iſt namentlich eine merkwürdige Thatſache,
daß die Schädel ſehr alter Leute in der Regel kleiner ſind,
als diejenigen der Menſchen in kräftigen Jahren). Man
muß ſich daher den Schädel nicht als eine unveränderliche, das
Gehirn bedeckende Kapſel, ſondern als eine, mit demſelben im
innigſten Zuſammenhang ſtehende, ſeinem Druck nachgebende
und ſeinem Zuſammenſchrumpfen folgende Decke vorſtellen.
Das Gehirn erhält im Verhältniß zu dem übrigen
Körper eine überaus große Zufuhr an Blut. Jede Seite
des Gehirns hat ihre beſonderen Arterien, welche ihr Blut
zuführen; allein die Canäle, durch welche daſſelbe zum Her—
zen zurückkehrt, ſind ihnen gemeinſchaftlich. Das Blut muß
mit Sauerſtoff geſättigt ſein, wenn das Gehirn und folge—
weiſe die Verrichtungen der Seele nicht leiden ſollen. Un—
ter und hinter den beiden Hemiſphären findet ſich noch
eine durch eine ſtarke Membran getrennte Gehirnmaſſe, wel—
che das kleine Gehirn genannt wird. Vermittelſt markiger
Faſern wird jedoch die Verbindung zwiſchen beiden Gehirn—
theilen hergeſtellt.
I) Tiedemann, das Hirn des Negers mit dem des Europäers
und Orang-Outangs vergl. Zeitſchr. f. Phrenologie. Bd. I. H. 2 S. 173.
0 *
20 Einleitung.
Die Hemiſphären ihrerſeits theilen ſich in drei Theile,
welche Lappen genannt werden. Der vordere ruht auf dem
Orbitalrande und iſt durch eine tiefe Furche von dem mitt—
leren getrennt, während der mittlere Lappen ſich von dem
hintern kaum merklich abſondert.
Das Gehirn neugeborner Kinder iſt weich und keine
Spur von Faſern iſt darin zu entdecken. Erſt ſpäter bil—
det ſich ein Faſergewebe, welches ſich mehr und mehr ent—
wickelt, bis das Kind zum Manne wird.
Das Gehirn beſteht aus zwei Subſtanzen: der grauen
oder Rinden- und der weißen oder Mark-Subſtanz. In
den dunkeln Falten der Fig. 5 ſieht man dieſe beiden Sub—
ſtanzen deutlich. Die erſtere hat kein faferiges Anſehen und
wird Rinden-Subſtanz genannt, weil ſie das Gehirn wie
die Rinde den Baum bedeckt.
Dieſe graue Subſtanz verbreitet ſich über alle oberen und
ſeitlichen und einen Theil der unteren Oberflächen des Ge—
Einleitung. 21
hirns. Sie bedeckt die weiße oder Mark-Subſtanz und iſt
an einigen Stellen in inniger Verbindung mit ihr. Sie
vermiſcht ſich mit der weißen Subſtanz nicht allmählig;
im Gegentheil tritt die Unterſcheidungslinie beſtimmt her—
vor, wie Fig. 5 zeigt. Die graue Subſtanz ſcheint ver—
hältnißmäßig mehr Blut zu enthalten, als die weiße.
Die Markſubſtanz des Gehirns iſt weiß und faferig.
Sie bildet die inneren Theile der Gehirnmaſſe. Eine Reihe
von Faſern erſtreckt ſich von dem verlängerten Rückenmark
aufwärts (ſ. Fig. 5), indem ſie ſich fächerartig gegen die
Windungen hin ausdehnt. Eine andere Reihe von Faſern
nimmt die Richtung von einer Seite nach der andern des
Gehirns.
Die graue Subſtanz ſcheint weſentlich die Organe des
Geiſtes zu bilden, während die faſerige Mark-Subſtanz
einen Verbindungs-Apparat enthält, durch welchen das
Zuſammenwirken der verſchiedenen Organe und ihre Ein—
wirkung auf die übrigen Theile des Körpers vermittelt wird.
Die äußere oder graue Subſtanz des Gehirns ſcheint
in Falten geſchlagen zu ſein, um durch eine Vergrößerung
der Oberfläche ihren Verrichtungen mehr Kraft zu verleihen.
Der größere Theil des Gehirns iſt für körperliches Gefühl
unempfänglich. Auch dieſer Umſtand deutet darauf, daß
ihm höhere, geiſtige Verrichtungen obliegen.
Zwiſchen beiden Theilen des Gehirns beſteht eine ge—
wiſſe Uebereinſtimmung, allein keine vollkommene Symme—
trie, wie dieſes z. B. auch bei den Blutgefäßen, den Mus—
keln und den Nerven der rechten und linken Seite des
menſchlichen Körpers der Fall iſt ).
Die beiden Hemiſphären des Gehirns werden durch
zahlreiche, Commiſſuren genannte, Faſern in Verbindung
gebracht, welche von einer Seite nach der anderen gehen.
Die größte derſelben wird corpus callosum, ein durch den
1) Ueber dieſen Gegenftand |. Jeitſchrift für Phrenologie Bd J.
H. 4. S. 395 ff.
22 Einleitung.
vordern Gehirnlappen laufender Nervenſtrang wird die vor-
dere Commiſſur genannt. Außer dieſen beiden finden ſich
noch mehrere andere. Auch die vorderen und hinteren
Theile des Gehirns werden durch Faſern in Verbindung
gebracht, welche von der Stirn nach hinten laufen. Die
obere, der Länge nach gehende Commiſſur liegt in beiden
Hemiſphären unmittelbar über dem corpus callosum und
berührt die Mittellinie. Eine lange Windung iſt daſelbſt
ſichtbar, und wenn man die graue Subſtanz in einem prä—
parirten Gehirn hinwegſchabt, wird man der Länge nach
laufende Faſern entdecken, welche von dem hintern nach
dem vordern Gehirnlappen ziehen. Der Fornix bildet eine
weiter unten, der Länge nach laufende Commiſſur, welche
die unteren Theile des vordern und hintern Lappens ver—
bindet.
Die Organe, mit Einſchluß ihrer vorausgeſetzten Ver: _
bindungs-Apparate, erſtrecken ſich von der Oberfläche des
Gehirns bis zum verlängerten Rückenmarke. Jedes Organ
gleicht einem Kegel, deſſen Spitze ſich im verlängerten
Rückenmarke und deſſen Baſis ſich an der Oberfläche des
Gehirnes befindet Im Verhältniß zum Durchmeſſer des
Organs auf der inneren Oberfläche des Schädels ſteht die
Dicke und die Zahl der darin enthaltenen Faſern. Jedoch
ſind keine Scheidelinien zwiſchen den einzelnen Organen zur
Zeit noch entdeckt worden, ſo wenig als zwiſchen den ver—
ſchiedenen, das Rückenmark bildenden Nerven der Bewegung
und der Empfindung.
Jedes Organ, welches die anderen in ſeiner Nähe be—
findlichen an Größe übertrifft, giebt dem Theile des Schä—
dels, der es bedeckt, eine beſondere Geſtalt, welche auf den
phrenologiſchen Köpfen nachgebildet iſt.
Die das ganze Gehirn umſchließende dünne Membran,
genannt pia mater, ſenkt ſich in ſeine Furchen und dient
dazu, die Blutgefäße nach ſeinen verſchiedenen Theilen zu
verbringen. Unmittelbar über der pia mater finden ſich
zwei Lagen einer noch dünnern Membran, welche ihrer
Einleitung. 23
Zartheit wegen einem Spinnengewebe gleicht, und daher
tunica arachnoidea genannt wird. Sie bedeckt die Ober—
fläche des Gehirns gleichförmig, ohne in deſſen Falten ein—
zudringen. Eine flüſſige Ausſcheidung, welche ſich in den
entgegengeſetzten Oberflächen dieſer Membran bildet, verhin—
dert, daß ſie an einander feſtkleben. Die dura mater iſt
eine dünne, aber ſtarke, dunkele Membran, welche feſt an
der inneren Oberfläche des Schädels anſchließt und die äu—
ßere Oberfläche des Gehirns oberhalb der letztgenannten
Membran umfaßt. Im geſunden Zuſtande iſt ſie unem—
pfindlich. Das in dieſen Membranen eingeſchloſſene Gehirn
füllt das Innere des Schädels vollkommen aus, ſo daß ein
Gips-Abguß der inneren Seite des Schädels ein Facſimile
des von der dura mater umſchloſſenen Gehirns bildet.
Die beifolgende
Fig. 6.
ſtellt einen Schädel dar, deſſen beide
oberen Seitentheile bis in die Gegend
der Augenbraunen abgeſchnitten ſind. Die
meiſten Theile des Schädels beſtehen aus
zwei Platten, der inneren und der äuße—
— ren, in deren Mitte ſich eine ſchwammige
Maſſe befindet, welche Diploe genannt wird. In obiger
Abbildung (Fig. 6) iſt dieſelbe jedoch dicker als in Wirk—
lichkeit dargeſtellt. -
Der Schädel beſteht aus neun Knochen, welche durch
verſchiedene Näthe mit einander vereinigt werden. Er iſt
die Decke, welche das Gehirn umſchließt und ſeine Geſtalt
nach derjenigen des Gehirns bildet). Mit dieſem nimmt
er zu, verändert er ſich und nimmt er wieder ab; drückt
das Gehirn von innen, ſo reihen ſich die neu zugeführten
Theilchen in Gemäßheit dieſes Druckes an. Nur in Krank—
heitsfällen, z. B. bei Waſſerköpfen und bei Perſonen hohen
I) Gall, sur les fonctions du cerveau Tom, Ill. p. I ff.
24 Die Grundlehren der Phrenologie.
Alters, entſpricht daher die Geſtalt des Schädels derjenigen
des Gehirnes im Allgemeinen nicht. An einzelnen Stellen
des Schädels finden übrigens beſondere Schwierigkeiten der
Beobachtung ſtatt; ſo z. B. bietet ſolche die Lambda-Nath
Fig. 7. in der Gegend des Organs des Einheitstriebs,
die Pfeil- und Stirn-Nath in der Gegend der
— Drgane des Selbſtgefühls, der Feſtigkeit, der
Ehrerbietung und des Wohlwollens, und die
Stirnhöhle (ſ. Fig. 7) in der Gegend der Or—
8 gane des Gegenſtands -, Geſtalt-, Größen-,
Gewichts- und Ortsſinnes ).
9 2.
Die Grundlehren der Phrenologie.
Die Frage, welche Kräfte des menſchlichen Geiſtes als
Grundkräfte erſcheinen, läßt ſich, inſofern wir eine auf dem
Boden der Wirklichkeit beruhende Antwort wünſchen, nur
nach vorgängiger Beobachtung der Wirklichkeit beantwor—
ten. Inſofern wir uns dagegen mit bloßen Speculationen
begnügen wollen, brauchen wir uns allerdings um Beobach—
tung und Wirklichkeit nicht zu bekümmern. Nur dürfen
wir dann die bloße Speculation nicht für Wirklichkeit aus—
geben, ſondern für das, was ſie iſt: Räſonnement ohne
andere Baſis, als die Perſönlichkeit deſſen, der es aufftellt,
welches auf Anerkennung von Seiten anderer Perſönlich—
keiten durchaus keinen Anſpruch machen kann.
Als wirkliche Grundkräfte des Geiſtes können wir
aber nur diejenigen anerkennen, welche im wirklichen Leben
als ſolche ſich geltend machen. Das Gedächtniß z. B. iſt
keine Grundkraft, weil die tägliche Erfahrung uns zeigt,
daß ein Menſch ein treffliches Gedächtniß für Muſik hat,
welcher ein ſehr ſchlechtes für Zahlen beſitzt, daß ein Menſch
1) S. unten $ 2. No. 4.
Die Grundlehren der Phrenologie. 25
ſein Gedächtniß für Worte verliert, während er ſein Ge—
dächtniß für Begriffe und Gefühle behält.
Eine Grundkraft muß durchgängig und für ſich allein
einen beſtimmten Grad intenſiver Stärke beſitzen, muß im
Laufe des Lebens ein beſtimmtes, ihrer intenſiven Stärke
entſprechendes, durch die übrigen Grundkräfte nur der Rich—
tung nach modificirtes Streben an den Tag legen. Jede
Grundkraft hat daher einen Charakter der Selbſtändigkeit und
Abgeſchloſſenheit, welchen die durch das Zuſammenwirken
verſchiedener Grundkräfte, oder Theile von Grundkräften
auf dem Gebiete der Speculation angenommenen Geiſtes—
kräfte, z. B. Gedächtniß, Willenskraft u. ſ. w. nicht beſitzen.
Die Grundſätze, auf welchen die einzelnen phrenologi—
ſchen Organe beruhen, ſind die folgenden:
1. Das Gehirn iſt das Central-Organ des Gei-
ſtes, es iſt bei jeder Aeußeruung geiſtiger Thätigkeit
betheiligt, obgleich wir uns dieſer Betheiligung eben ſo
wenig bewußt werden, als der Wirkſamkeit der Nerven bei
der Bewegung unſerer Glieder oder bei der Vermittelung
irgend einer Empfindung. Dieſer erſte Grundſatz der Phre—
nologie iſt nunmehr ſo ziemlich von allen denkenden Phy—
ſiologen und Pſychologen anerkannt. Er wird daher einer
weiteren Ausführung nicht bedürfen ).
Einige Beiſpiele werden jedoch geeignet ſein, die Wahr—
heit dieſes Satzes anſchaulicher zu machen.
Sir Aſtley Cooper erzählt, daß er bei der Unterſuchung
des Kopfes eines jungen Mannes, welcher einen Theil ſeines
1) Eine Reihe der überzeugendſten Beweisgründe finden ſich na-
mentlich in Gall's Werke: „Sur les fonctions du cerveau.“ Da die—
ſes jedoch in Deutſchland ſehr wenig verbreitet iſt, ſo citire ich den
aus demſelben zu Nürnberg erſchienenen Auszug, welcher den Titel
führt: „Gall's vollſtändige Geiſteskunde.“ S. 42—60. 86— 117. Au:
toritäten für dieſe Anſicht ſind: Burchard, Boerhave, van Swieten,
Channet, Haller, Mayer, Sömmerring, Cuvier u. A. m.
26 Die Grundlehren der Phrenologie.
Schädels gerade über den Augenbraunen verloren, deutlich
das Pulſiren des Gehirns geſehen habe. Es war regel—
mäßig und langſam. Zufällig wurde der Patient durch ein
abgeſchlagenes Verlangen geiſtig aufgeregt, und ſogleich
ſtrömte das Blut mit vermehrter Stärke nach dem Ge—
hirne und das Pulſiren wurde frequent und heftig. Wenn
man deshalb, fährt Aſtley Cooper fort, unterläßt, den Geiſt
ruhig zu halten, ſo werden andere Mittel bei der Behand—
lung von Gehirnverletzungen nicht erfolgreich ſein.
In einem ähnlichen Falle, den Blumenbach beobachtete,
bemerkte er, daß das Gehirn ſank, ſobald der Kranke in
Schlaf ver fiel, und wieder von Blut anſchwoll, ſobald er
erwachte. Derartige Erſcheinungen ſind wiederholt von
Aerzten beobachtet und beſchrieben worden.
Hr. Richerand behandelte einen Kranken, deſſen Ge—
hirn in Folge einer Schädelkrankheit offen gelegt wurde.
Eines Tages drückte er beim Abnehmen des Verbandes zu—
fällig etwas mehr als gewöhnlich darauf, und im Augen—
blick hielt der Kranke, der kurz zuvor auf alle ſeine Fragen
richtig geantwortet, mitten in einem Satze inne, und wurde
ganz bewußtlos. Da der Druck keinen Schmerz verurſachte,
wurde er dreimal wiederholt, und jedesmal mit demſelben
Erfolge. Der Kranke gewann regelmäßig ſeine Geiſtesthä—
tigkeit wieder, ſobald der Druck aufhörte. Auch Fälle die—
ſer Art ſind häufig beobachtet worden.
Wenn wir daher an Geiſtesthätigkeit in dieſem Leben
denken, müſſen wir damit immer eine entſprechende Thätig—
keit des Gehirns in Verbindung bringen. Wenn der Geiſt
belebt iſt, ſo iſt das Gehirn erregt; wenn der Geiſt ermü—
det iſt, ſo iſt das Gehirn es auch. Wenn der Geiſt krank
iſt, ſo ſteht Krankheit des Gehirns unwandelbar immer da—
mit in Verbindung. Wenn die Wirkſamkeit des Geiſtes
unterdrückt iſt, ſo iſt auch diejenige des Gehirns unter—
brochen. Nur wenn wir uns die innige Verbindung zwi—
ſchen Körper und Geiſt vergegenwärtigen, können wir die
Die Grundlehren der Phrenologie. 27
aus dieſer Verbindung hervorgehenden Erſcheinungen des
Seelenlebens des Menſchen wie der Thiere richtig wür—
digen ).
2. Das Gehirn wirkt aber nicht als ein einziges,
untrennbares Organ, ſondern als eine, allerdings zu
einem Ganzen verbundene, Mehrheit ſolcher ).
Dieſer Grundſatz der Phrenologie ſtimmt überein mit
den allgemeinen Grundſätzen der Phyſiologie. Denn auf
Specialität beruht der ganze Körper des Menſchen, wie
des Thieres. Der Seh-Nerv dient nur zur Vermittelung
des Sehens, der Geruchs-Nerv nur zur Vermittelung des
Geruchs, der Bewegungs-Nerv vermittelt nur Bewegung,
der Empfindungs-Nerv nur Empfindung. Die Analogie
ſpricht alſo ſchon dafür, daß derſelbe Grundſatz der Spe—
eialität auch auf das Gehirn ſeine Anwendung finde, daß
alſo ganz verſchiedenartige geiſtige Thätigkeiten nicht durch
ein und daſſelbe Organ vermittelt werden. Empfindung
und Bewegung, welche anerkanntermaßen verſchiedene Ner—
ven zu ihren Organen haben, ſind nicht verſchiedenartiger, als
1) Die innige Verbindung zwiſchen Körper und Geiſt, wie die
Phrenologie ſie lehrt, ſpricht ſich recht bezeichnend in den Worten Lich—
tenberg's (Schrift. I. 33) aus: „Ich habe es ſehr deutlich bemerkt, daß
ich oft eine andere Meinung habe, wenn ich liege, und eine andere,
wenn ich ſtehe.“ Siehe auch: Introduction a Pétude philosophique
de la Phrenologie par le Docteur Bessieres. Paris et Londres 1836.
p. 34-61. Es werden hier ſehr gründlich die irrigen Meinungen wir
derlegt, als ſei nicht das Gehirn, ſondern einer oder der andere Theil
des organifchen Körpers der Centralpunkt der Wirkſamkeit der Seele,
der Menſch könne noch ſeine geiſtigen Verrichtungen üben, auch nach—
dem durch Wunden, durch Waſſer im Gehirn, oder durch Verknöche—
rung daſſelbe gänzlich zerſtört und aufgelöſt worden ſei. S. auch
Gall's Vollſtändige Geiſteskunde S. 59. Spurzheim, on Phreno-
logy p. 23—53.
2) Spurzheim, on Phrenology S. 64—79. Phrenological Jour-
nal of Edinburgh Vol. IV. No. XIII. p. 93.
28 Die Grundlehren der Phrennlogie.
Farbenſinn und Geſtaltſinn. Warum ſollte derſelbe Grund—
ſatz der Specialität hier nicht ſo gut als dort ſtattfinden?
a) Das Gehirn wird in jeder Thierclaſſe immer com—
plicirter, in demſelben Verhältniß, als die Claſſe in der Rei—
henfolge geiſtiger Entwickelung höher ſteht. Beginnend bei
den Inſecten und Fiſchen, fortſchreitend zu der Claſſe der
Vögel und zu der der Säugethiere bis zu den dem Men—
ſchen am nächſten ſtehenden Vierfüßlern und dem Menſchen,
vermehrt ſich fortwährend der Hirnkörper durch neu hinzu—
tretende Theile. Die Zahl der Organe wächſt durchgängig
mit den Fähigkeiten, und die größte Hirnerhebung findet
bei allen Thieren genau in den Gegenden ſtatt, wo die
Geiſtesvermögen ihren Sitz haben, durch welche ſie ſich am
meiſten auszeichnen ).
b) Die geiſtigen Fähigkeiten zeigen ſich, nehmen zu oder
ab, je nachdem ihre Organe ſich entwickeln, ſich vergrößern.
oder abnehmen. Der Geruchs-Nerv und der Geſchmacks-Nerv
vervollkommnen ſich z. B. eher, als der Geſichts-Nerv und
der Gehör-Nerv; daher auch das Kind eher gut riechen und
ſchmecken, als hören und ſehen kann. Bei neugeborenen Kin—
dern ſieht man kaum Spuren von den Fibern in dem Gehirn,
und ſie erſcheinen eher in dem hintern und mittlern Gehirn—
lappen (woſelbſt ſich die Organe des Begehrungsvermögens
und der Gefühle befinden), als in dem vordern (woſelbſt die
Organe der Intelligenz find). Der faferige Bau des kleinen
Gehirns (des Organs des Geſchlechtstriebes) wird nur nach
und nach ſichtbar, und entwickelt ſich erſt nach dem achten
und zehnten Jahre. Die vorderen und oberen Theile ent—
wickeln ſich erſt einige Monate nach der Geburt mit einer
gewiſſen Kraft. Das Gehirn wächſt nach und nach, und
hat zwiſchen dem zwanzigſten und vierzigſten Jahre ſeine
1) Foreign quarterley Review No. III. oder Deutſch: Ueber
Geſchichte und Weſen der Phrenologie von Chenevix, überſetzt von
Cotta. Dresden u. Leipzig 1838. S. 66 ff.
Die Grundlehren der Phrenologie. 29
Vollendung erreicht). Von nun an ſcheinen einige Jahre
hindurch keine merklichen Veränderungen vorzugehen; in—
deſſen nimmt es im Alter wieder ab, wird magerer und
die Windungen find ſich weniger nahe ). Ganz gleichen
Schritt mit der ordnungsmäßigen Entwickelung des Ge—
hirns hält die ordnunungsmäßige Entwickelung des Gei—
ſtes. Das Kind begehrt, bevor es erkennt, und es erkennt,
bevor es denkt. Jedoch entwickelt ſich der Geſchlechtstrieb
ſpäter, als die anderen Triebe, z. B. der Zerſtörungstrieb, Be—
kämpfungstrieb u. ſ. w. und die verſchiedenen Organe und
Kräfte des Erkenntnißvermögens entwickeln ſich auch nicht
gleichzeitig). Das Kind erkennt einen Gegenſtand im all—
gemeinen früher, als es deſſen einzelne Eigenſchaften, z. B.
Farbe und Geſtalt erkennt. Entfernung und Gewicht nimmt
es erſt ſpäter richtig wahr, oder mit phrenologiſchen Wor—
1) Fig. 8. Fig. 9.
Schädel eines neugeborenen Schädel eines Er—
Kindes. wachſenen.
2) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 23 ff.
3) Goethe ſagt hierüber im zweiten Buche aus feinem Leben:
„Die erſten Organe, die ſie (die Natur) den Kindern mit auf die Welt
giebt, ſind dem nächſten unmittelbaren Zuſtande des Geſchöpfs gemäß;
es bedient ſich derſelben kunſt- und anſpruchlos auf die geſchickteſte
Weiſe zu den nächſten Zwecken. Das Kind an und für ſich betrachtet,
mit ſeines Gleichen und in Beziehungen, die ſeinen Kräften angemeſ—
ſen ſind, ſcheint ſo anſtändig, ſo vernünftig, daß nichts darüber geht,
und zugleich ſo bequem, heiter und gewandt, daß man keine weitere
Bildung für daſſelbe wünſchen möchte.“ Mit dieſen ohne Beziehung
auf Gehirnbildung gemachten Bemerkungen des großen Naturbeobach—
ters und Dichters treffen diejenigen des Anatomen und Arztes in auf—
fallender Weiſe zuſammen. S. Bessieres, introduction à l’&tude phi—
losophique de la Phrénologie p. 160—169. 198 ss.
30 Die Grundlehren der Phrenologie.
ten: der Gegenſtandsſinn entwickelt ſich früher beim Kinde,
als Farben- und Geſtaltſinn, und dieſe früher, als Raum—
oder Größenſinn und Gewichtſinn.
c) Geiſtige Anſtrengung ermüdet nicht alle Geiſtes—
vermögen zugleich, ſondern nur die, welche vorzugsweiſe
in Thätigkeit ſind. Sie ruhen aus, wenn wir den Ge—
genſtand unſerer geiſtigen Thätigkeit verändern, z. B. wenn
wir, nachdem wir angeſtrengt gerechnet haben, anfangen zu
zeichnen, oder, nachdem wir uns mit Sprachen beſchäftigt,
anfangen zu muſiciren. In gleicher Weiſe ruhen die Mus—
keln aus, wenn wir unſere Stellung verändern, oder eine
Laſt, die wir tragen, von einer Schulter zur andern bringen.
d) Ebenſo läßt ſich die zwiſchen dem männlichen und
weiblichen Geſchlechte beſtehende geiſtige Verſchiedenheit nur
mittelſt der Annahme einer Mehrheit von Organen befrie—
digend erklären. Der Verſtand des Weibes zeichnet ſich
gleich demjenigen des Kindes durch Schärfe, Raſchheit,
Gedächtniß und die Wahrnehmung von Aehnlichkeiten und
Unähnlichkeiten aus, während derjenige des Mannes mehr
Tiefe im Nachdenken und Gründlichkeit im Urtheil beſitzt.
In Uebereinſtimmung hiermit gleicht die weibliche Stirn
mehr der kindlichen, während die männliche, höhere, ſich
weiter von ihr entfernt). Bei dem Manne iſt das Denk—
vermögen, der Geſchlechtstrieb, der Zerſtörungstrieb, bei dem
Weibe die Kinderliebe und die Anhänglichkeit in der Regel
thätiger, und bei dem Manne ſind jene, bei der Frau dieſe
Organe in der Regel größer.
e) Aehnliche Bildung des Gehirns iſt immer verbun—
den mit Aehnlichkeit der geiſtigen Anlagen und Neigungen,
trotz ſonſtiger Verſchiedenartigkeit der Körpergeſtaltung, und
umgekehrt iſt Verſchiedenartigkeit der Gehirnbildung ebenſo
feſt immer verbunden mit Verſchiedenartigkeit der Anlagen
und Neigungen, trotz aller ſonſtigen Aehnlichkeit der Kör—
perbeſchaffenheit. Dieſe Wahrheit wird anſchaulich bei der
I) Phrenological Journal of Edinburgh 1824. No. III. p. 344 ss.
Die Grundlehren der Phrenologie. 31
Betrachtung der Individuen derſelben Familie und derſelben
Nation nach dem Grundſatze, daß ſich in der Regel der all—
gemeine Typus ſowohl in der Familie als in der Nation
von Eltern auf Kinder fortpflanzt, ungeachtet aller damit
verbundenen individuellen Verſchiedenheiten. Dieſer Typus
ſpricht ſich insbeſondere auch aus durch denjenigen der Ge—
hirnbildung ).
Der Unterſchied zwiſchen dem Gehirn des Fiſches und
des Menſchen, des Kindes und des Erwachſenen, des Man—
nes und der Frau und der verſchiedenen Menſchenracen und
Menſchencapacitäten beſteht nicht allein in der Größe, ſon—
dern auch in den Verhältniſſen der einzelnen Theile deſſelben.
Dieſer Thatumſtand in Verbindung mit dem Entwicklungs—
gang des Menſchen, dem Gegenſatze der Geſchlechter und der
Verſchiedenheit der Anlagen der verſchiedenen Menſchenracen
und Individuen führt aufs beſtimmteſte darauf, daß der oben
ausgeſprochene allgemeine phyſiologiſche Grundſatz der Spe—
cialität auch auf das Gehirn ſeine Anwendung findet. Nur
durch die Annahme deſſelben läßt ſich die Specialität menſch—
licher Anlagen, Vorzüge und Mängel erklären.
Wäre das Gehirn in ſeiner untrennbaren Totalität Or—
gan des Geiſtes, wie könnte dieſer dann in einer Beziehung,
z. B. in Betreff der Muſik, ſehr ausgezeichnet, in einer an—
dern dagegen, z. B. in Betreff der Gewiſſenhaftigkeit, ſehr
mangelhaft ſein? Wie könnte der Geiſt in einer Bezie—
hung, z. B. in Betreff des Rechnens, müde, in anderer,
z. B. in Betreff des Zeichnens, friſch ſein? Wäre das
Gehirn gleichmäßig in jeder Beziehung Organ des Geiſtes,
ſo müßte ſich dieſer auch gleichmäßig in jeder Beziehung
ſchwach oder kräftig, müde oder friſch zeigen, was der täg—
lichen Erfahrung widerſpricht. Die Erſcheinungen partiellen
Wahnſinns, partiellen Idiotismus und partieller Genialität
bieten Beiſpiele. Wenn durch zu heftige Anſtrengung eines
1) S. meine Schrift: Die Phrenologie in und außerhalb Deutſch—
land $ 8.
32 Die Grundlehren der Phrenologie.
Organs oder eines Geiſtesvermögens Monomanie hervorge—
bracht iſt, ſo vollbringt man die Heilung zuweilen dadurch,
daß man die Thätigkeit anderer Organe oder Geiſteskräfte
anregt, wodurch das entzündete Organ zur Ruhe gebracht
wird. Jedes Geiſtesvermögen erkrankt zugleich mit ſeinem
Organ und wird mit demſelben wiederhergeſtellt. Aeußer—
liche Mittel, an einem Theile des Kopfes angewendet, ha—
ben ſchon mehrmals die geſunde Thätigkeit der darunter lie—
genden Organe und der mit denſelben verbundenen Geiſtes—
kräfte zurückgerufen ). Was die verſchiedenen Stufen der
Entwickelung betrifft, worauf die verſchiedenen Menſchen—
ſtämme ſtehen, ſo iſt bisher desfalls viel zu viel Gewicht
auf Klima, Erziehung, Beiſpiel und andere äußere Ver—
hältniſſe gelegt worden. Unter denſelben äußeren Verhält—
niſſen, unter demſelben Klima entwickelt ſich z. B. in Nord—
amerika der Ureinwohner, der Neger und der Europäer in
ganz verſchiedener Weiſe. Der Grund dieſer Verſchiedenheit
iſt die durch die Schädelbildung ſchon angedeutete Verſchie—
denheit der Gehirnbildung und die damit in Verbindung
ſtehende Verſchiedenartigkeit der Grundkräfte des Geiſtes.
Partielle Verletzungen des Gehirns haben entſprechende
partielle Beeinträchtigungen der Geiſtesvermögen zur Folge,
während ein Druck, welcher das ganze Gehirn berührt, gänz—
liche Bewußtloſigkeit herbeiführt. Wir ſehen hier den Ge—
genſatz partieller und genereller Verletzungen und ihrer Fol—
gen, welche auch nur durch die Annahme einer Mehrheit
von Geiſtesorganen erklärlich wird. Ohne dieſe Annahme
wäre ein Kampf der verſchiedenen Geiſtesvermögen nicht
möglich. Ein und daſſelbe Geiſtesorgan kann nicht zu
gleicher Zeit das Verlangen zu zerſtören und das Verlan—
gen wohl zu thun, aber es können verſchiedene Organe
in gleichzeitiger Thätigkeit verſchiedene Regungen des Gei—
ſtes vermitteln, die ſich widerſprechen und Schwankungen
hervorrufen.
1) Chenevix S. 68.
Die Grundlehren der Phrenologie. 33
Auch der Schlaf und die Traumwelt ſind nur mit der
Annahme einer Mehrheit von Organen des Geiſtes in Ueber—
einſtimmung zu bringen, während ſie mit der Annahme eines
einzigen durchaus unvereinbar ſind.
Auf das Vorhandenſein einer Einheit aus dieſer Mehr—
heit, d. h. einer Grundkraft des Geiſtes, werden wir daher
namentlich geführt:
a) wenn wir bemerken, daß in einem Individuum eine
beſtimmte Geiſtesthätigkeit einen gewiſſen Grad der Stärke
oder der Schwäche beſitzt, welche der Stufe, worauf ſeine
übrigen geiſtigen Kräfte ſtehen, nicht entſpricht, z. B. wenn
ein im Allgemeinen ſchwach begabter Menſch einen hohen
Grad des Tonſinns, des Farbenſinns, des Bautalents, des
Wohlwollens u. ſ. w. an den Tag legt, oder
b) wenn eine Kraft eine beſtimmte Veränderung, ſei
es Zunahme, Abnahme oder Verwirrung erfährt, während
die andern Kräfte ſich gleich bleiben, oder wenigſtens mit
jener nicht gleichen Schritt halten. Als Beiſpiele dienen
die Fortſchritte, welche junge Leute nicht ſelten in Spra—
chen, im Rechnen, in der Muſik machen, während ſie in
anderen Beziehungen nicht von der Stelle rücken; ſodann
die Rückſchritte, welche alte Leute in dieſen Beziehungen
machen, während ſie in anderen ſich gleich bleiben, endlich
die Entſtehung partiellen Wahnſinns, der ſich nicht ſelten
blos in Betreff einer oder der anderen Grundkraft, z. B.
in Betreff der Eitelkeit (Beifallsliebe), des Stolzes (Selbſt—
gefühl) u. ſ. w. entwickelt. Alle dieſe Erſcheinungen deuten
darauf, daß es eine Grundkraft im Menſchen für die Spra—
che, das Rechnen, die Muſik, den Beifall der Mitwelt und
das Gefühl des eignen Werths gibt. Die betreffenden Or—
gane ſind die Organe des Sprachſinns, des Zahlenſinns,
des Tonſinns, der Beifallsliebe und des Selbſtgefühls.
c) Wenn ein Geſchlecht durchſchnittlich gewiſſe Eigen—
ſchaften in höherm, das andere in niedrigerm Grade beſitzt.
d) Endlich wenn einemMenſchenſtamme durchſchnittlich ge—
wiſſe Anlagen in höherm, andere in niedrigerm Grade eigen ſind.
3
34 Die Grundlehren der Phrenologie.
Die beiden letzten Fälle (e d) werden noch unterſtützt
durch die an der Thierwelt gemachten Beobachtungen, z. B.
daß das Männchen der Singvögel ſingt, das Weibchen nicht,
daß die niſtenden Vögel, der Biber und manche andere Thiere
entſchiedenes Bautalent beſitzen, während höher begabte Thiere,
z. B. das Pferd, der Hund und andere, dieſes Talent ent—
behren ).
Alle dieſe Wahrnehmungen berechtigen uns zu dem
Schluſſe, daß die Kräfte, welche uns auf dem bezeichneten
Wege begegnen, urſprüngliche Kräfte, Elemente des geiſti—
gen Lebens ſind, die ſich nicht weiter zerlegen laſſen, wäh—
rend ſich die auf anderen Wegen gefundenen Geiſteskräfte
allerdings weiter zerlegen laſſen, z. B. das Gedächtniß in
Wortgedächtniß, Zahlengedächtniß, Ortsgedächtniß u. ſ. w.;
das Begehrungsvermögen in Geſchlechtstrieb, Bekämpfungs—
trieb, Nahrungstrieb u. ſ. w; das Empfindungsvermögen in
Wohlwollen, Gewiſſenhaftigkeit, Ehrerbietung u. ſ. w.; das
Denkvermögen in Vergleichungsgabe und Schlußvermögen.
Alle dieſe verſchiedenen Anlagen finden ſich nicht ſelten in
demſelben Individuum von verſchiedener Stärke, woraus ſich
ergiebt, daß ſie einen gewiſſen Grad der Selbſtändigkeit
und Abgeſchloſſenheit beſitzen, welcher die Annahme recht—
fertigt, ſie ſeien Einheiten in der Mehrheit der urſprüng—
lichen Geiſteskräfte.
3) Der Grad der Energie, mit welcher ein Ver—
mögen des Geiſtes wirkt, entſpricht unter übrigens
gleichen Verhältniſſen der Größe feines Organs ).
Dieſer Grundſatz gilt nicht blos im Gebiete der Phyſio—
logie, ſondern in demjenigen der Natur überhaupt. Eine
Säule von einem Fuß Durchmeſſer iſt im Verhältniſſe ih—
res geringern Durchmeſſers ſchwächer, als eine Säule glei—
chen Stoffes von zwei Fuß Durchmeſſer. Ein Mann von
1) Galls vollſtändige Geiſteskunde S. 142 ff. 441 ff.
2) Phrenological Journal of Edinburgh 1824. Vol. I. No. II.
b. 297—304. Vol. IV. No. XIII. p. 100—103. £
Die Grundlagen der Phrenologie. 35
großen Muskeln iſt, bei ſonſtiger Gleichheit der Umſtände,
im Verhältniſſe zu der Größe ſeiner Muskeln, auch ſtärker
in ſeinen Muskeln, als der Mann mit kleinen Muskeln.
Allerdings mag eine Säule von gutem Eiſen bei geringerm
Durchmeſſer ſtärker ſein, als eine andere von ſchlechtem Ei—
ſen bei größerm Durchmeſſer, und ebenſo mag ein Mann
von großen Muskeln, wenn er gerade krank iſt, oder wenn
er ſchwache Knochen hat, oder wenn ſeinen Nerven die er—
forderliche Schwungkraft fehlt, ſchwächer ſein, als ein Mann
von kleineren Muskeln; allein in allen dieſen Fällen ſind
die übrigen Verhältniſſe nicht gleich. Einige Beiſpiele aus
der Phyſiologie mögen dieſen Grundſatz anſchaulich machen.
Das Pferd und der Ochs beſitzen bei weitem bedeutendere
Muskelſtärke und bei weitem weniger Empfindlichkeit in ih—
ren Gliedern, als der Menſch, und im Einklang mit un—
ſerm Grundſatz ſind die Bewegungsnerven, welche zu ih—
ren vier Extremitäten führen, wenigſtens um ein Drittheil
zahlreicher, als die Empfindungsnerven, während beim Men—
ſchen die Bewegungsnerven der Arme und Beine ein Fünf—
theil oder ein Sechstheil an Zahl geringer ſind, als die
Empfindungsnerven. Der Rüſſel des Elephanten zeichnet
ſich aus durch die Zartheit ſeiner Empfindungskraft, und
es iſt Thatſache, daß der Gefühlsnerv, welcher ſich am
Taſtende deſſelben ausbreitet, den Geſammtinhalt aller
Muskelnerven deſſelben Organs an Umfang übertrifft.
Daß nun aber dieſer allgemeine phyſiologiſche Grund—
ſatz auch in beſonderer Beziehung zum Gehirne wahr iſt,
dieſes erhellt aus folgenden Thatſachen: „das Gehirn eines
Kindes iſt im Vergleiche mit demjenigen eines Erwachſenen
klein, und ſeine Geiſteskräfte ſind in entſprechendem Maße
ſchwach. Ein ſehr kleines Gehirn, welches weniger als vier—
zehn Zoll im Umfang bei einem Erwachſenen hält, iſt un—
fehlbare Urſache des Blödſinns. Menſchen, die ſich durch
beſondere Stärke ihrer Geiſteskraft im allgemeinen auszeich—
neten, hatten immer große Köpfe; eben dieſes gilt von gan—
zen Nationen. Schon die alten Künſtler fühlten dieſe Wahr—
2
3 *
36 Die Grundlehren der Phrenologie.
heit, daher ſie z. B. ihre Prieſter und Philoſophen immer
mit großen Stirnen abbildeten, während ſie z. B. ihren
Fechtern oder auch der Venus ſolche nicht beilegten.
Die Einwürfe gegen dieſen Grundſatz beruhen durch—
gängig auf Nichtbeachtung der nothwendigen Beſchränkung
deſſelben durch die Worte: „unter übrigens gleichen Ver—
hältniſſen.“ ö
Es handelt ſich alſo nur darum, zu ermitteln, welches
die Größe der einzelnen Organe des Gehirns ſei, um einen
Schluß auf die Stärke der damit verbundenen Geiſtesan—
lage zu begründen. Zu dieſem Zwecke dient uns
4) der Grundſatz, daß die äußere Oberfläche des
Schädels der inneren und dieſe der Oberfläche des
Gehirns in der Regel entſpricht, fo daß fie die Geſtalt
und demnach die Größe der einzelnen Theile des Gehirns
äußerlich erkennbar macht. Die innere Seite des Schädels
zeigt allerdings einige leichte Eindrücke von Drüſen, Blut
gefäßen u. ſ. w., die nicht an der äußeren Seite erkennbar
ſind; dieſe ſind indeß zu unbedeutend, als daß ſie die phre—
nologiſchen Beobachtungen ſtören könnten. Die Abweichung
vom vollkommenen Parallelismus zwiſchen der äußeren und
inneren Oberfläche des menſchlichen Schädels beſchränkt
ſich, wo ſie vorkommt, auf eine Linie, ein Zehntheil oder
ein Achttheil eines Zolls, je nach dem Alter und Geſund—
heitszuſtande des Individuums. Der Unterſchied dagegen
in der Entwickelung zwiſchen einem großen und kleinen Or—
gane unter den Trieben und einigen Gefühlen beträgt einen
Zoll und mehr, und bei den Organen des Erkenntnißver—
mögens, die von Natur kleiner ſind, etwa einen Viertels—
zoll. Die angeführte Regel hat übrigens einige Ausnah—
men, es giebt nämlich Krankheiten, welche den Parallelismus
zwiſchen der äußeren und inneren Oberfläche des Schädels
ſtören Da dieſe indeß ermittelt werden können, ſo wird
ein ſcharfblickender Phrenolog dadurch nicht irre geführt
werden. Auch finden ſich in den mittleren und hin—
teren Gegenden des Gehirns Theile, deren Größe während
Die Grundlehren der Phrenologie. 37
des Lebens nicht erforſcht werden kann, und deren Verrich—
tungen daher noch nicht erkannt ſind. Im hohen Alter
und in Folge von Krankheiten nimmt zuweilen der Umfang
des Gehirns und zuweilen ſelbſt des Schädels ab, weshalb
wir dann nicht auf die Größe des Gehirns und namentlich
nicht von dieſer auf die Geiſteskraft des Individuums in
jungen und geſunden Tagen ſchließen können. An dem
Theile des Stirnbeins, der ſich unmittelbar über der Na—
ſenwurzel befindet, wird manchmal eine Abweichung vom
Parallelismus durch das Vorhandenſein einer kleinen Höhle
hervorgebracht, die man die Stirnhöhle (sinus frontalis)
nennt. Bei den Frauen findet man ſie übrigens ſelten, bei
den Männern niemals in jugendlichem Alter und in vorge—
rücktem Alter nur ab und zu. Unter dem Alter von zwölf
bis vierzehn Jahren erſtreckt ſich der Sinus, wenn er über—
haupt vorhanden iſt, ſelten bis zur Baſis des Gehirns hin—
auf. Wenn er ſich im ſpätern Leben bildet, ſo erſtreckt er
ſich doch nur über einen Theil des auf der Stirn zu ſu—
chenden Abdrucks der Gehirnorgane, und da auch hier der
geübte Blick das Vorhandenſein eines ſolchen an der man—
gelnden Bezeichnung der Organe erkennt, ſo kann er nicht
zu einer Täuſchung, ſondern nur zur Zurückhaltung eines
Urtheils über die betreffenden Organe führen. Die Phre—
nologie hat übrigens den vierten der Grundſätze, auf wel—
chen ſie gebaut iſt, zunächſt nur in ſpecieller Beziehung zum
Menſchengeſchlechte aufgeſtellt. Sie weiß es recht wohl, daß
bei Schweinen und Elephanten und manchen andern Thie—
ren zum Theil bedeutende Abweichungen zwiſchen der äu—
ßeren und inneren Seite des Schädels ſtattfinden, aber
eben weil ſie es weiß, wird ſie bei ſolchen Thieren ihre
Schlüſſe mit Rückſicht auf dieſe Schädelbeſchaffenheit zie—
hen).
1) Galls vollſtändige Geiſteskunde S. 75. 118-135. 139. 299.
Phrenological Journal of Edinburgh 1824 No. II. p. 292. Georg
Combe's Syſtem der Phrenologie, überf. von Dr. S. Ed. Hirſch—
38 Die Grundlehren der Phrenologie.
Dieſes ſind die leitenden Grundſätze der Phrenologie,
in Betreff der Quantität und der Ausdehnung der verſchie—
denen Theile des Gehirns. Jedoch iſt es nothwendig, um
Mißverſtändniſſe zu vermeiden, damit noch folgende Be—
merkung in Verbindung zu bringen.
Die Anordnung der Natur, dem Menſchen, wie über—
haupt jedem lebenden Weſen, zu demſelben Zwecke größten—
theils doppelte Organe zu verleihen, z. B. zum Zweck des
Hörens zwei Ohren, zum Zwecke der Ausübung des Ge—
ſtaltſinns zwei entſprechende Organe im Gehirn, hat den
Phyſiologen viel zu ſchaffen gemacht. Sie glaubten, mit
zwei Augen müßten wir doppelt ſehen. Sie bedachten
nicht, daß die Augen ſo wenig als die verſchiedenen Theile
des Gehirns ſelbſtthätig, ſondern nur Werkzeuge der Thä—
tigkeit des Geiſtes ſind. Ein Werkzeug wird ſich keiner
Thätigkeit, keines Zuſtandes, keines Verhältniſſes bewußt.
Iſt nur der Geiſt eins, fo wird er, trotz der Mannigfal-
tigkeit ſeiner Organe, immer nur einfache Wahrnehmungen
haben. Eine höchſt intereſſante Schlußfolge ergiebt ſich aber
aus der Mehrheit der Organe des Gehirns ſowohl als der
Sinne, nämlich daß ein Unterſchied ſtattfindet zwiſchen dem
Organ und dem Geiſte, dem es dient. Wäre das Organ
die Kraft ſelbſt, wäre der Theil des Gehirns, welcher uns
als Organ des Geſtaltſinns dient, der Geſtaltſinn ſelbſt,
dann wäre es allerdings unerklärlich, daß wir mit zwei ſo
zu ſagen Geſtaltſinnen nur einfache Geſtalten wahrnehmen;
allein gerade die Thatſache, daß wir mit den doppelten Or—
ganen nur einfache Wahrnehmungen erlangen, beweiſt, daß
die Organe nur Mittel ſind, während der Geiſt der Zweck
feld. Braunſchweig 1833. S. 6. 22. 61. Spurzheim, observations
sur la Phrenologie. Paris 1818. p. 97—119. Grundzüge der Phre—
nologie oder Anleitung zum Studium dieſer Wiſſenſchaft, dargeſtellt
in fünf Vorleſungen von R. R. Noel. Dresden u. Leipzig 1842.
S. 3 ff. Spurzheim, on Phrenology. 3" Edit. p. 101 ss.
Die Grundlehren der Phrenologie. 39
iſt, daß die Organe in ihrer Mehrheit dienen und der Geiſt
in feiner Einheit herrſcht ).
Es giebt eine Körperwelt und ſie wird gelenkt durch
eine phyſiſche Weltordnung, über ihr ſteht eine geiſtige Welt
und ſie wird geordnet durch eine geiſtige Weltordnung. Nach
den Geſetzen der phyſiſchen Welt entladet ſich der Blitz aus
der Wolke, fällt das Haar von unſerm Haupte, allein die
geiſtige Weltordnung beſtimmt die geiſtigen Zwecke, welche
das phyſiſche Mittel im Großen wie im Kleinen befördern
ſoll. Wie der Menſch, wenn er ſeinem Zerſtörungstriebe
einen Gegenſtand bietet, zur Zerſtörung, und wenn er ſeiner
Ehrerbietung einen ſolchen ſucht, zur Verehrung getrieben
wird, ſo wird die elektriſche oder die magnetiſche Kraft,
wenn ihnen ein Gegenſtand der Anziehung entgegentritt,
dieſen, treffen mit der ihnen inwohnenden Gewalt. Allein
wie der Menſch die Macht hat, die Gegenſtände des einen
oder des andern Gefühls, des einen oder des andern Sin—
nes ſich ſelbſt zu wählen, und wie in dieſer Rückſicht feine
geiſtige Freiheit ihn leitet, ſo ſteht die magnetiſche und die
elektriſche und jede andere phyſiſche Kraft der Welten unter
1) Viel Unrichtiges iſt über die fünf Sinne des Menſchen ge—
ſprochen worden, theils weil man ihnen zugemuthet hat, was ſie nicht
leiſten konnten, theils weil man ſie in unlogiſcher Ordnung beſprochen hat.
Ein Sinn kann, ſeiner Beſtimmung nach, nur ein einzelnes ſinnliches
Verhältniß der Außenwelt zu uns vermitteln, er kann uns nur Dinge
der Außenwelt im Spiegel des Auges, Töne der Außenwelt in der
empfangenden Trompete des Ohrs u. ſ. w. vorführen. Allein die Ge—
ſetze der Optik und der Akuſtik können uns nur vermittelſt unſers
Denkvermögens auf den Grund der Beobachtung zugänglich werden.
Die Frage: warum wir einen Körper der Außenwelt gerade ſo, wie
unſer Auge ihn uns darſtellt, erblicken, einen Ton gerade ſo, wie ihn
uns unſer Gehör mittheilt, hören, dieſe Frage kann uns weder das
Auge, noch das Gehör, ſondern nur unſer Denkvermögen beantworten,
weil die Sinne nicht nach Gründen forſchen, ſondern nur unſer Ver—
hältniß zur Außenwelt, wie es ſich nach den ewigen Geſetzen der Na—
tur gebildet hat, vermitteln.
40 Die Grundlehren der Phrenologie.
dem Einfluſſe der göttlichen Weltordnung, welche ihnen ihre
Gegenſtände nach geiſtigen Zwecken anweiſt.
Die Kräfte des menſchlichen Geiſtes ſowohl als die
Kräfte der phyſiſchen Weltordnung haben ihre beſtimmten
Geſetze, unter deren Einfluß ſie ſtehen, ſchaffen und wirken.
Die elektriſche, die magnetiſche Kraft ſteht in dieſer Rück—
ſicht der geiſtigen Kraft des Wohlwollens, des Geſtaltſinns
und jeder andern im Menſchen gleich. Allerdings wird die
Wirkſamkeit jeder einzelnen geiſtigen und phyſiſchen Kraft
verſchieden ſein, je nach der Verſchiedenheit ihres Stärke—
grades und der mit ihnen vereint wirkenden ſonſtigen Kräfte.
Allein bei Gleichheit des Stärkegrades und bei Gleichheit der
begleitenden übrigen Kräfte wird jede Kraft immer gleiche
Wirkungen hervorbringen, weil ſie eine beſtimmte Natur
hat, und dieſe ſich daher immer in ihrer Eigenthümlichkeit
geltend macht.
Die Gewiſſenhaftigkeit, das Wohlwollen, der Geſtalt—
ſinn und der Schönheitsſinn, ſie haben alle ebenſowohl ihre
eigenthümliche, durch ewige Geſetze geordnete Natur, als
die magnetiſche, die elektriſche, die Schwerkraft und die
Centrifugalkraft.
Wie die magnetiſche Kraft dem Metalle, dem ſie inne—
wohnt, immer eine Richtung nach dem Norden, ſo verleiht
der Schönheitsſinn dem Menſchen, dem er innewohnt, eine
Richtung nach dem Schönen, und wie in dem Maße, als
die magnetiſche Kraft ſtärker iſt, ſie ſtärkere Hinderniſſe in
dem Streben nach dem Norden überwindet, ſo der Schön—
heitsſinn im Verhältniß ſeines Stärkegrades ſtärkere Hin—
derniſſe in dem Streben nach dem Schönen.
Es giebt alſo ewige Geſetze der Schönheit, der Gerech—
tigkeit, des Wohlwollens und der Geſtaltung. Der Menſch
kann ſie aber nicht ſchaffen, ſondern nur erkennen.
Jede geiſtige Kraft des Menſchen hat ihre eigenthüm—
lichen Freuden und Leiden. Alles, was den ewigen Ge—
ſetzen derſelben entſpricht, verleiht ihr Freude, was ihr wi—
derſpricht, Schmerz. Jede Bildung, welche den ewigen Ge—
Einfluß des Temperaments. 41
ſetzen der Schönheit entſpricht, erfreut den Schönheitsſinn,
jede Bildung, welche ihr widerſpricht, verletzt ihn; jede Far—
benmiſchung, jede Geſtaltung, jede Tonverbindung, welche
den ewigen Geſetzen der Farben, der Geſtaltungen und der
Töne entſpricht, thut unſerm Farben-, Geſtalt- und Ton—
ſinne wohl, jede, die ihm widerſpricht, weh.
Niemals wirkt aber eine Kraft durchaus allein. Wie
im Gebiete der phyſiſchen Kräfte die elektriſche, die galva—
niſche, die Centripetal- und die Centrifugalkraft in tau—
ſendfältigen Verbindungen wirken, ſo auch im Menſchen
die Kraft des Wohlwollens und der Zerſtörung, die Kraft
der Gewiſſenhaftigkeit und des Schlußvermögens, und wie
in der phyſiſchen Welt alle Gegenſätze der Kräfte ſich
auflöſen in der göttlichen Weltordnung, ſo löſen ſich im
Menſchen alle Gegenſätze der widerſtrebenden Kräfte auf in
der geiſtigen Freiheit.
83.
Einfluß des Temperaments ).
In dem vorigen § haben wir die auf die Quantität,
die Ausdehnung des Gehirns und ſeiner einzelnen Theile
bezüglichen Grundſätze beſprochen. Allein nicht minder be—
deutungsvoll als die Quantität iſt die Qualität des Ge—
hirns. Dieſe Central-Nervenmaſſe ſteht mit den übrigen
Theilen des Körpers in innigem Zuſammenhang und wird
daher durch dieſelben nothwendig influencirt. Je nachdem
die Blutgefäße, die Aſſimilationswerkzeuge und die Mus—
keln eine verſchiedene Thätigkeit entwickeln, muß daher
auch das Gehirn eine verſchiedenartige Wirkſamkeit ent—
falten. Die Körperbeſchaffenheit überhaupt wird uns da—
her auch bedeutungsvollen Aufſchluß über die Beſchaffen—
heit des Gehirns insbeſondere ertheilen. Der Haupttypus
I) Spurzheim, Phrenology in connexion with Physiognomy
p. 15-17. Spurzheim, on Phrenology p. 24—26.
42 Einfluß des Temperaments.
der körperlichen, und, in entſprechender Weiſe, der geiſtigen
Beſchaffenheit überhaupt wird durch das Wort Tempera—
ment bezeichnet. Schon die alten Philoſophen ſprechen von
der Verſchiedenheit der Temperamente. Allein da ſie über
die Verrichtungen des Gehirns in gänzlicher Unwiſſenheit
waren, ſo konnten ſie zwiſchen dem Einfluſſe, welchen die—
ſes, und demjenigen, welchen das Temperament auf die
menſchliche Lebensthätigkeit äußert, die richtige Grenze nicht
ziehen.
In dem vorigen § haben wir geſehen, daß in dem Ge—
hirn der Centralpunkt aller geiſtigen Thätigkeit, die Ver—
einigung ſämmtlicher unmittelbarer Organe des Geiſtes zu
finden ſei. Dieſes vorausgeſetzt, kann die Wirkſamkeit
des Temperaments ſich nur in der Art und Weiſe zeigen,
wie die verſchiedenen Organe des Geiſtes in Thätigkeit
treten.
Die Wiſſenſchaft nimmt vier Temperamente an. Die
ſelben ſind bedingt durch das Vorherrſchen gewiſſer Sy—
ſteme im menſchlichen Körper, welche ſich an äußeren Zei—
chen erkennen laſſen.
Iſt da Nervenſyſtem vorherrſchend, ſo bildet ſich das
nervöſe Temperament, äußerlich erkennbar durch weiches,
dünnes Haar, zarte Haut, kleine Muskeln, Schnelligkeit
der Muskelbewegung, blaſſe Geſichtsfarbe, feine Züge und
oft zarte Geſundheit. Die Kopfhöhle iſt verhältnißmäßig
größer, als die Bruſt- und die Bauchhöhle. Das ganze
Nervenſyſtem, das Gehirn mit eingeſchloſſen, iſt vorzugs—
weiſe thätig, die Aeußerungen des Geiſtes ſind verhältniß—
mäßig lebhaft, die Empfindungen ſind rege und die Bewe—
gungen find ſchnell (ſ. die Abbildung Fig. J. Montesquieu).
Es iſt das Temperament des Genies und der Verfeinerung.
Herrſchen die Lungen, das Herz und die Blutgefäße
vor, ſo entſteht das ſanguiniſche Temperament. Es gibt
ſich zu erkennen durch eine verhältnißmäßig große Ausdeh—
nung der Bruſthöhle, beſtimmt ausgeſprochene Formen, mä—
ßige Fülle des Körpers, ziemliche Feſtigkeit des Fleiſches,
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Einfluß des Temperaments. 43
helles, zum Nußbraunen hinneigendes Haar, blaue Augen
und friſche Geſichtsfarbe. Es zeichnet ſich durch eine große
Thätigkeit der Blutgefäße, einen vollen und raſchen Puls,
Luſt an körperlicher Bewegung und ein belebtes Anſehen
aus (ſ. die Abbildung Fig. 2.). Das Gehirn nimmt an
dem allgemeinen Zuſtande Theil und iſt thätig. Es iſt
das Temperament der Lebensfriſche. Das nervöſe Tempe—
rament hat einen mehr intenſiven, das ſanguiniſche einen
mehr extenſiven Charakter.
Beim Vorwalten der Drüſen- und Aſſimilationsorgane
bildet ſich das lymphatiſche oder das phlegmatiſche Tempe—
rament. Es iſt äußerlich erkennbar an einer verhältniß—
mäßig großen Ausdehnung der Bauchhöhle, einer gerun—
deten Form des Körpers, Weichheit der muskulöſen Theile,
einem angefüllten Zuſtande des Zellengewebes, hellem Haar
und einer blaſſen, zarten Haut. Es iſt von matten Lebens—
äußerungen, mit Schwäche und Langſamkeit in der Circu—
lation begleitet. Der Puls iſt ſchwach. Das Gehirn, als
ein Theil des Körperſyſtems, iſt ebenfalls langſam in ſeinen
Verrichtungen, und die Geiſtesthätigkeit iſt verhältnißmäßig
ſchlaff. Es iſt das Temperament der Langſamkeit. Leider
iſt es ſehr häufig in unſerm deutſchen Vaterlande zu fin—
den (ſ. Fig. 39.
Das vierte Temperament, das biliöſe, iſt in ſeinen
Grundurſachen weniger beſtimmt erkannt, als die übrigen.
Doch nimmt man an, daß es durch das Vorherrſchen des
Muskelſyſtems gebildet werde. Nicht unwahrſcheinlich iſt,
daß die vorwaltende Thätigkeit der Leber damit in Verbin—
dung ſtehe. Man erkennt dieſes Temperament an ſchwar—
zem, hartem Haar, dunkeln Augen, gelbbrauner Haut, mä—
ßiger Fülle, aber großer Feſtigkeit des Fleiſches, ſcharfen,
ausdrucksvollen Geſichtszügen und ſtark gezeichneten Um—
riſſen des Körpers (ſ. die Abbildung Fig. 4, Brutus).
Die Verrichtungen des Gehirns nehmen an der Energie
des übrigen Körpers Antheil. Dieſe iſt ſtark und aus—
dauernd. Es iſt das Temperament der Thatkraft.
44 Einfluß der Uebung.
Dieſe Temperamente kommen übrigens ſelten unver—
miſcht vor. Gewöhnlich ſind zwei oder drei, bisweilen alle
vier in gleicher Weiſe verbunden. In den Vereinigungen
ſind jedoch die Grundtemperamente zu unterſcheiden, und
es läßt ſich beſtimmen, in welchem Maße die Beſtandtheile
des einen oder des andern ſich finden.
Das Temperament ändert natürlich nichts an den Or—
ganen des Gehirns; es deutet uns, wie geſagt, nur an, in
welcher Weiſe ſie thätig ſind, und da in der Regel alle
Organe des Gehirns daſſelbe Temperament haben, und das
größte, bei ſonſtiger Gleichheit der Verhältniſie, das ſtärkſte,
das kleinſte, das ſchwächſte iſt, ſo erfahren wir, durch Er—
mittelung des Temperaments, die Art und Weiſe, wie ſie
in Thätigkeit treten: in leicht erregbarer, lebensfriſcher, lang—
ſamer, thatkräftiger Weiſe.
Die Frage, ob und wie einem ungünſtigen Tempera—
mente entgegengearbeitet und die Bildung eines günſtigern
befördert werden kann, würde uns hier zu weit von un—
ſerm Zwecke abführen. Ich habe ſie jedoch an einem an—
dern Orte befprochen, und verweiſe demzufolge dahin ).
9 4.
Einfluß der Uebung.
Jede Kraft beginnt zu wirken, ſobald ihr ein Gegenſtand
ihrer Wirkſamkeit geboten wird: die geiſtige Kraft, wie die
magnetiſche Kraft. Der Unterſchied zwiſchen der magne—
tiſchen Kraft und der geiſtigen Kraft beſteht nur in der
Verſchiedenheit der Gegenſtände ihrer Wirkſamkeit und darin,
daß der Menſch vermöge der Mehrheit ſeiner Anlagen der
einen den Gegenſtand ihrer Wirkſamkeit geben, der anderen
1) Pädagogiſche Revue. Centralorgan für Pädagogik, Didaktik
und Culturpolitik, herausgegeben von Dr. Mager. Stuttgart 1842.
Dritter Jahrg. Fünfter Band. Oktoberheft No. 10. S. 345-360.
Desgleichen unten $ 50.
Einfluß der Uebung. 45
ihn entziehen kann; z. B. Farben bilden den natürlichen
Gegenſtand des Farbenſinns, das Unglück denjenigen des
Wohlwollens. Vermöge ſeiner geiſtigen Freiheit kann nun
der Menſch, deſſen Wohlwollen durch den Anblick des Un—
glücks, oder deſſen Farbenſinn durch denjenigen von Farben
in Anſpruch genommen iſt, an die Stelle des einen Gegen—
ſtands den andern ſetzen, und ſo die eine oder die andere
Kraft zur Thätigkeit aufrufen. Wendet er ſeine Blicke von
den Farben hinweg und einer Scene des Unglücks zu, ſo
wird nothwendig das Wohlwollen in Thätigkeit gerathen;
wendet er umgekehrt ſeine Blicke von der Scene des Un—
glücks den Farben zu, ſo wird das Wohlwollen aufhören
zu wirken, und der Farbenſinn wird ſeine Wirkſamkeit be—
ginnen. Uebrigens rufen nicht blos Gegenſtände des äußern
Lebens die verſchiedenen Kräfte des Menſchen zur Thätig—
keit: nicht blos die wirkliche Farbe den Farbenſinn, nicht
blos das wirkliche Elend das Wohlwollen, ſondern auch
ſchon die Erinnerung an geſehene Farben und erlebte Sce—
nen des Unglücks, oder auch nur die Vorſtellung möglicher
Farben, oder möglichen Unglücks. Die Vorſtellung iſt das
Product der Einbildungskraft, wie die Erinnerung dasjenige
des Gedächtniſſes iſt. Wie wir die im äußern Leben be—
findlichen Gegenſtände, welche unſere geiſtigen Kräfte in
Anſpruch nehmen, wechſeln können, ſo können wir auch die
in unſerm Innern erzeugten durch die Kraft-unſers Willens
verändern, und zwar in demſelben Maße, in welchem ſie
groß iſt. Eine mächtige Willenskraft wird natürlich in
dieſer, wie in jeder andern Beziehung mehr vermögen, als
eine ſchwächere. Allein die Geſetze der Natur kann unſere
Willenskraft, wie ſich von ſelbſt verſteht, nicht ändern, ſie
kann daher nicht verhindern, daß, falls einer geiſtigen Kraft
ihr Gegenſtand geboten wird, ſie in Gemäßheit ihrer Natur
wirke, daß der Bekämpfungstrieb Kampfluſt äußere, das
Wohlwollen das Beſtreben dem Unglücke beizuſtehen u. ſ. w.
Hiermit iſt in philoſophiſcher Weiſe nichts anders geſagt,
als was in religiöſer Weiſe die Worte: „Du ſollſt Gott
46 Einfluß der Uebung.
deinen Herrn nicht verſuchen“ ausſprechen, d. h. der Menſch
ſoll diejenigen ſeiner Kräfte, welche ihn zum Böſen führen
können, nicht die Gegenſtände bieten, welche ſie zur That
ſpornen, weil fie ſonſt, den Naturgeſetzen gemäß, in Thä—
tigkeit treten, und dann nicht ſo leicht wieder zur Ruhe
verwieſen werden können.
Auf der andern Seite kann nur diejenige geiſtige Kraft
thätig werden, welcher ein Gegenſtand geboten iſt. Durch
Farben kann eben ſo wenig auf den Wortſinn, als durch
Worte auf den Farbenſinn unmittelbar gewirkt werden, und
da ein unmittelbarer Gegenſtand natürlich immer ſtärker
wirkt, als ein mittelbarer, d. h. ein durch das Gedächtniß
oder die Einbildungskraft geſchaffener, ſo iſt es nothwendig,
jenen zu bieten, wo man entſchieden wirken, d. h. wo man
eine geiſtige Kraft in entſchiedene Thätigkeit verſetzen will.
Dieſer Grundſatz iſt von höchſter Wichtigkeit im Leben. Er
wird leider! nur zu oft verkannt.
Je größer eine Kraft iſt, deſto weiter erſtreckt ſich ihre
Sphäre, deſto ferner und geringfügiger kann daher auch der
Gegenſtand ſein, der ſie zur Wirkſamkeit ruft und umgekehrt,
wie z. B. ein großer Magnet in größerer Ferne Eiſen an—
zieht, als ein kleinerer, und umgekehrt.
Der Zweck unſers Lebens beſteht darin, die zu ſchwa—
chen Kräfte unſers Geiſtes durch Uebung zu ſtärken, die zu
thätigen durch Ruhe zu mildern und unſere geſammten gei—
ſtigen Kräfte, unter der Leitung der höheren moraliſchen
Gefühle, unter kräftigem Beiſtand der Intelligenz und der
Triebe in harmoniſcher Weiſe zu entwickeln.
Zu dieſen Reſultaten gelangen wir, wenn wir die
menſchliche Thätigkeit vom geiſtigen Geſichtspunkte betrach—
ten. Allein wir können uns auch auf den körperlichen ſtel—
len, indem wir die Organe der geiſtigen Thätigkeit ins Auge
faſſen, und zwar zunächſt diejenigen des Gehirns, als des
Centralorgans derſelben.
Das Gehirn iſt allen Geſetzen der Phyſiologie unter—
worfen, gleich den andern Theilen des Körpers. Es gilt
Einfluß der Uebung. 47
alſo in Betreff ſeiner namentlich auch die Regel, daß, wenn
irgend ein Körpertheil thätig geübt wird, eine größere Menge
Bluts ſich darein ergießt, und er auch einen höhern Grad
von Anregung durch die Nerven erhält. In Folge deſſen
nehmen diejenigen Theile des Körpers, welche beſonders
geübt werden, bis zu einem gewiſſen Grade an Feſtigkeit,
Stärke und auch an Größe zu. Aberdings kann kein Grad
von Uebung einen Mann, deſſen Muskelſyſtem von Natur
ſehr ſchwach iſt, zu einem Herkules machen; allein Uebung
kann daſſelbe doch einigermaßen ſtärken, während es ohne
alle Uebung in immer größere Schwäche verſinken würde.
Die Gränze, welche der Uebung eines Organs durch die
Natur geſetzt iſt, wird beſtimmt durch den Grundſatz,
daß jede Bewegung wie jede Empfindung einen gewiſſen
Verbrauch von Körpertheilchen zur Folge hat, und daß
daher, wenn dieſer nachhaltig ſchneller vor ſich geht,
als der Erſatz, die Organe zugleich an Umfang und
Kraft abnehmen. Mit andern Worten: übermäßige An—
ſtrengung ſchwächt, ſtatt zu ſtärken. Die Uebung darf
daher das Maß der Kraft eines Organs nicht überſteigen,
um ſtärkend zu wirken, und ſo wird allerdings die natür—
liche Größe eines Organs und ſeine natürliche Stärke uns
auch einen Maßſtab kräftigender Uebung gewähren. Den
Mann mit ſtarken Muskeln wird dieſelbe Uebung kräftigen,
welcher der Mann mit ſchwachen Muskeln erliegen würde.
Daher muß die Uebung eines Organs immer mit ſeiner
Stärke im Verhältniß ſtehen.
Alle dieſe Regeln finden auch ihre Anwendung auf das
Gehirn. Wenn wir lebendig fühlen oder tief denken, er—
gießt ſich mehr Blut in das Gehirn, als wenn unſere Ge—
fühle minder lebendig, unſere Gedanken minder tief bewegt
ſind. Die Organe derjenigen Geiſtesvermögen, welche wir
in einer ihrem natürlichen Stärkegrade entſprechenden Weiſe
üben, werden daher an Größe und folglich die betreffenden
Geiſtesvermögen an Kraft zunehmen. Aber eine die Ent—
48 Einfluß der Uebung.
wicklungsfähigkeit eines Organs überſteigende Uebung wird
es erſchlaffen, und, geſchieht es gewohnheitsmäßig, ſo wird
auch die Erſchlaffung gewohnheitsmäßig eintreten, bis ſie
am Ende bleibend wird. Wer ohne die Anlagen eines
Mozart, eines Goethe durch Uebung ein muſikaliſches oder
dichteriſches Genie werden wollte, würde, nach dem Stär—
kegrade ſeiner Organe, früher oder ſpäter ſeine natürlichen
Anlagen zum Muſiker oder Dichter geradezu durch Ueber—
anſtrengung aufreiben. Wenn wir jedoch auf der anderen
Seite unſere geiftigeu Vermögen nicht in einem ihrer na—
türlichen Stärke entſprechenden Maße üben, ſo werden die
betreffenden Organe des Gehirns an Größe und folgenweiſe
die geiſtigen Anlagen an Energie abnehmen.
Eine wohlberechnete Uebung bewirkt übrigens nicht blos
Zunahme an Größe und demzufolge an Stärke, ſondern auch
Zunahme an Bewegungsfähigkeit; und ſo bringt auch die
Uebung der Geiſteskräfte nicht blos größere Stärke, ſondern
auch größere Gewandtheit, größere Leichtigkeit geiſtiger Be—
wegung hervor. Es iſt daher bei Ziehung der Schlüſſe
von der Größe eines Organs auf die Stärke der ihm ent—
ſprechenden geiſtigen Anlage natürlich von demjenigen Ele—
mente nicht die Rede, welches die Uebung verleiht. Der
Phrenolog wird daher bei ſeinen praktiſchen Beobachtungen
entweder ſich über den Grad ſtattgehabter Uebung verläßi—
gen, oder, wo dieſes nicht möglich iſt, ſeine Urtheile in
entſprechender Weiſe beſchränken.
Wir müſſen uns immer vergegenwärtigen, daß wir ohne
Gehirnthätigkeit nicht denken, fühlen oder handeln können.
Daher iſt es ſo wichtig, das Gehirn immer in einem Zu—
ſtande vollkommener Geſundheit zu erhalten. Ueber die Art
und Weiſe, wie dieſes zu erzielen ſei, habe ich mich an einem
andern Orte!) ausgeſprochen.
1) Pädagogiſche Revue von Dr. Mager. Dritter Jahrg. Fünfter
Bd. Oktoberheft No. 10. S. 355 ff. S. unten N 59, a
Einfluß der Geſundheitsverhältniſſe. 49
9
Einfluß der Geſundheitsverhaͤltniſſe.
Körper und Geiſt ſtehen in ſo inniger Verbindung, daß
der eine ohne den andern nicht leiden, daß der eine ohne den
andern ſich nicht einer friſchen Geſundheit erfreuen kann.
Allerdings ſtehen nicht alle Theile des Körpers in gleich
inniger Beziehung zum Geiſte, als das Gehirn, allein mehr
oder minder ſtehen doch alle in Verbindung mit dem Ge—
hirne, und durch dieſes mit dem Geiſte. Je inniger ein
Körpertheil mit dem Gehirne verbunden iſt, deſto wichtiger
iſt ſeine Geſundheit für die Geſundheit des Geiſtes. Nicht
ſelten beginnt eine Krankheit mit einem dem Gehirne ver—
hältnißmäßig ferne liegenden Theile des Körpers, allein in-
ſofern durch dieſe Krankheit das Gehirn mit krankhaftem
Blute genährt, oder durch Sympathie in die Krankheit des
urſprünglich ergriffenen Körpertheils mit verflochten wird,
muß auch das Gehirn und folgeweiſe der Geiſt leidend wer—
den. Eine ſ. g. Geiſteskrankheit kann daher ihren Urſprung
in irgend einem Theil des Körpers, im Magen, Darmkanal,
in der Leber u. ſ. w. nehmen. So lange das Gehirn noch
nicht in den Kreis der Krankheit hineingezogen iſt, wird
der Geiſt noch nicht als krank ſich kund thun. Sobald
aber das Gehirn ſelbſt in einen leidenden Zuſtand geräth,
wird zu gleicher Zeit der Geiſt die Symptome einer ent—
ſprechenden Krankheit kund thun.
Jede Krankheit ſtört die normale Thätigkeit des er—
griffenen Organs, wie jedes andern Theils des Körpers, ſo
auch des Gehirns, und übt eine Rückwirkung auf die übri—
gen, unmittelbar nicht ergriffenen Theile aus, welche im Ver—
hältniſſe zu der Intenſität der Krankheit und zu der Verbin—
dung ſteht, worin die nicht unmittelbar ergriffenen Theile
ſich befinden. Alle die Grundſätze, welche oben (§ 2) auf—
geſtellt wurden, ſind natürlich abgeleitet aus dem geſunden,
dem normalen Zuſtande des Körpers überhaupt, und des
Gehirns und des Schädels insbeſondere. Einwürfe, welche
4
50 Einfluß der Geſundheitsverhältniſſe.
daher der Phrenologie aus den Krankheitserſcheinungen des
Körpers entgegengeſetzt werden, berühren ſie nicht. Zu einer
ſpeciellen Pathologie des Gehirns, mit beſonderer Rückſicht
auf ſeine einzelnen Organe und die damit verbundenen Gei—
ſtesanlagen ſind wir zur Zeit noch nicht gelangt. Allein
gewiß würde ein ſolches Werk ſeinen Meiſter lohnen. Es
müßte Epoche machen für die Behandlung der Geiſtes—
krankheiten. Einzelne Andeutungen üder den Einfluß der
Krankheit auf die Organe des Gehirns und die entſpre—
chenden Geiſtesanlagen werden im Laufe der Darſtellung
der einzelnen Organe), fo wie im praktiſchen Theile ($ 62)
gemacht werden. Hier genüge es zu bemerken, daß, wie
jede einzelne Krankheit überhaupt, ſo auch jede Krankheit
des Gehirns oder ſeiner einzelnen Organe ihre eigenthüm—
lichen Symptome hat, welche ein beſonderes Studium er—
fordern. Eine Krankheit des Organs der Ehrerbietung hat
andere Symptome, als eine Krankheit des Organs des
Zerſtörungstriebs, wie die verſchiedenen Monomanien im
Extreme recht deutlich zeigen. Namentlich ſcheint aber ein
generiſcher Unterſchied zwiſchen den Krankheiten der grauen
und der weißen Maſſe des Gehirns ſtattzufinden, zwiſchen
den Krankheiten einzelner Organe und der Krankheit der
allgemeinen Verbindungsmaſſe. Jene ſcheinen die Mono—
manieen, die fixen Ideen und ähnliche partielle Verſtim—
mungen des Gemüths zur Folge zu haben, dieſe die Stö—
rung des Zuſammenhangs der Geiſtesverrichtungen, was
die engliſchen Irrenärzte incoherence nennen ).
$ 6.
Die Phyſiognomik der Phrenologie.
Unter Phyſiognomik verſteht man die Lehre, welche
uns die tiefer liegenden Urſachen der äußeren Erſcheinungen
1) S. unten $$ 13. 15. 16. 17. 18. 19. 21. 25. 27. 31. 32.
2) S. Zeitſchr. f. Phrenol. Bd. I. H. 2. S. 15 U ff. Bd. I. H. 3. S. 272ff.
Die Phyſiognomik der Phrenologie. 51
enthüllt. Nur in dieſem Sinne hat fie Werth, und ver:
dient ſie wiſſenſchaftlich beſprochen zu werden. In der gan—
zen Natur beſteht ein Wechſelverhältniß zwiſchen der inne—
ren und äußeren Seite der Dinge, zwiſchen ihrer körper—
lichen Beſchaffenheit und den Kräften, welche ſich an den—
ſelben kund thun. Da jede Kraft, um wirkſam werden zu
können, gewiſſer körperlicher Elemente bedarf, da ſie Spu—
ren ihrer Wirkſamkeit zurückläßt, ſo iſt von jeher immer
von der Außenſeite der Dinge auf ihre innere Seite, von
den körperlichen Beſtandtheilen auf die Kräfte geſchloſſen
worden, welche ſie vermitteln. Die ganze Natur ſteht un—
ter ewigen, unveränderlichen Geſetzen. Es kommt nur dar—
auf an, dieſe zu erforſchen, um von denſelben auf die Wir—
kungen ſchließen zu können, welche ſie hervorrufen, und
umgekehrt dann aus den Wirkungen auf die Geſetze, unter
deren Einfluß ſie entſtanden ſind. In der Natur giebt es
keine Willkühr, keinen Zufall, keinen Sprung. Die Gebote
Gottes nehmen nicht, wie die menſchlichen, Rückſicht auf die
einzelnen Fälle, ſie beugen und krümmen ſich nicht nach den
Umſtänden, ſondern ſie ergreifen alle Verhältniſſe und ſie
beherrſchen fie vollkommen. Das Geſetz der Kriſtalliſation,
der Elektricität, des Magnets iſt ewig und unveränderlich,
nur die Gegenſtände, welche deſſen Wirkſamkeit hervorrufen,
wechſeln. Wie die Bewegung der Himmelskörper, ſo be—
ruht auch diejenige des kleinſten Atoms auf ewigen Ge—
ſetzen. Alles dieſes gilt in Beziehung auf die belebte wie
die unbelebte Natur. Die Bewegung des Armes des Men—
ſchen, wie die Bewegung der Himmelskörper beruht auf dem
Gegenſatze zwiſchen Schwerkraft und Schwungkraft. Dieſe
hat ihre körperlichen Organe ſo gut als jene. Bei dem leben—
den Weſen ſind wir ſogar im Stande, dieſelben genau nachzu—
weiſen. Die Nerven der Bewegung vermitteln die im lebenden
Körper wirkende Schwungkraft, die übrigen Apparate vermit—
teln die ihr das Gleichgewicht haltende Schwerkraft. Jeder
einzelne Theil des complicirten Mechanismus des menſchli—
chen Körpers hat ſeinen individuellen Charakter, bei jedem
4 *
52 Die Phyſiognomik der Phrenologie.
findet ein Schluß zwiſchen ſeiner äußeren und inneren Seite,
zwiſchen ſeiner körperlichen Beſchaffenheit, ſeiner Wirkungs—
fähigkeit und Entwickelungsgeſchichte ſtatt, und ſo auch bei
dem Ganzen, das aus der Vereinigung dieſer Theile be—
ſteht. Allein natürlich kann nur eine genaue Kenntniß der
inneren Seite und eine anhaltende Beobachtung ihres Ver—
hältniſſes zur Außenſeite, nur eine ununterbrochene Verglei—
chung zwiſchen Kraftäußerung und ihren körperlichen Vor—
ausſetzungen die Grundlage einer wiſſenſchaftlichen Phyſio—
gnomik bilden. Durch die Phrenologie iſt nunmehr über
den Urgrund aller Bewegungen und Empfindungen des
Menſchen, und mit dieſen hat es die Phyſiognomik im
engern Sinne zunächſt zu thun, ein ſo helles Licht ver—
breitet, daß jetzt mehr als vage Vermuthungen über den—
ſelben beſtehen. Die körperlichen Organe der Seele und das
Wechſelverhältniß zwiſchen der äußeren Seite des Körpers
und ſeinen tiefer liegenden Theilen ſind uns ſo weit be—
kannt, daß die Grundlagen zu dieſer Wiſſenſchaft als ge—
geben angenommen werden können. Wir wiſſen, daß die
äußere Geſtalt des Schädels abhängt von der inneren
Geſtalt des Gehirns, wie die äußere Geſtalt der Bruſt—
und der Bauchhöhle von der Beſchaffenheit der Organe,
welche ſie umſchließen, und wir wiſſen, daß von den ver—
ſchiedenen Organen jener Centralnervenmaſſe der Impuls
des geiſtigen Lebens ausgeht. Wir wiſſen, wo jedes
derſelben ſeinen Sitz hat, und welches ſeine Verrichtungen
ſind.
In ganz gleicher Weiſe, wie gewiſſe Gedanken, Ge—
fühle und Begierden die natürliche Folge der Wirkſamkeit
gewiſſer Organe ſind, ſo ſind es gewiſſe ſie begleitende Be—
wegungen. Die körperliche Ausdehnung jedes Organs des
Gehirns beſtimmt diejenige ſeiner Schädelbedeckung, die
ſämmtlichen Organe des Gehirns in ihrer Vereinigung bil—
den alſo die Phyſiognomie des Schädels. In wie weit die
Bildung des Schädels auf die Entwicklung der übrigen
Knochen des Geſichts und des Rumpfes zurückwirkt, iſt
Die Phyſiognomik der Phrenologie. 53
zur Zeit wohl nicht genügend hergeſtellt. Daß jedoch ein
gewiſſes unwandelbares Verhältniß, wie zwiſchen Gehirn
und Schädel, ſo zwiſchen Mark und Knochen beſteht, un—
terliegt keinem Zweifel). Ebenſo findet ein Verhältniß
ſtatt zwiſchen der in verſchiedenen Organen zertheilten Ner—
venmaſſe des Gehirns und den Nerven der übrigen Körper—
theile. Je mehr Primitivfaſern ein Organ enthält, deſto
mehr kann es nach allen Theilen des Körpers entſenden,
und deſto zahlreicher ſind daher die Bande, mit welchen es
auf ihn zu wirken vermag. Die mancherlei pantomimiſchen
Bewegungen, welche Jedermann, ſelbſt das Kind verſteht,
beruhen auf der Anziehung der Nervenſtränge, welche von
dem Organe ausgehen, deſſen Thätigkeit dieſelben hervorge—
rufen hat. Je weniger Gehirnorgane und je entſchiedener
ſie in einem gegebenen Falle thätig ſind, deſto einfacher
und deſto deutlicher werden die Bewegungen, und deſto
leichter wird daher die ſie hervorrufende geiſtige Urſache zu
erkennen ſein.
Jede Bewegung erhält ihren eigenthümlichen Charakter
durch die Organe, welche ſie hervorrufen. Der Gang des
Menſchen, welcher unter dem Einfluſſe der Furcht ſich be—
wegt, iſt verſchieden von dem Gange, welcher von Selbſt—
gefühl, Beifallsliebe, Verheimlichungstrieb, Ehrerbietung,
oder irgend einem andern Gefühle geleitet wird. Jedes
Organ entſendet in jeden Theil des Körpers ſeine Nerven—
ſtränge, und je nachdem daher dieſe oder jene Stränge die
Bewegung einleiten, muß ſie einen verſchiedenen Charakter
in allen Theilen des Körpers haben.
Wie auf der einen Seite jede unter dem Einfluß eines
beſtimmten Organs vorgenommene Bewegung, ſo hat auf
der anderen Seite auch jedes Organ des Gehirns ſeine
beſondere Phyſiognomie, welche nach Verſchiedenheit ſei—
I) Sehr ſchätzenswerthe Andeutungen giebt darüber G. Combe
(ſ. Zeitſchr für Phrenologie Bd. II. H. 4. 5. 6.) in feiner Abhand—
lung über die Anwendung der Phrenologie auf die ſchönen Künfte.
54 Die Phyſiognomik der Phrenologie.
ner eigenen Entwickelung und derjenigen ſeiner Nachbarn
verſchieden iſt. Nicht blos die Gehirn-, bezugsweiſe Schä—
delbildung, ſondern auch diejenige des übrigen Körpers iſt
indeß von hoher Wichtigkeit zu richtiger Würdigung eines
Charakters.
Nach Verſchiedenheit des Temperaments, der Geſund—
heits- und Erziehungsverhältniſſe wird die Wirkſamkeit jedes
Gehirnorgans eine verſchiedene Phyſiognomie annehmen, ver—
ſchiedene Spuren auf der Oberfläche und in den inneren
Theilen des Körpers zurücklaſſen. Allein der Grundtypus
wird doch immer derſelbe ſein. Bei dem nervöſen Tem—
peramente machen die Nerven insbeſondere ſich bemerklich.
Die Nerven der Empfindung wirken auf diejenigen der Be—
wegung, und es entſtehen jene leichten, kaum merklichen
Bewegungen, welche eine tiefere und lebendigere Aufregung
andeuten, als die Muskelbewegung, welche ſich in größeren,
und ſchärferen Conturen zeigt, und dem biliöſen Tempera—
ment beſonders eigen iſt. Das ſanguiniſche Temperament
wirkt zunächſt auf die Blutgefäße. Ein raſcherer Umlauf
des Blutes, ein Strömen deſſelben nach der Richtung, von
welcher der Impuls ausgeht, macht ſich bei dieſem beſon—
ders bemerklich. Bei dem lymphatiſchen Temperamente end—
lich thun ſich auch alle Gemüthsbewegungen weniger raſch
und weniger entſchieden kund, als bei den übrigen. Der
Charakter der Langſamkeit und des Widerwillens gegen jede,
die Behaglichkeit bedrohende Störung tritt hier bei jeder gei—
ſtigen Anregung mehr oder weniger hervor.
Das einzige Mittel, phrenologiſch-phyſiognomiſche Re—
ſultate mit Sicherheit zu gewinnen, iſt die Anſtellung wie—
derholter Beobachtungen an lebenden Weſen. Um ſich jedoch
dazu zu befähigen, iſt es nothwendig, ſich zuvörderſt mit
dem phrenologiſchen Kopfe bekannt zu machen '), Schädel,
welche in horizontaler Richtung durchſägt ſind, von außen
und innen zu beobachten, das Gehirn ſelbſt zu betrachten,
1) S. den phrenologiſchen Kopf hierneben.
PEÄ 20 322
e, ie. „
A, vl, are
Namen und Eintheilung der phreno logischen Organe
I. Sinnlichkeit oder IL Empfindungs- Il. Darstellungs- N. Erkenntuifs- V. Denk Vermögen oder
Triebe. Vermögen oder Vermögen oder Vermögen oder Gaben.
: Gefühle. Talente. Fähigkeiten 8
4 beschlechtstrucb. 0 Schhstgetiihl . 92 wammensthungssin| in ihrem Degensalst I Vin wlschungsgaßt
Au ee, # Heere, Sinn l ue eee, \a sach dem Baume (synihebscherVirstand)
Hin rue AR eee e., Aunst oder Aue, A e eee. blen, See.
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Die Phyſiognomik der Phrenologie. 55
und es, nicht auf die früher gewöhnliche Weiſe, in horizon—
taler Richtung zu dieſem Behufe zu durchſchneiden, ſondern
es, mit Rückſicht auf die Falten, in welche die Gehirnmaſſe
eingeſchloſſen iſt, zu zerlegen. Nicht minder iſt es erforder—
lich, ſich die Charakterzüge der verſchiedenen Temperamente feſt
einzuprägen. Die Verknöcherungspunkte des Schädels und die
Ohröffnung bieten uns die beſten Orientirungspunkte. Was
vorn über dem Organe des Schlußvermögens, hinten über
demjenigen der Sorglichkeit ſteht, dieſes mit eingeſchloſſen,
bildet die Region der Gefühle; die Breite, die Höhe und
die Länge dieſer Wölbung ſind beſonders zu beachten.
Der Mörder Hare. x
Fig. 10 ſtellt den Kopf END \ 5
Hare's dar, welcher mit fiir N 1 got
nem Genoſſen Burke ſechzehn Mfg ncheh on.
Perſonen zu Edinburgh ermordete, um ihre Leichname an die
Anatomie zu verkaufen. Einen ſehr deutlich in die Augen
ſpringenden Gegenſatz bildet zu ihm Melanchthon's Charak—
ter und Kopfbildung. Derjenige Theil des Gehirns, wel—
cher vor der Linie A B der Fig. 10 liegt, bildet den vor—
dern Gehirnlappen, den Sitz der intellectuellen Fähigkeiten.
Der Raum oberhalb der Buchſtaben BC bezeichnet die Ge—
56 Die Phyſiognomik der Phrenologie.
gend der moralifchen Gefühle; der Raum zwiſchen ABC
diejenigen der thieriſchen Triebe.
Bei Unterſuchung der Organe des Vorderhauptes iſt
nicht blos auf die Ausdehnung jedes einzelnen an und für
ſich, ſondern auch auf die Tiefe der Stirn nach der Schlä—
fengegend hin, Rückſicht zu nehmen. Stets iſt es noth—
wendig, bevor man die Größe eines einzelnen Organs be—
ſtimmt, ſich der Geſtalt des Kopfes im Allgemeinen zu
verſichern, da an jedem einzelnen Kopfe nur das Verhält—
niß der Größe jedes Organs zu den übrigen deſſelben Ko—
pfes feſtgeſtellt werden kann.
Die phrenologiſche Büſte zeigt die Lage der Organe
und ihre Verhältniſſe nur an einem Kopfe, die verſchiede—
nen Erſcheinungen in allen den Varietäten relativer Größe
müſſen durch Anſehen einer Menge von Köpfen und beſon—
ders durch Vergleichung von Beiſpielen ungewöhnlich gro—
ßer und ungewöhnlich kleiner Entwickelung erlernt werden.
Die Köpfe können zwar durch Taſtezirkel in gewiſſen
Richtungen gemeſſen werden, und dieſe Meſſungen ſind
wichtig, weil ſie uns über die Größenverhältniſſe eines
Kopfes im Allgemeinen und in ſeinen Haupttheilen Auf—
ſchluß geben. Allein die einzelnen Organe laſſen ſich nicht
meſſen, ſondern nur beſchauen und hauptſächlich befüh—
len. Die Grade der Größe der einzelnen Organe laſſen
ſich am füglichſten durch Zahlen beſtimmen und zwar in
folgender Weiſe: 1 ſehr klein, 2 klein, 3 mittelmäßig,
4 ziemlich groß, 5 groß, 6 ſehr groß. Durch Bruchtheile
laſſen ſich dann die Verhältniſſe zwiſchen den ganzen Zah—
len noch näher beſtimmen, z. B. wo das richtige Verhält—
niß zwiſchen 5 und 6 gerade in der Mitte liegt, ſetzt man
5½, wo es 5 näher liegt, 5%, 5½½ u. ſ. w., wo es 6 nä—
her ſteht, 5%, 5% u. ſ. w. Da jedes Organ in derſelben
Weiſe wie Arm und Bein und Auge ein doppeltes iſt, ſo
findet ſich im normalen Zuſtande auch immer ein correſpon—
direndes Organ auf beiden Seiten des Kopfes. Bei den—
jenigen dagegen, welche auf der Mittellinie liegen, laſſen
Die Phyſiognomik der Phrenologie. 57
ſich die beiden Theile des Organs äußerlich nicht abgeſondert
erkennen).
Wer mit Erfolg phrenologiſche Beobachtungen anſtel—
len will, beginne zuerſt mit ſeinem eignen Kopfe und den—
jenigen ſeiner Freunde und Bekannten; betrachte alle Ab—
bildungen entſchiedener Charaktere, z. B. der Antiken, die
ihm zugänglich ſind, und vergleiche ſie mit den Lehren der
Phrenologie. Er übe ſein Auge dadurch, daß er es nie—
mals gedankenlos auf einem Kopfe ruhen laſſe, ſondern im—
mer mit forſchendem Blicke, ſo oft ſich die Gelegenheit der
Beobachtung bietet: im Theater, in Volksverſammlungen,
in Geſellſchaften u. ſ. w. Nur durch unausgeſetzte Uebung
kann Auge und Hand befähigt werden, dem phrenologiſchen
Forſcher gute Dienſte zu leiſten, und können die zur Anſtel—
lung genauer Beobachtungen erforderlichen Organe geſtärkt
und an ein bereitwilliges Zuſammenwirken gewöhnt werden.
Bei Betrachtung der an den Seiten des Kopfes lie—
genden Organe, namentlich des Bautalents, des Erwerbs—
triebs und des Verheimlichungstriebs iſt auf die Stärke
der ſie bedeckenden Muskeln Rückſicht zu nehmen. Die
Stirnhöhle macht die Beobachtung der in der Mitte der
Stirn ruhenden Organe ſchwieriger. Allein der geübte Blick
wird die Geſtalt eines Organs nicht verwechſeln mit der un—
beſtimmteren Geſtaltung, welche die Stirnhöhle der Stirn
verleiht. Die kleinen Organe, welche um das Auge herum
liegen, ſind beſonders ſchwierig zu erkennen, und ohne lange
fortgeſetzte Uebung wird man ſie ſelten richtig zu würdigen
im Stande ſein.
Der Augenrand wird je nach der verſchiedenen Ent—
wickelung eines oder mehrerer der daſelbſt belegenen Organe
ganz oder theilweiſe eine andere Geſtalt annehmen. Wenn
ſie alle ſchwach entwickelt ſind, iſt der ganze Augenrand ſehr
hoch, und die Augen ſind heraufgedrängt und dem obern
Orbitalbogen nahe; in dieſem Falle ſind die Augenränder
I) Phrenological Journal of Edinburgh 1824 No. II. p. 305.
58 Eintheilung der Geiſtesvermögen.
S
tief und wie hohle Cylinder gebildet. Aber wenn alle dieſe
Kopftheile einen hohen Grad von Ausbildung erlangt ha—
ben, ſo ſind die Augenwurzeln nach vorn gedrängt, wovon
die Folge iſt, daß die Augen groß und in gleicher Linie mit
dem Kopfe ſind; in dieſem Falle drückt die herabgedrängte
Wölbung die Augenwurzel hinab, welche ihrerſeits den un—
tern Augenrand der Backe zudrängt, und unter dem untern
Augenlide eine Art von Wulſt bildet. Wenn nur der äu—
ßere Theil ſehr entwickelt iſt, ſo wird auch nur der entſpre—
chende Theil der Wölbung herabgedrückt, was die Herab—
drückung des äußern Theils der Augenwurzel und der äu—
ßeren Commiſſur der Augenlider zur Folge hat. Wenn der
innere Theil allein ſehr entwickelt iſt, ſo wird der innere
Theil der Wölbung allein ſehr herabgedrückt, wodurch der
innere Theil der Augenwurzel und die innere Commiſſur
der Augenlider nach unten gedrängt wird ). 8
Unregelmäßig gebildete, krankhafte und alte Köpfe bie—
ten oft unüberwindliche Schwierigkeiten der Beobachtung
dar. Der geübte Phrenolog wird dieſe erkennen, und ſich
hüten, in denjenigen Fällen ſeine Schlußfolgerungen aus—
zuſprechen, in welchen ſie nur auf unſichere Grundlagen ge—
baut werden könnten ).
9 7.
Eintheilung der Geiſtesvermoͤgen.
Die Natur macht keine Eintheilungen. Sie ſchafft
nach ewigen Geſetzen und bedarf keiner Hülfsmittel der
Ueberſicht. Allein der Menſch mit ſeinen beſchränkten Ga—
ben kann ein weites Feld ohne Eintheilungen nicht über—
ſehen. Um ſich den Ueberblick der menſchlichen Grundkräfte
zu erleichtern, muß er daher auch ſie einzutheilen ſuchen.
Jede Eintheilung der Geiſteskräfte muß demnach mangelhaft
I) Gall sur les fonctions du cerveau Vol. V. p. 6.
2) Spurzheim, on Phrenology p. 113 119.
Eintheilung der Geiſtesvermögen. 59
ſein, ſie geht nicht aus dem Innern der menſchlichen Natur
hervor, ſondern wird gewiſſermaßen von außen, wie ein
Rahmen mit Fächern auf ſie gepaßt, damit man ſie ver—
mittelſt deſſelben feſthalten könne.
Wenn wir übrigens die menſchliche Natur aufmerkſam
beobachten, ſo werden wir gewiſſe Anhaltspunkte finden, auf
welche wir eine Eintheilung gründen können. So ſehen wir
namentlich, was das Wechſelverhältniß zwiſchen dem Körper
und dem Geiſte des Menſchen betrifft, daß ſich die Gehirn—
windungen des Vorderhaupts in einer Beziehung von den—
jenigen des Hinterhaupts ſehr merklich unterſcheiden. Jene
beſtehen aus kleineren, aber verhältnißmäßig zahlreicheren,
dieſe aus größeren, aber verhältnißmäßig minder zahlreichen
Büſcheln. In dem Vorderhaupte haben diejenigen Organe ih—
ren Sitz, welche unter dem gemeinſchaftlichen Namen der In—
telligenz, in dem übrigen Theil des Hauptes diejenigen Organe,
welche unter dem Namen der Senſitivität zuſammengefaßt wer—
den. Dieſem Gegenſatze der Organe entſpricht vollkommen der—
jenige der damit verbundenen geiſtigen Kräfte. Die Organe
der Intelligenz ſind verhältnißmäßig zahlreicher, aber inten—
ſiv weniger kräftig. Die Organe der Senſtitivität find ver:
hältnißmäßig minder zahlreich, aber intenſiv kräftiger ).
An dieſen Gegenſatz reiht ſich ein zweiter an. Die
Fibern, welche von dem vorderen Gehirnlappen ausgehen,
ſtehen größtentheils mit den Nerven freiwilliger Bewegung,
die Fibern, welche von den beiden andern Gehirnlappen
ausgehen, größtentheils mit den Nerven der Empfindung
in unmittelbarer Verbindung?). Ein zweiter charakteri—
ſtiſcher Unterſchied zwiſchen der Intelligenz und der Sen—
ſitivität beſteht demzufolge darin, daß die erſtere unmittel—
bar, die letztere vermittelſt ihrer Einwirkung auf die Intel—
ligenz wirkſam ins Leben tritt.
I) Spurzheim, on Phrenology. 3. Edit. p. 75
2) Gall and others on the functions of the cerebellum Introduction
p. XXXI. II. Phrenolg. Journal of Edinburgh Vol. III. No. XIII. p. 96.
60 Eintheilung der Geiſtesvermögen.
Die Gefühle geben den Impuls zur Handlung, aber die
Intelligenz handelt in Gemäßheit des erhaltenen Impulſes.
Jedoch muß man ſich nicht denken, als ſei die Senſitivität
unbedingt herrſchend, die Intelligenz unbedingt gehorchend.
Keineswegs! Nur iſt bei jener die eine, bei dieſer die an—
dere Richtung vorwaltend, wie ſich ſchon daraus erklärt,
daß nicht alle, ſondern nur die meiſten Fibern in den be—
zeichneten Richtungen hin ſich verbreiten. In ſolcher Weiſe
ſehen wir die Verbindung der verſchiedenen Theile des Ge—
hirns mit den verſchiedenen Theilen des Nervenſyſtems, und
durch dieſes mit dem Körper überhaupt hergeſtellt.
Demnach ſpalten ſich die Grundkräfte des Geiſtes in
zwei große Hälften, wovon die eine in ihrer Geſammtheit
die Senſitivität, die Gefühlswelt, im weitern Sinne des
Wortes, die andere die Intelligenz, gleichfalls im weitern
Sinne des Wortes, bildet.
J. Inſofern unſere irdiſchen Bedürfniſſe in Frage kom—
men, wird unſere Senſitivität
1) zur Sinnlichkeit, zum Triebe; inſofern dagegen un—
ſere höheren Bedürfniſſe ſich geltend machen,
2) zum Empfindungsvermögen, zum Gefühl (im en—
gern Sinne des Wortes). Der unmittelbare Gegenſtand
des letztern iſt nicht durch die unabweisbare Nothwendigkeit
geboten, wohl aber der unmittelbare Gegenſtand des erſtern.
Daher iſt auch der Trieb mehr augenblicklich ſtark wirkend,
während das Gefühl hauptſächlich nur durch feine Dauer
praktiſche Bedeutſamkeit erlangt.
Ohne den Geſchlechtstrieb würden keine neuen Gene—
rationen entſtehen, ohne Kinderliebe würden ſie nicht groß
gezogen, ohne Anhänglichkeit nicht zuſammengehalten wer—
den. Der Bekämpfungstrieb ſchützt ſie gegen wilde Thiere
und menſchliche Feinde, der Zerſtörungstrieb macht dem
Kampf ein Ende. Wie der Zerſtörungstrieb gegen die Ge—
walt, ſo ſchützt der Verheimlichungstrieb gegen die Liſt der
Feinde. Der Nahrungstrieb erhält dem Körper ſeine Ge—
ſundheit durch regelmäßige Zufuhr der Bauſtoffe feines Dr-
Cintheilung der Geiſtesvermögen. 61
ganismus, der Erwerbstrieb ſorgt für die Mittel zur Be—
friedigung aller dieſer Triebe, und der Einheitstrieb con—
centrirt ſie in einem Punkte.
Die höheren Gefühle beſtimmen unſer eigenthümliches
Verhältniß zu uns ſelbſt (Selbſtgefühl und Feſtigkeit), zu
Unſersgleichen (Beifallsliebe, Sorglichkeit, Wohlwollen, Ge—
wiſſenhaftigkeit), zu einzelnen Weſen oder einer ganzen Welt
über uns (Ehrerbietung, Hoffnung, Sinn für das Wunder—
bare, Schönheitsſinn).
II. Die Intelligenz lehrt uns
1) die Dinge der Außenwelt nach ihrer eigenthüm—
lichen Beſchaffenheit erfaſſen (Erkenntnißvermögen);
2) in den unſerer Individualität entſprechenden For—
men die Bewegungen unſers Innern äußern (Darſtellungs—
vermögen); endlich
3) die verſchiedenen Gegenſtände unſerer ſämmtlichen
Geiſteskräfte mit einander in Verbindung bringen (Denk—
vermögen).
1. Die drei großen Kategorien, unter welche wir die
Außenwelt ſtellen können, ſind Raum, Zeit und Zahl. Der
Raum umſchließt die Körperwelt (das Seiende), die Zeit
die Vereinigung der körperlichen und der geiſtigen Welt
(das Werdende), die Zahl verbindet die einzelnen Factoren
dieſer beiden Welten.
Die Zeit mit ihren Erſcheinungen ſteht auf einer höheren
Stufe der unendlichen Leiter, deren Sproſſen einerſeits im
Schooße der Erde ruhen, anderſeits ſich in den Himmel
erheben, als der Raum mit dem, was ihn betrifft. Daher
nehmen auch die Organe, welche ſich auf die Zeit beziehen,
eine höhere Stelle im Gehirn ein, als diejenigen, welche es
mit der Körperwelt zu thun haben und deren Qualitäten
bezeichnen. Die Zahl, als Typus der Quantität, bietet
einen Gegenſatz mit den Typen der Qualität. Dieſe iſt
aber bedeutungsvoller als jene, und ihre Organe ſind hö—
her belegen und häufiger, als das Organ der Zahl.
62 Eintheilung der Geiftesvermögen.
Sechs Organe find für die Verhältniſſe der Körper—
welt beſtimmt, nur zwei für diejenigen ihrer Vereinigung
mit der geiſtigen Welt; ein Beweis, daß der Raum und
die Körper, die er umſchließt, uns mit allen Einzelnheiten
nothwendiger iſt, als die Vereinigung der Körperwelt mit
der Geiſterwelt. Daher wird es uns leichter, in den Ver—
hältniſſen des Raums oder der Körperwelt, als in den
Verhältniſſen der Veränderung oder der Zeit unſer Wiſſen
auszudehnen. Die Zeit bildet die Brücke von der körper—
lichen zur geiſtigen Welt. Mit ſechs Füßen ſtehen wir im
Gebiete des Raums, nur mit zweien im Gebiete der Zeit.
Der Größenſinn lehrt uns die Ausdehnung der Kör—
per, der Ortſinn ihr relatives Verhältniß zu anderen Kör—
pern, der Geſtaltſinn ihre äußeren Umriſſe, der Farbenſinn
ihre Verhältniſſe zum Lichte, der Gewichtſinn ihre Verhält—
niſſe zur Schwerkraft würdigen. Der Gegenſtandſinn end—
lich theilt das Meer der Erſcheinungen der Außenwelt in
einzelne Wellen, und drückt ſo jedem Körper den Stempel
der Individualität auf. Wie der Größenſinn die Ausdeh—
nung der Körper, ſo umfaßt der Zeitſinn die Ausdehnung
der Veränderung; doch während fünf Organe ſich mit den
Körpern beſchäftigen, welche den Raum erfüllen, beſchäftigt
ſich nur einer, der Thatſachenſinn, mit den Veränderungen,
welche die Zeit ausfüllen.
2. Mannigfaltig ſind die Formen, in welchen der
Menſch feine innere Welt äußert, darſtellt: Körper (Zu:
ſammenſetzungs- oder Bautalent), Contraſte (Witz), Wie—
derholungen (Nachahmungstalent), Verhältniſſe der Körper
unter einander (Ordnungstalent), Töne (Tonſinn) und Worte
(Sprachſinn) bieten uns ſolche Formen.
3. Wie ſich das Erkenntnißvermögen mit Gegenſtän—
den der Außenwelt, das Darſtellungsvermögen mit Formen
für unſere innere Welt, ſo beſchäftigt ſich das Denkvermö—
gen mit Begriffen, welche es entweder mit ſeines Gleichen
in Verbindung bringt (Vergleichungsgabe), oder mit den
Gründen, worauf ſie beruhen (Schlußvermögen). Die Frage
Eintheilung der Geiſtesvermögen. 63
dagegen, ob dieſen Begriffen äußerlich etwas entſpricht, ob
es Centauren, Einhörner giebt, dieſe zu löſen, iſt nicht
Sache des Denk-, ſondern des Erkenntnißvermögens. Wie
der Mathematiker mit X-Größen die längſten Aufgaben
durchrechnen kann, ohne herauszubringen, ob dieſe Größen
wirklich exiſtiren, ſo kann der Denker mit dem größten
Scharfſinn und mit vollkommener Folgerichtigkeit ein gan—
zes philoſophiſches Syſtem aufſtellen; allein ob dieſem in
der Welt außerhalb ſeinem Denkvermögen irgend etwas ent—
ſpricht, das iſt eine andere Frage, das geht aus allen ſeinen
Schlüſſen nicht hervor. Denn die Welt außer uns nehmen
wir nicht durch Schlüſſe wahr, ſondern nach Verſchiedenheit
der Gegenſtände durch unſere verſchiedenen Seelenkräfte mit
Ausſchluß des Denkvermögens. Allerdings kann dieſes uns
bei unſeren Wahrnehmungen auch behülflich ſein. Verglei—
chungen und Schlüſſe mögen uns auf mancherlei Erſchei—
nungen der Außenwelt aufmerkſam machen, allein ſie kön—
nen uns dieſelben nicht unmittelbar vor die Seele führen.
Hätten die Philoſophen dieſes bedacht, ſo hätten ſie
viele Irrthümer vermieden. Gar viele haben in der That
geglaubt, Wahrheiten entdeckt zu haben, welche nichts tha—
ten, als mit X-Größen lange Exempel rechnen.
Die fünf Gruppen von Organen, welche den genann—
ten fünf Vermögen entſprechen, ſind in folgender Weiſe im
menſchlichen Haupte vertheilt: den untern und hintern Theil
des Gehirns nehmen die Organe der Sinnlichkeit ein, die
Wölbung deſſelben die Organe des Empfindungsvermögens,
den untern und vordern Theil die Organe des Erkenntniß—
vermögens. Das Darſtellungsvermögen vermittelt die Ver—
bindung zwiſchen Empfindungs- und Erkenntnißvermögen,
und das Denkvermögen hat ſeinen Sitz in dem obern Theile
der Stirn.
Zur Rechtfertigung dieſer Eintheilung erlaube ich mir
noch folgende Bemerkungen. Der Gegenſatz zwiſchen In—
telligenz und Senſitivität wird allgemein angenommen; des—
gleichen die Unterabtheilung zwiſchen Sinnlichkeit und Em—
64 Eintheilung der Geiſtesvermögen.
pfindungsvermögen. Sie werden daher wohl ſchwerlich an—
gefochten werden. Dagegen weicht meine Eintheilung der
Intelligenz von derjenigen anderer Phrenologen ab. Ge—
wöhnlich wird Witz und Nachahmungstalent zu den Ge—
fühlen gezählt. Allein das Charakteriſtiſche dieſer Geiſtes—
kräfte ſcheint mir keineswegs in der Hervorrufung eines
Gefühls zu beſtehen. Auf der anderen Seite werden der
Zuſammenſetzungsſinn, Ordnungsſinn, Tonſinn und Sprach—
ſinn zu den Erkenntnißvermögen gerechnet. Allein mir ſcheint
das Weſen dieſer Kräfte keineswegs in der Vermittlung ir—
gend einer Erkenntniß weſentlich zu liegen. Das Gemein—
ſame aller dieſer Kräfte ſcheint mir vielmehr darin zu be—
ſtehen, die durch andere Kräfte hervorgerufenen Gefühle
und Gedanken in gewiſſen Formen darzuſtellen: in Wie—
derholung des bereits Wahrgenommenen, in Tönen u. ſ. w.
Streifen wir von der Muſik, von einem witzigen Einfall,
von einer Rede u. ſ. w. Alles ab, was die Empfindungen
und die Gedanken ihnen liehen, fo bleibt für den Tonſinn
nichts übrig als die Form: der Ton, für den Witz nichts
als die Form: der Contraſt, für den Sprachſinn nichts als
die Form: das Wort, worein die Empfindungen und die
Gedanken des Sängers, des Witzlings, des Redners ge—
kleidet wurden. Dieſes iſt nicht ſo bei den Fähigkeiten des
Erkenntnißvermögens, oder den Gefühlen des Empfindungs—
vermögens. Der Farbenſinn macht uns für Farbenverhält—
niſſe zugänglich, allein nur in Verbindung mit dem Zuſam—
menſetzungsſinne wird er ſich äußerlich in Geſtalten kund
thun. Die Ehrerbietung drängt uns, den Blick auf höhere
Weſen zu richten und ſie zu verehren, allein die Formen
der Verehrung werden die begleitenden Talente an die Hand
geben. Bei vorwaltendem Tonſinn wird ſie ſich in Tönen,
bei vorwaltendem Bautalent in Bauwerken u. ſ. w. kund
thun, und wäre kein anderes Talent vorhanden, ſo würde
das namentlich in der Kindheit ſo mächtige Nachahmungs—
talent die Formen, die wie gewahren, uns bald aneignen.
Eintheilung der Geiſtesvermögen. 65
Schon das gemeine Leben unterſcheidet zwiſchen Ge—
fühlen, Fähigkeiten und Talenten. Letztere werden mehr
auf die Annehmlichkeiten, erſtere mehr auf die wichtig—
ſten Beziehungen und Verhältniſſe des Lebens angewen—
det. Wenn man von talentvollen Menſchen ſpricht, ſo
verſteht man darunter gerade ſolche, welche muſikaliſch
ſind, welche witzig ſind, welche mehrere Sprachen reden
u. ſ. w., aber keineswegs Leute, welche lebendig und tief
fühlen, oder ſcharf beobachten. Das gemeine Leben hat
daher ſchon eine Ahnung des Gegenſatzes zwiſchen Talenten
einerſeits und Gefühlen und Fähigkeiten anderſeits. Dieſe
Ahnung habe ich bei meiner Eintheilung zur klaren An—
ſchauung zu bringen geſucht.
Doch dieſe, ich wiederhole es, wie jede andere Ein—
theilung von Werken und Kräften der Natur, wird immer
mangelhaft ſein. Die Kräfte der Natur ſind vorhanden,
wirken und ſchaffen, ob wir ſie bemerken, würdigen und
berückſichtigen oder nicht; die menſchliche Eintheilung da—
gegen wirkt und ſchafft nicht, ſie erleichtert nur die Auf—
faſſung der Kräfte und Wirkungen der Natur.
N
I.
Sinnlichkeit oder Triebe.
§ 8.
1. Geſchlechtstrieb ).
Das Organ dieſes Triebs hat ſeinen Sitz im kleinen Ge—
hirn zu beiden Seiten zwiſchen dem zitzenförmigen Fortſatze
(processus mastoideus) und dem hervorragenden Punkte
in der Mitte der Querleiſte auf dem Hinterhauptsbeine
(Spina cruciata). Es gränzt nach unten zu an den Na—
cken. Nach oben ſtößt daran eine vom Gehirn nicht ausge—
1 Fig. 12. Fig. 13.
Geſchlechtstrieb groß. Geſchlechtstrieb mäßig.
Der Mörder Linn.
Pfarrer M.
Geſchlechtstrieb. 67
füllte Stelle, welche ihrerſeits von den Organen der Kin—
derliebe und des Bekämpfungstriebs begränzt wird. Auf
den Gall'ſchen Tafeln iſt es mit I. bezeichnet). Seine
Größe wird im Leben durch die Dicke des Nackens an die—
ſen Theilen angezeigt. Bei einigen Individuen ſteigen die
Lappen des kleinen Gehirns nach unten herab und verſtär—
ken mehr die Baſis des Hinterhauptbeines, als daß ſie
ſeine Ausdehnung in der Richtung zwiſchen den Ohren ver—
mehrten. In ſolchen Fällen fühlt man die Hervorragung
mit der Hand, wenn man dieſelbe feſt gegen den Nacken
andrückt.
Zur Entdeckung dieſes Organs gelangte Gall auf fol—
gende Weiſe: eine junge Wittwe ward bald nach dem Tode
ihres Mannes von Melancholie und heftigen Convulſionen
befallen, die mit unangenehmer Spannung und Hitze in
dem Nacken begleitet waren, wobei die Nackenwirbelſäulen
heftig rückwärts gezogen wurden. Die Kriſis endigte ſtets
mit einer Ergießung unter den Entzückungen der Wolluſt.
Die Dame geſtand, daß es ihr ſeit ihrer Jugend unmöglich
geweſen, dem gebieteriſchen Bedürfniſſe dieſes Triebes zu
widerſtehen, und daß, wenn das Verlangen am ſtärkſten
geweſen, Spannung und Hitze im Nacken ſie ſehr beläſtigt
hätten. Ihr Nacken war in der Gegend des kleinen Ge—
hirns hoch gewölbt, und wurde während eines Anfalls der
bezeichneten Art immer ſehr heiß.
Schon Apollonius von Rhodus, van der Haar und
Tiſſot hatten dieſen Theil des menſchlichen Körpers mit
dem Geſchlechtstriebe in Verbindung gebracht.
Fernere Beobachtungen, welche Gall an anderen Per—
ſonen von ſtarkem Geſchlechtstriebe machte, beſtärkten ihn
in der Anſicht, daß das kleine Gehirn das Organ dieſes
1) So oft in dieſer Schrift die Gall'ſchen Tafeln angeführt wer—
den, ſo ſind darunter diejenigen verſtanden, welche ſeiner Anatomie et
Physiologie du systeme nerveux beigegeben und von mir und Dr.
Hirſchfeld beſonders herausgegeben ſind.
25
6
(09)
Geſchlechtstrieb.
Triebes ſei. Er fand namentlich, daß Zunahme und Ab—
nahme des Geſchlechtstriebs mit der Entwicklung und Ab—
nahme des kleinen Gehirns in Verhältniß ſtehen. Bei neu—
geborenen Kindern iſt das kleine Gehirn der unentwickeltſte
Theil des ganzen Gehirns. Das Verhältniß des kleinen
zum großen Gehirn iſt zwar bei verſchiedenen Perſonen
verſchieden und ſinkt bei Kindern von 1 zu 9 bis 1 zu 21
und einem noch kleineren Bruchtheile; dagegen verhält es
ſich bei Erwachſenen wie 1 zu 5 und höchſtens 1 zu 7.
Das kleine Gehirn iſt gegen das achtzehnte bis zum ſechs—
undzwanzigſten Jahre am meiſten entwickelt. In entſpre—
chender Weiſe entwickelt ſich auch der Geſchlechtstrieb. Bei
herannahendem Alter vermindert ſich die nervöſe Fülle des—
ſelben, und in gleichem Maße vermindert ſich auch der
Trieb, von welchem wir handeln. Bei mehreren Kindern,
welche ungewöhnlich früh ihren Geſchlechtstrieb befriedigten
(mit drei und fünf Jahren), fand ſich das kleine Gehirn
ungewöhnlich ſtark entwickelt. Dieſe Beobachtungen Gall's
fanden vielfache Beſtätigung durch andere Phyſiologen ').
Einzelne Männer, wie ganze Nationen, welche dieſen
Trieb ſtark beſitzen, zeigen eine ſtarke, ſolche, welche ihn
ſchwach haben, eine geringe Entwickelung dieſes Organs.
Die Eskimeaux, welche, bei ſonſtiger ungewöhnlicher Paſ—
ſivität, in der Liebe im höchſten Grade ausſchweifend ſind,
haben ein ſehr ſtark entwickeltes kleines Gehirn. Carl XII.
von Schweden, Newton, Kant hatten einen ſchlanken Hals,
und alſo ein wenig entwickeltes kleines Gehirn. Sie zeich—
neten ſich durch ihre Enthaltſamkeit aus; im umgekehrten
Falle waren Piron und Mirabeau. Bei Freudenmäd—
chen findet ſich gewöhnlich eine ſtarke Entwickelung die—
ſes Organs.
I) Spurzheim, on Phrenology p. 128 - 135. Introduction
a l’etude philosophique de la Phrénologie p. 126, par Bes-
sieres,
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Als
Geſchlechtstrieb. 69
Schon Hippokrates bemerkte, daß bei dem Manne der
Geſchlechtstrieb ſtärker ſei, als bei dem Weibe ), und in
Uebereinſtimmung hiermit findet ſich das kleine Gehirn des
Mannes in der Regel ſtärker entwickelt, als dasjenige der
Frau (ſ. Taf. IV. Fig. 1 und 2). Nach Tiedemanns )
Beobachtungen zeigt ſich ſchon beim neugebornen Kinde ein
Unterſchied zwiſchen dem männlichen und weiblichen Gehirn.
Auch bei den Thieren bewährt ſich dieſe Bemerkung.
Auch bei dieſen läßt ſich ein Wechſelverhältniß zwiſchen der
Entwicklung des kleinen Gehirns und des Geſchlechtstriebs
nachweiſen. Diejenigen Thiere, deren Fortpflanzung nicht
durch die Mitwirkung beider Geſchlechter ſtattfindet, beſitzen
keinen Gehirntheil, welcher dem kleinen Gehirne gleicht.
Bei allen Thieren dagegen, welche ſich paaren, findet ſich
ein unmittelbar über dem Rückenmarke belegener Gehirn—
theil, welcher die Stelle des kleinen Gehirns vertritt, wo—
mit die vollkommneren Thiere begabt ſind. Uebrigens er—
fordert es ein eigenes Studium, bei den letzteren die Lage
deſſelben richtig aufzufinden. Auffallend iſt es, daß das
kleine Gehirn der Vögel im Frühlinge, der Zeit ihres Paa—
rens, durchgängig weit voller iſt, als im Herbſte, wo der
Geſchlechtstrieb bei ihnen nicht mehr wirkſam iſt.
Da das Organ dieſes Triebs im unterſten Theile des
Gehirns belegen iſt, ſo werden der Kopf und die übrigen
Theile des Körpers nach dieſer Richtung gezogen, ſo oft
es mit Energie thätig iſt. Zu allen Zeiten haben die Künſt—
ler dieſes beobachtet. Ich erinnere nur an das Gemälde von
Carlo Cigniani, welches Joſeph und Potiphar darſtellt. Letz—
tere hält mit glühenden Augen, den Nacken nach hinten, die
Naſe nach vorne gerichtet den Gegenſtand ihrer Begierden
mit ihren Armen zurück.
1) In venere exercenda longe minorem quam vir voluptatem
mulier percipit, vir vero etiam diuturniorem. Hippocrates de
genitura.
2) Zeitſchrift für Phrenologie Bd. I. H. 2. S. 173.
70 Geſchlechtstrieb.
Nicht minder bezeichnend iſt die Art und Weiſe der
Liebkoſungen, welche die Thiere einander erweiſen. Bald
iſt es das Männchen, bald das Weibchen, welches den
Nacken ſeines geliebten Gegenſtandes reizen will. Ich er—
innere nur an den Kater, den Enterich, den Hahn.
Durch eine Reihe von Beobachtungen wurde feſtgeſtellt,
daß die Abſchneidung oder die zufällig eingetretene Atrophie
einer Hode das Schwinden des Lappens des kleinen Gehirns
an der entgegengeſetzten Seite, die Hinwegnahme oder zu—
fällig eingetretene Atrophie beider das Schwinden beider
Lappen des kleinen Gehirns bewirkt. Daher kommt es,
daß die Ochſen, Wallachen und andere verſchnittene Thiere
einen weit ſchlankern Hals haben, als Stiere, Hengſte und
andere unverſchnittene Männchen. Doch hängt vieles von
der Zeit ab, da die Caſtration oder Atrophie erfolgt. Im
Kindesalter ſind ihre Folgen weit entſchiedener, als ſpäter.
Hodenverletzungen haben eine entſprechende Abnahme des klei—
nen Gehirns oder, den Umſtänden nach, kürzer oder länger
anhaltende Unfähigkeit zur Folge. Aderläſſe, wenn ſie auf
dem Nacken oft wiederholt werden, ſchwächen die Zeugungs—
kraft und wirken heftigem Verlangen, fo wie der Entzün-
dung der Geſchlechtstheile am kräftigſten entgegen, während
reizende Mittel, an dieſer Stelle angewandt, in entſprechen—
der Weiſe reizend auf den Geſchlechtstrieb wirken. Wun⸗
den in der Gegend des kleinen Gehirns haben nicht ſelten
den Geſchlechtstrieb oder doch die Fähigkeit zu zeugen, auf
längere oder kürzere Zeit, und bisweilen ſelbſt auf immer
gänzlich erflidt ’).
Auf der anderen Seite ſteht der Anſicht, daß die Ge—
ſchlechtstheile der Sitz des Geſchlechtstriebs ſeien, die Er—
fahrung entgegen, indem der Entwickelungsgrad jener in
keinem Verhältniß zu dem Entwickelungsgrade dieſes ſteht.
Menſchen mit großen Geſchlechtstheilen haben häufig ſchwa—
chen, Menſchen mit kleinen Geſchlechtstheilen häufig verhält—
I) Phrenol. Journal New Series XX. p. 340.
Geſchlechtstrieb. 71
nißmäßig ſtarken Geſchlechtstrieb, Erectionen können durch
äußere Verletzungen, z. B. Wespenſtiche, ohne alle wollüſtige
Empfindungen ſtattfinden, und mit der Hinwegnahme der
Geſchlechtstheile iſt keineswegs ſofort der Geſchlechtstrieb
ſelbſt beſeitigt. Kinder von zwei bis fünf Jahren, de—
ren Geſchlechtstheile noch ganz unentwickelt waren, alte,
unfähige Leute beider Geſchlechter, Caſtraten und Eunuchen,
Weiber ohne Gebärmutter empfanden die Regungen dieſes
Triebs und ſuchten ihm zu fröhnen. Ueberhaupt treten
jenen Anſichten alle Gründe entgegen, welche in neuerer
Zeit denkende Phyſiologen und Anthropologen beſtimmt ha—
ben, das Gehirn als Centralorgan der Seele anzunehmen.
So wenig der Magen das unmittelbare Organ der Eßluſt,
ganz ebenſowenig können die Geſchlechtstheile das unmittel—
bare Organ des Geſchlechtstriebs bilden). Daß die Ge—
1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 147-183. Gall, sur
les fonctions du cerveau Tom. III. p. 225-415. Spurzheim, ob-
servations sur la Phrénologie p. 128-140. Combe's Syſtem der
Phrenologie, überfegt von Dr. Hirſchfeld S. 103. — Allerdings ſcheinen die
Verſuche mancher Phyſiologen, namentlich von Flourens, Magendie,
Hartwick darauf zu deuten, daß mit dem kleinen Gehirne die freiwil—
lige Bewegung in Verbindung ſtehe. Allein die Organe der letzteren
mögen neben demjenigen des Geſchlechtstriebs darin liegen. Das kleine
Gehirn iſt, inſofern wir es als ein einzelnes Organ betrachten, im Ver—
hältniß zu allen übrigen Organen des Gehirns, ſehr groß; es iſt da—
her jene Annahme an und für ſich nicht unwahrſcheinlich. Zu derſel—
ben führen ſogar die eigenen Beobachtungen Gall's. Während er näm—
lich bei einer Reihe von apoplektiſchen durch Erectionen, Spannung,
Anſchwellung und Röthe der Geſchlechtstheile beſonders bezeichneten
Zufällen den Sitz der Verletzung immer im kleinen Gehirne gefunden
hatte, kam ihm auch ein Fall vor, da in der Baſis der linken He—
miſphäre des kleinen Gehirns ſich ein Extravaſat fand. In dieſem
Falle hatte ſich durchaus keine beſondere Erſcheinung an den Geſchlechts—
theilen bemerklich gemacht, der Patient hatte auch immer einen ge—
ordneten Lebenswandel geführt. Dagegen hatte das erſte Krankheits—
ſymptom in einer Schwere des rechten Beines beftanden, welche ſich bald
zu einer Lähmung der ganzen rechten Seite verſchlimmerte. (Gall, sur
les fonctions du cerveau Tom. I. p. 341-369.) Dieſe Beobachtung
72 Geſchlechtstrieb.
ſchlechtstheile dagegen unter dem leitenden Einfluſſe des klei—
nen Gehirns ſtehen, beweiſt unter andern auch noch folgende
Beobachtung des Dr. Budge ). Er erzählt, daß ſich bei
einem alten, männlichen Kater, deſſen Hoden in der Bauch—
höhle lagen, dieſe Theile jedesmal bewegten, wenn er mit
dem Meſſer oder Cali causticum das kleine Gehirn reizte,
in der Art, daß ein auf der rechten Seite des kleinen Ge—
hirns angebrachter Reiz die linke Hode, ein auf der linken
Seite angebrachter dagegen die rechte Hode hervortreten
machte, und zwar nicht blos einmal, ſondern wiederholt
auf die zuverläßigſte Weiſe, ſo daß er auf Commando die
eine oder die andere, je nachdem er auf der einen oder der
andern zu reizen befahl, hervortreten machen konnte ).
Nicht minder bezeichnend iſt die Thatſache, daß bei Er—
hängten, deren kleines Gehirn zunächſt durch den Strick ge—
reizt wird, ſich Erectionen zeigen. Dieſes und die damit in
Verbindung ſtehenden Gefühle ſind den Wollüſtlingen ſo
Gall's deutet, in Verbindung mit den oben angeführten, darauf, daß
die Baſis des kleinen Gehirns nicht das Organ des Geſchlechtstriebs
darſtelle, ſondern mit der freiwilligen Bewegung in Verbindung ſtehe.
Doch fehlt es in dieſer letzteren Ruͤckſicht noch an hinreichenden Be—
obachtungen, während die Frage, ob das kleine Gehirn das Organ des
Geſchlechtstriebs in ſich ſchließe, uͤber allen Zweifel erhoben iſt.
1) Unterſuchungen über das Nervenſyſtem. Erſtes Heft.
2) Eine Reihe der intereſſanteſten Beobachtungen über dieſes Or—
gan findet ſich zuſammengeſtellt in der Schrift On the functions of
the cerebellum by Dr Gall, Vimont and Broussais translated from
the french by George Combe. Edinburgh 1838, und in Gall's oben
angeführten Werke S. 147-183. Ich ſelbſt habe dieſes Organ an
verſchiedenen lebenden Perſonen wiederholt auf eine ſehr ſchlagende
Weiſe beſtätigt gefunden. Einzelne ſpecielle Fälle hier anzuführen,
halte ich jedoch nicht für angemeſſen. Merkwürdig iſt auch die Schil—
derung, welche Joſephus Ant. b. XV. C. VII. 7. von einem Schmerze,
den Herodes der Große in dem hinteren Theile des Hauptes hatte,
und den Urſachen und begleitenden Erſcheinungen deſſelben, giebt.
Phren, Journal New Series No. XXI. p. 73. a
Geſchlechtstrieb. 78
wohl bekannt, daß ſie ſich zum Zwecke, ſie hervorzurufen,
ſchon haben aufhängen laſſen ).
1) Joh. Müller bemerkt in Betreff der Verrichtungen des klei—
nen Gehirns: „In apoplektiſchen Fällen mit Erection hat man Blut—
erguß im kleinen Gehirn gefunden (Serres im Journal de physiol. 3.
114). Dungliſon beobachtete bei einer Entzündung des kleinen Ge—
hirns, mit ſeröſer Ergießung Priapismus. Heuſinger's Beobachtungen,
der bei zwei Vögeln, die plötzlich geſtorben, einen ſtrotzenden Zuſtand
der Hoden und Blutergießung im kleinen Gehirne fand, können wohl
nicht als Beweiſe für Gall's Anſicht angeführt werden.“ Warum nicht?
Allerdings mögen ſie für ſich allein den Beweis nicht herſtellen, daß
das kleine Gehirn das Organ des Geſchlechtstriebes ſei, wohl aber
ſind ſie geeignet, den von Gall und ſeinen Nachfolgern bereits ge—
führten Beweis zu beſtärken. Die Einwürfe, welche derſelbe Phy—
ſiolog gegen Gall's Anſicht macht, dürften bei genauerer Betrachtung
nicht ſtichhaltig ſein. Er ſagt: „Bei Zerſtörung des Rückenmarks in
Thieren bewirkt man auch zuweilen Erection.“ Dieſes wird immer
der Fall ſein, wenn diejenigen Nervenfaſern, welche das kleine Gehirn
mit den Genitalien verbinden, gereizt werden. Nur auf ſolche Weiſe
laffen ſich die von Joh. Müller ſelbſt beigebrachten Beweisgründe für
Gall's Anſicht mit dieſen ſcheinbar entgegenſtehenden Beobachtungen
vereinigen. Den von der Thierwelt hergenommenen Einwendungen
hat Gall (sur les fonctions du cerveau Vol. III. p. 251254) ſchon
vorgebeugt. Bei dem ferner von Joh. Müller angeführten Falle der
Atrophie des kleinen Gehirns fragt es ſich, wann dieſelbe eingetreten
iſt? Nur inſofern feſtſtände, daß ſie zu der Zeit ſchon eingetreten ge—
weſen ſei, da der fragliche Mann den Geſchlechtstrieb kräftig ausgeübt
habe, ſtünde dieſer Fall Gall's Anſicht entgegen. Ueber die Zeit der
eingetretenen Atrophie iſt aber nichts bemerkt. Joh. Muͤller fährt fort:
„Am merkwuͤrdigſten ſind aber folgende Thatſachen: In dem einen
dieſer Falle, nämlich von einem 21jährigen Individuum, fanden ſich
zwei große tuberculöſe Maſſen in der linken Hemiſphäre des kleinen
Gehirns, ohne paralytiſche Symptome, ohne Kopfſchmerzen und ohne
poſitive krankhafte Erſcheinung in den Genitalien. Da dieſes Indi—
viduum keine Neigung zu den Vergnügungen der Liebe gehabt haben
ſoll, ſo könnte man dieſen Fall als einen Beweis für die Gall'ſche Hy—
votheſe anſehen. Indeſſen zeigt uns der zweite Fall eine Coincidenz
des vollkommenen Mangels des kleinen Gehirns mit Neigung zur Ma—
ſturpation; dies war ein elfjähriges Mädchen. Im ſiebenten Jahre
zeigte das Subject eine große Schwäche in den Extremitäten, Mangel
74 Geſchlechtstrieb.
Zum fortdauernden Beſtehen der Menſchen und Thiere
war es nöthig, daß die Natur einen mächtigen Trieb in ſie
legte, der fie zur Vermehrung antrieb. Die Entwickelung
deſſelben bezeichnet eine wichtige Periode im menſchlichen
Leben. Der Uebergang des Kindes zur Jungfrau und zum
Jüngling thut ſich nicht nur kund durch eine entſchiedene
Veränderung in der körperlichen Beſchaffenheit, ſondern auch
an Intelligenz und eine undeutliche Articulation. Im elften Jahre,
zur Zeit, wo das Individuum genauer beobachtet wurde, war die
Schwäche in den Extremitäten ſo groß, daß es kaum die Beine be—
wegen konnte, die nichts von ihrer Senſibilität verloren hatten. Die
Bewegung der Arme war geſtattet; der intellectuelle Zuſtand war
ſtumpfſinnig. Die Perſon ſtarb an einer entzündlichen Krankheit.
Die Fossae occipitales inferiores waren mit Seroſität gefüllt. Statt
des kleinen Gehirns fand ſich nur eine kleine häutige Querbinde über
dem verlängerten Marke, die jederſeits in eine haſelnußgroße Anſchwel—
lung überging. Der Pons fehlte durchaus, die Oliven waren undeut—
lich.“ Dieſer Fall würde intereſſant ſein, wenn ferner angegeben wäre
1) wann das Kind anfing, ſich der Mafturpation zu ergeben? 2) wie
damals das kleine Gehirn, wenigſtens dem äußern Anſcheine nach, be—
ſchaffen war? Hätte man dieſe beiden Momente beobachtet, ſo würde
man wahrſcheinlich gefunden haben, daß die nach eingetretenem Tode
conftatirte Beſchaffenheit des kleinen Gehirns die Folge der Maſtur-
pation war, und unter dieſer Vorausſetzung würde dieſer Fall eine ſehr
bedeutungsvolle Beſtätigung der Gall'ſchen Anſicht ſein. Bei der Un—
genauigkeit der angegebenen Thatſachen aber beweiſt dieſer Fall nichts,
und begründet er nur die Vermuthung, daß die vorangegangene Ma—
ſturpation die Urſache der ſpäter beobachteten krankhaften Beſchaffen—
heit des kleinen Gehirns war.
Arnold bemerkt in feinem Lehrbuch der pathologiſchen Phyſiologie
Bd. II. Abth. 2. § 1337: „Daß, um mit Burdach zu reden, dieſer
Hirntheil (das kleine Gehirn) das pſychiſche Moment für die Geſchlechts—
verrichtungen enthält, geht aus einer großen Anzahl von pathologiſchen
Beobachtungen aufs beſtimmteſte hervor.“
Eine ganze Reihe der intereſſanteſten und überzeugendſten derar-
tigen Thatſachen enthält namentlich auch Dr. Rumpelt's Abhandlung
über die Beziehung des kleinen Gehirns zu den Genitalien in Am—
mon’s Monatsſchrift für Medicin, Augenheilkunde und Chirurgie
Bd. II. S. 385 ff.
Geſchlechtstrieb. 75
durch eine bedeutungsvolle Veränderung in der geiſtigen.
Die Spiele, die Wünſche, die Neigungen bekommen alle
eine Geſtaltung, welche der im Innern wogenden Gefühls—
welt entſprechen. Der Knabe, der ſich früher um das Mäd—
chen nicht kümmerte, ſucht ſie auf, folgt ihr nach, denkt an
ſie, ſehnt ſich nach ihr. Das Mädchen, welches früher mit
dem Knaben in gleicher Weiſe wie mit Mädchen ſpielte,
wird ſcheu, zieht ſich von ihm zurück, während in Wahr—
heit ſie ſich zu ihm hingezogen, durch ſeine Nähe wohlthä—
tig berührt fühlt. Wer denkt hierbei nicht an die Worte
in Schiller's Glocke ). Allein dieſe Zeit der ſich erſchlie—
ßenden Gefühle phyſiſcher Liebe, welche von der Jugend ſo
oft mit der Liebe überhaupt, mit geiſtiger Uebereinſtimmung,
mit Gleichheit des Geſchmacks, der Beſtrebung und des Ge—
fühls verwechſelt wird, dieſe Zeit kann nicht ewig grünen,
ſo wenig als der Frühling immer dauern kann, auch nicht
1) Vom Mädchen reißt ſich ſtolz der Knabe,
Er ſtürmt ins Leben wild hinaus,
Durchmißt die Welt am Wanderſtabe,
Fremd kehrt er heim ins Vaterhaus.
Und herrlich in der Jugend Prangen,
Wie ein Gebild aus Himmelshöh'n,
Mit züchtigen, verſchämten Wangen
Sieht er die Jungfrau vor ſich ſteh'n.
Da faßt ein namenloſes Sehnen
Des Juͤnglings Herz, er irrt allein,
Aus ſeinen Augen brechen Thränen,
Er flieht der Brüder wilden Reih'n;
Erröthend folgt er ihren Spuren,
Und iſt von ihrem Gruß beglückt,
Das Schönſte ſucht er auf den Fluren,
Womit er ſeine Liebe ſchmückt.
O zarte Sehnſucht, ſüßes Hoffen,
Der erſten Liebe goldne Zeit,
Das Auge ſieht den Himmel offen,
Es ſchwelgt das Herz in Seligkeit.
O, daß ſie ewig grünen bliebe
Die ſchöne Zeit der jungen Liebe!
76 Geſchlechtstrieb.
bei den edelſten, reinſten, beſten Menſchen. Nur bei ſolchen
ſpricht ſich übrigens der Trieb, von dem wir handeln, in der
von Schiller bezeichneten Weiſe aus. Nicht ſelten führt er
auf Abwege und untergräbt die körperliche und geiſtige Ge—
ſundheit des ſchwachen Menſchen, welcher ihm nicht zu wi—
derſtehen vermag. Zum Zweck der Fortpflanzung wurde er
in den Menſchen gelegt. Jeder Gebrauch deſſelben, der dieſem
Zwecke nicht entſpricht, führt daher zum Uebel. Nur in der
Ehe findet er beim Menſchen, wie bei vielen Thieren, ſeine
naturgemäße Entwickelung. Außerhalb derſelben führt er
unwandelbar in Gefahren, wo nicht zu Verbrechen. In den
Schlingen dieſes Triebs wurde Weislingen und Franz von
der verführeriſchen Adelheid v. Walldorf im Goethe’fchen
Götz von Berlichingen gefangen. Er regte Don Ceſar's
Zerſtörungstrieb auf, daß er den Bruder Don Manuel an
der Seite Beatricens durchbohrte. Er iſt die Feder, welche
das ganze Räderwerk der Goethe'ſchen Wahlverwandtſchaften
treibt. Beiſpiele der Wirkſamkeit dieſes Triebs ſind in der
Geſchichte der Welt wie des Hauſes ſo häufig, daß ſie Je—
dermann zu Gebote ſtehen. Ich führte jene aus der pos—
tiſchen Welt hergenommenen an, weil die Geſchichte ſelten
die Bewegungen, welche dieſer mächtige Hebel der Gefühls—
welt hervorruft, fo deutlich ſchildert, als die Poeſie es thut.
Die Qualen unbefriedigten Geſchlechtstriebs und Kinderliebe
ſind in v. Chamiſſo's Gedichte „die Klage der Nonne“ ſehr
treffend geſchildert ).
1) Ich hebe zwei auf erſtern ſich beziehende Verſe aus:
„Mich zieht die Sehnſucht ſchmerzlich in die erhellte Welt,
Wo Liebe ſich mit Liebe zu froher Luſt geſellt;
Die Freundinnen mir waren, ſie lieben, ſind geliebt,
Und nur für mich auf Erden es keine Liebe giebt.
Ich ſeh' fie, ihre Männer, ihr häuslich ſtilles Glück,
Umringt von muntern Kindern, es ruft mich laut zurück
In Gottes Welt, ich weine und weine hoffnungslos;
Ward doch auch mir verheißen des Weibs gemeinſam Loos.“
Geſchlechtstrieb. 77
Die Periode des Lebens, worin der Geſchlechtstrieb
einzuſchlummern beginnt und aufhört, wirkſam zu ſein, iſt
nicht minder Epoche machend. Wie das Jünglingsalter mit
ſeinem Erwachen, ſo beginnt das Greiſenalter mit ſeinem
Einſchlafen.
Der gewaltſame Eingriff in die Natur, deſſen ſich die
Menſchen durch Verſtümmelung ihres Gleichen ſchuldig
machen, indem ſie Eunuchen und Caſtraten bilden, iſt im—
mer von dem nachtheiligſten Einfluß auf das ganze geiſtige
Leben des unglücklichen Opfers. Der männliche Charakter
kann ſich da nicht frei und vollſtändig entwickeln, wo ihm
eines ſeiner weſentlichen Organe geraubt iſt.
Von der Verbindung dieſes Triebs mit anderen Gei—
ſtesvermögen hängt es hauptſächlich ab, ob im Leben jenes
zarte Gefühl für das andere Geſchlecht und das Verlangen
nach dauernder Verbindung in der Ehe, oder aber jene rohe
Sinnlichkeit entſteht, die leider nur zu häufig iſt. Nur bei
einer Verbindung mit den Gefühlen des Wohlwollens, der
Ehrerbietung, der Gewiſſenhaftigkeit und der Schönheit wird
der Trieb, den wir beſprechen, in zarter, wohlthuender Weiſe
wirken, und nur bei einer Verbindung mit der Anhänglich—
keit und der Kinderliebe zur ehelichen, treuen Liebe ſich ent—
wickeln. Wo er ſchwach iſt, fehlt es im Zuſammenleben
mit dem andern Geſchlecht an derjenigen Wärme des Ge—
fühls, welche einen großen Theil der geprieſenen Liebens—
würdigkeit der Männer und der Frauen bildet, und in der
Darſtellung der geſchlechtlichen Formen und Empfindungen
an demjenigen Feuer, welches den Werken der Poeſie wie
der bildenden Kunſt einen fo hohen Reiz verleiht). An
Schiller's (ſ. Taf. IV. zu S. 69 Fig. 3) und Goethe's
Schädel findet ſich dieſes Organ ſtark entwickelt.
Wie häufig das regelloſe Walten dieſes Triebs ins
Irrenhaus, in das Hoſpital und in das Grab führt, wie
oft es den Eintritt in die Ehe verhindert und den Frieden
I) Noel's Grundzüge der Phrenologie S. 52—54.
75 Geſchlechtstrieb.
in derſelben ſtört, iſt leider nur zu bekannt. Zwei ſich
ſcheinbar widerſprechende, aber doch neben einander in un—
ſern Tagen mächtig waltende Stimmungen des Gemüths
ſind die treuen Verbündeten der Verirrungen deſſelben. Ich
meine die Zümpferlichkeit und die Frivolität. Die erſtere er—
laubt nicht, daß man das Laſter gerade und offen bekämpfe,
die letztere verlacht den, der es thut. Die erſtere verhüllt es
in Nebel, die zweite umgiebt es mit dem Schein der Freude.
Dieſelbe Dame, welche die ſittenloſeſten Romane lieſt, und
nichts Anſtößiges darin findet, rümpft die Naſe, wenn Je—
mand in ihrer Gegenwart es wagt, ein von ihr ſpielend
beſprochenes Laſter mit dem rechten Namen zu bezeichnen,
und derſelbe Mann, welcher es ganz natürlich findet, daß
der Ehemann ſeiner Ehefrau nicht treu ſei, würde Rache
ſchnauben, wenn die ſeinige es ihm nicht wäre. Es iſt hier
nicht der Ort, dieſe Krankheiten der Zeit in ihre Elemente
zu zerlegen und ſie dem öffentlichen Urtheil anheimzuſtellen.
Dieſes wird bei einer andern Gelegenheit geſchehen. Allein
hier mußte ich darauf aufmerkſam machen, daß nur beſtimmte
Wegweiſer zum Guten führen und vom Böſen zurückzuſchrecken
vermögen. Nur wo die höheren Kräfte der Seele täglich ge—
übt und geſtärkt werden, können ſie die Herrſchaft über die
niederen Triebe gewinnen. Nur wenn der Jugend der Ab—
grund ernſt und beſtimmt gezeigt wird, zu welchem der Ge—
ſchlechtstrieb in ſeinen Verirrungen führt, nur wenn man
ihr klar und deutlich macht, daß die Gefühle, die er her—
vorruft, nicht himmliſch, nicht idealiſch, ſondern irdiſch ſind,
und daß ſie nur in Verbindung mit den höheren Gefühlen
der Moralität dauernde Freuden gewähren, nur dann ha—
ben Eltern und Lehrer ihre Pflicht erfüllt. Hundert und
tauſendmal glaubt die Jugend von einem hochherzigen Ge—
fühle beſeelt zu ſein, und nur die Regungen des Geſchlechts—
triebes bewegen ihr Herz. Hundert und tauſendmal glaubt
ſie auf dem Weg zum Himmel zu wandeln, wenn ſie auf
dem der gemeinen Sinnlichkeit geht. Was die Zümpfer—
lichkeit dem Weibe verbirgt, das entkleidet die Frivolität
Kinderliebe. 79
dem Manne von dem Gewande wunderbarer, höherer Ein—
richtung. So fällt die Jungfrau aus Mangel an Kennt—
niß, der Jüngling aus falſcher Erkenntniß. Sie kennt nicht
die ihr drohenden Gefahren; er hat die Scheu vor ihnen
nicht, die ihm das Geheimniß der Natur einflößen ſollte.
99.
2. Kinderliebe ).
Ueber dem mittlern Theile des kleinen Gehirns, der
protuberantia oceipitalis ?) entſprechend, liegt das Organ
der Kinderliebe. Es iſt umgeben von den Organen des
Einheitstriebs, der Anhänglichkeit und des Bekämpfungs—
triebs. Aeußerlich wird dieſes Organ, wenn es groß iſt,
durch eine Hervorragung zur rechten und zur linken Seite
unmittelbar über dem Knochenvorſprung des Hinterhaupt—
beines leicht erkennbar. Auf den Gall'ſchen Tafeln iſt es
mit II. bezeichnet. Im Verfolge ſeiner Forſchungen hatte
Dr. Gall bemerkt, daß der obere Theil des Hinterhauptes
im Allgemeinen bei den Weibern mehr als bei den Män—
nern hervorſtehe, und er ſchloß daraus, daß der darunter
liegende Theil des Gehirns das Organ irgend eines Ge—
fühls ſein müſſe, welches das Weib ſtärker beſitze, als der
Mann. Später fiel es ihm auf, daß die Affen, deren Liebe
J) Fig. 14. Fig. 15.
Kinderliebe groß. Kinderliebe klein.
Robert Burns. Peruvianer.
2) ©. die Abbildgn. I u. 2 in ihrem Gegenſatz auf Taf. IV. zu S. 69.
0 Kinderliebe.
22
zu den Kindern ſprüchwörtlich geworden iſt, denſelben Theil
des Schädels gleichfalls ſehr ſtark entwickelt haben, und die—
ſes Zuſammentreffen führte ihn zunächſt auf den Gedanken,
daß das Organ der Kinderliebe hier zu ſuchen ſei. Die
Lage deſſelben in nächſter Nähe des Organs des Geſchlechts—
triebs und der Anhänglichkeit beſtätigte ſeine Vermuthung,
welche durch eine Reihe ſpäterer Beobachtungen zur Ge—
wißheit erhoben wurde.
Daß im Allgemeinen die Frauen mehr Liebe zu den
Kindern beſitzen, als die Männer, zeigt ſich ſchon in den
Spielen der Kindheit, wie in dem Lebensberufe des Man—
nes und der Frau. Die Mutter kann nur durch ihre er—
höhte Liebe zu ihren Kindern Muth und Kraft gewinnen
zu den ſchmerzlichen Opfern, die ſie ihnen bringen muß.
Bei allen Thierarten, und beſonders denjenigen, von wel—
chen die Männchen die Sorge für die Jungen ausſchließlich
den Weibchen überlaſſen, haben die letzteren dieſes Organ
weit größer, als die erſteren.
Die Neger beſitzen dieſes Organ ſtark entwickelt, und
Kindermord iſt bei ihnen ein faſt gänzlich unbekanntes Ver—
brechen. Auch die Eskimeaux beſitzen es groß, und nach dem
Zeugniß der Capitaine Parry und Lyons iſt Liebe zu ihren
Kindern einer der hervorſtechendſten Züge ihres ſonſt ſo trä—
gen und unliebenswürdigen Charakters. Capitain Roß be—
mühte ſich vergeblich, ein Kind von ihnen zu erhalten, um
es nach England zu bringen. Kein Vater und keine Mut—
ter konnte dazu bewogen werden, ihm eines anzuvertrauen.
Auch die Hindu's zeichnen ſich durch eine ſtarke Entwicke—
lung dieſes Organs aus, und die Engländer haben die
Stärke ihrer Kinderliebe im häuslichen Kreiſe namentlich
an Hindu-Kindsmägden und Ammen ſehr wohl bewährt
gefunden. a
Unter neunundzwanzig Kindesmörderinnen, welche Dr.
Gall und Spurzheim Gelegenheit hatten, zu unterſuchen,
war das Organ der Kinderliebe bei fünfundzwanzigen
ſchwach entwickelt. Eine ſtärkere Liebe zu ihren Kindern
Kinderliebe. 81
hätte den Wunſch, ſich ihrer zu entledigen, wohl ſchwerlich
in ihrer Bruſt aufkommen laſſen.
Dr. Andreas Combe behandelte eine Frau, in einer
temporairen Gemüthskrankheit, deren beſtändige Ausrufun—
gen im Laufe dreier Tage, während welcher der Anfall
dauerte, ſich um ihre Kinder drehten; ſie bildete ſich ein,
daß dieſe verarmt und jedem Ungemach ausgeſetzt, daß ſie
beraubt und ermordet worden ſeien. Bei ihrer Geneſung
klagte ſie über einen Schmerz, den ſie während des Anfal—
les im Hinterhaupte empfunden habe, und bezeichnete dabei
die Lage des Organes der Kinderliebe. Dr. Gall erwähnt
auch verſchiedener Fälle, wo krankhafte Erſcheinungen der
Kinderliebe mit ſehr ſtarker Entwickelung dieſes Organs ver—
bunden waren ).
Daß die Kinderliebe ein ſelbſtändiger, von dem Ge—
ſchlechtstriebe und dem Wohlwollen unabhängiger Trieb ſei,
beweiſt die tägliche Erfahrung, welche uns Menſchen und
Thiere vorführt, die ohne alles Wohlwollen Kinderliebe, und
ungeachtet ſtark entwickelten Geſchlechtstriebs ſehr ſchwache
Kinderliebe beſitzen. Als Beiſpiele der erſten Art führe ich
aus der Thierwelt die Hyäne, den Tiger u. ſ. w., als Bei—
ſpiele der zweiten Art den Hengſt, den Stier u. ſ. w. an.
Die Kinderliebe der Menſchen zeichnet ſich übrigens vor derje—
nigen der Thiere hauptſächlich dadurch aus, daß ſie mit höheren
intellectuellen und moraliſchen Kräften in Verbindung ſteht.
Die Vorſehung hat in die Seele des Menſchen die
Kinderliebe gepflanzt, weil er ohne dieſen Trieb nicht im
Stande wäre, alle die Opfer willig zu bringen, welche
die Erziehung der Kinder nöthig macht. Von der Kinder—
I) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 183-193. Gall, sur
les fonctions du cerveau Tom. III. p. 415-473. Spurzheim, ob-
servations p. 140. Combe's Syſtem S. 108. Spurzheim, on
Phrenology p. 135—141.
6
82 Kinderliebe.
liebe hängt daher in großem Maße die Exiſtenz der heran—
wachſenden Generationen ab. Nur unter ihrem erwärmen—
den Einfluſſe kann die Kinderwelt gedeihen.
Die Kinderliebe beruht zunächſt auf dem Mitgefühle
mit den Zuſtänden der eigenen Kinder und dann aller ih—
nen ähnlichen Weſen, anderer Kinder, Thiere oder ſonſt
ſchwacher und zarter Geſchöpfe. Sie giebt der Mutter
die Kraft, die Leiden zu tragen, die ihr das Kind bereitet,
die rege Sorge für ſeine Geſundheit, ſeine Erziehung und
ſein Wohlergehen. Sie hält ſie wach an der Wiege des
Säuglings, am Bette des kranken Lieblings. Sie öffnet
den Eltern das Ohr für die Klagen ihrer Kinder, das
Herz für ihre Freuden und ihre Schmerzen. Den Ammen
und Kindsmägden giebt ſie das Geſchick, Kinder zu behan—
deln, ſie zu erheitern und zu tröſten, zu unterhalten und
zu erfreuen. Den Lehrern erwirbt ſie das Zutrauen der
Kinder und ihre Zuneigung, weil nur Kinderliebe die Ge—
fühle der Kinder begreift, ſie würdigt und zu leiten ver—
ſteht, während kalter Verſtand nie Einfluß auf ſie gewin—
nen wird, und ſelbſt allgemeines Wohlwollen nicht ſo tief
in die Falten des kindlichen Herzens einzudringen vermag.
Wer wenig Kinderliebe beſitzt, wird Mühe haben, die
Unarten der Kinder, ihren Lärm, ihre mannigfaltigen An—
ſprüche mit Geduld zu ertragen, zu beſeitigen und zu be—
ruhigen. Es wird ihm ſchwer fallen, immer ſich zu verge—
genwärtigen, daß Kinder keine Erwachſenen und daher auch
nicht, wie dieſe zu behandeln ſind. Er wird geneigt ſein, ſie
nach allgemeinen, ſtatt nach den gerade durch ihr Alter und
ihre Beſonderheit bedingten Regeln zu beurtheilen und zu
behandeln.
Uebertriebene Kinderliebe führt dagegen zu unbeſonne—
ner Beförderung aller, auch der fehlerhaften Neigungen der
Kinder, zu dem Wahne, Alles, was die Gegenſtände dieſer
Liebe thun, ſei außerordentlich, gut, klug, edel und trefflich.
Kinderliebe. 83
Tritt noch eine ſtarke Gabe der Hoffnung hinzu, ſo knüpfen
ſich die ausſchweifendſten Erwartungen an die Zukunft der
Kinder. Iſt dagegen die Sorglichkeit beſonders ſtark ent—
wickelt, ſo bildet ſich nicht ſelten eine maßloſe Aengſtlichkeit
aus, welche der freien Entwickelung der Kinder oft ſchädlich iſt.
In Verbindung mit großer Sorglichkeit und Zerſtö—
rungstrieb kann ſie ſogar zum Morde der eigenen Kinder
führen. Die Furcht, die geliebten Kinder möchten unglück—
lich werden, und der Wunſch, ihnen Leiden zu erſparen,
liegt dann der That zum Grunde ).
Haben Menſchen mit übertriebener Kinderliebe ſelbſt
keine Kinder, ſo vergeuden ſie oft dieſes Gefühl an Hunde
und Katzen, und widmen ihnen dieſelbe Sorgfalt und Auf—
merkſamkeit, als wenn es menſchliche Weſen wären.
In Verbindung mit Wohlwollen und Erwerbtrieb ſpornt
die Kinderliebe die Eltern, zum Vortheil ihrer Kinder zu ſpa—
ren und zu ſammeln, um auch über die Zeit des irdiſchen Zu—
ſammenſeins hinaus ihnen Angenehmes zu bereiten.
Der Schmerz über den Verluſt der geliebten Kinder
iſt von den griechiſchen Künſtlern in den Bildſäulen der
Niobe trefflich ausgedrückt. Auffallend und bezeichnend iſt
es dabei, daß alle dieſe Köpfe in der Richtung des Organs
der Kinderliebe rückwärts gebogen gebildet ſind.
Die Sehnſucht, womit dieſer Trieb das weibliche Herz
erfüllt, wenn ihm die Freuden, die er bietet, verſagt ſind, ſchil—
dert v. Chamiſſo in ſeiner bereits oben angeführten Klage
der Nonne in ergreifender Weiſe. Ich hebe aus dem Ge—
dichte die ſprechendſten der hierher gehörigen Verſe in der
Note’) aus.
—
1) S. Noel's Grundzüge der Phrenologie S. 59
2) Ich könnt' im erſten Jahre, in ſtolzer Mutterluſt,
Ein Kind, wohl einen Knaben, ſchon drücken an die Bruſt;
6 *
84 Kinderliebe.
Deutlicher als jede andere Wiſſenſchaft, als jedes all—
gemeine Raiſonnement zeigt die Phrenologie, daß es natur—
widrig iſt, Menſchen zu veranlaſſen, oder auch nur ihnen
zu geſtatten, die Befriedigung zweier von Gott ihnen in
die Seele gelegten Triebe eidlich für das ganze Leben von
ſich zu weiſen. Ein ſolches Gelübde, im Widerſtreit mit
den göttlichen Natureinrichtungen, kann nur zum Böſen
führen, entweder zum Bruch deſſelben auf dem Wege des
Verbrechens, zum Meineid und zur Unzucht, zur Verfüh—
rung und unehelichen Zeugung, oder zur Umgehung der
Natur auf heimlichen Wegen. Die Natur läßt ſich von
Menſchen keine Gewalt anthun. Sie iſt ſtärker, als die
Gewaltigſten der Erde. Denn ſie iſt Gottes Werk, wäh—
rend alle Gebote, auch der Mächtigſten der Erde, Menſchen—
werk ſind und bleiben.
Da würden manche Sorgen und Schmerzen mir zu Theil,
Iſt doch das Glück auf Erden um hohen Preis nur feil.
Ich wollt' an ſeiner Wiege ſo treu ihm dienſtbar ſein,
Ihn pflegte ja die Liebe, was ſollt' er nicht gedeih'n?
Du lächelſt, ſtreckſt die Händchen, du meine ſüße Zier!
O Vater! ſieh' den Jungen; fürwahr, er langt nach dir!
Die Mutterliebe, wie ſie im wirklichen Leben ſich äußert, beſchreibt
Guſtav Carl in ſeinem Gedichte gleichen Namens. Ein Vers deſſelben
mag hier ſtehen:
Mutterliebe raſtet nicht.
Bei der Lampe mattem Licht
Schaut ſie ſorglich nach der Wiege,
Ob der Liebling ſchlummernd liege.
Kaum daß er ſich nur bewegt,
Nimmt ſie ihn auf ihren Arm,
Der ihn weich umfaßt und trägt;
Ach! da ruht ſich's ſanft und warm!
Einheitstrieb oder Abſchließungstrieb. 85
9 10.
3. Einheitstrieb!) oder Abſchließungstrieb ).
Nach Combe liegt dieſes Organ unmittelbar über dem—
jenigen der Kinderliebe und unter dem des Selbſtgefühls;
an den Seiten gränzen daran die Organe der Beifallsliebe
und des Anſchließungstriebs. Zuweilen findet ſich an die—
fer Stelle eine durch die dort befindliche Nath veranlaßte
Knochenanſchwellung, welche man mit dem Organe des Ein—
heitstriebs verwechſeln könnte, indeß iſt erſtere viel ſchmaler
und ſpitzer, als die durch ſtarke Entwickelung dieſes Organs
hervorgebrachte Erhöhung. Die Beobachtung ſcheint zu be—
weiſen, daß dieſes ein für ſich beſtehendes Organ ſei, da
man es zuweilen groß findet, wenn die über und unter ihm
liegenden Organe klein ſind und umgekehrt. In Betreff
dieſes Organs waltet übrigens noch nicht dieſelbe Einſtim—
migkeit unter den Phrenologen ob, welche in Betreff der
meiſten andern Organe ſtattfindet. Spurzheim verſetzte an
die bezeichnete Stelle des Gehirns die Heimathsliebe. Vimont
1) Fig 16. Fig. 17.
Einheitstrieb groß. Einheitstrieb klein.
Robert Burns.
S. auch Taf. V. zu S. 88.
2) Letztere Bezeichnung iſt von Hrn. Dr. Guſt. Ad. Königsfeld
zu Düren bei Aachen vorgeſchlagen worden. Sie ſcheint mir geeignet
zu fein, neues Licht über dieſen Trieb zu verbreiten. Dieſe Bezeich—
nung erſcheint auch namentlich in ihrem Gegenſatze zum Anſchließungs—
triebe (der Anhänglichkeit) ſehr gut gewählt. Die engliſche ſehr tref—
fende Bezeichnung iſt concentrativeness.
Nordamerikan. Indianer.
86 Einheitstrieb oder Abſchließungstrieb.
theilt ſie in zwei Theile und weiſt dem untern Theile den Ein—
heitstrieb, dem oberen die Heimathsliebe zu. Für die Annahme
des Organs der Heimathsliebe ſcheinen mir jedoch keine hinrei—
chende Thatſachen zu ſprechen, daher ich daſſelbe hier nicht
weiter erörtere. Viel überzeugender ſcheinen mir dagegen die
Gründe für die Annahme des Organs des Einheitstriebs zu
ſein. Ueber dieſe werde ich mich daher hier weiter verbreiten.
Das Organ des Einheitstriebes findet ſich groß bei
den Raubvögeln, welche eine ungewöhnliche Zuſammenfaſ—
ſung aller ihrer geiſtigen und körperlichen Kräfte bei jeder
Gelegenheit und insbeſondere beim Aufſuchen und Erfaſſen
ihrer Beute bekunden, groß bei Thieren, welche auf ſteilen
Felſen weiden und auf hohen, ſchwer zugänglichen Stellen
ihre Neſter bauen, und welche daher ohne Zuſammenfaſſung
ihrer ganzen Aufmerkſamkeit im Augenblicke, da ſie am Ab—
hange ſchwindelnder Abgründe gehen, ſich daſelbſt nicht frei
bewegen könnten. Auch an Seiltänzern iſt es wiederholt
groß gefunden worden. Es iſt groß an den Köpfen der
celtiſchen Nationen, kleiner an denjenigen der deutſchen,
und concentrirte Thätigkeit iſt namentlich den Franzoſen
viel mehr eigen, als den Deutſchen. Daher ſind in un—
ſerm Vaterlande die Berathungen viel weitläufiger, die
Beſchlußfaſſungen viel mühſamer, als in Frankreich. Da—
her kommt in unſerm Vaterlande ſo manches Schöne nicht
zu Stande, wozu alle Elemente vorhanden ſind, außer dem
der Zuſammenwirkung. Daher iſt der Angriff der Fran—
zoſen in der Schlacht ſo heftig, während der Deutſche ſich
durch die Ausdauer auszeichnet, mit welcher er einem Angriff
Widerſtand entgegenſetzt, oder einen ſolchen wiederholt. Man
hat es groß gefunden an Menſchen, welche in der Unterhaltung.
von Natur einer zuſammenhängenden Gedankenreihe folgen,
klein bei ſolchen, welche von einem Gegenſtande der Rede zum
andern ohne Verbindung überſpringen, groß bei Schriftſtel—
lern, welche mit wenigen Worten viel ſagen, klein bei den—
jenigen, deren Gedanken ſich ausbreiten, ſo daß man deren
Sinn aus dem Schwalle der Worte aufzufinden Mühe bat.
Einheitstrieb oder Abſchließungstrieb. 87
Beſonders merkwürdig iſt es, daß von dem Theile des
Gehirns, woſelbſt dieſes Organ an den Schädel gränzt, ſich
in beiden Hemiſphären eine Gehirnwindung über das cor-
pus callosum hin zu den Organen der Intelligenz in den
vorderen Hirnlappen unter den Organen des Empfindungs—
vermögens in dem mittlern Lappen und mitten durch dieje—
nigen der Sinnlichkeit hindurch zieht. In ſolcher Weiſe ſteht
dieſes Organ unmittelbar mit allen übrigen Theilen des Ge—
hirns in Verbindung, und führt daher durch ſeine Lage ſchon
auf den Gedanken, daß es ſich beſonders dazu eigne, allen übri—
gen Organen einen entſchieden gleichzeitigen Impuls zu er—
theilen. Hierin beſteht denn auch das Weſen des Einheitstrie—
bes. Indem er ſämmtlichen Organen des Gehirns gleichzeitig
einen Impuls giebt, ſie gleichzeitig zur Thätigkeit aufruft, ver—
einigt er ihre geſammte Kraft in einem Brennpunkt, und
bringt dadurch den größtmöglichen Effekt hervor, deſſen das
Individuum im Augenblicke fähig iſt. Die Vereinigung
der geſammten Geiſteskräfte auf einen Punkt ſetzt die Ab—
wendung derſelben von andern Punkten voraus. Wer ſich
nicht nach außen abſchließen, kann ſich nicht nach innen
ſammeln. Wer ſeine Aufmerkſamkeit nicht auf einen Punkt
beſchränken, kann demſelben niemals ſeine ganze Kraft zu—
führen. Der Einheitstrieb iſt für den Moment, was die
Feſtigkeit für die laufende Zeit iſt. Es giebt Menſchen,
welche mit großen Gaben oft im Augenblicke ſie nicht zur
Hand haben, und andere, welche ihre verhältnißmäßig klei—
nen Gaben, wenn es darauf ankommt, trefflich zu ſammeln
und zu nützen, und ſo im Augenblicke viel zu leiſten ver—
mögen. Jene haben den Einheitstrieb ſchwach, dieſe ſtark
entwickelt. Allein da derſelbe nur die übrigen Geiſteskräfte
ſammelt und auf einen Punkt richtet, ſo muß er nach de—
ren Beſchaffenheit zu verſchiedenen Reſultaten führen. Wo
die höheren Gefühle vorwalten, werden fie, und wo die -
Triebe vorherrſchen, nicht minder dieſe in vereinter Kraft
ins Leben treten. Doch da nicht blos die vorwaltenden,
ſondern alle Kräfte der Seele durch den Einheitstrieb ver—
88 Anhänglichkeit oder Anſchließungstrieb.
ſammelt werden, ſo werden auch die minder ſtarken im
Chore aller Kräfte ihre Stimmen ertönen laſſen. Gleich—
wie daher eine Harmonie, in welcher dreißig verſchiedene
Töne zuſammenwirken, kräftiger hallt, als eine Soloſtimme,
ſo müſſen die ſämmtlichen zur Thätigkeit gerufenen Kräfte
der Seele wirkſamer ins Leben treten, als die ohne den
Aufruf des Einheitstriebs einzeln wirkenden. Auf dieſem
Zuſammenwirken beruht hauptſächlich die Geiſtesgegenwart,
welche nicht einſeitig dieſer oder jener Regung ſich hingiebt,
ſondern welcher die ſämmtlichen Seelenkräfte in Reih' und
Glied geordnet zu Gebote ſtehen. Um jede geiſtige Kraft,
welche nach einem Ziele ſtrebt, wird der Einheitstrieb die
übrigen ſchaaren. Iſt z. B. der Bekämpfungstrieb ange—
regt, ſo wird der Einheitstrieb durch die Sammlung der
Erkenntnißorgane dem Kämpfenden ein richtiges Bild aller
ihn umgebenden Verhältniſſe verleihen, durch Herbeiziehung
des Denkvermögens ihn in den Stand ſetzen, ſie richtig zu
beurtheilen und Urſachen in ihrer Beziehung zu Wirkungen
zu erkennen, er wird durch Anregung der höheren Empfin—
dungen begeiſterte Wärme, und durch Erweckung der Triebe
erhöhten Ungeſtüm zur Folge haben, und jede einzelne Gei—
ſteskraft wird immer im Verhältniß zu ihrer natürlichen
Stärke mit den übrigen Hand in Hand gehen. Dadurch
wird ebenſowohl tolles Wüthen, als feige Unthätigkeit ver—
mieden, inſofern überhaupt die Elemente der Beſonnenheit
und der Tapferkeit vorhanden find ).
9 11.
4. Anhänglichkeit?) oder Anſchließungstrieb!).
Die in den Platten II., III., IV. mit III. bezeichneten
Windungen bilden dieſes Organ. Es iſt äußerlich begränzt
1) Combe's Syſtem S. 119.
2) S. die beifolgende Taf. V.
3) Letztere von Dr. Guſtav Adolph Königsfeld zu Düren vorge—
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Anhänglichkeit oder Anſchließungstrieb. 89
von den mit Kinderliebe, Einheitstrieb, Beifallsliebe, Sorg—
lichkeit und Bekämpfungstrieb bezeichneten Stellen des Schä—
dels und liegt an beiden Seiten des Hinterkopfs zwiſchen dem
hintern Rand des Vorderhauptbeins oder Seitenbeins, und
bildet, bei ſtarker Entwickelung, zwei kenntliche ringförmige
Vorſprünge.
Gall wurde einſt gebeten, für ſeine Sammlung den
Kopf einer Frau abzuformen, die ihm als ein Muſter treuer
Anhänglichkeit und Freundſchaft trotz aller Wechſelverhält—
niſſe des Lebens geſchildert wurde. Er that es, und fand bei
der Unterſuchung ihres Kopfes zu den Seiten des Organs
der Kinderliebe, doch etwas höher, an der Mitte des hin—
tern Randes der Seitenwandbeine, gerade über der Lambda—
nath zwei große Hervorragungen in Form eines Kreisaus—
ſchnitts. Dieſe Hervorragungen, welche er früher noch nicht
beobachtet hatte, waren gleichförmig und augenſcheinlich durch
einen Theil des Gehirns gebildet Er ſchloß daher, daß ſie
Organe andeuteten, und der Charakter der Frau führte ihn,
bei näherer Prüfung, zu der Ueberzeugung, daß dieſes Or—
gan kein anderes, als dasjenige der Anhänglichkeit ſein könne.
Hierin beſtärkte ihn auch die Lage deſſelben über dem Or—
gane des Geſchlechtstriebs und neben demjenigen der Kin—
derliebe, indem dieſe drei Gefühle, bei ihrer Verwandtſchaft,
darauf führen mußten, ihre Organe in unmittelbarer Nähe
zu ſuchen ). Viele ſpätere Beobachtungen beſtätigten dieſe
Vermuthung, und das Organ wird längſt als erwieſen an—
geſehen. Es findet ſich ſtark entwickelt beim Hunde, beim
Pferde und dem Ochſen und bei allen Thieren, welche in
Geſellſchaft leben, ſchwach entwickelt beim Fuchſe, der Elſter
und andern ungeſelligen Thieren. Der celtifche Stamm hat
ſchlagene Bezeichnung ſcheint mir ſehr treffend zu ſein, und daher
allgemeine Anerkennung zu verdienen.
1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 193. Spurzheim, observ.
p. 150152. Combe's Syſtem S. 136. Spurzheim, on Phreno-
logy p. 150—153. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. III.
p. 473—50l.
90 Anhänglichkeit oder Anſchließungstrieb.
es größer, als der deutſche, und eine Folge hiervon möchte
ſein, daß jener Stamm ſich in großen Maſſen zuſammenge—
halten, während dieſer ſich in viele kleine Völkerſchaften
zerſplittert hat, daß jener in den Reichen, die ihm angehö—
ren, kräftige Centralgewalten gegründet hat, während unſer
deutſches Vaterland ſowohl zur Zeit des deutſchen Reiches
ſeit Jahrhunderten, als auch nun zur Zeit des deutſchen
Bundes einer ſolchen entbehrt.
Die Frauen haben dieſes Organ größer, als die Män—
ner, und ſie halten feſter zuſammen in der Familie, der Ge—
ſellſchaft und der Freundſchaft, als die Männer. Selbſt
Verbrecher geben nicht ſelten rührende Beweiſe der Stärke
dieſes Triebs, z. B. Mary Macineß, welche zum Schaf—
fotte das Tuch nahm, das ihr ihr Geliebter geſchickt hatte,
und auf demſelben noch die halbe Orange aß, die ſie von
ihm mit der Bitte erhalten hatte, ſie zum Zeichen ihrer ge—
genſeitigen Liebe auf dem Schaffotte zu eſſen. An ihrem
Kopfe fand ſich dieſes Organ ſehr groß.
Dieſer Trieb iſt es, welcher uns unſeren Umgebungen
feſt verbindet, uns die Trennung von ihnen ſchmerzlich macht.
Er iſt es, der uns zieht nach der Stätte, wo wir geboren
und erzogen wurden, ohne Rückſicht darauf, ob die Natur
oder Kunſt ſie reichlich ausgeſtattet, der uns die Erinne—
rungszeichen der Vergangenheit, die Tiſche und Bänke, die
wir benutzt, die Bücher, die wir oft geleſen, die Bilder,
welche wir häufig betrachtet, lieber und werther macht, als
modiſche und künſtleriſche Prachtwerke.
Er bildet die Grundurſache des Zuſammenhaltens bei
Menſchen und Thieren, und der Freude, welche aus dieſer
Vereinigung entſpringt. Er giebt der Umarmung und dem
Händedruck Wärme und Innigkeit, der Liebe Treue und
Beſtändigkeit, dem Ehebündniß innere, nicht blos äußere
Feſtigkeit, der Gewohnheit den Charakter einer zweiten Na—
tur, der Liebe zum Leben jene Feſtigkeit, welche ſo oft an
leidenden, gebrechlichen, unglücklichen Menſchen unbegreiflich
gefunden wird. Durch ihn wird ſchlagender, als durch alle
Anhänglichkeit oder Anſchließungstrieb. 91
Schlußfolgerungen die Grundloſigkeit der Annahme Rouſ—
ſeau's bewieſen: der Menſch lebe im Naturzuſtande allein,
und nur die Nothwendigkeit führe ihn mit Seinesgleichen
zuſammen. Nicht äußere, ſondern innere Nothwendigkeit,
das Bedürfniß, welches tief in die menſchliche Seele gelegt
iſt, und welches ſich ſelbſt in vielen Thieren kund thut, iſt
es demnach, was die menſchlichen Geſellſchaften wie die Heer—
den der Thiere zuſammenführt und vereinigt erhält, trotz al—
len Stürmen, welche ſie zu trennen drohen.
Auf dieſem Triebe beruht der Drang der Menſchen,
auch in andere Geſellſchaften, als diejenige des Staats ein—
zutreten, überhaupt Zwecke aller Art gemeinſam zu verfol—
gen. Bei der Jugend wirkt dieſer, wie überhaupt alle
Triebe, beſonders mächtig. Es iſt daher von der höchſten
Wichtigkeit, ihm ein geeignetes Feld der Thätigkeit zu er—
öffnen, damit er nicht in verkehrten Richtungen ſich gewalt—
ſam Bahn breche.
In Verbindung mit Geſchlechtstrieb, Kinderliebe und
Einheitstrieb wird die Anhänglichkeit die Grundlage des
ehelichen und des Familienlebens ), in Verbindung mit
Ehrerbietung, Sinn für das Wunderbare, Hoffnung und
Sorglichkeit die Grundlage kirchlicher Verbindungen wer—
den. Die Freundſchaft ſetzt außer der Anhänglichkeit noch
irgend ein anderes Moment voraus, welches ihr das Lebens—
prinzip bietet. Dieſes können gleichartige geiſtige Beſtre—
bungen oder irdiſche Geſchäfte, oder auch nur die Gewohn—
heit des Zuſammenlebens ſein. Die Staatsgeſellſchaft ſetzt
außer der Anhänglichkeit noch eine Reihe anderer Anlagen
1) Gegen dieſe Anſicht von der Natur dieſes Triebs wendet Gall
die Bemerkung ein, daß Hunde, Katzen und andere Hausthiere dem
Menſchen gegenüber ebenſoviel als in anderen Beziehungen wenig An—
hänglichkeit an den Tag legen. Allein zahme Thiere unterliegen dem
Einfluſſe des Menſchen in ſo überwältigender Weiſe, daß ihre Natur
dadurch verhindert wird, ſich frei zu entfalten. Daher kann man ſich
auf die Erſcheinungen des geiſtigen Lebens der Hausthiere nur mit
großen Beſchränkungen berufen.
92 Anhänglichkeit oder Anſchließungstrieb.
voraus: zunächſt den Trieb nach Beſitz und den Wunſch,
ihn zu ſchützen, folgeweiſe Bekämpfungs- und Zerſtörungs—
trieb. Denn nur durch Kampf kann ein Angriff auf den
Beſitzſtand zurückgewieſen, und nur durch Vernichtung des
Gegners kann dem Kampfe auf immer ein Ende gemacht
werden. In demſelben Maße, in welchem ſich übrigens
eine Staatsgeſellſchaft entwickelt, wird ſie mehr und mehr
menſchliche Beſtrebungen in ihren Kreis ziehen, bis ſie am
Ende ſo ziemlich alle fördert, aneifert, ſchützt, zügelt, in
Gemäßheit ihres auf geregelte Entwickelung der geſammten
geiſtigen Thätigkeit aller ihrer Mitglieder gerichteten Zwecks.
Feſtes Zuſammenhalten bleibt aber immer das weſentliche Er—
forderniß des politiſchen Lebens. Es iſt dem Staate, was
der Mörtel der Mauer. Halten die Bürger eines Volks
nicht unter einander feſt zuſammen, ſo werden ſie weder
kräftig nach außen vertreten, noch volksthümlich nach innen
regiert werden. b
Viele von Chamiſſo's Gedichten ſchildern das Walten
dieſes Triebs, insbeſondere in den einfachen Verhältniſſen
des täglichen Lebens auf rührende Weiſe. Ich erinnere nur
an die Gedichte: „Der Bettler und ſein Hund“, „Des Ge—
ſellen Heimkehr“ u. ſ. w. |
Dieſer Trieb ift es, in Verbindung mit abergläubiſchen
Religionsbegriffen, welcher die indiſche Wittwe vermochte,
mit der Leiche ihres Gemahls ſich den Flammen hinzugeben,
welcher Väter, Mütter und Geſchwiſter oft auf die Zeit ih—
res Lebens unglücklich macht, wenn der Gegenſtand deſſel—
ben ihnen entriſſen wird. Er verband die Freundespaare
Oreſt und Pylades, Damon und Pythias. Er führte die
Gattin des gefangenen Lavalette in deſſen Gefängniß, um
die Kleider mit ihm zu wechſeln und ihn aus den Händen
der Reſtauration zu erretten, die ihm den Tod drohte. Sein
zu ſtarkes Walten, in Verbindung mit all zu reger Sorg—
lichkeit, ſtörte aber auch das Gleichgewicht ihrer Geiſtes—
kräfte, und verſenkte ſie in die Nacht des Irreſeins.
Bekämpfungstrieb. 93
9 12.
5. Bekaͤmpfungstrieb.
Gall nannte das Organ urſprünglich Raufſinn; allein
da dieſer Name nur eine Ausartung deſſelben bezeichnet, ſo
wurde der Name Bekämpfungstrieb mit Recht vorgezogen.
Der Sitz dieſes Organs iſt am hintern und untern
Winkel des Seitenwandbeins, hinter und etwas über der
Oeffnung des Ohrs !), und iſt äußerlich umgeben von den
mit Kinderliebe, Anhänglichkeit, Sorglichkeit, Verheimli—
chungs- und Zerſtörungstrieb bezeichneten Stellen des Schä—
dels. Es wird gebildet durch die mit Nummer V. bezeich—
neten Windungen des Gehirns (ſ. Taf II. und VII.).
Gall entdeckte dieſes Organ, indem er eine Anzahl Men—
ſchen aus den niederen Claſſen der Geſellſchaft: Kutſcher,
Bediente u. ſ. w. in ſeinem Hauſe verſammelte, ihr Ver—
trauen durch Geld, Wein und gute Worte gewann, ſo
erfuhr, welche unter ihnen zu Zank und Streit beſonders
geneigt ſeien, und an ihnen gleichmäßig die bezeichnete Stelle
des Kopfes ſtark entwickelt fand. Er bemerkte es auch groß
an dem Kopfe eines bei den Thierhetzen zu Wien beſchäf—
tigten, beſonders muthigen Knaben und an den Köpfen
einiger ſeiner Kameraden, welche wegen ihrer Duellſucht
von mehreren Univerſitäten waren fortgeſchickt worden ’),
J) Fig. 18. Fig. 19.
Großer Bekämpfungstrieb. Kleiner Bekämpfungstrieb.
\
.
iſcher Knabe.
9
General Wurmfer. Geylon
S. auch Taf. V. zu S. 88.
2) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 202212. Syursheim-
94 Bekämpfungstrieb.
an den Köpfen mehrerer ſehr kampfluſtiger Damen u. ſ. w.
Sehr klein fand Gall dieſes Organ bei dem wegen ſeiner
Feigheit bekannten Dichter Alxinger. Durch eine Reihe
ſpäter gemachter Erfahrungen wurde Gall's Entdeckung be—
ſtätigt. Es findet ſich dieſes Organ groß an den Schädeln
von einzelnen Kriegern und ganzen Nationen, welche ſich
durch perſönlichen Muth auszeichneten, ſo an den Schä—
deln des ſchottiſchen Königs Robert Bruce, des Generals
Wurmſer, der Caraiben, der alten Griechen u. ſ. w., klein
bei denjenigen, welche die Beute fremder Eroberer wegen
ihrer mangelnden Streitbarkeit wurden, z. B. den Hindus
und den Peruvianern. An den Abbildungen der Köpfe der
Gladiatoren findet es ſich groß. Auch die Bildung der thie—
riſchen Schädel ſtimmt in dieſer Rückſicht mit derjenigen der
menſchlichen Schädel überein. Bullenbeißer, welche kampf—
bereit und kampfluſtig ſind, haben breite, Windhunde, wel—
che dem Kampfe, wo ſie nur immer können, ausweichen,
ſchmale Köpfe. Jene Breite und dieſe Schmalheit iſt die
Folge dort einer ſtarken, hier einer ſchwachen Entwickelung
des Organs des Bekämpfungstriebs. Scheue Pferde, Hähne
u. ſ. w. zeigen dieſes Organ in geringer, muthige Pferde,
Hähne u. ſ. w. in entſchiedener Größe. Doch gehört ein
beſonderes Studium dazu, die Lage dieſes Organs bei den
verſchiedenen Thiergattungen mit Sicherheit aufzufinden.
Auch die Beobachtung krankhafter Zuſtände des Bekäm—
pfungstriebs hat zur Feſtſtellung deſſelben beigetragen. So
fand man nach dem Tode des Hrn. Robert Liſton, welcher
viele Jahre hindurch engliſcher Geſandter in verſchiedenen
Staaten geweſen war, in dieſem Organe eine Höhlung,
welche das Vorhandenſein eines Bluterguſſes darin andeu—
tete, während es eine höchſt auffallende Erſcheinung war,
daß er, im Widerſpruch mit ſeinem früher an den Tag ge—
legten Charakter, in den letzten Jahren ſeines Lebens derb,
observ. p. 153-155. Combe's Syſtem S. 141. Spurzheim, on Phre-
nology p. 153-155. Gall, sur les fonetions du rceveau Vol. IV. p. I-61.
Bekämpfungstrieb. 95
zornig und zänkiſch geworden war. Eines ähnlichen Falles
erwähnt Gall (sur les fonctions du cerveau Vol. II.
p. 202). An Irren, deren ungezügelte Streitſucht fie in
das Irrenhaus geführt hatte, wurde dieſer Gehirntheil im—
mer groß gefunden.
Wenn das Organ ſehr groß und thätig iſt, ſo theilt
es der Stimme einen harten, verletzenden Ton mit. Napo—
leon's Stimme nahm z. B. einen ſolchen an, wenn er auf
Widerſtand ſtieß.
Neigung zu und Luſt an Kämpfen iſt das mit dieſem
Organe verbundene Gefühl, und da, was man gern thut,
man immer mit verhältnißmäßiger Kraft thut, ſo iſt die
Folge der ſtarken Entwickelung dieſes Organs, die Fähig—
keit, mit Muth und Kraft zu kämpfen, oder im entgegen—
geſetzten Falle die Unfähigkeit hiezu. Nach der Verſchieden—
heit der übrigen geiſtigen Eigenſchaften und der äußeren
Verhältniſſe eines Individuums müſſen ſich natürlich auch
die Gegenſtände des Kampfes und die Mittel, mit denen
er geführt wird, verändern. Der Menſch, welcher mit
eimem ſtark entwickelten Bekämpfungstriebe beſonders große
Anlagen für Muſik verbindet, wird kriegeriſche Muſik, wer
mit demſelben Anlagen für Poeſie vereint, kriegeriſche Ge—
dichte lieben und verfaſſen. Im Vereine mit ſtark ent—
wickeltem Denkvermögen wird er zur Kritik, mit Zerſtö—
rungstrieb zum Kriegshandwerke führen u. f. w. Ohne
Bekämpfungstrieb wird der Menſch in dieſem Leben, worin
fo viel Böſes und Verkehrtes uns täglich hemmend in den.
Weg tritt, nicht viel zu wirken vermögen. Für den Re—
formator in Sitte, Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft iſt
dieſer Trieb ein weſentliches Erforderniß. Steht derſelbe
aber auf der anderen Seite nicht unter dem leitenden Ein—
fluſſe der höheren Gefühle und dem berichtigenden der In—
telligenz, ſo artet er aus in Händelſucht, Tollkühnheit und
Zungendreſcherei.
Götz von Berlichingen, wie ihn Goethe ſchildert, bietet
eine ſprechende Verſinnlichung des Bekämpfungstriebs, ſo—
96 Bekämpfungstrieb.
wohl in ſeiner Thätigkeit, als in gezwungener Unthätigkeit.
Trotz oder vielmehr gerade in Folge aller der Gefahren,
welche ihn im Laufe der erſten vier Acte umgeben, iſt er
heiter und froh und nichts ficht ihn an. Wie er aber die
Urfehde geſchworen hat, auf ſeinem Schloſſe bleiben ſoll,
und ſeine Geſchichte zu ſchreiben aufgefordert wird, ſagt er
zu ſeiner Frau:
„Ach! Schreiben iſt geſchäftiger Müßiggang, es kommt
mir ſauer an. Indem ich ſchreibe, was ich gethan,
ärger' ich mich über den Verluſt der Zeit, in der ich
etwas thun könnte.“
Götz kennt keine andere Beſchäftigung, als kämpfen, keine
andere giebt ihm Befriedigung. In vielen Gedichten von
Theodor Körner und Arndt, z. B. des erſtern „Lützow's
wilde Jagd“, „Schwertlied“, des letztern „Schlachtgeſang“,
„Kriegslied“, „Reiterlied“ u. anderen ſpricht ſich dieſer Trieb
ſehr lebendig aus. Aber leider! hat nicht jeder Deutſche ſei—
nen Bekämpfungstrieb wie Körner und Arndt immer dahin
gelenkt, wo er heilſam wirken konnte: gegen den äußern
Feind, gegen den Feind innerer Freiheit und volksthümli—
cher Entwickelung. f
Eine ſchwache Entwickelung dieſes Organs ruft übri—
gens nicht nothwendig Feigheit hervor. Allein in Verbin—
dung mit einer ſtarken Entwickelung der Sorglichkeit und
mangelnder ſonſtiger moraliſcher Kraft wird ſie allerdings
Feigheit zur Folge haben, während, bei vollkommen gleich—
artiger ſonſtiger Charakterbildung, eine ſtarke Entwickelung
des Bekämpfungstriebs nimmermehr Feigheit als bleibenden
Charakterzug aufkommen laſſen würde. Die Feigheit ſetzt
immer das Ueberwiegen des Elements der Sorglichkeit über
dasjenige der moraliſchen Empfindungen und des Bekäm—
pfungstriebs voraus. Sie wird aber einen verſchiedenen
Charakter annehmen, je nachdem ſie ſich mehr auf das
Vorhandenſein einer übergroßen Sorglichkeit als eines über—
kleinen Bekämpfungstriebs gründet. Dort wird ſie einen
Zerſtörungstrieb. I *
mehr poſitiven, hier einen mehr negativen Charakter haben,
dort mehr an Aengſtlichkeit, hier mehr an Scheuheit gränzen.
Wenn dieſes Organ mit Energie thätig iſt, wird der
Kopf etwas nach hinten und unten, das Kinn nach oben
und vorn gezogen. Der ganze Körper concentrirt ſich ge—
wiſſermaßen, die Muskeln ſpannen ſich an, der Nacken wird
ſteif, die Arme kehren ſich mit geballten Fäuſten nach hin—
ten, die Zähne preſſen ſich zuſammen, Mund und Auge be—
drohen den Gegner.
9 13.
6. Zerſtoͤrungstrieb ).
Unmittelbar über der äußeren Oeffnung des Ohrs be—
findet ſich die Stelle des Schädels, welche das Organ des
10 Fig. 20. Fig. 21.
Zerſtörungstrieb groß. Zerſtörungstrieb klein.
Der Mörder und Seeräuber Ein Knabe von der Inſel
Tardy von vorn. Ceylon von vorn.
Fig. 22. Fig. 23.
t
Tardy von hinten. Ceylon. Knabe von hinten.
S. auch Taf. V. zu S. 88.
95 Zerſtörungstrieb.
Zerſtörungstriebs bedeckt. Es wird gebildet durch die mit
VI. bezeichneten Windungen des Gehirns (ſ. Taf. II. und
VII.), erſtreckt ſich ein wenig nach vorn und hinten von
der äußern Oeffnung des Ohrs, dem untern Theile der Schup—
penplatte des Schläfenbeins entſprechend. Es iſt umgeben
von den Organen des Nahrungstriebs, des Verheimlichungs—
und Bekämpfungstriebs.
Die Vergleichung der Schädel der fleiſchfreſſenden Thiere
mit denjenigen der Thiere, die ſich von Vegetabilien nähren,
in Verbindung mit der Beobachtung der Schädelbildung
mehrerer Mörder führte den Dr. Gall zuerſt auf die Ent—
deckung dieſes Organs, das er im Anfang Mordſinn nannte.
Der Mord iſt übrigens augenſcheinlich nur ein Misbrauch
dieſes Triebs, und da keine geiſtige Kraft nach dieſem, ſon—
dern nach ihrer normalen Thätigkeit genannt werden muß,
ſo wurde bald der jetzige Name dieſes Organs von allen
Phrenologen angenommen. Dieſes Organ |ift durchgängig
groß gefunden worden an den Köpfen kalter, überlegter
Mörder, z. B. Bellingham's, des Mörders Percival's, Hare's,
der ſechzehn Menſchen in Edinburgh ermordete, um ihre Kör—
per an die Anatomie zu verkaufen, der Margaretha Gottfried,
der berüchtigten Giftmiſcherin von Bremen. Die Büſten
und Bilder von Sylla, Septimius Severus, Karl IX., Ri—
hard Löwenherz, Philipp II. von Spanien, Maria I. von
England, Katharina von Medici, Ravaillac, Knipperdolling,
des Biſchofs Bonnet, welcher in 4 Jahren über 200 Per—
ſonen verbrennen ließ, zeigen dieſes Organ ſehr merklich.
Es findet ſich groß an den Köpfen der Caraiben und an—
derer grauſamer Völkerſtämme, klein an denjenigen der Hin—
dus und anderer unkriegeriſcher Völker. An den Köpfen
zerſtörungsſüchtiger Geiſteskranken in Irrenhäuſern wurde
es immer groß gefunden. Es iſt größer am Kopfe der
Männer, als der Frauen, und die Männer beſitzen den
entſprechenden Trieb anerkanntermaßen auch ſtärker. Höchſt
intereſſant ſind die Beobachtungen, welche Dr. Vimont in
Betreff dieſes Organs anſtellte, und in ſeiner Schrift über
Zerſtörungstrieb. 99
vergleichende Phrenologie niederlegte. Sie beſtätigen voll—
kommen die von Gall, Combe und anderen Phrenologen
desfalls aufgeſtellten Anſichten ).
In dieſem Leben, wo Tod und Zerſtörung uns umge—
ben, könnte der Menſch ohne ein Organ, das ihn befähigt,
Scenen des Umſturzes und der Vernichtung nicht nur ohne
Wanken zu betrachten, ſondern auch erforderlichen Falls thä—
tigen Antheil an denſelben zu nehmen, nicht beſtehen. Er—
ſchaffung und Vernichtung, Entſtehen und Vergehen wan—
deln überall Hand in Hand. Wie viele Bäume müſſen nie—
dergehauen, wie tief muß in den Eingeweiden der Erde ge—
wühlt werden, um nur den Bau eines Hauſes möglich zu
machen! Reißende Thiere, giftige Schlangen und peinigende
Inſekten würden die Herren der Erde werden, wenn nur
ſie und nicht auch der Menſch den Zerſtörungstrieb beſäßen.
Wenn der Bekämpfungstrieb uns in den Kampf führt, ſo
entfernt der Zerſtörungstrieb die Urſache des Kampfes auf
immer. Wenn jener uns antreibt, Kämpfe zu beginnen,
ſo ſpornt uns dieſer, ſie zu beendigen. Beide ſind daher
dem Menſchengeſchlechte gleich unentbehrlich. Nur durch den
Zerſtörungstrieb können ſo manche Erſcheinungen des irdi—
ſchen Lebens erklärt werden: die Freude an der Jagd, an
Stiergefechten und Hahnenkämpfen, an den blutigen Schau—
ſpielen der Gladiatoren und Boxer, das Herzudrängen der
Maſſen zu Hinrichtungen und andern ähnlichen Executio—
nen. Menſchen, welche den Anblick derartiger Scenen ſuchen,
beweiſen allerdings, daß ſie dieſes Organ im Verhältniß zu den
höhern Organen des Empfindungsvermögens viel zu ſtark be—
ſitzen. Auf der andern Seite finden wir dagegen Menſchen,
welche bei jeder Beleidigung zuſammenſchrecken, deren Zorn ſo
ſchwach iſt, daß ſeine Aeußerungen nur Gelächter und Spott
I) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 212 — 227. Syurs heim,
observ. p. 155 - 169. Combe's Syſtem S. 149. Spurzheim,
on Phrenology p. 155 — 164. Gall, sur les fonctions du cerveau.
Vol. III. p. 61 — 100.
70 *
100 Zerſtörungstrieb.
hervorrufen, Menſchen und beſonders Frauen, welchen der
Anblick der unſchuldigſten Operationen, wenn ſie nur ent—
fernt auf Zerſtörung deuten, im höchſten Grade ſchmerzlich,
oft ganz und gar unerträglich iſt; welche z. B. keinen Zahn
ausreißen, keine Amputation vornehmen ſehen können, ohne
in Krämpfe zu fallen. Menſchen der letztern Art beſitzen
den Zerſtörungstrieb ſchwach. Es giebt Menſchen und Thiere,
welche Freude am Kampfe haben, allein wenn er gefährlich
wird, vor demſelben zurückbeben, auch wenn ſie ſelbſt nicht
bedroht ſind; andere, welche dem Kampfe in feiger Flucht
ſich entziehen, allein ohne ſolchen, zu morden und zu ſengen
bereit ſind. Zerſtörungs- und Bekämpfungstrieb ſind alſo
weſentlich verſchieden.
Die nothwendige, unerläßliche Vorbereitung zu allem
Schaffen iſt Zerſtörung. Bevor die Pflugſchar die Erde
durchwühlt hat, iſt ſie nicht fähig, den Samen in ihren
Schooß aufzunehmen. Das Panier der Wahrheit kann nur
auf den Trümmern des Vorurtheils aufgepflanzt werden.
Wenn unſer Wohlwollen uns treibt, dem Hülfsbedürftigen
beizuſtehen, ſo befähigt uns der Zerſtörungstrieb, den Räu—
ber, den Unterdrücker zu verſcheuchen und ſelbſt zu vertilgen,
bevor er ſein Opfer zu berauben oder in knechtiſche Unter—
werfung zu bringen vermochte. Noch ehe er zur That ge—
worden, wird der Zerſtörungstrieb demjenigen, der ihn reizt,
ankündigen, daß ihm Gefahr drohe, wenn er fortfahre, ihn
aufzuregen; und manche, welche den Mahnungen des Ge—
wiſſens nicht zugänglich ſind, können nur durch die drohende
Sprache der Zerſtörung in Schranken gehalten werden, ſo—
wohl im Leben der Geſellſchaft als des Staats.
Herrſcht jedoch der Zerſtörungstrieb vor, ſtatt blos hö—
hern Gefühlen zu dienen, ſo entſteht in der Rede ein bar—
ſcher, brutaler Ton, in der Handlungsweiſe Härte, Grauſam—
keit, Wildheit und Grimm, Fluchworte werden mit wider—
licher Stimme ausgeſtoßen, Verwünſchungen gleich bei der
Hand ſein, und bei geſteigerter Aufregung werden die Worte
zur That. Gemäßigt durch Erziehung und Verſtand, Br
Zerſtoͤrungstrieb. 101
er doch nicht ſelten zu verletzendem Spott, zu ſcharfen Sti—
chelreden und giftigen Schmähungen. Byron's und Victor
Hugo's Schriften bekunden deutlich die Wirkſamkeit dieſes
Triebes.
Die abnorme Stärke deſſelben verräth ſich ſchon bei
Kindern dadurch, daß ſie ihr Spielzeug mit großer Luſt
zerbrechen, Fliegen Köpfe und Füße abreißen, Hunde und
Katzen quälen, zum Schlachten des Geflügels herbeieilen
und nicht eher weggehen, als bis die Zuckungen des Todes
vorüber ſind. Das Vorwalten dieſes Triebs hat oft Ein—
fluß auf die Wahl des Gewerbes. Ein Student, der ſeine
Mitſchüler durch die ausgeſuchten Quälereien der Vögel,
Inſecten und anderer Thiere peinigte, beſtimmte ſich, um
ſeine Neigung zu befriedigen, zur Chirurgie. Ein Apothe—
kerjunge hatte, nach Gall, ſo heftige Neigung zum Tödten,
daß er Henker wurde. Der Sohn eines reichen Kaufmanns
wurde aus gleichen Urſachen Metzger, und ein reicher Hol—
länder bezahlte die Fleiſcher, welche große Fleiſchlieferungen
für Schiffe zu machen hatten, für die Erlaubniß, die Och—
ſen ſelbſt tödten zu dürfen. Der Naturforſcher Condamine
drängte ſich bei einer Hinrichtung durch die zuſchauende
Menge. Als die Soldaten ihn zurückweiſen wollten, ſagte
ihnen der Henker: Laissez passer Monsieur, c'est un
amateur.
So verübte im Anfang des vorigen Jahrhunderts ein
Violinſpieler in Holland an der cleviſchen Grenze 34 Mord—
thaten ohne Feindſchaft und ohne zu ſtehlen, blos zu ſeinem
Vergnügen.
Das von keinem höhern Gefühle geleitete brutale Wal—
ten des Zerſtörungstriebs ſpricht ſich in der erſten Scene des fünf—
ten Acts des Götz von Berlichingen in dem Zwiegeſpräch zwi—
ſchen Metzler und Link recht bezeichnend aus. Namentlich ſind
folgende Worte Metzler's charakteriſtiſch: „Siehſt du, wie
die Kerls übereinanderpurzelten“ (die ſie niederſtachen) „und
quiekten wie die Fröſche! Es lief mir ſo warm übers Herz,
wie ein Glas Branntwein.“
102 Zerſtörungstrieb.
Schinderhannes und andere berüchtigte Mörder erzähl:
ten mit beſonderm Vergnügen die von ihnen begangenen
Grauſamkeiten, und gaben durch Wort und That zu erken—
nen, daß nichts ihnen ſo viele Freude mache als deren Be—
gehung).
Wenn das Organ im hohen Grade angeregt iſt, ſo
drückt ſich der Kopf zwiſchen den Schultern nach unten und
bewegt ſich raſch in ſchütternder Weiſe von einer Seite zur
andern. Die geballten Fäuſte richten ſich nach oben und
vorn, und zittern in horizontaler Richtung. Die Füße
ſtampfen auf die Erde. Je nachdem der Kopf, die Fauſt
oder der Fuß zunächſt das Mittel iſt, womit das Organ
in Thätigkeit tritt, wird der eine oder der andere 3
theil beſonders heftig ſich bewegen.
Bei noch größerer Entwickelung oder krankhafter Auf—
regung des Zerſtörungstriebs bleibt es nicht mehr bei Wor—
ten und Pantomimen, bei dem bloßen Vergnügen, Andere
tödten zu ſehen, ſondern es entſteht der mächtige Drang,
ſelbſt Hand anzulegen und zu tödten; und der Unglückliche,
der ihn beſitzt, mordet andere oder ſich ſelbſt. Bisweilen
geht ein ſolcher Trieb über von Vater auf Sohn. Herr
Gauthier in Paris tödtete ſich und hinterließ ſieben Kinder
und zwei Millionen Franken. Alle ſieben tödteten ſich ſelbſt
im Zeitraum von 30 bis 40 Jahren.
Die Abnormitäten dieſes Triebes ſind oft ſo groß, daß
damit behaftete Menſchen dem Trieb zu morden nicht wi—
derſtehen können. Die Richter und Geſetzgeber, welche dieſe
Thatſachen nicht berückſichtigen, verſündigen ſich ſchwer an
der Menfchennatur?).
1) So antwortete die Gottfried auf die Frage, was ſie beſtimmt
habe, fo viele Menſchen zu tödten? „Verſuchen Sie es nur einmal
und ſie werden es ſchon fühlen.“
2) S. Theorie der Verbrechen auf Grundſätze der Phrenologie
baſirt von S. Attomyr. Leipzig 1842. S. 28 — 38.
Zerſtörungstrieb. 103
Pinel, kein Phrenologe, beſchreibt einen Mann, wel—
cher Anfällen von Manie ausgeſetzt war, in folgender Weiſe:
„Sie wurden angekündigt,“ ſagt er, „durch eine brennende
Hitze, welche der Mann in dem Unterleib, dann in der
Bruſt und zuletzt im Geſichte empfand. Die Wangen wur—
den roth, die Augen funkelnd, die Venen und Arterien des
Kopfes dehnten ſich ſtark aus und zuletzt entwickelte ſich
eine unüberwindliche Wuth, welche ihn mit einem unwider—
ſtehlichen Drange trieb, ein Werkzeug oder eine Waffe zu
ergreifen, um den Erſten, Beſten, der ſich ſeinem Blicke
darſtellte, niederzuhauen. Gall theilt noch viele derartige
Fälle mit).
Die Neigung zum Morden, zur Brandſtiftung und
zum Fleiſchgenuß ſind ſehr nahe verwandt. Gall nannte
daher dieſen Trieb auch Trieb zum Fleiſchgenuß. Prochas—
fa?) erzählt von einer Frau in Mailand, welche die Kin—
der durch Liebkoſungen zu ſich lockte, dann tödtete, einſalzte
und ihr Fleiſch alle Tage aß. Ebenſo tödtete ein Mann
einen Reiſenden und ein junges Mädchen, um ſie zu
eſſen. Eine ſchwangere Frau wurde von der Sucht, ihren
Mann zu tödten und zu eſſen, ergriffen; ſie ſalzte ſeine
Leiche ein, um ſich mehrere Monate damit nähren zu kön—
nen. Nicht blos bei Thieren, ſondern auch bei Menſchen,
und nicht blos bei den Wilden der neuen Welt, ſondern
auch bei den Europäern zeigt ſich alſo die nahe Verwandt—
ſchaft zwiſchen Mordluſt und Fleiſchgenuß, eine Verwandt—
ſchaft, welche dieſen Genuß gewiß nicht empfiehlt. Sehr
wahr iſt die Bemerkung Gall's:
„Bei den Menſchen äußert ſich der Mordſinn ſtufenweiſe;
er beginnt mit der Gleichgültigkeit, Thiere leiden zu ſe—
1) Phrenological Journal. Edinburgh 1823. No. I, p. 36-46,
woſelbſt noch eine ganze Reihe ähnlicher höchſt intereſſanter Thatſachen
zuſammengeſtellt ſind. Es iſt merkwürdig, wie obige Schilderung zu—
ſammentrifft mit den Worten Metzler's: „Es lief mir ſo warm übers
Herz, wie ein Glas Branntwein.“
2) Opera minora T. II. p. 98.
104 Zerſtörungstrieb.
hen, und mit dem bloßen Vergnügen, tödten zu ſehen,
und ſteigt bis zu der heftigſten Begierde, zu tödten ).
Die Verwandtſchaft zwiſchen dieſem Triebe und der
Neigung zur Brandſtiftung erhellt aus folgenden That—
ſachen: Blutdürſtige Menſchen, wie Caligula und Nero,
haben ſtets ein Vergnügen dabei empfunden, ihr Land mit
Feuer zu verwüſten. Sehr häufig kommt Mord in Ver—
bindung mit Brandſtiftung vor; ſei es, daß Brand geſtif—
tet wird in der Abſicht, zugleich auch zu morden, oder daß
darauf die Brandſtiftung erſt folgt, wie z. B. noch die jüng—
ften?) Zeitungen den Fall eines ſpaniſchen Exmönchs und
Antiquars berichteten, welcher zuerſt ſein Opfer mordete
und dann Feuer unter der Bettſtelle anlegte, worauf die
Leiche lag. Bei allen Verbrechern, die aus Rache oder aus
bloßem Vergnügen, eine Feuersbrunſt zu ſehen, Brand ge—
ſtiftet hatten, und welche Gall und Spurzheim in Gefäng—
niſſen unterſuchten, fanden ſie dieſes Organ ſehr entwickelt.
Auffallend iſt es, wie ſchon das Wort Mordbrenner dieſe
Verwandtſchaft anzudeuten ſcheint.
Eine höchſt beachtenswerthe Thatſache iſt, daß nichts
mehr dieſen Trieb zur Thätigkeit aufregt, als der Anblick
von Scenen feiner Thätigkeit. So erzählt Gall“) von ei—
ner Frau, bei welcher von dem Augenblicke an, da ſie eine
Feuersbrunſt in ihrem Orte geſehen, der Hang entſtand,
Brand zu ſtiften; von einem Idioten, welcher ein Schwein
tödten ſah und darauf einen Menſchen umbrachte. Moreau
Chriſtoph erwähnt zweier Fälle, wo der Selbſtmord eines
Soldaten den Selbſtmord mehrerer anderer Soldaten, der
Selbſtmord eines Invaliden den Selbſtmord von zwölf an—
dern zur unmittelbaren Folge hatte. Aus einer Anzahl von
169 Perſonen, welche innerhalb einer gewiſſen Periode in
1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 221. 218. Gall, sur
les fonctions du cerveau. Vol. IV. p. 86.
2) Vom Monat September 1842 zurückgerechnet.
3) S. 225.
Verheimlichungstrieb. 105
England hingerichtet wurden, waren 164 zuvor bei Hin—
richtungen gegenwärtig geweſen ).
Ungeachtet dieſer unleugbaren Thatſache beſteht aber
die Todesſtrafe, die brutalſte und ſinnloſeſte aller Strafen,
noch immer fort, gleichſam als wollte ſie zu neuen Opfern
mehr und mehr auffordern.
Eine geſteigerte Thätigkeit dieſes Triebs iſt übrigens
ſehr häufig geradezu die Folge einer langen und verborgenen
Krankheit des Gehirns. „Sehr oft fanden wir,“ ſagt Gall‘),
„das Gehirn von Mördern in einem Zuſtand, wie er bei
Verrückten zu ſein pflegt, welche ſeit Jahren erkrankt ſind.“
Wie viele Menſchen wurden auf das Schaffot ſtatt in
die Irrenanſtalt geſchickt, blos weil die Richter in gänzlicher
Unwiſſenheit über Seelenlehre und Seelenkrankheiten waren!“)
6. 14. |
7. Verheimlichungstrieb ).
Ueber dem Organ des Zerſtörungstriebs, doch etwas
nach vorn zu liegt dasjenige des Verheimlichungstriebs. Auf
den Tafeln VIII und IX ſind die es bildenden Windun—
1) Zeitſchrift für deutſches Strafverfahren von v. Jagemannn
und Nöllner Bd. III. H. 2. Nr. VIII. S. 161.
2) S. 226.
3) S. die Zeitſchrift für Phrenologie Bd. I. H. 2. S. 226.
4) Fig. 24. Fig. 25.
Verheimlichungstrieb groß. Verheimlichungstrieb klein.
D
Ceyloneſe.
106 Verheimlichungstrieb.
gen mit IX bezeichnet. Aeußerlich iſt es zu ſuchen am un—
tern Rande der Seitenwandbeine, umgeben von den mit
Zerſtörungstrieb, Erwerbtrieb, Sorglichkeits- und Bekäm—
pfungstrieb bezeichneten Stellen des Schädels. Dr. Gall
bemerkte eine ſehr ſtarke Entwickelung dieſes Theils des
Schädels an zweien ſeiner Gefährten, von denen der eine,
bei ſonſtigen guten Eigenſchaften, doch eine außerordentliche
Geneigtheit hatte, ſeine Mitſchüler zu täuſchen, der andere
falſch und verrätheriſch war; an einem ſeiner Patienten,
welcher, ſo lang er lebte, für einen ehrlichen Mann gegol—
ten, dennoch aber ſeine Bekannten und ſelbſt ſeine Mutter
um bedeutende Summen betrogen hatte. Viele andere ſo—
wohl von Gall als ſeinen Nachfolgern angeſtellten Beob—
achtungen beſtätigten die Richtigkeit der Anſichten Gall's.
Das Organ findet ſich groß am Kopfe der, Hindu’s,
welche wegen ihrer Verſchlagenheit und Hinterliſt berüchtigt
ſind, am Kopfe der nordamerikaniſchen Wilden, welche ihre
Gefühle und ihre Abſichten trefflich zu verbergen wiſſen,
am Kopfe des Tigers, der Katze und des Fuchſes (nur muß
es hier über dem zygomatiſchen Bogen geſucht werden, von
wo es ſich bis faſt zur Mitte dieſes Beines ausdehnt), und
auch an denjenigen Thieren, welche ſich von Pflanzen näh—
ren und ſich durch Verſchlagenheit auszeichnen.
Es iſt groß gefunden worden an den Köpfen berüch—
tigter Diebe und Gauner, mancher Wahnſinnigen, welche
ein beſonderes Geſchick beſaßen, ihre Wächter zu täuſchen,
und mehrerer Perſonen, welche ſich krank ſtellten, ohne es
zu ſein, und dieſen ihren Betrug ungeachtet der größten
Leiden, welche er ihnen bereitete, dennoch ruhig durchführten.
Die Porträte von Caracalla, Katharina von Medici
und Claudine Alexandrine von Tencin, der Mutter d' Alem—
bert's, einer berüchtigten Intriguantin “), zeigen es groß.
1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 227 — 232. Spurzheim,
observations p. 181 — 183. Combe's Syſtem S. 172. Spurzheim,
on Phrenology p. 164 f. Gall, sur les fonctions du cerveau. Vol.
IV. p. 185 — 200.
Verheimlichungstrieb. 107
Die Franzoſen, welche bekanntlich überaus mittheilend‘
ſind, beſitzen dieſes Organ weniger ſtark entwickelt als die
Deutſchen, Italiener und Engländer, welche zurückhal—
tender ſind.
Der Verheimlichungstrieb iſt der Drang, dasjenige,
was ſich in unſerm Innern bewegt, nicht äußerlich kund
werden zu laſſen. Ohne dieſen Trieb würde gar Manches
zu Tage kommen, was weit beſſer im Schachte des Her—
zens, vom Schleier des Dunkels bedeckt, liegt, und Men—
ſchen, die ihn nicht beſitzen, verrathen in Folge dieſes Man—
gels Geheimniſſe, welche, kund geworden, ihnen Nachtheil,
Schimpf und Schande bringen. Die verſchiedenen Kräfte
der menſchlichen Seele äußern ihre Thätigkeit mehr oder
weniger unwillkührlich. Ohne alles Zuthun des Menſchen
wird jede ſeiner Kräfte in Thätigkeit treten, ſobald ſich ihr
der Gegenſtand ihrer Wirkſamkeit darbietet, z. B. der Er—
werbtrieb, ſobald ſich eine Ausſicht zum Erwerbe eröffnet,
die Beifallsliebe, ſobald ſich eine Gelegenheit zeigt, Beifall
zu ernten u. ſ. w. Würde der Menſch alle dieſe Regungen
in ihrer ganzen Lebendigkeit, wie ſie im Innern ſich kund
thun, äußerlich an den Tag legen, ſo wäre ein friedliches
und vergnügliches Zuſammenleben nicht möglich. Daher
deckt der Verheimlichungstrieb einen Schleier über die Be—
gebenheiten des innern Lebens. Auch dieſer, wie jeder an—
dere Trieb, muß nach der Verſchiedenheit der übrigen See—
lenkräfte, womit er verbunden iſt, zu verſchiedenen Reſultaten
führen. In Verbindung mit Witz bildet er die wahre Quelle
des Humors, er macht es allein einem Schriftſteller mög—
lich, den Ausgang ſeiner Werke geſchickt bis zum geeigneten
Augenblicke zu verbergen. Dem Schauſpieler giebt er die
Fähigkeit, alle diejenigen ſeiner geiſtigen Anlagen, deren
Wirkſamkeit mit ſeiner Rolle unverträglich wäre, zum Schwei—
gen zu bringen. Dem Staatsmanne iſt er unentbehrlich.
Er giebt ihm nicht nur das Geſchick, ſeine eigenen Pläne,
Geſinnungen und Abſichten geheim zu halten, ſondern auch
die geheimen Wege ſeiner Gegner zu ahnen und mit Hülfe
1
108 Verheimlichungstrieb.
ſeiner ſonſtigen Geiſteskräfte zu entdecken und zu durchſchauen.
Dem Krieger verleiht dieſer Trieb die Fähigkeit, ſeine Ope—
rationen dem Feinde verborgen zu halten und Kriegsliſten
aller Art in Anwendung zu bringen. Napoleon beſaß den—
ſelben in hohem Grade. Er vermochte ſeinem Geſichte je—
den Ausdruck zu entziehen, ſo daß, wer darin leſen wollte,
nur ein nichtsſagendes Lächeln erkannte.
Wenn das Organ vorherrſchend thätig iſt, giebt es dem
Kopfe und dem Oberkörper eine Richtung nach vorn und
nach unten; der Mund iſt inſtinctartig geſchloſſen, das Auge
nur ſo weit geöffnet, um ſehen zu können, allein nicht weit
genug, damit Andere darin leſen können; die Schultern
ziehen ſich aufwärts in der Richtung des Organs; der Gang
iſt ſchleichend, verſtohlen und leicht. Die Bewegungen des
Körpers gehen nicht geradezu vorwärts, ſondern haben im—
mer eine Neigung nach der Seite. Das Organ iſt groß
in dem
alten Geizhals
Fig. 26.
und ſein Geſicht und Körper drücken ganz den Charakter
der Heimlichkeit aus.
Verheimlichungstrieb. 109
Es giebt Leute, welche ohne allen weitern Zweck ein
entſchiedenes Vergnügen empfinden, andern Menſchen, wie
ſie ſich auszudrücken pflegen, etwas weis zu machen, und
die ſich für außerordentlich geſcheidt halten, wenn es ihnen
gelungen iſt, ſelbſt ihre beſten Freunde zu täuſchen, die ſie
dann auslachen und ſich etwas darauf zu gute thun, ohne
zu ahnen, Unrecht gethan zu haben, und ohne ſich durch
Vorſtellungen irgend einer Art von ihrem Unrechte überzeu—
gen zu laſſen, indem ſie darauf beſtehen, es ſei ein guter
Scherz. Solche Menſchen haben den Verheimlichungstrieb
groß. Andere können die Zwecke, die ſie haben, niemals
auf geradem Wege verfolgen. Nur auf Umwegen, durch
Krümmungen und Windungen iſt es ihnen möglich, nach
einem Ziele zu ſtreben. Sie ſind nicht offen, auch wenn
ihr Vortheil es heiſcht, gerade wie Menſchen entgegengeſetz—
ten Charakters nicht ſchweigen, auch wo das Sprechen ih—
nen großen Nachtheil bringt. Falls der Erwerbtrieb nicht
ſehr groß iſt, geben Menſchen, welche in Folge ſchwacher
Moralität und ſtarken Verheimlichungstriebs Betrügereien
und Diebſtähle begangen haben, die Früchte ihrer Verbre—
chen ſogar bisweilen wieder heraus; aber nicht ohne in—
nere Freude über ihre, den Gegner überliſtende Feinheit und
Schlauheit zu empfinden.
Allein nicht blos über das innere, ſondern auch über
das äußere Leben deckt dieſer Trieb den Schleier des Ge—
heimniſſes. Wer ihn in ſtarker Entwickelung beſitzt, hat
einen entſchiedenen Widerwillen vor aller Oeffentlichkeit. Es
iſt ihm zuwider, wenn er, auch in gleichgültigen Dingen,
das Auge der Menſchen auf ſich zieht; er wird ſich bemü—
hen, ſein ganzes Thun und Treiben in das Dunkel des
Geheimniſſes zu verhüllen, und er wird fo mehr und mehr
geneigt zu glauben, ſeine Thaten werden nicht entdeckt wer—
den, wovon die Folge iſt, daß alle die Hebel, welche die
Furcht vor der Entdeckung in Bewegung ſetzt, auf ihn
nicht wirken. Es iſt eine auffallende Bemerkung, daß viele
der verhärtetſten Verbrecher das Organ des Verheimlichungs—
110 Erwerbtrieb.
triebs in ſehr ſtarker Entwickelung beſitzen. Die feſte Ueber—
zeugung, ſie können ihre That geheim halten, gab ihnen
eine Zuverſicht in den glücklichen Ausgang derſelben, welche
ein ſchwacher Verheimlichungstrieb nicht hätte hervorrufen
können.
Der Verheimlichungstrieb iſt der ſchlimmſte Feind der
Oeffentlichkeit. Das Princip heimlicher Verhandlung nährt
und befördert das Mistrauen des Schlechten, er werde nicht
entdeckt werden, und mindert dasjenige des Guten, er werde
Anerkennung finden ).
Freiheit der Preſſe, Oeffentlichkeit der politiſchen Ver—
handlungen und der Gerichtsverhandlungen eines Landes
werden daher dem Böſen, dem Trägen, dem Schwachen,
dem Kenntnißloſen immer etwas durchaus Widriges ſein.
Denn nur die Nacht des Geheimniſſes deckt und ſchützt ihn
und erhält ihn an dem Platze, den er nicht verdient.
§. 15.
8. Erwerbtrieb ?).
Am vordern und untern Winkel des Seitenwandbeins
liegt das Organ des Erwerbtriebs. Es gränzt an die Or—
gane des Verheimlichungstriebs, des Zerſtörungstriebs, des
Kunſt- oder Zuſammenſetzungstalents und der Idealität.
Auf den Gall'ſchen Tafeln iſt es mit VIII bezeichnet.
Dr. Gall entdeckte es zuerſt an den Köpfen verſchiede—
nen Perſonen aus den niedern Claſſen der Geſellſchaft, welche
) Phrenological Journal. Edinburgh 1824. No. IV. p. 611 —614,
2) Erwerbtrieb und Verheimlichungstrieb groß.
S. 108. Fig. 26.
Ein alter Geizhals.
Erwerbtrieb. 111
als kleine Diebe bekannt waren, und ſelbſt kein Hehl
daraus machten; dann an verſchiedenen Kindern in einer
Taubſtummen-Anſtalt zu Wien, zu welcher er Zutritt hatte,
und welche gleichfalls die natürliche Anlage zu ſtehlen nicht
verbergen konnten. Später fand er es in Zuchthäuſern ſehr
groß an einem Knaben von funfzehn Jahren, welcher als
unverbeſſerlicher Dieb zu lebenslänglicher Einſperrung ver—
urtheilt worden war; an den Köpfen vieler andern Diebe
und Räuber, z. B. Cartouche, Schinderhannes, Picard,
Storzenbecker und anderer, und in Irrenhäuſern an den
Köpfen von Irren, welche eine krankhafte Neigung zum
Stehlen hatten. Durch alle dieſe Beobachtungen wurde er
veranlaßt das Organ das Diebsorgan zu nennen, allein da
kein Organ nach ſeinem Misbrauch genannt werden ſollte,
ſo wurde bald der Name Erwerbtrieb demſelben beigelegt,
welchen es nun allgemein führt. Es findet ſich groß an
den Köpfen der Kalmucken, welche wegen ihres diebiſchen
Charakters bekannt ſind, klein an denjenigen der Caraiben und
Neuholländer, welche für Beſitz verhältnißmäßig ſehr gleich—
gültig ſind.
Der Trieb zu erwerben iſt übrigens tief in der menſch—
lichen Bruſt begründet, und ſelbſt den Thieren iſt er eigen.
Der Hund betrachtet den Knochen, an welchem er nagt, als
ſein Eigenthum, und läßt ihn ſich nicht ohne Murren oder
ſelbſt ohne Gegenwehr entreißen. Die Störche kehren nach
einer Friſt von mehr als ſechs Monaten zu ihrem verlaſſe—
nen Neſte zurück und laſſen es ſich durch andere nicht rau—
ben; der Hamſter und die Dohle ſammeln Vorräthe für
den Winter, welche ſie als ihr Eigenthum betrachten u. ſ. w.
Dieſer Trieb beſteht weſentlich in dem Streben nach
Beſitz. Die begleitenden Eigenſchaften werden ihm jedoch
ſeine Richtung verleihen. In Verbindung mit moraliſchen
und intellectuellen Fähigkeiten begründet er den Wohlſtand
civiliſirter Nationen. In dieſem Geleite wird er den Kauf—
mann, den Profeſſioniſten und den Taglöhner thätig und
arbeitſam machen. Während der Menſch ohne dieſen Trieb
112 Erwerbtrieb.
ſich begnügen würde, ſich und ſeiner Familie den bloßen
Lebensunterhalt zu verſchaffen, ſpornt der Erwerbtrieb ihn
an, auch für die Zukunft zu ſorgen, werthvolle Dinge zu
ſummeln, um auch ſeinen Nachkommen etwas hinterlaſſen
zu können. Dem Naturforſcher verleiht er Emſigkeit in
der Beſtrebung, Sammlungen von naturwiſſenſchaftlichen
Gegenſtänden anzulegen, dem Gemäldeliebhaber Thätigkeit
in der Sammlung von Gemälden. Nur durch die An—
nahme dieſes Organs iſt es möglich, die krankhafte Sucht
mancher bemittelten Perſonen zu erklären, welche ohne das
geringſte Bedürfniß ſtehlen, die geſtohlenen Dinge zum
Theil wieder verſchenken, oder wenigſtens gar nicht gebrau—
chen. Eine Menge derartiger Fälle ſind in den phrenolo—
giſchen Werken namhaft gemacht. Sie beweiſen, daß der
bloße Act der Beſitzergreifung werthvoller Dinge, ohne alle
Rückſicht auf Genuß oder Vortheil, ſchon Befriedigung ge—
währen kann, und hieraus folgt, daß das Streben zu er—
werben für ſich allein ſchon eine natürliche und urſprüng—
liche Anlage des Menſchen ſein muß, welche freilich nur
dann in ihrer ganzen Nacktheit ſich zeigt, wenn ſie durch
die andern und höhern m nicht in den gehörigen Schran—
ken gehalten wird.
Bei abnorm ſtarkem Erwerbtrieb entſteht Habſucht und
Geiz. Man ſammelt Vorräthe um ihrer ſelbſt willen und
nicht eines höhern Zwecks halber. Der Geiz iſt der zur Leiden—
ſchaft geſteigerte Erwerbtrieb. Der Diebſtahl iſt die Folge eines
durch Gewiſſenhaftigkeit nicht gezügelten abnorm geſteigerten
Erwerbstriebs. Victor Amadeus J., König von Sardinien,
nahm überall Dinge von geringem Werth. Saurin, Pa—
ſtor zu Genf, ein Mann von den beſten Grundſätzen, un—
terlag ſtets dem Hang zum Stehlen. Ein Beamter in Wien
ſtahl überall Hausgeräthe, trug es in zwei dazu gemiethete
Kammern, ohne es zu verkaufen oder zu gebrauchen. Fälle
dieſer Art finden ſich in den phrenologiſchen Schriften ſehr
zahlreich geſammelt. Krankheiten oder Verwundungen des
Gehirns haben gleichfalls nicht ſelten eine abnorme Steige—
Nahrungstrieb. 113
rung des Erwerbsbetriebs zur Folge. Zwei Bürger in Wien
z. B., welche früher tadellos gelebt hatten, wurden geiſtes—
krank und gingen dann von Früh bis Abends herum, um
Alles, was ihnen vorkam, zu ſtehlen, wenn es auch nur
Stroh, Lappen oder Holz war. Acrel erwähnt eines Men—
ſchen, der in Folge einer bedeutenden Wunde an der Schläfe,
in der Gegend dieſes Organs trepanirt wurde, nach ſeiner
Entlaſſung aus dem Hoſpitale eine unwiderſtehliche Nei—
gung zum Stehlen empfand, und demzufolge zur Strafe
des Diebſtahls verurtheilt worden wäre, wenn Acrel ſich
nicht feiner angenommen und darauf aufmerkſam gemacht _
hätte, daß ſein diebiſcher Hang die Folge einer durch jene
Wunde herbeigeführten Störung des Gehirns ſei ).
Bei abnorm ſchwachem Erwerbtrieb haben die Men—
ſchen keine Kraft, mit Anſtrengung nach Erwerb zu ſtre—
ben, keinen Sinn, Erworbenes zu bewahren, kein Vergnü—
gen daran, ſie ſorgen daher nur von einem Tag auf den
andern. Haben ſolche Menſchen Vermögen ererbt, ſo laſſen
ſie ſich's aus den Händen ſchlüpfen, und ſind nichts weni—
ger als darauf bedacht, es zu vergrößern.
$. 16.
Nahrungstrieb.
Schon Gall und Spurzheim dachten daran, daß das
Begehren nach Nahrung ein Inſtinct ſei, den man auf kei—
nes der erkannten Principien des Geiſtes zurückführen könne,
und ſie waren daher geneigt, es für eine urſprüngliche Kraft
1) Theorie der Verbrechen auf Grundſätze der Phrenologie baſirt
von Attomyr. Leipzig 1842. S. 18 — 28. Gall's vollſtändige
Geiſteskunde S. 232 — 240. Spurzheim, observations p. 173—18ʃ,
woſelbſt ſich eine Menge hierher gehöriger intereſſanter Thatſachen
erzählt finden. Combe's Syſtem S. 184. Spurzheim, on Phre-
nology p. 165 - 171. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. IV.
p. 201 — 248. Zeitſchrift für Phrenologie Bd. I. H. 3. S. 275 ff.
8
114 Nahrungstrieb.
zu halten, die ein beſonderes Organ habe. Das Begehren
nach Nahrung und die Wahl der Nahrung findet bei den
Jungen der Thiere, wie bei den neugeborenen Kindern ſtatt,
bevor ſie durch Erfahrung irgend etwas gelernt haben kön—
nen. Im Augenblick, da das Hühnchen aus dem Ei ſchlüpft,
frißt es das Korn, das zu ſeinen Füßen liegt, berührt aber
nichts, das zu ſeiner Nahrung nicht dienen kann. Das neu—
geborene Kind ſucht die Bruſt der Mutter und nimmt ſie willig,
während es eine Flaſche Wein ſchreiend zurückweiſen würde.
Dieſes Begehren nach Nahrung iſt verſchieden von Hunger und
Durſt, denn die Menſchen eſſen und trinken nur zu häufig
ohne ſolchen, ſelbſt das Kind an der Mutter Bruſt trinkt
bisweilen fort, bis es hinweggenommen wird, ſogar wenn es
wegen Ueberfüllung ſchon Milch ausgeſpieen hat. Wie die
Geſchlechtstheile die Werkzeuge ſind, womit der Geſchlechts—
trieb befriedigt wird, ſo ſind Magen, Schlund, Zunge und
Gaumen und die daſelbſt verbreiteten Nerven des Geſchmacks
die Werkzeuge, womit der Nahrungstrieb befriedigt wird;
allein ſie ſind natürlich weſentlich verſchieden von dem Triebe
ſelbſt). Ebenſo iſt Hunger und Durſt verſchieden von der
eigentlichen Eßluſt und dem Begehren nach Trank. Hun—
ger und Durſt ſtehen in demſelben Verhältniß zu Magen—
und Gaumen-Nerven, wie Eßluſt und das Begehren nach
Trank zum Nahrungstrieb. Man kann Hunger haben ohne
Eßluſt, und Durſt ohne Verlangen nach Trank, und um—
gekehrt Eßluſt ohne Hunger, und Verlangen nach Trank
ohne Durſt, wie alle Freſſer und Säufer beweiſen.
1) Ein ſchlagender Beweis für die ſtufenweiſe, mit den Bedürf—
niſſen immer gleichen Schritt haltende Entwickelung des Menſchen iſt
es, daß das neugeborene Kind, welches vor allen Dingen der Nah—
rung bedarf, die zu dieſem Behufe dienenden Nerven, nämlich das
fünfte Nerven-Paar, wovon ſich mehrere bedeutende Aeſte in den
Warzen des Gaumens, des Schlundes und der Zunge erſchließen, vor
allen andern in beſter Entwickelung beſitzt. Bessieres, introduction à
l’etude philosophique de la phrénologie p. 119. flg. 174.
Nahrungstrieb. 115
Folgende Thatſachen führten auf die Annahme, daß
das Organ des Nahrungstriebs ſich an der bezeichneten
Stelle des Gehirns finde.
Beim Schafe ſieht man die ſehr großen Geruchs—
Nerven von zwei Gehirn-Windungen ausgehen, welche an
der Baſis des mittlern Gehirn-Lappens neben und unmit—
telbar unter der Stelle liegen, die bei fleiſchfreſſenden Thie—
ren das Organ des Zerſtörungstriebs einnimmt. Das
Schaf wird in der Wahl ſeiner Nahrung durch den Ge—
ruchs-Sinn beſtimmt, und daraus wurde die Vermuthung
abgeleitet, daß dieſe Theile die Organe des Inſtincts ſein
möchten, der es treibt, Nahrung zu ſich zu nehmen. Aehn—
liche Windungen zeigen ſich auch im Gehirne des Menſchen.
An ſehr vielen ſtarken Eſſern und Trinkern wurde der
unterſte Theil der zygomatiſchen Grube, die Stelle, welche
nach unten von den Backenknochen, nach oben und den
Seiten hin durch die Organe des Zerſtörungs-, Erwerb—
triebs und des Kunſtſinns begränzt wird, ganz beſonders
voll beobachtet. Dr. Hoppe von Copenhagen, Hr. Georg
Combe aus Edinburgh und Hr. Crook kamen, ohne von
ihren gegenſeitigen Beſtrebungen in dieſer Rückſicht etwas
zu wiſſen, aus den oben im Weſentlichen angeführten Grün—
den zu der Anſicht, daß an der bemerkten Stelle das Or—
gan des Nahrungstriebs zu ſuchen ſei. Uebrigens gilt daſ—
ſelbe zur Zeit noch nicht für unzweifelhaft, daher es auch
noch keine Nummer erhalten hat. Erſt durch weitere Beob—
achtungen kann dieſes Organ feſtgeſtellt werden. Intereſſant
iſt die Bemerkung, daß wie die Organe des Nahrungs—
triebs, Zerſtörungstriebs, Erwerbtriebs und Kunſtſinns kör—
perlich ſich nahe liegen, die entſprechenden geiſtigen Regun—
gen ſich auch ſehr nahe verwandt ſind. Nichts regt den
Zerſtörungstrieb der Hunde und ſelbſt zahmer anderer Haus—
thiere ſo ſehr auf, als eine Störung bei ihrem Freſſen
und Trinken, nichts macht die fleiſchfreſſenden Thiere wü—
thender als angeregte Eßluſt. Bei den weniger zerſtörungs—
ſüchtigen Thieren, z. B. Hamſter, Dohle u. ſ. w. und den
8 *
116 Nahrungstrieb.
Menſchen wird durch den Nahrungstrieb der Erwerbtrieb,
und bei den noch höher ſtehenden das dritte der angränzen—
den Organe: der Kunſtſinn zur Thätigkeit angeregt. Bei einem
jungen Manne, welchen Hr. Simpſon beobachtete, kündigte
ſich von Zeit zu Zeit ein krankhafter Trieb zu ſtehlen durch
außerordentliche Gefräßigkeit an. Sein Organ des Erwerb—
triebs war ſehr groß und ſein Organ des Nahrungstriebs
groß. Trinkwuth iſt oft dadurch geheilt worden, daß der
Patient behandelt wurde, als litte er an einer Gehirn-Ent—
zündung. Ein Patient, welcher ungeachtet unaufhörlichen
Eſſens nicht geſättigt werden konnte und immer „Hunger,
Hunger!“ ſchrie, beklagte ſich über Schmerz an der Stelle,
welche das Organ des Nahrungstriebs einnimmt; einem
andern in ganz gleicher Lage wurden Blutegel an dieſer Stelle
geſetzt, welche ihm Erleichterung brachten !).
Zum Zwecke der Erhaltung der Geſundheit in unge—
ſtörter Kraft wurde dieſer Trieb dem Menſchen verliehen,
der Menſch aber verkennt dieſes nur zu oft und untergräbt
durch Mißbrauch deſſelben das größte Gut des Schöpfers.
Doch wer die ewigen Geſetze der Natur verachtet, muß zu
ſeinem Schmerz erfahren, daß ſie wirken, ob er ſie kennt
und beobachtet, oder verkennt und vernachläſſigt. Jede
Abweichung vom Wege der Natur iſt mit Schmerzen ver—
bunden. Sie ſind die Weiſer, die uns von böſen Pfaden
zurückſchrecken ſollen.
1) Combe's Syſtem S. 167.
II.
Emptindungsvermögen oder Gefühle.
9. 17.
10. Selbſtgefuͤhl ).
Dieſes Organ wird durch die auf den Tafeln III, V und
VI mit XII bezeichneten Windungen des Gehirns, welche
auf der Mittel-Linie unmittelbar hinter und unter dem
Scheitel des Kopfes liegen, gebildet. Aeußerlich iſt es et—
was oberhalb der hinteren Winkel der Seitenwandbeine,
umgeben von den mit Einheitstrieb, Beifallsliebe und Fe—
ſtigkeit bezeichneten Stellen des Schädels zu ſuchen. Wenn
1 Fig. 27. Fig. 28.
Selbſtgefühl mittelmäßig. Selbſtgefühl groß.
nn
+ \ 20
» >
.
Francois Cordonnier.
S. auch Tafel IX zu S. 93.
118 Selbſtgefühl.
es groß iſt, ſo erhebt ſich der Kopf in jener Richtung vom
Ohre aus weit nach oben und hinten. Durch daſſelbe wird
gerade die Abdachung des Kopfes nach ſeinem hintern Theile
gebildet.
Dr. Gall entdeckte dieſes Organ zuerſt an einem Bett—
ler, welcher zu ſtolz geweſen war, zu arbeiten, und dadurch
gezwungen wurde zu betteln; ſpäter an einem Arzte zu
Wien, welcher bei ärztlichen Conſultationen ſich immer vor—
drängte, ſelbſt den Vorrang vor Aerzten haben wollte,
welche älter als er waren, und darauf beſtand, ſeine Unter—
ſchrift immer zuerſt niederzuſchreiben. An einem Mädchen
von achtzehn Jahren zu Heidelberg, welche es nicht ertra—
gen konnte, daß man vertraulich mit ihr ſprach, deren
Worte und Geſichtszüge Zuverſicht und Anmaßung verkün—
deten, fand er dieſes Organ auch ſtark entwickelt. Sie trug
ihren Kopf hoch und etwas nach hinten zu. Obgleich von
niederm Stande, wählte ſie ihren Umgang nur aus Per—
ſonen höhern Standes. Er fand das Organ ferner groß
an den Häuptern der Anführer von Räuberbanden, deren
Stolz ihnen dieſe Auszeichnung verſchafft hatte); an dem
Kopfe eines Fürſten zu Wien, welcher ſich durch ſeinen
lächerlichen Stolz, geſuchten Gang und ſtetes Anführen
feiner Ahnen auszeichnete?). An den Büſten von Cäſar
und Napoleon erſcheint es groß. Es iſt groß an dem
Haupte der Engländer, während bei den Franzoſen das
Organ der Beifallsliebe ſtärker entwickelt iſt, und ein cha—
I) 6. Combe’s Notes on America Vol. I. S. 335. Vol. II. S.
279. Combe's Syſtem S. 208. Gall, sur les fonctions du cer-
veau Vol. IV. p. 248 — 274.
2) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 240 — 247. Die Be—
merkung Gall's, daß alle Thiere, welche ſich in beſonders hochgelege—
nen Gegenden aufhalten, z. B. die Gemſe und der Steinbock, dieſes
Organ ſtark entwickelt beſitzen, iſt ganz erklärlich, wenn wir erwägen,
daß die eigentliche Grundlage des Selbſtgefühls das Gefühl für Unab—
hängigkeit iſt, und nur Entfernung von den Mitgeſchöpfen, nament—
lich dem ſtärkern Theile derſelben, uns ſolche ſichert,
Selbſtgefühl. 119
rakteriſtiſcher Unterſchied zwiſchen den Engländern und Fran—
zoſen beſteht darin, daß die erſteren mehr Selbſtgefühl, die
letzteren mehr Beifallsliebe beſitzen. Herr Georg Combe
beobachtete in Nordamerika einen Mann, welcher früher als
Bauchredner öffentlich aufgetreten war und ſich ſo ſeinen
Lebensunterhalt verdient hatte. Er bekam in Folge eines
Steinwurfs eine Geſchwulſt, welche ſeine Organe des Selbſt—
gefühls und der Beifallsliebe drückte, und in demſelben Maße,
in welchem dieſer Druck zunahm, bildete ſich eine ihm frü—
her fremde Scheu vor öffentlichem Auftreten aus und ver—
minderte ſich das Selbſtvertrauen, das ihm früher eigen
geweſen war. Er hörte auf, Bauchredner zu ſein und ward
Kellner in einem Gaſthauſe. Gall!) erzählt einen Fall, wo
ein heftiger Stoß, welcher den Kopf eines franzöſiſchen Of—
ficiers an der Stelle dieſes Organs traf, eine gerade ent—
gegengeſetzte Folge hatte. Während der durch den Stoß
verurſachten Krankheit glaubte ſich der Patient wogend in
den Licht-Regionen des Himmels, und während der Zeit
ſeiner Reconvalescenz bekundete er, der zwar immer ſtolz,
jedoch bei geſundem Verſtande geweſen war, einen durch—
aus krankhaften Hochmuth und wahnſinnigen Stolz. Es
iſt augenſcheinlich, daß der Stoß eine krankhafte Aufregung
dieſes Organs veranlaßte, während die Geſchwulſt des vo—
rigen Falles eine Herabſtimmung der Thätigkeit deſſelben zur
Folge hatte. An einem Mädchen, deren Gehirn durch eine
Operation am Schädel bloßgelegt worden war, fühlte Hr.
G. Combe, durch die es bedeckende Haut, die Regungen
dieſes Organs, ſo oft die entſprechenden Gefühle in dem
Kinde geweckt wurden.
Die Männer beſitzen dieſes Organ in der Regel grö—
ßer als die Frauen, ſowie das entſprechende Gefühl. An
Wahnſinnigen, welche ſich einbildeten, irgend etwas ſehr
Großes und Hohes — Kaiſer, Könige, Gott, Chriſtus,
die Jungfrau Maria u. ſ. w. zu ſein, und welche ſich in
I) Vol. IV. p. 288 — 293.
120 Selbſtgefühl.
dieſem Wahne ſehr ſtolz, herriſch und gebieteriſch benahmen,
iſt es wiederholt groß bemerkt worden. In Uebereinſtim—
mung mit obiger Bemerkung iſt es auffallend, daß mehr
Männer als Frauen durch eine krankhafte Aufregung dieſes
Organs ihrer geiſtigen Geſundheit verluſtig gehen.
Die entſprechende geiſtige Kraft beruht auf dem Ge—
fühle der Wichtigkeit des eigenen Ichs und folgeweiſe alles
| deſſen, was mit dieſem in Verbindung ſteht: feines Eigen:
thums, ſeiner Anſprüche, ſeiner Verwandten, Freunde u. ſ. w.
| In mäßiger Entwickelung verleiht es daher denjenigen Grad
von Selbſtvertrauen und Selbſtzufriedenheit, welcher zu
einem erfolgreichen Wirken und glücklichem Leben unent—
behrlich ſind. Es hält uns fern von gemeinen Bekannt—
ſchaften und frei von der Annahme niedriger Gewohnheiten
und dem Gebrauche unedler Ausdrücke, kurz von alle Dem,
| was unferer Würde Eintrag thun könnte, und folgeweife
| auch von manchem Böſen. Es regt uns auf, und verſetzt
| uns in einen hohen Grad von Unwillen, wenn Jemand
einen Eingriff in unſere Rechte wagt oder dieſelben nicht
anerkennen will, und giebt uns dadurch Kraft, unſer Ei—
0 genthum zu vertheidigen, unſere Anſprüche geltend zu machen,
fremden Anmaßungen zu widerſtehen oder uns denſelben zu
entziehen. So wird das Selbſtgefühl die Grundlage des
Sinnes für Unabhängigkeit.
Ein zu ſtarkes und, namentlich nicht durch die höhe—
ren Gefühle, gezügeltes Selbſtgefühl artet in Hochmuth,
| Anmaßung, Eigendünkel, Tadelſucht und Selbſtüberſchätzung
aus. Der Muſiker wird unter ſeinem Einfluſſe geneigt ſein,
| das fremde Muſikſtück, das er ſpielt, mit ſelbſterfundenen
| Ausſchmückungen zu überladen; der Redner fich des Wor—
tes ich, mein u. ſ. w. oft zu bedienen und ſeine Indivi—
dualität mehr in den Vordergrund zu ſtellen, als der Ge—
genſtand der Rede verlangt; der Sammler beſonders auf
ſolche Dinge Werth zu legen, die außer ihm Niemand be—
ſitzt. In Verbindung mit Zerſtörungstrieb und verwunde—
ter Beifallsliebe führt das Selbſtgefühl zu Haß und Ver—
Selbſtgefühl. 121
achtung Anderer. In Verbindung mit mangelhafter Ge—
wiſſenhaftigkeit macht es empfindlich und unfähig, Tadel ruhig
anzunehmen und die eigenen Fehler einzuſehen und anzuer—
kennen. In Verbindung mit Verheimlichungstrieb und
mangelnder Gewiſſenhaftigkeit führt es oft Denjenigen, der
Unrecht gethan hat, dahin, ſich laut über erlittenes Unrecht
zu beklagen, um auf ſolche Weiſe wenigſtens Vorwurf und
Strafe von ſich abzuwenden. Einer der großen Vortheile
der Höflichkeit und guten Erziehung beſteht darin, die Aeu—
ßerungen, wenn auch nicht die innern Regungen zu ſtarken
Selbſtgefühls zu mäßigen. Wie Trunkenheit immer die
vorwaltenden Eigenſchaften beſonders anregt, ſo auch vor—
waltendes Selbſtgefühl. Trunkene dieſer Art ſind unaus—
ſtehlich. Wenn dieſes Organ beſonders thätig iſt, ſo giebt
es dem ganzen Körper eine Richtung nach oben und ein
wenig nach hinten. Der Kopf erhält dadurch eine ſteife,
abſtoßende Haltung.
Zu ſchwaches Selbſtgefühl führt dagegen zu übertrie—
bener Demuth, welche, ſo ſchön ſie Gott gegenüber iſt,
doch im Verkehre der Menſchen keine Achtung einflößt, und
daher Leuten dieſer Gemüthsart keinen Einfluß auf ihre Mit—
menſchen und folgeweiſe keine kräftige Wirkſamkeit gewin—
nen läßt. 5
Viel zu ſchwach iſt dieſes Gefühl namentlich bei uns
Deutſchen und in National-Angelegenheiten. Daher iſt es
uns ſeit Jahrhunderten ſo übel ergangen, daher haben wir
eine Provinz nach der andern verloren, und haben ſie nicht
einmal zurück behalten, als ſie wieder in unſere Gewalt
gekommen waren. Das Volk, das ſich ſeinen Herrſchern ge—
genüber nicht fühlt, kann ſich auch den Fremden gegenüber
nicht fühlen. Wohl gehorchen Kinder williger dem Worte
des Vaters als kräftige Männer, allein im Augenblicke der
Noth wird der Vater, der ſeine Kinder in der Unmündig—
keit erhielt, vielleicht zu ſpät entdecken, daß Kinder ihn und
ſich nicht zu vertheidigen vermögen. Es giebt eine Unmün—
digkeit des Geiſtes, wie es eine Unmündigkeit des Alters
122 Beifallsliebe
giebt. Die erſtere iſt ſchlimmer als die letztere, ihr hilft
nicht wie dieſer die Zeit ab.
918.
11. Beifallsliebe.
Die auf den Platten II und III mit XI bezeichneten
Gehirn-Windungen bilden dieſes Organ. Aeußerlich iſt es
zu ſuchen an beiden Seiten des Organs des Selbſtgefühls,
etwa einen halben Zoll von der Lambda-Nath, umgeben
von den Organen des Einheitstriebs, der Anhänglichkeit,
der Sorglichkeit und der Gewiſſenhaftigkeit. Wenn es groß
iſt, giebt es dem Kopfe nach oben und hinten zu eine auf—
fallende Fülle und Breite).
Dr. Gall wurde zuerſt auf dieſes Organ aufmerkſam
beim Beſuche einer Irren-Anſtalt, worin eine Frau, welche
ſich einbildete, Königin von Frankreich zu ſein, ein raſt—
loſes, albernes Treiben, unerſchöpfliche Schwatzhaftigkeit,
die übertriebenſte Zuvorkommenheit, ein begieriges Ankündi—
gen hoher Geburt und überſchwenglicher Reichthümer, Ver—
ſprechungen von Gunſt und Ehre in abgeſchmackter Miſchung
an den Tag legte. Sie hatte dieſes Organ ſehr groß).
An demſelben Kinde, an welchem Hr. Georg Combe die
Bewegungen des Organs des Selbſtgefühls beobachtete, und
in gleicher Weiſe, beobachtete er auch diejenigen des Or—
gans der Beifallsliebe. Durch eine Reihe anderer Beob—
achtungen wurde das Organ feſtgeſtellt. Männer beſitzen
es in der Regel ſchwächer entwickelt als Frauen, wie denn
auch weniger Männer als Frauen einer krankhaften Affe—
ction deſſelben erliegen. Die amerikaniſchen Indianer, welche
eine außerordentliche Liebe zum Putze haben, beſitzen es
1) S. Tafel V zu S. 88. Spurzheim, observ. Taf. IV. Fig. 1.
2) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 247 — 254. Combe's
Syſtem S. 219. @all, sur les fonctions du cerveau Vol. IV. p. 296315.
Beifallsliebe. 123
ſehr ſtark entwickelt. Wenn das Organ kräftig wirkt, fo
giebt es der Stimme einen ſanften, einſchmeichelnden Ton.
Die Beifallsliebe bedingt den Wunſch, zu gefallen,
woraus das Streben nach Lob und Ruhm hervorgeht. Eine
gehörige Gabe dieſes Vermögens iſt zu einem liebenswür—
digen Charakter durchaus nothwendig, denn es giebt uns
den Wunſch, uns Andern angenehm zu machen, es veran—
laßt uns daher, aus Furcht Anſtoß zu erregen und uns
dadurch Mißbilligung zuzuziehen, unzählige kleine Aeuße—
rungen der Selbſtſucht zu unterdrücken und manche Eigen—
thümlichkeiten des Temperaments und Charakters im Zaume
zu halten; es iſt die Scheibe, auf die der Witz zielt, wenn
er durch Ironie unſere Thorheiten verſcheuchen will. Der
Gegenſtand ſeines Verlangens iſt Beifall im Allgemeinen,
und die Richtung, worin man Befriedigung dafür ſucht,
hängt von den begleitenden Vermögen ab. Sind die mo—
raliſchen Gefühle und die Kräfte der Intelligenz ſtark, ſo
wird die Beifallsliebe zu geiſtigen Beſtrebungen und dem
Verlangen nach ehrenvollem Rufe anregen. Wenn dagegen
die niederen Triebe vorherrſchen, ſo kann das Individuum
ſelbſt dahin kommen, ſich den Beifall Anderer durch ſtarkes
Trinken, vieles Duelliren und ſonſtigen Unfug zu erwerben.
Aus einer ſtarken Entwickelung dieſes Organs geht
immer die Erwägung hervor: was wohl die Welt von uns
ſagen und denken werde. Dadurch wird die Kraft und die
Unabhängigkeit des Charakters nicht ſelten untergraben, und
der Menſch wird haltungslos, ängſtlich und unglücklich.
Die Beifallsliebe erhebt dann die bloßen Ausſprüche der
Geſellſchaft, worin man ſich bewegt, und der Mode zum
höchſten Geſetzbuch, welchem Moral, Religion und guter
Geſchmack weichen müſſen. Unter dem Einfluß ſolcher Ge—
ſetze iſt es nicht möglich, auf dem Wege der Tugend fort—
zuſchreiten, feſte Grundſätze irgend einer Art zu verfolgen,
denn die Ausſprüche der Geſellſchaft ſtehen nicht ſelten in
dem ſchreiendſten Widerſpruch mit den ewigen Grundſätzen
der Wahrheit, der Liebe und der Reinheit, und ſie wech—
124 Beifallsliebe.
ſeln mit den Umſtänden und Zeitverhältniſſen. Nicht ſelten
iſt es der Beifallsliebe in ihrer Ausartung zuzuſchreiben,
daß Menſchen von ſonſt guten Anlagen ſich in den Fall
begeben, die Sache des Rechts, der Freiheit und des Vater—
landes zu verlaſſen. In Verbindung mit Zerſtörungstrieb
entwickelt ſich aus der Beifallsliebe der Neid, in Verbin—
dung mit dem Geſchlechtstriebe die Eiferſucht. In demſel—
ben Maße, als der eitele Menſch nach Auszeichnung trachtet,
iſt ihm diejenige ſchmerzlich, welche ihm vorenthalten und
einem Andern zu Theil wird.
Schon bei Kindern ſieht man übrigens ſehr deutlich,
daß das Maß der Beifallsliebe nicht gleich vertheilt iſt.
Das eine Kind kann durch den Sporn deſſelben zur höch—
ſten Anſtrengung ſeiner Kräfte angeregt werden, während
er auf das andere nur ſehr ſchwach wirkt. Dieſe Verſchie—
denheit begleitet den Menſchen von der Wiege bis zum Grabe,
nur die äußeren Verhältniſſe, die Mittel der Befriedigung
dieſes Gefühls wechſeln, das Gefühl ſelbſt bleibt in der
Regel daſſelbe.
Wer aber auf der andern Seite zu wenig Beifallsliebe
beſitzt, kümmert ſich zu wenig um die Meinung und den
guten Willen Anderer, und entbehrt ſo einen mächtigen
Sporn der Thatkraft. Die Menſchen, welche durch die
höheren, moraliſchen Empfindungen geleitet werden, ſind
ſelten; in Ermangelung dieſer bildet die Beifallsliebe eini—
gen Erſatz. Sie treibt den Handwerker, den Künſtler, den
Staatsbeamten, den Soldaten auf dem Felde ſeiner Wirk—
ſamkeit raſch vorwärts, auf welchem er ohne dieſen Sporn
ſich oft ſchläfrig bewegen würde. Menſchen mit wenig
Beifallsliebe zeichnen ſich aus durch ein rückſichtsloſes Be—
nehmen, welches auszuſprechen ſcheint: halte davon, was
du willſt, mir iſt es einerlei!
Die Beifallsliebe macht uns bereit, denjenigen Menſchen
zu dienen, die unſerer Hülfe am wenigſten bedürfen, das Wohl—
wollen Derjenigen zu erwerben, denen unſer Beiſtand von wah—
rem Nutzen iſt. Sie wird nach dem Beifalle der Großen,
Beifallsliebe. 125
Mächtigen, Reichen ſtreben, während das Wohlwollen nur
bei den Kleinen, den Schwachen, den Armen Beſchäftigung
findet. Die Beifallsliebe bildet die eigentliche Grundlage
der nichtsſagenden Alltags-Höflichkeit mit ihrer ganzen
Charakterloſigkeit, während das Wohlwollen diejenige der
chriſtlichen Liebe bildet.
Das Selbſtgefühl artet zum Stolze, zum Hochmuth
und zur Herrſchſucht, die Beifallsliebe zur Eitelkeit, zum
Ehrgeiz und zur Ruhmſucht aus. Der Stolze erwartet, daß
alle Welt zu ihm komme und ſein Verdienſt anerkenne;
der Eitele klopft überall an, um Aufmerkſamkeit zu erre—
gen und bettelt gewiſſermaßen um die geringſte Ehrenbe—
zeugung. Der Stolze verachtet die Auszeichnungen, welche
das Glück des Eiteln ausmachen, und wird durch unzartes
Lob verletzt und beleidigt. Der Eitele athmet mit Luſt ſelbſt
den gröbſten Weihrauch ein, den man ihm ſtreut !).
Während das Organ des Selbſtgefühls bei vorwalten—
der Thätigkeit dem ganzen Körper eine ſteife Haltung giebt,
verleiht dasjenige der Beifallsliebe ihm eine ſchwankende,
unbeſtimmte, von einer Seite nach der andern alternirende.
Dieſer Gegenſatz zeigte ſich auch in den Geſichtszügen. Die-
jenigen des Stolzen ſind mehr gerade, diejenigen des Eiteln
mehr wellenförmig.
Menſchen und Thiere zahlen der Beifallsliebe ihren
Tribut, ſelbſt die Affen putzen ſich gern, das Pferd freut
ſich, von ſeinem Herrn Zeichen der Zufriedenheit zu erhal—
ten, der Hund verſteht ſchon den Blick des Tadels und iſt
empfindlich für denſelben?). Der Wilde begnügt ſich unter
ihrem Einfluß mit jedem Bande, mit jeder Zierrath; der
civiliſirte Menſch will, daß ſein Band, ſein Schmuck ent—
weder durch die Mode oder durch eine andere Autorität
geheiligt ſei. Dann trägt er es aber mit großem Behagen.
I) Gall, Vol. IV. p. 297.
2) Gall führt S. 317 f. die intereſſanteſten Beiſpiele hierfür an.
126 Beifallsliebe.
Luxus und Prachtliebe haben in ihr ihre Quelle. Viele
würden ſich um Künſte, Wiſſenſchaften und Gewerbe
wenig kümmern, wenn ſie nicht wünſchten, für Beförderer
von Wiſſenſchaft, Kunſt und Gewerbfleiß zu gelten.
Die Eitelkeit der Frauen iſt im Allgemeinen viel we—
niger ſtörend als diejenige der Männer. Titel und Ordens—
bänder liegen dem geſunden menſchlichen Gemüthe viel fer—
ner als Blonden, Spitzen und Diamanten.
Artet die Beifallsliebe zum Ehrgeiz und zur Ruhm—
ſucht aus, dann bewegt ſie ſich in ihrer höchſten Sphäre,
richtet am meiſten Unheil an und wird Demjenigen, der
ſie hegt, zum immer nagenden Wurme, weil das Selbſt—
gefühl der Mitmenſchen in demſelben Maße zum Widerſtand
aufgefordert wird, in welchem ein anderer ſich über ſie erhebt,
den Ehrgeizigen unausgeſetzt an ſeiner ſchwachen Seite angreift
und ihn aufs empfindlichſte verletzt. Themiſtokles hat die—
ſes im Laufe ſeines vielbewegten Lebens empfunden. Sein
Kopf, wie er uns aufbewahrt iſt, zeigt eine ſehr ſtarke Ent—
wickelung des Organs der Beifallsliebe. Es iſt bekannt,
daß er oft ſagte, die Trophäen des Miltiades BR ihn
nicht fchlafen.
Sorglichkeit oder Behutſamkeit. 127
$ 19.
12. Sorglichkeit oder Behutſamkeit ).
Ungefähr in der Mitte des Scheitel- und Seitenwand—
beins, da wo gemeiniglich die Verknöcherung deſſelben ihren
Anfang nimmt, findet ſich das Organ der Sorglichkeit. Es
iſt umgeben von den Organen der Beifallsliebe, der Anhäng—
lichkeit, des Verheimlichungstriebs, des Bekämpfungstriebs
und der Gewiſſenhaftigkeit, und wird gebildet durch die mit
X auf den Tafeln II, III und IV bezeichneten Windungen.
Dr. Gall bemerkte dieſen Gehirntheil zuerſt ſehr groß
an zwei in jeder andern Beziehung ſehr verſchiedenen, je—
doch darin übereinſtimmenden Perſonen, daß ſie beide au—
1) Fig. 29. Fig. 30.
Sorglichkeit groß. Sorglichkeit groß.
Ein Knabe von der Inſel Ceylon
von hinten. von oben.
Fig. 31.
Sorglichkeit klein.
S. auf Tafel V zu S. 8
128 Sorglichkeit oder Behutſamkeit.
ßerordentlich vorſichtig, ängſtlich und voll Bedenklichkeiten
waren. Auch zwei Banquiers zu Wien, die ihre Geſchäfte
mit großer Vorſicht führten und nie eine Unternehmung
machten, ohne vor allen Wechſelfällen gedeckt zu fein, be—
ſaßen das Organ in ſehr ſtarker Entwickelung. Bei Mili—
tärperſonen, welche kein anderes Verdienſt hatten als eines
Handſtreichs fähig und gute Parteigänger zu ſein, fand
Gall es ungewöhnlich klein, dagegen groß bei allen Anfüh—
rern, welche ſich den Ruf, große Generale zu ſein, erwor—
ben hatten und deren Unternehmungen weit voraus berechnet
waren. Spätere Beobachtungen beſtärkten ihn in ſeiner
Vermuthung, daß dieſes Organ der Sitz der Sorglichkeit ſei.
Das Organ iſt beinahe durchgehends groß bei Kindern
und ſcheint daher ſchon in zartem Alter mehr entwickelt zu
ſein als manche andere Organe: eine weiſe Vorſorge der
Natur, da nie mehr Vorſicht zur Sicherheit des Men—
ſchen erfordert wird, als während der hülfloſen Zeit der
Kindheit. Kinder, welche reichlich damit ausgeſtattet ſind,
kann man ſicher ihrer eigenen Obhut anvertrauen; wäh—
rend ſolche, bei denen es mangelhaft iſt, trotz aller Auf—
ſicht, ſich immer in Gefahren ſtürzen werden.
An dem germaniſchen Kopfe, den engliſchen und ſchot—
tiſchen mit eingeſchloſſen, iſt das Organ im Verhältniß zu
dem franzöſiſchen groß. Es iſt größer am Kopfe der Frau
als an dem des Mannes. Groß insbeſondere an den Köpfen
der Thiere, welche ſich nur bei der Nacht herauswagen,
wie die Eulen und Fledermäuſe, welche zu ihrer Sicher—
heit Schildwachen ausſtellen, wie die wilden Gänſe, Gem—
ſen, Kraniche, Staare und Weihen, größer am Kopfe des
Weibchens als des Männchens, und bei allen Thier-Claſſen,
von welchen dieſes nachgewieſen iſt, wie z. B. den Katzen,
Eichhörnchen, Bären u. ſ. w. iſt es bekannt, daß in der
Regel 10 oder 20 Männchen gefangen oder getödtet wer—
den, bevor ein Weibchen den Nachſtellungen der Jäger erliegt.
Bei Menſchen und Thieren findet ſich in Betreff der
Sorglichkeit eine große Verſchiedenheit. Einzelne Thiere
Sorglicheit oder Behutſamkeit. 129
zeichnen ſich aus durch ihre Vorſicht, während andere in
alle ihnen geſtellte Fallen gehen. Der Fuchs z. B., wel—
cher junge Wildſchweine entdeckt hat, ſpringt, ehe er dieſel—
ben wegnimmt, mit einer, dem Gewichte dieſer Thiere un—
gefähr gleichen Laſt, auf den Aſt eines Baums, um gewiß
zu ſein, daß er der Verfolgung des Mutterſchweins entge—
hen kann. Verfehlt er im Springen ſeine Beute, ſo übt
er ſich im Springen und mißt die Entfernungen, um ein
anderes Mal glücklicher zu ſein. Die Taube fliegt, ehe ſie
Abends in ihren Schlag zurückkehrt, einige Zeit lang in
großen Kreiſen um ihn, um zu ſehen, ob keine Raubthiere
zu fürchten ſind, und andern Tauben, die ſich im Felde
verſpätet haben, ein Zeichen zum Rückzug zu geben.
Eine mittlere Gabe der Sorglichkeit iſt zu einem vor—
ſichtigen, beſonnenen und überlegten Benehmen durchaus
nothwendig. Sie macht aufmerkſam auf drohende Gefah—
ren, wodurch dieſe allein bei Zeiten bekämpft und beſiegt
werden können. Aus einer momentanen ſtarken Aufregung
dieſes Gefühls entſteht die Furcht, und wenn ſie die Schran—
ken der Selbſtbeherrſchung überſteigt, die Angſt und der
Schrecken. In Verbindung mit vorherrſchendem Empfin—
dungsvermögen, namentlich bei nervöſem Temperamente ent—
wickelt ſich aus der Sorglichkeit, je nach der Verſchieden—
heit ihrer Stärke in verſchiedenen Abſtufungen: Furchtſam—
keit, Aengſtlichkeit und Schreckhaftigkeit; dagegen in Ver—
bindung mit vorherrſchendem Beobachtungs- und Denk—
vermögen, namentlich bei vorwaltendem biliöſen Tempera-
ment, Vorſicht, Beſonnenheit, Klugheit in Wort und That.
Eine krankhafte Aufregung dieſes Triebs führt die peini—
gendſten Beſorgniſſe und Beängſtigungen herbei, welche,
ſo grundlos ſie immer ſind, eben weil ſie nicht aus dem
Verſtande, ſondern aus einem Gefühle und deſſen Organe
hervorgehen, durch Verſtandesgründe eben ſo wenig beſeitigt
werden können als die Gefühle irgend eines Schmerzes,
welche ſich aus der Verletzung eines andern Theils des Kör—
pers entwickeln. So ertheilte Gall in Wien zwei Familien—
9
130 Sorglichkeit oder Behutſamkeit.
vätern ärztliche Hülfe, die in großem Wohlſtande waren, ſich
deſſen ungeachtet aber Tag und Nacht ängſtigten, weil, wie
ſie ſagten, ihre Frauen und Kinder Hungers ſterben müß—
ten. Schon vor ihrer Krankheit waren ſie übrigens als
mißtrauiſche, alles ſchwarz ſehende Menſchen bekannt. Die
Melancholie iſt nichts als eine krankhafte Aufregung dieſes
Gefühls, welche oft durch irgend ein trauriges Ereigniß her—
beigeführt wird, nach den Umſtänden ſich im Laufe der Zeit
beruhi er i ahnſinn ausartet. In den mei Ir⸗
beruhigt oder in Wahnſinn a tet. In den meiſten Ir
renhäuſern giebt es Melancholiſche, welche überall unſicht—
bare Feinde ſehen, in beſtändiger Angſt ſind und ſich ſo—
wohl vor Menſchen als Geſpenſtern fürchten). Wenn das
Organ vorherrſchend thätig iſt, fo giebt es dem Körper eine Rich—
tung nach oben und hinten; der Menſch ſtellt ſich auf die Zehen,
in einer dem Acte der Gefahr entgegengeſetzten Richtung.
Die Augen weit offen, eilen von einer Seite zur andern,
der Kopf und mehr oder weniger der ganze Körper nimmt
an dieſer rotirenden Bewegung Antheil. In Verbindung
mit ſtarkem Zerſtörungstriebe führt übertriebene Sorglich—
keit häufig zum Selbſtmorde. Als Hr. Georg Combe in
England und Amerika Vorleſungen hielt, kamen verſchie—
dene Perſonen, welche dieſelben gehört, zu ihm und ſag—
ten ihm, daß ſie den von ihm beſchriebenen Empfindun—
gen krankhafter Aufregung dieſes Organs ausgeſetzt ſeien,
und einen großen Troſt darin fänden, zu vernehmen, daß
dieſe Gefühle nicht auf eine Geiſteszerrüttung, ſondern nur
auf eine Störnng eines Organs des Gehirns hinwieſen.
Bei angemeſſener, nach dieſem Geſichtspunkt eingreifender
Heilmethode wurden ſie geheilt, während bei anderer Be—
handlung zu befürchten geweſen wäre, daß ſich Wahnſinn
aus ihren krankhaften Zuſtänden entwickeln möchte.
Menſchen dagegen, welche ſehr wenig Sorglichkeit be—
ſitzen, entbehren des Inſtincts, der ſie auf Gefahren auf—
I) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 254 — 275. Combe's
Syſtem S. 226. Spurzheim, on Phrenology p. 179 - 187. Gall,
sur les fonctions du cerveau Vol, IV p. 316 — 377. z
Das Wohlwollen. 131
merkſam macht, und werden in der Regel früher oder ſpä—
ter in der einen oder andern Weiſe Opfer ihrer mangeln—
den Umſicht.
$. 20.
13. Das Wohlwollen ).
Das Organ dieſes Gefühls liegt an der Tafel III, V
und VI des Gall'ſchen Atlas mit XIII bezeichneten Stelle.
Aeußerlich zeigt es ſich an der oberen Seite des Stirnbeins,
unmittelbar vor der Fontanelle und bildet, in der Mitte
1) Fig. 32. Fig. 33.
Wohlwollen groß. Wohlwollen klein.
Robert Burns. Der Mötder Griffiths,
Wohlwollen groß.
Fig. 34. RR
Euſtache, ein Neger von St. Domingo.
9 *
152 Das Wohlwollen.
des Hauptes, einen Theil der Wölbung der Scheitelgegend.
Es iſt leicht zu erkennen und giebt, wenn es groß iſt, die—
ſer Gegend eine in runder Form ſich erhebende Schwellung.
Wenn es klein iſt, ſo iſt der über der Stirn ſich erhebende
Theil des mittlern Hauptes niedrig, flach und eingedrückt.
Dr. Gall entdeckte dieſes Organ zuerſt an dem Kopfe
eines Bedienten, Namens Joſeph, der ſich im Laufe einer
zehnjährigen Dienſtzeit von ſeiner Herrſchaft das Lob ei—
ner unverwüſtlichen, ſeltenen Herzensgüte erworben hatte.
Deſſen Kopfbildung machte ihn aufmerkſam auf diejeni—
gen eines jungen Mannes, den er ſeit ſeiner erſten Kind—
heit kannte und der ſich durch dieſelbe Eigenſchaft auszeich—
nete. Einen dritten Fall eines durch unendliches Wohlwollen
nicht minder ausgezeichneten Gemüths, an welchem ſich wie
an den beiden anderen Köpfen, ungeachtet mannigfaltiger
ſonſtiger Verſchiedenheit das hier beſprochene Organ ſehr
groß fand, beſtätigte die Vermuthungen Gall's über deſſen
Lage. Jetzt iſt daſſelbe durch tauſende ſpäter erfolgter Beob—
achtungen über allen Zweifel erhoben.
Das Organ iſt klein bei Menſchenſtämmen, welche ſich
durch Mangel an Wohlwollen auszeichnen, z. B. den Ca—
raiben ') und nordamerikaniſchen Indianern); groß bei
Solchen, welche dieſes Gefühl in beſonderer Stärke beſitzen.
1 Fig. 35. MR Fig. 36.
Wohlwollen kein. Wohlwollen klein.
Car aibe.
Nordamerikaniſcher
Indianer.
Das Wohlwollen. 133
In den Abbildungen des Tiberius, Caligula, Carra—
calla, Nero, Danton und Robespierre tritt der Mangel
dieſes Organs recht ſchlagend hervor, während im Gegentheil
es ſich in demjenigen Trajan's, Marc Aurel's und des franzö—
ſiſchen Heinrich des Vierten in beſonderer Größe darſtellt.
Es iſt umgeben von den Organen der Ehrerbietung, der
Nachahmung und der Vergleichung.
Das dieſem Organ entſprechende Gefühl erzeugt die
Neigung, unſere Mitgeſchöpfe zu lieben, bei ihren Tugen—
den zu verweilen und über ihre Laſter hinwegzuſehen. An—
hänglichkeit kettet uns an Freund und Vaterland, aber
Wohlwollen bringt uns das ganze Menſchengeſchlecht nahe.
Es verleiht uns Gefühl für die Leiden Anderer und den
Wunſch, ſie zu lindern; es macht uns theilnehmend für ihre
Freuden und thätig, ihnen ſolche zu bereiten. Es treibt
uns zu helfen, wo wir können, und von unſern Mitmen—
ſchen Unrecht ohne Haß und Rache zu dulden, wo wir
müſſen; es iſt die Quelle der Nachgiebigkeit im häuslichen
und geſelligen Leben. Nur wer Wohlwollen beſitzt, wird
zarte Rückſicht auf die Lebensgewohnheiten, Eigenthümlich—
keiten und Bedürfniſſe ſeiner Freunde und Genoſſen neh—
men, wird mild in ſeinem Urtheil ſein und ſeinen Einfluß
benutzen, dem Wunſche Anderer Erfüllung zu bereiten. Der
üblen Laune, dem Stolze und der Eitelkeit ſetzt das Wohl—
wollen Schranken, dem Ernſte giebt es eine Beimiſchung
von Heiterkeit, der Strenge eine glattere Form, der Höf—
lichkeit ihren eigentlichen Gehalt. Die Schwerfälligkeit er—
hält durch das Wohlwollen einen Ausdruck, der ſie vergeſ—
ſen macht. In Verbindung mit dem Leichtſinn begründet
es die Hoffnung auf Beſſerung. Ueberall erweckt es Ver—
trauen, Zuneigung und Gegenliebe, wo es ſelbſt nicht in
tiefem Schlummer liegt. Es iſt eine reiche Quelle der
Glückſeligkeit, es verleiht allen Eindrücken von außen einen
freundlichen, lieblichen Charakter, ſtimmt die Seele zur
Dankbarkeit für die Freuden, die uns unſere Mitmen—
ſchen bereiten, zur Großmuth und Verſöhnlichkeit gegen
134 Das Wohlwollen.
Feinde, es nimmt auch Fremde in den Kreis der Liebe auf
und verhütet kalte Abſperrung nach außen hin. Es iſt die
Grundlage der Nächſtenliebe, wie ſie Paulus 1 Cor. 13 ſo
ergreifend ſchildert ). Die Liebe vereint, während die Gleich—
gültigkeit entfernt und der Haß ſcheidet.
Mangel an Wohlwollen bringt zwar nicht Grauſam—
keit oder irgend ein ſelbſtthätig ſchlechtes Gefühl hervor,
allein er läßt alle eben beſchriebenen Erſcheinungen nicht zu
Tage kommen. Ein durch Verſtand und Gewiſſenhaftigkeit
nicht gezügeltes Wohlwollen führt dagegen zur Verſchwen—
dung, unbeſonnener Nachgiebigkeit, Selbſtaufopferung und
ſo zum Ruine ſeiner ſelbſt, oft ohne dem Nächſten gedient
zu haben.
Es iſt eingewendet worden, daß die Natur nicht zu
gleicher Zeit ein Vermögen des Wohlwollens und ein ande—
res der Zerſtörung in daſſelbe Gemüth gepflanzt haben könne.
Allein hat ſie nicht in dieſelbe Welt Regen und Sonnen—
ſchein, lachende Fluren und ſchreckende Einöden geſetzt? Das
Schwert der Gerechtigkeit, das Werkzeug der Zerſtörung
ſoll zu Zwecken des Wohlwollens dienen. Die Kriegsheere
führen neben den Kanonen, welche zerſtören, auch Salben,
welche heilen, mit ſich. Auf dem Gegenſatze zwiſchen Erſchaffung
und Zerſtörung beruht die Welt, durch den Gegenſatz zwi—
ſchen Centripetal- und Centrifugal-Kraft werden die Sterne
des Himmels in ihren Bahnen gehalten ?).
1) Die Liebe iſt langmüthig und freundlich, die Liebe eifert
nicht, die Liebe treibet nicht Muthwillen, fie blähet ſich nicht; fie ſtel—
let ſich nicht ungeberdig; ſie ſuchet nicht das Ihre, ſie läßt ſich nicht
erbittern; ſie trachtet nicht nach Schaden. Sie verträgt Alles, ſie
— — duldet Alles. Die Liebe hört nimmer auf.
2) Gall's vollftändige Geiſteskunde S. 398. Combe's Syſtem
S. 234. Spurzheim, on Phrenology p. 187 190. Gall, sur les
fonctions du cerveau Vol. V. p. 254 — 327.
Die Ehrerbietung. 135
§. 21.
14. Die Ehrerbietung ).
Den Mittelpunkt der Scheitelgegend des Hauptes nimmt
das Organ der Ehrerbietung ein. Es wird gebildet durch
die Tafel II, III, V und VI des Gall'ſchen Atlas mit XIV
bezeichneten Gehirnwindungen, und liegt unter der großen
Fontanelle, umgeben von den Organen des Wohlwollens,
der Hoffnung und der Feſtigkeit. Ueber ſeine Entdeckung
giebt uns Gall folgenden Bericht. Seines Vaters Familie
beſtand aus zehn Kindern, die beim Genuſſe derſelben Er-
ziehung doch ſehr verſchiedene Talente und Neigungen hat—
ten. Einer ſeiner Brüder zeichnete ſich ſchon von Kindheit
an durch einen ſtarken Hang zur Religion aus. Seine
Spielſachen waren Kirchengeräthe, das er ſelbſt aus Holz
ſchnitzte, Meßgewänder und Chorhemden aus Papier. Er
betete und ſagte den ganzen Tag über die Meſſe, und konnte
er nicht die Kirchen beſuchen, ſo beſchäftigte er ſich damit,
zu Hauſe ein Crucifix von Holz zu ſchnitzen und zu ver—
golden. Sein Vater hatte ihn zum Handel beſtimmt, er
hatte aber dagegen eine Abneigung, weil, wie er ſagte, die—
fer Stand oft nöthig mache, zu lügen. Im dreiundzwan-
zigſten Jahre hielt er es nicht länger aus, und da er keine
1) Fig. 37. Fig. 38.
Wohlwollen und Feſtigkeit groß, Ehrerbietung groß.
Ehrerbietung mangelhaft.
Ein Mädchen.
Dr. Hette.
156 Die Ehrerbietung.
Hoffnung hatte, feine Studien machen zu dürfen, fo ent—
floh er aus dem Hauſe und wurde Eremit. Nun erlaubte
ihm, auf Dr. Gall's Bitten, ſein Vater zu ſtudiren. Fünf
Jahre nachher empfing er die Weihe und bis an ſein Ende
lebte er unter Uebungen und Büßungen. Auch in den
Schulen bemerkte Gall, daß unabhängig von andern Ga—
ben, manche Schüler keine Empfänglichkeit für religiöſen
Unterricht haben, während andere ſehr begierig darnach ſind,
daß diejenigen, welche ſich dem geiſtlichen Stande widmen,
entweder junge, gern ſtudirende, fromme, ehrbare und gewiſ—
ſenhafte Leute ſind, die einen innern Beruf zu dieſem Stande
haben, oder ſchlechte, träge und talentloſe Menſchen, welche
nur die Abſicht hegen, ſich auf Koſten Anderer zu ernäh—
ren. Bei den erſten entſtand die Neigung, ohne daß man
wußte wie, und die meiſten beſtimmten ſich gegen die Ab—
ſicht ihrer Eltern zum geiſtlichen Stande.
Dieſe Thatſachen führten Dr. Gall zu der Ueberzeu—
gung, daß es eine angeborene Neigung zur Religion gebe.
Später beſuchte er dann die Kirchen aller Sekten und faßte
beſonders ſolche Individuen ins Auge, die mit der größten
Wärme beteten, oder aber gänzlich in ihre religiöſen Beob—
achtungen verſunken waren, und es ergab ſich daraus die
Beſtimmung des erwähnten Gehirntheils als Organ der
Ehrerbietung. .
Das Organ ift groß bei den Hindus), den Negern?)
1) Fig. 39. 2) Fig. 40.
Ehrerbietung groß.
Neger.
Hindu.
Die Ehrerbietung. 137
und den nordamerikaniſchen Indianern), während ihre Dr:
gane des Schluß-Vermögens klein ſind und alle drei Natio—
nen ſind zum Aberglauben hingeneigt. Es iſt im Allgemei—
nen ſtärker entwickelt bei Frauen als bei Männern, und es
iſt nicht zu verkennen, daß ſie das entſprechende Gefühl im
Allgemeinen ſtärker beſitzen als die Männer. Dr. Gall be—
merkt, daß auf den Bildern von Heiligen), welche ſich
durch Andachtsgefühl auszeichneten, das Organ ſtark her—
vortrete, und daß dieſelbe Kopfbildung auch von den
alten Künſtlern ihren hohen Prieſtern beigelegt worden ſei.
Auch die Bildung der Chriſtusköpfe Raphael's zeigt dieſes
Organ in ſtarker Entwickelung. Es findet ſich groß an den
Köpfen Conſtantin's, Antonius des Frommen, der Heili—
gen Chryſoſtomus, Ambroſius und Anaſtaſius, des Königs
1) S. Fig. 36. S. 132.
2) So erſcheint es namentlich ſehr groß an dem Bilde St. Jo—
hannis auf dem Abendmahl von Leonardo da Vinci.
Fig. 41.
||
138 Die Ehrerbietung.
Stephan 1. von Ungarn, Guſtav Adolph's, Lavater's,
Milton's und Klopſtock's. Oft iſt dieſe Bildung des Ko—
pfes mit ſchwachem Haarwuchſe oder einer ſogenannten Platte
verbunden.
Das Gefühl der Ehrerbietung begründet im Menſchen
den Drang, den Blick nach etwas Höherm zu richten, es
zu verehren und anzubeten. Den Gegenſtand ſeiner Ver—
ehrung weiß es jedoch nicht ſelbſt zu prüfen, denn dieſes
liegt außerhalb des Bereichs dieſes Gefühls. Wie das
Wohlwollen, ſo unterſucht auch die Ehrerbietung nicht, ob
ihr Gegenſtand der ihm gewidmeten Gefühle würdig iſt.
Denn unterſuchen und prüfen iſt die Aufgabe anderer gei—
ſtigen Vermögen. Das Wohlwollen wird zunächſt durch
die Leiden der Mitwelt zu thätiger Beihülfe, durch ihre
Freuden zu lebendigem Mitgefühl aufgefordert. Es kann
ſich aber über ſeinen Gegenſtand täuſchen, verſtellte Leiden
für wahre, erkünſtelte Freuden für wirkliche halten, und ſo
auch die Ehrerbietung. Der natürliche Gegenſtand dieſes
Gefühls iſt das Erhabene, das Große, das Mächtige in
allen ſeinen Modificationen. Der Menſch mit vorherrſchen—
der Furcht wird das Furchtbare, der Menſch mit vorherr—
ſchender Hoffnung das Erhabene verehren, welches ihm eine
freudige Zukunft verſpricht. Der Menſch mit vorherrſchen—
dem Wohlwollen wird ſeine Gebete an einen allgütigen
Vater im Himmel richten, der Menſch mit vorherrſchendem
Zerſtörungstrieb an den Gott, der bis ins dritte Glied die
Sündigen ſtraft. Der denkende Menſch wird nur dasjenige
verehren, was das Denkvermögen für verehrungswürdig er—
klärt, der gedankenloſe wird ſelbſt durch einen Klotz, einen
Steinblock, ein von Menſchenhand gemachtes Bild nicht auf
den Gedanken gebracht, daß der Gegenſtand ſeiner Vereh—
rung, zu dem er als einer höhern Macht aufblickt, tief un—
ter ihm ſteht, der Kraft ſeines Armes nicht widerſtehen könnte.
Nur wer das Gefühl der Ehrerbietung beſitzt, wird
Empfänglichkeit hegen für das Wort, das ihm das Erha—
bene verkündigt, oder für die Ereigniſſe, welche es ihm vor
Die Ehrerbietung. 139
die Augen führen; nur er wird geneigt fein, überall eine
höhere Macht als die Urheberin der Wechſelverhältniſſe des
Lebens zr verehren. Nur er wird ſich beſtreben, dem Wil—
len dieſer höhern Macht zu huldigen und danach ſein Leben
einzurichten. Die Ehrerbietung bildet daher die eigentliche
Grundlage der Religioſität. Was das Wohlwollen den
Gleichen gegenüber, iſt die Ehrerbietung den Höheren ge—
genüber. Was dort Beiſtand und Mitgefühl, iſt hier Dienſt,
Ergebung und Lobpreiſung. Sie erfüllt uns mit Vertrauen
und Zuverſicht in die Führungen, die uns unerforſchlich ſind,
mit Troſt im Leiden und ehrerbietiger Dankbarkeit für die
Gaben, die uns von oben kommen. Sie iſt die Quelle der
Demuth, die im Herzen wohnt und die Gott nur ſieht,
und der Beſcheidenheit, die gern zurückſteht. Sie verleiht
dem Gefühle der Kinder gegen die Eltern, der Schüler ge—
gen die Lehrer, der Unterthanen gegen die Obrigkeit den—
jenigen Ernſt und diejenige Gemeſſenheit, welche die Ver—
ſchiedenheit der Stellung bedingt. Sie bildet die Grund—
lage ausdauernder Verehrung gegen die Fürſten, auch nach—
dem die Sonne des Glücks aufgehört hat, ihnen zu ſchei—
nen; die Jakobiten in England und die Carliſten in Frankreich
bieten hiervon ſprechende Beiſpiele. Ohne dieſes Gefühl
könnte keine gegliederte Geſellſchaft beſtehen. Wenn das
Organ in vorwaltender Thätigkeit iſt, giebt es dem Kopfe
und allen andern Theilen des Körpers eine Richtung nach
vorn und oben. Das Auge blickt zum Himmel, die Arme
erheben ſich, die gefalteten Hände nehmen Theil an der Rich—
tung des Kopfes, der Blicke und der Arme. Die Stimme
iſt ſanft, der Ausdruck ruhig und anbetungsvoll. Die Ge—
bete, welche aus der Wirkſamkeit dieſes Organs hervorge—
hen, haben einen ganz andern Charakter als diejenigen,
welche der Ausfluß eines kalten Verſtandes, einer erheuchel—
ten Frömmigkeit oder der Intoleranz ſind. Letztere werden
die natürliche Sprache der Intelligenz, des Verheimlichungs—
triebs und des Zerſtörungstriebs ſprechen.
Den eigentlichen Gegenſatz der Ehrerbietung bildet das
|
140 Die Ehrerbietung.
Selbſtgefühl. Jene richtet die Blicke von ſich hinweg nach
oben und iſt geneigt, höhern Werth anzuerkennen, dieſe will
nichts über ſich wiſſen. Wer viel Ehrerbietung und wenig—
Selbſtgefühl beſitzt, wird immer geneigt ſein, Gutes von
Demjenigen zu glauben, was Andere thun und ſich unter
deren Leitung zu ſtellen, ſelbſt dann, wenn ſie die Sache
beſſer verſtehen. Im demokratiſchen Staate iſt das Selbſt—
gefühl, im monarchiſchen die Ehrerbietung vorherrſchend.
Wem die Ehrerbietung fehlt, der wird nicht geneigt und
bereit ſein, ſich den Fügungen Gottes zu ergeben und dem
irdiſchen Machthaber Folge zu leiſten. Wer ſie dagegen in
hohem Grade beſitzt, ohne ein entſprechendes Denkvermögen,
Wohlwollen oder Gewiſſenhaftigkeit, verfällt leicht in Bi—
gotterie, Aberglauben, Verehrung alter Sitten und Ge—
bräuche und aller noch ſo abgeſchmackter, wenn nur durch
die Zeit und äußere Anerkennung geheiligter Einrichtungen.
Sie erzeugt in ſolchem Falle das Anſtaunen großer Namen
und Autoritäten in der Religion und Philoſophie, und hemmt
dadurch die Fortſchritte der Wahrheit.
Eine krankhafte Erregung dieſes Organs führt nicht
ſelten Geiſteszerrüttung herbei. Solche Kranke quälen ſich
bei vorwaltender Sorglichkeit mit Skrupeln über ihren Glau—
ben, Angſt für ihr Seelenheil oder die Furcht, zur Sünde
beſtimmt zu ſein, während bei vorwaltender Hoffnung ſie
bereits von eingebildeter Seligkeit ſtrahlen und ſich im Pa—
radieſe oder im Himmel wähnen ).
Manche Metaphyſiker haben zwar dieſes Gefühl auf
den Verſtand zurückführen wollen, allein augenſcheinlich mit
Unrecht, denn der Verſtand bietet ebenſowenig für deſſen
Ausartungen als für deſſen normale Entwickelung, wie wir
ſie eben beſchrieben, irgend einen Erklärungsgrund. Dort
ſteht die Ehrerbietung im Widerſpruch mit dem Denkver—
mögen, und hier iſt es viel zu kalt für die lebenswarmen
1) Zwei intereſſante auf dieſes Organ bezügliche Fälle theilt die
Zeitſchrift für Phrenologie Bd. I. H. 4. S. 467 ff. mit.
Die Ehrerbietung. 141
Erſcheinungen ihrer Thätigkeit. Da die Natur ſelbſt das
Organ der Ehrerbietung in das Gehirn und deſſen entſpre—
chendes Gefühl in die Seele des Menſchen gepflanzt hat,
ſo iſt die Beſorgniß, daß die Religion durch Beweisgründe,
Spott oder Hohn je vertilgt oder auch nur gefährdet wer—
den könnte, ungegründet. Die Formen der Andacht mögen
ſich ändern, beſondere religiöſe Satzungen, welche eben jetzt
an der Tagesordnung ſind, mögen in Verfall gerathen, ſo
lange aber dem Menſchen an Leib und Seele die Bildung
bleibt, die er jetzt beſitzt, ſo wird er immer den Drang
fühlen, nach etwas Höherm aufzublicken, nach einem Sterne
in der Nacht, nach einem Anker in der Noth. Auf die—
ſem Drange hauptſächlich beruht die Religion, und gleich—
wie jedem Drange, der in der Bruſt des Menſchen wohnt,
ein äußerer Gegenſtand entſpricht, dem Nahrungstrieb Speiſe
und Trank, dem Farbenſinne die Blumen der Erde und
die Sterne des Himmels, ſo entſpricht auch dem Drange
der Ehrerbietung ein Gegenſtand und dieſer iſt über allen
andern: die Gottheit.
Zu allen Zeiten und überall hat der Menſch ſich zur
Gottheit hingezogen gefühlt, und alle Völker haben ein
höchſtes Weſen verehrt, das ihre und der Welt Schickſale
lenkt. Mit dem Glauben an Gott und dem religiöſen Cul—
tus iſt es ebenſo, wie mit allen Gaben und Eigenſchaften,
die dem Menſchen durch ſeine Organiſation verliehen ſind.
Niemand erfand den Nahrungstrieb, den Farbenſinn und
das Sprachtalent, ebenſo wenig erfand irgend Jemand das
Verlangen nach Anbetung, das in der menſchlichen Seele
wohnt und nur Gegenſtände ſucht, die ihm Genüge leiſten
können. Daher ſagen Heiden, Juden und Chriſten überein—
ſtimmend, daß Gefühle dieſer Art dem Menſchen angeboren
ſind. Moſes, Seneca, Cicero treffen in dieſer Beziehung
mit den heutigen Chriſten vollkommen zuſammen.
Je nach der Verſchiedenheit der begleitenden Anlagen
wird ſich auch die Ehrerbietung verſchieden äußern. Bei
Ludwig XIV., Philipp II., Alba und Andern bewirkte ſie
142 Die Ehrerbietung.
in Verbindung mit dem Zerſtörungstriebe die grauſamſten
Verfolgungen anders Glaubender; bei Milton und Klop—
ſtock in Verbindung mit der Idealität rief ſie die ſchönſten
Gedichte hervor. Bei einem Wollüſtling, welchen Gall
kannte, hatte ſie, in Verbindung mit einer ſtarken Ent—
wickelung des Geſchlechtstriebs zur Folge, daß er mit Ge—
betbüchern ſtatt mit Golde ſeine unerlaubten Freuden be—
zahlte. Freilich iſt es leichter, Gebetbücher zu verſchenken,
ſie zu leſen, zu faſten und zu büßen, in Kirchen und Bet—
häuſer zu gehen, als tugendhaft zu leben. Daher werden
immer diejenigen Religionsſtifter und Prediger, welche auf
äußere Uebungen das größte Gewicht legen, die Maſſen auf
ihrer Seite haben, während diejenigen, welche mit Chriſtus
vor allen Dingen auf einen reinen Wandel dringen und
das Beiſpiel deſſelben geben, vereinzelt ſtehen werden!).
Die Deutſchen beſitzen dieſes Organ verhältnißmäßig
ſehr ſtark entwickelt. Dieſem Umſtande iſt es in nicht ge—
ringem Maße zuzuſchreiben, daß ſie ſich von ſo manchen
Einrichtungen nicht trennen, welche nichts für ſich haben als
die Glorie des Alters: daß Carl's V. peinliche Halsgerichts—
ordnung und viele ähnliche von allen denkenden und füh—
lenden Männern längſt verworfene Satzungen noch immer
mehr oder weniger unmittelbare praktiſche Bedeutung haben.
1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 426—435. Spurzheim,
observ. p. 191 — 198. Combe's Syſtem ©. 246. Spurzheim, on
Phrenology p. 191—196. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol.
V. p. 352 - 399.
Die Feſtigkeit. 145
9 22. |
15. Die Feſtigkeit ).
Das Organ dieſes Gefühls liegt am hintern Theile
der Scheitelgegend des Kopfes, gerade auf der Mittellinie
umgeben von den Organen der Ehrerbietung, der Gewiſſen—
haftigkeit und des Selbſtgefühls. Es wird gebildet durch
die auf den Tafeln II, III, V und VI mit XIII bezeichne—
ten Windungen des Gehirns.
Gall bemerkte, daß Leute von feſtem und beſtändigem
Charakter dieſen Gehirntheil bedeutend entwickelt zeigten,
und Lavater hatte ebenfalls ſchon früher dieſelbe Formbil—
dung bei dieſer Art Anlage beobachtet. Namentlich fand es
Gall groß an dem Kopfe eines ſehr verhärteten Straßen—
räubers, der ſich, um den Qualen der Gefangenſchaft und
der Schläge zu entgehen, lieber ſelbſt erhängte, als ſeine
Mitſchuldigen anzugeben; desgleichen groß an einem ent—
ſchloſſenen Dieb in Straßburg, der ſich ein ganzes Jahr
lang ſtumm geſtellt hatte.
Dieſes Organ iſt ſtark entwickelt am Kopfe der Ca—
raiben!), welche ſich bei gänzlichem Mangel an Intelligenz
1 Fig. 42. Fig. 43.
e ers Feſtigkeit klein.
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2) S. oben S. 132. Fig. 34.
144 Die Feſtigkeit.
doch durch unerſchütterliche Charakterfeſtigkeit ausgezeichnet
haben, ſo daß ſie ſich allein unter allen amerikaniſchen
Stämmen von den Portugieſen und Spaniern nicht unter—
jochen ließen. Auch der nordamerikaniſche Indianer!) beſitzt
dieſes Organ in ſtarker Entwickelung, jedoch in Verbindung
mit dem Verheimlichungstriebe, welche Verbindung es er—
klärt, daß derſelbe die unerträglichſten Qualen zu ertragen
vermag, ohne ein Zeichen des Schmerzes von ſich zu geben.
Eigenſinnige Kinder haben es gleichfalls ſtark entwickelt.
Beim Vorwalten dieſes Organs zeigt ſich eine beſon—
dere Härte des Ausdrucks, Geradheit und Steifheit der Hal—
tung und ein rauher, ſtarker Ton der Stimme.
Das demſelben entſprechende Gefühl beruht auf dem
Drang zu beharren und verleiht daher der Handlungsweiſe
Entſchiedenheit, Beſtimmtheit und Nachdruck, während es
dem Leidenden die Kraft giebt, das Unvermeidliche mit
Stärke zu ertragen. Wenn uns das Wohlwollen zur Hülf—
leiſtung auffordert, ſo wird die Feſtigkeit dieſer Aufforde—
rung nachhaltige Kraft verleihen. Sie wird uns abhalten,
einen zu dieſem Zwecke gefaßten Plan leicht mit einem an—
dern zu vertauſchen, vielmehr uns drängen, auf dem ein—
mal betretenen Wege weiter fortzuſchreiten. Wenn aber
unſer Plan ſcheitert und wir vielleicht noch verſpottet, wenn
unſere Abſichten in Zweifel gezogen und ſchlimm gedeutet
werden, ſo wird die Feſtigkeit uns in unſerm Innern auf—
recht erhalten. Sie wird uns nicht erlauben, ſelbſt zweifel—
haft zu werden, ob wir recht gethan; ſie wird unſern Muth
nicht ſinken laſſen, wird dem Spotte einen Schild entge—
genſetzen, an dem er abprallt, den Zweifeln eine Entſchie—
denheit, welche ſie verſcheucht. Sie wird uns Kraft ver—
leihen, bei der erſten Gelegenheit von neuem wirkſam auf—
zutreten, um vielleicht das zweite, dritte Mal zu erringen, .
was das erſte Mal nicht erlangt werden konnte.
1) S. oben S. 132. Fig. 36. B
Die Feſtigkeit. 145
Der Menſch, welcher ſtarkes Wohlwollen beſitzt ohne
Feſtigkeit, wird zwar auch nicht gleich durch das erſte Fehl—
ſchlagen eines Plans von der Bahn des Wohlwollens ab—
geſchreckt werden. Allein er wird in den Mitteln zu ſeinen
Zwecken ſchwanken; er wird heute auf dieſe, morgen auf
jene Weiſe ſie zu erreichen ſtreben. Er wird nach einem
fehlgeſchlagenen Verſuch einige Zeit oder doch eine erneute
Aufforderung an ſein Wohlwollen abwarten, bevor er ſich
wiederum zur Thätigkeit ermannt. Das Scheitern des
Plans wird ihm nicht blos weh thun, ſondern er wird ſich
dem Schmerz darüber auch leicht hingeben und darüber die
Zeit zu einem neuen Verſuche verſtreichen laſſen, weil ihm
die Faſſung dazu fehlt. Der feſte Menſch wird zwar auch
den Schmerz über eine fehlgeſchlagene Hoffnung empfinden,
aber er wird ihm nur ein Sporn zu erneuter Anſtrengung,
während er dem nicht feſten einen Zaum anlegt, welcher
ſelbſt die andern Gefühle zügelt, die ihn zu neuer That—
kraft auffordern möchten.
Die Feſtigkeit kann zwar keine nach außen hin wir—
kenden Gefühle ſchaffen, allein ſie wird die vorhandenen in
ihren Aeußerungen kräftigen. Sie erzeugt in Verbindung
mit dem Bekämpfungstriebe ausdauernde Kampfluſt, in
Verbindung mit dem Erwerbtriebe raſtloſe Erwerbthätigkeit,
in Verbindung mit Gewiſſenhaftigkeit unbeugſame Recht—
lichkeit. Sie wird da, wo mehrere gleich mächtige Gefühle
in der Bruſt eines Menſchen wohnen, demjenigen ſich bei—
geſellen, welches in Wirkſamkeit tritt, und ihm Nachdruck
verleihen. Sie wird dadurch ein unaufhörliches Schwanken
verhüten, welches ohne Feſtigkeit bei verſchiedenartigen, in
derſelben Menſchenbruſt wogenden Gefühlen ſtattfindet.
Uebrigens muß man ſich hüten, Charakterfeſtigkeit mit
Ausdauer in Befriedigung der vorherrſchenden Geiſtes-An—
lagen zu verwechſeln. Jede vorherrſchende Geiſtes-Anlage
wird ſich mit einer ihrer Kraft entſprechenden Energie gel—
tend machen. Allein die Feſtigkeit unterſcheidet ſich dadurch
von jeder andern Geiſtes-Anlage, daß ſie nicht blos einer,
2 10
146 Die Feſtigkeit.
ſondern allen vorhandenen und in Thätigkeit tretenden
Geiſtes-Anlagen Nachdruck verleiht. Der Menſch- mit ſtar—
kem Bekämpfungstriebe, aber ohne Feſtigkeit wird wohl
eine der Stärke jenes Triebs entſprechende Kampfluſt be—
thätigen, aber andere minder ſtarke Triebe werden ſich in
verhältnißmäßiger Schwäche äußern, und auch jener ſtarke
Trieb wird ohne Feſtigkeit der Ausdauer, der Entſchieden—
heit und der Beſtimmtheit entbehren; er wird in der Wahl
ſeiner Waffen, in der Entwerfung ſeiner Pläne unſtät und
ſchwankend ſein, heute wird er dieſen, morgen jenen Kampf
beginnen, ohne den einen oder den andern mit ausdauern—
der Kraft durchzufechten.
Der Menſch ohne Feſtigkeit giebt leicht den Eingebun—
gen ſeiner vorherrſchenden Gefühle augenblicklich nach. Wird
ſein Wohlwollen angeſprochen, ſo ſehen wir nur Güte und
Liebe, wird ſein Bekämpfungs- und Zerſtörungstrieb ange—
regt, ſo erſcheint leidenſchaftlicher Zorn und zügelloſe Hef—
tigkeit; allein in demſelben Maße, als dieſe Erſcheinungen
leicht erweckt werden, fehlt es ihnen an nachhaltiger Kraft.
Daher iſt er ein Spielball der Verhältniſſe. Er huldigt
jedem herrſchenden Idole. Beſtändig blos in der Unbeſtändig—
keit, vertauſcht er mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit
eine Farbe mit der andern. Er iſt der Mann aller Par—
teien und wird natürlich von Allen verachtet.
Auf der andern Seite läßt ein hoher Grad von Fe—
ſtigkeit die Schalen der geiſtigen Wage nicht ſo ſchnell ſin—
ken und ſteigen, als die Umſtände bisweilen erfordern. Bei
einem Mann von ſolchem Charakter wird es daher allzu
ſchwer, irgend einen Umſchwung herbeizuführen, und es ent—
ſteht Eigenſinn, Unbeugſamkeit, Halsſtarrigkeit. Die Bei—
ſpiele gelten nichts für ihn; er iſt eben ſo ſchwer zu ver—
führen als zu beſſern, Drohungen und Gefahren erſchüttern
ihn nicht.
Die Organe der Feſtigkeit, des Selbſtgefühls und des
Einheitstriebs bilden eine Gruppe, welche keinen unmittel—
baren Bezug auf äußere Gegenſtände hat. Sie fügen nur
Die Gewiſſenhaftigkeit. 147
den übrigen Vermögen der Seele eine beſondere Eigenſchaft
hinzu: das Selbſtgefühl, die vorwaltende Berückſichtigung
des Ich's, der Einheitstrieb die entſchiedene Richtung nach
einem beſtimmten Punkte, die Feſtigkeit das Verbleiben auf
demſelben. Die Feſtigkeit verhält ſich zum Einheitstrieb
wie das Gefühl zum Triebe, wie das Dauernde zum Mo—
mente, wie die Beharrung zur Sammlung.
Schon bei Kindern zeigt ſich eine verſchiedenartige Ent—
wickelung dieſes Gefühls. Einige ſind von dem Wunſche,
von dem Gedanken, von der Laune, die ſie einmal beherr—
ſchen, nicht abzubringen; andere ſpringen von einem Wun—
ſche, einem Gedanken, einer Laune unaufhaltſam auf den
andern über. Cato von Utica zeigte dieſelbe Feſtigkeit ſchon
als Kind, als ihm Pompejus drohte, ihn vom Fenſter her—
abfallen zu laſſen, welche ſpäter ihn zum Tode durch ſeine
eigene Hand führte, während auf der andern Seite Cicero
ſein ganzes Leben hindurch ſchwankte, und weil er es doch
nicht Allen recht machen konnte, am Ende als Opfer ſeiner
Schwankungen fiel !).
Der feſte Mann mag wohl bisweilen, trotz Keiner Aus:
dauer, das Ziel feines Strebens verfehlen. Allein ſeine
Bcharrlichkeit wird, vorausgeſetzt, daß ſie auf ein gutes
Ziel gerichtet war, immer Achtung gebieten. Der Wankel—
müthige mag das ſeinige erreichen, allein es wird ihm we—
der Ehre noch dauernden Vortheil bringen.
DE:
6. Die Gewiſſenhaftigkeit.
An den hinteren und ſeitlichen Theilen der Scheitel—
gegend des Gehirns, umſchloſſen von den Organen der
Sorglichkeit, der Beifallsliebe, der Feſtigkeit und der Hoff—
I) Gall's, vollſtändige Geiſteskunde S. 437. Combe's Syſtem
S. 254. /
10
148 Die Gewiſſenhaftigkeit.
nung findet ſich das Organ der Gewiſſenhaftigkeit). Auf
Gall's Tafeln iſt die Verrichtung dieſes Theils des Gehirns
als unbeſtimmt bezeichnet. Dr. Spurzheim entdeckte die—
ſelbe, und es iſt bemerkenswerth, daß er ſich ſehr durch
Gewiſſenhaftigkeit auszeichnete. Bei Beobachtung dieſes
Organs muß man ſehr aufmerkſam ſein. Wenn das Organ
der Feſtigkeit groß und dasjenige der Gewiſſenhaftigkeit klein
iſt, fo fällt der Kopf von dem Punkte aus, wo das Or—
gan der Feſtigkeit liegt, nach unten in einem ſtarken Win—
kel ab. Sind dagegen die Organe der Feſtigkeit und der
1) Fig. 44. Fig. 45.
Gewiſſenhaftigkeit groß. Gewiſſenhaftigkeit klein.
15
Mrs H.
David Haggart.
Fig. 46.
Wee e Bu r klein.
N 12
anne
Ein lügenhafter Knabe.
Die Gewiſſenhaftigkeit. 149
Gewiſſenhaftigkeit beide groß, ſo erhebt ſich der Kopf von
dem Punkte des Organs der Sorglichkeit zu demjenigen
des Organs der Feſtigkeit in einer vollen, runden Anſchwel—
lung. Wenn jene Organe beide klein ſind, ſo ſteigt der
Kopf ſehr wenig über das Organ der Sorglichkeit in die
Höhe, und geht flach von dem auf der einen Seite des
Kopfes belegenen Theile dieſes Organs zu dem andern hin—
über. b
Dieſes Organ findet ſich im Allgemeinen ſtärker ent—
wickelt bei den Europäern als bei den Aſiaten und Afri—
kanern. Bei den Wilden findet es ſich gewöhnlich ſehr
mangelhaft). Es nimmt augenſcheinlich mit ſteigender Civi—
liſation zu, und gewiß bildet die Gerechtigkeit, welche der
Ausfluß der Gewiſſenhaftigkeit iſt, den hauptſächlichſten
Gewinn der höhern Bildung der Völker. Engliſche und
ſchottiſche Schädel, welche in großer Menge in alten Be—
gräbnißplätzen und auf Schlachtfeldern gefunden wurden
und drei- bis vierhundert Jahre alt ſind, zeigen dieſes Or—
gan viel mangelhafter entwickelt als im Schädel der Eng—
länder und Schotten heutigen Tages ).
Die Gewiſſenhaftigkeit iſt das Gefühl für Recht und
Unrecht. Sie bildet die Grundlage der Wahrheitsliebe und
der Gerechtigkeit. Sie erzeugt das Gefühl der Pflicht.
1) So z. B. bei dem Eskimeaux.
Fig. 47.
N D . Ge
ar —
2) Spurzheim, observations p. 199 — 206. Combe's Syſtem
S. 257. Spurzheim, on Phrenology p. 197 — 204.
EEE
150 Die Gewiſſenhaftigkeit.
Das Denkvermögen erforſcht die Urſachen und Folgen der
Handlungen, die Gewiſſenhaftigkeit beſtimmt ihre Beziehung
zu Recht und Unrecht und ertheilt ihnen daher Billigung
oder Mißbilligung in unſerm Gemüthe. Sie zeichnet jedem
andern Vermögen unſerer Seele die Sphäre vor, innerhalb
welcher es ſich frei bewegen darf, deren Ueberſchreitung aber
es zum Unerlaubten, Pflichtwidrigen, zum Unrechte führt.
Daher geſtattet ſie dem Bekämpfungstrieb Abwehr, verbie—
tet ihm aber tückiſchen Angriff. Den zu regen Erwerbtrieb
erinnert ſie an die Rechte Anderer, den zu ſchlaffen an die
Pflicht der Selbſterhaltung. Dem Wohlwollen, das über—
wallend zu Verſchwendung reizt, ſetzt ſie eine Schranke,
indem ſie ihm zuruft: ſei gerecht, bevor du großmüthig biſt;
das ſchlummernde Wohlwollen erweckt ſie durch den Ruf:
es iſt deine Pflicht, dem Unglücklichen beizuſtehen, ob du
den Zug dazu im Herzen fühlſt oder nicht. Die Gewiſſen—
haftigkeit zeigt ſich im Worte wie in der That, gegen
Freund und Feind, gegen Andere und gegen das eigene
Ich. Dem Worte verleiht ſie Wahrheit, dem Urtheil Un—
parteilichkeit, der That Mäßigung. In die Wagſchale des
Freundes legt ſie nicht nur, was für ihn, ſondern auch,
was gegen ihn ſpricht; in diejenige des Feindes nicht das
Schwert, ſondern das Recht. Sie dringt darauf, daß mit
gleichem Maßſtabe dem eigenen Ich wie allen Andern ge—
meſſen werde. Sie fügt zum Bewußtſein einer Schuld den
Drang, ſie abzutragen; ſie erinnert an das gegebene Ver—
ſprechen, die getroffene Verabredung und mahnt, ihnen
nachzukommen. Weil ſie Andern gewährt, was ihnen zu—
kommt, gebietet ſie die Achtung der Mitmenſchen. Sie ent—
kleidet Menſchen, Handlungen und Worte von verdeckendem
Putze und bringt ſie in ihrer Nacktheit vor den Richter—
ſtuhl, der im menſchlichen Herzen aufgeſchlagen iſt. Aller—
dings richtet ſie nicht ſelbſt, dieſes iſt Sache des Denkver—
mögens, allein ſie iſt die Wächterin, die Wache hält, daß
der Richter feine Schuldigkeit thue. Sie dringt auf Ge-
rechtigkeit ohne Anſehen der Perſon, ohne Rückſicht auf
Die Gewiſſenhaftigkeit. 151
Verhältniſſe und ohne andern Zweck, als weil ſie das Rechte
liebt, das Unrecht haßt. Sie bildet die Grundlage edler
Einfachheit. Sie erzeugt das Verlangen, die Wahrheit zu
entdecken, den Takt, die entdeckte zu würdigen, und jenen
Glauben an ihre unwiderſtehliche Ueberlegenheit, welcher au
gleich Seelenfrieden und Seelengröße giebt:
Weſentlich verſchieden iſt dieſes Gefühl vom Wohlwol⸗
len und von der Ehrerbietung. Es giebt Menſchen, die
fromm und wohlwollend und doch nicht gewiſſenhaft ſind,
welche Kirchen beſuchen und Almoſen geben und doch ihre
Gläubiger nicht bezahlen, ihr Wort nicht halten und das
Unrecht, das ſie gethan, nicht ſchmerzlich empfinden. Der
gewiſſenhafte Menſch wird dagegen entweder nicht thun,
was unrecht iſt, oder hat er in einem unbewachten Augen:
blick es doch gethan, ſo wird es ihn ſchmerzen, und dieſen
Schmerz nennen wir Reue, Gewiſſensbiß. Weil die Ge—
wiſſenhaftigkeit in gleichem Maße vor und nach einer Hand—
lung thätig iſt, werden Menſchen, die oft und ſchwer ſich
vergehen, ſie ſelten ſtark entwickelt beſitzen. Die Erfahrung
zeigt, daß große Verbrecher wohl die Strafe des weltlichen
Arms, bisweilen auch die des ewigen Richters fürchten,
ohne darum zum Gefühle begangenen Unrechts gelangt zu
ſein. Gewiſſenhaftigkeit verhält ſich zur Ehrlichkeit, wie die
Beifallsliebe zur Ehre. Jene zur Gerechtigkeit, wie dieſe
zur herrſchenden Anſicht.
Iſt dieſes Gefühl ſchwach, ſo iſt die Folge, daß der
Menſch, ohne geiſtigen Schmerz zu empfinden, ſeinen vor—
waltenden Neigungen fröhnt. Er fühlt nicht, daß er Un—
recht thut, wenn er einem Freunde in einer ungerechten
Sache beiſteht, oder einem Feinde doppelt und dreifach das
Unrecht vergilt, das er von ihm erlitten. Wer mit man—
gelnder Gewiſſenhaftigkeit ſtarke Beifallsliebe vereinigt, wird
durch keinen innern Wächter an die Niedrigkeit der Schmei—
chelei erinnert; wer mit jenem Mangel ſtarkes Selbſtgefühl
verbindet, wird ſeinen Uebermuth walten laſſen, ohne zu
ahnen, daß er ſich ſelbſt überhebe. Kein Gefühl iſt Den—
152 Die Gewiſſenhaftigkeit.
jenigen, welche wenig Gewiſſenhaftigkeit befigen, unerklär—
licher als eben dasjenige, welches die Gewiſſenhaftigkeit
hervorruft. Je nachdem bei ihnen dieſe oder jene Eigen—
ſchaften vorherrſchend ſind, führen ſie alle Handlungen auf
Eigennutz, Ruhmſucht, Berechnung und ähnliche Beweg—
gründe zurück, aber ſie können es nicht faſſen, daß ein
Menſch aus reiner Liebe zur Wahrheit und zum Rechte
Schimpf und Schmach, ja ſelbſt den Tod erdulden könne.
Keinen Charakter beurtheilte Napoleon ſo irrig als denje—
nigen, der aus bloßen Beweggründen der Rechtſchaffenheit
handelte. Es iſt häufig behauptet worden, jeder Menſch
habe ſeinen Preis, jeder könne zum Böſen verführt werden,
wenn man nur wüßte, was ihm am theuerſten ſei. Wer
wenig Gewiſſenhaftigkeit und viel Erwerbtrieb beſitzt, kann
allerdings durch irdiſche Güter, wer wenig Gewiſſenhaftig—
keit und viel Beifallsliebe hegt, durch Ehrenſtellen und Or—
densverleihungen gewonnen werden, er hat feinen Preis.
Wer aber mehr Gewiſſenhaftigkeit beſitzt, kann nicht beſto—
chen werden, er hat keinen Preis.
Uebertriebene Gewiſſenhaftigkeit führt zur Kleinlichkeit,
Selbſtpeinigung, zu nicht endender Scrupuloſität.
Erkrankt das Organ dieſes Gefühls, dann ſteigen die
ſchrecklichſten Empfindungen, oft nur eingebildeter Schuld,
vor die Seele der Kranken. Der eine glaubt, einen Mord
begangen zu haben, der andere, es drücke ihn eine Schuld,
die er nicht tilgen könne.
Die Phrenologie entſcheidet den Streit über das Vor—
handenſein eines Gewiſſens in dem Innern des Menſchen
auf das befriedigendſte und beruhigendſte.
Großartige Beweiſe der Wirkſamkeit dieſes Gefühls
gaben Regulus, als er zu den Karthagern, und Ludwig der
Baier, als er in die Gefangenſchaft ſeines Gegenkaiſers
Friedrich's von Oeſterreich zurückkehrte. Anders waren die
Gefühle, welche Franz J. von Frankreich leiteten, nachdem
ihn Carl V. aus der Haft entlaſſen hatte. a
Die Hoffnung. 153
Die Menſchen laſſen ſich gern etwas verſprechen und
glauben, viel zu haben, wenn ihnen nur das Wort gege—
ben iſt. Wenn ſie zu unterſcheiden wüßten zwiſchen dem
Worte, wozu die Gewiſſenhaftigkeit das Gefühl und der
Wortſinn die Form gegeben, und dem Worte, wozu die
Beifallsliebe, die Sorglichkeit oder irgend eine niedere Em—
pfindung die Anregung gegeben, fo würden ſie nicht ſo oft
getäuſcht werden, nicht ſo oft vergeblich die Erfüllung des
ertheilten Verſprechens begehren. An den Früchten ſollt ihr
ſie erkennen. Das Wort, das gehalten wird, ohne äußern
Zwang, nur dieſes war die Frucht der Gewiſſenhaftigkeit.
Das Wort dagegen, das nur in Folge äußern Zwanges
gehalten wird, iſt die Frucht eines andern Baums: niede—
rer Furcht, elender Gewinnſucht oder anderer ähnlicher Motive.
b. 24.
17. Die Hoffnung.
Das Organ dieſes ſo mächtigen Hebels menſchlicher
Thätigkeit liegt zu beiden Seiten des Organs der Ehrerbie—
tung, zum Theil unter dem Stirn- und zum Theil unter
dem Seitenwandbeine. Das Organ der Gewiſſenhaftigkeit
ſtößt daran einestheils, die Organe des Nachahmungs—
talents und des Sinnes für das Wunderbare ſtoßen daran
anderntheils. a
Dr. Gall betrachtete die Hoffnung als eine Folge der
Wirkſamkeit jedes einzelnen Vermögens. Spurzheim be—
merkte jedoch mit Recht, daß der durch jedes einzelne Ver—
mögen erregte Wunſch keineswegs gleichen Schritt halte
mit der Hoffnung. Der Menſch mit ſtarkem Erwerbtriebe _
mag den Wunſch, Eigenthum zu erwerben, der Menſch mit
ſtarker Beifallsliebe den Wunſch, den Beifall ſeiner Mit—
menſchen zu gewinnen, recht ſtark beſitzen, ohne darum in
154 Die Hoffnung.
einem entfprechenden Grade auch zu hoffen. Wir fehen im
täglichen Leben Menſchen, welche immer geneigt ſind zu
hoffen, andere, welche immer geneigt ſind zu beſorgen. Wie
ſehr verſchieden in andern Beziehungen ihre Neigungen ſein
mögen, dieſe Richtung ihrer Seele wird ſich gleich bleiben.
Es giebt Menſchen, welche geradezu, je ſtärker ein Wunſch
in ihrem Innern iſt, deſto ſtärker in Sorge ſind; andere,
welche bei gleicher Stärke des Wunſches nur Hoffnung he—
gen. Jene beſitzen das Organ der Sorglichkeit, dieſe das
Organ der Hoffnung ſtärker. Hoffnung und Beſorgniß
ſetzen ſich gegenſeitig voraus. Wer ein beſonderes Organ
der Beſorgniß annimmt, muß nothwendig auch eins für
die Hoffnung annehmen, gerade ſo, wie neben einem Or—
gane für die Zeit, eines für den Raum beſtehen muß. Zahl—
reiche Beobachtungen haben übrigens jetzt die Lage dieſes
Organs feſtgeſtellt. An Spielern wurde es, in Verbindung
mit dem Erwerbtriebe, ſtark entwickelt beobachtet ).
Das dem Organ entſprechende Gefühl erzeugt die Nei—
gung, Gutes zu erwarten, Vertrauen zu ſchenken und an
die Erfüllung alles Desjenigen, was man wünſcht, zu glau—
ben. Ueberzeugung gewährt es übrigens fur ſich allein nicht,
ſondern nur in Verbindung mit dem Denkvermögen. Die
Hoffnung erfüllt uns mit Frohſinn und Heiterkeit, malt
die Zukunft reich und lachend, haucht Freude und Friſche
über jede Ausſicht, während die Sorglichkeit, ihre tiefer
unten wohnende Schweſter, Wolken und Nebel um das
Auge der Seele verbreitet. Im Verhältniß zu einer über—
irdiſchen Welt eröffnet die Hoffnung den Blick in eine un—
endliche, ſtrahlende Zukunft und macht uns ſo den Tod ſehr
leicht. Sie iſt die Mutter des Glaubens an Unſterblichkeit,
wie die Ehrerbietung die Quelle des Glaubens an die Gott—
heit iſt. Die heitern Bilder, welche die Hoffnung uns vor
I) Spurzheim, observations p. 206 — 207. Combe's Syſtem
S. 771.
Die Hoffnung. 155
die Augen zaubert, tragen viel dazu bei, unſern Muth auf:
recht zu erhalten in Tagen der Trübſal. Iſt ſie nicht ge—
zügelt durch das Denkvermögen, fo führt ſie zu ſchlecht
berechneten Unternehmungen, grundloſen Erwartungen be—
vorſtehender Glückswechſel und Leichtgläubigkeit. Iſt ſie
dagegen zu ſchwach, ſo wird ſie, namentlich wenn die Sorg—
lichkeit ſtark iſt, nicht leicht auch wohl berechnete Unter—
nehmungen zur Ausführung bringen, und Vertrauen in
Zukunft und Menſchen nicht aufkommen laſſen.
Ebenſo wahr als ſchön iſt Schiller's Gedicht: „Die
Hoffnung.“ Es ſpricht in wenigen Worten den feſten Glau—
ben aus, daß ſie von Gott dem Menſchen ins Herz gelegt,
zum Begleiter durchs Leben bis zum Grabe gegeben iſt.
„Es iſt kein leerer, ſchmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirne des Thoren,
Im Herzen Fündet es laut ſich an:
Zu was Beſſerm ſind wir geboren;
Und was die innere Stimme ſpricht,
Das täuſcht die hoffende Seele nicht.“
156 Gefühl für das Wunderbare.
9 25.
18. Gefühl für das Wunderbare ).
Gall bemerkte bei dem erſten Schwärmer, welchen er
zu beobachten Gelegenheit hatte, eine bedeutende Entwicke—
lung desjenigen Gehirntheils, der zwiſchen den Organen
der Idealität, der Hoffnung, des Schlußvermögens, des
Witzes und der Nachahmung in der Mitte liegt. Jung,
genannt Stilling, beſaß dieſes Organ gleichfalls ſtark ent—
wickelt. Einſt erſuchte ein Herr aus den erſten Cirkeln von
Paris Dr. Gall, ſeinen Kopf zu unterſuchen. Gleich die
erſte Bemerkung war: „Sie ſehen zuweilen Viſionen und
glauben an Erſcheinungen.“ Jener ſprang erſtaunt von
ſeinem Stuhle auf und ſagte: allerdings habe er manchmal
Viſionen, habe aber aus Furcht als abergläubiſch verſchrien
zu werden, bis auf den heutigen Tag niemals eine Silbe
davon verlauten laſſen. Zu Gernsbach im Großherzogthum
Baden kannte Gall einen Prieſter, welcher unter Aufſicht
geſtellt worden war, weil er ſich von einem Hausgeiſte be—
gleitet wähnte; in Mannheim einen Mann, welcher ſich
immer von mehreren Geiſtern umgeben glaubte. Alle dieſe
Leute hatten den bezeichneten Gehirntheil ſtark entwickelt.
Eine Reihe weiterer Beobachtungen, welche Gall, Spurz—
heim und Georg Combe machten, haben die Verrichtung
10 Fig. 48. Fig. 49.
Gefuͤhl für das Wunder: Gefühl für das Wun—
bare groß. derbare klein.
Ein Knabe von
Alter Grieche. der Inſel Ceylon.
Gefühl für das Wunderbare. 157
dieſes Organs nach und nach feſtgeſtellt. Taſſo's Bild,
deſſen Wunderglaube und Verkehr mit Geiſtern bekannt
iſt, zeigt uns die Organe des Wunderbaren und der Idea—
lität in ſtarker Entwickelung). Bei verſchiedenen Nationen
findet ſich dieſes Organ in verſchiedener Größe. Sehr klein
zeigt es ſich bei den Eingebornen von Neu-Süd-Wales,
und Reiſende bezeugen, daß die außerordentlichſten, unge—
wöhnlichſten Erſcheinungen ſpurlos an ihnen vorüberziehen.
Bei den Peruvianern dagegen iſt es ſehr groß, und ſie zei—
gen großen Hang zu dem Glauben an alles Uebernatürliche.
Sie betrachteten Pizarro und ſeine Begleiter als Abkömm—
linge der Sonne; und dieſes, ihre Energie lähmende Er—
ſtaunen erleichterte den Spaniern ihre Unterjochung’).
1
I
WA
2
55 4 €
Taſſo.
2) Spurzheim, observations p. 207. Combe's Syſtem S. 275
— — —
158 Gefühl für das Wunderbare.
Das dieſem Organ entſprechende Gefühl beruht auf
dem Verlangen nach Allem, was außerordentlich, überna—
türlich, ungewöhnlich iſt. Es macht daher geneigt, derar—
tiges zu glauben, wenn es Andere erzählen, oder in den
eigenen Wahrnehmungen etwas Ungewöhnliches und Ueber—
natürliches zu finden. In ſeiner Verbindung mit Ehrer—
bietung und Hoffnung iſt der Sinn für das Wunderbare
ein Hauptbeſtandtheil der Religioſität. Er bildet den Ge—
genſatz des Schlußvermögens. Während dieſes immer ge—
ſchäftig iſt, einer Erſcheinung auf den Grund zu kommen,
ihre geheimen Urſachen zu entdecken, weilt das Gefühl für
das Wunderbare mit Vorliebe auf der außerordentlichen
Erſcheinung ſelbſt, ohne ſich mit deren Urſachen zu beſchäf—
tigen, oder auch nur ertragen zu können, daß ſich Andere
damit beſchäftigen. Leute, die mit einem ſtarken Gefühl
für das Wunderbare begabt ſind, halten es oft für eine
Entweihung den Schleier zu heben, welcher ihnen die Ur—
ſache einer Erſcheinung verdeckt, und tadeln daher ein Be—
ſtreben, welches geeignet iſt, ihnen die Freude zu rauben,
etwas als wunderbar anſtaunen zu können. Findet ſich das
Schlußvermögen und das Gefühl für das Wunderbare in
einem Menſchen gleich ſtark entwickelt, ſo wird er leicht in
Zwieſpalt mit ſich ſelbſt gerathen, indem er auf der einen
Seite ſtrebt, durch Forſchung eine Erſcheinung aus dem
Bereiche des Wunderbaren in dasjenige des Erklärlichen zu
ziehen, auf der andern dagegen doch ſich ſcheut, in jenes
Reich der Wunder mit ſcharfem Auge zu blicken. Wer das
Gefühl für das Wunderbare ſchwach beſitzt, wird bei den
außerordentlichſten Erſcheinungen des Lebens nicht erſtaunen.
Ihm wird Alles natürlich und erklärlich dünken, auch wenn
er nicht im Stande iſt, eine genügende Erklärung zu er—
theilen. In Verbindung mit ſchwachem Denkvermögen wird
das Gefühl für das Wunderbare eine reiche Quelle des
Aberglaubens in allen ſeinen Geſtalten. Tritt noch eine
ſtarke Ehrerbietung hinzu, ſo wird der Menſch gewöhnlich
das Opfer ſchlauer Betrüger oder einfältiger Fanatiker,
Gefühl für das Wunderbare. 159
welche ihm ſolche einzuflößen wiſſen. Uebermäßig große
Entwickelung oder krankhafte Erregung dieſes Organs er—
zeugt Viſionen mannigfaltiger Art.
Wie dem Schläfer Alles, was er im Traume ſieht
und hört, äußere Wirklichkeit zu haben ſcheint, während es
ſich doch in ſeinem Innern ereignet, ſo geht auch während
der Dauer der Viſion Alles im Innern des Viſionairs vor
ſich, während es ihm auch äußere Wirklichkeit zu haben
ſcheint. Die Viſion unterſcheidet ſich vom Traume aber
dadurch, daß der Viſionair die Viſion in der Regel auch,
nachdem ſie verſchwunden iſt, von der Wirklichkeit nicht un—
terſcheidet, während der Träumende, ſobald er erwacht iſt,
den Traum als ein Gebilde ſeiner Phantaſie erkennt. Je
ſtärker nämlich das Gefühl für -das Wunderbare in einem
Menſchen iſt, deſto ſtärker iſt auch ſein Verlangen nach
wunderbaren Erſcheinungen, und dieſes macht es ihm,
wenn ſeine Verſtandeskräfte verhältnißmäßig ſchwach ſind,
unmöglich, zu erkennen, was die Urſache der Erſcheinungen
iſt, welche er als Gegenſtände der Außenwelt gewahr wird,
und daher hält er ſie wirklich für Dasjenige, was ſie ihm
ſcheinen, für Ereigniſſe der Außenwelt.
Bei manchen Perſonen ſind die Viſionen periodiſch und
finden gewöhnlich zur Zeit einer Aufregung oder Reizbar—
keit, in Verbindung mit Hämorrhoiden oder der monatlichen
Reinigung, ſtatt. Bei andern iſt dieſer Zuſtand weit dauern—
der, in demſelben Verhältniß, als die krankhafte Aufregung
es mehr iſt. Irgend eine Nervenreizung, eine zu lange
feſtgeſetzte und auf denſelben Gegenſtand gerichtete Geiſtes—
anſtrengung, Faſten, langes Wachen, Vollblütigkeit ſind
hinreichend, um ſie hervorzurufen. So wenig man einen
Verrückten, ſo lange ſeine Manie dauert, überzeugen kann,
daß, ı was er innerlich wahrnimmt, nicht wirklich iſt, ebenſo
wenig iſt es möglich, einem Viſionair dieſe Ueberzeugung
beizubringen, und aus denſelben Gründen iſt dieſes da wie
dort unmöglich: das Gefühl für die Erfahrung der innern
160 Das Schönheitsgefühl oder die Idealität.
Welt iſt ſtärker als das Verlangen nach einer genügenden
Urſache derſelben ').
$. 26.
19. Das Schoͤnheitsgefuͤhl oder die Idealitaͤt.
Dieſes Organ gränzt nach oben an das Organ des
Wunderbaren, nach vorn an das Organ des Witzes, längs
dem untern Rande der halbzirkelförmigen Linie der Schlä—
fengegend. Auf den Gall'ſchen Tafeln iſt es mit XXV
bezeichnet. Gall bemerkte dieſes Organ zuerſt in bedeuten—
der Entwickelung an einem ſeiner Freunde, der, wiewohl
ſonſt ein gewöhnlicher Menſch, dadurch eine Art Ruf er—
langt hatte, daß er, wo man es am wenigſten erwartete,
Verſe aus dem Stegreif dichtete. Er erinnerte ſich dann,
an der Büſte Ovid's dieſelbe Geſtaltung wahrgenommen
zu haben. An mehreren andern Dichtern, namentlich der
Angelika Kaufmann, an Klopſtock, Geßner, Schiller und
Goethe beobachtete er dieſelbe Kopfbildung; an Blumauer
bemerkte er ſie in Verbindung mit einer ſtarken Entwicke—
lung des Organs des Witzes. An etwa dreißig Büſten von
Dichtern, welche er bei Nicolai in Berlin beiſammen ſah,
machte er dieſelbe Beobachtung; desgleichen an dem Haupte
des franzöſiſchen Dichters Delille und des Dichters Frangois
genannt Cordonnier. Die Büſten Homer's, Pindar's, Eu—
ripides', Sophokles', Virgil's, Arioſto's, Taſſo's?), Mil—
ton's, Voltaire's, Shakeſpeare's u. ſ. w. zeigen dieſelbe
Geſtaltung des Kopfes. Allein es findet ſich nicht blos
bei Dichtern, ſondern bei allen Künſtlern höherer Weihe,
die nach dem idealiſch Schönen ſtreben, und es auf irgend
1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 418 — 426. Phrenolo-
gical Journal of Edinburgh 1824. No. IV. S. 541 555. Gall,
sur les fonctions du cerveau Vol. V. p. 337 — 352. N
2) S. oben S. 157. Fig. 50. 2
Das Schönheitsgefühl oder die Idealität. 161
eine Weiſe durch das Wort, den Meißel, durch Farben oder
in Bauwerken auszuſprechen gedrängt werden. Klein fin—
det es ſich dagegen bei allen rohen, für die Schönheit un—
empfänglichen Völkerſchaften und Individuen, namentlich
auch bei brutalen Verbrechern.
Das Streben nach idealiſcher Schönheit macht das
Weſen dieſes Gefühls aus. Vereinigt ſich damit Geſtalt—
und Farbenſinn, ſo wird es ſich in Gemälden, Tonſinn in
Klängen idealiſcher Schönheit ausſprechen. Indem das Ge—
fühl der Idealität den Menſchen, den es beſeelt, in eine
höhere, ſchönere Welt entrückt, ſo erhebt es ihn über die
kleine irdiſche Alltagswelt. In demſelben Maße, als ſein
Verlangen auf Erden unbefriedigt bleibt, wird er ſich ſeh—
nen, darzuſtellen, was ſeine Phantaſie ihm vor die Seele
zaubert, und ſo entſtehen die unſterblichen Werke der Kunſt,
welche Alles, was die wirkliche Erde bietet, an Schönheit
überſtrahlen: die Gemälde eines Raphael, die Bauwerke
eines Palladio, die göttliche Komödie Dante's, Shake—
ſpeare's Kaufmann von Venedig, Goethe's Fauſt und Schil—
ler's Braut von Meſſina.
Wer dieſes Gefühl nicht beſitzt, kaun die Schönheit
eines Werkes nicht empfinden. Er mag über Kunſt ſpre—
chen, er mag zergliedern und kritiſiren. Allein alles das
hat nichts gemein mit dem Gefühle der Schönheit. Er
wird die Schönheit niemals als Zweck gelten laſſen, immer
nach einem andern ſuchen in Wort und That, und daher
geſchmacklos ſein in Allem, was er ſagt und anordnet.
Denn was im gewöhnlichen Leben guter Geſchmack genannt
wird, beruht, nächſt einer harmoniſchen Geiſtesbeſchaffenheit,
hauptſächlich auf dem Schönheitsgefühle. Die Idealität
ift die Folie aller übrigen Geiſtesvermögen. Sie verleiht
dem Wohlwollen, welches giebt, die Anmuth, welche die
Gabe werthvoll macht, der Ehrerbietung, welche Hul—
digungen darbringt, gefälligen Anſtand; ſie verhütet,
daß Vergleichungen ins Niedrige fallen, daß der Witz
gemein, die Schlußfolgerungen ſchwerfällig werden. Mit
11
162 Das Schönheitsgefühl oder die Idealität.
einem Worte: ſie iſt der Gürtel der Venus, welchen ſelbſt
Minerva borgen mußte, wenn ſie bezaubern wollte; und
dennoch giebt es Secten, welche gegen jede Aeußerung des
Schönheitsgefühls eifern — als hätte Gott dieſem Gefühle
nicht ſo gut wie jedem andern ſeine erlaubte Sphäre ver—
gönnt und nicht in den Schönheiten der Natur ſo reichlich
für ſeine Befriedigung geſorgt. Es giebt Maler, deren
Bilder getroffen ſind, aber auf eine ſo unſchöne Weiſe, daß
man lieber nicht getroffen ſein möchte; es giebt Perſonen,
die aufrichtig ſind, aber in ſolchem Maße, daß ſie uns er—
röthen machen; es giebt Menſchen, welche den Putz lieben,
aber doch niemals geſchmackvoll gekleidet ſind, ſie beſitzen
nicht das Schönheitsgefühl ).
Wie alle übrigen, ſo kann auch dieſes Vermögen aus—
arten, wenn es ſich über die andern erhebt und mit Ver—
nachläſſigung ernſter Lebenspflichten nur ſeine Befriedigung
ſucht. Bei Menſchen, welche ihr Haus aufs Geſchmack—
vollſte einrichten und ihr Vermögen dadurch zu Grunde
richten, dichten, wo ſie geben, ſchwärmen, wo ſie handeln
ſollten u. ſ. w. bei allen dieſen iſt das Schönheitsgefühl
ausgeartet.
Das Wirken des Schönheitsgefühls in ſeinem Kampf
mit der proſaiſchen Alltagswelt macht Schiller's Gedicht:
„Pegaſus im Joche“ recht anſchaulich. Was die Welt wird
ohne ſeine magiſche Laterne ſpricht deſſelben Meiſters Poeſie
des Lebens aus:
„Der Schönheit Jugendbild veraltet,
Auf Deinen Lippen ſelbſt erkaltet
Der Liebe Kuß, und in der Freude Schwung
Ergreift Dich die Verſteinerung.“
Wie es dagegen dem Manne mit dem regen Schön—
heitsgefühl auf dieſer Erde nur zu gewöhnlich ergeht, ver—
kündet er in ſeiner „Theilung der Erde.“ Doch daſſelbe
) Spurzheim, observ. p. 09 —211. Combe's Syſtem S. 285.
Das Schönheitsgefühl oder die Idealität. 163
Gefühl, welches den Menſchen ſo oft von den Quellen ir—
diſcher Genüſſe fern hält, eröffnet ihm eine himmliſche:
„Was thun? ſpricht Zeus, die Welt iſt weggegeben,
Der Herbſt, die Jagd, der Markt iſt nicht mehr mein —
Willſt Du in meinem Himmel mit mir leben:
So oft Du kommſt, er ſoll Dir offen ſein.“
n
III.
Darstellungsvermögen oder Talente.
$ 27.
20. Talent für mechaniſche Kunſt, Bautalent,
Zuſammenſetzungstalent ).
Das engliſche Wort constructiveness, welches dieſes Or—
gan bezeichnet, iſt ſehr ausdrucksvoll, namentlich in ſeinem
Gegenſatz zu destructiveness. Der Begriff, von dem es
ſich hier handelt, wird zwar durch die Worte: Talent für
mechaniſche Kunſt gut bezeichnet, allein es ſind dieſes vier
Worte ſtatt eines. Zuſammenſetzungstalent iſt gleich—
falls bezeichnend, allein es iſt nicht üblich. Bautalent iſt
zwar üblich, allein es bezeichnet den Begriff nicht genau,
Di Fig. 52.
Bautalent groß. Bautalent klein.
Ein alter Grieche. Ein Neuholländer.
Talent f. mech. Kunſt, Bautalent, Zuſammenſetzungstalent. 165
indem das Organ, von dem wir ſprechen, es nicht blos
mit Zuſammenſetzung von Holz und Stein, ſondern auch
mit Zuſammenſetzung von Tuch, Seide, Metall aller Art,
Strichen und Farben u. ſ. w. zu thun hat, was man nicht
bauen nennen würde. Bis alſo der Sprachgebrauch das
Wort Zuſammenſetzungstalent wird gebilligt haben, iſt es
nothwendig, die verſchiedenen oben angegebenen Bezeichnun—
gen neben einander zu gebrauchen, um wenigſtens den Be—
griff ſo deutlich als möglich auszudrücken.
Die Windung des Gehirns, welche dieſes Organ bil—
det, iſt ſpiralförmig aufgerollt und auf Tafel IV und V
bezeichnet. Es liegt an dem hintern ſeitlichen Theile der
obern Augenhöhlenplatte, an dem hintern Ende des vordern
Lappens, umgeben von den Organen des Nahrungstriebs,
des Verheimlichungs-, des Erwerbtriebs, der Idealität und
des Tonſinns, bildet dadurch eine rundliche Wölbung und
giebt dem Schädel, von vorn betrachtet, ein paralleles An—
ſehen.
Es findet ſich groß an allen bedeutenden Künſtlern,
die es mit Mechanik zu thun haben, z. B. an dem Kopfe
des Erbauers des Themſe-Tunnels, des berühmten Archi—
tekten Brunel, des Verfertigers der trefflichen Teleſkopen
W. Herſchel, der Bildhauer Dannecker und Canova,
des Kupferſtechers Müller, Raphael's, Michel Angelo's und
Anderer. Eine Reihe von Gall und Spurzheim angeſtell—
ter Beobachtungen haben dieſes Organ feſtgeſtellt. Der
Biber, das Kaninchen, namentlich im Vergleich zum Feld—
haſen, die Neſter bauenden Vögel, im Verhältniß zu den—
jenigen, welche keine bauen, haben es groß, klein die Thiere,
welche, auch bei ſonſtiger großer Intelligenz, nicht bauen,
z. B. der Elephant, das Pferd und der Hund. Klein iſt
es bei rohen Völkern, welche noch nicht einmal ſo weit ge—
kommen ſind, ſich Hütten zu bauen, Werkzeuge zu bilden
und Kleidungsſtücke zu bereiten, z. B. den Neuholländern.
Beſonders überweiſend war der Ausſpruch, welchen Gall
über den Maler Unterberger that, von welchem er ſagte, er
166 Talent f. mech. Kunſt, Bautalent, Zuſammenſetzungstalent.
habe ein beſonders ſtarkes Organ für mechaniſche Kunſt.
Jedermann glaubte, Gall habe ſich geirrt. Aber Unterber—
ger ſelbſt ſagte, Gall habe Recht, ſeine Neigung ſei immer
der mechaniſchen Kunſt zugewandt geweſen, während er nur
male, um ſich zu ernähren. Er führte dann Gall und die
andern Herren, welche bei dem Ausſpruch zugegen geweſen
waren, in ſeine Wohnung und zeigte ihnen die verſchiede—
nen Maſchinen, welche er theils ſelbſt erfunden, theils ver—
beſſert hatte. Mehrere ähnliche Fälle ſind in den phreno—
logiſchen Werken verzeichnet.
Dieſes Talent ſchließt die Anlage zum Zuſammenfügen
in ſich, und der Einfluß der übrigen Vermögen beſtimmt
das Material ſowohl als die beſondern Modificationen des
Zuſammenſetzens. Daß dieſes Vermögen ein ganz beſonde—
res, eigenthümliches ſei, läßt ſich nicht in Abrede ſtellen,
weil Menſchen und Thiere von ſonſt niedriger geiſtiger Be—
ſchaffenheit es zum Theil ſehr ſtark entwickelt beſitzen, z. B.
außer den oben genannten Thieren die Termiten, die Bie—
nen und andere; unter den Menſchen nicht ſelten die Cre—
tins, welche, ohne fähig zu ſein, irgend ein Buch über
Mechanik zu leſen oder zu verſtehen, ohne von mechaniſchen
Grundſätzen irgend einen Gedanken zu haben, mechaniſche
Werke bilden, welche bisweilen erſtaunenswerth ſind. Ihre
allgemeine Intelligenz giebt ihnen hierzu die Fähigkeit nicht,
denn an dieſer fehlt es ihnen ganz und gar. Sie erhalten viel—
mehr ſolche durch dieſelbe beſondere Anlage, welche die Biene
oder den Biber zu ihren mechaniſchen Werken befähigt. Da—
her iſt bei ſonſt beſchränkten Menſchen auch das Talent zum
Zuſammenfügen beſchränkt. Während der allgemein intel—
ligente Menſch in verſchiedenen Richtungen, als Architekt
und Bildhauer, als Maſchinen-Erfinder und Goldarbeiter
u. ſ. w. in der mannigfaltigſten Weiſe dieſe Anlage zu Tage
fördert, zeigt ſie ſich bei dem beſchränkten Menſchen wie bei
dem Thiere in durchaus einſeitiger Weiſe. Großen Philo—
ſophen, Denkern und Staatsmännern fehlt dagegen dieſe
Gabe oft gänzlich, wie z. B. dem Sokrates, welcher die
Der Witz. 167
Bildhauerei aufgab, weil er es darin zu nichts bringen
konnte. Dieſelbe Verſchiedenheit zwiſchen allgemeiner Be—
gabung und dieſer ſpeciellen Anlage findet ſich nicht ſelten
ſchon bei Kindern ſehr klar und deutlich, indem dieſelben,
welche für Sprachen, Begriffe und höhere geiſtige Ent—
wickelung überhaupt gar kein Geſchick zeigen, überaus künſt—
liche kleine Arbeiten, zum Theil ohne allen vorgängigen
Unterricht, fertigen ).
§. 28.
21. Der Witz (Scherz).
Dieſes Organ liegt an dem obern ſeitlichen Theile der
Stirn, umgeben von den Organen der Idealität, des Sinns
für das Wunderbare, des Schlußvermögens, des Zeitſinns
und des Tonſinns. Die Gehirnwindungen, welche es bil—
den, find auf der Tafel IX mit XXIV bezeichnet. Wenn
es groß iſt, giebt es dem obern Theile der Stirn ein brei—
tes Anſehen.
Es findet ſich groß an den Büſten von Rabelais, Cer—
vantes, Boileau, Swift, Sterne, Voltaire, Jean Paul
Friedrich Richter. In den Abbildungen von Sterne ruht
ſein Zeigefinger gerade auf dieſem, bei ihm ſehr ſtark ent—
wickelten Organe.
Ueber die Natur dieſes Geiſtes-Vermögens iſt viel ge—
ſtritten worden, insbeſondere auch in dem phrenologiſchen
Journale von Edinburgh. Die Streitfrage war daſelbſt
hauptſächlich, ob der Witz zu dem Empfindungs- oder Denk—
vermögen zu rechnen ſei. Ich habe denſelben unter das Dar—
ſtellungsvermögen aufgenommen. Das Charafteriftifche dieſes
1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 370-380. Phrenolo-
gical Journal of Edinb. 1824 No. II. p. 247 — 259. Spurzheim,
observ. p. 169— 172. Combe's Syſtem S. 197. Spurzheim, on
Phrenology p. I71—173. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol.
V. p. 159 — 190.
168 Der Witz.
Organs ſcheint mir nämlich in der Art und Weiſe zu liegen,
wie ein Gegenſtand aufgefaßt und dargeſtellt wird, und
nicht in den Gefühlen oder Gedanken, welche das Weſen
des Gegenſtandes ergreifen. Es giebt Menſchen, welche eine
unwiderſtehliche Neigung haben, Alles lächerlich zu machen,
welche unwillkürlich Alles von der lächerlichen Seite an—
ſehen, und ungeachtet aller Strafen und Schläge des Schick—
ſals immer mit komiſchen Einfällen um ſich werfen, ſo z. B.
Heinrich IV. von Frankreich, Piron, Mathurin, Regnier,
Diogenes, Juvenal und Horaz. Andern dagegen ſind ſolche
Einfälle in tiefſter Seele zuwider, ſo haßte und verachtete
Crebillon z. B. Satyren und Epigramme ).
Das Urtheil über eine Sache giebt das Erkenntniß—
und das Denkvermögen, die Gefühle in Betreff derſelben
giebt das Empfindungsvermögen an die Hand. Der Witz
verleiht dem Urtheil, der Vergleichung oder Empfindung
nur dadurch mehr Nachdruck, daß er ihnen eine ſolche Form
giebt, welche die Lacher auf ſeine Seite zieht. Der Witz
im phrenologiſchen Sinne des Wortes bedeutet alſo nur das
Talent für das Komiſche, und Gall glaubt es dadurch am
beſten bezeichnen zu können, daß er Lucian, Rabelais, Cer—
vantes, Swift, Sterne, Voltaire, Piron, Rabener, Wie—
land und Andere als die Männer bezeichnet, welche dieſes
Talent in beſonders hohem Grade beſaßen. Es hat übri—
gens natürlich immer einen verſchiedenartigen Charakter, je
nachdem es mehr mit dem Denkvermögen oder mehr mit
dem Empfindungsvermögen verbunden, mehr Verheimlichungs—
oder mehr Zerſtörungstrieb u. ſ. w. im Geleite hat. Bei
Sterne tritt der Witz mehr in Verbindung mit dem
Empfindungsvermögen, bei Swift in Verbindung mit
Denkvermögen und Zerſtörungstrieb auf. Je tiefer da—
her das mit dem Witze verbundene Denk- und Empfin—
dungsvermögen iſt, deſto tiefer und ergreifender wird
I) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 387. Combe's Sy:
ſtem S. 301. Spurzheim, on Phrenology p. 210—212.
Der Wit. 169
er wirken, während der ſtärkſte Witz ohne ſolches Geleite
zwar Gelächter, aber keine nachhaltige Wirkung hervorbrin—
gen wird. Je nach der Verſchiedenheit der begleitenden
Geiſteskräfte wird ſich der Witz Worte, Gedanken, Gegen—
ſtände der Kunſt, Ereigniſſe u. ſ. w. mit Vorliebe zu ſei—
nem Stoffe wählen. Der Muſiker, der Maler, der Dich—
ter und der Redner können in ihren Werken Witz entfalten).
Wenn wir witzige Reden analyſiren, werden wir immer
finden, daß, falls wir die darin liegenden Empfindungen,
Vergleichungen oder Schlüſſe davon trennen, für den Witz
nur die Art und Weiſe der Darſtellung zurückbleibt. Wenn
z. B. ein Herr zu einem Bedienten, der eine Zunge von
der Platte herabfallen ließ, ſagte: „Hat nichts zu bedeuten,
es iſt nur ein Lapsus linguae“, fo ſprechen dieſe Worte
das Gefühl des Wohlwollens, das dem Diener eine Ver—
legenheit erſparen will, in einer komiſchen Form aus. Das
Komifche liegt in der Zuſammenſtellung des Falles der
Zunge mit den lateiniſchen Worten Lapsus linguae, in
dem Contraſte der gewöhnlichen (Redeverſtoß) und der hier
zur Entſchuldigung des Diener i Bedeutung
jener Worte (Fall der Zunge).
Die Geſchichte von Lord Stair und Ludwig XV. iſt
bekannt. Erſterer ſah dem Letztern ſehr ähnlich. Als der Lord
an den Hof kam, rief der König, welcher nicht ſelten derbe
Reden führte: „Auf mein Wort, merkwürdig ähnlich!“ und
dann fragte er, ſich zu Lord Stair wendend: „War ihre
Mutter jemals in Frankreich?“ Der Lord antwortete:
„Eure Majeſtät verzeihen, meine Mutter nicht, allein mein
Vater.“ Lord Stair gab alſo zu verſtehen, nicht er, ſon—
dern Ludwig XV. ſei unehelich geboren. Das Schlagende
der Antwort lag darin, daß er die Anweſenheit ſeines Va—
ters in Frankreich mit derjenigen ſeiner Mutter contraſtirte.
Außer dem Denkvermögen, welches jene Andeutung machte,
und dem Witze, der die ſcheinbar unſchuldige Form dazu
1) Spurzheim, observ. p. 208. 209.
170 Der Witz.
wählte, war aber noch der Verheimlichungstrieb thätig,
welcher alle Empfindlichkeit unterdrückte, und der Zerſtö—
rungstrieb, welcher den Angriff nicht blos abſchlug, ſon—
dern ſofort eine tödtliche Wunde dem Gegner beibrachte.
Das Zuſammenwirken aller dieſer Kräfte gibt den Worten
des Lord Stair einen ſo außerordentlichen Nachdruck.
Der Witz liegt immer in der Darſtellungsweiſe, welche
Aehnlichkeit und Unähnlichkeit geſchickt zu verbinden ver—
ſteht. Die Aehnlichkeit liegt z. B. in der Geſchichte von
Lord Stair in der zugegebenen Anweſenheit des einen
Elterntheils in Paris, die Unähnlichkeit in der Verſchieden—
heit zwiſchen Vater und Mutter. Die Aehnlichkeit der
erſteren Geſchichte in der wörtlichen Ueberſetzung von La-
psus linguae, die Unähnlichkeit in der gewöhnlichen Be—
deutung dieſer Worte. Je überraſchender der durch dieſe
Miſchung von Aehnlichkeit und Unaähnlichkeit bewirkte Con—
traſt iſt, deſto witziger iſt der Einfall. Der Witz, welcher
ſich z. B. durch das ganze Werk Cervantes' hindurchzieht,
liegt in dem Contraſte zwiſchen dem, was Don Quixote
iſt, und demjenigen, was er zu ſein glaubt, zwiſchen der
Perſon des Ritters und ſeines Knappen u. ſ. w.
Nachahmungstalent. 171
$ 29.
22. Nachahmungstalent ).
In der Mitte zwiſchen den Organen des Wohlwollens
und des Sinnes für das Wunderbare liegt das Organ
des Nachahmungstalents. Es gränzt nach vorn an das
Organ des Schluß-Vermögens und nach hinten an die Or—
gane der Ehrerbietung und der Hoffnung.
Die Gehirnwindungen, welche es bilden, ſind auf
Gall's Tafeln mit XXVI bezeichnet. Daſſelbe findet
ſich in zwei verſchiedenen Geſtalten: entweder bildet
es, in Verbindung mit dem Organe des Wohlwollens,
namentlich wenn dieſes nicht ſehr groß iſt, in der Form
eines Kreisausſchnittes eine Erhabenheit, welche etwas
höher als das Organ des Wohlwollens liegt, oder aber
es bildet zwei längliche, neben dem Organe des Wohl—
Nachahmungstalent groß. Nachahmungstalent klein.
13
Clara Fiſcher.
Jakob Jervis.
172 Nachahmungstalent.
wollens zu beiden Seiten herlaufende Erhabenheiten. Die—
ſes kommt daher, daß die beiden Windungen, welche es
bilden, ganz nahe an diejenigen gedrängt ſind, welche das
Organ des Wohlwollens ausmachen.
Dr. Gall entdeckte es zuerſt an einem Freunde, Na—
mens Hannibal, dann an einem Taubſtummen, der ſich
durch ſein großes mimiſches Talent auszeichnete, und ſpäter
an einer großen Anzahl von Schauſpielern, welche das
Talent der Nachahmung in ſehr hohem Grade beſaßen.
Papageien und Affen beſitzen gleichfalls dieſes Organ.
Während das Charakteriſtiſche des Witzes darin be—
ſteht, Contraſte darzuſtellen, beſteht dasjenige des Nach—
ahmungstalents darin, wirklich wahrgenommene Gegen—
ſtände darzuſtellen. Aus einer Verbindung beider Talente
entſpringen die Carricaturen, welche mehr oder weniger
verletzend ſein werden, je nachdem mehr oder weniger Zer—
ſtörungstrieb damit verbunden iſt. In Verbindung mit
Verheimlichungstrieb bildet es, nach der Verſchiedenheit
der begleitenden Organe, die Anlage zu den verſchiedenen
Arten von Schauſpielern. Der Verheimlichungstrieb ſetzt
dieſe nämlich in den Stand, alle diejenigen ihrer Eigen—
ſchaften zu unterdrücken, welche zu ihrer Rolle nicht paſſen,
das Nachahmungstalent denjenigen Ausdruck wiederzugeben,
welchen ſie bei Menſchen der von ihnen darzuſtellenden
Art wahrgenommen haben. Die übrigen Eigenſchaften,
welche ſie beſitzen, machen es ihnen endlich möglich, dem
darzuſtellenden Charakter das erforderliche Leben zu ver—
leihen, z. B. der Bekämpfungstrieb, Rollen mit Wahrheit
und Nachdruck zu geben, worin Zank und Streit herrſcht,
Wohlwollen ſolche Rollen, worin Mitgefühl und Barm—
herzigkeit walten. Garrick beſaß dieſes Talent im höchſten
Grade.
Der Maler und der Bildhauer, welche das Nach—
ahmungstalent beſitzen, werden dadurch in den Stand ge—
ſetzt, getreue Abbildungen der Natur zu fertigen, der Dich—
ter, die Menſchen naturgetreu zu ſchildern, namentlich im
Nachahmungstalent. 173
Drama, worin dieſelben redend und handelnd eingeführt
werden ).
Es iſt gewöhnlich thätiger bei Kindern, als bei Er—
wachſenen, und es iſt bekannt, daß die Kinder Vieles durch
Nachahmung lernen. Wer es in ſtarker Entwickelung be—
ſitzt, iſt, insbeſondere, wenn er lebhaften Temperaments iſt,
geneigt, ſeine Worte mit entſprechenden beſchreibenden Pan—
tomimen zu begleiten. Die Sphäre ſeiner Thätigkeit iſt
groß. Es bezieht ſich auf Worte und Handlungen, auf
die Gebiete der Kunſt und Wiſſenſchaft. Es macht ſich
geltend im geſelligen und politiſchen Leben. Durch den
Drang der Nachahmung hat die Mode einen ſo überwäl—
tigenden Einfluß gewonnen.
Es fehlt uns Deutſchen nicht an dieſem Talente.
Machten wir doch beſſern Gebrauch davon!
Bisweilen findet ſich das Nachahmungstalent in einem
Zuftande unwiderſtehlicher Thätigkeit. Es find in den
phrenologiſchen Werken?) mehrere Fälle mitgetheilt, da Men—
ſchen von einem unwiderſtehlichen Drange beſeſſen waren,
Alles, was ſie ſahen, nachzumachen. Wenn man ihnen die
Hände hielt, um ſie zu verhindern, dieſem Drange Folge
zu leiſten, ſo bekamen ſie unerträgliche Beängſtigungen.
Man hat und zwar nicht mit Unrecht, die Frage auf—
geworfen: wie es komme, daß die Nachahmung und das
Wohlwollen unmittelbar neben einander ihre Organe haben,
da ſie doch ſcheinbar ſo ſehr verſchiedene Geiſteskräfte ſind,
während alle übrigen an einander gränzenden Organe, wie
z. B. Selbſtgefühl und Beifallsliebe, Bekämpfungs- und
Zerſtörungstrieb u. ſ. w. ſich viel näher ſtänden? Faſſen
1) Gall 's vollſtändige Geiftesfunde S. 415 ff. Spurzheim,
observ. p. 211. 212. Combe's Syſtem 311. Spurzheim on
Phrenology p. 213 — 215. Gall, sur les fonctions du cer veau
Vol. II. p. 326 —
2) Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. V p. 334. Zeit⸗
ſchrift für Phrenologie, Bd. I, S. 458.
174 Das Ordnungstalent.
wir übrigens das Wohlwollen und die Nachahmung tiefer
auf, ſo werden wir uns überzeugen, daß ſie ſich nahe ver—
wandt ſind. Der ihnen beiden zu Grunde liegende Be—
griff iſt derjenige der Sympathie. Sie unterſcheiden ſich
jedoch dadurch, daß bei dem Wohlwollen die Sympathie
einen mehr innerlichen, bei der Nachahmung einen mehr
äußerlichen Charakter hat, daß ſie dort als Gefühl, hier
als Form ſich geltend macht“), die Nachahmung faßt nur
die Außenſeite der Erſcheinung auf, und bekümmert ſich um
die tiefer liegenden Elemente nicht. Das Wohlwollen ſieht
über die äußere Erſcheinung hinweg und hält ſich an deren
Urſachen. Die Nachahmung beſchäftigt ſich, in ihrer Pro—
ductivität, gleichfalls nur mit der Außenſeite, die ſie wie—
dergibt, das Wohlwollen dringt tiefer ein, es handelt
werkthätig, es begnügt ſich nicht mit dem Scheine.
$ 30.
23. Das Ordnungstalent.
Ueber dem Auge zwiſchen den Organen des Zahlen—
ſinns und des Farbenſinns und unter demjenigen des Ton—
ſinns, liegt dasjenige des Ordnungstalents.
Gall, Spurzheim und Georg Combe wirkten bei ſei—
ner Entdeckung zuſammen. Es findet ſich groß an dem
Kopfe des berühmten Karl Wilhelm von Humboldt, klein
an dem Kopfe des ausgezeichneten irländiſchen Staats—
mannes Curran, welcher in Kleidung und ſeinem ganzen
Weſen ſehr unordentlich war. Es wurde groß beobachtet
an dem Kopfe eines blödſinnigen Mädchens in Edinburgh,
welches trotz ſeiner geiſtigen Krankheit doch auffallenden
Sinn für Ordnung an den Tag legte, und an dem ſ. g. Sau—
vage de l' Aveyron, welcher ungeachtet feiner Wildheit
jeden Gegenſtand inſtinctartig an ſeinen gehörigen Platz
I) The Zoist Vol. I Nr. IV. p. 369 sq.
Das Ordnungstalent. 175
ſtellte, ſelbſt wenn man, um ihn auf die Probe zu ſtellen,
alles in Unordnung gebracht hatte. Völker, welche ſich,
wie z. B. die Esquimaux, durch ihre Unordentlichkeit
auszeichnen, haben das Organ ſehr klein.
Wie der Witz und die Nachahmungsgabe für ſich
allein nichts ſchaffen, ſo auch der Ordnungsſinn. Die be—
reits vorhandenen Gegenſtände ſtellt er nur in harmoniſchen
Verhältniſſen dar. Die Gelegenheit feiner Wirkſamkeit
bietet ihm das äußere Leben, und die Richtung, in wel—
cher er ſich mit Vorliebe entwickeln wird, bezeichnen ihm
die begleitenden Geiſteskräfte. Der Ordnungsſinn wird
ſich nach der Verſchiedenheit der begleitenden Anlagen in
beſonderer Beziehung zu körperlichen Gegenſtänden über—
haupt (Gegenſtandsſinn), zu Ereigniſſen (Thatſachenſinn),
zu räumlichen Verhältniſſen (Raumſinn) u. ſ. w. an den
Tag legen. Die Sinnlichkeit ſcheint ſich aus einer Ver—
bindung des Ordnungs-, Farben- und Schönheits-Sinnes
zu entwickeln, und wird, je nachdem die eine dieſer Eigen—
ſchaften vorherrſchend iſt, einen verſchiedenen Charakter
haben. Die Reinlichkeit ohne oder mit ſchwachem Schön—
heitsgefühl wird nicht denjenigen Charakter der Zierlich—
keit haben, welcher namentlich am weiblichen Geſchlechte
eine ſo angenehme Erſcheinung bietet. Mit ſchwachem
Farbenſinn wird ſie ſich insbeſondere da nicht zeigen, wo,
wie z. B. bei gemiſchten Farben, das Ungehörige ſich nur
durch ſcharfe Auffaſſung der Farben entdecken läßt ).
Nicht jede Anordnung äußerer Dinge iſt dem Geiſte gleich
angenehm, und das Streben nach Ordnung iſt unabhän—
gig von dem Wirkungskreiſe jedes andern Vermögens.
Es gibt Leute, die wahre Märtyrer ihrer Ordnungsliebe
ſind, die nicht mit Appetit eſſen können, wenn die Salz—
fäſſer, Flaſchen, Gläſer u. ſ. w. nicht ſymmetriſch aufge—
ſtellt ſind, die beim Anblick von Scenen der Verwirrung
I) Spurzheim, observ. p. 293 — 294. Combe's Syſtem
S. 387. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. IV, p. 466 sq.
6: Tonſinn.
und Unordnung, ganz abgeſehen von allen Urſachen der—
ſelben, wirklichen Schmerz empfinden. Menſchen dieſer Art
haben das Organ des Ordnungsſinnes ſtark entwickelt.
$ 31.
24. Tonſinn !).
Gerade an der Stelle, wo ſich die Stirn zur Schläfe
rundet, umgeben von den Organen des Sinnes für me—
chaniſche Kunſt, der Idealität, des Witzes, der Zeit, des
Farbenſinns, des Ordnungs- und des Zahlenſinns findet
ſich das Organ des Tonſinnes oder des muſikaliſchen Ta—
lents. Es wird gebildet durch die auf Gall's Tafeln
mit XX bezeichneten Gehirnwindungen. Es zeigt ſich
in zwei beſondern Formen: entweder erweitert ſich der
äußere, unmittelbar über dem auswendigen Winkel des
Auges befindliche Winkel der Stirn gegen die Stirn hin,
oder es erhebt ſich unmittelbar über dem auswendigen
Winkel der Augen ein Vorſprung in Form einer Pyra—
mide. Daher haben die Muſiker den untern Theil der
Stirn entweder ſehr breit oder viereckig. Dr. Gall ent—
1) Fig. 55. Fig. 56.
Tonſinn groß. Tonſinn klein.
in
Händel. Anna Ormerod.
Tonſinn. 177
deckte es zuerſt an einem Mädchen von fünf Jahren, welche
ſich alles deſſen, was ſie ſingen oder auf dem Klavier
ſpielen hörte, erinnerte, und ſelbſt ganze Concertſtücke, wenn
ſie ſie nur zweimal gehört hatte, nachzuſpielen im Stande
war. Es iſt groß gefunden worden an den Köpfen von
Haydn, Gluck, Mozart, Zumſteg, Paer, Bethoven, Reichard,
Crescentini, Boyeldieu, Roſſini, der Catalani, den Schwe—
ſtern Milanollo und anderer bewährter Muſiker. Es iſt
groß an den Köpfen der Deutſchen und Italiener im Ver—
hältniß zu denjenigen der Franzoſen, Engländer, Spanier,
Neger, Otaheiter und anderer weniger muſikaliſcher Na—
tionen. Deutlich iſt daſſelbe zu erkennen an den Köpfen
der Singvögel im Gegenſatz zu den Köpfen der nicht ſin—
genden Vögel, in dem Maße, daß das geübte Auge ſogar
an dieſem Organe den Kopf des Männchens, welches ſingt,
von demjenigen des Weibchens, welches nicht ſingt, unter—
ſcheiden kann. Beſonders intereſſant iſt in Betreff dieſes
Organs ein von Dr. Andreas Combe beobachteter Fall.
Eine junge Dame mit ſtark entwickelten Organen der In—
telligenz überhaupt und der Muſik insbeſondere klagte über
Kopfſchmerzen und bezeichnete als den Sitz ihres Leidens ge—
rade die Stelle, wo das Organ der Muſik ſich befindet, dabei
erzählte ſie, daß ſie ſehr viel ſchöne Muſik im Traum geehört
habe. Dieſe muſikaliſchen Träume wiederholten ſich, wurden
ſo deutlich und beſtimmt, daß ſie dachte, ſie könnte ein Stück,
das ihr beſonders gefallen hatte, niederſchreiben. Im
wachen Zuſtande fühlte ſie darauf nicht nur ein Verlangen,
ſondern eine unwiderſtehliche und leidenſchaftliche Sehn—
ſucht nach Muſik, welche zu unterdrücken ihr unerträglich
ſchmerzlich war. Sie drang darauf aufzuſtehen und ſpie—
len und ſingen zu dürfen, und da dieſes nicht räthlich
ſchien, bat ſie, man möchte eine Freundin holen laſſen, da—
mit dieſe ihr vorſpielen möchte, indem nur dadurch ihr
Linderung zu Theil werden könne. Bald darauf wurde
ihr Verlangen nach Muſik aber ſo groß, daß ſie eine Gui—
tarre ergriff, ſich auf ein Sopha legte und ihrem Drange
12
178 Tonſinn.
nachgab. Sie ſang dann mit einer klaren, ſtarken und
umfangreichen Stimme, und mit bewunderungswürdiger
Leichtigkeit, bis ſich ihre Kräfte erſchöpften. Während
dieſer Zeit fühlte ſie den Schmerz an den Seiten der
Stirn und einen gewiſſen Druck in der ganzen Scheitel—
und vorderen Gegend der Stirn. Locale und allgemein
herabſtimmende Mittel heilten die junge Dame bald voll—
kommen und für immer. Aehnliche Fälle hat auch Gall
beobachtet). Oft wurde von Muſikern die angegebene
Stelle der Stirn als diejenige bezeichnet, welche das Or—
gan der Muſik bedecken müſſe, mit dem Bemerken, daß
ſie an dieſer Stelle bei muſikaliſchen Anſtrengungen Schmerz
empfänden. Daß der Tonſinn ein urſprüngliches Ver—
mögen der Seele iſt, erhellt daraus, daß es Idioten und
Wahnſinnige gibt, welche ungeachtet ihres ſonſt krankhaften
Zuſtandes nicht nur für Töne empfänglich, ſondern auch
fähig ſind, ſelbſt zu muſiciren, daß nicht ſelten Kinder,
bisweilen im dritten Jahre ſchon, bei falſchen Tönen Miß—
fallen zu erkennen geben, Liebe für Muſik zeigen, und ohne
Anweiſung fingen oder Inſtrumente fpielen ?). Lernt doch
auch der Singvogel durch ſich ſelbſt ſingen. Selbſt fern
von ſeinen Eltern, fern von Geſchwiſtern und Genoſſen
bleibt jede Art von Vögeln ihrem eigenthümlichen Geſange
treu. Der Mangel an Vorbildern, der fehlende Unterricht
macht es der jungen Nachtigall allerdings ſchwerer, ihr
natürliches Talent für Muſik zu entwickeln, allein ſie wird
doch ſingen, und wie eine Nachtigall ſingen, auch wenn
ſie von Lerchen oder anderen Singvögeln umgeben iſt.
Was für den Sprachſinn die Worte, ſind für den
Tonſinn die Töne, was für den Farbenſinn das Auge, iſt
1) Phrenological Journal of Edinburgh 1826 Nr. XI. Vol. III.
Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 346 — 357. Gall, sur les
fonctions du cerveau Vol. V. p. 96-130.
2) Einen ſehr intereſſanten Fall dieſer Art enthält das dritte
Heft des erſten Bandes der Zeitſchrift fuͤr Phrenologie S. 337.
Tonſinn. 179
für den Tonſinn das Ohr. Das Ohr nimmt die Töne
auf, aber es hat kein Bewußtſein, kein Gedächtniß, kein
Gefühl für die Muſik, ſo wenig als das Auge für die
Farben, oder der Magen für die Speiſen. Ein gutes Ge—
hör kann in Verbindung ſtehen mit gänzlichem Mangel
an muſikaliſchem Talent, und ſchlechtes Gehör mit großem
muſikaliſchem Talente. Manche ausgezeichnete Muſiker
waren harthörig, während nicht ſelten Menſchen und Thiere
mit ſehr gutem allgemeinem Gehör keinen Sinn für Mu—
ſik, oder ſelbſt Widerwillen dagegen beſitzen. Wie die
übrigen Talente, ſo ſchafft auch das Talent der Muſik
ſelbſt keine Gefühle und keine Gedanken, ſondern es ſtellt
nur ſolche in Tönen dar. Die Töne, welche ein Muſiker
hervorbringt, werden daher verſchieden ſein nach der Ver—
ſchiedenheit der den Tonſinn begleitenden geiſtigen Ver—
mögen. Bei vorwaltenden Organen der Ehrerbietung,
der Hoffnung und des Sinnes für das Wunderbare wird
ſich Kirchenmuſik, bei vorherrſchendem Bekämpfungs- und
Zerſtörungstrieb kriegeriſche Muſik u. ſ. w. entwickeln.
Ohne Zeitſinn wird es jedoch dem Muſiker an Tact, ohne
Gewichtſinn an dem bei allen Inſtrumenten erforderlichen
zarten Gefühle der Finger gebrechen. Zum Compoſiteur
iſt beſonders erforderlich der Zahlenſinn. Bei vorherr—
ſchender intellectueller Richtung wird die Muſik ungeachtet
aller Trefflichkeit, doch weniger das Gemüth anſprechen, bei
mangelnder Intelligenz wird es ihr nicht ſelten an Klar—
heit fehlen, natürlich da alle zum Darſtellungs-Vermögen
gehörigen Geiſteskräfte nur in verſchiedener Weiſe das—
jenige darſtellen, was die übrigen Seelenkräfte darbieten.
Der Tonſinn hat übrigens, wie jede andere geiſtige Kraft
auch ſeine empfangende Seite, und dieſe iſt es, welche
ihn befähigt, die Töne nicht nur vermittelſt der Ohren zu
hören, ſondern hauptſächlich ſich ihrer Verhältniſſe bewußt
zu werden. Auf dieſe natürliche Anlage zur Muſik grün—
den ſich alle Regeln des Generalbaſſes. Merkwürdig iſt
hierbei das Zuſammentreffen der ſieben Farben des Regen—
12#
150 Der Wortfinn oder das Sprachtalent.
bogens mit den fieben Tönen der Tonleiter. Nicht blos
finden ſich dort ſieben Grundfarben, und hier ſieben Grund—
töne, ſondern jede Farbe nimmt dort einen ebenſo großen
Raum im Regenbogen, als der Ton auf der Tonleiter
ein. Gleichwie die Farben und ihre Verhältniſſe nicht
willkürlich von den Menſchen gebildet werden, ſondern auf
ewigen Geſetzen der Natur beruhen, welche der Menſch
nur zu erfaſſen und nachzuahmen ſich beſtreben kann, ſo
hängen auch die Töne und ihre Verhältniſſe nicht von der
Beſtimmung des Menſchen ab, auch ſie ſind durch den gro—
ßen Ordner der Welten geordnet. Der Tonſinn befähigt nur
den Menſchen, die Verhältniſſe der Töne der Natur ab—
zulauſchen und ſeine Geſänge der Harmonie der Sphären
nachzubilden ). Die wunderbare Verwandtſchaft zwiſchen
Tönen und Geſtaltungen haben namentlich Chladni's Klang—
figuren anſchaulich gemacht.
9 32.
25. Der Wortſinn, oder das Sprachtalent.
Das Organ des Wortſinns oder Sprachtalents hat
ſeinen Sitz an dem hintern Theile der oberen Augenhöhlen—
platte, und drückt daher dieſe mehr oder weniger nach
unten, und folgeweiſe das in dieſer Höhle liegende Auge
nach unten und vorn ).
Dieſes war das erſte Organ, welches Dr. Gall ent—
deckte. Als Knabe von neun Jahren hatte er einen Ka—
meraden, der mit ihm bei ſeinem Onkel, einem Pfarrer im
Schwarzwalde, unterrichtet wurde, und der es ihm im
I) Spurzheim, observ. p. 296—299. Combe's Syſtem ©. 364.
2) Bayle beſaß dieſes Organ in Verbindung mit Gegenftandfinn
und Thatſachenſinn ſtark entwickelt. S. den folgenden $. S. 187.
Der Wortſinn oder das Sprachtalent. 181
Auswendiglernen zuvor that, obgleich er ihm ſonſt an
Gaben nicht gewachſen war. Später kam er auf die
Schule nach Baden bei Raſtatt. Auch da waren die
Schüler, denen er es am ſchwerſten zuvor thun konnte,
ſolche, die mit großer Leichtigkeit auswendig lernten und
unter dieſen zeichneten ſich beſonders zwei aus, welche beide
ſehr hervorſtehende Augen hatten, ſo daß ſie Ochſenaugen
genannt wurden. Da er nach einigen Jahren auf die
Schule nach Bruchſal kam, traf er wiederum mit Gefährten
zuſammen, die eine gleich große Gabe auswendig zu lernen
beſaßen und gleichfalls Ochſenaugen hatten. Auch auf der
Univerſität zu Straßburg machte er dieſelbe Erfahrung.
So kam er auf den Gedanken, daß Augen dieſer Art ein
Zeichen trefflichen Wortgedächtniſſes ſeien. Eine Reihe
ſpäterer Beobachtungen haben diejenigen Gall's beſtätigt.
Aus vielen, welche in den phrenologiſchen Schriften ge—
ſammelt ſind, hebe ich folgende aus. An verſchiedenen
Perſonen, welche im Laufe ihres Lebens ganz oder theil—
weiſe den Gebrauch von Worten verloren, ohne jedoch ihre
übrigen Geiſtesfähigkeiten einzubüßen, wurde nach ihrem
Tode eine Verletzung gerade dieſes Organs wahrgenommen.
Sehr häufig iſt der Fall, daß Menſchen, namentlich in
Folge von Wunden oder Schlaganfällen, den Gebrauch der
Worte verlieren, während ſie die Gegenſtände, welche durch
ſie bezeichnet werden ſollen, genau kennen ), ein deutlicher
Beweis, daß die Worte ein anderes Organ haben müſſen,
als die Gegenſtände und bei ausſchließlicher Verletzung des
erſtern die übrigen Seelenkräfte ungeſtört wirken können.
Kinder, Taube, Stumme und Taubſtumme denken, empfin—
den und begehren, ohne ſprechen zu können. Ein neuer
Beweis, daß das Organ des Sprachſinns von den übrigen
Organen des Geiſtes abgeſondert beſteht. Auf der andern
Seite iſt in der Krankheit der Wortſinn bisweilen auch in
hohem Grade aufgeregt, ſo daß der Kranke mit Worten
I) S. Zeitſchrift für Phrenologie Bd. 1. S. 222.
182 Der Wortſinn oder das Sprachtalent.
redet, Sprachen ſpricht, die er in ſeiner Kindheit kannte,
aber ſeitdem längſt vergeſſen hatte. Bisweilen führt er
dann auch ganze Stellen aus Schriften an, die er früher
auswendig gewußt, aber gleichfalls im gewöhnlichen Zu—
ſtande längſt wieder vergeſſen hatte ').
Während der Farbenſinn ein blos für ihn beſtimmtes
Werkzeug hat, mit deſſen Hülfe er die Farben zu ſeinem
Bewußtſein bringt (das Auge), hat der Sprachſinn ein
beſtimmtes Werkzeug der Activität, nämlich die Zunge ).
Daß jedoch dieſes von dem Organ des Wortſinns weſent—
lich verſchieden iſt, ergibt ſich ſchon daraus, daß die Zunge
gelähmt ſein kann, ohne daß der Wortſinn es iſt, und
umgekehrt, der Wortſinn, ohne daß die Zunge es iſt. Wie
das Ohr der Töne ſich nicht bewußt wird, ſich ihrer nicht
erinnert, ihre Schönheit nicht empfindet, ſo wird ſich die
Zunge ihrer Worte nicht bewußt, erinnert ſich ihrer nicht
und hat kein Gefühl für dieſelben. Dieſe Verrichtungen
gehören in das Gebiet des Wortſinns. Was für den
Tonſinn die Töne, das ſind für den Wortſinn die Worte.
Wie übrigens der Tonſinn nicht ſich ſelbſt, ſondern nur
den übrigen geiſtigen Kräften Formen der Darſtellung:
Töne verleiht, ſo gewährt auch der Wortſinn nicht ſich
ſelbſt, ſondern nur den damit verbundenen übrigen geiſtigen
Kräften die ihnen entſprechenden Formen der Darſtellung:
Worte. Der Wortſinn umfaßt alſo das Talent der Dar—
ſtellung durch Worte, welches ſich, wie bei allen übrigen
1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 320 — 340. Call, sur
les fonctions du cerveau Vol. V. p. 12—75.
2) Man wende nicht ein, daß man der Worte ebenſo gut zum
Schreiben als zum Sprechen bedürfe. Denn wir ſprechen hier nur
von den Naturanlagen des Menſchen. Das Schreiben iſt nicht in
gleichem Maße dem Menſchen natürlich, wie das Sprechen. Die wil—
deſten Völker ſprechen, aber nur civiliſirte ſchreiben, und auch unter
dieſen viele Individuen nicht. Auch die Zeichen ſind nur ein Noth—
behelf. Niemand wird durch Zeichen ſprechen, welchem Worte zu Ge—
bote ſtehen. =
Der Wortſinn oder das Sprachtalent. 183
Kräften von dem Bewußtſein und dem Gedächtniß der
Worte zu activem Gebrauche derſelben erhebt. Nicht ſel—
ten finden ſich Männer, welche ungeachtet eines großen
Reichthums an Gedanken und Gefühlen, ungeachtet der
Tiefe und der Kraft ihres Geiſtes doch Mühe haben, die
entſprechenden Worte zu finden, welche daher allenfalls am
Schreibtiſche, wo ſie ſich auf Worte beſinnen können,
ſich gut auszudrücken vermögen, nicht aber in öffentlicher
Verſammlung, wo zum Beſinnen keine Zeit iſt. Dieſe
Männer haben einen ſchwachen Wortſinn. Andere Men—
ſchen gibt es dagegen, denen ein unverſiegbarer Strom von
Worten zu Gebote ſteht, ohne daß jedoch Gefühle und
Gedanken in gleichem Reichthum flöſſen. Inſofern als
Worte weſentliche Beſtandtheile aller Sprachen, und alle
Wortkenntniß ein weſentlicher Beſtandtheil der Sprach—
kenntniß iſt, inſofern hängt von dem Wortſinn auch die
Erlernung von Sprachen ab. Da jedoch die Kenntniß
einer Sprache mehr umfaßt als die Kenntniß ihrer Worte
und ihrer wechſelſeitigen Verhältniſſe, da die Sprache mehr
oder weniger das Product des ganzen Lebens einer Nation
iſt, wie es ſich im Laufe der Jahrhunderte gebildet hat,
ſo genügt, inſofern es ſich um die Eigenthümlichkeiten der
verſchiedenen National-Sprachen handelt, der Wortſinn zu
deren Erlernung nicht. Wie übrigens trotz aller nationalen
Verſchiedenheiten der Muſik überall eine gewiſſe gemein—
ſame Grundlage bleibt, ſo haben auch alle Sprachen trotz
aller nationalen Verſchiedenheiten gewiſſe gemeinſame Grund—
lagen. Dieſe, welche die Natur ſelbſt geſchaffen hat, er—
faßt der Wortſinn und ſtellt ſie dar. Die beſonderen
Eigenthümlichkeiten jeder Sprache dagegen zu erfaſſen und
darzuſtellen, iſt anderen Vermögen vorbehalten.
Die Beobachtung Gall's, welche ihn auf die Ent—
deckung dieſes Organs führte, beweiſt, wie viel Werth zu
ſeiner Jugendzeit, und leider! noch heutigen Tages, auf
Worte gelegt wurde. Als ob Worte nicht weniger wären,
als Gedanken und Gefühle, zu deren Bezeichnung ſie doch
-
184 Der Wortſinn oder das Sprachtalent.
nur dienen ſollen. Allein der Pedant wird immer die
Form höher achten als den Geiſt, weil er jene feſthalten,
nach Regeln beſtimmen und beherrſchen kann, während der
Gedanke und das Gefühl ſich ſeinem Geiſte entzieht. Ver—
geſſen wir es nie: Worte ſind nur Zeichen, in denen ſich
der Geiſt ausſpricht, ſie wirken alſo unmittelbar nur auf
den Wortſinn. Nur inſofern in ihr Gewand wirklich Ge—
danken und Gefühle gehüllt ſind, ſprechen dieſe, nicht aber
die Hüllen, zum Denk- und Empfindungsvermögen. Dieſe
Wahrheit wird ſehr oft verkannt. So ſagt z. B. in Goethe's
Götz von Berlichingen Karl ſeinem Vater her:
„Jaxthauſen iſt ein Dorf und Schloß an der Jaxt,
gehört ſeit zweihundert Jahren den Herren von
Berlichingen erb- und eigenthümlich zu.“
Als ihn aber Götz von Berlichingen fragte:
„Kennſt du denn den Herrn von Berlichingen?“
ſo wußte der Knabe nicht zu antworten, er ſagt ſein
Sprüchlein von Neuem her, er hatte Worte gelernt, keine
Gegenſtände. Bei ſeinem Vater war es anders. Der ſagt
von ſich:
„Ich kannte alle Pfade, Weg' und Furten, eh' ich
wußte, wie Fluß, Dorf und Burg hieß.“
Der hatte Gegenſtände kennen gelernt, wenn ſchon noch
nicht die ſie bezeichnenden Worte.
Das Wort iſt nur das Zeichen für einen Begriff.
Man kann Worte herſagen, ohne die mit denſelben ver—
bundenen Begriffe zu kennen. Allein wenn man auch dieſe
kennt, fo kennt man die Gegenſtände darum ſelbſt noch
nicht. Der Knabe konnte jene Worte herſagen, ohne zu
wiſſen, was die Worte Dorf, Schloß, Jaxt bedeuten.
Aber wenn er auch deren Bedeutung, d. h. die damit be—
zeichneten Begriffe kannte, ſo kannte er darum noch nicht
die Gegenſtände. Ich kann wiſſen, daß Jaxthauſen ein
Dorf und ein Schloß iſt, ohne es geſehen zu haben, ohne
die geringſte beſondere Kenntniß davon zu beſitzen. Die
Worte lehrt uns der Wortſinn, die Begriffe das Denk—
Der Wortſinn oder das Sprachtalent. 185
vermögen, die Gegenſtände der Gegenſtandſinn, und ihre
beſonderen Eigenſchaften die verſchiedenen in dem Erkennt—
nißvermögen enthaltenen geiſtigen Kräfte. Wenn wir alſo
nur Worte haben, ſo haben wir ſehr wenig.
Unter Sprache verſteht man den Inbegriff von Zei—
chen, deren ſich der Menſch bedient, um ſeinen Mitmenſchen
die inneren Regungen ſeines Geiſtes mitzutheilen. Die
gewöhnlichſten, ausdruckvollſten und umfaſſendſten dieſer
Zeichen ſind die Worte, allein es ſind nicht die einzigen.
Die Gebärden, die Pantomimen geben auch ſolche an die
Hand. Allein nur die Zeichen für Regungen, welche der—
jenige, an welchen ſie gerichtet ſind, theilt, wird letzterer
verſtehen. Daher verſteht der Hund z. B. ſehr wohl die
Zeichen des Zornes und der Gunſt ſeines Herrn, allein
keineswegs die Zeichen feiner Gottesverehrung. Während
Gebärden und Pantomimen die natürlichen Zeichen der gei—
ſtigen Regungen des Menſchen, ſind die Worte die con—
ventionellen Zeichen deſſelben ). Allein der Wortſinn oder
das Sprachtalent verleiht allen Geiſtesfähigkeiten einen
gemeinſamen Ausdruck.
Stummheit kann die Folge der Unfähigkeit der Sprach—
werkzeuge, oder des entſprechenden Gehirn-Organs ſein.
Bisweilen iſt ſie aber nur die Folge der Krankheit des
einen oder des andern, und dann iſt Heilung möglich, wie
z. B. bei Kindern, welche Waſſer im Gehirn haben, und
in deſſen Folge oft geradezu, dem äußern Anſcheine nach,
ein ſtark entwickeltes Organ des Sprachſinns beſitzen.
1) Spurzheim, observations p. 299 — 310. Combe's Syſtem
S. 370. Spurzheim on Phrenology p. 287204.
IV.
Erkenntnissvermögen oder Fähigkeiten.
9 33.
26. Der Gegenſtandſinn ').
Dieſes Organ liegt unmittelbar über der Naſenwurzel, um—
geben von den Organen des Thatſachenſinns, des Orts-,
1) Fig. 57.
Gegenſtandſinn und überhaupt alle Organe der Intelligenz groß.
Michel Angelo.
S. auch §. 40. Fig. 59. 60. 61. 8
Der Gegenftandfinn. 187
Größen- und Geſtaltſinns. Die Gehirntheile, die es bil-
den, ſind auf Gall's Tafeln mit XXI bezeichnet. Iſt
es groß, ſo iſt der Theil zwiſchen den Augenbrauen dort
breit und herabſteigend; iſt es klein, ſo ſtehen die Au—
genbrauen nahe an einander und mehr horizontal. An die—
ſem Theil des Stirnbeins findet ſich übrigens bei Erwach—
ſenen häufig die Stirnhöhle (Sinus frontalis), welche einen
Schluß von der äußern Seite des Schädels auf das Gehirn
erſchwert und daher den Phrenologen zur vorſichtigen Be—
ſchränkung feiner Urtheile beſtimmen muß ).
Wenn wir die äußere Welt überblicken, ſo bemerken
wir darin zuvörderſt Gegenſtände als ſolche, welche unſere
Aufmerkſamkeit feſſeln, z. B. einen Felſen, ein Pferd u. ſ. w.,
darauf nehmen wir zweitens die Eigenſchaften oder Merk—
male der vorhandenen Dinge wahr, ihre Geſtalt, Größe,
Gewicht, Farbe, Anzahl. Nach dieſen Wahrnehmungen
können wir dann auch noch die Gegenſtände in ihrer Be—
wegung, in ihrer Thätigkeit auffaſſen: der Felſen ſtürzt,
das Pferd läuft u. ſ. w. Während die Gegenſtände ſelbſt
durch Hauptwörter, ihre Eigenſchaften durch Beiwörter,
wird ihre Bewegung, ihre active und paſſive Thätigkeit durch
Zeitwörter bezeichnet. Wie Größe, Geſtalt, Gewicht und
Farben Begleiter des phyſiſchen Daſeins ſind, ſo iſt die
Zeit die Begleiterin der Thätigkeit, des Geſchehens. Der
Gegenſtandſinn bemerkt die Gegenſtände, welche ſich ihm
darbieten, als ſolche, während der Farbenſinn an ihnen nur
die Farben, der Geſtaltſinn nur die Geſtalt, der Größen—
ſinn nur die Ausdehnung im Raume bemerkt. Der Gegen—
ſtandſinn faßt die Dinge der Außenwelt in ihrem ruhigen
Daſein, der Thatſachenſinn faßt ſie in ihrer Bewegung, in
ihrem Gange durch die Zeit auf. Bayle beſaß Gegenſtand—
ſinn und Thatſachenſinn, beide ſehr ſtark entwickelt. Die—
ſen beiden Fähigkeiten hatte er ſeine ausgebreiteten Kennt—
1) S. oben $. 2. Nr. 4. S. 42.
188 i Der Gegenſtandſinn.
niſſe und ſeinen glänzenden Geiſt zu verdanken. Von zwei
Perſonen, von welchen der eine den Gegenſtandſinn, der
andere den Thatſachenſinn ſtark entwickelt hatte, bemerkte
z. B. der erſte bei einer militairiſchen Revue ganz genau
den Anzug der Soldaten, ihr Ausſehen, ihre Waffen, jede
Feder auf dem Hute, jeden Aufſchlag auf dem Rocke, jedes
Abzeichen der verſchiedenen Regimenter und der verſchiede—
nen Grade. Der letztere dagegen bemerkte von alle dem
nichts, allein er bemerkte genau jede Bewegung der Sol—
daten, wie die eine auf die andere folgte, jede Schwenkung,
jeden Marſch von Anfang des Manoeuvres bis zum Ende.
Der Gegenſtandſinn bemerkt die Gegenſtände ohne alle Rück—
ſicht auf ihr Wirken oder auf die Zwecke, wozu ſie dienen
können. Er macht zur Beobachtung geneigt und iſt ein
Haupterforderniß für alle Wiſſenſchaften, welche es mit
einer Kenntniß einzelner Gegenſtände zu thun haben, wie
z. B. die Naturgeſchichte. Menſchen dieſer Art ſind vor—
trefflich zum Herbeiſchaffen von Stoff, womit jedoch nur
das Denkvermögen zu bauen verſteht. Leute mit Gegenſtand—
ſinn ohne Denkvermögen wiſſen ihre Augen zu gebrauchen,
haben oft zwiſchen zwei Thüren gar Mancherlei zu ſehen,
nichts iſt vor ihren Augen zu verbergen. Ohne daß ihre
Augen Nachdenken, Gefühl, Scharfblick verrathen, ſind ſie
wachſam, raſch, thätig, immer gleichmäßig gerichtet auf die
Dinge dieſer Welt. Menſchen, bei denen der Gegenſtand—
ſinn klein iſt, kommen und gehen oft Jahre lang durch die—
ſelben Zimmer, ohne zu wiſſen, was ſich darin befindet,
durch dieſelben Straßen, ohne die Eigenthümlichkeiten der
verſchiedenen Häuſer zu bemerken; ſie ſehen, aber ſie beob—
achten nicht, ſie hören, aber der Ton bereichert nicht ihren
Schatz von Erfahrungen. Für den Künſtler iſt das Organ
von hoher Wichtigkeit. Es ſetzt ihn in den Stand, den
Gedanken und Gefühlen, welche ſeine übrigen geiſtigen Ver—
mögen in ihm erwecken, Eigenthümlichkeit zu geben, ſie mit
denjenigen Einzelnheiten auszuſchmücken, welche das ab—
Der Gegenftandfinn. 189
ſtracte Ding von dem wirklichen Weſen mit Fleiſch und
Blut unterſcheidet ).
Wer den Gegenſtandſinn, namentlich in Verbindung
mit Geſtaltſinn, in ſtärkerer Entwickelung beſitzt als das
Denkvermögen, wird zu Perſonificationen geneigt ſein. Statt
ſich Gott im Geiſte und in der Wahrheit zu denken, wird
er ihn ſich in menſchlicher Geſtalt, umgeben von andern
menſchlichen oder doch menſchenähnlichen Geſtalten vorſtel—
len. So lange man ſich bewußt bleibt, daß dieſes nur in
Folge unſerer menſchlichen beſchränkten Auffaſſungsweiſe ge—
ſchieht, iſt nichts dagegen einzuwenden. Sobald wir aber
dieſes vergeſſen, werden wir auf Abwege geleitet.
An Georg's III. Kopfe war dieſes Organ beſonders
groß, und demſelben, in Verbindung mit ſeinem großen
Geſtaltſinn, muß es zugeſchrieben werden, daß dieſer König
eine auffallende Gabe hatte, Perſonen, welche er nur ein—
mal geſehen hatte, nach Jahren wieder zu erkennen.
Gall, welcher auch dieſes Organ zuerſt auffand, nennt
es Sachſinn oder Erziehungsfähigkeit. Gegenſtandſinn iſt
aber bezeichnender als Sachſinn. Erziehungsfähigkeit iſt
allerdings eine Folge ſtark entwickelten Gegenſtandſinns, und
es iſt eine merkwürdige Thatſache, daß Kinder, ſowie die
Jungen der Thiere dieſes Organ durchgängig verhältnißmäßig
ſtärker entwickelt haben als erwachſene oder gar ſehr alte In—
dividuen?). Allein Erziehungsfähigkeit iſt weder die einzige
Folge des Gegenſtandſinns, noch iſt der Gegenſtandſinn die
einzige Urſache der Erziehungsfähigkeit. Die Erziehung hat
es nicht blos mit Gegenſtänden, ſie hat es auch mit Ge—
fühlen und mit Gedanken mancherlei Art zu thun, welche
ſich nicht unmittelbar auf Gegenſtände beziehen. Die Be—
zeichnung Gegenſtandſinn beſeitigt alle dieſe Zweideutigkeiten
und Mißverſtändniſſe.
I) Spurzheim, observ. p. 278. Combe's Syſtem S. 329.
Call, sur les fonctions du cerveau Vol. IV. p. 379 — 428.
2) Gall, I. c. p. 404 sq. p. 427.
190 Geſtaltſinn.
$. 34.
27. Geſtaltſinn.
Zu beiden Seiten unmittelbar an dem Hahnenkamme (Cri—
sta galli) breitet ſich das Organ des Geſtaltſinns aus. Iſt es
klein, ſo ſtoßen die innern Platten der Augenhöhlen dicht
an den Kamm, und die äußere Breite über der Naſe von
Auge zu Auge iſt dann gering. Iſt es dagegen groß, fo
iſt zwiſchen dem Kamme und der innern Augenhöhlenplatte
ein beträchtlicher Zwiſchenraum und die Fläche der Naſe
erſcheint breit), oder aber es werden die innern Theile der
Augen und die entſprechende Commiſſur der Augenlider nach
1) Fig. 58.
Geſtaltſinn groß.
Geſtaltſinn. 191
unten gedrückt, indem ſich das Organ mehr von unten nach
oben, als von einer Seite nach der andern hin ausbreitet.
Bei kleinen Kindern iſt es gewöhnlich ſehr ſtark entwickelt,
und ſie beobachten mit vielem Vergnügen an jedem Gegen—
ſtande die Geſtalt. Der Zwiſchenraum zwiſchen den Augen
in der Gegend der Naſenwurzel iſt bei ihnen meiſtens ver—
hältnißmäßig groß. Nur ſelten dehnt ſich bei Erwachſenen
die Stirnhöhle bis zu der Stelle aus, worunter dieſes Or—
gan liegt. Dr. Spurzheim, welcher das ſchon von Gall’)
entdeckte Organ näher beſtimmt hat, drückt ſich darüber
aus, wie folgt: „Ich trenne,“ ſagt er, „das Vermögen,
welches Geſtaltung wahrnimmt, von dem des Gegenſtand—
ſinns, weil wir das Daſein einer Sache auffaſſen können,
ohne deren Geſtalt in Betracht zu ziehen. Der Gegenſtand—
ſinn kann durch alle äußern Sinne, ſowohl durch Geruch
und Gehör, als durch Geſicht und Gefühl angeregt wer—
den; dahingegen unterſtützen nur die beiden letzteren Sinne
das Vermögen des Geſtaltſinns. Dieſe Kraft iſt es, welche
uns treibt, jedem Weſen, jedem Begriffe unſeres Geiſtes
eine beſtimmte Figur beizulegen: der Gerechtigkeit die Ge—
ſtalt eines Weibes mit verbundenen Augen, dem Schwerte
und der Wage, dem Tode die eines Skeletts u. ſ. w.“ Das
Organ findet ſich ſtark entwickelt bei van Dyk in Verbin:
dung mit ſtarker Entwickelung des Kunſtſinns, bei Callot,
Tintorelli und Andern.
Das Weſen dieſes Sinns beſteht alſo darin, die Fä—
higkeit zur Auffaſſung der Geſtaltung der Körper zu be—
gründen. Wie die Natur nach ewigen Geſetzen die Ver—
hältniſſe der Schwere, der Farben, der Töne u. ſ. w. ge—
ordnet hat, ſo liegen auch ihren Geſtaltungen ewige Geſetze
zu Grunde. Nicht willkürlich und launenhaft bilden ſich
die Kriſtalle und ebenſowenig die Blätter und Blüthen der
Pflanzen und die Glieder der thieriſchen Körper: der
Rüſſel des Elephanten und das Auge des Adlers. Der
I) Sur les fonctions du cerveau Vol. V. p. 1—11.
192 Geſtaltſinn.
Menſch kann Geſtalten jeder Art erſinnen, allein nur die—
jenigen werden ſchön ſein, welche den Geſetzen entſprechen,
wonach die Geſtaltungen in der Welt Gottes ſich bilden.
Der Menſch mag ſeine Farben miſchen, wie er will; allein
nur diejenigen Miſchungen, welche den ewigen Geſetzen der
Farben entſprechen, werden ſchön ſein. Natürlich, weil der
Menſch es der Gottheit nicht zuvor thun kann, weil er
immer hinter ihr zurückbleiben muß und ſein ganzes Stre—
ben nur ſein kann, ihre Werke zu beobachten, ihre Sprache
verſtehen zu lernen, ihren Winken zu folgen. Wer aber
an die Stelle der Geſetze, nach welchen alle Geſtalten der
Natur ſich bilden, ſeine eigenen Anſichten über ihr Verhält—
niß zur Gedanken- und Gefühlswelt des Menſchen ſetzen
will, wer auf die innere Welt des Menſchen die Bildun—
gen der Natur zurückführen, in ihr den Maßſtab zur Be—
urtheilung derſelben ſuchen will, der verkennt durchaus ſeine
Stellung zur Natur. Er will Geſetze geben, ſtatt ſie zu
empfangen; er bemüht ſich, ſeinem eigenen kleinen, ſchwachen
Verſtande die geſetzgebende Gewalt zuzuſchreiben, ſtatt ihn
anzuhalten, die Geſetze Gottes zu erforſchen und ihnen zu
folgen ).
Geſtalt iſt der, aus der Verſchiedenartigkeit räumlicher
Ausdehnung der Körper hervorgehende Umriß deſſelben.
Man wende nicht ein, auf Gemälden ſähen wir Geſtalten
blos in Folge der darauf angebrachten verſchiedenen Farben.
Denn die Farben auf einem Gemälde ſind ſelbſt Körper,
z. B. Indigo, Zinnober u. ſ. w., welche daher räumliche
Ausdehnung haben und Umriſſe bilden. Inſofern aber dieſe
Umriſſe verſchieden ſind von denjenigen, welche ſich uns
vermittelſt des Auges darſtellen, z. B. bei den Gemälden
des Wettſtreits zwiſchen Parrhaſius und Zeuxis, werden
wir durch unſer Auge getäuſcht, und eben deswegen iſt
der Ausſpruch nicht maßgebend, welchen wir, geſtützt auf
dieſe künſtlich hervorgebrachte Täuſchung, thun.
I) Spurzheim, observ. p. 379. Combe's Syſtem S. 333. \
9
Raumſinn oder Größenſinn ö 193
Wer Geſtaltungen richtig auffaßt und überhaupt die—
ſen Sinn in hoher Entwickelung beſitzt, wird folgeweiſe
ſich auch der wahrgenommenen Geſtalten genau erinnern
und daher auch ſie leicht wieder erkennen. Gall beſaß die—
ſes Organ in ſchwacher Entwickelung, und die läſtigſte Folge
hiervon war für ihn, die Geſichtsbildung, oder mit andern
Worten, die Geſtaltung des Geſichts der Menſchen nicht
ſicher aufzufaſſen, obgleich er ein ſehr gutes Auge hatte.
Er hatte daher Mühe, die Menſchen, mit denen er zuſam—
menkam, wieder zu erkennen, und nannte deshalb dieſes
Organ urſprünglich Perſonenſinn; allein da nicht blos
Perſonen, ſondern auch Thiere und lebloſe Gegenſtände Ge—
ſtaltung haben, ſo wurde ſpäter mit Recht ſowohl Name
als Begriff dieſes Organs in der angegebenen Weiſe aus—
gedehnt.
$. 35.
28. Raumſinn oder Größenfinn.
Am innern Winkel des Bogens der Augenbraunen,
umgeben von den Organen des Geſtaltſinns, Gegenſtands-,
Orts-, Gewichts- und Sprachſinns liegt das Organ des
Raum- oder Größenſinns. h
An den Köpfen verfchiedener Männer, welche in der
Perſpective viel leiſteten, namentlich Landſchaftsmaler,
wurde es groß beobachtet.
Der Größenſinn beſchäftigt ſich mit den Verhältniſſen
des Raums und befähigt uns, ſie zu überſchauen, d. h.
Entfernungen und Ausdehnungen richtig zu würdigen. Er
verhält ſich zum Geſtaltſinn wie der Raum zur Geſtalt.
Allerdings können wir nur im Raume Geſtalten erkennen,
allerdings nimmt jeder beſtimmte Raum, den wir betrach—
ten, eine beſtimmte Geſtalt an, allein deſſenungeachtet iſt
der Raum keine Geſtalt und die Geſtalt kein Raum. Jeder
Körper hat verſchiedene Eigenſchaften, jeder dehnt ſich im
13
194 Raumſinn oder Größenſinn.
Raume aus, hat Gewicht, Farbe und Geſtalt und iſt dar—
um doch nicht ſelbſt Gewicht, Farbe und Geſtalt. Wie der
Farbenſinn ſich nur mit den Farbenverhältniſſen, ſo beſchäf—
tigt ſich der Raumſinn nur mit den räumlichen Verhält—
niſſen eines Körpers. In demſelben Maße, in welchem ſich
ein Körper von uns entfernt, erſcheint er uns blos in Folge
dieſer Entfernung verſchieden. Der Raumſinn verſteht es,
dieſe Verſchiedenheit der Erſcheinung mit der Wirklichkeit
auszugleichen. Ohne den uns vermittelſt deſſelben ertheil—
ten Ausgleichungsapparat würden wir nicht im Stande
ſein, ein uns naheſtehendes kleines Haus von einem fernen
großen Hauſe zu unterſcheiden, könnte der Maler keine Ver—
kürzungen auf ſeinen Gemälden anbringen, der Militär den
Platz nicht beurtheilen, welchen dieſe oder jene Schwenkung
erfordern möchte, könnte der Kutſcher bei dem eiligen Laufe
ſeines Wagens durch krumme und mit Menſchen angefüllte
Straßen ſeinen freien Weg nicht finden.
Der Größenſinn iſt wichtig für den Geometer, den
Architekten, den Zimmermann, den mechaniſchen Künſtler
jeder Art, den Aſtronomen. Er mißt die Ausdehnung der
irdiſchen und der Himmelskörper, und iſt daher jedem un—
entbehrlich, der ſich mit der Ausdehnung derſelben zu be—
faſſen hat.
Die Stirnhöhle verurſacht bei der Beobachtung dieſes
Organs einige Schwierigkeiten.
In welcher Weiſe dieſes Organ, wenn es ſchwach iſt,
wirkt, ergiebt ſich aus folgendem Falle. Ein Herr Fergu—
ſon, der es ſchwach beſaß, berichtete, daß es ihm ſchwer
werde, eine Landſchaft in einem Bilde zu erkennen. Sie
ſcheine ihm, ſagte er, eine Gruppe von Gegenſtänden auf
einer ebenen Fläche, ohne bemerkbaren Vorder- oder Hin—
tergrund zu bilden. Er-ſieht die Geſtalten aller Gegen—
ſtände deutlich, ſowie ihre Farben, Naturſchönheiten bieten
ihm auch großen Genuß. Allein ſobald er ihnen den Rücken
kehrt oder das Auge ſchließt, fo verwirrt ſich ſofort ſeine
Erinnerung an dieſelben Er vermag es nicht, die wechſel—
Gewichtfinn. 195
feitige Stellung der Gegenſtände ſich zurückzurufen, wäh—
rend er ſich deutlich des angenehmen Eindrucks erinnert,
den fie auf ihn machten ).
Combe?) erwähnt eines Falles, da ein Mann bis—
weilen Zeiten hat, in welchen er alle Dinge, ſelbſt die ihm
ganz nahe ſind, ſieht, als wären ſie ferne. Dieſer Zuſtand
iſt ohne Zweifel einer krankhaften Affection des Organs des
Größenſinnes zuzuſchreiben.
$. 36.
29. Gewichtſinn.
Unmittelbar über dem Auge, zwiſchen den Organen
des Raum- und des Farbenſinns und unter demjenigen des
Ortſinns findet ſich dasjenige des Gewichtſinns.
Aus der Schwerkraft geht aller Widerſtand hervor,
den uns der Körper in ſeiner Ruhe entgegenſetzt, ſei es
direct durch ſich ſelbſt oder durch ſeine Verbindung mit an—
dern Körpern. Die Schwerkraft bildet daher den Gegen—
ſatz zu der bewegenden Kraft. Erſtere hat ihren Sitz in
dem Organe des Gewichtſinns, indem dieſer nichts anderes
iſt, als der Sinn für die aus der Schwere der Körper
(ihrem Gewicht) hervorgehenden Verhältniſſe. Ob die letztere
ein beſonderes Organ hat, oder aus dem Zuſammenwirken
der übrigen Organe ſich entwickelt, iſt zur Zeit noch nicht
genügend ermittelt. Einiges ſcheint indeß dafür zu ſprechen,
daß die bewegende oder die Schwungfraft, inſofern ſie un—
willkürlich iſt, ihren Sitz in dem verlängerten Rückenmark,
inſofern ſie willkürlich iſt, in den verſchiedenen Organen
des vordern Gehirn-Lappens hat. Inwiefern das kleine
Gehirn hierbei betheiligt ſein möchte, iſt noch nicht ermittelt.
Jedenfalls würde durch dieſelbe die leitende und beſtim—
I) Spurzheim, observ. p. 281. Combe's Syſtem S. 337.
2) System of Phrenology. 5. Ed. Vol. II. p. 45.
15 *
196 Gewichtſinn.
mende Einwirkung der verſchiedenen Organe der Intelli—
genz und namentlich des Gewichtſinns nicht ausgeſchloſ—
ſen. Die bewegende Kraft im Menſchen und ſein Ge—
wichtſinn verhalten ſich wie die Centrifugal- und die
Centripetalkraft im Weltgebäude. Durch die Wechſelwir—
kung der letzteren werden die Sterne am Firmamente in
geregeltem Gange erhalten, durch die Wechſelwirkung der
erſteren werden die Bewegungen des Menſchen und über—
haupt aller lebenden Geſchöpfe geregelt, inſofern ſie nicht
unter dem Einfluſſe einer von außen wirkenden bewegenden
Kraft ſtehen. Eine ſolche bringt in Verbindung mit der
den Körpern inwohnenden Schwerkraft alle Bewegungen
derſelben hervor. Die Schwerkraft bildet alſo nicht blos
das Element der Ruhe in der Körperwelt, ſondern zu glei—
cher Zeit ein Element ihrer Bewegung, weil jede bewegende
Kraft durch das ihr entgegenſtehende Gewicht in ihren Wir—
kungen modificirt wird.
Ich fand die Organe des Größenſinns und des Ge—
wichtſinns an einem Engländer Namens Jones ſtark ent—
wickelt, und als ich es ihm ſagte, ſo erwiderte er mir, es
ſeien auf ihn Wetten gemacht worden, daß er im Stande
ſei, das Gewicht jeder einzelnen Perſon einer Geſellſchaft
blos nach dem Augenmaße zu beſtimmen, ohne jemals mehr
als fünf Pfunde zu irren. Hier ſehen wir recht auffallend
das Zuſammenwirken jener beiden Organe im praktiſchen Leben.
Leute, welche ſich im Scheibenſchießen auszeichnen, ſo—
wie auch ſolche, die in der Mechanik den Schwerpunkt und
den Widerſtand gut zu beurtheilen wiſſen, haben nach wie—
derholten Beobachtungen das bezeichnete Organ groß. Auf
dem Gewichtſinne beruht hauptſächlich die Statik oder der—
jenige Zweig der Mathematik, welcher die durch ihre Schwere
bedingte Bewegung der Körper betrachtet, ſodann das Gleich—
gewicht, welches in den mannigfaltigſten Beziehungen des
Lebens, z. B. beim Gehen, Reiten, Schlittſchuhfahren,
Seiltanzen u. ſ. w. von weſentlicher Bedeutung iſt. Eine
richtige Würdigung des Widerſtandes, den ihm bei Opera—
Gewichtſinn. 197
tionen die zu durchſchneidenden Theile entgegenſetzen, iſt
insbeſondere auch dem Operateur!) unentbehrlich. Das Ge:
lingen ſeiner Operationen wird daher zum großen Theile
auf der Entwickelung dieſes Organs beruhen. Aus gleichem
Grunde iſt es dem Muſiker, dem Bildhauer, Kupferſtecher,
Goldarbeiter und jedem, der ſich mit feinern Handarbeiten
beſchäftigt, von höchſter Bedeutung. i
Sehr intereſſant ſind einige Fälle von Krankheits—
erſcheinungen dieſes Organs. Ein Fräulein S. wurde z. B.
von Kopfweh und Schmerz in der Gegend des Organs des
Gewichtſinns befallen, worauf ihre Wahrnehmung des
Gleichgewichts ſich trübte, Schwindel eintrat und die Em—
pfindung entſtand, als würde ſie wechſelsweiſe aufgehoben
und niedergelaſſen und nach vorn geneigt.
Fälle, da es im Traume ſowohl als im wachenden
Zuſtande der Menſchen vorkommt, als ſchwebten ſie in der
Luft, als flögen ſie, als fielen ſie von hohen Thürmen oder
aus Fenſtern tief hinab, als ginge das Zimmer um ſie
herum, als ginge der eigene Kopf im Kreiſe herum, als
könne man den eigenen Schwerpunkt nicht mehr finden —
find ſehr häufig. Sie find immer mehr oder weniger von
Schwindel begleitet. Geiſtige Getränke befördern derartige
Zuſtände bekanntermaßen ungemein. Sie ſcheinen ſich ſämmt—
lich auf eine krankhafte Aufregung des Gewichtſinns zurück—
führen zu laſſen. Die Seekrankheit iſt mit dieſen Erſchei—
nungen nahe verbunden. Wer ſein Gleichgewicht auf dem
Schiffe oder beim Beſteigen eines hohen Thurms bewahrt,
wird weder Schwindel noch irgend eine andere Folge des
letztern empfinden, während eine krankhafte Affection des
Organs des Gewichtſinns natürlich auf die andern Theile
des Körpers eine Rückwirkung übt und fo Uebelkeiten,
Erbrechen u. ſ. w. hervorruft ).
1) Der ausgezeichnete Arzt und Operateur Geh. Rath Chelius zu
Heidelberg beſitzt z B. den Gewichtſinn und den Größenſinn ſtark ent—
wickelt.
2) Spurzheim, observ. p. 282. Combe's Syſtem S. 379.
198 Farbenſinn.
8.
30. Farbenſinn.
Dieſes Organ befindet ſich über dem Auge in der Mitte
zwiſchen den Organen des Gewichts und der Ordnung.,
unmittelbar unter demjenigen der Zeit. Es wird durch die
auf der Tafel VII mit XVIII bezeichneten Gehirntheile ge—
bildet.
Bei allen Malern, die ſich durch Farbengebung aus—
zeichnen, z. B. Rubens, Titian, Rembrandt, Salvator
Roſa, Claude Lorrain, Wilkie, bildet der unmittelbar
über den Augen liegende Theil der Stirn einen gewölbten
Vorſprung, und der ganze Augenbogen, beſonders aber ſeine
äußere Hälfte, iſt nach oben zu gerichtet, ſodaß die aus—
wendige Hälfte der Augenbraunen mehr erhöht iſt, als die
inwendige Hälfte. In dieſer Richtung liegt eine kleine, nach
außen vorſpringende Windung, die / bis 1 Zoll im Durch—
meſſer in der Quere hat!).
Wie das Ohr nur der Apparat iſt, in welchem der
Schall, ſo iſt das Auge nur der Spiegel, worin die Au—
ßenſeite der Körper, alſo ihre Farbenverhältniſſe, aufgenom—
men werden. Das Organ dagegen, das uns befähigt, uns
des Farbenbildes bewußt zu werden, uns deſſen zu erin—
nern, Freude über ſchöne Farben, Farbenmiſchungen und
Zuſammenſtellungen zu empfinden, unſchöne Farbenverhält—
niſſe dagegen als ſolche zu erkennen, und das den, der es
ſtark beſitzt, drängt, ſchöne Farbenverhältniſſe zu ſuchen
und hervorzubringen — dieſes Organ iſt nicht das Auge,
ſondern der unter der bezeichneten Stelle des Schädels ru—
hende Gehirntheil. Dieſes behauptete ſchon ein blindgebor—
ner Buchhändler zu Augsburg, welcher dieſes Organ ſehr
groß beſaß. Er verſicherte, blos mit Hülfe des innern
1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 341 — 346. Gall, sur
les fonctions du cerveau Tom. V. p. 73 - 95.
Farbenſinn. 199
Sinnes Begriffe von den Farben zu haben, und konnte
wirklich ihre Harmonie genau beſtimmen. Wenn er ſich mit
ſeinen farbigen Glasperlen zu viel beſchäftigte, empfand er
Schmerz unmittelbar über den Augen, beſonders über dem
rechten Auge.
In den phrenologiſchen Schriften ſind eine Reihe in—
tereſſanter Fälle beſchrieben, ſowohl ſolcher, welche ein Wech—
ſelverhältniß zwiſchen ſtarker Entwickelung des Organs und
großem Farbenſinne, als ſolcher, welche ein Wechſelverhält—
niß zwiſchen ſchwacher Entwickelung des Organs und ſchwa—
chem Farbenſinne bekunden. Beſonders merkwürdig iſt der
Fall eines Herrn Milne, welcher bei auffallend ſchwacher
Entwickelung dieſes Organs Jahre lang in einem Tuchladen
ſtand und Tuch verkaufte, ohne nur ſelbſt zu wiſſen, daß
er nicht vermöge, die Farben richtig zu erkennen. Die Feh—
ler und Verſtöße, die er, in Folge ſeines mangelnden Far—
benſinns, machte, wurden ſeiner Unachtſamkeit zugeſchrieben.
Am Ende überzeugte er ſich jedoch, daß er, wenn auch
Schwarz und Weiß, Blau und Gelb, doch nicht Braun, Grün
und Roth unterſcheiden könne, daß er im Regenbogen nur
Gelb und Blau genau erkenne u. ſ. w. Er hatte an der
Stelle dieſes Organs eine augenfällige Vertiefung.
Auch ich habe Gelegenheit gehabt, einen ganz gleichen
Fall zu beobachten. O. G. Advocat Eſſer zu Mannheim
hat an der Stelle, wo das Organ des Farbenſinns liegt,
eine merkliche Vertiefung. Auch er kann nur Schwarz und
Weiß, Blau und Gelb unterſcheiden; Dunkelblau und Roth,
wenn es etwas dunkel iſt, ſelbſt dann nicht mehr, wenn
die beiden Farben neben einander liegen; z. B. beim Bil—
lardſpiel vermag er die blaue von der rothen Kugel nicht
zu unterſcheiden, wenn beide Farben etwas dunkel ſind.
Der Farbenſinn iſt gewöhnlich bei den Frauen mehr ent—
wickelt als bei den Männern, wie ſchon ihre Kleidung und
ihre Vorliebe für Blumen beweiſt; in Uebereinſtimmung
hiermit iſt die Bemerkung, daß die Augenbrauen bei ihnen
ziemlich häufig einen Kreis bilden.
200 Farbenſinn.
Unter den verſchiedenen Völkern der Erde zeichnen ſich
die Chineſen durch ihren Farbenſinn aus. Man weiß, wie
ſehr fie die Farben lieben: alle ihre Gebäude, Säulen u. ſ. w.
ſind farbig angeſtrichen, auch übertreffen ſie alle Völker in
der Färberei. Ihre Augenbraunen ſind ſehr nach oben ge—
zogen. Uebrigens iſt es nicht die Sache dieſes Sinnes, ein
richtiges Verhältniß zwiſchen der Farbengebung und den zu
färbenden und zu malenden Gegenſtänden herzuſtellen. Das
iſt Sache des Geſchmacks und hängt nicht ſelten von Kennt—
niſſen mannigfaltiger Art ab.
Was oben bei Gelegenheit des Geſtaltſinns von den
ewigen Geſetzen der Natur in Betreff der Geſtalten ausge—
führt iſt, gilt auch in Betreff der Farben. Der Menſch
kann die Natur nur beobachten und ihre Geſetze befolgen,
ihr aber keine ſolchen vorſchreiben. Der Farbenſinn befä—
higt ihn zu dieſer Beobachtung in Betreff der Farben.
Farbe iſt dasjenige, was wir vermittelſt des Auges,
(des Sehnervs) am Körper wahrnehmen, oder was bei
dem Zuſammentreffen zwiſchen dem Auge und einem Kör—
per ſich darſtellt. Man wende nicht ein, bei dieſem Zu—
ſammentreffen nähmen wir auch Geſtalten wahr. Aller—
dings! Allein nur vermittelſt der Verſchiedenheiten der Far—
ben. Nimmt man dieſe, wozu insbeſondere die Reſultate
von Licht und Schatten gehören, hinweg, ſo gewahren wir
mittelſt des Auges nichts, wie bei gänzlicher Finſterniß.
Unmittelbar zeigt uns das Auge Farben und deren Ver—
ſchiedenheiten, mittelbar nur Geſtalten. Nicht ſelten ſehen wir
lange die verſchiedenen Farben, bevor wir uns der Geſtal—
ten, die ſich daraus entwickeln, bewußt werden. Ich erin—
nere mich ſehr wohl noch, als Kind eine Schlange, welche
die Umriſſe des Geſichts Ludwig's XVI. in ihren Windun—
gen darſtellte, oft mit dem Bewußtſein angeſehen zu haben,
daß ſie die Umriſſe dieſes Geſichts darſtellte, ohne die Ver—
bindung zwiſchen dieſen Windungen und jenen Umriſſen
herſtellen zu können. Erſt im Augenblick, da mein Geſtalt—
Farbenſinn. 201
ſinn ſeine Pflicht that, da ſtellte ſich mir in den Windungen
der Schlange das Geſicht Ludwig's XVI. dar. Der Farbenſinn
hatte mir längſt den Unterſchied zwiſchen Schwarz und Weiß
gezeigt, bevor ich die dadurch gezeichnete Geſtalt wahrnahm.
Man wende auch nicht ein: der Blinde könne die Far—
ben fühlen. Dieſes iſt nicht genau. Er fühlt Körper und
nimmt wahr, daß verſchiedene Körper dem Taſtſinne ver—
ſchieden erſcheinen. Wenn man ihn nun gelehrt hat, der
Körper, welcher ſich ſo anfühle, ſei ſchwarz, und welcher
ſich ſo anfühle, roth, ſo lernt er dieſes auswendig. Allein
die Farben nimmt er darum nicht wahr in ihrer Eigenthüm—
lichkeit. Denn dieſe beſteht nicht in der Art und Weiſe, wie
ſie ſich anfühlen laſſen, ſondern wie ſie ausſehen. Die Far—
ben des Regenbogens oder diejenigen, welche ſich im gebro—
chen Lichtſtrahle zeigen, wird kein Blinder durch Fühlen
unterſcheiden. Der Taſtſinn mag ihm nun, wie bei dem
oben erwähnten Buchhändler in Augsburg, allerdings eine
Ahnung von den Farbenverhältniſſen geben, wenn ſein Far—
benſinn gut entwickelt iſt. Allein eine Ahnung iſt keine
Anſchauung, ein trauriger Nothbehelf iſt nicht das eigent—
liche Werkzeug, wodurch das Organ des Gehirns mit der
Außenwelt in Verbindung tritt. In gleicher Weiſe hilft
der Geruch dem Geſchmack und dieſer jenem nach, ohne für
den andern förmlich einzutreten. Wie der Gehörsnerv nur
Schallempfindungen, ſo vermittelt der Sehnerv nur Licht—
empfindungen, und ſo wenig als dieſer jenen, kann der
Empfindungsnerv den Sehnerv erſetzen, obgleich allerdings
der Gehörsnerv dieſelben Oscillationen dem Bewußtſein zu—
führen kann als der Sehnerv. Dort werden dieſelben aber
zu Tönen und hier zu Lichterſcheinungen, die durch den
Empfindungsnerv vermittelten Eindrücke gehören dem Taſt—
ſinne, die durch den Sehnerv vermittelten dem Geſichte an!).
1) S. Müller, Phyſiologie. Bd. J. S. 781. Wie ſehr ſich
auch das Gefühl der Finger bei einem Blinden ſteigern mag, es bleibt
immer Qualitat der Gefühlsnerven: Gefühl.
202 Ortſinn.
Die Farben, welche der Blinde, die Töne, welche der Taube
zu unterſcheiden glaubt, find Körper, Indigo, das ſich fo
anfühlt, Zinnober, das ſich anders anfühlt u. ſ. w.; oder
Lufterſcheinungen, welche dieſe oder jene Empfindung her—
vorrufen.
Allein das Charakteriſtiſche der Farbe iſt eben ſo wenig
als das Charakteriſtiſche des Schalls die Wirkung auf das
Gefühl, auf den Taſtſinn; ſondern die Wirkung auf das
Geſicht, wie hier auf das Gehör).
$ 38.
31. Ortſinn.
Unmittelbar über den Augen, an der äußern Seite der
Naſenwurzel in ſchiefer Richtung bis zur Mitte der Stirn
ſtellt ſich das Organ des Ortſinns dar. Es iſt umgeben
von den Organen des Gegenſtandſinns, Thatſachen-, Zeit-,
Farben-, Gewicht- und Raumſinns, und wird gebildet durch
die auf Gall's Tafeln mit XVII bezeichneten Gehirn—
theile.
Gall entdeckte dieſes Organ zuerſt in ſehr ſtarker Ent—
wickelung an dem Kopfe eines ſeiner Mitſchüler, welcher,
ſonſt nicht ſehr begabt, ein auffallendes Geſchick hatte, ſich
in unbekannten und verſchlungenen Waldgegenden zu orien—
tiren und die daſelbſt den Vögeln geſtellten Netze aufzufin—
den. Dann bemerkte er es groß an dem Landſchaftsmaler
Schönberger, welcher auf ſeinen Reiſen immer nur flüchtige
Skizzen von den Gegenden, die ihn intereſſirten, aufnahm,
und ſpäter doch jeden Baum, jeden Stein der wirklichen
Landſchaft in das Bild einzufügen vermochte. Auch an
dem Verfaſſer der Dia-na-ſora, Mayer, und mehreren an—
dern Perſonen, die nur Genuß an einem herumirrenden
I) Syursſieim, observ. p. 283-285. Combe's Syſtem S. 343.
Spurzheim, on Phrenology p. 276 f.
Ortſinn. 203
Leben hatten und ein großes Ortsgedächtniß beſaßen, fand
er das Organ groß. Sir Walter Scott, berühmt durch
ſeine Ortsbeſchreibungen, Columbus, Vasco di Gama, Cook,
Mungo Park, Alexander von Humboldt, ausgezeichnet
durch die auf ihren großen Reiſen an den Tag gelegte
Auffaſſung und Würdigung örtlicher Verhältniſſe, Kepler,
Galilei, Tycho di Brahe, Newton, die großen praktiſchen
Aſtronomen, beſaßen alle das Organ ſtark entwickelt. Auch
fand Gall es groß an den Köpfen vieler berühmter Schach—
ſpieler und Militärs, welche ſich durch ihre Kunſt ſich zu
orientiren auszeichneten. Es iſt im Allgemeinen größer an
den Köpfen der Männer als der Frauen.
Nicht blos bei Menſchen, ſondern auch bei Thieren
findet ſich der Ortſinn und das Organ deſſelben immer in
entſprechender Entwickelung, nur gehört einiges Studium
dazu, es bei ihnen ſicher zu finden. Der Ortſinn iſt es,
welcher die Zugvögel auf ihren Wanderungen, daſſelbe
Schwalben-, Nachtigallen-, Störche-Paar zurück in daſ—
ſelbe Neſt, das ſie verließen, leitet. Man brachte einen
Hund in einen Wagen von Wien nach Petersburg und
nach ſechs Monaten war er wieder zurück. Ein anderer
wurde von Wien nach London gebracht; er hing ſich an
einen Reiſenden, mit dem er ſich einſchiffte, ſowie er aufs
Land kam, entlief er ihm aber und kehrte nach Wien zu—
rück. Man hat Katzen 8— 10 Meilen in einem Sack ge—
tragen und doch kamen ſie wieder zurück. Nur durch den
Ortſinn iſt die Taubenpoſt erklärlich, und die Unruhe, welche
die Zugvögel, ſelbſt wenn ſie gefangen ſind, zur Zeit ihrer
Wanderungen befällt.
Die Stirnhöhle erſtreckt ſich nur ſelten bis über den
untern Theil dieſes Organs hinaus, und während die durch
dieſelbe bedingten Hervorragungen von unregelmäßiger Ge—
ſtalt und meiſtens wagrecht laufend find, zeigen ſich die
durch das Organ des Ortſinns gebildeten gleichförmig und
erſtrecken ſich ſchräg aufwärts bis gegen die Mitte der Stirn.
Der Ortſinn verleiht dem Menſchen wie dem Thiere
204 Ortſinn.
die Fähigkeit, ſich in örtlichen Verhältniſſen zurechtzufinden,
ſich zu orientiren, und die Neigung, zu reiſen, zu wandern,
in verſchiedene örtliche Verhältniſſe einzutreten. Auf ihm
beruht die Erdbeſchreibung und die Topographie in allen
ihren örtlichen Einzelnheiten. In Verbindung mit Geftalt-,
Farben- und Zuſammenſetzungsſinn bildet er den Landſchafts—
maler. Claude-Lorrain, Vernet, Hackert beſaßen das Organ groß.
Es verhält ſich dieſes Geiſtespermögen zum Raum- oder
Größenſinn wie der Thatſachenſinn zum Zeitſinn. Wäh—
rend der Gegenſtandſinn die Gegenſtände an und für ſich
erfaßt, der Farbenſinn ihre Farbenverhältniſſe, der Geſtalt—
ſinn ihre Geſtalten, der Gewichtſinn ihre Schwere — ſetzt
uns der Ortſinn in den Stand, ihr wechſelſeitiges Verhält—
niß im Raume zu beachten und zu würdigen. Nur der
Ortſinn macht es dem Aſtronomen möglich, am geſtirnten
Himmel die einzelnen Sterne, die er beobachten will, leicht
und mit Sicherheit aufzufinden. Der Größenſinn mag uns
die Größe eines Körpers, ſeine Ausdehnung im Raume,
die Entfernung eines Körpers vom andern, d. h. die Aus—
dehnung des zwiſchen denſelben befindlichen Raumes be—
zeichnen. Allein wenn wir auch wiſſen, wie z. B. ein Stern
am Himmel oder ein Haus auf Erden ausſieht, wenn wir
ihre Größe, Geſtalt und Farbe genau kennen, wenn wir
auch wiſſen, in welcher Richtung ſie von einem andern uns
bekannten Gegenſtande liegen und wie weit fie von ihm
entfernt ſind, ſo müſſen wir doch noch immer ſuchen, um
unſern Stern oder unſer Haus zu finden, und nur vermit—
telſt des Ortſinns wird uns dieſes möglich werden, weil er
uns auf dem ganzen Wege als Führer begleitet, während
Größen-, Geſtalt- und Farbenſinn nur in untergeordneter
Weiſe, als Diener des Ortſinns uns auf unſerm Wege durch die
Straßen des Himmels oder der Erde, durch die verſchlun—
genen Straßen der Städte oder die bewachſenen Pfade des
Waldes, durch die Einöden der Wüſte oder den Spiege
der See zur Seite ſind.
Zeitſinn. 205
Eine krankhafte Aufregung dieſes Organs ruft oft eine
unwiderſtehliche Reiſeluſt hervor. Der Abt Dobrowsky in
Prag, welcher daran litt, erwachte manchmal in der Nacht
und konnte ſich nicht enthalten, durch die Felder zu laufen.
Einmal hatte er einen ſolchen Anfall bei ſtarker Kälte, ſtand
auf, zog ſich in der Dunkelheit an und ging gleich fort.
Erſt nachdem er ungefähr zwei Stunden bis an die Kniee
im Schnee gemacht hatte, konnte er es über ſich gewinnen,
zurückzukehren und ſich wieder ins Bett zu legen. Er be—
ſaß das Organ des Ortſinns in ungewöhnlicher Größe. Die
Unruhe, welche manche Menſchen beſitzen, und ihre Abnei—
gung gegen einen feſten, bleibenden Wohnſitz, die Neigung
zu einem Vagabundenleben mit allen ſeinen Beſchwerden,
die Träume von Wanderungen durch alle möglichen Land—
ſchaften, Städte, Wälder und Gärten ſind nur der Wir—
kung dieſes Organs zuzufchreiben !).
$. 39.
32. Zeitſinn.
Umgeben von den Organen des Thatſachenſinns, des
Schlußvermögens, des Witzes, des Tonſinns, des Farben—
und des Ortſinns befindet ſich das Organ des Zeitſinns
an den beiden Seiten der Stirn.
Es iſt bei Denjenigen groß gefunden worden, welche
immer, ohne auf die Uhr oder nur nach der Sonne zu ſe—
hen, wiſſen, was die Zeit iſt, und welche in der Muſik
für Takt, in der Poeſie für Rhythmus beſondern Sinn
haben, namentlich auch bei taktfeſten Tänzern.
I) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 298-305. Spurzheim,
observ. p. 285—291. Combe's Syſtem S. 349. Spurzheim, on
Phrenology p. 277-281. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol.
IV. p. 428-466.
206 A Zeitfinn.
Menſchen mit vorherrſchend ſtarkem Zeitſinn werden
in allen Beziehungen des Lebens das zeitliche Element be—
ſonders hervorheben. Die Geſchichte wird ihnen zur Chro—
nologie, der Tanz der Horen nur ein Meſſer der Zeit. Sie
ſind ſelbſt immer zur rechten Stunde bereit, und empfinden es
unangenehm, wenn man ſie auch nur kurz warten läßt.
Sie können beim Schlafengehen genau die Zeit beſtimmen,
da ſie erwachen. Bei Geiſteskranken ſteht bisweilen die
Uhr des Geiſtes ſtill. Mir iſt ein Fall bekannt, da ein
ſolcher ſeine in lichteren Momenten geſchriebenen Briefe im—
mer von dem Tage datirt, welcher ſeiner Erkrankung vor—
herging, obgleich dieſer 40 Jahre hinter ihm liegt. Ein Ir—
rer in Wien hatte zu Gall's Zeiten immer nur eine feſte Idee,
daß es der 17. October ſei. Auch die Thiere müſſen Zeit—
ſinn haben, da ſie den Wechſel der Jahreszeiten und der
Stunden vorherſehen und ſich darnach richten).
Der Zeitſinn iſt das Vermögen, die unſichtbaren Pen—
delſchwingungen der Zeit wahrzunehmen und ſich ſo ihres
Taktſchlags bewußt zu werden, dadurch chronologiſche
Ordnung in die Ereigniſſe des Lebens zu bringen. Wie
die naturgemäße Thätigkeit jedes Geiſtesvermögens ein an—
genehmes Gefühl hervorbringt, ſo auch diejenige des Zeit—
ſinns. Wenn unſere Regimenter unter Trommel- und Pau—
kenſchlag zum Exerciren oder zur Parade ausziehen, ſehen
wir oft Hunderte von Leuten aus allen Ständen und von
jedem Alter nebenher in gleichem Takte gehen. Die na—
türliche Thätigkeit dieſes Sinnes treibt ſie zur taktmäßigen
Bewegung, welche ihnen ſelbſt angenehm ſein muß, da ſie
unaufgefordert ſie annehmen. Wie oft ſieht man die Men—
ſchen, welche Muſik hören, dazu mit dem Fuß, der Hand
oder dem Kopf den Takt ſchlagen, als ob es ihnen dop—
pelte Freude mache, ſich ſo des Taktes feſter und ſicherer
bewußt zu werden. In der natürlichen Thätigkeit dieſes
1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 368-370. Gall, sur
les fonctions du cerveau Vol. V. p. 153-159.
Thatſachenſinn. 207
Organs müſſen wir auch die angenehme Empfindung erken—
nen, welche der Rhythmus des Verſes und der Takt der
Muſik uns gewähren.
Wer dieſes Organ in ſchwacher Entwickelung beſitzt,
wird dieſen Freuden nicht, oder nicht ſo lebhaft wie andere,
mit ſtärkerm Zeitſinn verſehene Perſonen zugänglich ſein,
und nicht vermögen, ſich ſelbſt im Takte zu bewegen, ſei—
nen Verſen Rhythmus zu geben und überhaupt das Rau—
ſchen des Zeitenſtroms genau zu vernehmen, oder nachzu—
bilden !).
Die Zeit mit ihren Erſcheinungen ſteht auf einer hö—
heren Stufe der unendlichen Leiter, deren Sproſſen eines—
theils auf der Erde ruhen, anderntheils ſich in den Himmel
erheben, als der Raum mit alle dem, was ihn betrifft.
Daher nehmen auch die Organe, welche ſich auf ſie be—
ziehen, eine höhere Stelle im Gehirne ein, als diejenigen,
welche ſich auf den Raum beziehen.
Es iſt bemerkenswerth, daß, wenn wir an zeitliche
Verhältniſſe denken, und namentlich, wenn wir uns auf
ſolche beſinnen, unſere Augen ſich aufwärts in der Richtung
des Organs des Zeitſinns bewegen und wir mit dem Fin⸗
ger an demſelben reiben.
F. 40.
33. Thatſachenſinn.
Dieſes Organ iſt ſehr leicht zu finden. Es liegt gerade
in der Mitte der Stirn, umgeben von den Organen des
Gegenſtandſinns, des Ortſinns, Zeitſinns, Schlußvermö—
gens und der Vergleichungsgabe. Wenn es groß iſt, giebt
I) Spurzheim, observ. p. 295.296. Combe's Syſtem S. 363.
208 Thatſachenſinn.
es der Mitte der Stirn eine gewiſſe Fülle und Run—
dung ).
Dieſes Organ findet ſich groß bei den Kindern, welche
in der Regel gern Geſchichten hören und gern Handlung
und Bewegung ſehen, groß bei Sheridan, deſſen Erzäh—
lung trefflich war und welcher immer Thatſachen bei der
Hand hatte, um ſeinen Reden Nachdruck zu geben; des—
gleichen bei dem engliſchen Miniſter Pitt; klein bei dem
Dichter Thomas Moore, deſſen Erzählung als ſolche wenig
Werth hat, während ſeine Reflexionen, ſeine Schilderungen
und ſein Colorit ausgezeichnet ſind. Es iſt klein bei Vol—
taire, deſſen geſchichtliche Werke als ſolche durchaus werth—
los ſind, während er ſich durch Witz und Schlußvermögen
beſonders auszeichnete. Es iſt groß bei Walter Scott,
deſſen Erzählung meiſterhaft iſt. Bei uns Deutſchen im
Allgemeinen iſt dieſes Organ mangelhaft, während die Or—
gane des Denkvermögens groß ſind. Bei den Franzoſen
und Engländern iſt umgekehrt das Organ des Thatſachen—
ſinns verhältnißmäßig größer, und die Organe des Denk—
1) Fig. 59. Fig. 60. Fig. 61.
22. Gegenftandfinn 22. Gegenſtandsſinn 22. Gegenſtandſinn
mittelmäßig. groß. groß.
30. Thatſachenſinn 30. Thatſachenſinn 30. Thatſachenſinn
groß. klein. klein.
34. Vergleichungsgabe 34. Vergleichungsgabe 34. Vergleichungsgabe
ziemlich groß. ſehr groß. voll.
—
*
9 IM
.
ze
Sheridan.
Pitt.
Thatſachenſinn. 209
vermögens find verhältnißmäßig kleiner, während dieſe um—
gekehrt die geſchichtliche Seite des Lebens der philoſophi—
ſchen vorziehen. Dieſen Verſchiedenheiten der Organiſation
iſt es zuzuſchreiben, daß die Deutſchen mehr die philoſophi—
ſche als die geſchichtliche Seite des Lebens, mehr die Spe—
culation als das Experimentiren lieben, während bei den
Engländern und Franzoſen das Umgekehrte ſtattfindet.
Der Thatſachenſinn hat es zu thun mit Ereigniſſen,
Thatſachen, mit demjenigen, was die Zeit ausfüllt. Er
nimmt Kenntniß von den Veränderungen des Lebens und
ſpricht ſich aus durch das Zeitwort, wie der Gegenſtandſinn
durch das Hauptwort. Bei Gelegenheit des Gegenſtand—
ſinns iſt ſchon ein Beiſpiel von dem Gegenſatze dieſer beiden
Geiſtesvermögen gegeben worden. Der Thatſachenſinn be—
dingt Entdeckungen durch Verſuche, der Gegenſtandſinn durch
Beobachtung; jener führt den Schriftſteller und den Red—
ner zur Erzählung, dieſer zur Beſchreibung. Beide haben
übrigens nur die Aufgabe, Begebenheiten und Daſein zu
erkennen, nicht ſie zu beurtheilen oder ihren Urſachen nach—
zuforſchen. Wer dieſelben im Gegenſatz zum Denkvermögen
ſtark entwickelt beſitzt, wird ſich durch Fragen, wer im ent—
gegengeſetzten Falle iſt, durch Vergleichungen und Schlüſſe
belehren. Jener wird mit Thatſachen und ſpeciellen Anga—
ben, dieſer mit Gründen und Schlußfolgerungen zu Felde
ziehen. Frau Quickly in ihrer Rede zu Falſtaff im zwei—
ten Theile König Heinrich's IV. (Act II, Scene Y bietet
ein treffliches Beiſpiel der Beweisführung der erſteren Art.
Auf dem Thatſachenſinn beruht die Geſchichte, auf dem
Denkvermögen die Philoſophie. Der Thatſachenſinn erfaßt
die Begebenheiten des innern wie des äußern Lebens. Er
ſtrebt nach deren Erkenntniß und begründet die Geneigtheit,
ſie mitzutheilen. In Verbindung mit dem Gegenſtandſinn
bildet er den praktiſchen Geiſt, welcher der Hauptſtützpunkt
aller Wiſſenſchaft iſt!).
I) Spurzheim, observ. p. 294. 295. Combe's Syſtem S. 358.
Spursheim, on Phrenology p. 283 — 285.
14
— rn | — ——— — —¼8̃—
210 Zahlenſinn.
Der Thatſachenſinn flößt nicht nur Intereſſe an den
Ereigniſſen der Außenwelt ein, ſondern er ruft auch die
Neigung hervor, ſelbſt welche zu erleben, Erfahrungen zu
ſammeln und die Erfahrungen des innern Lebens zu erfaſ—
ſen und feſtzuhalten. Er iſt es daher, welcher uns das
Bild unſerer innerern und äußern Erlebniſſe vor die Seele
hält, mit mehr oder minder lebendigen Farben, je nachdem
er mehr oder minder lebenskräftig wirkt.
F. 41.
34. Zahlenſinn.
Dieſes Organ wird gebildet durch die auf Gall's
Tafeln mit XIX bezeichneten Gehirntheile. Es zeigt ſich am
äußern Ende der Augenbraunen und dem Augenwinkel, un—
ter dem Organ des Zeitſinns und demjenigen des Ordnungs—
ſinns. Wenn es groß iſt, erzeugt es eine gewiſſe Fülle und
Breite dieſes Theils der Schläfengegend und giebt dem
Augenwinkel eine Richtung nach unten. Wenn es dagegen
klein iſt, ſo iſt die Gegend zwiſchen den Augen und den
Schläfen ſchwach und ſchmal.
Gall) führt eine Reihe von Fällen an, da Kinder,
ungeachtet ſie in jeder andern Beziehung ganz unentwickelt
waren, im Rechnen die größten Meiſter übertrafen; da Er—
wachſene, ungeachtet ſie in jeder andern Beziehung höchſt
mittelmäßig waren, ein ausgezeichnetes Geſchick im Rechnen
beſaßen, ja ſelbſt Idioten, Sterbende und Wahnſinnige,
welche bei ſonſtiger Schwäche und Verrücktheit doch noch
im Stande waren, zu rechnen. Auf der andern Seite ſind
viele Fälle beobachtet worden, da Menſchen, bei ſonſtiger
Begabtheit, doch niemals zu rechnen verſtanden, ungeachtet
1) Vollſtändige Geiſteskunde S. 358 — 367. Gall, sur les fonc-
tions du cerveau Vol. V. p. 130 — 153. Spurzheim, observ. p-
291 - 293. Spurzheim, on Phronology p. 281 f.
Zahlenſinn. 211
aller Mühe, die ſie ſich gaben, rechnen zu lernen. Alle dieſe
Beobachtungen ſind eben ſo viele Beweiſe für die Annahme
eines ſelbſtändigen Zahlenſinns. Auch Thiere beſitzen den
Zahlenſinn, z. B. die Elſter, welche bis auf 5, vielleicht
bis auf 9 zählen kann.
Dr. Gall beobachtete dieſes Organ zuerſt an einem
Schüler von St. Pölten bei Wien, welcher in einem Alter
von neun Jahren drei Zahlen von 10 — 12 Ziffern im Kopfe
addirte, ſubtrahirte und mit Zahlen von drei Ziffern mul—
tiplicirte und dividirte, bevor andere geübte Rechner es auf
dem Papiere konnten; dann an dem Sohne eines Advoca—
ten in Wien, welcher in einem Alter von fünf Jahren ſich
ſo ausſchließlich mit Zahlen und Rechnen beſchäftigte, daß
es nicht möglich war, ſeine Aufmerkſamkeit auf etwas An—
deres zu richten. Er verglich deren Schädelbildung mit
derjenigen zweier berühmter Rechner: des Raths Man—
telli und Vega's, und fand auch bei dieſen das Organ ſehr
ſtark entwickelt. In Paris wollten ihn einige Aerzte auf
die Probe ſtellen. Sie führten ihm drei Knaben zu, wo—
von ſich einer durch eine außerordentliche Leichtigkeit im
Rechnen auszeichnete. Auf den erſten Blick erkannte Gall
den Rechner. Beſtätigungen der Richtigkeit der Beobach—
tungen Gall's lieferten Georg Bidder, ein berühmter Rech—
ner zu Edinburgh, welchen Hr. G. Combe unter drei ihm
vorgeführten Knaben ſofort an der Bildung ſeines Kopfes
erkannte; desgleichen Colburn, ein amerikaniſcher Knabe,
welcher große Rechenfähigkeit an den Tag legte.
Hr. Georg Combe ſelbſt bietet dagegen ein Beiſpiel
mangelhafter Entwickelung des Organs, er iſt nicht im
Stande, mit Sicherheit zu addiren, zu ſubtrahiren, zu mul—
tipliciren und zu dividiren, trotz aller angewandten Mühe
und Fleißes. Die Neger ſind bekanntlich ſehr ungeſchickte
Rechner, manche Stämme derſelben zählen nur bis fünf
und fahren dann fort mit fünf eins, fünf zwei u. ſ. w.
Das Organ ihres Zahlenſinns iſt im Allgemeinen ſehr klein.
Die Chaymas, ein ſüdamerikaniſcher Volksſtamm, ſind gleich—
14 *
212 Zahlenſinn.
falls in Zahlenverhältniſſen ſehr ungeſchickt. Sie können nicht
weiter als bis auf 30 oder 50 zählen, und dieſes koſtet
ihnen große geiſtige Anſtrengung. Humboldt bemerkt von
ihnen, daß ſich ihre Augenwinkel merklich nach oben, den
Schläfen zu erheben, eine Bildung, welche eine ſchwache
Entwickelung dieſes Organs andeutet. Dagegen beſitzen
die Engländer ſowohl das Organ des Zahlenſinns, als die
entſprechende Anlage im Allgemeinen ſtark entwickelt. Ge—
wöhnlich iſt das Organ bei Frauen weniger groß als bei
den Männern. An den Büſten und Porträten von Eukli—
des, Archimedes, Galilei, Kepler, Newton, Leibnitz,
Huyghens, Sully, Descartes, Euler, Lagrange, Laplace, Her—
ſchel, Olbers, Arago iſt dieſes Organ groß zu finden, des—
gleichen an dem Kopfe des Jedidiah Buxton, welcher, ob—
gleich er keine Erziehung genoſſen, ſich durch ſein Rechentalent
auszeichnete, und welcher, als er einſt Garrick auf der Bühne
ſah, nur auf die Zahl der Worte merkte, welche dieſer ſprach.
Dr. Gall erwähnt, daß zwei ſeiner Bekannten in der
Gegend dieſes Organs Schmerz empfanden, nachdem ſie ſich
mehrere Tage hinter einander mit ſchwierigen Rechnungen
beſchäftigt hatten.
Ein Wahnſinniger zu Wien beſchäftigte ſich lediglich
damit, zu zählen. Er kam aber nicht weiter als bis auf
99. Es war unmöglich, ihn zu beſtimmen, weiter zu zäh—
len. Ein Waſſerkopf, deſſen Hr. Gölis erwähnt, hatte alle
ſeine geiſtigen Kräfte verloren, außer dem Wohlwollen und
dem Zahlenſinn. Als die Krankheit überhand nahm, ver—
lor er auch dieſe noch.
Dieſer Sinn hat es zu thun mit Zahlenverhältniſſen
und bildet daher einen Gegenſatz zu denjenigen Sinnen,
deren Gegenſtand die Beſchaffenheit, die Qualität der Dinge
iſt. Zahlenverhältniſſe zu erfaſſen, mit Zahlen umzugehen,
oder mit andern Worten, zu rechnen, iſt alſo die Aufgabe
dieſes Sinnes. Arithmetik, Algebra und Logarithmen ſind
die Kreiſe des Wiſſens, worin er ſich bewegt.
Zahlenſinn. 213
Wie alle übrigen Organe des Erkenntnißvermögens nur
dazu dienen, das Vorhandene zu erkennen, nicht etwas nicht
Vorhandenes zu ſchaffen, ſo auch der Zahlenſinn. Wenn
eins und eins nothwendig zwei machen, ſo iſt dies keine
Nothwendigkeit, die der Menſch geſchaffen hat, ſondern eine
ſolche, welche er vermöge ſeines Zahlenſinnes erkennt. Die
entgegengeſetzten Winkel eines Parallelogramms ſind ſich
ewig gleich, es mag nun dieſes Geſetz von den Menſchen
aufgefunden ſein oder nicht, ebenſo iſt es mit allen mathe—
matiſchen Wahrheiten ).
Menſchen mit vorherrſchend ſtark entwickeltem Zahlen—
ſinn wollen immer alles auf mathematiſche Grundſätze zu—
rückführen. So kannte Gall einen Arzt mit ſtark entwickel—
tem Zahlenſinn, welcher das Studium der Medicin und
ſelbſt die Kraft der Arzneimittel, und einen Philologen,
welcher eine Weltſprache ſuchte und auf ſolche zurückführen
wollte. Ein noch lebender Officier ſuchte die ganze Philo—
ſophie auf mathematiſche Sätze zu gründen u. ſ. w.
Wie alle übrigen Geiſtesvermögen, äußert ſich auch
dieſes nach Verſchiedenheit der begleitenden Eigenſchaften ver—
ſchieden. Nach dieſen Verſchiedenheiten wird Derjenige,
der den Zahlenſinn in hohem Grade beſitzt, Geometer, Geo—
graph, Optiker, Aſtronom werden.
I) Combe's Syſtem S. 353.
V.
Das Denkvermögen oder Gaben.
9 2.
Das Denkvermögen umfaßt nur zwei Organe, während
das Erkenntniß-Vermögen deren neun, das Darſtellungs—
Vermögen deren ſechs enthält. Das Erkenntniß-Vermögen
bietet den Stoff, welchen das Denkvermögen verarbeitet,
und das Darſtellungs-Vermögen in Formen kleidet. Doch
werden alle dieſe Arten der Thätigkeit natürlich durch
Triebe und Empfindungen eigentlich erſt belebt und
erwärmt.
Die Thiere beſitzen gemeinſchaftlich mit dem Menſchen
alle Triebe, einige Empfindungen, z. B. die Beifallsliebe
und die Sorglichkeit, mehrere Talente, z. B. Bauſinn,
Nachahmungstalent, Tonſinn und Sprachſinn und die mei—
ſten Fähigkeiten des Erkenntniß-Vermögens, insbeſondere
Gegenſtandsſinn, Geſtaltſinn, Größenſinn, Ortſinn, Gewicht-
ſinn, Farbenſinn, Zeitſinn und Zahlenſinn. Allein das
Denkvermögen im eigentlichen Sinne des Wortes können
wir nur dem Menſchen zuſchreiben.
Die Organe des Denkvermögens nehmen den höchſten.
Platz unter denjenigen der Intelligenz ein. Die Organe
des Erkenntniß-Vermögens ſcheinen in drei Abtheilungen
zu zerfallen, die höchſte iſt diejenige, welche ſich auf die
Zeit bezieht, die zweite hat es mit dem Raume, die dritte
Vergleichungsgabe. 215
mit der Zahl zu thun. Es ſcheint, es habe die Vorſehung
uns ſchon durch die Anordnung der Organe auf ihre
Rangordnung aufmerkſam machen wollen. Die Organe
des Darſtellungsvermögens ziehen ſich zwiſchen den Or—
ganen der Empfindung, des Denkvermögens und des Er—
kenntnißvermögens hindurch, und auch bei ihnen bewährt
ſich die eben angedeutete Idee der Rangordnung.
Die beiden Organe der Intelligenz, welche am niedrig—
ſten ſtehen, ſind diejenigen des Wortſinns und des Zahlen—
ſinns, und dennoch wird auf deren Ausbildung beſondere,
faſt ausſchließliche Rückſicht genommen, als beſtehe die
Blüthe des menſchlichen Geiſtes in dieſen — den niedrig—
ſten Organen der Intelligenz.
Das Denkvermögen umfaßt zwei Organe, dasjenige
der Vergleichung und der Schlußfolgerung.
35. Vergleichungsgabe.
In der Mitte des obern Theils der Stirn, umgeben von
den Organen des Schlußvermögens, des Thatſachenſinns und
des Wohlwollens breitet ſich das Organ der Vergleichungs—
gabe aus. Die Gehirnwindungen, welche es bilden, ſind auf
den Tafeln von Gall mit XXII bezeichnet. Bei ſtarker Ent—
wicklung fängt es an dem obern Theile der Stirn in einer
Breite von etwa einem Zoll an, und geht, ſich kegelförmig zu—
ſammenziehend bis zum Organ des Thatſachenſinns herab ').
Dr. Gall entdeckte es zuerſt an einem Gelehrten, der eine
große Lebendigkeit des Geiſtes beſaß, und mit dem er ſich
oft über philoſophiſche Gegenſtände unterhielt. Sobald als
es dieſem ſchwer wurde, den Beweis ſeiner Sätze ſtreng
1) S. Gall's vollſt. Geiſteskunde S. 381 — 384. Combe ss
Syſtem S. 386. Spursheim on Phrenology p. 294 ff. Gall, sur
les fonctions du cerveau Tom. Vp. 195 sq.
216 Vergleichungsgabe.
durchzuführen, nahm er zu einem Gleichniſſe ſeine Zuflucht,
und gewann dadurch ſeine Gegner für ſich, was ihm durch
einfache Schlüſſe nie gelingen wollte. Zur ſelben Zeit er—
hielt er die Köpfe zweier Exjeſuiten, welche ſich als ein—
flußreiche Kanzelredner ausgezeichnet hatten, indem ſie ihre
Vorträge durch Gleichniſſe und Parabeln beſonders an—
ziehend zu machen wußten. Später unterſuchte er den
Kopf des berühmten Paters Berhammer, welcher, unge—
achtet ſeines unedeln und ſorgloſen Stils, durch die Menge
ſeiner von den Dingen des gewöhnlichen Lebens herge—
nommenen Vergleichungen, ſeine Zuhörer zu feſſeln wußte.
Das Organ iſt groß bei Goethe, der in ſeinen Schriften
reich an Vergleichungen iſt, bei Sheridan“), dem engliſchen
Dichter, in deſſen Schriften außer den Metaphern und
allegoriſchen Ausdrücken zwei tauſend fünf hundert Gleich—
niſſe gezählt wurden. Es iſt ferner ſehr groß am Kopfe
des engliſchen Dichters Thomas Moore’), ziemlich groß
an demjenigen des engliſchen Staatsmannes W. Pitt’),
Heinrich's IV. von Frankreich, des engliſchen Parlaments-
redners Hume. Die Hindu's ), deren Sprache von Me—
taphern und Gleichniſſen wimmelt, beſitzen es groß, die
geiſtesarmen Caraiben‘) klein. Bei den Franzoſen iſt es
verhältnißmäßig zum Schlußvermögen groß. Die Kinder,
bei welchen dieſes Organ ſtark entwickelt iſt, ziehen die
Fabeln allen übrigen Gegenſtänden des Unterrichts vor.
La Fontaine beſaß es auch beſonders groß.
Während die übrigen Vermögen des Geiſtes alle eine
beſtimmte Sphäre haben, innerhalb welcher ſie ihre Gegen—
ſtände auffaſſen und würdigen, erſtreckt ſich das Verglei—
chungsvermögen über die ganze Sphäre des menſchlichen
—
—
e
G O G M
die Abbildung auf S. 208.
die Abbildung auf S. 208.
die Abbildung auf S. 208.
die Abbildung auf S. 136.
die Abbildung auf S. 132
See
Vergleichungsgabe. 217
Geiſtes, jedoch in der Weiſe, daß es dieſelben vergleicht,
d. h. zuſammenſtellt, und dann an denſelben gewiſſe Punkte
wahrnimmt, worin ſie entweder übereinſtimmen oder ſich
unterſcheiden.
Während der Farbenſinn Farben vergleicht und ihr
gegenſeitiges Verhältniß beſtimmt, der Tonſinn Töne u. ſ. w.
bringt die Vergleichungsgabe Farben und Töne in Ver—
bindung, vergleicht die Farben des Regenbogens mit den
Tönen der Tonleiter u. ſ. w. Da es die Aufgabe jedes
einzelnen Vermögens der Intelligenz iſt, die in deſſen Be—
reich fallenden Gegenſtände, alſo die in Betreff derſelben
ſtattfindenden Aehnlichkeiten und Verſchiedenartigkeiten zu
würdigen, ſo iſt denſelben namentlich auch anheimgegeben
diejenige Verrichtung zu üben, welche man in Beziehung
auf alle Vermögen der Intelligenz unterſcheidenden Scharf—
ſinn zu nennen pflegt. Dieſer beſteht nicht darin, Unter—
ſchiede nachzuweiſen, wo ſie vollkommen klar am Tage
liegen, wie alle diejenigen ſind, welche ſtattfinden zwiſchen
Gegenſtänden verſchiedener geiſtiger Vermögen, z. B. Zeit—
verhältniſſen und Raumverhältniſſen, ſondern der Scharf—
ſinn in der Unterſcheidung kann ſich nur da zeigen, wo
zwei Gegenſtände ſich ſehr ähnlich, und zwar um ſo mehr,
je ähnlicher ſie ſich ſind. Aus der Natur der Aufgabe der
Unterſcheidung ergiebt ſich alſo, daß ſie nur da etwas nen—
nenswerthes zu leiſten vermag, wo die zu unterſcheidenden
Gegenſtände derſelben Klaſſe angehören. Wo ſie verſchie—
denen Klaſſen angehören, iſt der Unterſchied ſo deutlich
und ſo beſtimmt, daß kein Menſch von geſunden, wenn
auch noch ſo mäßigen Geiſteskräften darüber in Zweifel
ſein kann. Der niedrigſte Grad von Vergleichungsgabe
reicht daher ſchon hin, zwiſchen fo verſchiedenartigen Gegen—
ſtänden einen Unterſchied wahrzunehmen. Der Chemiker
dagegen, welcher in einer Subſtanz die Urſtoffe von ein—
ander ſcheidet, die früher vereinte Maſſe in ihren einzelnen
Theilen darlegt, und ſie einander als verſchiedene Stoffe
entgegenſetzt, der Phyſiker, welcher in die Natur der Far—
218 Vergleichungsgabe.
ben eindringt, und nachweiſt, worin die eine Farbe nach
Entſtehung, Wirkung und Dauer ſich von der anderen
unterſcheidet, der hat gewiß Verdienſt, und dem kann auch
wohl unterſcheidender Scharfſinn zugeſchrieben werden.
Nur ein hoher Grad der Entwickelung dort des Gegen—
ſtandſinnes, hier des Farbenſinnes kann ihn in den Stand
ſetzen, die Verſchiedenheiten ſo gleichartiger Gegenſtände
wahrzunehmen. Allein wer wird ſich bemühen nachzu—
weiſen, daß ein Unterſchied ſei zwiſchen einem Ereigniß,
z. B. dem Tode, und einem Körper, z. B. einem Stein?
Der unterſcheidende Scharfſinn hat alſo nur innerhalb der
Sphäre jedes einzelnen geiſtigen Vermögens eine natur—
gemäße Wirkſamkeit. Ganz anders verhält es ſich da—
gegen, wenn es ſich davon handelt, Aehnlichkeiten bei
Dingen zu finden, welche ſo weit auseinander liegen, wie
z. B. ein Stern in der Nacht und eine gute That in der
Mitte einer böſen Welt, oder die Mahnung des Gewiſſens
und ein ſtechender Dorn, dazu gehört eine höhere Ent—
wickelung der Vergleichungsgabe.
Dieſe philoſophiſchen Anſichten treffen auch vollkommen
überein mit der Erfahrung. Wir ſehen täglich Menſchen,
welche in einer Beziehung großen unterſcheidenden Scharf—
ſinn an den Tag legen, in der anderen gar keinen, welche
z. B. mit großer Feinheit die Verſchiedenheiten der Ton—
ſtücke, des Werthes ihrer Verfaſſer u. d. g. nachzuweiſen
vermögen, welche dagegen über Gemälde gar kein Urtheil
haben, und keineswegs vermögen den Unterſchied des Ver—
dienſtes des einen von demjenigen des andern nachzuweiſen,
und umgekehrt. Männer dieſer Art haben ſtark entwickel—
ten Tonſinn, mit ſchwacher Entwickelung des Farben- und
Geſtaltſinnes, und umgekehrt. Wer dagegen die Gabe der
Vergleichung beſitzt, hat ſie in jeder Beziehung. Er ver—
mag Gemälde mit Tonſtücken, Gegenſtände mit Ereig—
niſſen, Zahlen mit Begriffen, Gefühle mit Gedanken u. ſ. w.
zu vergleichen, vorausgeſetzt nur, daß ihm die übrigen
geiſtigen Kräfte den zu dieſen Vergleichen erforderlichen
Vergleichungsgabe. 219
Stoff darbieten. Dieſes beweiſt deutlich, daß der Scharf—
ſinn in der Unterſcheidung, inſofern er irgend eine nennens—
werthe Bedeutung hat, einen weſentlichen Theil der Ver—
richtungen jedes einzelnen geiſtigen Vermögens ausmacht,
während die Vergleichungsgabe, inſofern ſie von Bedeu—
tung, eine abgeſonderte für ſich beſtehende Gabe iſt.
Vergleichungen erſtrecken ſich über das ganze Gebiet
menſchlicher Thätigkeit, wie ſich die Sprache gleichfalls
über dieſes ganze Gebiet erſtreckt. Daher kommt es, daß
die Vergleichungsgabe einen großen Einfluß auf die Sprache
der Nationen übt. Aus Vergleichungen iſt ein großer Theil
der neueſten Sprachen entſtanden, denn eine Menge Wör—
ter haben im Buche der Zeit einen metaphoriſchen Sinn
angenommen, während ſie urſprünglich nur eine ſubſtantive
Bedeutung hatten. Wenn wir z. B. von „Adlersblick,
oder Falkenauge, von Schafsgeduld und Taubenunſchuld“
ſprechen, ſo liegt allen dieſen Ausdrücken eine Vergleichung
zu Grunde. Dieſe Gabe pflegt bei den Nationen wie bei
den einzelnen Menſchen früher ausgebildet zu ſein, als das
Schlußvermögen; zu Kindern und zu Nationen, die ſich
im Kindesalter befinden, kann man daher nur durch Ver—
gleiche und nicht durch Schlüſſe mit Erfolg ſprechen. Da—
her kommt es denn wohl auch, weshalb ſich in der Bibel
ſo viele Gleichniſſe und Metaphern finden, und weshalb
ſo viele ausgezeichnete Männer trotz der Schärfe ihrer
Schlußfolgerungen weniger zu wirken vermochten als an—
dere, welche ſich in Vergleichungen ergingen. So wurde
Aeſop an Kröſus' Hofe mehr gehört als Solon. Durch
die berühmte Fabel vom Magen und den übrigen Gliedern
des Menſchen wurde ein Aufruhr im römiſchen Heere ge—
ſtillt, und Lafontaine, Moliere, Labruyere übten größern
Einfluß auf die Hofleute Ludwig's XIV. als Pascal.
Sprüchwörter ſind ein ſehr gewöhnlicher Ausfluß dieſer
Gabe. Sie macht uns, wie geſagt, geneigt und geſchickt
zu Vergleichungen. Allein den Stoff zu denſelben müſſen
uns unſere übrigen geiſtigen Vermögen an die Hand geben.
220 Schlußvermögen.
Jeder Menſch und jede Nation wird daher ihre Vergleiche
beſonders aus denjenigen Sphären wählen, in welchen ſie
ſich zu bewegen gewohnt ſind. Wer großen Ortſinn und
Farbenſinn hat, wird aus örtlichen Verhältniſſen und
Farbenverhältniſſen, wer ſtarken Bekämpfungstrieb und
Gegenſtandſinn hat, aus Schlachten, Waffen u. d. m. den
Stoff zu ſeinen Vergleichen wählen u. ſ. w.
$ 43.
36. Schlußvermoͤgen.
Dieſes Organ befindet ſich an den beiden Seiten des
oberen Theils der Stirn, umgeben von den Organen der
Vergleichungsgabe, der Nachahmung, des Sinnes für das
Wunderbare, des Witzes, des Zeitſinns und des That—
ſachenſinns. Die Gehirnwindungen, die es bilden, ſind auf
dem Atlas von Gall mit XXIII bezeichnet.
Schon lange war allgemein bemerkt worden, daß bei
Männern von tiefem philoſophiſchem Geiſte, wie Sokrates,
Demokrit, Cicero, Chaucer, Locke, Montaigne, Galilei,
Labruyere, Leibnitz, Condillac, Diderot, Mendelsſohn der
obere Theil der Stirn beſonders groß ſei. Zu Wien be—
merkte Gall, daß einige der eifrigſten und geiſtreichſten
Schüler Kant's den zu beiden Seiten des Organs der
Vergleichung gelegenen Gehirntheil ſehr ſtark entwickelt
hatten. Der Kopf von Kant, Fichte, Schelling zeigte die—
ſelbe Bildung. Alle dieſe Männer zeichneten ſich haupt—
ſächlich durch ihr Schlußvermögen aus). Menſchen von
1) S. Gall's vollſt. Geiſteskunde S. 384 - 387. Spurzheim
observations p. 311—313. Combe's Syſtem S. 393. Spursheim
on Phrenology p. 294 — 297. Gall, sur les fonctions du cerveau
Tom. V, p. 208 8.
Schlußvermögen. 221
ſehr ſchwachem Schlußvermögen haben dagegen immer nie—
dere und ſchmale Stirnen !).
Das Weſen dieſes Vermögens beſteht darin, zwei
Thatſachen inſofern an einander zu ſchließen, als in der
einen die Urſache oder der Grund der andern, oder um—
gekehrt, als in der einen die Wirkung oder die Folge der
andern erkannt wird. Es giebt Menſchen, welche eine Er—
ſcheinung um die andere an ſich vorüberfliegen ſehen, allein
das Band, das ſie zuſammenſchließt, nicht erkennen. An—
deren dagegen haben die Erſcheinungen der Welt nur in—
ſofern höheren Werth, als ſie das Band, das ſie zuſam—
menhält, erkennen. Wir haben geſehen, wie Ludwig XIV.
in Frankreich die königliche Gewalt aufs äußerſte ſpannte,
wie ſein ſchwacher Nachfolger ſich bemühte, ſeinem Bei—
ſpiel zu folgen, wie unter der Herrſchaft des erſtern ſchon
deſſen unerſättlicher Ehrgeiz über Frankreich ſchwere Lei—
den gebracht, wie unter Ludwig XV. Frankreich von Buh—
lerinnen beherrſcht nach außen gedemüthigt, nach innen mit
Füßen getreten wurde, wie die Verwirrung aller Verhält—
niſſe, aller Begriffe immer ſchrecklicher wurde, und ſich
endlich unter dem ſchwächſten der drei Ludwige zu einer
blutigen Revolution entwickelte. Alles dieſes lehrt die
Geſchichte und dennoch haben Tauſende den Cauſalzuſam—
menhang zwiſchen den Regierungsfehlern der drei Ludwige
und der franzöſiſchen Revolution nicht erkannt, ſie vielmehr
bloßen Aufhetzungen zur Laſt gelegt, als ob ſolche möglich
wären, jemals einen ſo ungeheuern Erfolg hervorbringen
könnten, wenn die Aufhetzer nicht geneigtes Ohr fänden.
Das Schlußvermögen ſchließt die Regierungsfehler der drei
Ludwige und die franzöſiſche Revolution an einander, ſieht
in jenen die Urſachen dieſer. Wer daſſelbe jedoch in ſehr
niedrigem Grade beſitzt, bemerkt dieſe, wie ſo manche an—
dere Verbindung zwiſchen Urſache und Wirkung nicht.
Eine ſtarke Entwickelung dieſes Vermögens befähigt alſo
N) S. z. B. den Kopf des Caraiben S. 132.
222 Schlußvermögen.
beſonders in allen Ereigniſſen der ſinnlichen und überſinn—
lichen Welt den verbindenden Faden aufzufinden. Im Ver—
eine mit ſtark entwickeltem Erkenntnißvermögen wird das
Schlußvermögen ſich der wirklichen Welt zuwenden, und
je nachdem der Größenſinn oder der Zeitſinn, der That—
ſachenſinn oder der Farbenſinn vorherrſchend iſt, ſich mit
räumlichen oder zeitlichen Verhältniſſen, mit Begebenheiten
oder Farben beſonders beſchäftigen. Wo jedoch das Er—
kenntnißvermögen verhältnißmäßig ſchwach iſt, und das
Denkvermögen daher nicht auf die wirkliche Welt geleitet
wird, verliert es ſich oft in Abſtractionen, welche mit dieſer
irdiſchen Welt in keinem wirklichen Zuſammenhange ſtehen.
Nur einem Mangel des Schlußvermögens kann es zuge—
ſchrieben werden, daß einige Menſchen das Daſein Gottes
leugnen. Sie ſehen alle Tage Erſcheinungen, deren Ent—
ſtehung nur einer vollkommen wirkenden Kraft zugeſchrie—
ben werden kann. Sie entdecken jedoch nicht den Faden,
welcher dieſe Wirkungen mit ihrer Urſache verbindet, und
daher leugnen ſie das Daſein eines allwaltenden Gottes.
Der wahre Philoſoph wird gebildet durch eine Ver—
einigung der Organe des Denkvermögens mit demjenigen
des Gegenſtandſinns und des Thatſachenſinns. Eine ſolche
Kopfbildung hatte namentlich Bacon“). Bei Kant?) war
das Schlußvermögen vorherrſchend und namentlich ſtärker
entwickelt als die Organe des Gegenſtands- und des That—
ſachenſinnes, daher ſeine Philoſophie ſich auch weit mehr
als diejenige Bacon's von der Wirklichkeit entfernt und
im Gebiete der Speculation verweilt.
Der Thatſachenſinn faßt die Erſcheinungen des Lebens
auf in ihrem zeitlichen Zuſammenhange, das Schlußver—
mögen in ihrem Cauſal-Zuſammenhange. Der Thatſachen—
ſinn iſt daher in zeitlicher Beziehung, was das Schluß—
vermögen in Beziehung auf Urſache und Wirkung, Grund
I) S. die beifolgende Abbildung.
2) S. die beifolgende Abbildung.
7 74 Ze, Seite: A222,
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Schlußvermögen. 223
und Folge iſt. Was für das Erfenntnißvermögen in ſei—
ner Richtung auf Zeit die ſynchroniſtiſche Geſchichte, das
iſt für das Denkvermögen die Syntheſe (die Vergleichung);
was für jenes die chronologiſche Geſchichte, iſt für dieſes
die Analyſe. Wie die Analyſe in der Chemie einen Körper
in ſeine Grundbeſtandtheile zerlegt, ſo zerlegt ſie in der
Forſchung nach der Urſache der Wirkung oder nach dem
Grunde der Folge eine Begebenheit in die ihrigen. Ein
Körper folgt den Geſetzen des Raumes, eine Thatſache
denjenigen der Zeit. Während daher die Beſtandtheile
eines Körpers neben einander beſtehen, folgen die Grund—
beſtandtheile der Begebenheit auf einander. Die Beſtand—
theile der Körperwelt zeigen uns die Sinne des Erkennt—
nißvermögens, die ſich auf den Raum beziehen, die Be—
ſtandtheile der Begebenheiten können wir nur vermittelſt
unſers Schlußvermögens, nur dadurch erkennen, daß wir
ausmitteln, eine Thatſache ſei die Mutter der anderen,
wenn ſie auch ſelbſt wieder die Tochter einer dritten iſt,
und ſofort ins Unendliche. Schließen iſt nichts anderes
als dieſes Verwandtſchaftsverhältniß nachweiſen. Inſofern
die Schlüſſe ſich beziehen auf die Körperwelt, heißen die
Eltern Urſachen, und die Kinder Wirkungen, inſofern ſie
ſich beziehen auf die Zeit heißen die Eltern Gründe, die
Kinder Folgen.
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Einleitung.
$. 44.
Widerlegung der gegen die Phrenologie gerichteten
Einwendungen.
Wenn wir uns bei dem jetzigen Standpunkte der Wiſſen—
ſchaften fragen, welches ſind die der Phrenologie entgegen—
ſtehenden Einwendungen? ſo giebt es nur eine Antwort:
die Unkenntniß derſelben iſt die einzige Quelle, aus welcher
alle dieſe Einwendungen fließen. Ein gründliches Studium
der Phrenologie macht eine Widerlegung derſelben vollkom—
men überflüſſig. Da übrigens die Zahl der gründlich ge—
bildeten Phrenologen in Deutſchland verhältnißmäßig nicht
groß, und eine oberflächliche Kenntniß der Phrenologie na—
türlich nicht hinreichend iſt, alle ſcheinbaren Einwendungen
gegen dieſelbe abzuweiſen, ſo iſt es doch nothwendig, ſie
hier beſonders zu beſprechen. Dabei dürfen wir jedoch nicht
auf den Standpunkt zurückkehren, da Gall's Lehre zuerſt
öffentlich beſprochen wurde. Alle die Einwendungen, welche
ihr damals entgegengehalten wurden, ſind durch die all—
mähligen Fortſchritte der Anatomie und Phyſiologie voll—
ſtändig beſeitigt. Wie bereits oben §. 2 ausgeführt, ſind
die vier phrenologiſchen Grundſätze im weſentlichen jetzt von
allen fortſchreitenden Phyſiologen anerkannt. Wenn deſſen
ungeachtet die Phrenologie nicht allgemeine Anerkennung
gefunden hat, ſo iſt dieſes hauptſächlich nur der Macht der
1
228 Einleitung.”
Trägheit zuzuſchreiben, welche noch nicht zum Bewußtſein
des gegenſeitigen Verhältniſſes der Phrenologie und der
übrigen ihr verwandten Wiſſenſchaften gekommen iſt. Ge—
ben ſich einmal die Phyſiologen die Mühe, den Gang, wel—
chen ihre Wiſſenſchaft im Laufe des letzten Jahrhunderts
genommen hat, mit den Reſultaten zu vergleichen, welche
ihnen die Phrenologie bietet, ſo werden ſie ſich überzeugen,
daß dieſe im Großen und in Beziehung auf den wichtigſten
Theil des menſchlichen Körpers gerade dasjenige geleiſtet
hat, was die Phyſiologie im Kleinen und in Beziehung auf
die minder wichtigen Theile des menſchlichen Körpers gethan.
Phyſiologiſche und anatomiſche Gründe ſtehen daher
jetzt der Phrenologie keine mehr im Wege. Diejenigen Ein—
wendungen, welche ihr noch von Phyſiologen und Anato—
men entgegengehalten werden, ſind ſpeculativer Natur. Denn
bloße Verdrehungen und Verzerrungen phrenologiſcher Wahr—
heiten können natürlich als eigentliche Einwendungen gar
nicht gelten.
Die Phyſiologen haben aber auch Hegel'ſche, Schel—
ling'ſche und andere Philoſophie ſtudirt, vergleichen die
Phrenologie mit derſelben, und decretiren, ſie ſei falſch, ſo
oft ſie im Widerſpruch mit den Lehrſätzen ihrer philoſophi—
ſchen Schule ſteht. Dabei nehmen ſie als ſich von ſelbſt
verſtehend an, daß ihre Philoſophie die richtige ſei. Dieſes
zu beweiſen, verlieren ſie keine Zeit und Mühe, und ſo muß
denn die Phrenologie natürlich falſch ſein, denn ſie weicht
allerdings von Kant's, Hegel's, Schelling's und aller an—
dern Philoſophen Lehren ab').
Die Phrenologie iſt ein Zweig der Naturwiſſenſchaft
und beruht als ſolcher lediglich auf Erfahrung, auf Natur—
beobachtung. Alle Einwürfe, welche daher nicht gleichfalls —
gemacht ſind vom Standpunkte der Erfahrung aus, ſind
durchaus unerheblich, denn nimmermehr wird die Specula—
tion die Thatſachen der Erfahrung zu gefährden vermögen.
1) Zeitſchrift für Phrenologie Bd. I. H. J. Nr. V. H. 2. Nr. XIII.
Einleitung. 229
Wer wohl bezeugte Thatſachen nicht beachtet und vermeint,
bloße Speculationen denſelben entgegenſtellen zu können, der
handelt gleich dem Träumer, welcher ſeine Träume für wahr
hält, und den Thatſachen der Wirklichkeit, welche ihnen wi—
derſpricht, vorzieht.
Bis zur heutigen Stunde hat ſich aber kein Gegner
der Phrenologie') die Mühe genommen, ihre Thatſachen
zu prüfen und demnach den Standpunkt, welchen ſie ſich
gebildet hat, irgend zu unterſuchen. Daher kommt es denn
auch, daß die Einwendungen der Gegner ſich größtentheils
unter einander auflöſen.
Von der einen Seite wirft man der Phrenologie vor,
ſie gehe zu ſehr in die Einzelnheiten ein, ſie nehme zu viele
Organe an. Auf der andern wird ihr entgegengehalten,
ſie habe noch nicht genug Organe entdeckt, aus den von
ihr entdeckten ließen ſich keineswegs alle Erſcheinungen des
Seelenlebens erklären. Dem erſtern Einwande begegnen
wir mit der Bemerkung, daß die Naturwiſſenſchaft nur
durch eine genaue Erforſchung der Einzelnheiten der Or—
gane, deren ſich die Natur zu ihren Zwecken bedient, ge—
fördert werden kann. Dieſes vorausgeſetzt, fällt jener Ein—
wurf von ſelbſt, denn die Phrenologen haben ja die vielen
Organe, von welchen ſie ſprechen, nicht geſchaffen, ſondern
nur entdeckt. Je größer daher die Zahl der von ihnen ent—
deckten Organe iſt, deſto größer ſind ihre Verdienſte.
Was den entgegengeſetzten Einwand betrifft, die Phre—
nologen hätten noch nicht genug Organe entdeckt, ſo klingt
er ungefähr ſo, als wollte man Columbus tadeln, daß er
nicht auch die ſpäter von Ferdinand Cortez, Pizarro und
andern Seefahrern entdeckten Länder entdeckt habe. Die
Phrenologen behaupten gar nicht, das Gebiet ihrer Wiſſen—
ſchaft ſei abgeſchloſſen, ſie geſtehen im Gegentheile offen zu,
1) Daß ſich namentlich Lelut dieſe Mühe nicht genommen, habe
ich in der Zeitſchrift für Phrenologie Bd. II. H. 2. Nr. XV. nach—
gewieſen.
230 Einleitung.
das Feld zu neuen Entdeckungen, das fie biete, ſei groß.
Wenn wir übrigens an die Mannigfaltigkeit der Miſchun—
gen der ſieben Farben des Regenbogens, der ſieben Töne
der Tonleiter und der vierundzwanzig Buchſtaben des Al—
phabets denken, wenn wir die verſchiedenartigen Verbindun—
gen der ſechsunddreißig Organe des Gehirns mit ‘Gehirn:
beſchaffenheit, Temperament und Körperbeſchaffenheit, mit
Lebens verhältniſſen und Erziehung erwägen, fo werden wir
in ihnen einen ziemlich genügenden Erklärungsgrund der
mannigfaltigen menſchlichen Charaktere finden!).
So wenig ſich unſere Gelehrten auch mit der Phreno—
logie beſchäftigt haben, ſo haben ſie ſich doch nicht geſcheut,
ihr den Stab zu ſprechen, ihr Einwendungen aller Art ent—
gegenzuſetzen. Keine Facultät iſt zurückgeblieben in dem
Beſtreben, die neue Entdeckung nicht aufkommen zu laſſen.
Die Theologen haben ſie im Widerſpruch mit der Bi—
bel gefunden, haben bewirkt, daß ſie ganz in denſelben Worten
verdammt wurde, mit welchen Gallilei's Ketzerei verdammt
worden war. In neuerer Zeit hat ſich jedoch in dem
orthodoxen England eine chriſtliche phrenologiſche Geſell—
ſchaft gebildet, welche regelmäßige Sitzungen hält und eine
Zeitſchrift zu Beförderung ihrer Zwecke zu gründen be—
abſichtigt.
Die ketzermachenden Theologen haben gänzlich vergeſ—
ſen, daß die Phrenologie gleich der Phyſiologie, der Bota—
nik, der Aſtronomie und der Mineralogie, nur ein Zweig
der großen Naturwiſſenſchaft iſt, und daß die Bibel den Fort—
ſchritten der Naturwiſſenſchaft nicht entgegengehalten werden
kann. In neuerer Zeit iſt man übrigens zu der Ueberzeu—
gung gelangt, daß die Phrenologie, weit entfernt, der Bi—
bel zu widerſprechen, mit derſelben aufs ſchönſte harmonirt,
ihre Lehren mehr und mehr veranſchaulicht und zu wiſſen—
ſchaftlicher Klarheit erhebt, ihre Gebote, ihre Hoffnungen
) v. Struve, Geſchichte der Phrenologie 8. 8.
Einleitung. 251
und Zuſicherungen als durch die menschliche Natur feſt be—
gründet nachweiſt.
Die Mediciner der alten Schule haben ſich der Phre—
nologie gegenüber in die allerkomiſchſte Stellung geſetzt.
Auf der einen Seite erkennen ſie im weſentlichen alle Grund—
ſätze der Phrenologie in ihren anatomiſchen und phyſiolo—
giſchen Werken, ohne alle Rückſicht auf die Phrenologie zu
nehmen, an. Auf der andern Seite machen ſie noch immer
Gall's und Spurzheim's phrenologiſche Entdeckungen lächer—
lich und ſprechen ſich herabwürdigend gegen dieſelben aus ).
Auf der einen Seite benutzen ſie klüglich die allgemeinſten
der Entdeckungen Gall's und Spurzheim's, auf der andern
Seite weiſen ſie deren nothwendigen Folgenſätze in Betreff
der einzelnen Organe mit Hohn zurück. Ihre eigenen For—
ſchungen haben die Entdeckungen Gall's und Spurheim's
mehr und mehr beſtätigt und dennoch wollen ſie den Werth
dieſer Männer nicht gelten laſſen. Die Stellung, welche
die mediciniſche Facultät in Deutſchland der Phrenologie
gegenüber eingenommen hat, iſt ſo augenſcheinlich unhalt—
bar, daß es nur darauf ankommt, ihr dieſelbe klar vor
Augen zu führen, um ſie zu zwingen, ſolche zu verlaſſen.
Die ganze Richtung, welche die Phyſiologie im Laufe des
vergangenen halben Jahrhunders genommen hat, iſt eine
ſo entſchiedene praktiſch beobachtende, in die Einzelnheiten
des Körperbaues eingehende, ſomit eine ſo entſchieden mit
derjenigen Gall's zuſammentreffende, daß es nur den jähr—
lich wiederkehrenden, von den mediciniſchen Lehr-Kanzeln
ausgehenden Entſtellungen der Grundſätze der Phrenologie
zugeſchrieben werden muß, daß unſere jungen Phyſiologen
ſich nicht ſchon längſt mit Vorliebe dem Studium der Phre—
nologie zugewandt haben.
Die Einwendungen, welche die Philoſophen der Phre—
nologie entgegenhalten, kommen aus den Lüften, aus
J) Zeitſchrift für Phrenologie Bd I. H. 1. Nr. V. H. 2. Nr.
XIII. H. 3. Nr. XXI. H. 5. Nr. VI. H. 6. Nr. XV. H. 7 die
Abhandlung gegen Dr. Ed. Meyer.
232 Einleitung.
den Wolken, in welchen ihre eigenen Syſteme wurzeln.
Die deutſche Nation hat ſich übrigens, was die Seelen—
lehre betrifft, längſt von den Beſtrebungen der Philoſo—
phen abgewandt. Sie hat erkannt, daß der wirkliche
Menſch, wie er lebt, denkt, fühlt und handelt, nichts mit
dem Menſchen gemein hat, wie ihn der Philoſoph in ſeinem
Studirzimmer conſtruirt. Unſer deutſcher Philoſoph, der
ſich mit dem Menſchengeiſte beſchäftigt, fängt vor allem da—
mit an, ihn zu definiren, giebt dann diejenige Begriffs—
ſtimmung, welche ihm am beſten zuſagt, zieht daraus Fol—
gerungen und giebt dieſe für Seelenlehre aus.
Ein ſolches Verfahren mußte nothwendig von dem
wirklichen Leben entfernen, konnte unmöglich mit demſelben
zuſammentreffen. Die Philoſophie wurde dadurch in Mis—
kredit gebracht. Die philoſophiſchen Einwendungen ſind da—
her für die Phrenologie die bedeutungsloſeſten, zu bedeu—
tungslos, um eine ernſtliche Beſprechung hier zu verdienen.
Die Juriſten endlich, welche ſich natürlich ſo wenig als
ihre Genoſſen der drei andern Facultäten die Mühe ga—
ben, die Phrenologie zu ſtudiren, fanden, daß ſie jedenfalls
inſofern durchaus irrig ſein müſſe, als ſie ihren hergebrach—
ten Anſichten von Zurechnungsfähigkeit, Culpa und Dolus
(ſchuldhafter und abſichtlicher Vergehung) widerſpreche. Daran
dachten ſie aber natürlich auch wiederum nicht, daß dieſe
ſelbſt falſch ſein könnten.
Eine Seelenlehre, welche ſich auf Beobachtungen grün—
det, muß natürlich zu ganz andern Reſultaten in allen
Zweigen der Wiſſenſchaft und in allen Beziehungen des
Lebens führen, als eine Seelenlehre, welche von der Wirk—
lichkeit der Natur und ihren Organen keine Notiz nimmt.
Es iſt daher ſehr begreiflich, daß die Phrenologie mit ihren
Reſultaten gar vielen herrſchenden Vorurtheilen entgegen—
tritt, welche dieſes nicht dulden wollen. Je abgeſchmackter,
je verderblicher ein Vorurtheil iſt, deſto lauter ſchreit es,
wenn es angegriffen wird, deſto ungeſtümer beruft es ſich
auf ſeinen langjährigen Beſitzſtand, deſto unwilliger iſt es,
5 Einleitung. 233
der Wahrheit zu weichen. Allein die Wahrheit iſt feſter
als die Lüge, und hat in ſich mehr Elemente des Beſtan—
des, des Fortſchrittes und der Ausbreitung.
Trotz dem Geſchrei der Gegner werden auch die Wahr—
heiten, welche die Phrenologie zu Tage gefördert hat, Wur—
zel faſſen, gedeihen und Früchte bringen.
Nachdem wir die der Phrenologie entgegengehaltenen
Einwendungen in ihren allgemeinen Umriſſen gewürdigt,
wollen wir ſie noch etwas genauer in ihren Einzelnheiten
ins Auge faſſen.
Wir beginnen mit den anatomiſchen Einwendungen.
Schon Büffon hat der Lehre Gall's die Bemerkung ent—
gegengehalten, manche Blödſinnige hätten durchaus normal
gebildete Köpfe. Dieſe Bemerkung iſt von Gall ſelbſt ge—
macht worden; ſie ſteht ſeiner Lehre durchaus nicht im Wege.
Zwei Elemente ſind beim Gehirn weſentlich wie bei allen
übrigen Theilen des Körpers: Qualität und Quantität.
Wenn die Qualität ſchlecht beſchaffen iſt, ſo iſt dieſes ein
vollkommen genügender Grund des Blödſinns. Dieſer Ein—
wand beruht daher auf der irrigen Vorausſetzung, die Phre—
nologie lege keinen Werth auf die Qualität des Gehirns,
während ſie auf dieſelbe ganz eben ſo großes Gewicht legt,
als auf die Quantität.
Berard und Montegre, dieſe eifrigen Gegner Gall's,
halten ihm entgegen: das Gehirn ſei weſentlich eines, die
Annahme verſchiedener Theile deſſelben als abgeſonderter
Organe ſei durchaus unzuläſſig. Das Gehirn beſteht aus
zwei Hemiſphären, aus dem großen und kleinen Gehirne,
aus der grauen und weißen Maſſe, es enthält die geſtreif—
ten Körper, die Seh-Hügel, verſchiedene Commiſſuren u. ſ. w.,
es theilt ſich in eine Menge Windungen, kurz es iſt ein
aus den mannigfaltigſten Gebilden aller Art zuſammenge—
ſetztes Ganzes. Wäre es eine tropfbar flüſſige Maſſe, dann
möchte man ſagen, es bilde ein untrennbares Ganzes, in—
dem ein Theil von dem andern ſich nur durch den von dem—
ſelben eingenommenen Raume unterſcheide. Allein das Ge—
234 Einleitung.
hirn ift eine ſolche Maſſe keineswegs. Wozu wären dieſe
mannigfaltigen Gebilde, wenn ſie alle mit einander ganz
gleiche Verrichtungen hätten. Allein hier handelt es ſich
nicht von einer Annahme, welche ſich gründet lediglich auf
das Anſehen des Gehirns. Kein Organ iſt angenommen
worden, ohne daß eine Reihe von Thatſachen dieſe Annahme
auf das unzweideutigſte beſtätigt hätte.
Man hat ſich ferner darauf berufen, es ließen ſich
zwiſchen den verſchiedenen Organen keine körperlichen Grän—
zen nachweiſen, und hieraus folge, daß man auch keinen
Grund habe, beſtimmte abgegränzte Verrichtungen deſſelben
anzunehmen. Auf der andern Seite hat man dagegen der
Phrenologie geradezu den Vorwurf gemacht, ſie nehme zu
ſcharfe Gränzen an, dieſe beſtänden nicht weder körperlich in
den Organen, noch geiſtig in den Verrichtungen der Seele.
In der ganzen Natur ſind die Uebergänge immer allmählig.
Die Hand ſchließt ſich an den Arm, dieſer an die Schul—
ter u. ſ. w., ohne daß es möglich wäre, beſtimmt die Grän—
zen zwiſchen einem Theile und dem andern nachzuweifen.
Wenn dieſes nicht möglich iſt bei den größern Gebilden des
Körpers, wie ſollte es möglich ſein bei den kleinern des
Gehirns. Wir wiſſen, daß in derſelben Scheide der Nerve
der freiwilligen Bewegung, der unfreiwilligen Bewegung
und der Empfindung eingeſchloſſen iſt; deſſen ungeachtet
können zur Stunde unſere Anatomen die Nervenſtränge
für die eine und die andere Verrichtung nicht auseinan—
derlegen, und beſtimmen, dieſe Stränge vermitteln die
Empfindung und jene die Bewegung. Geht daraus
hervor, daß dieſe Stränge keine verſchiedenen Verrichtungen
haben? Keineswegs! ſondern nur, daß der Anatomie in
dieſer Rückſicht noch Manches zu thun übrig bleibt.
Die phyſiologiſchen Einwendungen ſind bei dem
jetzigen Stande der Wiſſenſchaft ſämmtlich ſo durchaus
haltungslos, daß ich mich nicht entſchließen kann, ſie hier
näher zu beſprechen !).
1) Diejenigen, welche ſich desfalls unterrichten wollen, verweiſe
Einleitung. 235
Wenn beide Organe eines Geiſtesvermögens auf beiden
Seiten des Kopfes gleichmäßig verletzt ſind, ſo verſteht es
ſich von ſelbſt, daß auch die ganze Verrichtung, welche ſie
vereinigt üben, geſtört werden muß. Wenn dagegen auch
nur ein Organ urſprünglich verletzt iſt, ſo iſt es nicht ſel—
ten der Fall, bei den Organen des Gehirns wie bei den—
jenigen des übrigen Körpers, daß das entſprechende der
andern Seite in Mitleidenheit gezogen wird. Ueberhaupt
ſcheint aber die linke Hemiſphäre gewöhnlich minder that—
kräftig zu ſein als die rechte, wovon die Folge iſt, daß das
Organ der linken Seite ſelten im Stande ſein wird, die
Verrichtung für ſich allein fortzuſetzen. Es findet übrigens
nicht blos zwiſchen den beiden correſpondirenden Organen des
Gehirns, ſondern auch überhaupt zwiſchen ſämmtlichen Or—
ganen deſſelben eine mehr oder weniger innige Verbindung
ſtatt. In demſelben Maße als ſich daher vermittelſt dieſes
Zuſammenhangs der Kreis des Leidens der Organe erwei—
tert, wird ſich auch eine Störung ihrer Verrichtungen kund
thun. Sind nach und nach oder auch auf einmal ſämmt—
liche Organe des Gehirns krankhaft afficirt worden, ſo
werden auch nach und nach oder auf einmal die entſprechen—
den Verrichtungen geſtört werden. Es erklärt ſich daher ſehr
natürlich, wie trotz der doppelten Organe die ganze ent—
ſprechende Verrichtung und trotz der Mehrheit der Organen—
Paare die ganze geiſtige Thätigkeit geſtört werden kann.
Eine Reihe anderer Einwendungen ſind aus den von
verſchiedenen Phyſiologen an Thieren vorgenommenen Me—
tzeleien abgeleitet worden. Man hat armen Hunden, Haſen,
Vögeln und Thieren aller Art auf die grauſamſte Weiſe
einen Theil des Gehirns nach dem andern ſchichtenweiſe
ausgeſchnitten, und weil man auf dieſem Wege nicht zu
denſelben Reſultaten kam, wie Gall, welcher geſunde Men—
ſchen und Thiere beobachtet hatte, ſo ſchloß man, Gall's
ich auf Gall, sur les fonctions du cerveau Tom. II. p. 398440. Zeit—
ſchrift für Phrenologie Bd. J. H. 4. Nr. XXVI.
236 Einleitung.
Lehre ſei falſch. Allein ſchon Gall hat darauf aufmerkſam
gemacht, wie trügeriſch derartige Verſuche ſind. Bevor das
Meſſer nur das Gehirn erreicht, werden eine Reihe von
Blutgefäßen, Nerven und Gebilden aller Art verletzt. Bei
jedem Thiere zeigen ſich nach Verſchiedenheit der Verhält—
niſſe verſchiedene Krankheitserſcheinungen. Eine normale
Verrichtung kann man auf dieſem Wege daher niemals ken—
nen lernen, während die Aufgabe, welche ſich Gall und
ſeine Nachfolger ſtellen, doch zunächſt nur auf die Ent—
deckung der normalen Verrichtung der verſchiedenen Theile
des Gehirns gerichtet war.
Von Seiten der Theologen und Philoſophen hat man
ferner der Phrenologie vorgeworfen, ſie zerſtöre die Idee
geiſtiger Einheit und der Willensfreiheit, auch führe ſie zum
Fatalismus und Materialismus.
Geiſtige Einheit kann beſtehen ungeachtet der Mehrheit
der Kräfte des Geiſtes, wie körperliche Einheit beſtehen
kann ungeachtet der Mehrheit der Körpertheile. Wäre die—
ſes nicht der Fall, ſo gälte dieſer Vorwurf eben ſo gut der
alten Schule als der neuen der Seelenlehre. Denn jene
nimmt ſo gut als dieſe eine Mehrheit von Geiſteskräften,
eine Vielheit von Grundvermögen an.
Fatalismus und Materialismus ſind ſo vage Worte,
daß man damit bezeichnen kann, was man will. Allein
als Vorwurf kann damit nur eine Denkungsweiſe bezeichnet
werden, welche dem Fatum, bezugsweiſe der Materie mehr
einräumt, als ihnen gebührt. Die Phrenologie nimmt aber
nicht nur ein Schlußvermögen mit der ausdrücklichen Ver—
richtung an, nach den verborgenen Urſachen der äußern Er—
ſcheinungen zu forſchen, ſondern ſie beſtrebt ſich in allen
Beziehungen, ſo weit ſich ihr Reich erſtreckt, die Wech—
ſelverbindung zwiſchen Urſache und Wirkung nachzuweiſen.
Wie kann man alſo von Fatalismus da ſprechen, wo das
eifrigſte Beſtreben herrſcht, das Reich des Fatums, das
Reich, wo ſich eine Wechſelverbindung zwiſchen Urſache und
Wirkung nicht mehr nachweiſen läßt, möglichſt zu ſchmä—
Einleitung. 237
lern? Was den Vorwurf des Materialismus betrifft, ſo
bemerke ich, daß die Phrenologie der Materie nicht mehr
einräumt, als die Erfahrung den Beobachter zwingt, ihr
einzuräumen. Wenn es Gott gefiel, Leib und Seele nicht
nur im Allgemeinen, ſondern auch in ihren beſonderen
Theilen in die innigſte Verbindung zu bringen, ſo haben
dieſes die Phrenologen nicht zu verantworten. Sie haben
nichts geſchaffen, nichts verbunden, ſondern nur entdeckt,
was Gott geſchaffen und verbunden hat. Eine Philoſophie
übrigens, welche als die eigentlichen Führer des Menſchen
ſeine moraliſchen Kräfte und ſein Denkvermögen: die Ge—
fühle der Ehrerbietung, der Gewiſſenhaftigkeit, des Wohl—
wollens, der Hoffnung u. ſ. w., die Vergleichungsgabe und
das Schlußvermögen bezeichnet, welche gerade entſchieden
darauf dringt, daß die niederen, thieriſchen Kräfte: der
Nahrungstrieb, der Erwerbstrieb u. ſ. w. ſtets in Unter—
ordnung unter die höhere geiſtige Natur gehalten werden
ſoll, — dieſe kann man gewiß nicht in dem Sinne materia—
liſtiſch nennen, als verkenne ſie die höhere geiſtige Natur
des Menſchen.
Man muß übrigens entweder ſehr unwiſſend, oder
ſehr böswillig ſein, wenn man gegen die Phrenologie jetzt
noch dieſe längſt widerlegten Einwürfe vorzubringen wagt.
Ich beſprach ſie hier, mehr um die Unwiſſenheit und Bös—
willigkeit der Gegner zu bezeichnen, als um dieſe längſt
beſeitigten Einwürfe ernſtlich zu widerlegen. Sie haben
bei dem heutigen Stande der Wiſſenſchaft nur noch eine
geſchichtliche Bedeutung.
9 45.
Ueber das Verhaͤltniß der Phrenologie zur Schaͤ—
dellehre, Phyſiologie und zur alten Seelenlehre.
Von mangelhaft unterrichteten Schülern und übel—
wollenden Gegnern Gall's getäuſcht, glaubten und glauben
238 Einleitung.
noch immer Viele, die Phrenologie befaſſe ſich zunächſt mit
dem Schädel. Allein wie dieſer nur die äußere Umhüllung
des Gehirns, fo iſt die Schädellehre nur die Vorhalle von
der Gehirnlehre. Wie ſich übrigens der Schädel aufs
innigſte mit dem Gehirne verbindet, ſo ſteht auch die
Schädellehre mit der Gehirnlehre in der innigſten Ver—
bindung. Die Verrichtungen des Gehirnes beſtehen darin,
die Thätigkeit der Seelenkräfte zu vermitteln, und inſofern
trifft die Lehre von den Verrichtungen des Gehirns mit
der Lehre von der Thätigkeit der Seele überein.
Die Phrenologie iſt daher, wie ſchon das Wort an—
deutet“), eine Seelenlehre, allein fie unterſcheidet ſich von
der alten Pſychologie namentlich dadurch, daß ſie die Er—
ſcheinungen des körperlichen und geiſtigen Lebens mit ein—
ander in Verbindung bringt, und aus dieſer Verbindung
ihre weſentliche thatſächliche Grundlage ableitet. Inſofern
ſteht ſie auf demſelben Standpunkte, welchen ſchon Platon
und Ariſtoteles als den einzig richtigen bezeichnet hatten,
und von welchem ſie ſelbſt ausgingen. Beide große Phi—
loſophen betrachteten die Seelenlehre in unmittelbarer Ver—
bindung mit der Körperlehre und als einen Theil der Na—
turwiſſenſchaft. Zu ihren Zeiten waren Phyſiologie und
Anatomie allerdings noch in der Wiege, ſie konnten daher
ihnen nicht ſo förderlich ſein in dem Beſtreben, über die
Thätigkeit der Seele Licht zu verbreiten, wie dieſe Wiſſen—
ſchaften den Forſchern heutiger Tage es ſind. Allein ſie
waren doch auf dem rechten Wege, während unſere Philo—
ſophen nach mehr als zwei Jahrtauſenden dieſen noch nicht
wieder gefunden haben. Nach Platon und Ariſtoteles
machte die Seelenlehre wieder große Rückſchritte. Erſt
mit Bacon von Verulam beginnt für ſie eine neue
Periode philoſophiſcher Strebung. Dieſer große Geiſt
unterſcheidet zwei Seelen: die raiſonirende und die em—
pfindende. Die Vermögen der erſteren ſind nach ihm: der
1) ©. oben S. 11.
Einleitung. 239
Verſtand, die Vernunft, die Schlußfolgernng, die Einbil-
dungskraft, das Gedächtniß, das Begehrungsvermögen und
die Willenskraft. Die Vermögen der empfindenden Seele
ſind ihm: die freiwillige Bewegung und die Empfindung.
Des Cartes erkennt vier Grundvermögen an: die Wil—
lenskraft, den Verſtand, die Einbildungskraft und die Em—
pfindung. Hobbes läßt nur zwei Grundvermögen zu:
Erkenntniß und Bewegung. Locke nimmt den Verſtand
und die Willenskraft an. Bonnet und Condillac neh—
men wieder andere und mehrere Grundvermögen an. In
Kant's Syſteme ſind der Vermögen- oder Elementar-For—
men, oder reinen Verſtandesbegriffe, Ideen a priori fünf—
undzwanzig, Tracy führt alles auf das Denken zurück,
allein nimmt doch für dieſes vier verſchiedene Modifi—
cationen an. Heinroth legt beſondern Werth auf die
Selbſtbeobachtung. Scheidler findet ein dreifaches Leben
in dem Grundvermögen der Seele: das Erkenntnißleben,
das Gefühlsleben und das Thatleben. Hartmann läßt
das Denkvermögen die Hauptrolle ſpielen. Hegel's
Seelenlehre iſt nicht fertig geworden. Das Weſen des
Geiſtes nennt er formell die Freiheit, „die abſolute Nega—
tivität des Begriffs als Identität mit ſich.“ Er gibt uns,
wie nach ihm ſeine Schüler, Worte ſtatt Thatſachen, De—
finitionen ſtatt Erklärungen der Erſcheinungen, Dialektik
ſtatt Wahrheit.
In neuerer Zeit hat man mehr und mehr eingeſehen,
daß der Körper bei der Seelenlehre nicht vernachläſſigt
werden dürfe. Schubert, Burdach, Johannes
Müller ſchicken dabei ihren Seelenlehren ausführliche
Abhandlungen über den Körper voraus. Allein Körper—
und Seelenlehre ſtehen bei ihnen in durchaus keiner Ver—
bindung. Man könnte ebenſo gut die Seelenlehre Kant's,
Hegel's oder irgend eines andern ſpeculativen Kopfes
mit der Körperlehre dieſer Gelehrten nachfolgen laſſen,
als die ihrigen. Das Verbindungsglied zwiſchen Körper
240 Einleitung.
und Geiſt, das Gehirn mit feinen Verrichtungen iſt von
allen dieſen Gelehrten praktiſch nnberückſichtigt geblieben.
Dieſe Ueberſicht der Leiſtungen der Pſychologen alter
Schule wird genügen, zu zeigen, daß dieſelben gleich den
Phrenologen zwar eine Mehrheit von Seelenvermögen an—
nehmen, daß deren Annahmen aber auf keinen Thatſachen
beruhen, daher einen eigentlich wiſſenſchaftlichen Grund
nicht haben. Die Speculationen des einen Philoſophen
ſtießen diejenigen des andern um, und es blieb von allen
dieſen pſychologiſchen Syſtemen als Gewinn für die Wiſſen—
ſchaft nur wenig zurück. Was die ſpeculativen Pſychologen
für Grundvermögen der Seele ausgaben, waren entweder
Ueberſichtsmomente, oder Gradationen, oder endlich Reſul—
tate. Auch die Phrenologen nehmen gleich den Pſycho—
logen alter Schule ein Erkenntnißvermögen, Begehrungs—
vermögen, Empfindungsvermögen, Darſtellungsvermögen
und Denkvermögen an. Allein alles dieſes ſind keine
Grundkräfte, ſondern nur Ueberſichts-Momente. Innerhalb
aller dieſer Vermögen bewegen ſich die verſchiedenartigſten
Grundkräfte, innerhalb des Empfindungsvermögens z. B.
die Empfindungen des Wohlwollens, der Ehrerbietung,
der Hoffnung u. ſ. w., innerhalb des Erkenntnißvermögens
der Geſtaltſinn, Farbenſinn, Gewichtſinn u. ſ. w. Was fo
mannigfaltige Elemente in ſich ſchließt, wie jene Vermö—
gen, kann unmöglich ſelbſt ein Grundvermögen ſein. Die
Phrenologen nehmen aber ſowohl wie die alten Pſychologen
Auffaſſungsgabe, Gedächtniß und productive Kraft an,
allein nicht als Grundvermögen, ſondern als Gradationen.
Derſelbe Menſch, welcher Muſik zu produciren im Stande
iſt, hat auch muſikaliſches Gedächtniß und muſikaliſche
Faſſungskraft, aber nicht umgekehrt. Mancher kann die
Muſik richtig auffaſſen, ſich an ihren Melodien erfreuen,
der darum doch weder muſikaliſches Gedächtniß noch muſi—
kaliſche Productivität beſitzt. Umgekehrt hat mancher hohe
muſikaliſche Productivität, der durchaus keine ſolche beſitzt
für die Malerei, oder die Schauſpielkunſt. Dem könnte
Einleitung. 241
nicht fo fein, wenn Auffaſſungsgabe, Gedächtniß und pro—
ductive Kraft Grundvermögen der Seele wären. Die
Phrenologen nehmen auch gleich den alten Pfychologen
Willenskraft, Vernunft, Verſtand und andere ähnliche
Kräfte an. Allein ſie wiſſen, daß dieſes keine einfachen
Kräfte, keine Elemente des Seelenlebens, ſondern Reſultate
der Zuſammenwirkung verſchiedener Grundvermögen ſind.
Aus einem richtigen Verhältniß der verſchiedenen empfin—
denden und intellectuellen Kräfte des Menſchen wird ſich
die Vernunft, aus einem Vorwalten gewiſſer intellectueller
Kräfte der Verſtand, und aus einer Vereinigung der in—
tellectuellen Kräfte die Willenskraft als Reſultat ergeben.
Allein derſelbe Mann, welcher in einer Beziehung einen
hohen Grad von Verſtand oder von Willenskraft ent—
wickelt, wird in einer andern oft wenig zeigen. Der
Mann, welcher mit vielem Verſtande Gemälde beſpricht,
zeigt oft ſehr wenig in Rechtsſachen, und wer eine feſte
Willenskraft auf dem Felde der Schlacht entwickelt, zeigt
oft eine ſehr ſchwache in dem Boudoir feiner Frau.
Die alte Pſychologie hat gewiſſermaßen nur das Fach—
werk für eine Seelenlehre an die Hand gegeben, die Phre—
nologie erſt hat begonnen, dieſes auszufüllen. Das Ge—
bäude der alten Pſychologie bot daher keinen Schutz gegen
Wind und Regen, gegen Winterſturm und Sonnenhitze,
ſie ſchützte die Menſchheit nicht gegen die Härte des Kli—
mas und der Jahreszeiten. Sie paßte nicht zum Leben.
Sie gab nur Allgemeinheiten, wo es darauf ankam, Spe—
cialitäten zu geben, fie ließ viele der bedeutungsvollſten
Seiten des menſchlichen Lebens unberückſichtigt, ſie konnte
daher niemals ein umfaſſendes Bild von dem Zuſtande des
Seelenlebens, von der inneren Organiſation deſſelben, von
dem Entwickelungsgange der menſchlichen Kräfte, von den
Bedürfniſſen der Seele bieten. Es fehlte an allen Ecken
und Enden. Je conſequenter man daher irgend ein ſpecu—
latives Syſtem der Pſychologie auf das Leben übertragen
wollte, deſto mehr verletzte man die Bedürfniſſe des See—
16
242 Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre. -
lenlebens, deſto härter, deſto unmenſchlicher wurde man.
Niemand war daher unpraktiſcher im Leben, als ein Phi—
loſoph der alten Schule.
Die Phrenologie dagegen lehrt uns zuerſt die Ele—
mente des Seelenlebens kennen ($ L— 43), um uns dann
Aufſchluß zu geben über die Art und Weiſe, wie ſie ſich
verbinden, ſie zeigt uns, wie die einzelnen Elemente ſich
naturgemäß bewegen, um uns deren Thätigkeit in ihren
verſchiedenartigen Verbindungen zu entwickeln, ſie lehrt uns
die Theile des geiſtigen Ganzen kennen, damit wir dieſes
auf jene zurückführen lernen. Nur durch Theilung läßt
ſich das große Gebiet des Seelenlebens allmählig be—
herrſchen. Allgemeinheiten fördern nicht, weder in der
Theorie noch in der Praxis. Vermittelſt der allgemeinen
Sätze der alten Pſychologie machen wir in der Menſchen—
kenntniß keine Fortſchritte. Was iſt aber eine Seelen—
lehre, welche uns in der Menſchenkenntniß nicht fördert?
Sie iſt todtgeboren, unfruchtbar und nur geeignet zu ver—
wirren.
$ 46.
Ueber das Verhaͤltniß der ſynthetiſchen zur ana—
lytiſchen Seelenlehre, die verſchiedenen Combi—
nationen, Gradationen und die Geſetze der gei—
ſtigen Thaͤtigkeit.
Erſt nachdem man auf ſynthetiſchem Wege die ein—
zelnen Theile erkannt hat, aus deren Thätigkeit das Seelen—
leben hervorgeht, iſt es möglich, dieſes als ein Ganzes
ins Auge zu faſſen, auf analytiſchem Wege es in ſeine
Elemente zu zerlegen und ſo Klarheit darüber zu ver—
breiten.
Der alten Seelenlehre fehlt der ſynthetiſche Theil
ganz und gar. Sie giebt uns über die Elemente des
Seelenlebens durchaus keinen Aufſchluß. Folge davon iſt,
Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre. 243
daß ſie uns in ihren analytiſchen Beſtrebungen gleichfalls
nicht viel Klarheit zu geben vermag, denn da ſie die Ele—
mente des Seelenlebens nicht kennt, vermag ſie auch die
gemiſchten Zuſtände deſſelben auf ſolche nicht zurückzuführen.
In dem ſynthetiſchen Theile vermochten wir noch nicht,
Rückſicht auf die Modificationen zu nehmen, welche die
verſchiedenen Elemente des Seelenlebens nach der Ver—
ſchiedenartigkeit ihrer Verbindung hervorrufen. Dieſes ſoll
nunmehr hier zunächſt geſchehen.
Drei Gegenſtände ſind bei der Beurtheilung aller
Seelenzuſtände von der höchſten Bedeutung.
1) Die geiſtige Stärke des Individuums, welche an—
gedeutet wird durch die Größe des Gehirns,
2) die Art und Weiſe ſeiner geiſtigen Thätigkeit,
welche abhängt von der Beſchaffenheit ſeines Gehirns, und
des Körpers überhaupt,
3) die äußeren Verhältniſſe, in welchen es ſich von
Kindheit an befunden.
Ein überhaupt großes Gehirn deutet auf eine über—
haupt große geiſtige Kraft, ein überhaupt kleines Gehirn
auf eine überhaupt geringe geiſtige Kraft. Allein nicht
ſelten findet ſich an einem überhaupt großen Gehirn das
eine oder das andere Organ klein, oder an einem über—
haupt kleinen Gehirne das eine oder das andere Organ
groß. Die Stärke der geiſtigen Verrichtungen wird immer
im Verhältniß ſtehen zu der Größe der einzelnen entſpre—
chenden Organe.
Alle überhaupt beſonders geiſtig kräftigen Männer,
wie z. B. Napoleon, Shakeſpeare, Bacon von Verulam,
Schiller, Goethe, Cuvier u. ſ. w. haben auch ein großes
und geſundes Gehirn gehabt; alle überhaupt geiſtig ſchwa—
chen Männer haben auf der anderen Seite ein verhält—
nißmäßig kleines oder krankhaftes Gehirn beſeſſen.
Um jedoch tiefer in die Einzelnheiten eines Charakters
einzudringen, wollen wir fürs erſte die verſchiedenen Re—
gionen und deren Abtheilungen beſprechen und dann auf
16 *
244 Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre.
die verſchiedenen Combinationen der einzelnen Organe
übergehen.
Ein breiter Kopf in der Gegend von Ohr zu Ohr
und ein ſtark entwickelter Hinterkopf deutet auf eine ent—
ſchieden ſinnliche Natur, eine hohe und breite Wölbung
des Hauptes auf gut entwickelte moraliſche Organe, eine
hohe, breite und tiefe Stirn auf eine ſtarke Entwickelung
der Intelligenz. Innerhalb dieſer Gruppen finden jedoch
noch die größten Mannigfaltigkeiten ſtatt, je nach der
Verſchiedenartigkeit der Miſchung der einzelnen Organe.
Jedes Organ wird in ſeiner Wirkſamkeit modificirt
durch die mit demſelben in Verbindung ſtehenden übrigen
Organe. Eines iſt mehr geeignet, dieſes zur Thatkraft an—
zuregen, ein anderes mehr jenes. Die Organe des Ver—
heimlichungstriebs, der Sorglichkeit und der Beifallsliebe
werden einem Menſchen den Charakter der Verſtellungs—
fähigkeit im höchſten Grade verleihen. Die Beifallsliche
entdeckt ſehr ſchnell, was uns den Beifall unſerer Mit—
menſchen ſichern oder entziehen kann, die Sorglichkeit macht
uns aufmerkſam auf alle Gefahren, welche uns bedrohen,
und der Verheimlichungstrieb deckt den Schleier des Ge—
heimniſſes über die inneren Regungen unſerer Seele. Je—
des dieſer Organe trägt und ſtützt das andere in ſeinen
Beſtrebungen, regt es zur Mitwirkung auf und ſchließt
ſich daher den anderen mit beſonderer Leichtigkeit an. Im
entgegengeſetzten Verhältniß ſtehen z. B. die Organe des
Selbſtgefühls, der Hoffnung und des Bekämpfungstriebs.
Dieſe Organe werden in ihrer Zuſammenwirkung zu einem
offenen, unumwunden handelnden und ſprechendem Cha—
rakter führen. Das Selbſtgefühl iſt zu ſtolz zur Ver—
ſtellung, der Bekämpfungstrieb ſcheut den Kampf nicht bei
Verſchiedenheit der Anſichten und Beſtrebungen und die
Hoffnung ſchmeichelt uns mit einem günſtigen Erfolge un—
ter allen Verhältniſſen. Die Organe des Bekämpfungs—
triebs, des Zerſtörungstriebs und des Selbſtgefühls, wenn
ſie ſämmtlich ſtark entwickelt ſind, werden dem Charakter
Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre. 245
eine ungewöhnlich kriegeriſche, ſtreitbare Richtung geben,
die Organe der Kinderliebe, der Anhänglichkeit, des Wohl—
wollens dagegen werden ihm, bei vereinigt ſtarker Ent—
wickelung, den Ausdruck der Sanftmuth, der Weichherzig—
keit verleihen. Die Organe der Ehrerbietung, der Hoff—
nung und des Wunderbaren werden zunächſt die religiöſe
Stimmung begründen, die Organe des Wohlwollens, der
Gewiſſenhaftigkeit und der Feſtigkeit unſere moraliſche
Haltung im Verkehre mit den uns umgebenden Menſchen
bedingen. Je nachdem nun das eine oder das andere die—
ſer Organe mehr oder weniger ſtark entwickelt iſt, wird
der Menſch in Beziehung auf Verhältniſſe des Kampfes,
der Weichherzigkeit, der Religion und der Moral einen
verſchiedenen Charakter annehmen. Bei vorwaltendem
Selbſtgefühl wird ſich ein hoher Grad von Egoismus, bei
vorherrſchendem Bekämpfungstrieb eine ungewöhnliche Nei—
gung zum Streit, bei beſonders ſtarkem Zerſtörungstrieb
wird ſich Geneigtheit zum Zorne, Grimme, zur Rachſucht
und zur Grauſamkeit entfalten. Waltet bei der zweiten
Gruppe die Kinderliebe vor, ſo wird ſich die Weichherzig—
keit beſonders den ſchwachen und hülfloſen Geſchöpfen der
Menſchen- und Thierwelt aus dem näheren Kreiſe der
Umgebung des Individuums zuwenden und den Charakter
der Zärtlichkeit annehmen. Herrſcht die Anhänglichkeit vor,
ſo wird ſich das weiche Gefühl mehr Freunden und Ver—
wandten zuwenden und ſich beſonders durch Treue und
Beſtändigkeit bekunden. Das Wohlwollen, wenn es vor—
herrſcht, wird dem Gefühl eine weitere Sphäre und ihm
mehr den Charakter der Milde und Barmherzigkeit ver—
leihen u. ſ. w.
In allen dieſen Fällen wird aber daſſelbe Organ ſich
in ganz anderer Weiſe wirkſam zeigen nach Verſchieden—
heit der übrigen mit ihm verbundenen Organe. Ein ſehr
ſtark entwickeltes Selbſtgefühl in Verbindung mit ſehr
ſchwachem Bekämpfungs- und Zerſtörungstrieb, ſehr ſtar—
ker Ehrerbietung und kräftigem Wohlwollen wird ſich kaum
246 Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre.
merklich machen; während ein mittelmäßig entwickeltes
Selbſtgefühl, in Verbindung mit ſehr ſtarkem Bekäm—
pfungs- und Zerſtörungstrieb und ſchwachem Wohlwollen
und Ehrerbietung, ſchon ſehr verletzend auftreten mag.
Ein Menſch, in welchem Hoffnung und Sorglichkeit gleich
ſtark entwickelt ſind, wird, je nachdem z. B. Witz, Ehrer—
bietung, Wohlwollen, Gewiſſenhaftigkeit, Sinn für das
Wunderbare ſtark oder ſchwach entwickelt ſind, einen durch—
aus verſchiedenen Charakter annehmen. Findet ſich der
Witz ſtark entwickelt, ſo wird er die Hoffnung durch ſeinen
heitern Charakter, ſindet ſich die Ehrerbietung groß, ſo
wird dieſe die Hoffnung durch ihren vertrauensvollen
Charakter zur Thätigkeit anregen, und ſo doch eine hoff—
nungsvolle, heitere, vertrauende Gemüthsſtimmung bilden.
Finden ſich dagegen der Witz und die Ehrerbietung ſchwach
entwickelt, Wohlwollen, Gewiſſenhaftigkeit und Sinn für
das Wunderbare dagegen ſtark, ſo wird der Charakter kein
hoffnungsvoller ſein. Das kräftige Wohlwollen wird bei
den ſo häufigen Scenen menſchlichen Elends oft ſchmerz—
haft angeregt werden, die Gewiſſenhaftigkeit wird das
Gemüth durch die Frage: haſt du deine Pflicht auch er—
füllt? oft in Bewegung ſetzen, und der Sinn für das
Wunderbare wird zu myſtiſchen Gefühlen die Bahn brechen.
In dieſem Geleite wird die Hoffnung mehr und mehr
in Unthätigkeit verſinken, während die Sorglichkeit mehr
und mehr thätig werden wird, namentlich inſofern ein
reizbares Temperament und unglückliche äußere Verhält—
niſſe noch hinzukommen ſollten.
Die verſchiedenen möglichen Combinationen der Ge—
hirn-Organe laſſen ſich ebenſo wenig erſchöpfend angeben,
als die verſchiedenen möglichen Combinationen der Töne.
Jeder Kopf bietet eine neue Combination von Organen,
wie jede Melodie eine neue Combination von Tönen. Die
Aufgabe des Tonkünſtlers iſt es, die verſchiedenen Ton—
Combinationen, Sache des Phrenologen, die verſchiedenen
Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre. 247
Gehirn-Combinationen aus ihren Zeichen zu erkennen und
Anderen vernehmlich zu machen.
Wie übrigens bei der Muſik nicht allein die Noten,
ſondern auch der Takt von hoher Bedeutung iſt, ſo ſind
es in der Phrenologie nicht allein die Gehirn-Organe, ſon—
dern auch das Temperament. Wie dort der Takt andeutet,
in welcher Art und Weiſe die Noten zu ſpielen ſind, ſo
deutet hier das Temperament die Art und Weiſe an, wie
die Gehirn-Organe wirken. Dieſelben Noten werden, zu
verſchiedenen Taktverhältniſſen verbunden, ganz anders
wirken, ſo werden dieſelben Gehirn-Organe, mit verſchie—
denen Temperamenten verbunden, gleichfalls ſehr verſchie—
denartige Charaktere bilden.
Da wir bereits oben“) die Temperamente ausführlich
beſprochen haben, ſo können wir uns hier kurz faſſen.
Das phlegmatiſche Temperament, welches der leben—
digen Bewegung abhold iſt, wird allen denjenigen Organen
feindlich entgegentreten, die einen weiteren, größeren Kreis
zu durchlaufen berufen ſind. Diejenigen Organe dagegen,
welche einen engern Kreis der Wirkſamkeit haben, werden
mit ihm beſonders ſympathiſiren: den thieriſchen Trieben
iſt von der Natur die engſte Sphäre. angewieſen. Die
Organe des Nahrungstriebs, des Geſchlechtstriebs, der
Kinderliebe, der Anhänglichkeit, dann aber auch der Be—
kämpfungstrieb, Zerſtörungstrieb, Verheimlichungstrieb, Er—
werbstrieb werden daher bei dem phlegmatiſchen Tempera—
mente beſondere Thätigkeit entwickeln. Selbſtgefühl, Bei—
fallsliebe, Sorglichkeit und von den Organen der Intelli—
genz das Erkenntnißvermögeg und die Talente werden
dann, am wenigſten das Denkvermögen und die höheren
moraliſchen Empfindungen zur Thätigkeit angeregt werden.
Bei dem ſanguiniſchen Temperamente iſt körperliche
Thätigkeit ein beſonderes Bedürfniß. Diejenigen Organe,
welche dieſe fördern, werden daher unter ſeiner Herrſchaft
1) § 3.
248 Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre.
zu vorwaltender Thätigkeit gelangen. Hierher gehören die
Organe des Bekämpfungs- und Zerſtörungstriebes, der
Beifallsliebe, der Hoffnung, des Thatſachenſinns und des
Gegenſtandſinns. Denn alle dieſe Organe finden ohne kör—
perliche Bewegung keine Aufforderung zu regerer Thä—
tigkeit.
Das nervöſe Temperament, das Temperament vor—
waltender geiſtiger Thätigkeit bildet als ſolches einen Ge—
genfaß zu den beiden zuvor beſprochenen Temperamenten.
Es wird daher vorzugsweiſe dem Denkvermögen und den
höheren, moraliſchen Empfindungen Anregung geben.
Das biliöſe Temperament iſt in ſeiner Weſenheit noch
zu wenig ergründet. Ich wage daher nicht, über den Ein—
fluß, welchen dieſes auf die Organe des Gehirnes ausübt,
eine entſchiedene Anſicht auszuſprechen. Doch ſcheint es
insbeſondere mit dem Organe der Feſtigkeit zu ſympa—
thiſiren. '
Wie daſſelbe Tonſtück, nach Verſchiedenheit der Ver:
hältniſſe, unter denen es aufgeführt wird, ſehr verſchieden
lauten wird, ſo wird ſich auch ein Charakter nach Ver—
ſchiedenheit der Verhältniſſe, in denen er ſich entfaltet, ſehr
verſchiedenartig ausnehmen. Ein reich beſetztes Orcheſter
mit Pauken und Trompeten wird uns in einem kleinen
Locale betäuben. Ein reich begabter Charakter mit regem
Selbſtgefühl und Bekämpfungstrieb wird uns in einer
kleinen Sphäre der Thätigkeit einen ähnlichen Eindruck
machen. Im Freien oder in einem großen Concertſaale
wird uns daſſelbe Orcheſter entzücken, auf einem großen,
weiten Felde der Thätigkeit wird uns derſelbe Charakter
in Erſtaunen ſetzen. Wie auf die Geſammtheit des Orga—
nismus, ſo müſſen die äußern Verhältniſſe auch auf die
einzelnen Organe, auf das Temperament, auf die körper—
liche und folgenweiſe auch auf die geiſtige Geſundheit einen
mächtigen Einfluß üben. Ein weiteres werden wir hier—
über unten im praktiſchen Theile, beſonders in dem von
der Erziehung handelnden §. (62) ausführen.
Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre. 249
Die Geſetze der Geiſteskräfte laſſen ſich kurz in fol—
gender Weiſe zuſammenfaſſen:
1) Jede geiſtige Kraft beginnt zu wirken, ſobald ihr
ihr Gegenſland geboten wird; ſie wird namentlich zur
Thätigkeit angeregt durch die Thätigkeit der entſprechenden
Kraft anderer Individuen, welche ſie wahrnimmt.
2) Das Maß der Kraftäußerung hängt ab von der
intenſiven Stärke der zur Thätigkeit aufgeforderten Kraft
und dem Nachdrucke, mit welchem der Gegenſtand, der ihr
geboten wird, auf ſie wirkt.
3) Bei dem Zuſammenwirken verſchiedener Kräfte wird
ihr Wechſelverhältniß beſtimmt durch den Grundſatz von
dem Parallelogram der Kräfte.
4) Nach Verſchiedenheit der geiſtigen Beſchaffenheit
verſchiedener Menſchen werden übrigens dieſelben Gegen—
ſtände verſchieden auf ſie wirken. Dieſelbe Thatſache,
welche den furchtſamen Menſchen zur Flucht, wird den
muthigen zum Widerſtande auffordern.
5) Jede normale geiſtige Thätigkeit iſt mit angeneh—
men, jede abnorme mit unangenehmen Gefühlen verbunden.
Abnorme Unthätigkeit hat Unbehaglichkeit zur Folge.
6) Eine dem Kräfte-Maße eines Menſchen entſpre—
chende Uebung wirkt ſtärkend, eine demſelben nicht ent—
ſprechende wirkt ſchwächend.
7) Nur inſofern die verſchiedenen Kräfte in harmo—
niſcher Verbindung wirken, reiben ſie ſich nicht nutzlos auf.
Die harmoniſche Zuſammenwirkung derſelben ſetzt die Herr—
ſchaft der moraliſchen Kräfte, den Gehorſam der niederen
Gefühle und der thieriſchen Triebe und den berichtigenden
Einfluß der intellectuellen Kräfte voraus.
J.
Die Zustände der Einzelnen.
1. In ſynchroniſtiſcher Ordnung.
9 47.
Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände. Allgemeine
Vorbemerkungen. Freude, Unbehaglichkeit, Schmerz,
Kummer, Luſt und Unluſt. Lebensliebe, Leiden—
ſchaft. Geduld und Ungeduld ).
Die Seelenlehre, welche ſich entweder mit dem Organe der
Seele gar nicht beſchäftigt, nur ein einziges, ungetheilt
wirkendes, oder zwei, drei, vier, wenn auch getheilt wir—
kende annimmt, ſieht ſich bei der Erklärung der meiſten
Erſcheinungen des Lebens in unauflösliche Schwierigkeiten
verwickelt. Denn eine genauere Beobachtung der Natur
zeigt, daß die ganze Organiſation des Menſchen wie des
Thieres ſich auf Specialität gründet. Jeder der mannig—
faltigen Theile des thieriſchen Körpers hat nur eine be—
ſtimmte Verrichtung, wie dieſes weiter oben ($. 2) ſchon
ausgeführt worden iſt. Mit dem Auge können wir nur
ſehen, mit dem Ohre nur hören, mit dem Empfindungs—
nerv kann nur die Empfindung, mit dem Bewegungsnerv
1) S. meine Schrift: Die Phrenologie in und außerhalb Deutſch—
land §. 5.
Analyfe verfchied. Seelenzuſtände (allgem. Vorbemerkungen). 251
nur die Bewegung vermittelt werden. In gleicher Weife,
lehrt die Phrenologie, kann jedes der verſchiedenen Organe,
aus deren Vereinigung das Gehirn beſteht, nur eine be—
ſtimmte Verrichtung haben: das Organ des Bekämpfungs—
triebs, die mit dieſem Triebe verbundenen geiſtigen Anre—
gungen ins Leben überzuführen, die Organe des Denkver—
mögens Gedanken zu entwickeln u. ſ. w. Wie wir mit dem
Ohre nicht riechen, ſo können wir vermittelſt des Organs
des Wohlwollens nicht Gefühle des Haſſes und des Zorns
verwirklichen u. ſ. w.
Nur vermittelſt der Annahme einer Mehrheit von Or—
ganen läßt es ſich erklären, wie es kommt, daß Menſchen
bisweilen ein vortreffliches Gedächtniß für Muſik und ein
durchaus ſchlechtes für abſtracte Begriffe, oder ein vortreff—
liches Gedächtniß für die Einzelnheiten der Gegenſtände und
ein ſehr ſchlechtes für geſchichtliche Ereigniſſe haben. Es
giebt Menſchen, welche ſich mit der größten Genauigkeit
und Beſtimmtheit ihrer Gefühle des Wohlwollens bewußt
werden, während ſie nicht im Stande ſind, ihre Begriffe
von Raum und Zeit zu klarer Anſchauung zu bringen;
Menſchen, welche die größte Energie entwickeln im verhäng—
nißvollen Kampfe der Feldſchlacht und gar keine einem
ſchwachen Weibe gegenüber. Wären Gedächtniß, Selbſt—
bewußtſein, Energie Grundvermögen des menſchlichen
Geiſtes, ſo müßten ſie ſich in jeder Beziehung offenbaren,
und nicht blos in dieſer oder jener: in Betreff der Muſik,
aber nicht in Beziehung auf Begriffe, hinſichtlich der Ein—
zelnheiten der Gegenſtände, aber nicht in Betreff geſchicht—
licher Ereigniſſe u. ſ. w.
Die Phrenologie dagegen, welche annimmt, daß die
Seele ein beſtimmtes Organ für den Tonſinn, für das
Schlußvermögen, für die Einzelnheiten der Gegenſtände
(Gegenſtandsſinn) und für Ereigniſſe (Thatſachenſinn), für
das Wohlwollen, für Raum und Zeit, für den Kampf und
für Geſchlechtsliebe hat, erklärt dieſe Erſcheinungen ganz
natürlich dadurch, daß ſie ſagt: der Menſch mit dem guten
252 Analyfe verfchied. Seelenzuſtände (allgem. Vorbemerkungen).
Gedächtniß für die Muſik und dem ſchlechten für Begriffe, hat
den Tonſinn gut, das Schlußvermögen ſchlecht entwickelt;
der Menſch mit dem klaren Selbſtbewußtſein ſeiner Gefühle
des Wohlwollens und unklaren Selbſtbewußtſein für die
Verhältniſſe von Raum und Zeit, beſitzt das Wohlwollen
ſtark, den Sinn für Raum und Zeit ſchwach entwickelt;
endlich der Menſch mit der hohen Energie in der Schlacht
und der geringen Energie im Kampfe mit ſeiner Frau be—
ſitzt den Zerſtörungs- und Bekämpfungstrieb in ſtarker
Entwickelung, wird jedoch durch die ſtärkere Entwickelung
der Geſchlechtsliebe ſeiner Frau von dieſer im Zaume ge—
halten. Selbſtbewußtſein, Gedächtniß, Thatkraft ſind die
drei Gradationen, welche jedes Organ in größerer oder ge—
ringerer Entwickelung in ſich ſchließt. Wer Muſik compo—
nirt, hat auch Gedächtniß für Muſik und wird ſich ſeiner
muſikaliſchen Gefühle bewußt, obgleich man Gedächtniß für
Muſik haben kann, ohne darum fähig zu ſein, Muſik zu
componiren, oder ſich der Muſik, die man hört, klar be—
wußt werden, ohne ſich beſtimmt an ſie wieder zu erinnern.
Das Selbſtbewußtſein verhält ſich zur Faſſungsgabe, wie
der Zuſtand zu der ihn bedingenden Urſache. In demſelben
Maße, als die Faſſungsgabe kräftig, wird auch das Selbſt—
bewußtſein es ſein. Die Faſſungsgabe bringt die Bewegungen
des innern und äußern Lebens zum Selbſtbewußtſein. In
gleichem Verhältniß ſtehen Erinnerung und Gedächtniß. Die
Einbildungskraft iſt die Thatkraft in ihrer Richtung auf
das nicht Wirkliche. Sie ſetzt daher immer eine kräftige
Entwickelung der Organe voraus, mit welchen ſie zu wir—
ken hat, und Mangel an Aufforderung zum eigentlichen
praktiſchen Leben. Sie wird beſonders begünſtigt durch eine
ſtarke Entwickelung der Idealität. Denn in demſelben Maße,
als dieſe ſtark entwickelt iſt, befriedigen die Erſcheinungen
des wirklichen Lebens wenig und führen daher in das Ge—
biet des unwirklichen, der Phantaſie.
Wie kommt es, daß von zwei Menſchen, welche beide
geſund und lebenskräftig ſind, der eine Freude an Bau—
Analyſe verfchied. Seelenzuftände (allgem. Vorbemerkungen). 253
werken, an Allem, was ſchön und erhaben iſt; der andere,
bei vollkommener Gleichgültigkeit gegen Bauwerke, ſeine
Freude an den ſchwierigſten aſtronomiſchen Berechnungen
hat; daß der eine bei dem leiſeſten Tadel Schmerz empfin—
det, während er Verluſte an ſeinem Vermögen gleichgültig
hinnimmt, während ein Anderer über Tadel ſich leicht hin—
wegſetzt, jeden Verluſt an ſeinem Vermögen dagegen ſehr
ſchmerzlich empfindet?
Wer die Empfänglichkeit für Freude und Schmerz für
ein allgemeines Organ hält, kann jene Verſchiedenheiten gar
nicht erklären. Wer dagegen annimmt, daß der Menſch,
der ſeine Freude an den Bauwerken hat, den Bauſinn, der
andere, der an Berechnungen ſeine Luſt hat, den Zahlen—
ſinn in hohem Grade beſitzt; daß der Menſch, der den Ta—
del nicht ertragen kann, das Organ der Beifallsliebe, und
jener, welcher Vermögensverluſte nicht verſchmerzen kann, das
Organ des Erwerbtriebs ſtark entwickelt hat — der führt
alle dieſe Erſcheinungen auf ihre natürliche Urſache zurück.
Freude gewährt uns die naturgemäße Thätigkeit jedes
Organs, das wir beſitzen, ſeine Unthätigkeit giebt uns Un—
behaglichkeit, und Alles, was ſeiner Natur widerſtrebt,
giebt uns Schmerz. Die Freude, die Unbehaglichkeit und
der Schmerz ſind in Beziehung auf jedes Organ um ſo
kleiner oder um ſo größer, je kleiner oder je größer die
Kraft deſſelben iſt, welche bei ſonſtiger Gleichheit der Ver—
hältniſſe ſich durch ſeine Größe kund thut. Die drei Grund—
begriffe: Freude, Unbehaglichkeit, Schmerz laſſen eine Reihe
von Modificationen zu, je nachdem ſie ſich auf verſchiedene
Organe beziehen, und je nachdem ſie einen höhern oder nie—
dern Grad von intenſiver Stärke beſitzen. Das Vergnügen
bezieht ſich mehr auf die niedern Empfindungen und ſetzt
einen nur mäßigen Grad intenſiver Stärke voraus; der
Kummer bezieht ſich mehr auf die höheren Organe des Em:
pfindungsvermögens allein oder in Verbindung mit den
Organen der Geſchlechtsliebe, der Kinderliebe und der An—
hänglichkeit. Die Luſt und Unluſt bezieht ſich ausſchließlich
254 Analyſe verſchied. Seelenzuſtände (allgem. Vorbemerkungen).
auf die thieriſchen Triebe und ſetzt einen höheren Grad von
Aufregung voraus u. ſ. w.
Die Lebensliebe iſt nothwendige Folge einer normalen
Thätigkeit ſämmtlicher Organe des Menſchen, Lebensüber—
druß die Folge einer durchaus geſtörten Thätigkeit derſel—
ben. Jede normale Thätigkeit einer unſerer Kräfte giebt
uns Freude, jede Störung deſſelben Schmerz. In demſel—
ben Maße, als die Freuden, welche die normalen Verrich—
tungen unſerer Kräfte uns gewähren, die etwaigen Stö—
rungen, welche ſtattfinden mögen, überwiegen, werden wir
uns unſers Lebens freuen, in demſelben Maße, als die Lei—
den, welche uns die Störungen derſelben bereiten, über—
wiegen, wird die Laſt unſers Lebens ſchwer auf uns ruhen.
Lebensliebe und vorwaltende Lebensfreudigkeit, Lebensüber—
druß und vorwaltender Schmerz ſind ſtete Gefährten.
Einige Phrenologen glaubten ein Organ der Lebens—
liebe annehmen zu müſſen. Allein mit gleichem Rechte hät—
ten ſie auch ein Organ des Lebensüberdruſſes annehmen
können. Denn dieſe beiden Geiſteszuſtände entſprechen ſich
wie Hoffnung und Beſorgniß, Freude und Schmerz. Zu—
dem finden ſich durchaus keine Thatſachen angeführt, welche
die Annahme eines ſolchen Organs irgend zu begründen
vermöchten.
Es iſt allerdings oft unbegreiflich gefunden worden,
daß alte, ſchwache, kranke Menſchen trotz ihrem Alter, ih—
rer Schwäche, ihrer Krankheit und ungeachtet der bisweilen
noch hinzukommenden Armuth doch mit außerordentlicher
Feſtigkeit an dem Leben hängen. Allein dieſe Erſcheinung
gehört doch immer zu den ſeltenen und läßt ſich wohl er—
klären, indem ungeachtet aller Leiden, welche hohes Alter,
Krankheit, Schwäche und Armuth bereiten, die bei weitem
größere Anzahl der geiſtigen Kräfte noch eine normale Thä—
tigkeit entwickeln kann. Hat ein ſolcher Menſch zudem
noch ſtark entwickelte Organe der Anhänglichkeit, der Hoff—
nung und der Feſtigkeit, ſo erklärt ſich ſeine Lebensliebe
Analyſe verfchied. Seelenzuſtände (allgem. Vorbemerkungen). 255
ſehr natürlich, ohne daß wir ein beſonderes Organ zu die—
ſem Behufe anzunehmen brauchten.
Die Lebensliebe iſt die Folge der mormalen Thätigkeit
unſerer verſchiedenen Geiſteskräfte.
Leidenſchaft iſt nichts anderes als der Zuſtand höch—
ſter Aufregung irgend eines Geiſtesvermögens, und insbe—
ſondere der thieriſchen Triebe und niedern Empfindungen.
Es giebt daher eben ſo viele Leidenſchaften, als es verſchie—
dene Grundvermögen der Seele giebt mit allen ihren ver—
ſchiedenartigen Combinationen. Wo die Organe gleichmäßig
an Größe ſind, wird leidenſchaftliche Aufregung ſelten, wo
ſie verſchiedenartig an Größe ſind, häufig, und zwar in
Betreff derjenigen Geiſtesvermögen und insbeſondere der—
jenigen thieriſchen Triebe und niederen Empfindungen ſtatt—
finden, deren Organe vorherrſchend groß ſind. Auch hier
ſpricht die Natur ſelbſt für die Wahrheit der phrenologiſchen
Anſichten. Es giebt keine Menſchen, welche in jeder Be—
ziehung für leidenſchaftliche Aufregung empfänglich ſind,
weil es unmöglich iſt, daß alle Organe zu gleicher Zeit vor—
herrſchen. Derſelbe Menſch, welcher in der Geſchlechtsliebe
die höchſte Leidenſchaftlichkeit entwickelt, iſt oft in Betreff
der Gefühle des Wohlwollens ſehr kühl, und der Menſch,
deſſen Zerſtörungstrieb bis zur Wuth entflammt werden
kann, wird bisweilen an den ſchönſten Werken der Kunſt
unberührt vorübergehen. Allerdings giebt es Menſchen,
welche eine allgemeine, erhöhte Reizbarkeit beſitzen, nämlich
alle diejenigen, welche nervöſen Temperaments ſind, allein
zu Ausbrüchen der Leidenſchaft werden auch dieſe nur dann
ſich hinreißen laſſen, wenn einzelne ihrer Organe vorherr—
ſchen, und nur in der Richtung, welche ihnen dieſe vor—
zeichnen.
Ueber den Gegenſatz zwiſchen Affect und Leidenſchaft
iſt unter den Pſychologen viel geſtritten worden. Mir ſcheint
er ſehr einfach zu ſein. Der Affect beſteht in einer Auf—
wallung der Gefühle (im weitern Sinne des Wortes).
Die Leidenſchaft iſt eine durch die Beſchaffenheit der
256 Analyſe verfchied. Seelenzuſtände (allgem. Vorbemerkungen).
Gefühlswelt bedingte Richtung eines oder mehrerer Ge—
fühle (im weitern Sinne des Wortes) nach einem beſtimm—
ten Ziele. Daher iſt die eigentliche Quelle der Affecte im
Temperamente, die Quelle der Leidenſchaften in der Be—
ſchaffenheit der Gefühle und insbeſondere der niedrigen Ge—
fühle und der thieriſchen Triebe zu ſuchen. Das nervöſe
Temperament iſt dasjenige, welches am leichteſten, das
phlegmatiſche dasjenige, welches am ſchwerſten in Affect zu
verſetzen iſt. Den Leidenſchaften dagegen ſind diejenigen
Menſchen am meiſten unterworfen, bei welchen die Gefühle,
im Gegenſatz zu der Intelligenz am ſtärkſten entwickelt ſind.
Der phlegmatiſche Menſch mit vorwaltender Gefühlswelt
mag ſtarke Leidenſchaften hegen, ohne darum in Affect zu
gerathen, während der nervöſe Menſch, trotz vorwaltender
Intelligenz, dennoch leicht in Affect gerathen wird.
So ſehen wir Menſchen, welche mit der größten Ge—
duld Angriffe auf ihre Ehre ertragen, aber ſchlechte Muſik
bringt ſie in einen Zuſtand höchſter Ungeduld und umge—
kehrt. Geduld oder Ungeduld ſind keine Grundvermögen
des menſchlichen Geiſtes. Geduldig werden hauptſächlich
diejenigen Menſchen ſein, welche bei vorwaltender Entwicke—
lung der Organe des Wohlwollens, der Ehrerbietung, der
Gewiſſenhaftigkeit lymphatiſchen Temperamentes ſind, un—
geduldig dagegen diejenigen, welche bei mangelhafter Ent—
wickelung dieſer Organe das nervöſe Temperament beſitzen.
Die Ungeduld wie die Leidenſchaft wird ſich jedoch immer
in derjenigen Richtung zeigen, welche die vorherrſchenden,
die Geduld in derjenigen, welche die ſchwächeren Organe
anweiſen, z. B. ein ungeduldiger Menſch mit vorherrſchen—
dem Zeitſinn wird beſonders ungeduldig werden, wenn man
ihn über die feſtgeſetzte Zeit warten läßt; der ungeduldige
Menſch mit vorherrſchender Beifallsliebe, wenn man ſeine
Eitelkeit verletzt; mit vorherrſchendem Selbſtgefühl, wenn
man ſeiner Würde zu nahe tritt. Der Geduldige mit ſchwach
entwickeltem Zeitſinn wird dagegen gerade am geduldigſten
ſein in Betreff der Verhältniſſe der Zeit, der Geduldige
Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung)z. 257
mit beſonders ſchwacher Beifallsliebe oder Selbſtgefühl wird
Angriffe auf ſeinen guten Namen und ſein Selbſtgefühl
beſonders geduldig ertragen.
§. 48.
Fortſetzung: geſunder Menſchenverſtand, richtiger
Takt, guter Geſchmack. Willenskraft, Willens—
freiheit. Aufmerkſamkeit. Ideenfolge. Gewohn—
heit. Sympathie und Antipathie. |
Geſunder Menſchenverſtand und richtiger Takt
ſind die Folgen einer harmoniſchen Vereinigung der ver—
ſchiedenen Kräfte des Geiſtes; ſie unterſcheiden ſich nur da—
durch, daß man bei dem geſunden Menſchenverſtande zu—
nächſt die Intelligenz bei dem richtigen Takte zunächſt das
Empfindungsvermögen im Auge hat. Es ſind die ſchätzbar—
ſten Eigenſchaften, welche der menſchliche Geiſt beſitzen kann.
Sie ſind eben ſo ſelten als die harmoniſche Entwickelung
der Organe deſſelben Hauptes. Wenn irgend ein Organ
in dem Gehirne mangelhaft iſt, ſo iſt es auch die entſpre—
chende Kraft, und fo oft daher dieſe Kraft zur Thätigkeit
aufgefordert wird, muß das Urtheil oder das Gefühl in
dieſer Rückſicht mangelhaft ſein. Wenn dagegen ein Organ
unverhältnißmäßig groß iſt, ſo wird es ſich bei jedem Akte
geiſtiger Thätigkeit unverhältnißmäßig ſtark geltend machen,
und dadurch nicht minder das richtige Ebenmaß, worauf
das geſunde Urtheil und der richtige Takt beruhen, ſtören.
Der gute Geſchmack unterſcheidet ſich von dem richtigen Takt
wie die Kunſt von dem Leben. Wie der letztere das Reſultat
einer harmoniſchen Entwickelung der Geiſteskräfte mit befon-
derer Richtung auf die Verhältniſſe des täglichen Lebens unter
vorwaltender Thätigkeit der Organe des Empfindungsver—
mögens, ſo iſt der gute Geſchmack das Reſultat derſelben har—
moniſchen Geiſtesentwickelung mit beſonderer Richtung auf die
17
258 Analyſe verfchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung).
Kunſt und deren Anſprüche. Eine gute Entwickelung des
Schönheitsgefühls iſt übrigens eine unerläßliche Voraus—
ſetzung des guten Geſchmacks.
Wie geſunder Menſchenverſtand, richtiger Takt und
guter Geſchmack nur aus dem Zuſammenwirken verſchiede—
ner geiſtiger Kräfte ſich entwickeln, fo auch die Willens:
kraft. Dieſe erfordert jedoch nicht, wie jene, das Zuſam—
menwirken aller Kräfte, ſondern nur das Zuſammenwirken
der Kräfte der Intelligenz. Während die Triebe und die
Gefühle nur die Anregung zu Entſchlüſſen und Thaten ge—
ben, giebt die intellectuelle Kraft des Menſchen die Ent—
ſcheidung. Bei dieſer wirken aber in der Regel eine große
Menge von Kräften mit, z. B. wenn der aufgeregte Be—
kämpfungstrieb eines Menſchen ihn zum Kampfe mit dem—
jenigen aufruft, der ihn aufgeſtachelt hat, ſo wird die Ver—
gleichungsgabe die eigenen Kräfte mit denen des Gegners
meſſen. Das Schlußvermögen wird daraus Schlüſſe auf
zu erwartenden Sieg oder auf eine zu erwartende Nieder—
lage ableiten, und inſofern nur der Bekämpfungstrieb, nicht
etwa das Selbſtgefühl, die Beifallsliebe, Sorglichkeit, Hoff—
nung oder andere Gefühle mit in die Wagſchale fallen, ſo wird
entweder der Bekämpfungstrieb durch das Denkvermögen zur
Ruhe verwieſen oder zum Kampfe geleitet, je nachdem es dem—
ſelben mit überlegener Macht entgegentritt, oder ſich ihm bei—
geſellt. Um übrigens die eigenen Kräfte mit denjenigen des
Gegners vergleichen zu können, muß der Geſtaltſinn die
Geſtalt, der Farbenſinn deſſen Geſichtsfarbe, welche Schwäche
und Stärke andeuten kann, der Raumſinn die Entfernung
von dem Gegner, der Ortſinn die günſtigen oder un—
günſtigen Terrainverhältniſſe, der Gewichtſinn die Schwere
der gegenſeitigen Waffen, der Gegenſtandſinn deren Be—
ſchaffenheit, der Thatſachenſinn die Bewegungen des Geg—
ners, der Zahlenſinn die Anzahl der Feinde an die Hand
geben. Alle dieſe Elemente werden auf das Reſultat der
Vergleichung und daher auf die Weiſungen des Denkver—
mögens mächtig einwirken. Die Kräfte der Intelligenz bil—
Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung). 259
den alſo alle zuſammen die eigentlichen Elemente der Wil—
lenskraft, während die Empfindungen und die Triebe ſie
nur anregen, nur mittelbar auf ſie einwirken. Mit
dieſer pſychologiſchen Analyſe der Willenskraft trifft die
Analyſe der Organe des Geiſtes in wunderbarer Weiſe zu—
ſammen.
Die Organe der intellectuellen Kraft haben nämlich
ihren Sitz in dem vordern Gehirnlappen und aus der vor—
dern Säule des Rückenmarkes entſpringen die Nerven der
willkührlichen Bewegung, oder diejenigen Nerven, welche
die freiwilligen Muskeln in Bewegung ſetzen, durch welche
alſo jede nach außen wirkende Handlung vollzogen wird.
Nervöſe Fibern erſtrecken ſich direct von dem vordern Ge—
hirnlappen zu dem oberſten Theile der vordern Säule des
Rückenmarks. In der That iſt der vordere Lappen das
wahre Ende des größten Theils der nervöſen Fibern, welche
willkührliche Bewegung hervorbringen. Die Willenskraft
iſt alſo diejenige Kraft, welche die freiwillige Bewegung
beherrſcht, oder die Intelligenz in ihrer Richtung auf die
That. Die intellectuellen Vermögen (Erkenntniß- und Denk—
vermögen zuſammengefaßt) nehmen ſowohl die außerhalb
des Geiſtes vorhandenen Gegenſtände wahr, als auch die
in denſelben entſtehenden Gefühle, Vorſtellungen und Bil—
der. Wenn daher in Folge aufgeregten Zerſtörungstriebs
Jemand ſich rächen, oder wegen aufgeregten Erwerbtriebs
ſtehlen will, ſo entſteht in dem Empfindungsvermögen das
Gefühl, daß dieſes unrecht ſei. Die intellectuelle Kraft
nimmt die Neigungen der Triebe wahr, bemerkt die Mis—
billigung der moraliſchen Gefühle und, indem ſie ſich für
die eine oder die andere Seite entſcheidet, giebt ſie den
Ausſchlag und die That geſchieht oder unterbleibt, je nach—
dem ſie ſich dafür oder dagegen erklärt. Sie regiert die
Nerven der freiwilligen Bewegung und hebt daher die Hand
entweder zum Morde, zum Diebſtahl auf oder läßt ſie fal—
len, indem ſie die böſen innern Regungen unterdrückt. Je
größer die intellectuelle Kraft eines Menſchen iſt, deſto rich—
17%
260 Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung).
tiger wird ſie derartige Regungen würdigen, und deſto grö—
ßeres Gewicht wird ſie in die Wagſchale der höheren Ge—
fühle legen. Dieſer Anſicht gemäß werden Männer mit
den größeren intellectuellen Gaben, bei Gleichheit der übri—
gen Verhältniſſe, den ſtärkern Willen beſitzen. Das heißt:
wenn bei zwei Menſchen die moraliſchen Gefühle und die
Triebe von gleicher Kraft ſind, bei dem einen von ihnen
aber die intellectuelle Kraft größer iſt als bei dem andern,
ſo wird auch ſeine Willenskraft in gleichem Verhältniß grö—
ßer ſein. Napoleon z. B. hatte eine ſehr große intellectuelle
Kraft, wie auch ſeine mächtige Stirn andeutete, und eine
entſprechende große Willenskraft. Allein die übrigen Ver—
hältniſſe ſind bei andern Menſchen ſelten gleich. Neben
einer ſtark entwickelten intellectuellen Kraft finden ſich bei
dem einen Menſchen ſtarke, bei dem andern ſchwache mora—
liſche Empfindungen. Auch von den Organen der Triebe
und der moraliſchen Gefühle erſtrecken ſich übrigens nervöſe
Fibern bis zu der vorderſten Säule des Rückenmarkes hin—
ab, und ſo ſind auch dieſe Organe im Stande, auf die
Muskeln der freiwilligen Bewegung einzuwirken. Die Or—
gane der Triebe und der moraliſchen Gefühle beſtehen da—
gegen zum größten Theile aus Fibern, die von jenem Theile
des Rückenmarkes ausgehen, welches die Gefühle vermittelt,
d. h. von der hinteren Rückenmarksſäule.
Nahe verwandt mit der Willenskraft, aber dennoch
verſchieden iſt die Willensfreiheit. Der Wille des Men—
ſchen iſt frei, wenn er nicht in den Banden der thieriſchen
Triebe und der niederen Empfindungen liegt, alſo nur un—
ter dem Einfluſſe der höheren moraliſchen Empfindungen
und ſeines Denkvermögens ſteht. In demſelben Maße, als
der Menſch ſeine höheren moraliſchen Empfindungen und
ſein Denkvermögen zur Herrſchaft und die thieriſchen Triebe
zum Gehorſam herangebildet hat, in demſelben Maße wird
ſein Wille frei, d. h. unabhängig von niedrigen, ihn ſchän—
denden Einflüſſen ſein. Allein in demſelben Maße, als um—
gekehrt die thieriſchen Triebe mächtig und die höheren mo—
Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung). 261
raliſchen Empfindungen und das Denkvermögen unmächtig
geworden ſind, in demſelben Maße iſt ſein Wille unfrei,
d. h. ſteht er unter dem Einfluſſe niedriger, ihn ſchänden—
der und verderblicher Mächte. Die Willenskraft unterſchei—
det ſich von der Willensfreiheit weſentlich dadurch, daß
das Hauptelement der letzteren in den moraliſchen Empfin—
dungen beſteht, welchen das Denkvermögen nur berichtigend
an die Seite tritt, während die Willenskraft unabhängig
von den moraliſchen Empfindungen iſt und nur durch die
intellectuellen Kräfte gebildet wird. Die Willenskraft kann
daher auch zu ſchlechten Zwecken, zur Förderung der thieri—
ſchen Begierden dienen, die Willensfreiheit wird dagegen
durch eine ſolche Thätigkeit der Willenskraft geradezu unter—
graben. Die Freiheit ſetzt Erhabenheit über die Hemmniſſe
des geiſtigen Lebens voraus, während die Kraft in allen
Richtungen wirkt nach Verſchiedenheit ihrer Natur. Wil—
lensfreiheit iſt alſo die Erhabenheit des Willens über die
Hemmniſſe des geiſtigen Lebens, und beruht auf der Unfä—
higkeit, dieſen zu erliegen; die Willenskraft nimmt dieſe
erhabene Stellung nicht ein und umfaßt daher die Fähig—
keit, die Hemmniſſe des geiſtigen Lebens zu beſiegen oder
ihnen zu dienen.
Die Aufmerkſamkeit iſt gleich der Bewegung ent—
weder freiwillig oder unfreiwillig. Im erſten Falle iſt ſie
das Reſultat der Willenskraft, im letztern kann ſie das
Reſultat der Wirkſamkeit der ſämmtlichen Organe ſein.
Unwillkührlich, oft gegen unſern Willen ſind wir nicht ſel—
ten aufmerkſam auf Dinge, welche wir lieber unbeachtet
ließen. Ein reges Schönheitsgefühl wird z. B. beim An—
blick und bei der Vorausſicht der Wiederkehr unſchöner Er—
ſcheinungen, oft auch durch einen kräftigen Willen nicht ab—
gehalten werden können, dieſelben zu beachten. Ein reges
Wohlwollen wird oft nicht umhin können, auf die Scenen
des Unglücks zu merken, die es umgeben. Es wird ihm
oft vergebens die ganze Macht des Willens entgegengeſetzt.
Und wie ſich dieſes ſo verhält bei den höheren Empfindun—
262 Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung).
gen, ſo noch weit mehr und in erhöhtem Maße bei den
thieriſchen Trieben. Die freiwillige Aufmerkſamkeit wird
durch den Einheitstrieb an intenſiver Kraft, durch die Fe—
ſtigkeit an Ausdauer gewinnen.
Die Ideenfolge iſt das Reſultat der Thätigkeit der
verſchiedenen Organe. In demſelben Maße, als ſich die Ge—
genſtände der Organe innerlich oder äußerlich verändern, in
demſelben Maße, als durch dieſelben abwechslungsweiſe verſchie—
dene Organe, oder daſſelbe Organ in verſchiedenartiger Weiſe
angeregt werden, in demſelben Maße, als die Zahl und die
Beſchaffenheit der durch dieſe Gegenſtände angeregten Or—
gane ſich verſchieden geſtaltet, muß ſich mit Rückſicht auf
Gewohnheit und Temperament eine verſchiedene Ideenfolge
geſtalten. So wird jeder Gedanke, jedes Gefühl, das in
unſerm Innern entſteht, oder das uns von außen mitge—
theilt wird, gleich wieder der Erzeuger anderer Gefühle und
Gedanken und ſo weiter ins Unendliche.
Die Gewohnheit iſt in dieſer, ſowie in mancher an—
dern Rückſicht von hoher Bedeutung; ſie iſt das Reſultat
der Uebung, und da, wie wir oben ($. 4) geſehen haben,
dieſe nicht nur die einzelnen Organe ſtärkt, ſondern auch
verſchiedene Organe zu vereintem Wirken und alle zu grö—
ßerer Leichtigkeit des Wirkens befähigt, ſo iſt die große
Macht der Gewohnheit ſehr natürlich erklärt. Wie übri—
gens die Uebung das Maß der Kräfte überſteigen kann und
dann dieſe ſchwächt, ſtatt ſie zu ſtärken, ſo kann auch die
auf eine ſolche Uebung gegründete Gewohnheit denſelben
geiſtig tödtenden Einfluß üben.
Die Sympathie iſt das Reſultat der Wirkſamkeit
des Naturgeſetzes, demzufolge jedes Organ in ſeiner Thä—
tigkeit das entſprechende Organ anderer Perſonen, welche
deſſen Thätigkeit wahrnehmen, zu ähnlicher Thätigkeit an—
regt. In demſelben Maße, als daher ein Organ kräftig
wirkt, als es von einem andern klar und deutlich in ſeiner
Wirkſamkeit wahrgenommen wird, endlich als das wahr—
nehmende Organ ſelbſt kräftig iſt, in demſelben Maße wird
Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung). 263
daher die Sympathie eine kräftige ſein. Wenn dagegen ein
Organ an und für fich eine ſchwache Wirkſamkeit entwickelt,
nur aus der Ferne und undeutlich in ſeiner Wirkſamkeit
wahrgenommen wird, überdies das wahrnehmende Organ
ſelbſt ſchwach iſt, ſo wird die Sympathie ſelbſt auch un—
kräftig ſein. So aufgefaßt bietet uns die Sympathie eine
befriedigende Erklärung für eine Reihe der bedeutungsvoll—
ſten Erſcheinungen des Lebens. Sie erklärt uns, wie es
kommt, daß eine mündlich geſprochene Rede, wenn ſie mit
Ausdruck vorgetragen wird, ſo viel wirkſamer iſt als eine
gedruckte Rede, auch wenn dieſe vielleicht viel beſſer gefaßt
ſein ſollte. Sie erklärt uns, wie es kommt, daß eine große
Verſammlung gleichgeſinnter Menſchen nicht nur auf den
Redner, der ſich an ſie wendet, ſondern auch auf die ſtum—
men Zuhörer, aus denen ſie beſteht, oft einen ſo begeiſtern—
den Eindruck macht. Der Redner empfindet die Wirkſam—
keit derſelben Geiftesvermögen in der Verſammlung, welche
ihn beſeelen, und wird dadurch ſelbſt mehr angeregt, ein
Zuhörer fühlt dem andern, alle fühlen dem Redner daſſelbe
an und regen ſo an, wie ſie gegenſeitig von einander an—
geregt werden. Die gegenſeitige Mittheilung der Gefühle
der Liebe, des Haſſes, der Anbetung und des Hohns, der
Hoffnung und der Furcht, welche oft ſo plötzlich und ſo
tief ergreifend ſich geltend macht, wird auf dieſe Weiſe ſehr
natürlich erklärt. Eine reiche Quelle der Belehrung läßt
ſich überdies aus dieſer Erklärung der Sympathie für alle
Verhältniſſe des Lebens ableiten: für den geſelligen Verkehr
wie für den Geſchäftsbetrieb, für die Beziehungen der Völ—
ker wie der Einzelnen, für das Wechſelverhältniß zwiſchen
Volk und Regierung, wie für dasjenige zwiſchen Eltern und
Kinder, Lehrer und Schüler u. ſ. w. Selten iſt der Ver—
heimlichungstrieb ſtark genug, auf die Dauer einen Schleier
über die eigentlich wirkſamen Kräfte, über die eigent—
lichen Motive zu decken. Früher oder ſpäter wird die Sym—
pathie, auch wenn ſie von dem Denkvermögen nicht kräftig
ſollte unterſtützt werden, die eigentlichen Motive durch die
264 Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung).
verdeckenden Hüllen durchfühlen. Die Menſchen, deren
niedere Organe des Erwerbtriebs, des Zerſtörungstriebs,
der Beifallsliebe und des Selbſtgefühls vorwaltend thätig
find, während fie ſich den Anſchein geben, als ſeien Wohl-
wollen, Gewiſſenhaftigkeit und Frömmigkeit ihre Beweg—
gründe, werden die entſprechenden Organe der Menſchen
anregen, welche ſie zu täuſchen bemüht ſind, und ſo den
Lohn ihres Frevels um ſo ſicherer erhalten, je länger und
je tief eingreifender ſie gewirkt haben. Denn während ſie
auf der einen Seite alle Menſchen, welche eine ähnliche gei—
ſtige Beſchaffenheit beſitzen, durch Sympathie mehr und
mehr geiſtig corrumpiren, werden ſie auf alle diejenigen,
welche eine entgegengeſetzte geiſtige Beſchaffenheit haben,
nicht einen ſympathiſchen, ſondern einen antipathiſchen Ein—
druck hervorrufen. Die Sympathie ſetzt immer eine mehr
oder weniger harmoniſche Bildung der ſich berührenden Per:
ſonen voraus, die Antipathie eine mehr oder weniger dis—
harmoniſche Bildung. Dieſelben Gefühle, welche bei har—
moniſcher Bildung der verſchiedenen Perſonen Sympathie
begründen, rufen bei disharmoniſcher Antipathie hervor,
gerade ſo wie die Uebung, welche dem Kräfte-Maß des
Menſchen entſpricht, ihn ſtärkt, während dieſelbe Uebung,
falls fie deſſen Kräfte-Maß überſchreitet, ihn erſchlafft.
Wenn ein ſehr ſtark wirkendes Organ des Geſchlechtstriebs,
des Zerſtörungstriebs, des Selbſtgefühls in Berührung
tritt mit einem ſehr ſchwach wirkenden, ſo wird dieſes da—
durch übermäßig in Anſpruch genommen und entweder er—
ſchlafft oder zum thätigen Widerſtand aufgefordert. Er—
ſchlaffung wird eintreten, wenn neben dem unmittelbar an-
geſprochenen Organe keine anderen beſtehen, welche Wider—
ſtand zu leiſten vermögen, thätiger Widerſtand, wenn ſich
ſolche finden. So theilt ſich die Antipathie in die paſſive
und in die active. Letztere wird namentlich im vorigen Falle
dann ſich entwickeln, wenn ſich neben den niedern Gefüh—
len, welche angeregt werden, die höhern moraliſchen und intel—
lectuellen Vermögen in kräftiger Entwickelung finden.
Analyſe verſchieder Seelenzuſtände (Schluß). 265
$. 49.
Schluß: Tugend, Laſter, boͤs und gut, Geniali—
tät, Vernunft, Schlaf, Traum, Schamgefuͤhl.
Tugend iſt die ihrer Beſtimmung entſprechende Aus—
übung jedes von dem Schöpfer in uns gelegten Gefühls
(im weitern Sinne des Worts, wonach es ſowohl Em—
pfindungen als Triebe in ſich ſchießt). Laſter iſt jede ihrer
Beſtimmung widerſprechende Ausübung derſelben. Tugend
iſt es daher ebenſowohl, dem Erwerbtrieb, innerhalb der
von der Gewiſſenhaftigkeit und dem Wohlwollen, der Ehr—
erbietung und der Feſtigkeit gezogenen Schranken Folge zu
geben, als dem Wohlwollen oder der Ehrerbietung inner—
halb der ihnen durch die intellectuelle Kraft gezogenen Schran—
ken. Paſſivität iſt niemals Tugend. Keuſchheit iſt daher
ebenſowenig eine Tugend, inſofern man darunter mönchiſche
Enthaltſamkeit verſteht, als gänzliche Unthätigkeit des Er—
werbtriebs, der Kinderliebe und der Anhänglichkeit es iſt.
Im Gegentheile iſt es Tugend, innerhalb der durch die
Kinderliebe, die Anhänglichkeit, das Wohlwollen und die
Ehrerbietung gezogenen Schranken für die Erhaltung des
Menſchengeſchlechts mitzuwirken. Ebenſowenig iſt Gehor—
ſam eine Tugend. Er kann ein Werkzeug zum Böſen wie
zum Guten ſein. Auch er beruht auf Paſſivität, und nur
Activität iſt Tugend. Die Unterordnung der eigenen Em—
pfindungen und des eigenen Willens unter denjenigen eines
Andern iſt vielmehr nur dann gut, wenn der Eine entſchie—
den unſelbſtändig, der Andere entſchieden ſelbſtändig iſt.
Der Unſelbſtändige muß vermöge dieſer ſeiner Eigenſchaft
dem Selbſtändigen gehorchen, wie der Unwiſſende vom Wiſ—
ſenden lernen muß, wenn beide zuſammentreffen. Allein
Unſelbſtändigkeit iſt für den Menſchen immer, wie die Un—
wiſſenheit eine Mangelhaftigkeit, indem ſie Mangel an ei—
gener Kraft, wie dieſe Mangel an Kenntniſſen vorausſetzt.
Sich ſelbſt willkührlich über die Zeit der Kindheit hinaus
in dieſen Zuſtand verſetzen, heißt Verzicht leiſten auf die
266 Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Schluß).
Entwickelung der eigenen Kraft, und ſchließt alſo einen
Widerſpruch mit dem Zwecke des menſchlichen Lebens in
ſich, welcher uns die Entwickelung unſerer Kräfte gebietet.
Wir ſollen das uns anvertraute Pfund nicht vergraben,
ſondern es gebrauchen.
Was Tugend in moraliſcher Beziehung, iſt Genialität
in intellectueller (im weitern Sinne des Wortes, demzufolge
es Erkenntniß-, Denk- und Darſtellungsvermögen umfaßt).
Bös und gut haben eine minder allgemeine und eben
deshalb eine minder inhaltsſchwere Bedeutung als tugend—
haft und laſterhaft. Dieſe beiden letzteren Worte beziehen
fi) auf das Empfindungs vermögen im weitern Sinne, alſo
mit Einſchluß der Sinnlichkeit, die beiden erſtern dagegen
nur auf das Empfindungsvermögen im engern Sinne des
Wortes. Wir werden einen Menſchen, der wohlwollend,
gewiſſenhaft, feſt, ehrerbietig iſt, gut nennen, auch wenn
er z. B. mehr ißt und trinkt, als er ſollte. Allein wir
werden Anſtand nehmen, ihn tugendhaft zu nennen. Auf
der andern Seite werden wir einen Menſchen, der übel—
wollend, unehrerbietig und gewiſſenlos iſt, allein ſeine Triebe
ſtets im Zaume hält, der mäßig iſt im Eſſen und Trinken
und in ſonſtigen Genüſſen der Erde, der nicht ſtreitſüchtig,
erwerbſüchtig und zerſtörungsſüchtig iſt, wohl bös, aber nicht
laſterhaft nennen.
Wenn aber ein Menſch ſowohl ſtark in ſeinen höhern
Empfindungen: ehrerbietig, wohlwollend und gewiſſenhaft,
als mäßig in der Befriedigung aller ſeiner Triebe iſt, ſo
werden wir ihn tugendhaft, und wenn er ſowohl ſchwach
in jenen Empfindungen als unmäßig in der Befriedigung
ſeiner Triebe iſt, ſo werden wir ihn laſterhaft nennen.
Tugend bezieht ſich auf das Empfindungsvermögen
im weitern Sinne des Wortes, Genialität auf die In—
telligenz im weitern Sinne des Wortes, die Vernunft
ſchlingt um alle Beziehungen des Lebens ein Band der
Vereinigung. Vernünftig iſt nur, wer ſeine ſämmtlichen
Empfindungen wie ſeine Intelligenz in harmoniſcher, nor—
Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Schluß). 267
maler Thätigkeit erhält). Die Folge einer ſolchen Thätig—
keit muß immer ſein eine Anſchauung des Lebens von ei—
nem höhern Standpunkte, von dem höchſten, deſſen der
Menſch fähig iſt, Tüchtigkeit in allen Beziehungen des ir—
diſchen Lebens, aber Unterordnung derſelben unter die An—
ſprüche, welche eine höhere Weltordnung an uns richtet.
Auch der Zuſtand des Schlafes und die damit in
Verbindung ſtehenden Traumerſcheinungen laſſen ſich
in keiner Weiſe genügend erklären aus einem ungetheilten
Organe der Seele; wohl aber aus verſchiedenen, mit be—
ſonderen Verrichtungen begabten Organen, die ſich zu ei—
nem Ganzen vereinigen. Der Uebergang aus dem wachen—
den Zuſtand, und umgekehrt aus dem ſchlafenden in den
wachenden geſchieht in geſunden und normalen Verhältniſ—
ſen allmählig, d. h. eines der verſchiedenen Organe fällt
nach dem andern in den Zuſtand der Ruhe, wie eines nach
dem andern, wenn es durch Ruhe geſtärkt und erfriſcht iſt,
in denjenigen der Thätigkeit wieder eintritt. Je mehr Or—
gane ruhen, deſto tiefer und erquickender iſt der Schlaf, je
weniger an der Ruhe Theil nehmen, deſto weniger erfriſchend
iſt er und deſto belebter ſind die Träume. Denn alle nicht
ruhenden Organe ſetzen, ungeachtet der Ruhe der übrigen,
ihre natürliche Thätigkeit fort; und da alle Organe, welche
bei reger Kraft im äußern Leben nicht wirken können, ſich
in Phantaſieen ergehen’), fo entſtehen dann die Träume.
Dieſe ſind um ſo bewegter, je mehr, und um ſo lebendiger,
1) „Die Harmonie in einem Concert wird von einem geübten
Tonkünſtler viel vollſtändiger empfunden, als von Ungeübten, und
wenn ein Miston mit unterläuft, ſo wird er die Perſon, die Note, die
Dauer, die Art, wie ſie geſpielt worden und wie ſie hätte ſollen ge—
ſpielt werden, umſtändlich angeben können. Die Harmonie in einem
Concert iſt ein ſehr ſchwacher Schattenriß von der Harmonie in
den Wahrheiten, die nicht das Ohr, ſondern der sensus internus,
oder die Seele in ihrem Bewußtſein empfindet.“ Lambert, Neues
Organon Bd. I. S. 399.
2) S. oben S. 252.
268 Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Schluß).
je kräftiger die nicht ruhenden Organe ſind. So allein läßt
es ſich erklären, daß derſelbe Menſch bisweilen ſo verſchie—
denartige Träume hat, dennoch aber immer ſolche, welche
zu ſeiner Individualität in beſonderer Beziehung ſtehen.
Wachen bei einem Menſchen z. B. die Organe des Bekäm—
pfungstriebs und des Zerſtörungstriebs, während die Organe
des Denk- und Empfindungsvermögens ſchlafen, ſo werden
Bilder des Kampfes und der Zerſtörung dem Schlafenden
erſcheinen. Wachen die Organe des Wohlwollens, der Hoff—
nung, der Gewiſſenhaftigkeit, während alle Organe der
Sinnlichkeit ſchlafen, ſo werden Bilder aus der Gemüths—
welt des Schlafenden ohne alle ſtörende Beimiſchung der
Begierden entſtehen. Wacht das Organ der ſinnlichen Liebe,
während die Organe der höheren Empfindungen und des
Denkvermögens ruhen, ſo werden Bilder der Wolluſt ſich
entwickeln u. ſ. w. Diejenigen Organe werden zuerſt in
Schlaf ſinken, welche auf der einen Seite im Laufe des
Tages ſo viel in Anſpruch genommen worden ſind, um der
Ruhe zu bedürfen, auf der andern Seite doch nicht ſo ſehr,
daß ſie durch Ueberſpannung in einen Zuſtand der Aufre—
gung gerathen ſind, welcher die Ruhe unmöglich macht.
Wo Reiz iſt, da ſtrömt die Blutmaſſe im Körper hin.
Diejenigen Organe, welche in einem erhöhten Zuſtande der
Anregung ſind, werden alſo beſonders ſtarken Zufluß von
Blut haben, und die dadurch veranlaßte ungewöhnlich ſtarke
Ebbe und Fluth läßt das betreffende Organ nicht zur Ruhe
gelangen. Daher kommt es, daß tiefe Denker, Wollüſt—
linge, leidenſchaftliche Jäger auch im Schlafe noch ihren
Lieblings-Neigungen folgen. Ungeachtet der Ruhe ihrer
übrigen Organe können die Organe des Denkvermögens,
des Geſchlechtstriebs und des Zerſtörungstriebs nicht zur
Ruhe gelangen.
Ueber das Schamgefühl find unter den Phrenolo-
gen verſchiedene Anſichten ausgeſprochen worden. Es fragt
ſich nämlich, ob daſſelbe einem Grund-Vermögen zugeſchrie—
ben werden ſolle oder nicht, und in letzterm Falle welchem
Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Schluß). 269
oder welchen?) Es wurde übrigens auch nicht die ge—
ringſte Spur eines beſondern Organs dieſes Gefühls im
Gehirne oder äußerlich am Schädel entdeckt. Mir ſcheint,
daß wenn wir das genannte Gefühl an verſchiedenen Per—
ſonen beobachten, es nach Verſchiedenheit der Beſchaffenheit
ihrer Gefühlswelt ſich verſchieden geſtaltet. Es ſind mir wieder—
holt Menſchen vorgekommen, welche in einer Beziehung ein eben
ſo reges, als in andern Beziehungen ein ſchwaches Schamgefühl
an den Tag legten, welche ſich z. B. im höchſten Grade ſchäm—
ten, wenn ſie nicht eben ſo modiſch gekleidet waren, als
Perſonen ihres Gleichen, dagegen ohne zu erröthen die ent—
ſchiedenſten Unwahrheiten ſagten und ohne ſich eines Unrechts
auch nur bewußt zu werden, geſchweige denn ſich deshalb
zu ſchämen, die ſchreiendſten Ungerechtigkeiten begingen.
Das Schamgefühl ſetzt immer voraus, daß eines un—
ſerer geiſtigen Vermögen ſeine Pflicht nicht gethan habe,
und daß ein anderes dieſes empfinde. Allein je nachdem
das geiſtige Vermögen, welches ſeine Pflicht nicht gethan
hat, und das Gefühl, welches dieſes ankündigt, verſchieden
iſt, wird das Schamgefühl ſelbſt verſchieden ſein. Ein Menſch
von reger Beifallsliebe, ſchwachem Wohlwollen und ſtar—
kem Erwerbtriebe wird ſich z. B. ſchämen, wenn er von
wohlwollenden Menſchen darauf ertappt wird, daß er einem
bedürftigen Armen eine beſcheidene Gabe verſagt, während
er ſich durchaus nicht ſchämen wird, wenn Menſchen, welche
geiziger ſind, als er ſelbſt, Zeugen ſeiner Handlung werden.
Die Beifallsliebe iſt ein Camäleon, ſie wechſelt ihre Far—
ben nach Verſchiedenheit ihrer Umgebungen. Unabhängig
von dem Einfluſſe der äußern Verhältniſſe oder die innern
Regungen der Seele nur verſtärkend, nicht beſtimmend iſt
dagegen dasjenige Schamgefühl, welches durch die Gewiſ—
ſenhaftigkeit, das Selbſtgefühl, die Ehrerbietung, den Sinn
für das Wunderbare, Verheimlichungstrieb, das Wohlwol—
I) Michele Castle, corso di lezioni sulla Frenologia. Milano
1841. p. 272 ss.
270 Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Schluß).
len, das Schönheitsgefühl unmittelbar hervorgerufen wird.
Alle dieſe Gefühle können die unmittelbare Quelle der
Scham werden. Ein Menſch von reger Gewiſſenhaftigkeit,
der ſich z. B. in einer unbewachten Stunde zu einer Un—
wahrheit hinreißen ließ, wird, ohne daß ſie von irgend Je—
mand entdeckt wurde, ſobald der Trieb, welcher ihn dazu
verleitete, aufhört zu wirken, und feine Gewiſſenhaftigkeit
in ihre Rechte wieder eintritt, ſich ſchämen. Eben daſſelbe
wird der Fall ſein, wenn ein Menſch von kräftigem Selbſt—
gefühl ſich einer ſeine Würde gefährdenden, einer erniedrigenden
Handlung, z. B. einer demüthigen Bitte, eines tiefen Com—
plimentes u. ſ. w., wozu er in einer mächtigen Regung
eines andern Gefühls gebracht wurde, bewußt wird. Das
Mädchen, welches Gegenſtände, die ihm heilig oder wun—
derbar erſcheinen, welche es mit dem Schleier des Geheim—
niſſes zu verdecken pflegt, dem Auge des unehrerbietigen,
des profanen oder überhaupt eines nicht vertrauten Freun—
des bloßgeſtellt ſieht, wird ſich ſchämen. Allein wie ver—
ſchieden ſind dieſe Gefühle von allen den bisher beſchriebe—
nen! Und auch unter einander ſind ſie es, je nachdem Ehr—
erbietung, Sinn für das Wunderbare oder der Verheim—
lichungstrieb beſonders wirkſam ſind. Das Schönheitsgefühl
wird die Mutter des Schamgefühls werden, wenn irgend
ein Zufall den Anzug außer Ordnung bringt, beſchmutzt,
und in demſelben Maße wird letzteres ſtärker ſein, je mehr
erſteres gerade rege war. Auch das Wohlwollen kann das
Schamgefühl erzeugen, wenn es uns vorhält, wir hätten
helfen können und es nicht gethan, wir ſeien unfreundlich
geweſen, wo wir dieſelben Worte hätten mit Milde und
Schonung ſprechen können u. ſ. w. So iſt das Scham—
gefühl immer verſchiedenartig, obgleich ihm immer ein von
irgend einem Gefühle gerügter Verſtoß eines andern Ver—
mögens zu Grunde liegt.
Der Gewiſſensbiß hat es nur mit der Gewiſſen—
haftigkeit, die verletzte Eitelkeit nur mit der Beifalls—
liebe, der gekränkte Stolz nur mit dem Selbſtgefühl zu
Vorbemerkung. Zeugung. 271
thun, während das Schamgefühl alle dieſe Vermögen be—
rühren kann; aber immer vorausgeſetzt, daß ſie uns den
Verſtoß eines andern Vermögens vor die Seele führen.
Die Reue kann ſich aus dem Schamgefühle entwickeln, ſie
iſt für die Dauer, was das Schamgefühl für den Augen—
blick iſt. Das Schamgefühl röthet die Wangen, die Reue
führt zur Beſſerung, aber eben deshalb ſetzt ſie eine, we—
nigſtens vermeinte, Schuld voraus, während dieſes bei dem
Schamgefühle nicht der Fall iſt. Denn die eben beſchrie—
benen Verſtöße einzelner Gefühle find nicht nothwendig fo
tief eingreifender Natur, nicht nothwendig Verletzungen
der höheren moraliſchen Gefühle, welche allein den Begriff
der eigentlichen Schuld bilden.
2. In chronologiſcher Ordnung.
$. 50.
Vorbemerkung. Zeugung.
Die Grundlage jedes philoſophiſchen Syſtems bildet
die Kenntniß der Menſchen-Natur, oder, da in dieſer nur
die Seele als bewegender Theil erſcheint, die Seelenlehre,
weil nur ſie uns über die Mittel, Wahrheit zu finden, Aus—
kunft zu ertheilen vermag. Sie muß daher die Einleitung
zu jeder Philoſophie bilden; denn in demſelben Maße, als
man der menſchlichen Seele verſchiedene Kräfte, Anlagen,
Bedürfniſſe und Beſtrebungen zuſchreibt, wird ihr Verhält—
niß zu andern menſchlichen Seelen und der über ihnen wal—
tenden Gottheit verſchieden aufgefaßt werden.
Der Gegenſtand dieſer Unterſuchung iſt daher die Seele
des Menſchen, eines in der Erfahrung gegebenen Weſens.
Das Subject, welches ſie anſtellt, iſt gleichfalls ein ſolches.
Allein während dieſes ein einzelner, individueller, concreter
Menſch, iſt jener es nicht. Er iſt zwar weder das Wort
272 Vorbemerkung. Zeugung.
Menſch (mit dieſem beſchäftigt ſich die Grammatik), noch
der Begriff Menſch (mit dieſem hat es die Logik zu thun),
ſondern das dem Begriffe äußerlich entſprechende, lebende
Weſen, welches in dieſe Erde geboren wird, einen Leib
beſitzt, der ihm die Organe der Thätigkeit bietet, und ſtirbt,
das heißt, ſeinen ſterblichen Körper auf dieſer Erde zurück—
läßt, damit er ſich in ſeine Grundſtoffe wieder auflöſe, nach—
dem er zu den Zwecken ſeiner Beſtimmung gedient hat.
Nicht ein einzelner ſolcher Menſch, ſondern alle in ihrer
Geſammtheit jeden Alters, jeden Geſchlechts, jeder Nation,
jeder Farbe. Eine genaue Prüfung ſeiner Natur ſetzt vor—
aus, daß alle dieſe Verſchiedenheiten gewürdigt werden.
Da alſo ein in der Erfahrung gegebenes Weſen den
Gegenſtand unſerer philoſophiſchen Betrachtung bildet, ſo
kann die Erfahrung oder die Beobachtung nicht von der
Hand gewieſen werden, wollen wir anders unſern Zweck
erreichen, den Menſchen ſo, wie er in der Erfahrung,
nicht blos in unſerer Einbildung iſt, kennen lernen. Zwar
haben manche Philoſophen behauptet, alle empiriſchen Sätze
könnten auf keine allgemeine Anerkennung (objective Wahr—
heit, wie ſie ſagen) Anſpruch machen; allein dieſelben Phi—
loſophen gaben doch ſelbſt eine Maſſe von Sätzen mit der
allergrößten Beſtimmtheit für wahr aus, welche ſich nur
auf Erfahrung gründen, und ſtoßen ſo praktiſch ihre eigene
Behauptung am entſchiedenſten um. Sie bedenken nicht,
daß Alles, was in der Vergangenheit ruht, und nament—
lich unſer eigenes Fühlen, Denken und Handeln, inſofern
es bereits (ſei es auch nur vor einer Terzie) ſtattgehabt
hat, nur als Erfahrungsgegenſtand in unſerm Innern ſich
feſtſtellen kann, daß die Erfahrung, d. h. das Reſultat des
Zuſammentreffens unſerer geiſtigen Kraft mit einem Gegen—
ſtande derſelben geradezu das einzige Mittel iſt, Wahrheit
zu erkennen, feſtzuhalten. Bevor wir einen Gedanken, ein
Gefühl in unſerm Innern erfahren haben, können wir ſie
gar nicht mittheilen.
Bei Betrachtung des Menſchen gewahren wir auf den
Zeugung. 273
erſten Blick einen Gegenſtand, welcher räumliche Ausdeh—
nung beſitzt: den Leib und, wenn wir nach der Urſache
fragen, welche ihn in dauernder Lebensthätigkeit erhält,
einen zweiten: die Seele. Jenen nehmen wir wahr ver—
mittelſt unſerer Sinnenwerkzeuge und Erkenntniß-Organe,
wie jeden andern Körper auch, dieſe vermittelſt unſeres
Denkvermögens, welches uns drängt, die Urſache der Wir—
kungen zu erforſchen, die wir täglich und ſtündlich bis zum
Tode des Menſchen an ſeinem Körper vorüberziehen ſehen.
Der einfache Vergleich des belebten menſchlichen Körpers
mit der Menſchenleiche muß uns zu der Ueberzeugung füh—
ren, der Unterſchied zwiſchen beiden beſtehe darin, daß mit
erſterem Lebensthätigkeit verbunden ſei, mit letzterem nicht.
Die dauernde Urſache der mit einem Körper verbundenen
Lebensthätigkeit nennen wir ſeine Seele, ſeinen Geiſt.
Nicht blos jedes gut beſchaffene Denkvermögen, ſondern
auch jedes gut beſchaffene Empfindungsvermögen führt den
Menſchen zu demſelben Reſultate.
Es iſt ein allgemeiner phrenologiſcher Grundſatz, daß
diejenigen Organe des Gehirns, welche im Augenblicke an—
geregt ſind, die Thätigkeit aller unſerer Körper-Organe
beſtimmen und leiten. Wie dieſes gilt von der Bewegung
der Hand, welche die Speiſe dem Munde zuführt, welche
den Gegner tödtet u. ſ. w., ſo gilt dieſes auch insbeſondere
von dem Acte der Zeugung. Ganz gerade ſo wie die
Bewegung der Hand ihren Charakter erhält, von den Ge—
fühlen, welche ſie leiten und von den Gedanken, welche
ihr das Ziel weiſen, ſo erhält auch jeder andere Theil des
Körpers in allen ſeinen Bewegungen ſeinen Charakter von
den Gefühlen und Gedanken, welche ihn leiten und be—
ſtimmen. Zwei dem äußern Anſcheine nach ganz gleiche
Handlungen, z. B. die Tödtung eines Menſchen oder eines
Thiers, haben einen weſentlich verſchiedenen geiſtigen Cha—
rakter und weſentlich verſchiedene geiſtige Folgen, je nach—
dem dieſe oder jene Abſicht, der Zweck der Selbſtverthei—
digung oder der Rache ihr beſtimmendes Element war.
18
274 Zeugung.
So müſſen auch die Folgen der Zeugung einen weſentlich
verſchiedenen geiſtigen und körperlichen Charakter anneh—
men, je nachdem dieſe oder jene körperlichen Organe und
geiſtigen Kräfte bei derſelben thätig waren. Die unmittel—
bare Thätigkeit des Organs des Geſchlechtstriebs iſt bei
dieſem Acte eine nothwendige Vorausſetzung. Allein je
nachdem dieſe oder jene Organe als anregende Elemente
mitwirkten, je nachdem Eſſen und Trinken (die Wirkſamkeit
des Nahrungstriebs), der Wunſch, vermittelſt eines Kindes
in den Beſitz des Vermögens der Frau zu gelangen (die
Thätigkeit des Erwerbstriebs), das Vollgefühl der Schön—
heit der Geliebten, das Gefühl höherer geiſtiger Einheit —
die mittelbaren Antriebe bildeten, wird die Folge eine ver—
ſchiedene ſein, wird das Kind mit verſchiedenen Anlagen
gezeugt werden. Die Stimmung des Augenblicks ſteht
aber natürlich ihrerſeits wieder in Cauſalzuſammenhang
mit der Stimmung des Tages, des Monats, des Jahres
und des Jahrzehends. Gewohnheiten, welche in gewiſſen
Zeitperioden einem Elternpaare eigen waren, werden daher
auch auf den entſcheidenden Moment ihre Wirkſamkeit
geltend machen). So bildet ſich eine lange Kette von dem
Augenblicke an, da ein Kind gezeugt wurde bis zu dem—
jenigen, da es ſelbſt zeugt, von dem Augenblicke, da die
Eltern und Voreltern gezeugt wurden bis zu demjenigen,
da Kinder und Kindes-Kinder den Keim des Lebens em—
pfingen. Auf dieſe Weiſe allein läßt ſich die körperliche
und geiſtige Aehnlichkeit erklären, welche in Familien, Na—
tionen und Raſſen Jahrhunderte hindurch ſich treu bleibt,
und auf der anderen Seite die Unähnlichkeiten, welche als
abnorme Fälle da und dort ſich einſtellen, als Zeugen ab—
normer momentaner körperlicher und geiſtiger Thätigkeit
des Elternpaars oder wenigſtens eines Theils deſſelben.
Von dieſen phyſiologiſchen Grundanſichten ausgehend erhält
die Wahl der Genoſſin, welche die Mutter einer heran—
1) G. Combe, über das Weſen des Menſchen.
Zeugung. 275
wachſenden Generation werden, und der Augenblick, welcher
über die Zukunft ganzer Geſchlechter entſcheiden ſoll, eine
Bedeutung und eine Wichtigkeit, welche wohl geeignet iſt,
den leichtſinnigen Menſchen zur Beſonnenheit, den weltlich
geſinnten zu höherer Sammlung, den leidenſchaftlichen zur
Ruhe zu mahnen. Denn ſie werden die Früchte ernten,
die ſie geſäet.
Das Kind iſt das Product ſchaffender Kräfte; auf
ſeine Zeugung wie auf jede andere Kräfte-Entwickelung iſt
das Geſetz von dem Parallelogramme der Kräfte anwend—
bar. Die körperlichen und geiſtigen Kräfte des Vaters und
der Mutter, wie ſie ſich im entſcheidenden Augenblicke ge—
rade geſtalten und verhalten, ſind daher die Factoren dieſer
Kräfte⸗Entwickelung.
So lange das Kind noch im Schooße der Mutter ruht,
iſt ihm dieſe allerdings unmittelbar körperliche und geiſtige
Nahrungsquelle. Allein bei dem innigen Verhältniß, wel—
ches zwiſchen Gatten ſtattfindet, muß die körperliche und
geiſtige Beſchaffenheit und Stimmung des Mannes einen
dauernden, höchſt bedeutungsvollen Einfluß auf die Mutter
üben, und zwar um ſo mehr, je mehr der Zuſtand der
Frau ſchwach, hülfsbedürftig und aufgeregt iſt. Dieſer
Einfluß wird daher durch die Mutter auch auf das Kind
zurückwirken, und ſeiner Entwickelung förderlich oder hin—
derlich ſein, je nach der Verſchiedenheit ſeines Charakters.
Bevor das Kind das Licht der Welt erblickt, haben
daher mannigfaltige Einflüſſe ſchon auf ſeine körperliche
und geiſtige Entwickelung eingewirkt. Alle Gemüths—
ſtimmungen der Mutter haben dem Kinde in ihrem
Schooße geiſtige Nahrung gereicht, wie die Säfte ihres
Körpers ihm körperliche reichten. Die körperliche Nahrung
iſt von der geiſtigen niemals ganz zu trennen, am wenig—
ſten zur Zeit, bevor das Kind von der Mutter körperlich
getrennt iſt. Bis zum Augenblicke der Geburt diente der
Leib der Mutter dem Kinde als Schutz gegen die Einflüſſe
der Außenwelt, und war ihr Gemüth die Wiege des ſeinigen.
18 *
276 Kindesalter.
Später wird das Kind ſelbſtſtändiger und abhängiger zu—
gleich: ſelbſtſtändiger durch ſeine getrennte Individualität,
abhängiger durch ſeinen Eintritt in eine künſtliche Welt,
in deren Mitte die Natur der Wirkſamkeit des Menſchen
mehr und mehr ſelbſt überläßt.
Dieſes Fortſchreiten zu höherer Selbſtſtändigkeit und,
größerer Abhängigkeit bildet die Periode der körperlichen und
geiſtigen Entwickelung des Menſchen. In demſelben Maße, als
das Kind ſelbſtſtändiger wird, als ſeine geiſtigen Anlagen
einen individuellen Charakter annehmen, ſondert es ſich von
der Außenwelt, erhält es eigenthümliche Gedanken, Gefühle,
Wünſche und Strebungen, und kann es daher weniger auf
die Hülfe Anderer rechnen, in ſofern es ſie nicht ſelbſt für
ſich zu gewinnen weiß.
Den Bedürfniſſen des Kindes entſprechen die Pflichten
der Eltern. Um deren Erfüllung ihnen leicht, ja zur freu—
digſten Wonne zu machen, hat die gütige Gottheit dem
Menſchen die Kinderliebe in die Seele gelegt. ö
$ 51.
Kindesalter.
Mit mannigfaltig verſchiedenen Eigenſchaften des
Körpers und Geiſtes, ſo verſchiedenartig als diejenigen der
Erwachſenen, der Eltern und ihre Verhältniſſe ſind, treten
alſo die Kinder in dieſe Erdenwelt ein. Allein einen ge—
wiſſen Typus haben ſie dennoch, wie das Jünglings-, das
Mannes- und das Greiſenalter einen ſolchen hat. Der
Charakter des Kindes iſt derjenige der Hülfloſigkeit, der
Abhängigkeit von der Außenwelt und unklaren, kaum be—
wußten Dranges nach Entwickelung. In demſelben Maße,
als die Selbſtſtändigkeit im Kinde ſchwach iſt, hat die gött—
liche Vorſehung von außen durch die Eltern, von innen
durch das Walten der Kräfte der Natur, für das ſchwache
Weſen geſorgt. Je mehr ſich die Selbſtſtändigkeit des Kin—
Kindesalter. 277
des entwickelt, je klarer und umfaſſender ſein Bewußtſein,
je mehr es Herr ſeiner körperlichen und geiſtigen Kräfte
wird, deſto weiter tritt die Natur zurück. Sie überläßt
dem Menſchen die Herrſchaft, ſobald er ſich derſelben zu
bemächtigen weiß. Die Thatkraft des Kindes iſt gering,
um ſo größer iſt ſeine Entwickelungs-Fähigkeit. Wenn es
die Aufgabe des Erwachſenen iſt, zu geben, ſo iſt es die—
jenige des Kindes, zu empfangen.
Das Kind bringt auf die Welt die Kräfte mit, deren
es bedarf, zunächſt den Nahrungstrieb, den es an der
Bruſt der Mutter ſtillt. Wenn dieſe ihm körperliche Nah—
rung, bietet jeder Blick der Eltern, jeder Ton ihrer
Stimme, jede Bewegung ihrer Hand ihm geiſtige Nahrung.
Das Kind kann noch nicht reden, es verſteht den Sinn
der Worte nicht, die an ſeinem Ohr vorüberſtreifen. Allein
gar bald lernt es die natürliche Sprache ſprechen und ver—
ſtehen, welche die Gefühle und die Gedanken ohne Worte
ſprechen. Der Liebesblick der Mutter thut ihm wohl und
des Kindes Lächeln iſt die Antwort darauf. Ein wilder
Ausdruck des Geſichts, eine zornige Bewegung erſchreckt
das Kind und heftiges Weinen und Schreien verräth den
Zuſtand ſeiner Seele. Worte ſind nicht die einzigen Zei—
chen des Verſtändniſſes. Auch die Taubſtummen verſtehen
und werden verſtanden. Der Unterſchied zwiſchen der
Sprache der Worte und der Sprache der Zeichen iſt nicht
ſo groß, als Viele ſich denken. Für den kleinen Kreis, der
liebend das Kind umgiebt, ſind deſſen Zeichen verſtändlich
wie dem Kinde die Zeichen der Seinigen es ſind.
Die geiſtige und die körperliche Entwickelung gehen
Hand in Hand. Der Geruchs-Nerv und der Geſchmacks—
Nerv vervollkommnen ſich eher als der Geſichts- Nerv und
der Gehör-Nerv, und das Kind iſt eher für die Eindrücke
empfänglich, welche der Geruch und der Geſchmack ver—
leihen, als für ſolche, welche das Auge und das Ohr ver—
mitteln. Bei neugeborenen Kindern ſieht man kaum Spu—
ren von den Faſern in dem Gehirn und dieſe erſcheinen
278 Kindesalter.
eher in dem hintern und mittlern Gehirn-Lappen (woſelbſt
ſich die Organe des Begehrungsvermögens und der Ge—
fühle befinden), als in dem vorderen (mit den Organen
der Intelligenz). Der faſerige Bau des kleinen Gehirns
(des Organs des Geſchlechtstriebs) wird nur nach und
nach ſichtbar, und entwickelt ſich erſt nach dem achten und
zehnten Jahre. Die vordern und obern Theile erſcheinen
erſt mehrere Monate nach der Geburt mit einiger Kraft.
Außer dem Nahrungstrieb, welcher den Mund des
Kindes nach der Bruſt der Mutter führt, entwickeln ſich
bald die Triebe der Zärtlichkeit und der Anhänglichkeit,
der Bekämpfung und der Zerſtörung. Namentlich dieſe
beiden letzteren bedürfen ſorgfältiger Pflege. Alles, was
der Gefühlswelt des Kindes widerſpricht, regt ſie auf.
Das wirkſamſte Gegenmittel gegen dieſe frühregen Triebe
bietet die gleichfalls früh ſich entwickelnde Beobachtungs—
gabe des Kindes (Gegenſtandſinn und Thatſachenſinn).
Jeder neue Gegenſtand, jede neue Art der Bewegung,
welche innerhalb des Geſichtskreiſes des Kindes erſcheint,
feſſelt dermaßen deſſen Beobachtungsgabe, daß dadurch am
leichteſten jede Regung des Unwillens und der Unfreund—
lichkeit, welche ſich im Innern des Kindes zu entwickeln
droht, verſcheucht werden kann Jede Scene des Streites,
jede Geberde des Zorns regt dagegen die ſchlummernden
Triebe des Kampfes und der Zerſtörung auf, und je un—
mächtiger das Kind iſt, ihnen andere Folge zu geben als
durch Schreien und Stampfen, um ſo ſtürmiſcher wogen
ſie doch in ſeinem Innern und bedrohen ſie die Ruhe und
den Frieden ſeiner erſten Tage.
. Die Bilder, welche ſich auf der noch leeren Lebens—
tafel des Kindes verzeichnen, ſind unauslöſchlich, die erſten
Gefühle, welche in dem Innern des Kindes erweckt werden,
ſind oft entſcheidend für ſeine ganze Zukunft. In dieſer
Betrachtung liegt eine mächtige Aufforderung für Eltern
und Geſchwiſter, den Säugling nur mit ſolchen Gegen—
ſtänden zu umgeben, ihn nur zum Zeugen ſolcher Ereig—
Jünglingsalter. 279
niſſe zu machen, welche geeignet ſind, wohlthätig auf ſein
inneres Leben zu wirken. So oft wird dieſes verkannt.
Das Kind wächſt heran in einer geiſtigen Atmoſphäre,
welche allmählig eben ſo nachtheilig auf ſein Gemüth, als
verdorbene Luft auf ſeinen Körper wirkt. Man derwun—
dert ſich dann, daß das Kind, ſobald es ſprechen lernt,
beſondere Vorliebe für Ausdrücke des Zorns und des
Streites an den Tag legt, ſie wiederholt und ſich darin
gefällt, ſie bei jeder Gelegenheit anzubringen. Derjenige
Trieb, dasjenige Gefühl, dasjenige Vermögen überhaupt
wird zuerſt Worte finden, welches in den ſprachloſen Zeiten
am meiſten Anregung erhielt, und von Natur am ſtärkſten
entwickelt iſt. Hat ſich das Gefühl im Innern entfaltet,
ſo hat es den Drang zur Folge, ſich in Worte zu kleiden,
ſobald der Sprachſinn erwacht. Dieſen Drang fördert der
mächtige Hebel der Nachahmung, welcher bei den Kindern
beſonders frühe zu hoher Thatkraft ſich geſtaltet.
8 52.
Juͤnglingsalter.
Der Jüngling iſt ſich des Drangs nach Entwickelung
ſeiner ſelbſt bewußt. Er hat von der Natur einen Theil
der Herrſchaft über ſeinen Körper und ſeinen Geiſt erobert.
Vieles geſchieht in demſelben allerdings noch immer, ohne daß
er ſich deſſen bewußt wird. Der ganze vegetative Lebenspro—
zeß: die Verdauung, die Säftebildung, der Blutumlauf, die
Ausſcheidung der verbrauchten und überflüſſigen Stoffe,
die Reinigung des Bluts durch das Zuſtrömen von friſcher
Luft. Alle dieſe für unſer Leben durchaus unentbehrlichen
Thätigkeits-Aeußerungen gehen größtentheils ohne Zuthun
des Willens des Menſchen und ſogar ohne daß er ſich
deren nur bewußt würde, vor ſich. Allein die höheren, gei—
ſtigeren Bewegungen und Strebungen des Lebens macht
er ſich mehr oder weniger unterthan. Er ißt und trinkt
280 Jünglingsalter.
mit Bewußtſein, er folgt dabei nicht mehr einem dunkeln
Gefühle, er weiß, was ihm gut und was ihm ſchädlich
iſt, er kennt das Maß, deſſen er zur Erhaltung ſeiner
Geſundheit und zur Beförderung des Wachsthums bedarf:
alles dieſes freilich mehr oder weniger nach Verſchiedenheit
der Anlagen und deren Entwickelung. Allein in dem
Augenblick, da ſich der Jüngling feiner ſelbſt deutlicher be-
wußt wird, hat ſich ſchon die Macht der Verhältniſſe be—
deutungsvoll an ſeinem Körper und Geiſte geltend gemacht.
Manches Vermögen wurde früh geweckt, manches andere
im Schlafe erhalten, mancher Keim zu körperlicher Krank—
heit wurde gelegt, oder durch liebende Sorgfalt entfernt.
So bleibt der Menſch immer in der Mitte ſtehen zwiſchen
eigener Herrſchaft, der Herrſchaft der Natur und der Macht
der Verhältniſſe. Auch der vollkommen begabteſte und
vollkommen entwickeltſte Menſch kann ſich der Herrſchaft
der Naturgeſetze und dem Einfluſſe der Außenwelt nicht
entziehen, und auch dem unvollkommenſten Menſchen wird
einige Selbſtbeſtimmung doch immer bleiben.
Das Streben des Menſchen muß ſich aber richten
auf Erweiterung des Kreiſes ſeines ſelbſtbewußten Han—
delns, Fühlens und Denkens. Denn in demſelben Maße,
als er Herr ſeiner inneren Regungen wird, iſt er frei, in
demſelben Maße, als er ſie nicht beherrſcht, iſt er unfrei.
Das einzige ſichere Mittel zur Selbſtbeherrſchung iſt aber
ein klares Selbſtbewußtſein.
Die meiſten Menſchen bleiben in Betracht gar vieler
Regungen ihres geiſtigen, wie ihres vegetativen Lebens bis
an ihren Tod im ſelbſtbewußtloſen, unfreien Zuſtande.“
Sie haben nur in Betreff derjenigen Vermögen, welche ſie
mit den höheren Thieren in Gemeinſchaft beſitzen, Selbſt—
bewußtſein. Allein die Vermögen, welche ſie über das
Thier generiſch erheben, welche dieſes gar nicht beſitzt:
das Wohlwollen, die Ehrerbietung, die Hoffnung, die
Gewiſſenhaftigkeit, das Schönheitsgefühl, der Sinn für
das Wunderbare und das Denkvermögen; alle dieſe Kräfte
Jünglingsalter. 281
üben nur wenige Menſchen mit Selbſtbewußtſein, mit
Freiheit aus. Sehr häufig konnen fie neben den vorherr—
ſchenden thieriſchen Trieben: dem Nahrungstriebe, dem Ge—
ſchlechtstriebe, dem Bekämpfungstriebe, dem Zerſtörungs—
triebe, dem Erwerbstriebe u. ſ. w., kaum hier und da eine
mildere, edlere Regung, einen höhern, richtigern Gedanken
geltend machen, welche nicht aus klarem Bewußtſein fließen,
und eben deshalb keinen Nachdruck beſitzen. Die moralifchen
Gefühle und das Denkvermögen ſind auf Erden noch nicht
zur Herrſchaft gelangt. Ueberall ſtehen ſie im großen noch
im Dienſte der Beifallsliebe und des Selbſtgefühls, wenn
nicht noch niedrigerer Gefühle. Das jugendliche Alter
unterſcheidet ſich vom Mannesalter in der Regel beſonders
dadurch, daß in erſterem alle Gefühle, die niedern, wie
die höheren, in lebhafterer Bewegung ſind, und daß im
Laufe der Jahre die Verhältniſſe dieſem oder jenem Ge—
fühle einen vorherrſchenden Einfluß verſchafft haben.
Es gehört zu den ſeltenen Ausnahmsfällen, daß im
Laufe der Jahre die höheren Gefühle die Herrſchaft über
die niederen, das Denkvermögen die Herrſchaft über ſämmt—
liche intellectuelle Kräfte erringen, und die Empfindung
mit der Intelligenz innig verbunden dem Ziele der Ver—
vollkommnung kräftig entgegenſtrebt.
Auf unſern höheren und niederen Schul- und Er—
ziehungs-Anſtalten wird der Entwickelung der höheren
Empfindungen und des Denkvermögens größtentheils gar
keine Aufmerkſamkeit geſchenkt. Nur einige wenige Kräfte
der Intelligenz, z. B. Wortſinn, mechaniſcher Kunſtſinn,
Zahlenſinn werden auf allen Schulen regelmäßig entwickelt,
und dieſe meiſtentheils eben wegen dieſer Ausſchließlichkeit
in höchſt mangelhafter Weiſe.
An eine harmoniſche Entwickelung der geſammten
Kräfte der Seele, an eine Gewöhnung zum Gehorſam de—
rer, welche gehorchen ſollen und zur Herrſchaft derer,
welche herrſchen ſollen, iſt nicht zu denken. Meiſtentheils
werden ſogar die Beifallsliebe und das Selbſtgefühl recht
282 Mannesalter.
eigentlich zu Herrſchern herangezogen, indem man ſich jeden
Augenblick an dieſe Gefühle wendet, in ihnen den mächtig—
ſten Hebel des Fleißes, der Aufmerkſamkeit und des guten
Betragens hegt, und ſo im Laufe der Jahre Eitelkeit und
Hochmuth auf der einen, Neid, Haß und Eiferſucht auf
der andern Seite erweckt.
$ 53.
Mannesalter.
In ſolcher Weiſe vorbereitet, tritt der Jüngling in das
Mannesalter ein, in dem er für die Außenwelt wirken ſoll.
Allein er kann nur thätig ſein mit den Kräften, welche er
beſitzt, und in derjenigen Weiſe, in welcher er ſie bis dahin
geübt hat. In der Schule wurde auf die höheren Gefühle
des Wohlwollens, der Ehrerbietung, der Gewiſſenhaftigkeit
u. ſ. w. keine Rückſicht genommen. Nur der Ehrgeiz, das
Streben nach äußerer Auszeichnung wurde geweckt, und
das Mittel, dieſelbe zu erſtreben, war nicht eine kräftige,
eigenthümlich entwickelte Individualität, ſondern ein me—
chaniſches Eingehen in die Vorträge des Lehrers. Durch
das Opfer der ſelbſtſtändigen kräftigen Entwickelung konnten
in der Regel allein äußere Ehren und Vorzüge erkauft
werden. Nur derjenige Schüler und Candidat beſtand
gut, welcher es verſtand, dem Lehrer oder Examinator
ganz und gar nach Wunſche zu reden. Daher fielen nicht
ſelten die tüchtigſten jungen Leute, wenn es ihnen an Le—
bensklugheit und Geſchmeidigkeit fehlte, in den Prüfungen
durch, während Menſchen ohne Urtheil, ohne moraliſche
und intellectuelle Kraft, wenn ſie nur tüchtig auswendig
gelernt und Compendien ſtudirt hatten, trefflich beſtanden.
So lernten unſere Jünglinge früh dem Scheine ſtatt der
Wahrheit dienen, und was ſie gelernt, üben ſie natürlich
als Männer. Daher iſt es nicht zu verwundern, daß ſich
in unſerm Leben ſo viel Schein geltend macht, und die
Mannesalter. 283
Wahrheit faſt nirgends durchzudringen vermag. Wer als
Jüngling großen Werth zu legen gewöhnt wurde auf die
Genuffe des Gaumens, wem Eſſen, Trinken und Rauchen
eine Lieblingsbeſchäftigung wurde, an welche ſich die übri—
gen Genüſſe des Lebens als untergeordnete anreihen, mit
andern Worten, wer als Jüngling den Nahrungstrieb zum
Herrſcher, ſtatt zum Diener heranzog, wird als Mann die
begründete Gewohnheit nicht ablegen. Als Jüngling machte
er ſich luſtig über die reich beſetzten Tafeln der Diplo—
maten, während er ſelbſt mit der Pfeife im Munde am
Bierkruge ſaß, als Mann verändert ſich nur die Art und
Weiſe der Befriedigung des Nahrungstriebs, dieſer ſelbſt
behält aber ſeine Herrſchaft nach wie vor. Der Jüngling
lernte in Zünften, oder zunftähnlichen Verbindungen alle
aus dem Mittelalter überkommenen Gebräuche ehren, einem
tyranniſchen Gebieter gehorchen, ein Zunft-Abzeichen ehren.
Wird er als Mann mittelalterlichen Satzungen wider—
ſtreben, veraltete Gebräuche als ſolche erkennen, die Freiheit
als das höchſte Gut lieben und ehren, die Flitter äußerer
Standesabzeichnungen von dem Menſchenwerthe unterſchei—
den? Den Jüngling ſtellte das Standesvorurtheil ſeinem
Bruder im Zweikampfe gegenüber. Wird er als Mann
dem Standesvorurtheil entgegentreten können? Unmöglich!
Er wird in dem Geiſte handeln, dem er als Jüngling
huldigte. Der Menſch, welcher unter dem vorwaltenden
Einfluß des Nahrungstriebs, der Beifallsliebe, des Be—
kämpfungs- und Zerſtörungstriebes heranwuchs, wird als
Mann nicht nach den Eingebungen der moraliſchen Gefühle
handeln. Er wird die Gewohnheiten der Jugend in das
praktiſche Leben übertragen. Jedes Bedürfniß, jede
Schwäche, die ihm eigen ſind, werden ihm ſo viele Ringe
in der Sklavenkette des Lebens ſein. Nur wer entbehren
gelernt hat, nur wer ſich geſtählt hat gegen die Verſu—
chungen der Erde, nur wer den Schein von der Wahrheit
zu unterſcheiden weiß, mit anderen Worten: nur wer un—
ter dem herrſchenden Einfluſſe der höheren moraliſchen
284 Greifenalter.
Empfindungen und des Denkvermögens ſteht, wird im
Sinne der Freiheit und des Rechtes handeln. Wem die
Genüſſe der Erde dagegen zum Bedürfniß geworden, wer
nach Auszeichnung, Ruhm und Ehre ſtrebt, der mag
vielleicht, den Umſtänden nach, von Freiheit und Recht
ſprechen, er wird aber niemals für Recht und Freiheit
handeln. Denn würde Recht und Freiheit walten, ſo
könnte er nicht Ruhm und Ehre und Auszeichnung ge—
nießen. Der Kampf für Recht und Freiheit würde ihn in
ſeiner Behaglichkeit ſtören, würde alle ſeine Genüſſe ge—
fährden.
F. 54.
Greiſenalter.
Während der Mann noch nach außen wirkt, bereitet
ſich in ſeinem Innern ſchon ſeine Auflöſung vor. In den
Jahren der Jugend wurde jedes Körpertheilchen ſchnell er—
ſetzt, das die raſche Bewegung verbrauchte, und mehr als
erſetzt, im Mannesalter hielt ſich Erſatz und Verbrauch die
Wage; das Greiſenalter verbraucht mehr an Kraft und
Maſſe, als es zu erſetzen vermag. Der Körper ſchrumpft
zuſammen, oder ſetzt ſtörendes Fett ſtatt thatkräftiger
Muskel- und Nerventheile an; und mit dem Körper nimmt
der Geiſt in gleichem Maße ab. Zuerſt ſchwindet die
Thatkraft, dann das Gedächtniß, endlich die Faſſungsgabe,
während ſich beim Kinde dieſe verſchiedenen Gradationen
der Grundkräfte des Geiſtes in umgekehrter Ordnung nach
und nach entwickelt hatten. Die von Natur beſonders
ſchwachen oder im Laufe des Lebens beſonders geſchwächten
Theile des Körpers und Organe des Geiſtes ſchwinden
zuerſt dahin, bis eine Kriſis ſich bildet, oder das Oel der
Lebenslampe aufgezehrt iſt. Das jugendliche Alter ſtellte
einen Kampf der höheren menſchlichen Kräfte, der Faſſungs—
kraft, des Gedächtniſſes und der Thatkraft mit den Kräften
Greiſenalter. 285
der Natur dar. Dieſe wurden in demſelben Maße zurück—
gedrängt, als jene ſich mehr und mehr ausbreiteten. Im
Greiſenalter kämpft die phyſiſche Kraft gegen die orga—
niſche, letztere wird mehr und mehr unfähig, die phyſiſchen
Kräfte der Anziehung und Abſtoßung, der Schwerkraft
und Schwungkraft zu überwinden. Der Tod tritt ein in
dem Augenblicke, da die phyſiſchen Kräfte die organiſchen
beſiegen. Der Menſch wird, bei ſonſtiger Gleichheit der
Verhältniſſe am längſten leben, welcher von Kindheit an
jede ſeiner Kräfte in ihrer richtigen Unterordnung nach
Maßgabe ihres Stärkegrads geübt hat. Wer aber das
Verhältniß der Kräfte verkehrte, wer zum Herrſcher erhob
den geborenen Diener, wer ſich leiten ließ durch die ſinn—
lichen Triebe ſtatt durch das höhere Empfindungs- und
Denkvermögen wird den Tribut der Leidenſchaften durch
frühen Tod und Siechthum bezahlen; und wer ſeine Kräfte
nicht nach dem Maße ihrer Stärke, wer dieſelben über—
mäßig, ungleich oder zu wenig übte, wird an Erſchöpfung,
an theilweiſer Ueberſpannung oder an Erſchlaffung leiden
und ſterben. Wohl wird oft ſpät Abrechnung gehalten.
Allein jede Uebertretung eines Naturgeſetzes regiſtrirt ſich
von ſelbſt in den verſchiedenen Rubriken der menſchlichen
Organiſation ein, und am Tage der Abrechnung wird ſie
zählen, ſie habe vor dreißig, vierzig oder auch mehr Jah—
ren ſtattgefunden. Die Natur kennt keine Verjährung.
Wohl ſind die Geſetze der verſchiedenen Reiche der
Natur, wie Georg Combe in ſeinem Meiſterwerke über
das Weſen des Menſchen ſo trefflich nachgewieſen hat, von
einander unabhängig. Wohl hat die Uebertretung eines
phyſiſchen Geſetzes zunächſt nur eine phyſiſche, die Ueber—
tretung eines intellectuellen Geſetzes eine intellectuelle Folge
u. ſ. w., wie die Verletzung der Lunge zunächſt eine Lun—
genkrankheit, die Verletzung des Magens eine Magenkrank—
heit zur Folge hat. Allein die verſchiedenen Reiche der
Natur ſtehen in einem Verhältniſſe der Unterordnung. Die
phyſiſchen Geſetze werden bis zu einem gewiſſen Grade
286 Greifenalter.
überwunden durch die organifchen, die organifchen durch
diejenigen der höheren menſchlichen Natur. Die höher—
ſtehende dient der niedrigern Kraft zum Nahrungsquell—
Der Menſch vermag auch mit ſeinem Körper, mit ſeinen
thieriſchen Trieben und intellectuellen Vermögen mehr zu
leiſten, wenn ſie einen kräftigen Impuls von den mora—
liſchen Kräften erhalten, als wenn dieſer ausbleibt. Im
Kampfe der Nationen, wie der Individuen werden daher
bei ſonſtiger Gleichheit der Verhältniſſe immer diejenigen
den Sieg davon tragen, deren Beweggründe die hochher—
zigſten, deren Empfindungen die kräftigſten ſind. Daher
ſind die geknechteten Nationen immer ſo ſchwach den freien
gegenüber. Dieſe ſind der höchſten, jene nur niederer Be—
weggründe und Empfindungen fähig. Der Greis, der im
Laufe ſeines Lebens alle dieſe Wahrheiten verkannt hat,
wird am Rande ſeines Grabes mit trübem Blicke ſtehen.
Er wird ſeine Zwecke, welcher Art ſie auch ſeien, durch
ſeine eigenen Beſtrebungen untergraben ſehen. In dem—
ſelben Maße, als er für die Zwecke des Deſpotismus thätig
war, wird er die Keime ſeines Untergangs geſäet haben,
in demſelben Maße, als er ſeine eigene irdiſche Größe zu
befördern ſtrebte, wird er den allgemeinen Haß und die
allgemeine Verachtung auf ſich gezogen haben, und dieſe
beiden Gegner werden ihn früher oder ſpäter ſehr klein
machen.
II.
Ueber die Zustände der Familie.
$. 55.
Die Grundlage des Familienlebens bildet die Wahl des
Gatten. Wie niedrig ſind häufig die Beweggründe, welche
dieſe beſtimmen! Dieſelben geiſtigen Kräfte, welche bei
der Eingehung der Ehe wirkſam waren, werden ſich auch
im Laufe derſelben geltend machen. Wo der Erwerbstrieb,
die Beifallsliebe, das Selbſtgefühl und die Geſchlechtsliebe
die vorherrſchenden Elemente des Bundes ſind, da kann er
kein heiliger ſein, wenn auch der Prieſter den Segen dar—
über geſprochen hat, und er ein Sacrament genannt wird.
Nur wo die höheren moraliſchen und intellectuellen Kräfte
die Hauptelemente der Vereinigung bilden, während die
thieriſchen Triebe untergeordnete Haltpunkte bieten, hat die
Ehe einen innerlich heiligen Charakter.
Dieſelben geiſtigen Kräfte, welche die Eheleute zu—
ſammenführten, werden ſich im Laufe des ganzen ehelichen
Lebens, bei allen wichtigen Ereigniſſen geltend machen.
Sie werden Einfluß üben auf die Bildung des Kindes
noch vor ſeiner Geburt, auf deſſen Entwickelung in zarter
Kindheit, auf deſſen Erziehung im jugendlichen Alter. Sie
werden mehr oder weniger die äußeren Verhältniſſe, den
Lebensberuf und die geiſtige Richtung der Kinder beſtimmen.
Auf der Wahl der Ehegatten beruht daher mehr oder we—
288 Ueber die Zuſtände der Familie.
niger die Zukunft der Welt. Wer es daher mit ſich ſelbſt,
mit ſeinen zukünftigen Kindern, mit ſeinem Vaterlande,
mit der Menſchheit gut meint, der hüte ſich wohl vor nie—
deren Beweggründen bei dem wichtigſten Acte ſeines
Lebens: bei der Wahl des Gatten. Beſonders ſind die—
jenigen berufen, dieſes zu erwägen, welche ſo hoch geſtellt
ſind, daß ihnen die Blicke der Millionen zugewandt ſind.
Das Beiſpiel, welches ſie geben, die Beweggründe, welchen
ſie folgen, werden einen mächtigen Einfluß üben auf die
Maſſen, werden ſie irre leiten, wenn bös, werden ſie auf
die rechte Bahn führen, wenn gut.
Der Zweck der Ehe unterſcheidet ſich von allen übrigen
Verbindungen weſentlich dadurch, daß er auf Erzeugung
und Erziehung von Kindern gerichtet iſt. Dieſer Zweck
ſollte daher immer denjenigen vor Augen ſchweben, welche
ſie einzugehen geſonnen ſind. Er ſetzt voraus körperliche
und geiſtige Geſundheit und Sympathie beider Theile. Wo
eine dieſer Vorausſetzungen fehlt, kann der Zweck der Ehe
nur mangelhaft erreicht werden.
Man hat oft die Frage aufgeworfen, ob die Ehe na—
turgemäß ſei? Beſteht ſie doch ſelbſt bei ſehr vielen
Thieren. Die Taube, der Storch, der Fuchs, der Löwe
u. ſ. w. leben in der Ehe, d. h. in einer Verbindung der
eben bezeichneten Art, und zwar in der Monogamie, d. h.
in derjenigen Ehe, welche nur aus zwei Perſonen verſchie—
denen Geſchlechts beſteht, und beiden Theilen ein ausſchließ—
liches Recht auf einander für das Leben einräumt. Selbſt
bei vielen Thieren iſt die Ehe alſo naturgemäß. Beim
Menſchen iſt ſie es nicht minder. Denn ſie iſt das Reſul—
tat der Zuſammenwirkung der Organe der Kinderliebe, der
Anhänglichkeit, des Einheitstriebs, der Gewiſſenhaftigkeit,
des Wohlwollens, des Schlußvermögens und mehr oder
weniger der meiſten übrigen Organe. Wo die Kinderliebe
waltet, wird ſie bei denkenden Weſen ſchon für ſich allein
zur Ehe führen. Denn nur die Ehe ſichert den nachwach—
ſenden Generationen ihre Erziehung und ihre Zukunft.
*
Ueber die Zuſtände der Familie. 289
Wo die Anhänglichkeit ihre normale Thätigkeit entfaltet,
wird die Trennung von innig verbundenen Perſonen dieſen
Schmerzen bereiten. Nur die Ehe kann Eltern und Kin—
dern den Schmerz der Trennung erſparen, und die Freuden
innigen Vereins gewähren. Der Einheitstrieb concentrirt
die Gefühls- und Gedankenwelt auf einen Gegenſtand, wo
er naturgemäß waltet, muß er daher auch die Gefühle des
Mannes in einem Weibe, diejenigen des Weibes in einem
Manne concentriren. Dieſe an und für ſich ſchon fo mäd): .
tigen, und ſelbſt bei vielen Thieren zur Monogamie füh—
renden Triebe werden bei dem Menſchen durch die höheren
Empfindungen und das Denkvermögen, welche ihm eigen—
thümlich ſind, noch verſtärkt.
Die Ehe iſt alſo eben ſowohl naturgemäß, als ſie
durch die poſitiven Geſetze geheiligt iſt, und eben deshalb
ſollten Staat und Kirche ſie nach Kräften begünſtigen,
ſtatt, wie jetzt ſo häufig geſchieht, ihr Hemmniſſe in den
Weg zu legen. Jede Erſchwerung der Ehe ſchließt mehr
oder minder einen Anreiz zu naturwidriger Befriedigung
aller der durch die Ehe befriedigten Triebe in ſich. Da—
durch, daß man einem Menſchen die Ehe verbietet, nimmt
man aus ſeiner Seele nicht die Triebe heraus, die ihn zur
Ehe drängen. Sie wirken fort ungeachtet des Verbots,
und führen den Unglücklichen, welcher das Opfer des Ver—
bots iſt, auf Abwege weit ſchlimmerer Art, als diejenigen
ſind, zu welchen ſelbſt eine unvorſichtig eingegangene Ehe
leiten kann. Dennoch fordern noch heutzutage zwei Kirchen
ein mehr oder minder ausgedehntes Verſprechen der Ent—
ſagung von ihren Prieſtern und halten das von Nicht—
Prieſtern abgelegte Gelübde der Entſagung mit Zwangs—
gewalt aufrecht! Sie fordern, daß Menſchen die ihnen
von Gott verliehenen Kräfte unbenutzt laſſen ſollen. Kann
das Gott wohlgefällig ſein? Und unſere Staats-Verord—
nungen erſchweren ganzen Ständen, insbeſondere den Civil—
und Militär⸗Staatsdienern die Ehe, machen ſie ihnen durch
19
290 Ueber die Zuſtände der Familie.
ihre Einrichtungen oft geradezu unmöglich, und verbieten
ſie nicht ſelten ſogar unbedingt.
Allein die Geſetze der Natur ſind ſtärker, als diejenigen
der Menſchen. Jede Naturwidrigkeit hat andere in ihrem
Gefolge. Daher die Häuſer der Unzucht, die Maſſen un—
ehelicher Kinder, Selbſtmord und Verzweiflung.
Die Familienverbindung bildet die Grundlage aller
übrigen Verbindungen der Menſchen. Denn der Geiſt,
welchen ſie athmet, wird den Kindern ſchon mit der
Muttermilch eingeflößt, er wird ſie begleiten durchs ganze
Leben. Weil die Ehe im Orient eine deſpotiſche Verfaſſung
hat, werden ſich die geſelligen, ſtaatlichen und kirchlichen
Verhältniſſe dort niemals heben können, ſo lange dieſes
der Fall iſt. Im civiliſirten Europa ſind dem Manne
häufig durch das poſitive Geſetz, der Frau durch die Re—
geln des Anſtandes und der Mode viel zu große Rechte
eingeräumt. Daraus entſteht ein Misverhältniß, welches
bei den höheren Ständen namentlich zur Lüge und Heu—
chelei mit allen ihren unglückſeligen Folgen führt.
Der Zweck der Ehe, wie wir ihn oben angegeben,
ſollte die Grundlage aller poſitiven Geſetze, Gebräuche, Ge—
wohnheiten und Regeln des ehelichen Lebens bilden.
III.
Ueber die Zustände der verschiedenen
Menschen-Rassen.
$. 56.
Wenn wir die verſchiedenen Völker der Erde betrachten,
ſo finden wir unter denſelben eine große Verſchiedenheit
natürlicher Anlagen. Die Europäer haben von jeher ein
Streben nach moraliſcher und intellectueller Entwickelung
an den Tag gelegt. Künſte und Wiſſenſchaften wurden von
ihnen gepflegt. Ich brauche nur Namen zu nennen: Grie—
chen und Römer, und vor den letztern die Etrusker. Die
Völker Aſiens dagegen haben ſich nie auf eine ſolche Stufe
geiſtiger Entwickelung hinangeſchwungen. Ihre politiſchen
und kirchlichen Einrichtungen legen Zeugniß hiefür ab. Und
in welchem traurigen Zuſtande der Erniedrigung ſind die
Neger Afrikas jetzt, wie früher! Die Völker der neuen
Welt waren berufen, recht deutlich zu zeigen, daß dieſe
nationalen Verſchiedenheiten nicht die Folge verſchiedener
äußerer, klimatiſcher Verhältniſſe, ſondern die Folge inne—
rer Organiſation ſei, welche jedem äußern, noch ſo mäch—
tigen Einfluſſe widerſteht. Rings um die Urſtämme Ame—
rikas und Auſtraliens haben ſich europäiſche Stämme feſt—
geſetzt, welche europäiſche Bildung entwickeln. Sie haben
Städte gebaut, Wälder und Sümpfe urbar gemacht, Schu—
len eröffnet und Bücher gedruckt. Allein die Ureingebornen
*
292 Ueber die Zuſtände der verſchiedenen Menſchenraſſen.
nehmen keinen Theil an dieſen Fortſchritten der Civiliſation.
Treu der ihrer innern Organiſation entſprechenden Lebens—
weiſe, unfähig, den Verſuchungen der Civiliſation zu wi—
derſtehen, gehen ſie unter in einem Kampfe, dem ſie nicht
gewachſen ſind.
Wo die Völker ſich nur einigermaßen unvermiſcht er—
halten haben, finden wir dieſelben Charakterzüge, ungeach—
tet der Verſchiedenheit der Verhältniſſe, trotz dem Laufe
der Zeit. Die Sümpfe Deutſchlands ſind ausgetrocknet,
die Druiden-Haine Galliens ſind gefallen, Britannien iſt
zur Königin der See geworden, und dennoch paſſen noch
auf die Bewohner dieſer Länder die Worte, mit welchen
Tacitus vor bald zwei Jahrtauſenden die Deutſchen, die
Gallier und die Briten beſchreibt.
In der That muß bei näherer Prüfung der Gedanke
geradezu widerſinnig erſcheinen, als ob der Menſch ſeine
Beſtimmung in der Hauptſache von außen erhalte, denn
dann wäre er in der Hauptſache kein ſelbſtthätiges, ſondern
von äußern Verhältniſſen abhängiges Weſen. Daß äußere
Verhältniſſe auf die Entwickelung des Menſchen wirken, iſt
nicht zu leugnen. Nur ſoll die Folge nicht zur Urſache
erhoben werden. Vor der erhöhten Thatkraft und Betrieb—
ſamkeit der Europäer ſind die Wildniſſe Amerikas zurück—
gewichen. Die Europäer ſind durch ſie nicht wild, ſondern
die Wildniſſe ſind durch die Europäer urbar gemacht wor—
den. Es pflanzen ſich die Menſchenſtämme mit ihren Ei—
genthümlichkeiten fort, wie die Thier-Raſſen, und eine die—
ſer bedeutungsvollſten Eigenthümlichkeiten iſt einerſeits die
geiſtige Beſchaffenheit und andrerſeits die ihr entſprechende
Organiſation des Gehirns. Eine genaue Prüfung und Ver—
gleichung der Schädel der verſchiedenen Völker der Erde
hat die Wahrheit der Phrenologie in ein glänzendes Licht
geſtellt. Denn es trifft der bekannte Charakter eines
Volks zuſammen mit dem Charakter, welcher ſich ergiebt
aus einer phrenologiſchen Prüfung ſeiner durchſchnittlichen
Schädel.
Ueber die Zuſtände der verſchiedenen Menſchenraſſen. 293
In verſchiedenen phrenologiſchen Werfen ') find Cha:
rafterbildung und Gehirnbildung von vielen Völkern ver:
glichen worden. Hier erlaube ich mir, nur auf zwei Ge—
ſichtspunkte aufmerkſam zu machen: die politiſche und kirch—
liche Geſtaltung Europas in ihrem Verhältniß zu Kopf—
bildung und Charakterbildung feiner Hauptbeſtandtheile.
Die beiden Raſſen, welche ſämmtliche Völker Europas
von höherer politiſcher Thätigkeit bilden, ſind die ger—
maniſche und die celtiſche; die Gehirnbildung derſelben
unterſcheidet ſich unter andern Verſchiedenheiten haupt—
ſächlich dadurch, daß die germaniſche Gehirnbildung das
Organ der Ehrerbietung ſtärker und dasjenige der Anhäng—
lichkeit ſchwächer, die Organe des Denkvermögens verhält—
nißmäßig größer und diejenigen der Beobachtung kleiner
beſitzt als die celtiſche Raſſe. Dieſe Gehirnbildung ſtimmt
vollkommen überein mit der Charakterbildung der germani—
ſchen und celtiſchen Völker. Die ſtärkere Entwickelung des
Organs der Ehrerbietung knüpfte die deutſchen Völkerſchaf—
ten beſonders feſt an ihre Fürſten. Die ſtärkere Entwicke—
lung des Organs der Anhänglichkeit auf der andern Seite
verband die celtiſchen Völkerſchaften feſter an ihres Gleichen.
Die Folge davon war, daß die deutſchen Völkerſtämme,
welche ſich an ihre Fürſten anklammerten, ihre Schickſale
mehr oder weniger abhängig machten von denjenigen ihrer
Fürſten, daß ſie bis zum heutigen Tage keine feſte Cen—
tralgewalt beſitzen, während die celtiſchen Völkerſchaften
ſich von ihren Fürſten wenigſtens inſofern unabhängig mach—
ten, als ſie denſelben keine der nationalen Entwickelung
widerſtrebende Gewalt einräumten.
Nicht minder bezeichnend iſt das Wechſelverhältniß
zwiſchen Kopfbildung und Charakterbildung bei der kirch—
lichen Geſtaltung unſerer Zuſtände. Die chriſtliche Welt
1) Die Phrenologie in und außerhalb Deutſchland von Guſtav
v. Struve $. 8. A System of Phrenologie by C. Combe. Vol. II.
p. 327 ss.
294 ueber die Zuftände der verſchiedenen Menſchenraſſen.
Europas zerfällt in drei Glaubensbekenntniſſe, jedem der—
ſelben entſpricht eine Raſſenverſchiedenheit. Die griechiſch—
katholiſche Religion wird von dem flavifchen Stamme, die
römiſch-katholiſche von dem celtiſchen, romaniſchen oder lateini—
ſchen Stamme, und endlich die proteſtantiſche Religion von dem
germaniſchen Stamme bekannt ). In demſelben Maße, als
ſich dieſe Stämme rein, ungemiſcht und von fremdem Einfluß
frei gehalten haben, in demſelben Maße iſt auch das ent—
ſprechende Glaubensbekenntniß ausſchließend allgemein. In
demſelben Maße dagegen, als die Raſſen ſich vermiſcht und
fremde Einwirkungen geltend gemacht haben, iſt auch das
Glaubensbekenntniß der chriſtlichen Völker gemiſcht. Irland
z. B. wird, der großen Maſſe ſeiner Bevölkerung nach,
von Celten bewohnt und iſt katholiſch; die Einwanderer aus
England ſind germaniſchen Urſprungs und proteſtantiſch.
Dänemark, Norwegen und Schweden ſind von rein germa—
niſchen Völkerſchaften bewohnt und in dieſen Ländern iſt
der proteſtantiſche Glaube durchaus vorherrſchend. Frank—
reich enthält 4 Millionen Proteſtanten und 28 Millionen
Katholiken. In ganz ähnlichem Verhältniſſe ſteht die Zahl
der eingewanderten Franken und der galliſch-celtiſchen Ur—
einwohner.
Die politiſche und die kirchliche Geſtaltung der Völker
hat ihre Urſachen, ſie ſind nichts anderes als die geiſtigen
Anlagen derſelben, und dieſe ſprechen ſich hinwiederum in
der Gehirn- oder Kopfbildung aus.
J) Zeitſchrift für Phrenologie Bd. II. H. J. Nr. V.
Seiler
praktiſcher Theil.
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Ein leitung.
Die Phrenologie iſt, wie ſich aus den bisherigen Ausfüh—
rungen ergiebt, die eigentliche Wiſſenſchaft der Menſchen—
kenntniß, und inſofern muß ſie nothwendig von der höch—
ſten praktiſchen Bedeutung ſein. Denn alle Wirkſamkeit
der Menſchen wird durch Menſchen vermittelt. Wer es
verſteht, die Menſchen zu lenken, iſt ihr Herrſcher; Nie—
mand wird aber dieſes vermögen, der ſie nicht kennt. In—
ſofern beruht alle Macht auf Menſchenkenntniß. Je raſcher
und je tiefer ein Menſch in die Falten des Herzens ſeiner
Mitmenſchen zu blicken im Stande iſt, je beſtimmter er die
Geſetze kennt, nach welchen die Bewegungen des innern
Lebens ſich entwickeln, deſto mehr Einfluß wird er ſich über
deren geiſtige Welt erwerben.
Die Phrenologie giebt die Mittel an die Hand, die
Menſchen auf den erſten Blick wenigſtens in ihren Grund—
zügen zu erkennen. Das Temperament, die Geſundheits—
verhältniſſe und das Alter laſſen ſich nicht verhüllen, eben—
ſowenig die Bildung des Kopfes in ſeinen allgemeinen Um—
riſſen. Die Frage, welche der drei Regionen: diejenige der
thieriſchen Triebe, der Empfindungen oder der intellectuellen
Kräfte vorherrſcht, läßt ſich durch den bloßen Anblick des
unbedeckten Kopfes, ungeachtet jedes nicht ganz ungewöhn—
lichen Haarſchmucks, ohne Befühlen erkennen. Beſonders
ſtark entwickelte Organe, ſowohl des Vorder- als des Hin—
298 Einleitung.
terfopfs werden ſich auch einzeln dem geübtern Phrenolo-
gen leicht bemerklich machen. Die Organe des Vorderkopfs
ſind allerdings auf der einen Seite, wegen ihres kleinern
Umfangs, ſchwerer zu erkennen, als diejenigen des übrigen
Theils des Kopfs; allein dafür ſind ſie von Haaren nicht
bedeckt und im Geſpräche dem Auge immer zugewendet.
In ſolcher Weiſe gleicht ſich die Schwierigkeit der Beob—
achtung der verſchiedenen Organe ziemlich aus. In demſel—
ben Maße, als ein Organ kleiner, iſt es den Blicken zu—
gänglicher.
Die Elemente des ganzen geiſtigen Lebens: Tempera—
ment, Alter, Geſundheitsverhältniſſe, Gehirn-Organiſation
ſind vor dem geübtern Phrenologen im gewöhnlichen Ver—
kehre des Lebens gar nicht zu verbergen, und bieten ihm
ſchon reichen Stoff des Nachdenkens und phrenologiſcher
Beurtheilung. Ein genaueres Eingehen in die Einzelnhei—
ten eines Charakters ſetzt übrigens voraus, daß man jedes
einzelne Organ mit möglichſter Beſtimmtheit meſſe, was in
der Regel nur durch Befühlen des Kopfs geſchehen kann.
Mit den obengenannten Elementen iſt indeß dem Phre—
nologen nur das Material ſeiner Beurtheilung gegeben.
Seine Sache iſt es, daſſelbe wohl zu verwenden und zu
verarbeiten. In dieſer Rückſicht iſt die Lehre von den Com—
binationen“ von der höchſten Wichtigkeit.
Jedes einzelne Organ hat ſeinen eigenen Entwickelungs—
gang und läßt die Spuren ſeiner Wirkſamkeit oder ſeiner
Geſchichte in leſerlichen Zügen auf dem Körper eingeſchrie—
ben zurück. Der geübte Phrenologe iſt daher auch im Stande,
einen Blick auf die Vergangenheit der Menſchen zu werfen,
welche er unterſucht, nicht blos die geiſtige Beſchaffenheit
der Gegenwart zu ergründen; und da die Zukunft nichts
anderes als die nach ewigen Geſetzen ſich entwickelnde Folge
der Vergangenheit und Gegenwart iſt, ſo wird auch ſie ſich
den Blicken des phrenologiſchen Forſchers nicht verhüllen!).
I) ©. oben $. 45. i
2) Dr. Caſtle hat dieſes in feinen werthvollen Kopf-Unterſuchun—
Einleitung. 299
So weit führt uns fihon die äußere Seite unferer
Lehre: die Phrenologie als Kranioſkopie, als Kunſt be—
trachtet. Allein noch weit bedeutungsvoller wird ſie, wenn
wir ſie als Wiſſenſchaft betrachten. Dann tritt der einzelne
Menſch in den Hintergrund, und die Menſchheit, die Men—
ſchennatur überhaupt erſcheint uns als ihr eigentlicher Ge—
genſtand. Als Wiſſenſchaft lehrt uns die Phrenologie die
Verrichtungen des Gehirns oder die geiſtigen Vermögen der
Menſchheit, die Geſetze, unter deren Einfluß ſie in Thätig—
keit treten und folgeweiſe die Elemente der geiſtigen Entwicke—
lung der Menſchheit, deren naturgemäßen Entwickelungs—
gang und die Mittel kennen, dieſen zu fördern. Von dieſem
Standpunkte aus betrachtet iſt die Phrenologie die höchſte
aller Wiſſenſchaften, denn ſie beſchäftigt ſich mit dem höch—
ſten Gegenſtande menſchlicher unmittelbarer Betrachtung in
umfaſſendſter und tiefeingreifendſter Weiſe.
Sie verleiht allen Wiſſenſchaften und Künſten, welche
ſich mit dem Menſchen beſchäftigen, ihr eigentliches Lebens—
element, da ſie uns die Grundſätze an die Hand giebt, von
welchen fie auszugehen haben. Die Erziehungswiſſenſchaft,
die Kunſt, die Geſchichte der Menſchheit, die Heilkunde, die
Moral, die Rechtswiſſenſchaft und die Gottesgelahrtheit
erhalten durch ſie ihre philoſophiſchen Elemente, denn nur
die Erforſchung der Menſchennatur verleiht ihnen einen ächt
wiſſenſchaftlichen Charakter. Doch nicht blos die Wiſſen—
ſchaft, auch das alltägliche Leben wird ſich des Lichtes er—
freuen, welches ſie bietet.
Eine Wiſſenſchaft, welche ſich nicht gründet auf Beob—
achtung, ſondern der Hauptſache nach das Werk der Spe—
gen aufs ſchlagendſte dargethan. S. Zeitſchr. für Phrenologie Bd. 1.
H. 3. S. 405 ff. Phrenologiſche Analyſe des Charakters des Hrn.
Dr. Juſtinus Kerner von Dr. Caſtle. Bei dieſen Unterſuchungen finde
ich nur eines zu beklagen, daß die einzelnen Organe nicht genau ge—
nug ihrer Größe nach bezeichnet ſind. Dieſes kann nur durch Zahlen,
nicht durch Worte geſchehen.
*
300 Einleitung.
culation iſt, muß nothwendig zu Widerſprüchen zwiſchen
ihren Begriffen und den Erſcheinungen des wirklichen Le—
bens führen. Die Kräfte, welche die alte Schule der See—
lenlehre für Grundkräfte der Seele ausgiebt, ſind, wie wir
geſehen haben!), keine ſolchen. Sie giebt uns über die ei—
gentlichen Elemente des Seelenlebens durchaus keinen Auf—
ſchluß, ſie iſt nur geeignet, uns in dieſer Rückſicht irre zu
führen.
Bei dem Mangel aller wiſſenſchaftlichen Klarheit, welche
das Alltagsleben hätte erhellen mögen, hat ſich in dieſes
die allerheiloſeſte Verwirrung eingeſchlichen. Die Phreno—
logie allein kann dieſer ein Ziel ſetzen. Jetzt macht Jeder—
mann mit pſychologiſchen Begriffen rein, was ihm in den
Sinn kommt. Mit deren Hülfe weiß jeder Heuchler ſein
Laſter zu übertünchen, jeder eitle Menſch ſich zu ſchmücken,
jeder Dummkopf geſcheit zu ſprechen. Der Dialektiker be—
weiſt mit ihrer Hülfe die größten Irrthümer, der Redner
bringt mit denſelben die größten Erfolge hervor; allein daß
bei alle dem eine babyloniſche Verwirrung herrſcht, iſt Nie—
mandem eingefallen. So wenig als den Begriffen die Er—
ſcheinungen des wirklichen Lebens entſprechen, ſo wenig
ſtehen Wort und Begriff in feſter Verbindung. Der Eine
verknüpft dieſen, der Andere jenen Begriff mit den Worten
Empfindung, Urtheilskraft und Vernunft. Alle glauben
ſchon viel gethan zu haben, wenn ſie ſich über die Begriffs—
beſtimmung eines Worts verſtändigen. Selbſt dieſes ge—
ſchieht nur ſelten. Jede Schule hat ihre eigenen Kunſt—
wörter. Aber Niemand hat ſich die Mühe gegeben, zu
unterſuchen, ob, wenn auch zu dem Worte der Begriff, auch
ſeinerſeits der Begriff wiederum zu den Erſcheinungen des
Lebens paßt?
Wie viel wird geſprochen über das Wort: Liebe! Der
junge Mann, welcher in einem zweideutigen Verhältniſſe
mit einer Griſette ſteht, der ältere Mann, welcher ſich eine
1) S. oben $. 45. ®
—
Einleitung. 301
Maitreſſe hält, ſprechen beide von Liebe. Die Mutter,
welche ihr Kind verhätſchelt, ſich aber ſonſt um die Leiden
keines andern Menſchen kümmert, rühmt ſich der Liebe zu
ihrem Kinde. Iſt jener Wollüſtling, iſt dieſe Mutter in
demſelben Maß ein liebendes Weſen, in welchem ſie für
ihre Geliebte, für ihr Kind fühlen? Keineswegs! Trotz
der Stärke dieſer Gefühle, können ſie hartherzige, liebloſe
Menſchen ſein. Die Liebe des Wollüſtlings zu ſeiner
Griſette oder ſeiner Maitreſſe iſt nichts anderes als Ge—
ſchlechtstrieb, welchen er mit jedem andern Thiere, dem
Hengſte und dem Stiere gemein hat. Die Liebe der Mut—
ter zu ihrem Kinde iſt daſſelbe Gefühl, welches auch die
Tigermutter für ihr Junges hegt. Wohl werden dieſe bei—
den niedern Triebe mit demſelben Worte bezeichnet wie die
chriſtliche Liebe, welche langmüthig und freundlich iſt, nicht
eifert, nicht Muthwillen treibt, ſich nicht blähet, ſich nicht
ungeberdig ſtellt, nicht das Ihre ſucht, ſich nicht erbittern
läßt und nicht nach Schaden trachtet; die Alles verträgt,
Alles glaubt und Alles duldet. Allein ſie ſind von ihr
doch weſentlich verſchieden, und die Gleichheit des Worts
führt nur zu abſichtlichen und unabſichtlichen Misverſtänd—
niſſen, zu Beſchönigungen aller Art, kurz zu verderblicher
Unwahrheit.
Der Spießgeſelle des Mörders und Räubers, welcher
dieſem auf ſeiner verbrecheriſchen Bahn folgt, der Gefährte
des wüſten Lebens eines leichtfertigen Jünglings, welcher
durch Dick und Dünn mit dieſem geht, ſprechen Beide von
Freundſchaft und Treue, und glauben durch dieſe Worte
ihr Feſthalten an ihrem böſen Principe zu rechtfertigen. Ein
Feſthalten, eine Anhänglichkeit dieſer Art beſitzt auch der in
Heerden lebende Wolf und der Affe, der mit ſeinen Ge—
fährten auf Beute auszieht. Auf den heiligen Namen der
Freundſchaft hat die Anhänglichkeit nur dann Anſpruch, wenn
ſie ſich auf höhere Zwecke bezieht, als ſolche, welche auch
das Thier verfolgt.
Der Soldat rühmt ſich ſeines Muthes in der Schlacht,
302 Einleitung.
der Student ſeines Muthes auf der Menſur. Allein auch
der Löwe kämpft mit Muth, auch der Adler mit Uner—
ſchrockenheit. Sollte der Menſch nicht mehr ſein wollen als
ein reißendes Thier? Er wird es nur durch den Gegen—
ſtand, der ihn in den Kampf führt. Wenn er für Recht
und Freiheit gegen Unrecht und Unterdrückung in ſelbſtbe—
wußten Kampf geht, dann erhebt er ſich wohl über das
Thier. Ein höheres Gefühl, ein edlerer Gedanke leitet ihn.
Allein wenn er ſich zum Schergen der Tyrannei verdingt,
ſinkt er unter das Thier herab, welches ſeine wilden Kräfte
des Kampfes und der Zerſtörung doch nur nach eigenem
Bedürfniß, nicht auf den Wink des Deſpoten walten läßt.
Der Geſchäftsmann thut ſich etwas zu Gute auf ſeine
Liſt, ſeine Verſchlagenheit und ſeine Schlauheit. Allein
auch der Fuchs iſt liſtig, auch die Schlange iſt falſch. Wird
die Gabe der Verheimlichung der innern Bewegungen der
Seele durch ihren Zweck nicht geadelt, ſo bekundet ſie nur
das Walten eines Triebs, den der Menſch mit den niedern
Thieren gemein hat.
Auch die Biene und die Ameiſe ſammeln ſich Vorräthe
für die Bedürfniſſe ihres Lebens. Der Menſch erhebt ſich
in dieſer Rückſicht dann nur über ſie, wenn die höheren
Gefühle der Gewiſſenhaftigkeit, des Wohlwollens u. ſ. w.
ihn bei dem Erwerb und bei dem Verbrauche leiten.
Welcher Misbrauch wird mit dem Worte „Ehre“ ge—
trieben! Die Studenten-Ehre verlangt Unterwerfung un—
ter den Sauf- und Pauk-Comment, die Zunft-Ehre An—
erkennung der Zunft-Misbräuche, die Soldaten-Ehre blin—
den Gehorſam. Der Knecht dieſer Ehre wird zum Mörder,
zum Unterdrücker des anſtrebenden Genies, zum Schergen
des Deſpotismus! Gott behüte und bewahre uns vor ei—
ner ſolchen Ehre! Dieſe Ehre iſt nichts anderes als der
Ausfluß der Beifallsliebe ohne Rückſicht auf die höheren
Organe der Gewiſſenhaftigkeit, der Ehrerbietung und des
Wohlwollens. Dieſe Ehre ſteht gleich mit der Ehre, welche
man dem Stiere anthut, indem man ihn auf dem Wege
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben. 303
zur Schlachtbank mit Blumenkränzen ſchmückt, oder mit
der Ehre, welche man dem Affen erzeigt, indem man ihm
ein paar Lappen umhängt, wenn er die Menge beluſtigen ſoll.
Alle dieſe Verkehrtheiten ſind die Folgen einer voll—
kommenen Unklarheit über die Bedürfniſſe des Seelenlebens,
ſeine Mittel und ſeine Zwecke. Wenn die Elemente des
Seelenlebens allgemein bekannt wären, wenn ſich die Men—
ſchen daran gewöhnten, ihre eigenen Handlungen und die—
jenigen ihrer Umgebungen auf ſolche zurückzuführen, wenn
ſie ſich der Rangordnung bewußt würden, in welcher die
verſchiedenen Kräfte der Seele ſtehen, könnten ſie unmöglich
ſo offenkundig, ſo ſchreiend den Geſetzen der Natur wider—
ſtreben, als ſie es thun; könnten ſie ſich unmöglich einer
Lebensweiſe rühmen, welche ſie unter das Thier herab—
würdigt.
Die Aufgabe der Phrenologie iſt es, an die Stelle
dieſer maßloſen Verwirrung Klarheit zu ſetzen.
$ 58.
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniß zum
Leben.
Es giebt eine Geſundheitslehre für den Geiſt, wie es
eine für den Körper giebt. Die Erſcheinungen des geiſti—
gen Lebens ſind eben ſowohl durch geiſtige Geſetze geordnet,
als diejenigen des körperlichen Lebens. Eben ſo wichtig als
es für den Menſchenkörper iſt, zu erkennen, was die Kör—
pergeſundheit befördert und was ihr Gefahr droht, eben
ſo wichtig iſt es für den Menſchengeiſt, dieſes für die gei—
ſtige Geſundheit zu erkennen. Wenn wir wiſſen, nach wel—
chen Geſetzen der Körperwelt die Erſcheinungen derſelben
ſich entwickeln, ſo ſind wir im Stande, deren Entwickelungs—
gang nicht nur vorherzuſehen, ſondern auch auf ihn einzu—
wirken. Die Geſetze des Galvanismus, der Dampfkraft,
der Elektricität u. ſ. w. bieten uns bedeutungsvolle Beifpiele.
304 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben.
Nur dadurch, daß wir die dieſe Materien beherrſchenden.
Geſetze kennen lernten, vermochten wir es, uns die in deren
Bereiche ſich entwickelnden Erſcheinungen zu erklären, und
uns die gewaltigen Kräfte, die ſie enthalten, zu nutze zu
machen. Ganz gerade ſo verhält es ſich mit den Erſchei—
nungen des geiſtigen Lebens. Nur wer die Geſetze kennt,
unter deren Herrſchaft ſie ſtehen, wird ſie zu erklären und
auf ſie einzuwirken lernen. Allerdings wußten wir bis
jetzt von denjenigen Geſetzen, welche dem Menſchen am
nächſten liegen, von den Geſetzen, auf welchen ſeine ganze
Exiſtenz beruht, am allerwenigſten. Allein mit der Hülfe
der Phrenologie können wir hoffen, mehr und mehr Licht
über dieſe Grundpfeiler unſres Daſeins zu verbreiten.
Jede phyſiſche Kraft hat einen Gegenſtand, welcher
ſie in Thätigkeit ſetzt. Das Eiſen weckt die im Magnet
ſchlummernde magnetiſche Kraft. Eine Elektriſir-Maſchine
zeigt uns, in welcher Weiſe wir die Kräfte der Elektricität
zu entwickeln vermögen. Eine galvaniſche Säule, von Men—
ſchenhänden erbaut, macht uns die galvaniſche Kraft dienſt—
bar u. ſ. w. In vollkommen gleicher Weiſe hat auch jede
Kraft des Menſchengeiſtes ihre eigenthümlichen, ſie zur
Wirkſamkeit auffordernden Gegenſtände. Der weibliche Kör—
per reizt den Geſchlechtstrieb des Mannes, Speiſen den
Nahrungstrieb des Menſchen, Kinder die Kinderliebe der
Eltern, die erhöhte Bedeutſamkeit des Augenblicks den Ein—
heitstrieb, die Nähe des Freundes und des Gefährten die
Anhänglichkeit, Widerſpruch und Angriff den Bekämpfungs—
trieb, der Anblick die Erinnerung, und noch mehr die
Beſorgniß von Verderben und Untergang den Zerſtörungs—
trieb, Heimlichkeiten regen den Verheimlichungstrieb und
werthvolle Gegenſtände der Körperwelt den Erwerbtrieb an.
Der Stolz ruft das Selbſtgefühl, das Lob die Beifalls—
liebe, Gefahren die Sorglichkeit zur Thätigkeit auf. Das
Unglück ſpricht zum Wohlwollen, das Erhabene zur Ehr—
erbietung, das Dauernde zur Feſtigkeit, Wahrheit und Recht
zur Gewiſſenhaftigkeit. Die Zukunft iſt die Wiege der Hoff—
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben 305
nung, das Unerklärliche, Großartige treibt uns zur Bewun—
derung, das Schöne in allen ſeinen tauſendfältigen Ge—
ſtalten regt unſern Schönheitsſinn an. Die Werke mecha—
niſcher Kunſtfertigkeit ſpornen unſern mechaniſchen Kunſtſinn,
das Komiſche unſern Witz, alles Auffallende unſer Nachah—
mungstalent, ſymmetriſche Verhältniſſe unſern Ordnungsſinn,
Töne unſern Tonſinn, Worte unſern Sprachſinn zur Reg—
ſamkeit. Die Einzelnheiten der körperlichen Erſcheinungen
wirken auf unſern Gegenſtandſinn, Geſtalten auf unſern
Geſtaltſinn, Größenverhältniſſe auf unſern Größenſinn, ört—
liche Verhältniſſe auf unſern Ortſinn, die Schwerkraft mit
allem, was ſie entwickelt, auf unſern Gewichtſinn, Farben
auf unſern Farbenſinn. Das Rollen des Zeitenſtroms weckt
unſern Zeitſinn, die Ereigniſſe, welche wir erleben, unſern
Thatſachenſinn, die Zahlen unſern Zahlenſinn. Die Ver⸗
gleichungsgabe wird durch Gegenſtände aller Art, welche
einen Gegenſatz mehr oder weniger deutlich ausſprechen, das
Schlußvermögen durch Gegenſtände, welche im Verhältniß
von Urſache und Wirkung ſtehen, zur Thätigkeit angeregt.
In demſelben Maße, als übrigens dieſe Gegenſtände in
untrennbarer Vereinigung uns entgegentreten, werden ſie
auch die entſprechenden geiſtigen Kräfte zu vereinigter Thä—
tigkeit auffordern, und in demſelben Maße, als die ange—
ſprochenen Kräfte ſtark und die anſprechenden Gegenſtände
bedeutungsvoll ſind, wird auch die Thätigkeit dieſer Kräfte
ſich ſteigern, oder im umgekehrten Falle ſich vermindern.
Die Lehre von dem Parallelogramme der Kräfte, d. h. die
Lehre, daß verſchiedene zuſammenwirkende Kräfte im Ver—
hältniß ihrer Stärke zu dem Reſultate, das ſie hervorru—
fen, oder zu der Richtung ihrer Wirkſamkeit beitragen, fin—
det bei den geiſtigen wie bei den phyſiſchen Kräften ſeine
Anwendung.
Wenn wir uns im Umgang mit uns ſelbſt und im
Verkehr mit unſern Nebenmenſchen dieſer Grundſätze immer
bewußt ſind, wenn wir dieſelben naturgemäß immer zur
Anwendung bringen, wenn wir namentlich Rückſicht neh—
20
306 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben.
men auf das wechſelſeitige Verhältniß der verſchiedenen Geiſtes—
kräfte unter einander, ſo werden wir als ſelbſtbewußte, freie
Menſchen handeln; im entgegengeſetzten Falle ſind wir, um
mit Shakeſpeare zu ſprechen, nur Schwämme, welche von
Andern ausgedrückt werden.
Wenn wir erkennen, dieſer oder jener Menſch bezweckt,
unſere Beifallsliebe, unſere Eitelkeit, unſer Selbſtgefühl,
unſern Stolz rege zu machen, ſo werden wir nicht in die
uns gelegte Schlinge treten, wohl aber, wenn wir dieſes
nicht erkennen. Die Thätigkeit jeder geiſtigen Kraft hat
aber eben ſowohl ihre beſtimmten Merkmale, als die Thä—
tigkeit irgend einer phyſiſchen Kraft. Kennen wir dieſe
Merkzeichen, ſo ſind wir im Stande, ſie zu beherrſchen, ſie
zu lenken und zu leiten. Kennen wir ſie nicht, ſo werden
wir nur allzu leicht durch die auf uns wirkenden, uns ihrer
Natur nach unbekannten Kräfte geleitet und gelenkt. Wem
es daher um ſeine geiſtige Freiheit zu thun iſt, der gebe
ſich die Mühe, die Merkmale der Thätigkeit der verſchiede—
nen geiſtigen Kräfte eben ſo gut kennen zu lernen, als die
Natur der Gegenſtände, welche die verſchiedenen Kräfte in
Thätigkeit rufen.
Wie häufig wird jetzt ein geiſtiger Blitz in ein geiſti—
ges Pulverfaß geſchleudert, weil man J) nicht weiß, daß
das Faß Pulver enthält, 2) daß das, was man ſchleudert,
ein Blitz iſt, 3) daß der Blitz das Pulver entzündet.
Nachdem wir die Gegenſtände der verſchiedenen geiſti—
gen Kräfte bezeichnet haben, wollen wir nunmehr auf die
Merkmale ihrer Thätigkeit aufmerkſam machen. Dieſelben
ſind im erſten Theile dieſes Werks bei Gelegenheit der Be—
ſprechung der verſchiedenen Organe ſo genau beſchrieben wor—
den, als es der jetzige Stand der Wiſſenſchaft erlaubt.
Nur wer daher alle die dort angegebenen äußerlichen und
innerlichen Merkmale der verſchiedenen geiſtigen Kräfte ſich
vollkommen angeeignet hat, wird im Stande ſein, aus den
Merkmalen auf die Natur der ſie erzeugenden Kräfte zu
ſchließen und demgemäß zu handeln.
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben. 307
Der Geſchlechtstrieb thut ſich kund durch Geberden und
Handlungen der Sinnlichkeit, die Kinderliebe durch Zärt—
lichkeit gegen Kinder und ähnliche ſchwache Geſchöpfe, der
Einheitstrieb durch Geiſtesgegenwart, die Anhänglichkeit
durch treues Feſthalten an den Genoſſen, der Bekämpfungs—
trieb durch Kämpfe, der Zerſtörungstrieb durch Zorn, Grimm
und Bitterkeit; der Verheimlichungstrieb durch krumme
Wege; der Erwerbtrieb durch Streben nach Beſitz, der
Nahrungstrieb durch Luſt an Eſſen, Trinken, Rauchen u. ſ. w.
Das Selbſtgefühl thut ſich kund durch Stolz, die Beifalls—
liebe durch Eitelkeit, die Sorglichkeit durch Furcht, das
Wohlwollen durch Mildthätigkeit, die Ehrerbietung durch
Anbetung und Verehrung, die Feſtigkeit durch Ausdauer,
die Gewiſſenhaftigkeit durch rechtſchaffenes Betragen, die
Hoffnung durch Erwartung einer heitern Zukunft, der Sinn
für das Wunderbare durch Bewunderung des Unerklärlichen,
das Schönheitsgefühl durch Entzücken an den Erſcheinun—
gen der Schönheit.
Nur dadurch, daß man die Bewegungen des Seelen—
lebens auf dieſe Elemente zurückführt, wird man in den
Stand geſetzt, ſie richtig zu würdigen und auf ſie entſpre—
chend einzuwirken.
Eine vielfach beſtätigte Beobachtung iſt es dabei na—
mentlich, daß wir eine Reihe von Empfindungen mit dem
Gedanken beginnen, der Andere, mit dem wir es gerade
zu thun haben, hege dieſelben, z. B. er ſei ſtolz gegen uns,
er wolle uns zu nahe treten, er widerſpreche uns, er wolle
ſich rächen u. ſ. w. Dieſer Gedanke bildet ſofort einen
Gegenſtand, welcher die entſprechenden Gefühle in uns ſelbſt
zur Thätigkeit ruft; jedes erwachende Gefühl bietet wie—
derum einen neuen Gegenſtand derſelben Geiſteskraft, und
ſo ſteigert ſich die Thätigkeit derſelben, bis ſie entweder
ermüdet, oder andern geiſtigen Kräften Gegenſtände gebo—
ten werden, welche dieſe zu einer Thätigkeit auffordern, in
deren Folge die erſtere Kraft zur Ruhe kommt.
So klar dieſes ſcheint und ſo unzweifelhaft wahr es
20 *
308 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben.
iſt, ſo wenig hat man alles dieſes im praktiſchen Leben
anerkannt. Der Prieſter, welcher einen anders Glaubenden
mit Bitterkeit verfolgt, rühmt ſich ſeiner Rechtgläubigkeit;
der Tyrann, welcher ſeine Unterthanen zu Boden drückt,
ihnen weder zu reden noch zu ſchreiben vergönnt nach ihrer
innern Ueberzeugung, ſpricht von dem Schutze, den er der
Freiheit gewährt; der Feigling, der nicht die Kraft hat, ſich
einem herrſchenden Vorurtheil entgegenzuſtemmen, rühmt
ſich ſeines Muthes, wenn er ihm fröhnt u. ſ. w. Die Phre—
nologie lehrt ganz deutlich: Verfolgung und Bitterkeit ſind
Symptome des Zerſtörungstriebs, die Unterdrückung der
Freiheit Anderer iſt ein Ausfluß des Selbſtgefühls, wer
einem Vorurtheile aus Rückſicht für die öffentliche Meinung
fröhnt, handelt unter dem Einfluſſe der Beifallsliebe. In
ſolcher Weiſe laſſen ſich alle Handlungen gar ſchnell und
leicht würdigen, laſſen ſich die Heuchler entlarven und die
Bethörten belehren.
Von dieſen Grundſätzen ausgehend, können wir nicht
nur uns ſelbſt prüfen und im Zaume halten, ſondern auch
auf bie Gefühlswelt unſerer Mitmenſchen in entſprechender
Weiſe einwirken lernen. Sie werden uns an die Hand ge—
ben, wie wir einen Menſchen mit vorherrſchendem Bekäm—
pfungstriebe, mit vorherrſchender Beifallsliebe u. ſ. w. zu
behandeln haben, um ſeine vorherrſchende Leidenſchaft nicht
zum Ausbruch zu reizen, wir wir auf einen Menſchen mit
gewiſſen, beſonders ſchwachen Geiſtesanlagen wirken müſſen,
um dieſe zu ſtärken u. ſ. w. Ein weiteres werden wir hier—
über in §. 62 bei Gelegenheit der Beſprechung der Anwen—
dung der Phrenologie auf die Erziehung ausführen.
Die meiſten Seelenzuſtände ſetzen übrigens eine Mehr—
heit thätiger geiſtiger Kräfte voraus. Die Schwierigkeit
bei allen Prüfungen derſelben beſteht aber darin, dieſelben
auf ihre Elemente zurückzuführen, auszumitteln, welche gei—
ſtige Kräfte und in welchem Verhältniſſe fie bei denſelben
mitwirken. Dieſes ſetzt nun freilich einestheils eine voll—
ſtändige Kenntniß der theoretiſchen Phrenologie, andern—
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde. 309
theils vieljährige praktiſche Anwendung derſelben voraus.
Eine genaue Kenntniß der kranioſkopiſchen und phyſiogno—
miſchen Seite der Phrenologie wird übrigens hier uns ſehr
häufig die beſten Dienſte leiſten, indem ſie uns, bevor noch
irgend eine geiſtige Kraft in Thätigkeit getreten iſt, auf—
merkſam auf deren vorherrſchend ſtarke Entwickelung macht,
oder umgekehrt, uns warnt, ihr, bei der Schwäche ihres
Organs, keine zu große Kraftentwickelung zuzutrauen oder
zuzumuthen.
Auf dieſe Weiſe läßt ſich die Menſchenkenntniß ſyſte—
matiſch behandeln, wiſſenſchaftlich auffaſſen und begründen.
$ 59.
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniß zur
Heilkunde.
Wenn irgend einem Geſchäftsmann die Kunſt, Men—
ſchen ſchnell und richtig zu beurtheilen von der höchſten
Wichtigkeit iſt, ſo iſt dieſes der Arzt. Denn nicht ſelten
hat er nur wenige Augenblicke Zeit; läßt er dieſe ungenützt
verſtreichen, ſo tritt mit dem letzten Seufzer des Patienten
alle Möglichkeit der Hülfe zurück. Sehr bedeutungsvoll
find in dieſer Rückſicht die Worte des trefflichen Lauvergne!):
„Wie oft haben wir an dem Lager einer ſterbenden Frau
die Geſchichte ihres ganzen Lebens geleſen, blos weil wir
auf ihrem Schädel eine Stelle fanden, die das erklärende
Gepräge darbot! In tauſend Fällen gegen einen ſchließt
eine ſolche Erhabenheit das Geheimniß einer unausweich—
lichen Beſtimmung ein.“
Der Arzt, welcher die Geheimniſſe ſeines Patienten
auf den erſten Blick erkennt, wird ganz Anderes zu leiſten
im Stande ſein, als derjenige, welcher durch die Kopfbil—
1) Die letzten Stunden und der Tod in allen Claſſen der Geſell—
ſchaft. Aus dem Franzöſiſchen überſetzt. Leipzig 1843. Bd. I. S. 21.
310 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde.
dung deſſelben auf durchaus nichts aufmerkſam gemacht
wird.
Vor Gall nahmen die Phyſiologen bei ihren Forſchun—
gen auf die körperliche Seite des Menſchen allein Rückſicht,
die höhere geiſtige Seite blieb außerhalb des Bereiches ihrer
Forſchungen. Die Pſpychologen ihrerſeits behandelten die
Seele des Menſchen, als ſei ſie von dem Körper durchaus
unabhängig. Die Phyſiologen wußten allerdings ſchon lange,
daß wir nur vermittelſt des Seh-Nervs ſehen, nur vermit—
telſt des Gehör-Nervs hören können; ſie wußten auch, daß
dieſe beiden Nerven das Bewußtſein des Sehens und des
Hörens nicht vermitteln. Allein dennoch verfolgten ſie die
Verrichtungen des Sehens, Hörens u. ſ. f. nicht weiter. Das
Bewußtſein der durch die verſchiedenen Nerven des Körpers
vermittelten Eindrücke kann ohne die Organe des Gehirns
nicht entſtehen. Wer die Eindrücke, welche uns vermittelſt
der verſchiedenen Nervenſtränge des Körpers zugehen, nicht
bis zum Gehirne verfolgt, bleibt auf halbem Wege ſtehen.
Zu der Zeit, da Gall ſeine Entdeckungen zuerſt be—
kannt machte, war der Zuſtand der Phyſiologie überhaupt
ſehr weit hinter dem jetzigen zurück. Jetzt ſteht es, in Folge
der Forſchungen Sir Charles Bell's, Joh. Müller's und
Anderer feſt,daß in einer Scheide die Nerven der freiwilli—
gen, der unfreiwilligen Bewegung und der Empfindung
neben einander her laufen, und dennoch jeder derſelben vom
Anfang bis zum Ende nur die ihm eigenthümliche Verrich—
tung hat. Es ſteht nunmehr in Betreff der Nervenmaſſe
überhaupt der Grundſatz feſt, daß ſie nicht ein untrennba—
res Ganzes bilde, ſondern eine Reihe von Organen umfaſſe,
von welchen jedes ſeine beſondere Verrichtung hat, obgleich wir
noch nicht im Stande ſind, die räumlichen Gränzen dieſer Or—
gane anatomiſch nachzuweiſen. Es ſteht alſo jetzt in Beziehung
auf die Nervenmaſſe überhaupt feſt, was Gall insbeſondere
in Betreff der Nervenmaſſe des Gehirns nachwies: daß
dieſelbe eine Mehrheit von Organen umfaſſe, von welchen
ein jedes eine eigenthümliche Verrichtung habe.
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde. 311
Jetzt iſt man ſchon im Stande, die Nerven der frei—
willigen Bewegung vom Rückenmarke aus bis in den vor—
dern Gehirnlappen, und diejenigen der Empfindung bis in
die beiden andern zu verfolgen. Auf ſolche Weiſe iſt das
Verhältniß zwiſchen den Gehirn-Organen, welche die In—
telligenz, die Willenskraft vermitteln, mit den Nervenſträn—
gen hergeſtellt, von welchen die freiwilligen Bewegungen
abhängen, und das Verhältniß zwiſchen den Gehirn-Orga—
nen, welche die Empfindungen vermitteln mit den Nerven—
ſträngen des Körpers, welchen eine Verrichtung des glei—
chen Namens zukommt.
Jetzt hat ſich daher die Phyſiologie überhaupt derjeni—
gen Wahrheiten, welche Gall entdeckte, um ein Bedeuten—
des angenährt, und es kommt nur darauf an, daß die Phy—
ſiologen ſich die Mühe geben, die Phrenologie kennen zu
lernen, daß fie ſich bewußt werden, in welchem Verhältniſſe
fie zu ihrer Wiſſenſchaft ſteht, um fie zu überzeugen, daß
die Phrenologie in phyſiologiſcher Beziehung nichts anderes
iſt, als die Lehre von den Verrichtungen des Gehirns, und
daß alſo, wer ihr widerſtrebt, überhaupt dieſer Lehre wider—
ſtrebt. Gerade ſo wie Harvey die Verrichtungen des Her—
zens, ſo entdeckte Gall die Verrichtungen des Gehirns, und
gerade ſo wie die Zeitgenoſſen und Collegen des erſtern
ihn wegen dieſer ſeiner Entdeckung anfeindeten, ſo wider—
fuhr daſſelbe unſerm Landsmann Gall von ſeinen Zeitge—
noſſen wegen ſeiner großartigen Forſchungen.
Nicht blos die kranioſkopiſche und phyſiologiſche Seite
der Phrenologie, ſondern auch ihre mehr geiſtige, iſt für
den Arzt von der höchſten Bedeutung. Sie lehrt ihm die
Geſetze kennen, unter welchen die Bewegungen des Geiſtes
ſtehen. Nur wer dieſe Geſetze kennt, wird im Stande ſein,
die unter deren Einfluſſe ſich entwickelnden Seelenzuſtände
richtig zu beurtheilen, hervorzurufen und zu beſeitigen. Ver—
möge dieſer Kenntniſſe wird er im Stande ſein, ſich das
Vertrauen ſeiner Patienten in einem weit höhern Grade zu
erwerben, als der Arzt, welchem ſie fehlen. Er wird ſein
312 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde.
Benehmen nach den Seelenzuſtänden einzurichten wiſſen,
mit denen er es zu thun hat; und auf ein ſolches, die ver—
ſchiedenen Individualitäten berückſichtigendes Benehmen allein
kann ſich ein feſtes und inniges Zutrauen gründen. Wer
alle dieſe Kenntniſſe nicht beſitzt, wird verletzen, ohne daß
er es weiß, wird aufregen, ohne es zu wollen, und ſelbſt
unbewußt in einen Kampf mit ſeinem Patienten treten, den
er, ſtatt ihn zu bekämpfen, leiten, lenken, beherrſchen ſollte.
Nicht immer ſind die Patienten offenherzig. Gewiſſe
Krankheiten muß der Arzt faſt durchgängig errathen. Die
Phrenologie wird ihm über deren Sitz häufig die bedeutungs—
vollſten Winke geben. Bisweilen beruht eine Krankheit nur
auf Verſtellung. Das ſtark entwickelte Organ des Ver—
heimlichungstriebs wird hier dem Arzte nicht verborgen wer—
den können, wenn auch die Regungen deſſelben noch ſo
künſtlich verdeckt werden.
Häufig wird die Frage ſein: ob der Sitz einer Krank—
heit im Gehirn oder in einem andern Theile des Körpers
zu ſuchen iſt, z. B. im Seh-Nerv oder im Organ des Far—
benſinns, im Zungenbewegungs-Nerv oder im Organ des
Wortſinns, im Magen oder im Organ des Nahrungstriebs
u. ſ. w. Wer von der Phrenologie nichts verſteht, wird
ſich in allen derartigen Fällen ſehr leicht täuſchen.
Allein von der tief eingreifendſten Bedeutung iſt die
Phrenologie in Betreff der ſogenannten Geiſteskrankheiten,
oder der Krankheiten der verſchiedenen Theile des Gehirns.
Wer deren Verrichtungen im normalen Zuſtande nicht kennt,
wird die Abweichungen von demſelben nicht richtig zu wür—
digen wiſſen, gerade ſowie derjenige die Lungenkrankheiten
nicht zu behandeln verſteht, welcher die normalen Verrich—
tungen der Lungen nicht kennt.
Die Bruſthöhle und die Bauchhöhle enthalten verſchie—
dene Organe mit verſchiedenen Verrichtungen, gerade ſo ent—
hält auch die Kopfhöhle verſchiedene Organe mit verſchiede—
nen Verrichtungen. Die Functionen der Lungen unterſchei—
den ſich nicht mehr von denjenigen des Herzens, die Fun—
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde. 313
ctionen des Magens nicht mehr von denjenigen des Darm—
kanals, als die Verrichtungen des Organs des Nahrungs—
triebs von denjenigen des Organs des Bekämpfungstriebs
ua. w.
Die ſogenannten Geiſteskrankheiten können, was ihre
Urſachen betrifft, in zwei Arten eingetheilt werden, je nach—
dem bei denſelben die körperliche oder die geiſtige Seite mehr
hervortritt. Allerdings müſſen dieſe beiden Elemente immer
zuſammenwirken; doch läßt ſich nicht leugnen, daß biswei—
len die eine, bisweilen die andere Seite mehr hervortritt.
Es giebt unmittelbar körperliche und unmittelbar geiſtige
Einwirkungen. Zu den erſteren rechnen wir körperliche Ver—
letzungen, einen Schlag auf den Kopf, einen Fall auf den—
ſelben; zu den letzteren übermäßige geiſtige Anſtrengung,
Gemüthsbewegungen u. ſ. w. Allerdings werden erſtere
eine entſprechende Rückwirkung üben auf den Geiſt und letz—
tere das Gehirn mehr oder weniger berühren. Nichts deſto
weniger iſt dort die körperliche, hier die geiſtige Seite mehr
augenfällig, mehr primitiv wirkend.
Beinfraß der Schädelknochen, abnorme Bildung der—
ſelben, krankhafte Bildung der Hirnhäute, der verſchiedenen
Theile des Gehirns ſelbſt, Misverhältniß zwiſchen denſelben —
alle dieſe Elemente können geiſtige Krankheiten hervorrufen;
allein auf der andern Seite nicht minder eine unausgeſetzte,
dieſelben Organe aufregende Beſchäftigung, das Brüten über
Gefühlen, welche durch dieſelben Organe vermittelt werden
u. ſ. w. 7
Die Phrenologie wird darüber Auskunft ertheilen,
welche dieſer Urſachen im einzelnen Falle vorliegen möchte.
Was die Symptome der verſchiedenen Geiſteskrankhei—
ten betrifft, ſo wird die Phrenologie einestheils durch die
körperliche Beſchaffenheit des Patienten, namentlich dadurch,
daß ſie einzelne Organe als beſonders ſtark oder auffallend
ſchwach entwickelt findet, auf die geiſtige Natur der Krank—
heit ſchließen. Sie wird im Stande ſein, die Gefährlich—
keit oder Ungefährlichkeit derſelben vorherzuſehen, je nach—
314 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde.
dem die Organe des Zerſtörungstriebs, Bekämpfungstriebs
und Selbſtgefühls ſtark oder ſchwach, und die moraliſchen
Gefühle ſchwach oder ſtark entwickelt ſind.
Auf der andern Seite wird das Benehmen des Pa—
tienten dem Phrenologen den körperlichen Sitz der Krank—
heit verrathen, und ihm die Möglichkeit verleihen, durch
Anwendung localer Mittel in weit kräftigerer Weiſe zu wir—
ken, als außerdem ſtatthaft ſein würde.
Der Grundſatz der Mehrheit der Organe des Gehirns
iſt von der höchſten Bedeutung für die Behandlung der
Geiſteskranken. In der That, ohne denſelben zu kennen,
haben geiſtreiche Irrenärzte in mancher Beziehung ihre Pa—
tienten ſo behandelt, als wären ſie mit demſelben vertraut.
Man hielt es immer für nothwendig, einen Geiſteskranken
aus den Verhältniſſen, in denen er während der Entſtehung
ſeiner Krankheit gelebt hatte, in andere, durchaus verſchie—
dene zu verſetzen, ihn zu zerſtreuen. Dieſe Behandlungs—
weiſe läßt ſich phyſiologiſch nur ſo erklären, daß man die—
jenigen Gegenſtände, welche die erkrankten Organe in Thä—
tigkeit zu erhalten geeignet ſein möchten, entfernen wollte,
um dadurch denſelben Zeit zu laſſen, ſich zu beruhigen und
ſo wieder zu geſunden. In den Schriften der Phrenolo—
gen, namentlich Gall's, ſind eine Reihe von Fällen nam—
haft gemacht, welche die Wahrheit dieſer Erklärung von
dem Principe der Zerſtreuung recht anſchaulich machen. So
erwähnt z. B. Gall eines Kaufmanns, welcher in Folge
erlittener Verluſte melancholiſch geworden, d. h. deſſen Or—
gan der Sorglichkeit durch die erlittenen Verluſte in eine
krankhafte Aufregung verſetzt worden war; gerade in dieſer
Zeit entbrannte in Deutſchland der Kampf zwiſchen Prote—
ſtantismus und Katholicismus. Der melancholiſche Kauf:
mann nahm an demſelben lebhaften Antheil und geſundete.
Mit andern Worten, ſeine Organe der Ehrerbietung, des
Bekämpfungs- und des Zerſtörungstriebs wurden ſo mäch—
tig angeregt, daß ſein Organ der Sorglichkeit keine Auf—
forderung zur Thätigkeit mehr erhielt, es konnte ſich beru—
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde. 315
higen und durch Ruhe geſunden. Die Phrenologie, welche
uns eine viel tiefere Einſicht in das Weſen und die Geſetze
aller geiſtigen Bewegungen eröffnet, hat es auch möglich
gemacht, eine viel geiſtigere und eben deshalb wirkſamere
Behandlungsweiſe der Geiſteskranken einzuführen. Bereits
in neun Irrenanſtalten Britanniens und Nordamerikas iſt
das ſogenannte non -restraint-Syſtem, oder das Syſtem
der Entfernung alles mechanifchen Zwanges eingeführt und
zwar mit dem beſten Erfolge. Je genauer der Menſch ſeine
Mitmenſchen kennt, je beſtimmter er die Geſetze zu würdi—
gen verſteht, unter deren Einfluß ſich die Bewegungen des
geiſtigen Lebens entwickeln, um ſo größer wird der Einfluß
ſein, den er auf ſie üben kann, und deſto geringer wird
ſich das Bedürfniß körperlicher Gewalt geltend machen.
Wer aber ſeine Mitmenſchen nicht kennt, die Geſetze, unter
denen ihr geiſtiges Leben ſteht, nicht um Rath fragt, der
wird immer bei jeder Gelegenheit zur brutalen phyſiſchen
Gewalt ſchreiten. Auf dieſe Weiſe mag er die ihm anver—
trauten Menſchen zwar bändigen, allein er wird ſie nie be—
ſänftigen, beruhigen, heilen und beſſern “). Nicht blos dem
Irrenarzte iſt übrigens eine genaue Kenntniß der eigent—
lichen Elemente und Syſteme der Geiſteskrankheiten von der
höchſten Wichtigkeit, ſondern namentlich. auch den Geſetzge—
bern, Richtern und Geſchwornen. Es giebt eine ſogenannte
räſonnirende Monomanie, bei welcher die intellectuellen
Kräfte, oder mit andern Worten, die Organe des vordern
Gehirnlappens des Patienten nicht krank, ſondern im Ge—
gentheil ſehr rege ſind; ein mit einer ſolchen Krankheit Be—
hafteter läuft in unſern Tagen die größte Gefahr, gleich
einem vollkommen Geſunden von der Juſtiz behandelt zu
werden, denn dieſe kennt in der Regel nur Krankheiten des
Denk- und Erkenntnißvermögens, allein keineswegs Krank—
heiten der Triebe und der Empfindungen.
1) Zeitſchrift für Phrenologie Bd. II. H. 1. Nr. XIII.
316 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde.
In neuerer Zeit hat der ſogenannte Phreno-Magnetis—
mus in England, Schottland und Nordamerika beſonders
großes Aufſehen erregt, ſo daß wir denſelben hier nicht ganz
übergehen können. Die Wirkſamkeit des Magnetismus neh—
men wir, ungeachtet des damit getriebenen Misbrauchs und
mancher Uebertreibungen, als unumſtößlich feſtſtehend an,
namentlich hat die in London neuerdings begründete Zeit—
ſchrift „Zoist“ die intereſſanteſten Mittheilungen desfalls
gemacht.
Was nun insbeſondere die Verbindung des Magnetis—
mus mit der Phrenologie betrifft, ſo beruht dieſelbe auf dem
Grundſatze, daß durch magnetiſche Manipulationen einzelne
Organe in Thätigkeit gerufen werden können, namentlich
wurden auf dieſe Weiſe von Dr. Elliotſon die Organe der
Anhänglichkeit, des Selbſtgefühls, des Zerſtörungstriebs
und des Wohlwollens, von andern Magnetiſeurs die Or—
gane des Geſtaltſinns, Gewichtſinns, Farbenſinns, der Ehr—
erbietung, des Tonſinns, der Nachahmung, des Nahrungs—
triebs und des Bekämpfungstriebs angeregt ).
Wenn wir zum Schluſſe einen Blick werfen auf die
Zeit, bevor Gall feine Entdeckungen veröffentlichte, fo kön—
nen wir nicht umhin, uns darüber zu freuen, daß jetzt die
Heilkunde ſich doch bedeutend den Geſichtspunkten Gall's
angenähert hat. Der Gedanke, die geiſtige Thätigkeit des
Menſchen mit dem Gehirne in Verbindung zu bringen, lag
ſo nahe, daß bereits im Mittelalter verſchiedene Gelehrte
ſich mit demſelben beſchäftigten, da ſie jedoch nur ſuchten,
die hergebrachten irrigen ſpeculativen Geiſtesvermögen in
den verſchiedenen Theilen des Gehirns unterzubringen und
bei dieſen ihren Beſtrebungen von dem ſichern Standpunkte
der Naturbeobachtung nicht ausgingen, führten dieſelben zu
keinem Erfolge.
Später dachte man mehr an die Einheit des Geiſtes
1) Zeitſchrift für Phrenologie Bd. I. H. 2. Nr. XIV. H. 3. Nr. XXIII.
Bd. II. H. 3. Nr. XXII.
.
Ueber das Verhältniß der Phrenolgie zur Kunſt. 317
als an die Mannigfaltigkeit feiner Thätigkeits-Aeußerungen
und ſchloß den Geiſt in die Zirbeldrüſe oder in eine zwi—
ſchen dem Gehirn und ſeinen Häuten ſich befinden ſollende
unſichtbare Feuchtigkeit ein. Auch dieſe Annahme beruhte
auf keinen thatſächlichen Grundlagen und ging daher unter,
ohne Spuren ihres Vorhandenſeins zurückzulaſſen. Die
Anſichten Gall's dagegen waren auf Naturbeobachtungen
gegründet, haben daher ihren Entdecker überlebt und wer—
den nicht untergehen.
8 60.
Ueber das Verhaͤltniß der Phrenologie zur Kunſt.
Die Kunſt hat nur dann einen hohen Werth, wenn
ſie ſich auf Wahrheit gründet. Leiht ſie der Unwahrheit
ihre Waffen, ſo wird ſie zur verführeriſchen Armida, welche
in demſelben Maße als ſie ſchön auch gefährlich war. Die
Unnatur, die gefährlichſte Unwahrheit, reißt immer mehr in
unſerer ſchönen Literatur ein. Die ſtille Größe, die ruhige
Kraft wird mehr und mehr verdrängt durch lärmende
Kleinmeiſterei und leidenſchaftliche Charakterloſigkeit. Unſere
Kritik, welcher eine tiefer eindringende Seelenkenntniß fehlt,
welche die Merkmale der verſchiedenartigen Regungen des
geiſtigen Lebens nicht unterſcheidet, welche größtentheils der
höheren moraliſchen Hebel bei ihrem aphoriſtiſchen Wirken
entbehrt, iſt nicht geeignet, jener Richtung unſerer Literatur
mächtig entgegenzuwirken.
Wie in dem Gebiete der Staatswiſſenſchaft eine falſche
und verknöcherte Seelenlehre jeder kräftigen politiſchen Re—
gung hemmend entgegentritt, ſo widerſtrebt ſie im Gebiete
der Dichtkunſt jeglicher Erhabenheit und jedwedem freien
Aufſchwung. Nicht den Schulphiloſophen und Kritikern
verdankten Schiller und Jean Paul Friedrich Richter den
Einfluß, den ſie auf die Herzen der Deutſchen gewannen,
ſondern dem reinen moraliſchen Keime, welcher durch die
*
318 Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunſt.
Schulweisheit nicht berührt, in den Beſſeren der Nation
kräftig ſproßt und Blüthen und Früchte verſpricht.
Die bisherige Seelenlehre kannte die Grundkräfte des
menſchlichen Geiſtes nicht. Sie verwechſelte die verſchiedenen —
Gradationen derſelben Kraft, verſchiedene Ueberſichts-Mo—
mente und Combinationen von Kräften mit verſchiedenen
Grundkräften, und behandelte die Seele in ſo ſchwankender
und unbeſtimmter Weiſe, daß ſie uns über ihr eigentliches
Walten ſo gut als keine Aufklärung gab. Die Phrenologie
erſt machte aufmerkſam auf die Verſchiedenheit der Grund—
kräfte der Seele, auf ihre individuellen Merkmale und ihr
Wechſelverhältniß. Sie lehrt, daß die Gefühle, welche dem
Menſchen eigenthümlich ſind, welche ihn über das Thier
erheben: die Gefühle der Ehrerbietung, des Wohlwollens,
der Gewiſſenhaftigkeit, der Hoffnung und des Wunder—
baren zunächſt ihm ſeinen höheren moraliſchen Werth ver—
leihen. Sie zeigt, daß das Denkvermögen: die Verglei—
chungsgabe und das Schlußvermögen, d. h. diejenigen in—
tellectuellen Kräfte, welche die fern liegenden Reiche des
Wiſſens mit einander in Verbindung bringen und auffin—
den, wie ſie ſich gegen einander verhalten, das höchſte aller
intellectuellen Vermögen iſt. Nur diejenigen Charaktere,
in welchen jene Gefühle und dieſe Vermögen vorwaltend
thätig ſind, können auf Seelenadel Auſpruch machen. Wo
dagegen der Geſchlechtstrieb, der Bekämpfungstrieb, der
Zerſtörungstrieb, die Beifallsliebe und das Selbſtgefühl
die vorherrſchenden Charakterzüge bilden, iſt eine höhere,
reinere Seelen-Thätigkeit unmöglich. Denn alle dieſe Ge—
fühle finden ſich auch bei der Thierwelt, alle haben Ge—
ſchlechtstrieb, die reißenden Thiere Bekämpfungs- und Zer—
ſtörungstrieb, Affen haben Beifallsliebe und der Hahn hat
Selbſtgefühl. So klar dieſes iſt, ſo iſt die Zahl der Hel—
den und Heldinnen doch unendlich groß, welche nur durch
die Kraft der eben genannten Gefühle ſich auszeichnen.
Wie ſehr wurden und werden noch immer Byron's Helden
und Heldinnen bewundert; und dennoch, betrachten wir ſie
Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunſt. 319
genauer, finden ſich in ihnen als vorherrſchende Charakter—
züge keine andern als die benannten Gefühle. Der Giaour
verfällt in düſtere Melancholie, weil die Geliebte, welche
er verführte, die Strafe für ihre Untreue erduldet, welche
im Oriente auf dem Ehebruche ſteht, nur die Rache, die
er dafür in dem Blute des gehaßten Todfeindes nimmt,
erheitert etwas ſeine finſtere Gemüthsſtimmung. Der Ge—
ſchlechtstrieb hat das Verhältniß zwiſchen dem Giaour und
Leila geknüpft, der Verheimlichungstrieb hat es eine Zeit
lang vor Gefahren geſchützt, der Bekämpfungs- und Zer—
ſtörungstrieb ſpornten zur Rache. Nur beim Mangel aller
höheren moraliſchen Gefühle konnte dieſe Verwickelung und
Entwickelung ſtattfinden. Allerdings verſtand es Byron
meiſterhaft, die unmoraliſchen Seiten ſeiner Gedichte zu
verſtecken. Er läßt die Motive nur ahnen, ſpricht ſie nie—
mals geradezu aus. Allein an den Früchten erkennt man
den Baum. Mord und Todtſchlag ſind die Begleiter
ſeiner Helden, welche ſie nur vertauſchen mit düſterer Ver—
zweiflung. Auf den Sturm der Leidenſchaft folgt aller—
dings die Erſchöpfung, auf Thaten grimmiger Wuth die
Erſchlaffung. Anders iſt es bei dem ruhigen, dauernden
Walten der höheren moraliſchen Gefühle. Wie ſie auf der
einen Seite niemals toben und wüthen, ſo fallen ſie auf
der andern nicht in ſchlaffe Apathie. Die Gerechtigkeit
müſſen wir übrigens Byron widerfahren laſſen, daß, wenn
er auf der einen Seite die Stürme der Leidenſchaft mit
den blendenden Farben der Wirklichkeit malt, er doch
immer denjenigen Zuſtand darauf folgen läßt, welcher na—
turgemäß darauf folgen muß: den Zuſtand der Erſchlaffung.
Unwahr iſt er bei dieſen Schilderungen nur negativ, nicht
poſitiv, nur in Demjenigen, was er verſchweigt, nicht in
den Zuſtänden, die er ſchildert. Seine Sprache iſt glän—
zend, ſeine Verſe ſind melodiſch. Er beſaß alle Eigen—
ſchaften eines großen Dichters außer den höheren mora—
liſchen Gefühlen, welche ihn über die Motive ſeiner Haupt—
perſonen aufgeklärt, und außer dem Schlußvermögen, wel—
320 Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunft.
ches ihn verſtändigt hatte, daß die nothwendige Folge der
Uebertretung der Geſetze der moraliſchen Weltordnung in
demſelben Maße, als ſie ſtürmiſch war, Verſtimmung der
Gemüthswelt iſt.
Entſchiedener als Byron verſündigt ſich Bulwer an
den Geſetzen der Natur. Er verſtößt gegen dieſelben nicht
blos in negativer, ſondern auch in durchaus poſitiver
Weiſe. Er ſchildert Seelenzuſtände, welche zu den Prä—
miſſen derſelben gar nicht paſſen. Eugen Aram hat ge—
mordet, iſt aber in ſeinem Innern deshalb ſo ruhig, daß
ein zartfühlendes Mädchen ſich in ſeiner Nähe nur ange—
nehm berührt fühlt. Es ahnt nicht, daß ihr Geliebter ein
kalter überlegter Mörder, ein Genoſſe des Auswurfs der
Menſchheit iſt. Bulwer ſchildert Eugen Aram, als ſtehe
der von ihm vorbedächtlich verübte Raubmord in durchaus
keinem Cauſal-Zuſammenhang mit ſeinen übrigen Seelen—
zuſtänden, als laſſe ſich die Erinnerung an die Mordthat
von der Tafel des Gedächtniſſes, wie das Blut von der
Hand des Mörders abwaſchen. Alle Helden Bulwer's find
etwas ganz anderes, als wofür ſie der Dichter ausgeben
möchte.
Der Raubmord Eugen Aram's iſt eine Kataſtrophe,
welche ſein inneres Leben ebenſo entſchieden charakteriſirt,
als ſein äußeres. Die Unwahrheit, deren ſich hierbei Bul—
wer ſchuldig macht, beſteht darin, daß er die Verwickelungen
des innern Lebens, welche jenes Verbrechen zur Folge ha—
ben mußte, im Widerſpruch mit allen Geſetzen der Menſchen—
Natur, ſchildert. Ein Menſch, welcher diejenigen Gefühle
hegt, die Eugen Aram der Magdalene und den Ihrigen
gegenüber äußert, kann ein ſo abſcheuliches Verbrechen nicht
begangen haben, oder umgekehrt, ein Menſch, welcher ein
ſolches Verbrechen begangen hat, kann ſich nicht ſo be—
nehmen, wie Eugen Aram ſich Magdalenen und den Ih—
rigen gegenüber zeigt. Ein Menſch, welcher ſo räſonnirt,
wie Eugen Aram, kann weder Wohlwollen, noch Ehrer—
bietung und Gewiſſenhaftigkeit beſitzen. Denn beſäße er
Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunſt. 321
dieſe Gefühle, ſo könnte ſich ſein Verſtand niemals ſo weit
vom Pfade der Wahrheit verirren. Bulwer dagegen be—
müht ſich, ſeinen Helden ſo darzuſtellen, als habe er ge—
wiſſermaßen nur einen falſchen Schluß gemacht, als habe
er nur gegen die poſitiven Geſetze, nicht aber gegen die
ewigen Geſetze der Moral verſtoßen. Hierin liegt aber ſo
gut eine Unwahrheit, als in der Erzählung: ein Mann
beſitze an beiden Händen keine Finger, allein er mache mit
den Stümpfen ganz daſſelbe, was andere Menſchen mit
den Fingern. Das iſt nicht wahr, das iſt unmöglich.
Ebenſo unmöglich iſt es, daß Eugen Aram bei dem Man—
gel aller höheren Empfindungen, welchen ſein Raubmord
verräth, ſich außerdem ganz geradeſo benommen haben
ſollte, als beſäße er dieſelben in ſehr guter Entwidelung.
Georges Sand giebt ſich den Anſchein, nur die Un—
gerechtigkeiten unſerer künſtlichen und verkünſtelten Zuſtände
bekämpfen zu wollen. Allein ſie bekämpft in der Wahrheit
alle höheren und beſſeren Gefühle der Menſchenbruſt. Sie
ſetzt die Leidenſchaft auf den Thron, und will, daß vor ihr
ſich alle Welt beuge. Deren Dietate nennt ſie Vernunft—
geſetze, alles was ſie hemmt, unerträgliche Schranken. Ihr
iſt nichts heilig, als ein gewaltiges Gefühl. Ob aber
dieſes Gefühl dem Geſchlechtstriebe, oder der Ehrerbietung,
dem Zerſtörungstriebe oder der Gewiſſenhaftigkeit entſpringt,
unterſucht ſie nicht. Sie behandelt die Gefühle der nie—
deren Sinnenwelt, als wären ſie die höchſten Eingebungen
der moraliſchen Weltordnung. Sie macht, gleich unſeren
Philoſophen, keinen Unterſchied zwiſchen den ſpecifiſch ver—
ſchiedenen Gefühlen, ſondern nur einen Unterſchied in den
Gradationen. Ganz natürlich kommt ſie daher zu dem
Schluſſe, daß das ſchwächere Gefühl dem ſtärkeren weichen
müſſe, unbekümmert darum, daß es einen höhern Rang
einnimmt. Was unſere Philoſophen theoretiſch aufſtellen,
führt Georges Sand praktiſch ins Leben ein.
Dieſe Betrachtung beweiſt, wie hochwichtig es iſt, die
21
322 Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunſt.
verſchiedenen Gefühle zu claſſificiren, und jedem derſelben
denjenigen Rang anzuweiſen, der ihm gebührt. .
Die drei Dichter, deren Werke wir beſprechen, ver—
rathen allerdings in denſelben einen hohen Grad von In—
telligenz, allein das Vermögen, welches die Verbindung
zwiſchen Urſache und Wirkung, Grund und Folge aufzu—
finden und darzuſtellen weiß, zeigt ſich bei allen mangel—
haft. Alle drei haben mehr oder weniger kräftige Gefühle,
allein dieſe Gefühle gehören nicht den moraliſchen, ſondern
den ſinnlichen an, nicht denjenigen, welche den Menſchen
über das Thier erheben, ſondern denjenigen, welche er mit
dem Thiere gemein hat.
Wie verſchieden ſind in dieſer Rückſicht die großen
Dichter Shakeſpeare, Schiller und Richter! Ihre Helden
und Heldinnen beſitzen moraliſche Größe, ſie haben innere
Wahrheit, und daher werden ſie nicht veralten. Byron,
Bulwer und Georges Sand werden längſt vergeſſen ſein,
wenn Shakeſpeare, Schiller und Richter im Munde der
bewundernden Nachwelt leben.
Dichter von moraliſcher Größe haben auf die mora—
liſche Entwickelung der Völker mächtig belebend eingewirkt.
Schiller und Richter waren Dichter der Freiheit. Dichter
ohne moraliſche Größe konnten zwar gegen die beſtehenden
Geſetze aufregen, konnten ſich der Worte der Freiheit zu
ihren Zwecken bedienen. Allein ohne es ſelbſt zu wiſſen,
waren ſie Werkzeuge der Unterdrückung. Die äußeren
Verhältniſſe der Menſchen ſind immer die Folgen ihrer
inneren Zuſtände. Je gewaltiger die Leidenſchaften toben,
je ſinnlicher die Menſchen ſind, deſto gewaltiger muß auch
die Hand ſein, die ſie in Ordnung hält. Je reiner, je er—
habener ſie dagegen ſind, deſto weniger können ſie einen
Eingriff in ihre Gefühlswelt ertragen, je weniger iſt ein
ſolcher nothwendig, und deſto freier müſſen ſich daher alle
Zuſtände um ſie her geſtalten. Die einzige Grundlage der
politiſchen und religiöſen äußeren Freiheit iſt politiſche und
religiöſe innere Freiheit. Wo in der Bruſt des Menſchen
Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunſt. 323
der Fanatismus und Dogmatismus wohnt, iſt religiöſe
Freiheit nach außen nicht möglich, und wo darin keine
Gewalt über die eigenen Triebe herrſcht, muß eine äußere
Gewalt dieſem Mangel nachhelfen.
Von dieſem Geſichtspunkte betrachtet, ſind Byron,
Bulwer, Georges Sand keine Dichter der Freiheit, ſondern
der Unfreiheit. Sie haben diejenigen Regungen befördert,
deren Unterdrückung allein innere, und folgeweiſe äußere
Freiheit emporkommen läßt. Sie haben wohl den Ge—
ſchlechtstrieb, Bekämpfungstrieb, Zerſtörungstrieb, die Bei—
fallsliebe und das Selbſtgefühl angeregt, nicht aber das
Wohlwollen, die Gewiſſenhaftigkeit, die Hoffnung, die
Ehrerbietung und die Feſtigkeit. Nur auf dieſe Gefühle
aber läßt ſich der Bau der Freiheit gründen.
Der Bauſtoff, womit die Dichtkunſt arbeitet, ſind
Worte, derjenige der Malerei ſind Farben, der Bildhauerei
Marmor, Metall u. ſ. w. Allein die leitenden Ideen ſind
da wie dort dieſelben. Nur tritt bei den bildenden Kün—
ſten das Wechſelverhältniß zwiſchen dem Körper und dem
Geiſte beſonders hervor. Denn darin beſteht ja zunächſt
deren Aufgabe, dieſes zugleich in idealer und dennoch na—
turgetreuer Weiſe darzuſtellen. Dem bildenden Künſtler
iſt es daher von der allerhöchſten Wichtigkeit, dieſes
Wechſelverhältniß auf das allergenaueſte zu kennen. Wir
haben weiter oben!) geſehen, daß keine geiſtige Kraft ohne
ein entſprechendes Organ wirkſam werden kann, und daß
die Stärke ihrer Wirkſamkeit im Verhältniſſe zu der Größe
des Organs ſteht. Wie in dieſer Weiſe ein beſtimmtes
Wechſelverhältniß zwiſchen Kopfform und geiſtiger Stärke
in allen ihren Einzelnheiten, ſo beſteht auch ein ſolches
zwiſchen der Art und Weiſe der Thätigkeit ſämmtlicher
geiſtiger Kräfte und ihren körperlichen Vorausſetzungen,
oder mit andern Worten außer der Gehirn-Organiſation
iſt auch das Tempermaent von der höchſten Wichtigkeit.
1) 8 2.
215
324 Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunft.
Dieſes hat ebenſo wohl ſeine körperlichen und geiſtigen ſich
entſprechenden Symptome als die Stärke der verſchiedenen
geiſtigen Kräfte ſolche hat. Endlich beſteht ein durchaus
feſt beſtimmtes Verhältniß zwiſchen den Organen des Ge—
hirnes und der Beſchaffenheit aller übrigen Theile des
Körpers. Wer einen Menſchen von hoher moraliſcher
Kraft mit einer ſchwachen Wölbung des Kopfes, oder einen
Menſchen von ausgezeichnetem Denkvermögen mit zurück—
weichender und niedriger Stirn malt, verſündigt ſich an
den Geſetzen der Natur, denn dieſe bildet einen Menſchen
von hoher moraliſcher Kraft durchgängig mit einer ſtark
entwickelten Wölbung des Kopfes und einen Menſchen von
entſchiedenem Denkvermögen mit hoher und gerader, oder
doch nur ſehr wenig zurückweichender Stirn. Einem Men—
ſchen, deſſen vorherrſchender Charakter derjenige der Furcht—
ſamkeit iſt, hat die Natur immer auch das entſprechende
Organ des Gehirns: dasjenige der Sorglichkeit groß ver—
liehen. Wenn es ihm der Künſtler in ſchwacher Entwick—
lung giebt, ſo begeht er einen Verſtoß u. ſ. w.
Wer einen langſamen, trägen, unempfindlichen und
unbeweglichen Menſchen mit einer verhältnißmäßig zu
Bauch- und Bruſthöhle ſtark entwickelten Gehirnhöhle,
mit feinen Zügen, dünnem Haare, ſchwachen Muskeln u. f. w.
darſtellt, kann keine günſtige Wirkung hervorrufen, denn
Menſchen dieſer Art hat die Natur unwandelbar eine im
Verhältniß zu den beiden andern Höhlen kleine Kopfhöhle,
dagegen eine ſtarke Bauchhöhle, unfeine Geſichtszüge, fettes
Ausſehen u. ſ. w. verliehen. Je genauer der Beurtheiler
eines ſolchen Bildwerks die Natur kennt, deſto genauer
wird er die Mängel in die Augen faſſen, und natürlich
muß das Erkennen aller dieſer Mängel den Effect dieſes
Bildwerks durchaus ſtören.
Der mir hier zugemeſſene Raum erlaubt mir nicht
tiefer in die Einzelnheiten einzugehen. Einiges hierher ge—
hörige iſt ſchon oben bei Gelegenheit der Bemerkungen über
Phyſiognomik mitgetheilt worden. Ein Mehreres findet
Phrenologie im Verhältniſſe zur Gefchichte d. Menſchheit. 325
ſich in der meiſterhaften Abhandlung G. Combe's über
die Anwendung der Phrenologie auf die ſchönen Künſte !).
$. 61.
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniſſe zur
Geſchichte der Menſchheit.
Das Menſchengeſchlecht hat ſeine Lebensperioden, ſein
Sterben und ſeine Unſterblichkeit gleich dem einzelnen Men—
ſchen. Es hat eine Kindheit, eine Jugendzeit, ein Mannes—
und ein Greiſen-Alter. Es ſtirbt, aber aus ſeiner Aſche
erhebt ſich ein Phönix, wie die Seele des Menſchen, einem
zerfallenen Körper ſich entwindend, höheren Bildungsſtufen
entgegeneilt.
Alle dieſe Erſcheinungen ſtehen unter ewigen Geſetzen.
Es giebt keine Willkür in dem Wirken Gottes; Weisheit,
Ordnung, Beharrlichkeit bezeichnet das Walten der Vor—
ſehung, und eben deswegen iſt es möglich, die Geſetze zu
erkennen, unter deren Einfluß die Menſchenbildung, wie
die Erdbildung ſteht. Allerdings hat in neuerer Zeit die
Geſchichte der Erdbildung große Fortſchritte gemacht, wäh—
rend die Geſchichte der Menſchenbildung noch kaum in
wiſſenſchaftlicher Weiſe begonnen wurde. Allein es iſt zu
hoffen, daß mit Hülfe der Phrenologie bald ein neues
Licht über die bisher noch ſo dunkle Geſchichte der Ent—
wickelung des Menſchengeſchlechts werde ausgegoſſen werden.
Die Phrenologie iſt in Betreff der Seele, was die
Geologie in Betreff der Erde iſt, und wie der Geologe
aus den Schlacken der Eruptionen der Vulkane ſeine
Schlüſſe auf die Erdbildung, ſo zieht der Phrenologe aus
den Trümmern der geſchichtlichen Revolutionen ſeine Schlüſſe
auf die Menſchenbildung.
1) Zeitſchrift für Phrenologie Bd. II. H. J. Nr. IV. H. 2.
Nr. XII. H. 3. Nr. XX. H. 4.
326 Phrenologie im Verhältniſſe zur Geſchichte d. Menſchheit.
Dem Geſchichtforſcher fehlte bisher durchaus ein ſicherer
Maßſtab, an welchem er die Beſtrebungen der Einzelnen,
wie der Völker zu meſſen im Stande geweſen wäre. Der—
jenige Maßſtab, deſſen er ſich gewöhnlich bediente, war
theils der Erfolg, theils die Willenskraft, häufig ohne
Rückſicht auf die Empfindungen, unter deren Einfluß ſie
thätig wurde. Die Willenskraft unter dem Einfluſſe des
Selbſtgefühls, der Beifallsliebe, des Bekämpfungs- und
Zerſtörungstriebs war es gewöhnlich, welche einem Manne
das Beiwort des Großen erwarb. Alexander, der Mace—
donier, Cäſar, der Römer, Karl, der Franke und Friedrich
der Preuße werden alle mit dem gemeinſamen Namen „der
Große“ bezeichnet. Wie verſchiedenartig ſind nichts deſto—
weniger dieſe Charaktere unter ſich, und wie weit ſind ſie
ſämmtlich entfernt von demjenigen Ideale menſchlicher
Größe, welches uns die Phrenologie vor Augen hält. So
lange der Geſchichtforſcher nicht im Stande iſt, den Cha—
rakter der Individuen mit Sicherheit und Beſtimmtheit
feſtzuſtellen, iſt er weit weniger noch im Stande, denjenigen
der Nationen zu entwickeln.
Der Phrenologe wird ſchon durch die Körperbeſchaffen—
heit und insbeſondere die Kopfbildung der Einzelnen, wie
der Menſchen-Racen auf die Naturanlagen derſelben auf—
merkſam gemacht, wird daher die letzteren viel leichter in
den Erſcheinungen des Lebens wieder finden und demzu—
folge nicht ſelten die geheimen Motive von Handlungen
entdecken, von denen uns die Geſchichte nur die äußerlichen,
die thatſächlichen, allein nicht die innerlichen, die urſäch—
lichen Elemente aufbewahrt hat. Allerdings iſt es erfor—
derlich, bevor wir großes Gewicht auf die Kopfbildung
und die Körperbeſchaffenheit von Individuen und Nationen
legen, wohl zu prüfen, ob die Grundlage unſerer Schluß—
folgerungen feſtſtehe, ob in der That die Gemälde, die
Bildſäulen, die Beſchreibungen, von denen es ſich handelt,
getreu ſind, und ob dieſe ſowohl, als etwa die noch auf—
bewahrten Schädel in der That diejenigen Perſonen dar—
Phrenologie im Verhältniſſe zur Gefchichte d. Menſchheit. 327
ſtellten, denen ſie zugeſchrieben werden. Alles dieſes iſt
Sache der Kritik, ohne welche natürlich jede Geſchichte zur
Legende oder zum Mährchen ausartet.
Die Phrenologie lehrt uns eine Reihe von Geſetzen
kennen, mit deren Hülfe wir nicht nur viele Thatſachen
richtig, ſcharf und beſtimmt zu beurtheilen, auf ihre Ele—
mente zurückzuführen, ſondern auch auf andere Thatſachen
mit Sicherheit zu ſchließen vermögen. Sie enthüllt uns
die verborgenen Hebel äußerer Erſcheinungen, die noth—
wendigen Folgen beſtimmter Vorausſetzungen, die unver—
meidlichen Gefährten gewiſſer Beſtrebungen. Sie zeigt
uns z. B. in den Befreiungskriegen der Jahre 1813-1815
die edelſten moraliſchen Empfindungen der Ehrerbietung,
der Gewiſſenhaftigkeit, des Wohlwollens auf Seiten der
Deutſchen — die niedrigeren Empfindungen des Selbſtge—
fühls und der Beifallsliebe auf Seiten der Franzoſen beſiegen.
Die übrigen kämpfenden Beſtrebungen waren auf beiden
Seiten gleich: da und dort waren der Bekämpfungs-, der
Zerſtörungstrieb, die Liebe zum Vaterlande u. ſ. w. mäch—
tig aufgeregt, allein jene höheren Empfindungen der Deut—
ſchen ſchlugen die niedrigern der Franzoſen. Bei ſonſtiger
Gleichheit der Verhältniſſe wird immer dieſelbe Folge ein—
treten. Die Beifallsliebe vermag nicht zu leiſten, was die
Gewiſſenhaftigkeit, und das Selbſtgefühl nicht, was die
Ehrerbietung, die Sorglichkeit nicht, was die Hoffnung
und die Anhänglichkeit nicht, was die Feſtigkeit leiſtet.
Diejenigen Individuen und diejenigen Nationen werden
daher, bei ſonſtiger Gleichheit der Verhältniſſe, immer den
Sieg davon tragen, welche von den höheren geiſtigen
Kräften beſeelt ſind. In ſolcher Weiſe lehrt uns die Phre—
nologie nicht nur die Vergangenheit würdigen, ſondern
auch die Zukunft voraus beſtimmen. Diejenigen Indivi—
duen, Regierungen und Völker, welche ſich in ihrem Wech—
ſelverhältniß der niedrigeren Motive bedienen, werden früher
oder ſpäter von den höheren geiſtigen Kräften ihrer Gegner
überwunden werden.
328 Phrenologie im Verhältniſſe zur Geſchichte d. Menfchheit.
Die Geſchichte der Nationen wie der Individuen ſollte
die Darſtellung der Entwickelung ihrer Naturanlagen un—
ter den ihnen angewieſenen äußeren Verhältniſſen enthalten.
Sie ſollte immer damit beginnen, die Factoren dieſes
Wechſelverhältniſſes feſtzuſtellen, und dann die Reſultate
zu zeigen, zu welchen ihre Wechſelwirkung führte. Die
Geſchichte, von dieſem Standpunkte aus geſchrieben, würde
einen ſehr verſchiedenen Charakter von derjenigen haben,
welche uns bis jetzt vorliegt. Wie ſelten iſt bei der Schil—
derung der Kämpfe der Nationen Rückſicht genommen auf
die Elemente ihres geiſtigen Lebens und deren Wechſel—
verhältniß. Man wägt ab das Geſchick der Feldherren,
die Tapferkeit und die Zahl der Krieger, die Klugheit
der Staatsmänner und Diplomaten. Dieſes ſind aller—
dings auch Elemente, welche zu erwägen ſind, allein nicht
die einzigen. Die Fragen: was hat den Krieger zum
Helden gemacht, was hat den Feldherrn begeiſtert, was
hat dem Staatsmanne die eiſerne Beharrlichkeit eingeflößt,
was hat ihm den tiefen Blick in die Lage der Verhält—
niſſe eröffnet? Alle dieſe Fragen werden, wenn auch bis—
weilen aufgeworfen, doch ſelten mit Gründlichkeit beant—
wortet, weil ſie eine wiſſenſchaftliche Menſchenkenntniß
vorausſetzen, welche ſich außerhalb der Phrenologie nicht
findet.
Bei der Darſtellung der Geſchichte der Menſchheit
vergißt man, wenigſtens der That nach, in der Regel
ganz und gar, daß, wie das Kind ſich von dem Erwach—
ſenen nicht blos durch die Größe ſeines Gehirns, ſondern
auch durch die Geſtalt deſſelben, nicht blos durch die Kraft
ſeiner Anlagen, ſondern auch durch deren individuellen
Charakter unterſcheidet, ſo auch die entſtehende Nation von
der erſtarkten ſich durch gleiche Merkmale unterſcheide. An
dem Kopfe des Kindes ſind die Organe des Nahrungs—
triebs, der Anhänglichkeit, des Bekämpfungs- und Zer-
ſtörungstriebs, die Organe der Beobachtung, der Nach—
ahmung, der Sorglichkeit und des Erwerbs in der Regel
Phrenologie im Verhältniſſe zur Geſchichte d. Menſchheit. 329
vorherrſchend ſtark entwickelt. Erſt in ſpäteren Jahren
entwickeln ſich allmählig die Organe des Denkvermögens
und der moraliſchen Empfindungen. Ganz gerade fo ver—
hält es ſich auch mit dem Entwickelungsgange der Natio—
nen. Der Glanzpunkt ihrer Geſchichte wird bezeichnet
durch die Periode der höchſt möglichen Entwickelung der
Organe des Denkvermögens und der moraliſchen Empfin—
dungen. In demſelben Maße, als ſich die geiſtige Be—
ſchaffenheit eines Individuums im Laufe der Jahre ent—
wickelt, bedarf es fortſchreitend verſchiedener äußerer An—
regung. Der Zügel, welcher bei dem Kinde ein Gängel—
band war, muß nach und nach immer weniger ſtraff an—
gezogen werden, bis das Kind volljährig und ſein eigener
Herrſcher wird. Eben dieſes iſt auch der Entwickelungs—
gang der Nationen. In ihrem Kindesalter werden ſie von
Alleinherrſchern am Gängelbande geleitet, in ihrem kräf—
tigen Mannesalter ſtreben fie nach Unabhängigkeit, im
Greiſenalter ſinken ſie unter die Herrſchaft von Frauen
und Kindern herab.
Griechenland und Rom führen uns alle dieſe Er—
ſcheinungen am deutlichſten vor die Seele. Dieſe beiden
großartigen Träger der Geſchichte begannen ihre Lauf—
bahnen als Nationen unter der Herrſchaft von Königen.
Die volljährig gewordenen Völker bildeten die monarchiſchen
Verfaſſungen in republikaniſche um; und dieſe gingen ihrer—
ſeits wiederum im Laufe der Jahrhunderte in den Deſpo—
tismus von Tyrannen, Weibern und Kindern über.
Die Periode griechiſch-römiſcher Bildung hatte ihr
Greiſenalter erreicht, als die friſchen, lebenskräftigen, aber
wilden Horden des Nordens und Oſtens über Europa
hereinbrachen. Sie gaben dem Weſten den Todesſtoß und
die Elemente neuen Lebens. Schon in der erſten Kindheit
entwickelten dieſe ſtürmiſchen Nationen eine höhere mora—
liſche Richtung, als die frühere Welt beſeſſen hatte. Sie
wurden daher zunächſt die Stützen des Chriſtenthums,
welches ihnen nicht wieder entriſſen werden konnte, wie es
330 Phrenologie im Verhältniſſe zur Geſchichte d. Menſchheit.
den Bewohnern Aſiens, Nordafrikas und des ſüdöſtlichen
Europas durch die Anhänger Muhammed's geraubt wurde.
Dem Oſten gaben die wandernden Völker der Deut—
ſchen nicht den Todesſtoß und keine Elemente neuen Lebens,
daher ſchleppte er ein längeres Daſein der Altersſchwäche,
dauernder Erbärmlichkeit und kränkelnder Herabwürdigung
fort. Der Deſpotismus, die Herrſchaft aus den Mauern
des Kaiſerpalaſtes, die Regierung von Weibern, Ver—
ſchnittenen und Sklaven, d. h. die Herrſchaft der Organe
des Geſchlechtstriebs, des Zerſtörungstriebs, des Erwerbs—
triebs walteten da in ihrer grenzenloſeſten Ausartung. Wo
ſolche Elemente einer abgethanen Zeitperiode fortwuchern
konnten, war das Erſtarken neuer Keime unmöglich.
Im Weſten ging die Alleinherrſchaft über in Viel—
herrſchaft. Das Lehnsweſen ward Grundlage des neuen
Staatengebäudes und der Papſt das Haupt der neuen
Kirche. Erſt im Jahre 1453 wurde im Oſten den letzten
Trümmern des römiſchen Reichs durch Muhammed der
Untergang bereitet. Die einzelnen Individuen, welche er—
höhte Lebenskraft beſaßen, und dem Schwerte des Siegers
entrannen, wandten ſich dem Weſten zu und brachten da—
hin altgriechiſche Bildungsmittel, welche längſt vergeſſen
worden waren; im Weſten, weil die einzig friſchen, wan—
dernden Völker ſie niemals gekannt hatten, im Oſten, weil
man ſie nicht mehr verſtand. Der lebenskräftigere, höherer
moraliſcher und intellectueller Bildung fähige Weſten
eignete ſie ſich an und ſtieg ſo eine Stufe höher in dem
Entwickelungsgange der Nationen. Die ſcholaſtiſche, zu—
nächſt nur den Bekämpfungstrieb und den Wortſinn be—
ſchäftigende Philoſop hie des Mittelalters gab einem ge—
diegenen Studium der griechiſchen Philoſophen Raum,
welches nicht nur das Denkvermögen, ſondern auch die
höheren moraliſchen Empfindungen anſprach. Die gekettete
Gedankenwelt begann ſich ihrer Feſſeln bewußt zu werden.
Die Menſchheit ahnte den Zuſtand, in dem ſie ſich befand,
den Zuſtand politiſcher Anarchie und kirchlicher Knecht—
Phrenologie im Verhältniſſe zur Geſchichte d. Menſchheit. 331
ſchaft, und ſo zerfiel das Lehnsweſen und ward die päpſt—
liche Macht in ihren Grundfeſten erſchüttert. Auch in
dieſem Kampfe trat wiederum die Raſſen-Verſchiedenheit
bedeutungsvoll zum Vorſchein. Die germaniſche Raſſe er—
griff die Reformation mit Wärme und Kraft. Alle rein
germaniſchen Völkerſchaften ſind proteſtantiſch bis zum heu—
tigen Tage. Die ſlaviſche Raſſe blieb dem griechiſchen Ritus,
die celtiſche und lateiniſche (romaniſche) der römiſchen Kirche
treu. Kriege, welche ſich durch zwei Jahrhunderte hindurch
zogen, Bullen, Miſſionen und Beſtrebungen aller Art vermoch—
ten die durch die Gehirn-Organiſation bedingten Verſchieden—
heiten der Raſſen nicht zu überwinden. Die verſchiedenen
Raſſen blieben übrigens nicht ſtille ſtehen, und in demſelben
Maße, als ſie ſich geiſtig entwickelten, machten auch ihre
religibſen Begriffe, Gefühle und Beſtrebungen Fortſchritte.
Der Katholicismus heutigen Tages, ich meine nicht, die
Idee deſſelben, ſondern deſſen Wirklichkeit, d. h. der Katho—
licismus, wie er ſich im Leben praktiſch darſtellt, iſt eben
ſowohl verſchieden von dem Katholicismus des 16. Jahr—
hunderts, als der Proteſtantismus des heutigen Tages es
von demjenigen des 16. Jahrhunderts iſt.
Mit der fortſchreitenden Entwickelung der Völker
müſſen ſich übrigens auch ihre politiſchen Beſtrebungen und
Bedürfniſſe entwickeln. So lange die thieriſchen Triebe
vorherrſchen, bedarf es einer ſtarken Hand, ſie in Schran—
ken zu halten, wo es an innerer Kraft hierzu fehlt, muß
ein von außen her wirkender Zwang dieſelbe begründen.
In demſelben Maße aber, als ſich das Denkvermögen und
die höheren moraliſchen Empfindungen entwickeln, nimmt
die innere Kraft zu, welche die Triebe zu zügeln und zu
leiten vermag. Es wird die von außen her wirkende Ge—
walt mehr und mehr überflüſſig und daher mehr und mehr
unwillig ertragen und ſchmerzlich gefühlt, bis daß ſie ſich
endlich im ruhigen Gange der Entwickelung oder im
Sturme der Revolution in die durch die geiſtigen Ver—
332 Die Phrenologie in ihrem Verhältniſſe zur Erziehung.
hältniſſe der Nationen bedingten Schranken zurückge—
zogen hat.
9 62.
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniſſe zur
Erziehung.
Die Worte: mens sana in corpore sano, eine ge—
ſunde Seele in einem geſunden Leibe, ſind in dem Munde
aller Erzieher. Allein es geht ihnen, wie ſo vielen an—
deren: es iſt leichter, ſie auszuſprechen, als in ihrem Sinn
zu handeln. Wer keine Kenntniß des menſchlichen Geiſtes,
des menſchlichen Körpers und ihrer Wechſelbeziehung hat,
kann mit allem guten Willen nicht nach dem Ziele ſtreben,
welches jene Worte dem Erzieher der Jugend vorzeichnen.
Eines der vielen Verdienſte der Phrenologie beſteht darin,
eine genauere, tiefer eindringende Kenntniß des menſchlichen
Geiſtes in ſeiner Verbindung mit dem Körper erſchloſſen
zu haben, und wie ſo manche andere Wiſſenſchaften, ſo
hat ſich auch die Erziehungs-Wiſſenſchaft des Lichtes zu
erfreuen, welches die Phrenologie ihnen bietet.
Dieſe weiſt wiſſenſchaftlich nach, was die Beſſeren
längſt geahnt haben, daß wir den Weg der Natur verlaſſen
haben, und nur die Rückkehr zu derſelben uns glücklich
machen kann. Die zwei wichtigſten Erforderniſſe des Le—
bens ſind geſunde Nahrung und Luft. Die vorzüglichen
Nahrungswerkzeuge ſind der Magen, die Eingeweide, die
Leber und die Gallenblaſe. Iſt die Nahrung ſchlecht, oder
nicht zureichend, oder übermäßig, oder ſind die Verdauungs—
werkzeuge ſchwach oder unfähig, ihre Verrichtungen gehörig
auszuüben, ſo iſt die Folge, daß das Blut mit ſchlechtem
Nahrungsſtoffe verſehen, und ſeine Fähigkeit, das Gehirn
zu nähren und in Thätigkeit zu erhalten, vermindert wird.
Dadurch wird das Gehirn langfam und träge, feine Reiz—
barkeit nimmt zu, während ſeine Kraft abnimmt. Gleichen
Schritt mit der Herabſtimmung des Organs des Geiſtes
Die Phrenologie in ihrem Verhältniſſe zur Erziehung. 333
halten die Aeußerungen ſeiner Thätigkeit. Die zweite
Nahrungsquelle des Bluts iſt, wie erwähnt, der Sauer—
ſtoff der äußeren Atmoſphäre. Das Blut nimmt bei ſei—
nem Kreislauf durch den Körper, die verbrauchten Theile
aus dem Gehirn und allen anderen Organen in ſich auf,
und ſeine Farbe geht von einem hellen Roth in dunkel—
oder purpurroth über. In dieſem Zuſtande iſt es unfähig,
irgend ein Organ zu erregen, ſo daß, wenn es das Gehirn
in demſelben erreichte, augenblickliche Gefühlloſigkeit, und
ohne raſche Hülfe der Tod eintreten würde. Dieſe tödt—
liche Beſchaffenheit des Blutes wird bei ſeinem Laufe
durch die Lungen entfernt. In dieſen kommt es nämlich
mit der äußeren Atmoſphäre in Berührung und wirft viel
Kohlenſtoff aus, wofür es von der Luft eine neu belebende
Eigenſchaft empfängt. So wird es fähig, das Gehirn,
die Muskeln und alle andern Theile des Körpers zu er—
wecken und zu erregen. In dieſer Weiſe iſt das Gehirn
von den übrigen Theilen des Körpers und insbeſondere
von Nahrung und Luft abhängig. Allein nur zu häufig
bekommt ſchon das neugeborene Kind nicht die ihm von
der Natur angewieſene Nahrung. Die Bruſt der verfei—
nerten Mutter enthält nicht, was ſie enthalten ſollte. Die
verfeinerte Mutter unſerer Tage kann ihrem Kinde nicht
ſein, was die Tigermutter ihren Jungen iſt, Quelle des
Lebens und der Nahrung. Keine andere kann aber die—
jenige erſetzen, welche die Mutter gewähren ſollte. Weder
Ammen- noch Kuhmilch können die Muttermilch erſetzen.
Sie ſind Nothbehelfe. Wächſt das Kind heran, ſo erhält
es ſchon früh thieriſche, eine ungeſunde, auf Grauſamkeit
beruhende, körperlich und geiſtig verderbliche Nahrung !),
I) Porphyrii Philosophi Pythagorici de abstinentia ab anima-
libus necandis libri quatuor Mandaras' Wanderungen insbeſon—
dere S. 72 ff. 86 ff. 128 ff. Der Weg zum Paradies von Zim—
mermann. Syelley Queen Mab Preface. Thalysie ou la nou-
velle existence par Gleises. Paris 1840. 41. 42. Vol. III.
334 Die Phrenologie in ihrem Verhältniſſe zur Erziehung.
bald folgen geiſtige, Alkohol haltende Getränke nach, und
an dieſe ſchließt ſich der Gebrauch der Giftpflanze, Tabak
genannt, an. Wie kann der Menſch bei ſolcher Nahrung
gedeihen! Freilich, wenn ſich ein Thierfleiſcheſſer mit dem
andern, ein Biertrinker mit einem Branntweintrinker, ein Ta—
bakraucher mit einem Tabakſchnupfer vergleichen, mag der
eine geſünder ſein als der andere trotz ſeiner unnatürlichen
Lebensweiſe. Allein hat man Recht, ſolche Vergleiche an—
zuſtellen, wenn man prüfen will, ob Fleiſch, geiſtige Ge—
tränke und Tabak geſund ſind? Offenbar nein! Man
muß den Vergleich zwiſchen einem Fleiſcheſſer und einem
Menſchen, der ſich von Vegetabilien nährt, zwiſchen einem
Biertrinker und einem Waſſertrinker, zwiſchen einem Rau—
cher und einem Nichtraucher anſtellen, und da wird man
immer finden, daß bei ſonſtiger Gleichheit der We
der letztere der geſündere ſein wird.
Wie die Nahrung, ſo wird auch die Luft dem armen
Kinde ſchon frühzeitig verkümmert. In enge Windeln
eingeſchlagen und eingebunden, von Federbetten umſchloſſen,
kann keine erfriſchende Luft den Körper berühren. In
dumpfen Schlafzimmern halbe Tage lang ruhend, ohne
daß friſche Luft zugelaſſen wird, wie kann da das Blut
des Kindes gereinigt von den Lungen durch den Körper
ſtrömen? Gewöhnlich iſt das Schlafzimmer, in welchem
ſich der Menſch doch am Längſten ohne Luftwechſel auf—
hält, eins der kleineren des Hauſes. Nicht ſelten ſteht eine
Reihe Prunkzimmer leer, während die armen Kinder in
enge Bettſtälle eingepfropft ſind. Des Morgens beim Er—
wachen iſt die Luft verpeſtet, ſie enthielt ſchon lange vor—
her die erforderliche Beimiſchung von Sauerſtoff nicht
mehr. Das Blut konnte daher nicht gereinigt zum Ge—
hirn und zu den übrigen Theilen des Körpers ſtrömen,
worunter natürlich das ganze Syſtem leiden muß.
Den materiellen Genüſſen ſind die Beſtrebungen der
Menſchen viel zu ſehr zugewendet. Materiell ſind dieje—
nigen Beſtrebungen, welche der Menſch mit dem Thiere
Die Phrenologie in ihrem Verhältniſſe zur Erziehung. 335
gemein hat. Man predigt ſo oft und von oben herab die
materiellen Intereſſen vor allen Dingen wahrzunehmen.
Das Gegentheil lehrte uns Chriſtus, das Gegentheil lehrt
eine geſunde Philoſophie. Strebet vor allen Dingen nach
dem Reiche Gottes und ſeiner Gerechtigkeit, ſo wird euch
das übrige alles zufallen. Durch die moraliſchen Kräfte
erhebt ſich der Menſch über die Thierwelt. Die moraliſchen
Kräfte haben eine weitere Sphäre als die materiellen.
Dieſe haben es nur mit dem Ich und einem kleinen Kreiſe
von befreundeten Weſen zu thun. Die moraliſchen Kräfte
umfaſſen Himmel und Erde. Wie ärmlich ſind die Genüſſe
der thieriſchen Triebe und der niedrigen Empfindungen im
Vergleiche zu denjenigen der Intelligenz und der morali—
ſchen Empfindungen. Jenen folgt immer Ueberdruß nach,
dieſen die freudige Erinnerung. Wie glücklich wäre der
Menſch, wenn er auf die Winke der Natur achten wollte!
Das Paradies iſt in uns und außer uns, wenn wir es
nicht ſelbſt aus uns vertreiben und um uns her zerſtören.
Das Glück ſetzt Glücksfähigkeit voraus. Derjenige beſitzt
ſie nicht, der ſeine höheren intellectuellen und moraliſchen
Kräfte zur Apathie und zum Stumpfſinne herabgeſtimmt hat.
Wenn wir nunmehr auf die einzelnen Elemente des
körperlichen Lebens eingehen, ſo müſſen wir zuvörderſt auf
die Verſchiedenheit des Temperaments aufmerkſam machen.
Sollen die Kinder in körperlicher und geiſtiger Rück—
ſicht nicht vernachläſſigt, ſollen ſie nicht in die größten
Gefahren geſtürzt werden, ſo muß bei der Erziehung auf
die Verſchiedenheit des Temperaments Rückſicht genommen
werden. Wenn das Kind ein großes Gehirn, kleine, durch
eine enge Bruſt angedeutete Lungen, dünne zarte Muskeln
und eine feine Haut hat, ſo wird das Gehirn vorherrſchend
thätig ſein, und ſomit auch der Geiſt. Das Kind wird
mit Freuden lernen, unaufhörlich an ſeinen Büchern ſitzen,
ſeine Fähigkeiten werden in reger Thätigkeit, ſeine Gefühle
lebhaft bewegt ſein. Die Eltern, erfreut über die Reg—
ſamkeit ſeines Geiſtes und die Zartheit ſeiner Gefühle ſind
336 Die Phrenologie in ihrem Verhältniſſe zur Erziehung.
verſucht, das Kind in ſeiner Bahn anzuſpornen, ohne zu
bedenken, daß Erſchöpfung die unvermeidliche Folge ſeiner
übergroßen geiſtigen Thätigkeit ſein muß. Die Nerven—
thätigkeit, welche ſich in dem Gehirn concentrirt, läßt die
Lungen und den Magen unangeregt, und bringt ſie ſo in
einen Zuſtand von Schwäche, dem ſie früher oder ſpäter
erliegen, inſofern nicht noch zeitig Einhalt geſchieht. Auch
die Augen ſolcher Kinder leiden gewöhnlich und keine
Curen ſpäterer Zeiten ſind im Stande, wieder gut zu
machen, was in Betreff derſelben während der Kinderzeit
verfehlt worden iſt. Solche Kinder nervöſen Tempera—
ments müſſen daher nicht zu geiſtiger Thätigkeit, ſondern
zur Bewegung im Freien, zu gymnaſtiſchen Uebungen, zum
Schwimmen und zu jeder Art muskulöſer Thätigkeit an—
gehalten werden. Man muß nicht ſuchen, ihre Gefühle,
die ſchon von Natur zu rege find, noch aufzuregen, ſon-
dern das Streben der Erzieher muß darauf gerichtet ſein,
ſie zu beruhigen, damit ſie ſich naturgemäß nach und nach
entwickeln können und nicht zu einer Zeit erſtarken, da die
Organe des Körpers noch nicht im Stande ſind, die Arbeit
zu verrichten, welche die Aeußerung mächtiger Gefühle
vorausſetzt.
Wenn dagegen die Lungen in der Körperbeſchaffenheit
eines Kindes vorherrſchen, und daher das ſanguiniſche
Temperament ſich bildet, ſo wird es ſich gern im Freien
bewegen, mit Appetit eſſen und geſund ſchlafen. Das
wohlgenährte Blut erzeugt eine große Geneigtheit für
Muskelbewegung. Wenn daher ein ſolches Kind nach ge—
ſundem Schlafe und gutem Frühſtück, ohne ſich vorher
bewegt zu haben, in die Schule geſchickt wird, ſo mag es
wohl eine kurze Zeit ſtille ſitzen, aber bald wird das Be—
dürfniß muskulöſer Thätigkeit zu ſtark ſich regen. Das
Kind kann es, mit dem beſten Willen, nicht unterdrücken.
Es wird anfangen ſich auf feiner Bank hin und her zus
bewegen, mit den Ellbogen zu ſtoßen, mit den Fäuſten zu
ſchlagen, mit den Beinen zu ſtampfen. Der Lehrer ſtraft
Ueber die Phrenolagie in ihrem Verhältniß z. Erziehung. 337
dann gewöhnlich ein ſolches Kind. Allein die Bedürfniſſe
der Natur regen ſich trotz der Strafe, können daher durch
keine Strafe beſeitigt werden. Wer Wirkungen beſeitigen
will, muß deren Urſachen bekämpfen. Solchen Kindern
gebe man, bevor ſie in die Schule gehen, Gelegenheit, ihre
Muskelkräfte zu üben. Iſt dieſes Bedürfniß befriedigt, ſo
werden ſie ruhig ſitzen und mit Freuden geiſtig thätig ſein.
In Nord-Amerika, England und Schottland, woſelbſt die
Phrenologie beſſer als in Deutſchland gekannt iſt, haben
bereits viele Vorſteher von Schulen mit dem größten Er—
folge auf dieſe Bemerkungen Rückſicht genommen.
Andere Kinder find von dem lymphatiſchen Tempe—
ramente. Ihr Blut bewegt ſich langſam, reizt das Gehirn
wenig, und ihr Verlangen iſt beſonders: zu eſſen, zu
trinken und Ruhe zu genießen. Sie haben weder für
körperliche, noch für geiſtige Thätigkeit Vorliebe. Auch
dieſe Naturanlagen glauben die meiſten Lehrer durch Stra—
fen bekämpfen zu können, als ob dieſelben Mittel, dieſelben
Strafen, ganz entgegengeſetzte Wirkungen herbeiführen
könnten! als ob die Geſetze der Natur, was die Behand—
lung der Kinder betrifft, gar nicht vorhanden wären! Das
Geſetz der Natur iſt, daß dieſelbe Urſache dieſelbe Wirkung
hervorbringt, aber die meiſten Lehrer denken noch heutzu—
tage, daß dieſelbe Strafe (dieſelbe Urſache) zu gleicher Zeit
ganz entgegengeſetzte Wirkungen hervorbringen: das ſan—
guiniſche Kind beruhigen, und das träge beleben könnte!
Die Phrenologie lehrt dagegen, auf Verminderung des
lymphatiſchen Temperaments und Erweckung der ſangui—
niſchen und nervöſen Beſtandtheile der Körperbeſchaffenheit
des Kindes hinzuwirken. Dieſes kann dadurch geſchehen, daß
man ſolchen Kindern verhältnißmäßig wenig, aber nahrhafte
Speiſen giebt, daß man ſie zuerſt zu geiſtiger Thätigkeit
anhält, und erſt ſpäter zu körperlicher Bewegung, daß man
ſie anhält, immer mit Eifer zu lernen, und lieber die Zeit
des Lernens abkürzt, um den Eifer nicht erkalten zu laſſen.
Das biliöſe Temperament endlich führt am wenigſten
—
338 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Erziehung.
leicht auf Abwege. Es führt weder zu übergroßer Auf—
regung, noch zur Unruhe, noch zur Trägheit, und ſchließt
die entſchiedenſten Elemente ruhigen Verlaufes in ſich.
Uebrigens verſteht es ſich von ſelbſt, daß in demſelben
Maße, in welchem ein Kind ein Temperament blos theil—
weiſe beſitzt, auch nur theilweiſe die aufgeſtellten Grund—
ſätze auf daſſelbe anwendbar ſind. Hier war es natürlich
nur möglich, allgemeine Geſichtspunkte zu geben. Dem
beſonnenen Erzieher bleibt es anheim gegeben, dieſelben
nach den Verſchiedenheiten des Falles zu modificiren.
Schon die Beobachtung der Verſchiedenheit der Tem—
peramente führt alſo zu wichtigen praktiſchen Reſultaten,
weit bedeutungsvoller ſind aber diejenigen, zu welchen die
Betrachtung des unmittelbaren Organes des Geiſtes, die
Betrachtung des Gehirns ſelbſt führt.
Das Gehirn iſt allen Geſetzen der Phyſiologie unter—
worfen, gleich den anderen Theilen des Körpers. Es gilt
alſo in Betreff deſſelben namentlich auch die Regel, daß
wenn irgend ein Körpertheil thätig geübt wird, eine grö—
ßere Menge Bluts ſich darein ergießt, und es auch einen
höheren Grad von Anregung durch die Nerven erhält. In
Folge deſſen nehmen ſeine Theile an Feſtigkeit und Stärke
und, bis zu einem gewiſſen Grade, auch an Größe zu.
Allerdings kann kein Grad von Uebung einen Mann, deſſen
Muskelſyſtem von Natur ſehr ſchwach iſt, zu einem Her—
kules machen; allein Uebung kann daſſelbe doch einiger—
maßen ſtärken, während es ohne alle Uebung in immer
großere Schwäche verſinken würde. Die Grenze, welche
der Uebung eines Organes durch die Natur geſetzt iſt,
wird beſtimmt durch die Thatſache, daß übermäßige An—
ſtrengung ſchwächt, ſtatt zu ſtärken. Die Uebung darf da—
her das Maß der Kraft eines Organes nicht überſteigen,
um ſtärkend zu wirken, und ſo wird allerdings die natür—
liche Größe eines Organs und ſeine natürliche Stärke uns
auch einen Maßſtab kräftigender Uebung gewähren. Den
Mann mit ſtarken Muskeln wird dieſelbe Uebung kräftigen,
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Erziehung. 339
welcher der Mann mit ſchwachen Muskeln erliegen würde.
Daher muß die Uebung eines Organs immer mit ſeiner
natürlichen Stärke in Verhältniß ſtehen.
Alle dieſe Regeln finden auch ihre Anwendung auf
das Gehirn. Wenn wir lebendig fühlen oder tief denken,
ergießt ſich mehr Blut in das Gehirn, als wenn unſere
Gefühle minder lebendig, unſere Gedanken minder tief be—
wegt ſind. Die Organe derjenigen Geiſtes-Vermögen,
welche wir in einer ihrem natürlichen Stärkegrade ent—
ſprechenden Weiſe üben, werden daher an Größe zunehmen,
und folgeweiſe die entſprechenden Geiſtesvermögen an Kraft.
Aber eine die Entwickelungsfähigkeit eines Organs über—
ſteigende Uebung wird es ermatten und, geſchieht es ge—
wohnheitsmäßig, fo wird fie durchaus erſchlaffend wirken.
Wer, ohne die Anlagen eines Mozart, eines Goethe zu be—
ſitzen, durch Uebung ein muſikaliſches oder dichteriſches
Genie werden wollte, würde nach dem Stärfegrade feiner
Organe früher oder ſpäter ſeine natürlichen Anlagen zum
Muſiker oder Dichter geradezu durch Ueberanſtrengung auf—
reiben. Wenn wir jedoch auf der andern Seite unſere
geiſtigen Vermögen nicht in einem ihrer natürlichen Stärke
entſprechenden Maße üben, ſo werden die entſprechenden
Organe des Gehirns an Größe abnehmen, und folgeweiſe
die geiſtigen Anlagen an Energie. Dieſes iſt ein ſehr
wichtiger Grundſatz für die Behandlung der Kinder.
Eine wohlberechnete Uebung bewirkt übrigens nicht
blos Zunahme an Größe und demzufolge Stärke, ſondern
auch Zunahme an Bewegungsfähigkeit, und ſo bringt auch
die Uebung der Geiſteskräfte nicht blos größere Stärke,
ſondern auch größere Gewandtheit, größere Leichtigkeit gei—
ſtiger Bewegung hervor. Es iſt daher bei Ziehung der
Schlüſſe von der Größe eines Organs auf die Stärke der
ihm entſprechenden geiſtigen Anlage natürlich von demje—
nigen Elemente nicht die Rede, welches die Uebung ver—
leiht. Der Phrenolog wird daher entweder bei ſeinen
Beobachtungen ſich über den Grad ſtattgehabter Uebung
22 *
340 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Erziehung.
verläßigen, oder wo dieſes nicht möglich iſt, ſeine Urtheile
in entſprechender Weiſe beſchränken.
Der Erzieher muß ſich immer vergegenwärtigen, daß,
wie der Menſch überhaupt, ſo insbeſondere auch das Kind,
ohne Gehirnthätigkeit nicht handeln kann. Das erſte Er—
forderniß der Erziehung iſt daher, das Gehirn in einem
Zuſtande vollkommener Geſundheit und den Kräften ent—
ſprechender Thätigkeit zu erhalten. Eine Reihe von Fällen
ſind beobachtet worden, da man, nach Entfernung des
Schädels und der Hirnhäute, bemerkte, daß, ſobald der
Kranke durch Gemüthsbewegung, lebhaftes Geſpräch oder
Träume aufgeregt wurde, mehr Blut in das Gehirn ſtrömte,
wodurch ein Anſchwellen der Gehirnwindungen veranlaßt
wurde. Das Gehirn, wie jeder andere Theil des Körpers,
wird durch das Blut ernährt und in Thätigkeit erhalten.
Deshalb bietet ſich die Frage dar: was hat man zu thun,
damit das Gehirn fortwährend mit der gehörigen Maſſe
geſunden Blutes verſehen werde? Das Blut leitet ſeinen
Stoff und ſeine Eigenſchaften aus zwei Quellen: aus der
Nahrung, die ihm nach der Verdauung vermittelſt hierzu
beſtimmter Gefäße zugeleitet mird, und dem Sauerſtoffe
der äußern Atmoſphäre. Bereits weiter oben haben wir
von dieſen beiden Grundbedingungen aller körperlicher und
geiſtiger Geſundheit geſprochen. Allein nicht minder bedeu—
tungsvoll iſt die Einwirkung, welche ſeinerſeits das Gehirn
auf dieſe ausübt. Wird der Nerv, welcher den Magen
mit dem Gehirn verbindet, durchſchnitten, ſo iſt augenblick—
lich die Verdauungskraft gehemmt. Aus derſelben Urſache
wird die Verdauung ebenfalls gehemmt, wenn der Geiſt
gerade zur Zeit, da das Gehirn dem Verdauungswerkzeuge
den erforderlichen Impuls geben ſoll, dies ganz in Anſpruch
nimmt. Die Rückwirkung mangelhafter Verdauung auf
das Gehirn kann nicht ausbleiben. In dem günſtigſten
Falle iſt es in demſelben Maße, als ihm zuvor zu viel zu—
gemuthet wurde, ſpäter weniger im Stande zu leiſten. Bei
wiederholter übermäßiger Anſtrengung bilden ſich jedoch
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Erziehung. 341
dauernde Krankheitszuſtände. Die Natur läßt ſich keine
Gewalt anthun. Was von dem Gehirne des Erwachſenen,
gilt auch von demjenigen des Kindes; nur iſt dabei zu be—
denken, daß dieſes ſchwächer iſt, und, wie die andern Theile
des Körpers, z. B. die Arme und Beine, nicht die Arbeit
ertragen kann, deren es zur Zeit ſeiner vollen Ausbildung
fähig iſt. Man darf ihm daher nicht mehr zumuthen, als
es zu leiſten vermag, und namentlich ſoll man ein und
daſſelbe Organ nicht zu lange ununterbrochen anſtrengen.
In dieſer Rückſicht wird der Grundſatz der Phrenolo—
gie, daß das Gehirn in eine Mehrheit von Organen zerfalle,
von hoher Wichtigkeit. Er lehrt uns nicht nur, wie durch
Vertheilung der Arbeit über alle Organe des Gehirns ihm
möglichſt viel Arbeit, ohne Gefährdung der Geſundheit,
zugemuthet werden kann, ſondern giebt uns auch die be—
deutungsvollſten Winke über die Art und Weiſe, wie der
Erzieher am beſten die bedenklichen Anlagen des Kindes
bekämpfen, die guten entwickeln und alle zu harmoniſchem
Zuſammenwirken heranbilden könne.
Selbſt der fruchtbarſte Boden wird aufhören, ergiebig
zu ſein, wenn längere Zeit dieſelben Früchte darauf gebaut
werden. So wird auch bei dem begabteſten Kinde der Un—
terricht aufhören Eingang zu finden, wenn er zu lange bei
demſelben Gegenſtand verweilt, oder mit andern Worten,
wenn er zu lange ſich an dieſelben geiſtigen Kräfte und ihre
Organe richtet. Wie daher der Landwirth mit großem
Fleiße ſich bemüht, zu erproben, in welcher Reihenfolge die
verſchiedenen Früchte auf demſelben Boden am beſten gedei—
hen, ſo ſoll auch der Erzieher ſich bemühen, aufzufinden,
in welcher Reihenfolge die verſchiedenen Unterrichtsgegen—
ſtände dem Kinde mit dem größten Erfolge geboten werden
können. Der Unterricht in den Sprachen wendet ſich zu—
nächſt an den Sprachſinn, im Zeichnen an den Geſtaltſinn
und Zuſammenſetzungsſinn, im Malen außerdem an den
Farbenſinn, in der Naturgeſchichte an den Gegenſtandſinn,
in der Geſchichte an den Zeit- und Thatſachenſinn, in der
342 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Erziehung.
Erdbeſchreibung an den Größen- und Ortſinn, im Rechnen
an den Zahlenſinn, in der Muſik an Ton- und Zeitſinn
und bei allen Inſtrumenten an den Gewichtſinn, an den
letztern überhaupt bei allen Lehrgegenſtänden, welche eine
zarte Abwägung des auszuübenden Drucks vorausſetzen.
Inſofern jedoch ein ſolcher Lehrgegenſtand nur durch Worte
mitgetheilt wird, nimmt er zunächſt nur den Wort- oder
Sprachſinn des Kindes in Anſpruch, und das iſt bei den
meiſten der genannten Lehrgegenſtände der gewöhnliche Fall.
Daher wird dieſer Sinn bei den Kindern gewöhnlich über—
mäßig ſtark angeſtrengt. In demſelben Maße, in welchem
man andere geiſtige Kräfte bei dem Unterrichte betheiligt,
z. B. den Geſtalt- und Farbenſinn durch Vorzeigung der
Bildniſſe der beſprochenen Gegenſtände, den Gegenſtand—
ſinn durch Vorzeigung des beſprochenen Gegenſtandes ſelbſt,
die Vergleichungsgabe durch Anregung des Schülers, den
Lehrgegenſtand mit andern zu vergleichen, das Schlußver—
mögen durch Aufforderung deſſelben, nach den Urſachen ei—
ner Erſcheinung zu forſchen u. ſ. w.; in demſelben Maße
wird der Sprachſinn erleichtert nach dem Grundſatze, daß
mehrere Finger eine Laſt leichter heben, als ein einziger.
Ein Unterricht, welcher in der angegebenen Weiſe auf mög—
lichſt gleichmäßige Vertheilung der Arbeit über alle Richtun—
gen des Geiſtes und alle ſeine Organe hinwirkt, wird nicht
nur weit größere Reſultate erzielen, ſondern auch die Kin—
der in ſtets wachſender Freudigkeit beim Lernen erhalten.
Denn jede Thätigkeit einer geiſtigen Kraft iſt ſo lange mit
angenehmen Empfindungen verbunden, als ſie ihrem natür—
lichen Stärkegrade entſpricht, und erſt mit dem Augenblicke
tritt Unbehaglichkeit ein, da man ihr mehr zumuthet, als
ſie leiſten kann. Ein großer Fehler unſerer Erziehung be—
ſteht darin, daß man gewöhnlich die mächtigen Kräfte, welche
das Empfindungsvermögen in ſich ſchließt, und wenigſtens
mehrere der zum Darſtellungsvermögen gehörigen nicht auf—
fordert, die Laſt des Unterrichts mittragen zu helfen. Sie
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Erziehung. 343
erleichtern alſo nicht nur den übrigen ihre Arbeit nicht, ſon—
dern bleiben überdies ſelbſt auch ungeübt.
Die Aufgabe der Erziehung beſteht übrigens nicht blos
darin, die geiſtigen Kräfte zu entwickeln, zu ſtärken und
wo nöthig, ſie zu ſchwächen, ſondern auch, ſie zu gemein—
ſamer Wirkſamkeit heranzubilden. Beginnt ein Kind, ſchrei—
ben zu lernen, ſo ſind die Bewegungen ſeiner Finger lang—
ſam und eckig, und die Geſtalten der Buchſtaben entbeh—
ren Gleichförmigkeit und Anmuth. Dieſe Unvollkommenhei—
ten rühren aus zwei Urſachen her. Fürs Erſte giebt es
nämlich eine Mannigfaltigkeit von Muskeln in der Hand,
und gewiſſe Gruppen derſelben müſſen daran gewöhnt wer—
den, im Einklang mit einander zu handeln, bevor die Hand
die Fertigkeit erlangt, mit der Feder umzugehen. Dann
müſſen aber auch die Organe des Geſtalt-, Größen- und
Zuſammenſetzungsſinnes gewöhnt werden, in harmoniſcher
Weiſe zuſammen zu wirken. Auf dieſelbe Art müſſen, be—
vor Jemand mit Erfolg auf der Violine ſpielen kann, ſeine
Organe der Zeit, des Tons, des Gewichts und der Nach—
ahmung an eine gleichzeitige, entſprechende Thätigkeit ge—
wöhnt werden. Und ſo verhält es ſich mit allen Zweigen
der Wiſſenſchaft und der Kunſt, bei der Beredtſamkeit und Ma—
lerei, wie beim Leſen und Schreiben. Ueberall ſind zu
gleicher Zeit verſchiedene Organe thätig, von deren harmo—
niſchem Zuſammenwirken jeder Erfolg abhängig iſt. Ein
ſolches iſt aber ohne vorgängige Uebung nicht möglich.
Dieſe Regel gilt nicht blos für die Sphäre der Intel—
ligenz, ſondern mit gleicher Stärke von derjenigen der Ge—
fühle. Wenn die Erzieher die Kinder nicht bei Zeiten daran
gewöhnen, ihre Triebe nur in harmoniſcher Zuſammenwir—
kung mit den höheren Empfindungen und dem Denkvermö—
gen thätig werden zu laſſen, ſo werden ſie nie mit Erfolg
wirken. Unter der Leitung der Ehrerbietung, der Gewiſſen—
haftigkeit, des Wohlwollens und der Feſtigkeit wird der
Erwerbtrieb und der Bekämpfungstrieb nie auf Irrwege
gerathen, wie Ehrerbietung und Wohlwollen und die an—
344 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Erziehung.
deren höheren Empfindungen unter dem Einfluß des Denk—
und Erkenntnißvermögens ihre Gefühle nicht an unwürdige
Gegenſtände verſchwenden werden. Nur harmoniſche Ent—
wickelung aller geiſtigen Kräfte des Kindes führt zu einem
ſchönen Ziele.
Wer dieſe Lehren nicht beachtet, wird die Wahrheit
bitter empfinden. Natur und Schickſal, oder freundlicher
geſprochen, die göttliche Weltordnung läßt nicht mit ſich
ſpielen. Jede Verletzung ihrer Geſetze iſt unerbittlich mit
Schmerz verknüpft, wie jede naturgemäße Thätigkeit Freude
bereitet. Der Hauptzweck einer gediegenen Erziehung ſoll
ſein, das Kind bei Zeiten in die von der göttlichen Welt—
ordnung vorgezeichnete Bahn zu leiten, damit es nicht zu
ſpät durch die ſchweren Schläge des Schickſals: durch Ar—
muth, Krankheit und Leiden jeder Art daran erinnert wer—
den müſſe, daß es auf unrechter Bahn wandele.
Das ganze Syſtem unſerer Erziehung, wie es bis zum
heutigen Tage praktiſch beſteht, zeigt deutlich, daß unſere
Erzieher von der Verſchiedenartigkeit der geiſtigen Kräfte
mit allen ihren Folgen durchaus keine Ahnung haben. Sie
ſetzen gar zu häufig den verſchiedenartigſten geiſtigen Kräf—
ten und der verſchiedenartigſten Aeußerung derſelben das
nämliche Heilmittel entgegen: phyſiſche Gewalt oder Schelt—
worte. Erſtere wirkt aber unmittelbar nur auf den Kör—
per, und in welcher Weiſe ſie mittelbar wirkt, hängt durch—
aus von der Verſchiedenartigkeit der Gemüthsbeſchaffenheit
des Kindes ab. Das furchtſame Kind wird dadurch er—
ſchreckt und noch furchtſamer gemacht, als es ſchon iſt; das
nervöſe Kind wird in deſſen Folge noch nervöſer, das Kind
von regem Selbſtgefühl wird dadurch aufs tiefſte gekränkt,
das Kind phlegmatiſchen Temperaments mit wenig Selbſt—
gefühl, Beifallsliebe und Sorglichkeit wird ſich wenig dar—
aus machen u. ſ. w. Wie unzweckmäßig iſt eine gleich—
mäßige Behandlungsweiſe der verſchiedenartigſten Charaktere!
Wie verſchiedenartig ſind die Folgen dieſer Gleichmäßigkeit!
Andere Erzieher haben erkannt, daß man auf die In—
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Erziehung. 345
dividualität der Kinder Rückſicht nehmen müſſe, und be—
dienen ſich der Schwächen eines Kindes als Hebel der Er—
ziehung. Dem furchtſamen Kinde machen fie Furcht, das
ſtolze Kind kränken ſie, das eitle verletzen ſie in ſeiner Ei—
telkeit u. ſ. w. Sie bedenken nicht, daß ſie dadurch gerade
das Gegentheil von dem thun, was ſie thun ſollten. Sie
ſollen ihren geiſtigen Hebel nicht auf einen geiſtig ſchwachen
Boden anlegen, denn ſonſt bricht dieſer unter ihnen zuſam—
men. Auf die ſtärkſten Theile des Charakters ſollten ſie
ihre Hebel ſtellen. Von dieſen aus läßt ſich eine kräftige
Wirkſamkeit erhalten, nicht aber von den ſchwachen Seiten
des Charakters aus.
Ein weiterer ſehr häufiger Uebelſtand iſt der Wider—
ſpruch, in welchem die Handlungen der Erzieher zu deren
Thaten ſtehen. Der Erzieher raucht ſelbſt, aber verbietet
ſeinem Schüler zu rauchen, er trinkt Wein und Bier und
giebt ſeinem Kinde Waſſer zu trinken, er wird heftig und
zornig, allein wenn das Kind ſeinem Beiſpiele folgt, ſo
wird es beſtraft; er bedient ſich mancher Schimpfwörter,
deren ſich das Kind nicht wieder bedienen ſoll u. ſ. w. Das
Beiſpiel wirkt unmittelbar auf die betreffenden Organe, die
Worte nur vermittelſt des Wortſinns, alſo in weit ſchwä—
cherm Maße. Daher werden die Kinder immer eher dem
erſtern als den letztern folgen.
Auch auf dem Felde der Erziehung gilt der alte Grund—
ſatz: divide et impera, theile, fo wirft du herrſchen. Thei—
len wir die verſchiedenartigen Seelenzuſtände in ihre Ele—
mente und lernen wir dieſe behandeln, dann werden wir
mit dieſen zugleich nach dem oben!) aufgeſtellten Grundſatze
ihre Miſchungen zu behandeln lernen.
Wir beginnen mit dem Nahrungstriebe. Derſelbe iſt
dem Menſchen verliehen, damit er ihm die Kräfte zuführe,
deren er zur Erhaltung der Geſundheit und zu Beförde—
rung des Wachsthums bedarf. Der Menſch ſoll aber nur
1) S. 46.
346 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Erziehung.
eſſen und trinken, was und ſoviel es dieſer Zweck der Na—
tur erheiſcht, nichts anderes und nicht mehr und nicht we—
niger. Allein dieſes Geſetz der Natur wird von Kindheit
an faſt durchgängig täglich bis zum Ende unſers Lebens
übertreten. Der Inſtinct ſagt dem Kinde ganz genau, wie
viel ihm zu ſich zu nehmen gut iſt. Allein man thut dem—
ſelben Gewalt an. Man ſucht durch die Quantität zu
erſetzen, was an der Qualität gebricht. Aus misverſtande—
ner Zärtlichkeit drängt man dem Kinde Nahrung auf; man
würzt ſeine Speiſen mit Zucker und Zimmet und andern
wohlſchmeckenden Zuthaten, um die befriedigte Eßluſt zu
wecken. Die Folge davon iſt, daß der Magen des Kindes
und ſein Darmkanal weiter ausgedehnt werden, als natür—
lich iſt, und daß das Organ des Nahrungstriebs in geſtei—
gerte Thätigkeit tritt. Den zweiten Tag iſt im Magen
und Darmkanal ſchon etwas mehr Raum und der Nah—
rungstrieb iſt ſchon etwas reger, als die Natur beſtimmt
hat. Den dritten Tag iſt dieſes Verhältniß ſchon in weis
term Zunehmen, und ſo geht es in ſteigender Progreſſion,
bis das Kind zu einem entſchiedenen Leckermaul oder Freſ—
ſer geworden iſt. Die Eßluſt iſt mit der Trinkluſt nahe
verwandt, Uebermaß im Eſſen führt häufig zum Uebermaß
im Trinken. Die Eltern wundern ſich dann in ſpätern
Jahren, daß ihre Kinder Freſſer und Säufer geworden ſind,
und bedenken nicht, daß ſie durch ihre misverſtandene Zärt—
lichkeit ſelbſt den Grund zu dieſem Laſter gelegt haben.
Nicht minder ſchwer wird bei der Behandlung des
Bekämpfungstriebs gefehlt. Dieſer, wie jeder andere Trieb
iſt dem Menſchen durchaus unentbehrlich. Ohne ſolchen iſt
er ein Opfer ſeiner Umgebung, denn leben heißt kämpfen.
Gar zu häufig iſt es aber, daß man durch allzu große
Strenge das Kind einſchüchtert, d. h. deſſen Sorglich—
keit gewaltſam aufweckt, und den Bekämpfungstrieb da—
durch, daß man ihm eine überlegene Macht entgegen—
ſtellt, durch übertriebene Anſtrengung ſchwächt. Ein ſolches
Kind wird zu gleicher Zeit furchtſam und feig werden. Noch
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Erziehung. 347
häufiger iſt es, daß man dem ſtark entwickelten Bekäm—
pfungstrieb einen ungefähr gleich ſtarken entgegenſetzt; die
Folge davon iſt, daß er durch Uebung an Kraft mehr und
mehr zunimmt, bis er in Streitſucht und Händelmacherei
ausartet. Dem Bekämpfungstriebe muß man Wohlwollen,
Ehrerbietung, Gewiſſenhaftigkeit und Feſtigkeit entgegen—
ſetzen, und wenn das Kind verſtändig iſt, das Denkvermö—
gen. Nur auf dieſe Weiſe kann er zu harmoniſcher Unter—
ordnung unter dieſe höheren Geiſteskräfte gebildet werden.
In ganz ähnlicher Weiſe verhält es ſich mit dem Zerſtö—
rungstriebe, nur daß die Klippen, zwiſchen welchen dieſer
durchzuſchiffen hat, auf der einen Seite die Unfähigkeit iſt,
Scenen der Zerſtörung mit ruhigem Gemüthe anzuſchauen
und erforderlichenfalls dabei mitzuwirken, auf der andern
Geneigtheit zum Zorne, zur Rache, zur Bitterkeit, zu bru—
taler Gewaltthat.
Der Erwerbtrieb wird nicht ſelten dadurch übermäßig
früh entwickelt, daß man dem Kinde für dasjenige, was
es aus höheren Motiven thun ſollte, etwas zu geben ver—
ſpricht und wirklich etwas giebt. Es gewöhnt ſich ſo daran,
niemals ſeine Pflicht zu thun, ohne gewiſſermaßen dazu
beſtochen zu werden. In gleicher Weiſe bedient man ſich,
namentlich in den höhern Kreiſen der Geſellſchaft und in
öffentlichen Schulen, der Hebel der Beifallsliebe und des
Selbſtgefühls, und erweckt ſo, wie dort Habſucht, ſo hier
Eitelkeit und Hochmuth. Dennoch ſind alle dieſe Triebe
in mäßiger harmoniſcher Entwickelung von der höchſten Be—
deutung. Mit ſchwachem Erwerbtrieb wird der Menſch
nicht im Stande ſein, ſich die Bedürfniſſe ſeines Lebens in
hinreichendem Maße zu verſchaffen und das Erworbene zu—
ſammenzuhalten; mit zu ſchwacher Beifallsliebe wird ein
Charakter ſelten liebenswürdig, mit ſchwachem Selbſtgefühl
nicht ſelbſtvertrauend und ſelbſtſtändig ſein.
Der Verheimlichungstrieb führt in zu ſtarker Entwicke—
lung zur Geneigtheit, krumme Wege einzuſchlagen, in zu
ſchwacher dagegen zu einer Durchſichtigkeit des Charakters,
348 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Moral.
welche im Getreibe dieſer Welt uns gegen verſchwiegenere
und zurückhaltendere Naturen in großen Nachtheil bringt.
Alles dieſes ſind freilich nur Andeutungen, allein der
Raum geſtattet uns nicht, hier mehr auf die Einzelnheiten
einzugehen. Wer geneigt iſt, ſich mit dieſen Lehren mehr
im Einzelnen zu beſchäftigen, den verweiſen wir auf Warne,
Phrenology in the family or the utility of Phrenology
in early domestic Education. Edinburgh 1843.
$. 63.
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniß zur
Moral.
Der Menſch unterſcheidet ſich körperlich und geiſtig vom
Thiere weſentlich durch ſeine moraliſchen Anlagen. Gleich—
wie dem Thiere alle die Gehirn-Organe fehlen, welche die
höhere Wölbung des menſchlichen Kopfes bilden, ſo fehlen
ihm auch alle diejenigen geiſtigen Anlagen, welche durch
dieſe Organe vermittelt werden, insbeſondere die Empfin—
dungen des Wohlwollens, der Ehrerbietung, der Gewiſſen—
haftigkeit, der Hoffnung, des Wunderbaren und des Schö—
nen, das Thier kennt nur die materiellen, nur die irdi—
ſchen Intereſſen, die immateriellen, die überirdiſchen ſind
ihm fremd. Dieſer Gegenſatz macht es recht anſchau—
lich, welche Beſtrebungen es ſind, die den Menſchen über
die Thierwelt erheben, welche fein höheres Sondergut bil—
den, und welche daher ihn geiſtig beherrſchen ſollen. Wenn
wir uns daher von denjenigen geiſtigen Anlagen, die wir
mit den Thieren gemein haben, beherrſchen laſſen, wenn
dieſe uns den vorwaltenden Impuls unſerer Thätigkeit ge—
ben, ſo ſtellen wir uns mit dem Thier auf gleiche Linie,
ſtatt uns über daſſelbe zu erheben.
Die Unklarheit, welche bisher in dem Gebiete der See—
lenlehre herrſchte, hat auch in moralifcher Beziehung ihre
nachtheiligen Folgen gehabt; der Menſch hat ſich von der
Natur entfernt, der Unterricht in der engen Schulſtube ver—
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Moral. 349
mochte die Anregung des bewegten Lebens nicht zu erſetzen;
die Organe, welche die Grundlage der Moralität bilden,
find das Wohlwollen und die Gewiſſenhaftigkeit in Ueber:
einſtimmung mit einer erleuchteten Intelligenz; nicht durch
Worte, nicht durch auswendig gelernte Sprüche, ſondern
durch den Anblick von Scenen des Unglücks wird das Wohl—
wollen, nicht durch Erklärung von Geboten und Geſetzen,
ſondern durch Verhältniſſe zweifelhaften Rechtes wird die
Gewiſſenhaftigkeit zur Thätigkeit aufgefordert. Auf der
andern Seite bilden wiederum nicht Worte, nicht Redens—
arten, ſondern Thaten der Barmherzigkeit und der Gerech—
tigkeit die Kennzeichen der Wirkſamkeit jener Organe.
So lange übrigens die thieriſchen Triebe und die nie—
dern Empfindungen in dem geiſtigen Leben des Menſchen
eine ſo große Rolle ſpielen, können die höheren Empfindun—
gen des Wohlwollens und der Gewiſſenhaftigkeit in unſerm
Innern keine praktiſche Wirkſamkeit erlangen.
In unſern Schulen, in unſern Erziehungsanſtalten
aller Art begnügt man ſich immer damit, die Jugend in
der Moral zu unterrichten, d. h. ihnen von Moral zu ſpre—
chen, die Moralvorſchriften zu erklären und ſie zu einem
moraliſchen Lebenswandel aufzufordern. Unſere Jugend
lernt daher auch in der Regel nicht mehr als dieſes; ſie
verſteht es, erforderlichen Falls auch ihrerſeits von Mo—
ral zu ſprechen, die Moralvorſchriften zu erklären und
Andere zum moraliſchen Lebenswandel aufzufordern. In
ſolcher Weiſe wurde die Moral in das Gebiet der Theorie
verwieſen und drang daher ins praktiſche Leben nicht ein.
In dieſem treten die Anforderungen der Mode, des Luxus,
der Vergnügungsſucht, einer falſchen Ehre uns mächtig ent—
gegen; eine blos theoretiſche Moralität vermag es nicht,
mit allen dieſen Realitäten ſiegreich zu kämpfen.
Man klagt oft und mit Recht über das Sittenverderb—
niß und die Unproductivität unſerer Zeit. Beide, ſcheinbar
ſo verſchiedene Momente unſerer Tagsgeſchichte, haben doch
dieſelbe Urſache: Mangel an moraliſcher Kraft. Weil dieſe
350 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Moral.
die thieriſchen Triebe nicht zügelt, entſteht Sittenverderbniß,
und weil ſie die Intelligenz nicht erwärmt und begeiſtert,
fehlen die Elemente höherer Productivität. Die Intelligenz
hat in unſern Tagen einen Höhepunkt erreicht, welcher ſie
in ihrer ganzen Hohlheit darſtellt. Sie hat ſich zur Die—
nerin aller Laſter, aller niedrigen Beſtrebungen gebrauchen
laſſen, ſie hat keine ihrer Verſprechungen erfüllt. Als Die—
nerin der moraliſchen Empfindungen iſt ſie eben ſo nützlich,
wie ſie als Dienerin der thieriſchen Triebe und der niedri—
gen Empfindungen verderblich iſt. Nichts iſt ſo gemein, ſo
verworfen, was die Intelligenz unſerer Tage nicht bereit
geweſen, zu rechtfertigen. Wie die Intelligenz früherer
Jahrtauſende die Sklaverei, die Kampfſpiele der Gladiato—
ren und andere Unnatürlichkeiten zu rechtfertigen bemüht
war, ſo iſt die Intelligenz unſerer Tage geſchäftig, den
Wortbruch im Großen, die Knechtung des Geiſtes, die
Schwelgerei des Körpers, die übertriebenen Anſprüche der
Mode und des Luxus und einer falſchen Ehre zu rechtfer—
tigen. In unſern Tagen herrſchen noch immer die thieri—
ſchen Triebe und die niedrigen Empfindungen. Sie unter—
ſcheiden ſich von frühern Zeiten weſentlich nur dadurch, daß
jetzt die Intelligenz größtentheils die Stelle der brutalen Gewalt
vertritt, daß dieſe nur im Hintergrunde ſteht, während die
Intelligenz das vordere Glied einnimmt. Allerdings iſt
dieſe Intelligenz faſt überall durch Gründe einer beſſern In—
telligenz beſiegt worden. Allein da jener die brutale Ge—
walt zum Hintergrunde dient, dieſer der Hintergrund der
moraliſchen Kraft fehlt, half hier der Sieg auf dem Ge—
biete der Theorie ſehr wenig.
Es iſt eine herzzerreißende Erſcheinung, in chriſtlichen
Staaten unſerer Tage auf der einen Seite ſolche Schwelgerei,
ſolchen unſinnigen Luxus, ſolchen Modeſchwindel, ſolchen
Götzendienſt und auf der andern Seite ſo viele Armuth und
Noth zu gewahren. Wenn die höheren Stände den moraliſchen
Empfindungen nur eben fo viel Kräfte, Zeit und Geld wid—
meten, als den thieriſchen Trieben und niedrigen Empfin—
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Religion. 351
dungen, wie ganz anders wäre dann die Welt beſchaffen!
Die Anſprüche des Luxus und der Mode werden faſt durch—
gängig den wirklichen Lebensbedürfniſſen, die Gebote einer
falſchen Ehre werden faſt allgemein denjenigen der Moral
vorgezogen. So lange der Jugend in allen dieſen Bezie—
hungen ein ſo ſchlechtes Beiſpiel durch die That gegeben
wird, können alle Sprüche und Regeln, die man ſie aus—
wendig lernen läßt, nicht viel helfen.
Die Empfindungen des Wohlwollens und der Gewiſ—
ſenhaftigkeit werden in der That nicht geübt, daher bleiben
ſie ſchwach; die thieriſchen Triebe und niedern Empfindun—
gen werden ſchon frühzeitig unausgeſetzt zur Thätigkeit an—
geregt, daher erſtarken ſie.
F. 64.
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniß zur
Religion.
Die Grundlagen wahrer Religioſität bilden die Gefühle
der Ehrerbietung, der Hoffnung und des Wunderbaren in
Uebereinſtimmung mit einer erleuchteten Intelligenz. Nicht
durch auswendig gelernte Sprüche und angelernte Körper—
bewegungen werden dieſe Gefühle geweckt und genährt. Der
Anblick des Großen in der Natur und der Geſchichte, die
unmittelbaren Werke Gottes ſind es zunächſt, welche das
Gefühl religiöſer Ehrerbietung erwecken, nähren und ſtärken.
Der Blick in die Zukunft, in eine ſchönere, beſſere Welt
belebt unſere Hoffnung und die Geheimniſſe der Natur er—
regen unſere Bewunderung.
Auch ſind Worte nicht die Kennzeichen wahrer Reli—
gioſität, ſo wenig als Körperbewegungen, Gänge und
Geſänge dieſes ſind. Vertrauen auf Gott, Liebe zu ihm
und das Beſtreben, ſeinen Willen zu thun, d. h. die von
ihm gegebenen Geſetze zu beobachten und ſich in ſeine Fü—
gung zu ergeben, dieſes ſind die Beweiſe religiöſer Ehrer—
—
352 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Religion.
bietung. Allein nur zu häufig widerſtreben die Menſchen
den göttlichen Geſetzen; ſie thun gerade das Gegentheil von
dem, was die Natur ſie lehrt. Statt zu forſchen nach dem
Willen Gottes, ſtatt die Geſetze der Natur, welche er ge—
geben, zu achten, folgen ſie ihren eigenen verkehrten Neigun—
gen und beklagen ſich dann über ihr Unglück, als wäre es
nicht die Folge ihres, den Geſetzen Gottes widerſtrebenden
Benehmens. Die Hoffnung auf eine ſchönere Zukunft, die
Zuverſicht, daß jenſeits dieſes Lebens ein höheres Daſein
für uns beginne, und die darauf gegründete Seelenruhe
find die Kennzeichen religiöfer Hoffnung. Nicht das Glau—
ben an unverſtändliche Lehren, nicht das Feſthalten an
Dogmen, welche von Menſchen zu ihren Zwecken aufgeſtellt
wurden, ſondern das Gefühl der Bewunderung deſſen, was
in der That unerklärlich iſt, bildet das Kennzeichen des
Gefühls für das Wunderbare.
Nur wo die Kennzeichen dieſer drei Grundbeſtandtheile
der Religioſität ſich vereinigen, findet ſich die letztere in ihrer
ganzen Fülle und Stärke. Wie es übrigens Kennzeichen
der wahren Religioſität, ſo giebt es auch Kennzeichen der
falſchen. Die Klippen einer ſolchen ſind beſonders eine kalte
Intelligenz, ein ſtarrer Puritanismus und ein Vorwalten
der thieriſchen Triebe. Die kalte Erwägung kann die Regun—
gen eines warmen Gefühls nicht erſetzen. Das Streben
nach Gründen hat wohl ſeinen Werth, allein auch die Be—
wunderung hat den ihrigen; die Beweisführung können wir
nicht entbehren in menſchlichen Dingen, doch auch die An—
betung nicht in göttlichen. Die Wahrſcheinlichkeitslehre iſt
kalt im Vergleich mit dem Gefühle der Hoffnung und bie—
tet nicht denſelben feſten Anker, wie die Zuverſicht auf eine
beſſere Zukunft. Die Intelligenz vermag uns daher die
Stelle der Religion nicht zu vertreten; ſie giebt uns Be—
griffe und Gedanken, ſtatt bewegter Empfindungen.
Die Religion ſchließt Künſte und Wiſſenſchaften nicht
aus, ſondern heiligt und erhebt ſie. Der Sinn für Töne,
Farben, Bauwerke und Formen iſt uns nicht minder von
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Religion. 353
Gott gegeben, als das Gefühl der Ehrerbietung, der Hoff—
nung und der Bewunderung. Inſofern daher Töne, Farben;
Bauwerke und Formen blos als Hebel unſrer moraliſchen
Empfindungen dienen, ſind ſie keineswegs verwerflich, ſon—
dern preiswürdig. Unſer Schönheitsgefühl ſoll durch un—
ſere religiöſen Uebungen durchaus nicht verletzt werden. Es
heißt daher ebenſowohl der Natur widerſtreben, wenn wir
alle dieſe Anlagen unſeres Geiſtes nicht berückſichtigen, als
wenn wir ſie übermäßig hegen.
So häufig wird aber ſogar das Walten der niedrigen
Empfindungen und thieriſchen Triebe ſelbſt für Religioſität
ausgegeben. Die Furcht iſt ein Ausfluß der niedern Em—
pfindung der Sorglichkeit, die Verdammung anders Glau—
bender das Reſultat eines mächtigen Zerſtörungstriebs; die
Bekämpfung Derer, welche einer andern Kirche angehören,
die Wirkung eines regen Bekämpfungstriebs; die Furcht
ſteht niederer als die Hoffnung, die Verdammung wider—
ſpricht dem chriſtlichen Grundſatze der Liebe, die Bekäm—
pfung Andersdenkender dem Grundſatze der Verſöhnung,
wo daher Furcht, Kampfluſt und Verdammung vorwalten,
da iſt nicht Religion, ſondern deren ſchlimmſter Gegenſatz,
da walten nicht die höheren moraliſchen Empfindungen,
ſondern die thieriſchen Triebe und die nothwendige Folge
davon muß ſein, innere Zerriſſenheit, Troſtloſigkeit und See—
lenunfrieden, ſtatt der Begleiter wahrer Religioſität, des
Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Indem die Phre—
nologie annimmt, daß jeder normal gebildete Menſch die
Organe des Wohlwollens, der Gewiſſenhaftigkeit, der Ehr—
erbietung, der Hoffnung und des Wunderbaren beſitzt, ſo
nimmt ſie auch an, daß derjenige Menſch, welcher dieſe
Gefühle nicht kennt oder nicht zu kennen vorgiebt, kein
normal gebildeter Menſch iſt, oder ſich und Andere über
ſeine normale Bildung ſelbſt täuſcht. Indem die Phreno—
logie beweiſt, daß gerade diejenigen Hirnwindungen, welche
dem Menſchen eigenthümlich ſind, welche die höchſte Stelle
ſeines Hauptes einnehmen, die Gefühle des Glaubens, der
23
354 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte.
Liebe, der Hoffnung, der Gerechtigkeit und der Bewun—
derung vermitteln, ſo zeigt ſie, wie es der göttlichen Vor—
ſehung gefiel, uns ſchon durch die Stellung dieſer Organe
darauf aufmerkſam zu machen, welchen Rang ſie in unſerm
geiſtigen Leben einnehmen ſollten. Da die Menſchheit in
ſolcher Weiſe körperlich und geiſtig mit Empfänglichkeit für
Moral und Religion gebildet iſt, ſo können wir mit voller
Zuverſicht erwarten, daß es den Spöttern und Unheiligen
niemals gelingen werde, die moraliſchen und religiöſen Ge—
fühle aus der Seele des Menſchen zu verdrängen, im Ge—
gentheil wird jeder Gegenſtoß gegen dieſe Gefühle ſie zu
reger Thätigkeit auffordern, während ſie im Alltagsleben
der Sinnlichkeit und Eitelkeit nur zu leicht in Unthätigkeit
verſinken. Nur auf dem Gebiete der Freiheit werden ſich
daher auch die Gefühle der Moralität und Religioſität kräf—
tig entwickeln. Wer das Böſe im Keim erdrücken will,
erdrückt zu gleicher Zeit nur zu häufig den Sporn zu an—
geſtrengter Thätigkeit der höhern Kräfte der Seele. Wer
das Unkraut ausjäten will, reißt damit zu gleicher Zeit auch
den Weizen aus. Daher hat ſchon Chriſtus dieſes verbo—
ten. Er hat ausdrücklich geſagt, man ſolle warten, bis der
Weizen reif ſei. Allein Chriſtus hat nur gelehrt für die—
jenigen, die einfältigen Herzens ſind, und dieſes bewahren
nur wenige mehr im Getreibe des politiſchen und des Hof—
lebens.
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniß zum
Rechte.
Es iſt im Verlauf dieſes Werks oft darauf hingewie—
ſen worden, daß der Menſch keine Geſetze zu machen,
ſondern die Geſetze der Natur oder der Vorſehung nur zu
erkennen, ihnen zu huldigen oder zu widerſtreben vermöge.
Gerade ſo wie das Wechſelverhältniß der Töne und
der Farben, die Bildung der Geſtalten u. ſ. w. durch ewige
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte. 355
Geſetze geordnet iſt, ſo ſind es auch die Wechſelverhält—
niſſe der Menſchen. Wenn wir dieſe Ordnungen der ewigen
Weisheit unberückſichtigt laſſen und wir mit menſchlichen.
Satzungen gar ihnen entgegentreten, ſo wirken ſie nichts
deſto weniger fort, und es entſpinnt ſich ein Kampf, in
welchem der Menſch, als der ſchwächere, unterliegen muß.
Die ewigen Geſetze, welche das Wechſelverhältniß der
Menſchen beſtimmen, ſind bedingt durch die körperliche und
geiſtige Beſchaffenheit, welche uns von der Vorſehung ver—
liehen worden iſt, und daher insbeſondere durch unſere Ge—
hirn-Organiſation und die derſelben entſprechende Geiſtes—
beſchaffenheit.
Welches die uns verliehenen geiſtigen Vermögen ſind,
in welcher Weiſe ſie in Thätigkeit treten und in welchem
Wechſelverhältniſſe ſie miteinander ſtehen, haben wir im
Laufe dieſes Werks, wenn auch nicht ausführlich beſprochen,
doch kurz angedeutet. Als Grund -Anſicht haben wir feſt—
geſtellt, daß jedes Organ durch ſeinen natürlichen Gegen—
ſtand und insbeſondere durch die Thätigkeit des entſprechen—
den Organs eines Andern angeregt werde, alſo das Organ
des Zerſtörungstriebs durch Scenen der Zerſtörung und der
Grauſamkeit, das Organ des Wohlwollens durch Handlun—
gen der Barmherzigkeit.
Ein zweiter Grundſatz beſtimmt, daß im Wechſelver—
hältniſſe der geiſtigen Vermögen die höheren moraliſchen
Empfindungen und das Denkvermögen die Herrſchaft über
unſer ganzes geiſtiges Weſen führen, die thieriſchen Triebe
und niedern Empfindungen dagegen gehorchen ſollen.
Fragen wir nun 1) in welchem Verhältniſſe ſtehen
unſere Rechtsangelegenheiten zu dieſen beiden Grundſätzen?
2) Wie können ſie zu denſelben in ein richtiges Ver—
hältniß gebracht werden?
Die Antwort auf die erſte Frage iſt eine ſehr betrü—
bende. Unſere Geſetzgeber haben bisher auf die Anforde—
rung der Menſchennatur durchaus gar keine Rückſicht ge—
nommen. Es ergiebt ſich dieſes ſchon daraus, daß ſich
23 *
356 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte.
tauſenderlei verſchiedenartige Geſetzgebungen in den verſchie—
denen Theilen Deutſchlands gegenſeitig widerſprechen. Nicht
blos die verſchiedenen Staaten Deutſchlands haben verſchie—
dene Geſetzgebungen, ſondern auch die verſchiedenen Pro—
vinzen deſſelben Staates, die verſchiedenen Bezirke derſelben
Provinz und nicht ſelten die verſchiedenen Städte und Dör—
fer deſſelben Bezirks. Was auf der einen Seite des Baches
Recht, iſt auf der andern Unrecht; wir finden hier noch
immer die Worte Goethe's bewahrheitet:
„Es erben ſich Geſetz und Rechte
Wie eine ewige Krankheit fort,
Sie ſchleppen von Geſchlecht ſich zu Geſchlechte
Und rücken ſacht von Ort zu Ort;
Vernunft wird Unſinn, Wohlthat Plage,
Weh Dir, daß Du ein Enkel biſt!
Vom Rechte, das mit uns geboren iſt,
Von dem iſt leider nie die Frage.“
Was die zweite Frage betrifft, ſo iſt hier zu bemer—
ken, daß wir unſere poſitiven Geſetze nur dadurch mit den
ewigen Geſetzen der Natur in Uebereinſtimmung bringen
können, daß wir die letzteren erforſchen und mit den that—
ſächlichen Verhältniſſen unſerer Zeit in Uebereinſtimmung
bringen.
Nach einer dreifachen Einheit müſſen wir ſtreben, wenn
es in unſern Rechtsangelegenheiten beſſer werden ſoll. Nach
der Einheit der Geſetzgebung in den verſchiedenen Theilen
Deutſchlands, in den verſchiedenen Zweigen des Rechtsge—
biets und den verſchiedenen Staatsgewalten.
So lange in einem Kleintheil Deutſchlands für Recht
gilt, was in dem unmittelbar angrenzenden Unrecht iſt, in
tauſendfältiger Verſchiedenartigkeit, kann ſich nie eine feſte,
rechtliche Anſicht im Volke bilden. So lange in dem einen
Rechtsgebiete z. B. im Strafproceſſe für Recht gilt, was
im andern z. B. im Civilproceſſe Unrecht iſt, kann ſich nie
im Volke eine conſequente Rechtsidee bilden, und ſo lange
man endlich bei der Geſetzesanwendung und Geſetzesvoll—
ſtreckung wiederum von verſchiedenen Geſichtspunkten aus—
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte. 357
geht, können die verſchiedenen ſich bekämpfenden Staats—
gewalten nicht zu der Ueberzeugung führen, ſie gründeten
ſich alle auf eine und dieſelbe Rechtsidee.
Wenn wir nun zu den einzelnen Rechtsgebieten über—
gehen und mit dem Staatsrechte beginnen, ſo müſſen
wir mit Beſchämung bekennen, daß wir weit hinter den
Grundſätzen zurückſtehen, welche vor Jahrtauſenden von
Platon und Ariſtoteles gelehrt wurden; dieſe Weltweiſen
erkannten, daß die einzige feſte Grundlage des Staats die
Sittlichkeit ſei; die Phrenologie ſtimmt mit dieſer Grund—
anſicht vollkommen überein, indem ſie lehrt, daß der Staat
keinen andern Zweck haben könne, als die harmoniſche Ent—
wickelung aller ſeiner Mitglieder zu befördern.
Es haben die Staaten ihre Entwickelungs-Perioden
wie die einzelnen Menſchen; in der Kindheits-Periode der
Staaten wie der Individuen ſind die thieriſchen Triebe und
niedrigen Empfindungen vorherrſchend, und ſie bedürfen
daher einer mächtigen Gewalt, welche fie zugelt. In dem—
ſelben Maße aber, als die Nationen und die Individuen
auf dem Pfade ihrer Entwickelung fortſchreiten, in demſel—
ben Maße, als das Denkvermögen und die moraliſche Kraft
zunimmt, werden ſie mehr und mehr befähigt, ſelbſt zu
handeln und daher unwillig, ſich von Andern leiten zu laſ—
ſen; die Zügel der Herrſchaft müſſen mehr und mehr ge—
lockert werden, oder ſie werden gebrochen. Rom und Grie—
chenland hatten während der Periode ihrer politiſchen Kindheit
die monarchiſche Verfaſſung; ihre Jugendzeit begann mit
der republikaniſchen, ihr kräftiges Mannesalter wird bezeich—
net durch die reinſten demokratiſchen Formen. Als ihre
moraliſche Kraft abzunehmen begann, entwickelte ſich die
Pöbelherrſchaft, und ihr Greiſenalter wurde bezeichnet durch
die Herrſchaft von Deſpoten und Weibern.
In demſelben Maße, als die geiſtigen Kräfte der Bür—
ger ſich entwickeln, und als daher die Verfaſſungsformen
freier werden müſſen, in demſelben Maße erweitert ſich der
Kreis der Wirkſamkeit des Staats; während in der Kind—
358 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte.
heitsperiode des Individuums und des Staates zuletzt nur
für die Befriedigung der nothwendigſten Bedürfniſſe des
Lebens Sorge getragen wird, muß in ſpäteren Zeiten mehr
und mehr Rückſicht genommen werden auf die höheren gei—
ſtigen Bedürfniſſe deſſelben. Je großartiger, je erhabener
die Hebel ſind, mit welchen auf die Individuen gewirkt
werden kann, deſto großartiger und erhabener werden auch
die Zwecke ſein, welche man zu erreichen im Stande iſt.
Die Hebel der thieriſchen Triebe und niedrigen Empfindun—
gen, die Hebel, welche der Erwerbtrieb, der Zerſtörungs—
trieb, die Sorglichkeit und die Beifallsliebe an die Hand
geben, können nicht den Schwung der Seele, diejenige Be—
geiſterung hervorrufen, welche die höheren moraliſchen Em—
pfindungen der Ehrerbietung, der Gewiſſenhaftigkeit, der
Hoffnung u. ſ. w. begründen.
Das Charafteriftifche der thieriſchen Triebe und der nie—
drigen Empfindungen iſt ihre Beſchränktheit, die höhern
moraliſchen Empfindungen reichen über das Gebiet eines
kleinen Theils Deutſchlands hinaus, ſie reichen von dieſer
in jene Welt hinüber, ſie bilden den Gegenſatz zum Spieß—
bürgerthum, welches nur immer an ſich und den kleinen
Kreis denkt, in dem es ſich bewegt.
Auch die Thiere haben Erwerbtrieb, Nahrungstrieb
und Zerſtörungstrieb, auch die Thiere haben Sorglichkeit
und Beifallsliebe; auch die Thiere lieben ihre Jungen, allein
nur der Menſch hat Gefühle für das, was ihm ferner
liegt, für ein größeres Vaterland, als den heimiſchen Herd,
für eine Gemeinſchaft des Geiſtes, des Strebens und des
Wirkens. Wer daher den Menſchen auf den engen Kreis
ſeiner Familie, ſeines Gewerbes, ſeines Dorfes oder ſeiner
Stadt beſchränken will, der will ihm gerade diejenige Sphäre
der Thätigkeit rauben, welche ihn über das Thier erhebt.
Im Gebiete des Strafrechts ſtehen ſich die man—
nigfaltigſten Syſteme gegenüber, allein keines derſelben be—
ruht auf einer Prüfung der Menſchen-Natur. Mehr oder
weniger gründen ſie ſich alle auf die peinliche Halsgerichts—
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte. 359
ordnung Kaiſer Carl's V., welcher ſie ſich bemühten, ihre
Anſichten unterzuſchieben. Die Phrenologie ſteht zu der pein—
lichen Halsgerichtsordnung Kaiſer Carl's V. in einem ganz
andern Verhältniſſe, als alle Strafrechts-Syſteme; ſie fin—
det in dieſem Machwerke des 16. Jahrhunderts durchaus
keine reine, wahre Grundidee, weder die Idee der Gerech—
tigkeit, noch der Beſſerung, noch der Prävention, noch pſy—
chologiſchen Zwanges; fie findet in ihr nur den Ausdruck
einer finſtern, gewaltthätigen, wenig intelligenten und noch
weniger moralifchen Zeit. Sie erklärt, daß auf dem Grunde
eines ſolchen Geſetzbuchs durchaus kein den Bedürfniſſen
der Menſchennatur entſprechendes Strafrecht gebaut werden
könne. Die peinliche Halsgerichtsordnung Kaiſer Carl's V.
und mit ihr alle Strafgeſetzbücher neuerer Zeit beruhen auf
dem brutalen Grundſatze: für das Uebel, das Verbrechen
wird dem Verbrecher das Uebel, die Strafe zu Theil. Die—
ſer Grundſatz iſt ebenſo unmenſchlich, als er unchriſtlich und
unzweckmäßig iſt. Unſere Criminaliſten ſind um Jahrtau—
ſende zurück, das Chriſtenthum wie die Humanität iſt an
ihnen ſpurlos vorübergezogen; das Chriſtenthum lehrt: lie—
bet eure Feinde, ſegnet, die euch fluchen, thut wohl Denen,
die euch verfolgen. Die Humanität lehrt: es iſt ein Unglück,
unter Verhältniſſen und mit Anlagen geboren zu werden,
welche zum Verbrechen führen; wir ſollen Den, welcher
darunter leidet, bemitleiden, aber nicht ihn verfolgen und
haſſen. Die Lebenserfahrung zeigt, daß alle die Strafen,
welche jetzt verhängt zu werden pflegen, den Staat nicht
ſicher ſtellen, ſondern ihn mehr und mehr gefährden. Es
iſt eine unter allen Criminaliſten anerkannte Thatſache: un—
ſere Zuchthäuſer ſind die Pflanzſchulen der großen Verbre—
cher und unſere Hinrichtungen die Veranlaſſungen zu rohen
Pöbelausbrüchen und nicht ſelten zu Mordthaten.
Wir ſind Männer geworden und werden noch unter
der Zuchtruthe sleich Kindern gehalten. Wir ſind Chriſten
geworden und das Schwert der Rache wird noch über un—
ſern Häuptern geſchwungen Wir haben Quarantainen ge—
360 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte.
gen die orientaliſche Peſt gebaut, aber unſere Zuchthäuſer
ſind zu Anſtalten der moraliſchen Peſt geworden, welche
ſich von ihnen aus über Stadt und Land verbreitet. Wir
haben Anſtalten für Irre und Kranke aller Art; allein keine,
wo die gefährlichſten Irren, die moraliſch-kranken, die Ver—
brecher geheilt werden könnten.
Jetzt fängt man zwar an, dieſes zu erkennen; allein
man ſieht nicht den Grund des Uebels. Man bemüht ſich
jetzt, die Strafanſtalten nach beſſern Syſtemen zu bauen;
allein eine Strafe kann nicht nach einem andern Syſteme
vollzogen werden, als demjenigen der Strafgeſetzgebung.
So lange dieſes auf dem Grundſatze: „Uebel für Uebel“
beruht, auf dem Grundſatze brutaler Gewalt, ſo lange die—
ſes nicht der Ausfluß der höheren moraliſchen Empfindun—
gen, ſondern nur des Zerſtörungstriebs iſt, können unſere
Strafanſtalten ſich weſentlich nicht beſſern.
Die Phrenologie geht von dem Grundſatze aus: das
Verbrechen iſt ein Symptom geiſtiger Krankheit. Es be—
weiſt, daß die thieriſchen Triebe des Verbrechers im Ver—
hältniß zu ſeinen moraliſchen und intellectuellen Kräften zu
ſtark ſind, daß letztere erſteren keine genügenden Gegenge—
wichte entgegenſetzen. Es müſſen daher die thieriſchen Triebe
geſchwächt, die moraliſchen und intellectuellen Kräfte des
Verbrechers geſtärkt werden, und bevor ein richtiges Ver—
hältniß zwiſchen dieſen verſchiedenen Kräften eingetreten,
d. h. bevor der geiſtig Kranke hergeſtellt und dadurch un—
gefährlich geworden iſt, kann er ſeine Freiheit nicht wieder
erhalten.
Die große Gewalt, welche übrigens in ſolcher Weiſe
dem Strafrichter eingeräumt wird, ſetzt großes Vertrauen
voraus; dieſes beſitzt ein, einer beſtimmten abgeſchloſſenen
Kaſte angehöriger, von der Regierung angeſtellter Beamter
nicht. Dieſes kann nur frei aus dem Volke gewählten,
freien und unabhängigen Männern geſchenkt werden. Je
größer die Gewalt iſt, welche in ſolcher Weiſe dem Straf—
richter eingeräumt wird, deſto größer müſſen daher auch die
Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte. 361
Garantieen gegen deren Misbrauch ſein. Heimlichkeit und
Schriftlichkeit bieten dieſe Garantieen nicht. Nur bei öffent—
lich-mündlichem Verfahren ſind daher jene Reformen mög—
lich. Allerdings mag man mit Recht die Kinderſtube vor
den Blicken der Welt verſchloſſen halten. Das Handeln,
das Schalten und Walten des Mannes tritt zu der Stube,
tritt zum Hauſe heraus. Das Thun des Mannes ſoll und
muß öffentlich ſein. Ich wiederhole: wir ſind zu Männern
geworden und unſere Beherrſcher haben kein Recht, uns
länger in der Kinderſtube zu halten.
Unſer Proceß liegt noch in den Windeln. Es iſt
an der Zeit, daß er gleich der Nation, der er angehört, zum
Manne werde.
Wenn wir unſer Civilrecht ins Auge faſſen und nach
den Gründen fragen, auf welchen deſſen wichtigſte Beſtim—
mungen beruhen, ſo finden wir keinen andern als den Erb—
gang. Weil vor Jahrhunderten dieſe oder jene Beſtimmung
durch die Laune eines Rechtsgelehrten oder eines Machthabers
eingeführt wurde, weil die Römer vor Jahrtauſenden dieſe Be—
ſtimmung hatten, haben wir ſie jetzt unter einem andern Him—
melsſtriche, unter durchaus veränderten kirchlichen und politi—
ſchen Verhältniſſen. Niemand fragt, wie ſich dieſe oder jene
Beſtimmung des Civilrechts paſſe zu unſern Religionsbegrif—
fen, zu unſern Lebensgewohnheiten, zu unſerer geiſtigen
Entwickelungsgeſchichte. Die wichtigſten, tiefeingreifendſten
Beſtimmungen unſers Civilrechts wie unſers Criminalrechts
haben wir lediglich deswegen, weil unſere Altvordern keine
beſſeren Geſetze zu geben wußten.
Die Geſetzgebung eines Staats ſollte aus einem Stücke
ſein. Unſere Geſetzgebungen ſind aus Millionen von Fleck—
chen zuſammengeſetzt. Dieſe Fleckchen müſſen wir in vielen
tauſend Nummern von vielen hundert Regierungs-, Pro—
vinzial- und Bezirks- und ſtädtiſchen Blättern zuſammen—
ſuchen. Dieſe verſchiedenen Fetzen paſſen nicht zu einander,
wenn wir die Geſetzgebung des kleinſten Kleintheils Deutſch—
lands ins Auge faſſen, und noch viel weniger, wenn wir
362 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte.
uns zu dem Gedanken einer deutſchen, einer nationalen Ge—
ſetzgebung erheben. i
Einheit in der Geſetzgebung iſt nur möglich, wenn ſie
ſich gründet auf die Bedürfniſſe der Menſchen-Natur. So
lange man auf dieſe keine Rückſicht nimmt, werden ſich
unſere Geſetzgebungen in den verſchiedenen Staaten, in den
verſchiedenen Rechtsgebieten werden ſich die verſchiedenen Ge—
walten deſſelben Staats ſich ſelbſt unbewußt immer befehden,
ſich gegenſeitig widerſtreben, und ſo ihren eigenen wie den
Intereſſen der Nation feindlich entgegentreten).
1) S. meine S. 9, Note 3 angeführten juriſtiſchen Abhand—
lungen.
eat Tee x.
Die Zahlen verweifen auf die Seitenzahl.
Sch. bedeutet
Schriftſteller.
A.
Aberglaube 158.
Abnahme des Gehirns 29. 37.
Abſchließungstrieb oder Einheits—
trieb 85 ff.
Abſtraktionen 222.
Abwechslung in den Unterrichts—
gegenſtaͤnden 341,
Abweichungen vom vollkommenen
Parallelismus der aͤußern und
innern Schaͤdelflaͤche 36.
Acrel, Erwerbtrieb 113.
Aehnlichkeit der Gehirnbildung, im=
mer verbunden mit Aehnlichkeit
der geiſtigen Anlagen und Nei—
gungen 30. — in Familien, Na⸗
tionen und Raſſen 274.
Aengſtlichkeit aus Beifallsliebe 123.
Aeſop 219.
Aeußerliche Heilmittel kranker Or—
gane 32.
Aeußerungsarten der Seelenvermoͤs
gen 307.
Affen, ihre Kinderliebe 79. Nach:
ahmung 172. Eitelkeit 125.
A Unterſchied von Leidenſchaft
Afrikaner, Gewiſſenhaftigkeit 149.
Alba, Ehrgeiz und Zerſtoͤrungs—
trieb 141.
Alexander von Macedonien 326.
Allegorie 216.
Alxinger 94.
St. Ambroſius 137.
Analyſe 223. — verſchiedener See—
lenzuſtaͤnde 250.
St. Anaſtaſius 137.
Anatomiſche Einwendungen gegen
die Phrenologie 233.
Angelika Kaufmann, Idealitaͤt 160.
Angſt 129.
Anhaͤnglichkeit oder Anſchließungs—
trieb 88 ff.
Anmaßung 120.
Anmuth 161.
Anregung der Bewegung 13.
Anſchließungstrieb oder Anhaͤnglich—
keitstrieb 88 ff., in Verbindung
mit andern Geiſtesvermögen 91.
Anſtrengung, geiſtige, ermuͤdet nicht
alle geiſtige Vermoͤgen zugleich 30.
— uͤbermaͤßige, ihr nachtheiliger
Einfluß 47.
Antiken 57.
Antipathie 257.
Antonius der Fromme 137.
Apollonius von Rhodus 67.
Arago, Zahlenſinn 212.
Archimedes, Zahlenſinn 212.
Arioſt, Idealität 160.
Ariſtoteles 238, ſ. Staatsrecht 357.
Arnold, Sch. 4, 74.
Arndt 96.
Arterien 12, 102.
Aſiaten, Gewiſſenhaftigkeit 149.
364
Aftley Cooper 25.
Athmungsbewegung 17.
Attomyr, Sch. 9, 113.
Aufmerkſamkeit 257.
Auge, verſchiedene Lage 58. —rand
in Bezug au ech Un⸗
kerſuchung 5
Ausdauer 145.
Außenſeite der Dinge, Verhältniß
zur innern Seite 51, 52.
Autoritätenglaube 140.
=.
Bacon 222, feine Seelenlehre 238,
Groͤße ſeines Gehirns 243.
Bautalent 164.
Bayle 180. Gegenftandfinn 187.
Behandlung der Menſchen nach ih—
ren verſchiedenen Charakteren 308.
Behutſamkeit 127.
Beifallsliebe 122.
Beiſpiel, wirkt mächtig bei der Er—
ziehung 345.
Bekaͤmpfungstrieb 93 ff. Verbin:
dung mit andern Organen 95.
— in Dale auf Erziehung 346.
Bell,
mr 1319 75 98.
Berard „Gegner der Phrenologie ? 233.
Berhammer, e ſeine Verglei—
chungsgabe 216.
Beſcheidenheit 139.
Beſonnenheit 129.
Beſſieres, Sch. 8
Beſtaͤndigkeit 146.
Beſtimmtheit der Handlungsweiſe
144, 146.
Bethoben, Tonſinn 177.
Bewegung und Empfindung 13 19
Bewegung, verſchiedene, bei den
verſchiedenen Temperamenten 54.
Bewegungsfaͤhigkeit 48.
Bewußtloſigkeit 0 Druck auf
das Gehirn 26.
Bibel, die Phrenologie ift nicht im
Widerſpruch mit ihr 230.
Biber, Bautalent 165.
Bidder, Zahlenſinn 212.
Bienen, Bautalent 166.
Bigotterie 140.
27, 29, 68, 114.
Regiſter.
Bildungsgeſchichte der Menſchheit,
Data daraus 32
Blumauer, Idealitaͤt 160,
Blumenbach 26.
Blut im Gehirn
Boerhave 25.
Boileau, Witz 167.
W Biſchof, Zerſtoͤrungstrieb
Bonnet, ſeine Seelenlehre 239.
Bos und gut 265.
Boͤswilligkeit der Gegner der Phre—
nologie 237.
Boyeldieu, Tonſinn 177.
Brandſtiftung, 28 aug dazu 103.
Brouſſais, Sch. 8
Bruce, Robert, 17 5 Bekaͤm⸗
pfungstrieb 94.
Brunnel, Bautalent 155.
Brutus 43.
Budge, Dr., Sch. 72.
Buffon, Gegner der Phrenologie 233.
Bulwer, Kritik deſſelben 320.
Burchard 25.
Burdach 74, feine Seelenlehre 239.
Burke, Mörder 55.
Burns, Robert, 79, 85, 131.
Byron 101. Kritik deſſelben 318.
C.
Caligula 104, 133.
Callot, Geſtaltſinn 191.
Caninchen, Bautalent 165.
Caraibe, Bekaͤmpfungstrieb 94. Zur:
ſtoͤrungstrieb 98. Erwerbtrieb
11}. Feſtigkeit 140. Wohlwol⸗
len 132. Vergleichungsgabe 216.
Schlußvermoͤgen 221.
Carakalla, Verheimlichungstrieb
106. Wohlwollen 133.
Carl XII., ſein Geſchlechtstrieb 68.
Carl IX. Zerſtörungstrieb 98.
Carliſten in Frankreich 139.
Carlo Cigniani 69.
Carricatur 172.
Cartouche III.
Caͤſar 326. Selbſtgefuͤhl 118.
Caſtle, Sch. §, 10, 269, 298.
Caſtraten 71.
Catalani, Tonſinn 177.
Regiſter.
Catharina v. Medicis,
chungstrieb 106.
Cato v. Utica, Feſtigkeit 147.
Celtiſche Nationen, ihr groͤßerer
Einheitstrieb 80, groͤßere An—
haͤnglichkeit 89.
Cervantes, Witz 167.
Ceyloneſiſcher Knabe, ſchwacher Be—
kaͤmpfungstrieb 93. Zerſtoͤrungs—
trieb 97. Sorglichkeit 127. Ge—
fuͤhl fuͤr das Wunderbare 156.
Chamiſſo 76, 83, 92.
Channet 25.
Chaucer, Schlußvermoͤgen 220.
Chaymas, Volksſtamm, Zahlen—
ſinn 211.
Chelius, Gewichtſinn 197.
Chevenix, Schr. 28, 32.
Chineſen, Farbenſinn 200.
Chladni's Klangfiguren 180.
Choulant, Sch. 5.
Chriſtliche phrenologiſche Geſell—
ſchaft in England 230.
ER Raphael's, Ehrerbie—
tung 137.
St. Chryſoſtomus 137.
Cicero 111. Feſtigkeit 147. Schluß:
vermoͤgen 220.
Civilrecht, unſer deutſches, in nicht
preiswuͤrdigem Zuſtand 361.
Clara Fiſcher Nachahmung 171.
Claude Lorrain, Farbenſinn 198.
Ortſinn 204.
Claudine Alexandrine v. Tencin,
Verheimlichungstrieb 106.
Colburn, Sahlenſinn 211.
Columbus, Ortſinn 203.
Combe, G., ſeine Reiſe nach Nord—
amerika 8. Schr. 6, 37, 71,
72, 81, 88, 89, 99, 115,
116, 118, 122, 130, 134 142,
147, 149, 154, 157, 162, 167,
168, 173, 180, 185, 189, 192,
195, 197, 202, 205, 207, 209,
213, 215, 220, 274, 285, 293.
211.
Combination der geiſtigen Thaͤtig—
keit 242.
Commiſſuren 21, 22.
Complicirtheit, . größere
des Gehirns 2
Concentrativeness 85.
Verheimli—
365
Condamine, Naturforſcher, ſein Zer—
ſtoͤrungstrieb 101
Condillac, ſeine Seelenlehre 239.
Schlußvermoͤgen 220.
Conſtantin, Ehrerbietung 137.
Constructiveness 164.
Cook, Ortſinn 203.
Cordonnier Srangois 117,
Corpus callosum 21. 87.
Cotta, Sch. 28.
Crebillon, Witz 168.
Crescentini, Tonſinn 177.
Crook 115.
Cruveilhier 17.
Culpa, ſchuldhafte Vergehung 232.
Cultus 141.
Curran, Ordnungsſinn 174.
Cuvier 25. Groͤße des Gehirns 242.
D.
Daͤnemark 9.
Dannecker, Bautalent 165.
Danton, Wohlwollen 133.
Darſtellungsvermoͤgen 164.
theilung 61.
Daſein Gottes, von Manchen ge—
leugnet 222
Delille, Idealitaͤt 160.
Demokrit, ee ee 220.
Demuth, 121, 139
Denkvermögen 214. 1 61,
zerfaͤllt in Vergleichungsgabe und
Schlußuvermoͤgen 34.
Des Cartes, feine Seelenlehre 239.
ſein Zahlenſinn 212.
Deutſche, Verheimlichungstrieb 107.
Selbſtgefuͤhl 121. Sorglichkeit
128. Ehrerbietung 142. Ton-
ſinn 177. Thatſachenſinn 208.
Dichter der Freiheit 322.
Diderot, Schlußvermoͤgen 220.
Dieb, Verheimlichungstrieb 106.
Erwerbtrieb Il. —organ IHM.
Diogenes, Witz 168.
Diploe 23.
eee krankhafter Ortsſinn
Dobſon, William, Geſtaltſinn 190.
Dohle, Erwerbtrieb 111. Nah—
rungstrieb 115.
Dolus (abſichtliche Vergehung) 232.
Doppelte Organe, ein einfacher
Ein⸗
366
Geiſt, was durch diefe That:
ſache bewieſen wird.
Druck auf das Gehirn 26, 32.
Duellſucht, aus großem Bekaͤm—
pfungstrieb 93.
Dumoutier 8.
Dungliſon 73.
Dura mater 23.
Van Dyk, Geſtaltſinn 191.
E.
Ehe 76, 287 ff. Verbot derſelben 289.
Erſchwerung derſelben 289.
Ehre 302.
Ehrerbietung, Organ 24. 135.
Ehrlichkeit 152.
Eiferſucht 124.
Eigenduͤnkel 120.
Eigenſinn 144, 146.
Einfachheit, edle, 151.
Einfluß der . auf die Koͤr⸗
perbewegung 33.
Einheit, behauptete, des Gehirns,
widerlegt 233. — des Geiſtes
von den Phrenologen nicht be—
ſtritten 236.
Einheit in der Geſetzgebung 362.
Einheitstrieb 24, oder Abſchlie—
ßungstrieb 85.
Eintheilung d. Geiſtesvermoͤgen IS ff.
Einwendungen gegen die Phreno—
logie, Widerlegung derſelben 227,
widerſprechen einander 229.
Elephant, ſein Schaͤdel 37. Bau—
talent 165.
Elliotſon 316.
Empfindung und Bewegung 13 ff.
Empfindungsvermögen 117, allge—
meines zerfaͤllt in Wohlwollen,
Ehrerbietung u. ſ. w. 34. Eins
theilung 60. Empfindungsver—
moͤgen zu oft bei der Erziehung
vernachlaͤſſigt 342.
Energie kein Grundvermoͤgen 251.
England 5.
Englaͤnder, Verheimlichungstrieb
107. Selbſtgefuͤhl 118. Sorg—
lichkeit 128. Gewiſſenhaftigkeit
149. Tonſinn 177. Thatſachen—
ſinn 208.
W der Handlungsweiſe
Regiſter.
Entſtellungen der Grundſaͤtze der
Phrenologie 231.
Entwickelung der Geiſteskraͤfte, uͤber—
einſtimmend mit der Entwickelung
ihrer Organe 28.
Entwickelungsgang d. Nationen 329.
Erektionen bei Erhaͤngten 72.
Erfahrung, Grundlage der Phre—
nologie 228
Ergebung 139.
Erkenntnißvermoͤgen 186, Einthei—
lung 61.
Erwerbtrieb 110. — mit Ruͤckſicht
auf Erziehung 347.
Erziehung 32. Die Phrenologie
in ihrem Verhaͤltniß zu derſel—
ben 332. — verſchieden je nach
Verſchiedenheit der Temperamente
Eskimaux, Geſchlechtstrieb 68. Kin—
erliebe 80. Gewiſſenhaftigkeit 149.
Ordnungsſinn 175.
Eſſer, Advocat, Farbenſinn 199.
Eugen Aram, Kritik 320.
Euklides, Zahlenſinn 212.
Euler, Zahlenſinn 212.
Euripides 160.
Europas politiſche und kirchliche
Geſtaltung 293.
Europaͤer, Gewiſſenhaftigkeit 149.
Euſtache, Wohlwollen 131.
F.
Faͤhigkeiten 54, 186.
Farbenſinn 198.
Faſſung 154.
Fatalismus 236.
Feigheit aus kleinem Bekaͤmpfungs—
trieb, ſ. d.
Ferrareſe, Sch. 8.
Feſtigkeit 24, 143.
Fichte, Schlußvermoͤgen 220.
Fixe Ideen 50.
Fleiſchgenuß 103.
Flourens 71.
Fornix 22.
Fortſchritte, theilweiſe, des Gei—
ſtes 33.
Foſſati 8.
Foͤtus ſ. Gehirn 19.
Frangois, genannt Cordonnier,
Idealitaͤt 160.
Regiſter.
Franz I. von Frankreich, Gewiſ—
ſenhaftigkeit 152.
Franzoſen, Verheimlichungstrieb
107. Selbſtgefuͤhl 118. Sorg—
lichkeit 128. Tonſinn 177. That⸗
fachenfinn 208. Vergleichungs—
gabe 216.
Freiheit, geiſtige, 39 ff., innere,
Grundlage der aͤußern 322. —
des Willens 236.
Freude 250.
Freudenmaͤdchen, Geſchlechtstriebbs.
Freundſchaft 89, verſchiedener Sinn
des Worts 301.
Frivolitaͤt 78.
Friedrich der Große 326.
Friedrich von Oeſterreich 152.
Frohſinn 154.
Fuchs, Verheimlichungstrieb 106.
Sorglichkeit 129.
G.
Gaben 214.
Galilei 8. Ortſinn 203. Schluß⸗
vermoͤgen 220.
Gall, Geſtaltſinn 193. Geſchichte
ſeiner Entdeckung 3 ff. Geburt 3.
Vorleſungen 4. Tod. 5. Sch.
4, 5, 6, 23, 25, 27, 29, 37, 58,
59, 71, 72, 73, SJ, 89, 95, 99,
103, 104, 113, 118, 119, 122,
125, 130, 134, 142, 147, 160,
167, 168, 173, 178, 182, 189,
191, 198,205,209, 215,220,225.
Ganglien 14.
Gans, Sorglichkeit 128.
Garrick, Nachahmung 172.
Gauthier, Zerſtoͤrungstrieb 103.
Gebet 139.
Gedaͤchtniß 24, allgemeines zerfaͤllt in
verſchiedene einzelne Gedaͤchtniſſe
34. — kein Grundvermoͤgen 251.
Geduld 250.
Gefallſucht 123.
Geflechte (Nerven) 15.
Gefraͤßigkeit 116.
Gefühle 117.
Gegenliebe 133.
Gegenſtandſinn 189.
Gehirn 11, 15. Beſchreibung 18 ff.
Centralorgan des Geiſtes 25, ſeine
Geſundheit 48, fein Pulſiren ſicht—
367
bar 26. — Gehirn eine Mehr—
heit von Geiſtesorganen 27, ſeine
Abnahme 29. Kleines — 19,
66 ff., nicht blos Organ des Ge—
ſchlechtstriebs 71.
Gehorſam keine Tugend 265.
Geifterglaube 156.
Geiſtesgegenwart, durch Einheits—
trieb bedingt 88.
Geiſteskrankheiten 19. — zweierlei
Arten, mehr koͤrperlicher oder
mehr geiſtiger Natur, ihre Er—
kenntniß 313.
Geiſtesthaͤtigkeit ohne Gehirnthaͤ—
tigkeit nicht denkbar 26.
Geiſtige Getraͤnke 334.
Geiz 112.
Geizhals, alter, 108.
Gemſe 118. Sorglichkeit 128.
Genialitaͤt 265, partielle 31.
Georg III., Gegenſtandſinn 189.
Georges Sand, Kritik 321.
Gerechtigkeit 149.
Geſchichte der Menſchheit, Verhaͤlt—
niß der Phrenologie zu ihr 325.
Geſchlechtstheile nicht der Sitz des
Geſchlechtstriebs 70.
Geſchlechtstrieb 66, ſpaͤtere Ent—
wickelung 68, ſein Einfluß auf
das Gemuͤth 75, ſeine Verbin—
dung mit andern Organen 77.
Geſchmack, guter 161, 257.
Geſetze der geiſtigen Thaͤtigkeit 242.
Geßner, Idealitaͤt 160.
Geſtalt des Kopfs im Allgemeinen,
ihre Bedeutung 244.
Geſtaltſinn 190.
Geſundheit des Gehirns 48.
Geſundheit des Koͤrpers, die erſte
Bedingung der Geſundheit des
Geiſtes 332.
Geſundheitsverhaͤltniſſe, ihr Ein—
uß 49.
Gewandtheit 48.
Gewichtſinn 195.
Gewiſſenhaftigkeit 147.
Gewiſſensbiß 151.
Gewohnheit 257.
Glaube an Erſcheinungen 156.
Sau an Unſterblichkeit, an Gott
Gleichniß 216.
368
Gleizes, Sch 333.
Gluck, Tonſinn 177.
Goethe 29, 76, 77. Groͤße des Ge—
hirns 243. Idealitaͤt 160. Ver:
n 216.
Gott 141.
Gottfried, Giftmiſcherin 98, 102.
Gotz v. Berlichingen, Bekämpfungs⸗
trieb 95.
een der geiſtigen Thaͤtigkeit
Grade der Groͤße der Organe, am
beſten durch Zahlen beſtimmt 56.
Grauſamkeit 100.
Graue Subſtanz 20.
Greiſenalter 284.
Grenzen der Organe, ihre Nicht—
nachweisbarkeit ſpricht nicht ge—
gen die Phrenologie 234.
Griechen, alte, großer Bekaͤmpfungs—
trieb 94. Gefühl für das Wun—
1 156. Conſtructionstalent
Griffiths, Mörder 131.
Grohmann, Sch. 10.
Groͤße des Gehirns und einzelner
Organe 243
Groͤße eines Geiſtesorgans, ein Maß—
ftab feiner Kraft 34. — über:
haupt ein Maßſtab der Kraft 34.
X Größen, Rechnungen der Phi:
loſophen damit 63.
Groͤßenſinn 193.
Grund und Folge 223.
Grundkraͤfte des menſchlichen Gei—
ſtes 24.
Grundlehren der Phrenologie 24.
Guſtav Adolph, Ehrerbietung 138.
Gut und boͤs 265.
H.
van der Haer 67
Habſucht 112.
Hackert, Ortſinn 204.
Bagger, David, Gewiſſenhaftig—
keit 147.
Haller 25.
Halsgerich tsordnung 5
Carl's V. 142, 359.
Halsſtarrigkeit 146.
Hamſter, Erwerbtrieb 111.
rungstrieb 115.
peinliche,
Nah⸗
Regiſter.
Handel, Tonſinn 176.
Hare der Moͤrder 55.
Harmoniſches Zuſammenwirken der
Geiſteskraͤfte, Hauptzweck der Er—
ziehung 343.
Hartmann, ſeine Seelenlehre 239.
Hartwick 71
Haydn, Tonſinn 176.
Hegel, ſeine Seelenlehre 239.
Heidelberg, Combe's Vorleſungen
daſelbſt 10.
Heilige, Ehrerbietung 137.
Heilkunde, Verhaͤltniß der Phre—
nologie zu ihr
Heilmittel, außerliche, kranker Or-
gane 32.
Heimathsliebe 85.
Heinroth, feine Seelenlehre 239.
Heinrich IV., Wohlwollen 133. Witz
168. Vergleichungsgabe 216.
Heiterkeit 133, 154.
Hemiſphaͤren 28.
Herodes der Große 72.
Herſchel, Bautalent 165. Zahlen—
ſinn 212.
Herrſchſucht 125.
Herzensguͤte 132.
Hette, Dr., 135.
Heuſinger 73.
Hindus, Bekaͤmpfungstrieb 94. Ver⸗
heimlichungstrieb 105. Ehrer⸗
an 136. Vergleichungsgabe
Hippokrates 69.
Hirnwindungen, die vordern klei—
ner als die hintern 59.
Hirſchfeld 67, 71.
Hobbes, ſeine Seelenlehre 239.
Hochmuth 120.
Hode 70.
Höflichkeit, Alltags: ,
Hoffnung 153
Homer, Idealitaͤt
Hoppe, Sch. 9, 115.
Horaz, Witz 168.
Hugo, Victor, 101.
Lol, Alexander v., Ortſinn
203.
Humboldt, Karl Wilhelm v., Ord—
ren, 174.
Hume, Vergleichungsgabe 216.
Humor 107.
125, 133.
Negifter.
Hund, Erwerbtrieb 111. Bauta—
lent 165. Beifallsliebe 125.
Hunger, verſchieden von Eßluſt 111.
Huygens, Zahlenſinn 212.
Fr
Jagemann und Noͤllner, Zeitſchrift
105.
Jakob Jervis, Nachahmung 171.
Jakobiten in England 139.
Idiotismus, partieller, 31, 35.
Idealitaͤt 160.
Ideenfolge 257.
Jeidiah Buxton, Zahlenſinn 212.
Impuls zur Handlung geht haupt—
ſaͤchlich von den Gefuͤhlen aus 60.
Incoherence 50.
Indianer, nordamerikaniſcher 85.
Intelligenz 59,
Intoleranz 139.
St. Johannes 137.
Joſeph und Potiphar 69.
Joſephus, Sch. 72.
Jones, Groͤßenſinn und Gewicht—
ſinn 108.
Italien 8.
Italiener, Verheimlichungstrieb 107.
Tonſinn 177.
Juͤnglingsalter 279.
. Gegner der Phrenologie
Juſtinus Kerner 299.
Juvenal, Witz 168.
K.
Kalmuͤcken, Erwerbtrieb III.
Kant, ſein Geſchlechtstrieb 68.
Schlußvermoͤgen 220, 222; ſeine
Seelenlehre 239.
Karl der Große 326.
Katharina v. Medicis, Zerſtoͤrungs—
trieb 98.
Katze, Verheimlichungstrieb 106.
Kegelgeſtalt der Organe 22.
Kepler, Ortſinn 103. Jahlenſinn 212.
Keuſchheit 265.
Kinderliebe 79. Krankheit des Or—
gans SI. Unterſchied von an—
dern Seelenthaͤtigkeiten SI, auf
Thiere uͤbertragen 83.
369
Kinder, große Sorglichkeit 128.
Kindesalter 276.
Kindesmoͤrderinnen 80.
Kirchliche Geſtaltung Europas 293.
Kleinheit des Gehirns 243, bedeu—
tende — des Gehirns Urſache
des Bloͤdſinns 35.
Kleinlichkeit 152.
Klima 32.
Klopſtock, Ehrerbietung 138, 142.
Idealitaͤt 160.
Klugheit 129.
Knipperdolling, Zerſtoͤrungstrieb 98.
Knochen des Schaͤdels 22.
Koͤnigsfeld, Dr. 85, 88.
Koͤrner, Theodor 96.
Koͤrperbeſchaffenheit uͤberhaupt be—
ſtimmt die Beſchaffenheit des Ge—
hirns 41.
Koͤrperwelt, Organ fuͤr ſie 62.
Kraft eines Geiſtesvermoͤgens ent—
ſpricht unter uͤbrigens gleichen
Umſtaͤnden der Groͤße ſeines Or—
gans 34.
Kraͤfte, phyſiſche und geiſtige, ihre
Geſetze und Beziehungen 40 f.
Krankheit 49.
Krankheiten des Gehirns, verſchie—
dene 50.
Kranich, Sorglichkeit 128.
Kranioſkopie, ihre Anwendung 299
Kreuzung der Faſern 14.
Kummer 250.
Kunſt, bildende, Grundſatze der
Phrenologie fuͤr dieſelbe 323 f.
Kunſt, Verhaͤltniß der Phrenologie
zu ihr 317 ff.
L.
. 219, Schlußvermoͤgen
220.
Lafontaine, Vergleichungsvermoͤgen
216, 219. R
Lagrange, Zahlenſinn 212.
Lambdanaht 24.
Lambert, Sch. 265.
Laplace, Zahlenſinn 212.
Laſter 265.
Lauvergne, Sch. 309.
Lavalette 92.
Lavater, Ehrerbietung 138. Be—
merkung uͤber Feſtigkeit 143.
24
370
Leben, Verhaͤltniß der Phrenologie
zu ihm 308. 15 ;
Lebensliebe 250.
Leidenſchaft 250.
Leibnitz, Zahlenſinn 212. Schluß—
vermoͤgen 220.
Leichtigkeit geiſtiger Bewegung 48.
Leichtglaͤubigkeit 155.
Lélut 229.
Lendennerven 17.
Lichtenberg 27.
Liebe, in verſchiedenem Sinne ge—
brauchtes Wort 300 f.
Linke Hemiſphaͤre, Verhaͤltniß der
Organe zu denen der rechten 235.
Linn der Moͤrder 66.
Liſt 302.
Liſton, Robert, BekämpfungstriebY4.
Literatur, phrenologiſche, 7.
Locke, ſeine Seelenlehre 230. Schluß⸗
vermoͤgen 220.
Lucian, Witz 168.
Ludwig der Baier, Gewiſſenhaftig—
keit 152.
Ludwig XIV., Ehrerbietung und
Zerſtoͤrungstrieb 141.
Ludwig XIV. und XV. von Frank—
reich 221.
Luftgenuß mit Ruͤckſicht auf Erzie—
hung 334.
Luſt 250.
Luxus 126.
M.
Magen, Werkzeug des Nahrungs—
triebs 114.
Magendie 71.
Mandaras Wanderungen 333.
Mangelhaftigkeit der Eintheilung
der Geiſtesvermoͤgen 65.
Mannesalter 282.
Mantelli, Zahlenſinn 211.
Marc Aurel, Wohlwollen 133.
Markſubſtanz 20.
Maria J. von England, Zerſtoͤ—
rungstrieb 98.
Marſhall Hall 17.
Mary Macineß, Beiſpiel der Anz
haͤnglichkeit 90.
Maͤßigung 150.
Materialismus 236.
Materielle Genuͤſſe 334.
Regiſter.
Mathurin, Witz 168.
Mayer, Ortſinn 202.
Mayer 25.
1 HEER Kuͤnſte, Talent dafuͤr
Mechaniſcher Zwang, ſeine Entfer—
fernung bei Behandlung der Ir—
ren 315.
Mediciner, Gegner der Phrenolo—
gie 231.
Mehrheit der Geiſtesorgane 27.
Melancholie 130.
Melanchthon 55.
Mendelsſohn, Schlußvermoͤgen 220.
Menſch, Empfindungsnerven zahl:
reicher als Bewegungsnerven 35.
Menſchenverſtand, geſunder, 257.
Metapher 216.
Meyer, Dr., Ed. 231.
Michel Angelo, Bautalent 165.
Gegenſtandſinn 186.
Milanollo, Schweſtern, Tonſinn 177.
Milne, Farbenſinn 199.
Milton. Idealitaͤt 160.
Mirabeau, Geſchlechtstrieb ‚68.
Mittermaier, Sch. 9.
Mode 173.
Modificationen des Seelenlebens 243.
Moliere 219.
Monomanie 50, wie bisweilen ge—
heilt 32.
Montaigne, Schlußvermoͤgen 229.
Montegre, Gegner der Phrenolo—
gie 233.
Montesquieu 42.
Moral, Verhaͤltniß der Phrenolo—
gie zu ihr 348.
Mordſinn (Zerſtoͤrungstrieb) 98, 103.
Moore, Thomas, Thatſachenſinn
208. Vergleichungsgabe 216.
Moſes 141.
Mozart, Tonſinn 177.
Müller, Joh., 72, 201, feine See:
lenlehre 239.
in Kupferftecher, Bautalent
69.
Mungo Park, Ortſinn 203.
Muſik 179
Muſikaliſche Traͤume 177.
Muskeln, wo am Kopf bei phre—
nologiſchen Unterſuchungen zu be—
ruͤckſichtigen 57.
Regiſter.
Muth, verſchiedener Sinn des
Worts 301, ſ. Bekaͤmpfungstrieb.
N.
Nachahmungstalent 171.
Nachgiebigkeit 133.
Nächſtenliebe 134.
Nacken, ſeine Dicke ein Maß des
Geſchlechtstriebs 67.
Nackennerven 17.
Nahrungstrieb 113, in Hinſicht
auf Erziehung 345.
Napoleon 5, Groͤße ſeines Gehirns
243, ſein Bekaͤmpfungstrieb 95,
Verheimlichungstrieb 108, Selbſt—
4% 0 118, Gewiſſenhaftigkeit
52.
Naͤthe des Schaͤdels 23.
Naturbeobachtung, Grundlage der
Phrenologie 228.
Neger, Ehrerbietung 136. Ton⸗
ſinn 177. Zahlenſinn 211.
Neid 124.
Nero 104. Wohlwollen 133.
Nerven freiwilliger Bewegung mit
dem vordern Gehirnlappen in Ver—
bindung 59. — der Empfindung
mit dem mittlern und hintern
Gehirnlappen in Verbindung 59.
Nervenſyſtem, Beſchreibung 11.
Nervenknoten 14.
Neuhollaͤnder, Erwerbtrieb III.
Bautalent 164.
Neuſuͤdwales, Eingeborne, Gefuͤhl
für das Wunderbare 197. Baus
talent 165.
Newton, Geſchlechtstrieb 69. Ort:
ſinn 203. Zahlenſinn 212.
Niedrigkeit 151.
Noel, Sch. 9, 83.
Non-restraint- Syftem bei Be—
handlung der Irren 315.
Nordamerika 5, 7.
Nordamerikaniſche Wilden, Ver—
heimlichungstrieb 106. Beifalls—
liebe 122. Wohlwollen 132. Ehr⸗
erbietung 137.
O.
Ochs, Bewegungsnerven zahlrei—
cher als Empfindungsnerven 25.
Oeffentlichkeit 109 f.
371
Oeffentliches Strafverfahren noth—
wendig 361.
e als Orientirungspunkt
Olbers, Zahlenſinn 212.
Operateur 197.
Orbitalrand 20.
Ordnungstalent 174.
Organe des Gehirns 22.
Orientirungspunkte 55.
Ormerod, Anna, Tonſinn 177,
Ortſinn 202.
Otaheiter Tonſinn 177.
Otto, Sch. 9
Ovid, Idealitaͤt 160.
P.
Paer, Tonſinn 177.
Pantomime 173. Pantomimiſche
Bewegungen 53
Papagei, Nachahmung 172
Parrhaſius und Zeuxis 192.
Paskal 219.
Paſſivitaͤt iſt niemals Tugend 265.
Pathologie des Gehirns 50.
Paulus, Apoſtel, 134.
Patienten, Erkenntniß ihrer Cha—
raktere 312.
Pedant 184.
Peinliche Halsgerichtsordnung Kat:
ſer Karl's V., verwerflich 359.
Perſonification 189.
Perſpektive 193.
Pfarrer M. 66.
Peruaner 79, Bekaͤmpfungstrieb 94,
Gefuͤhl fuͤr das Wunderbare 157.
Pfeilnath 84.
Pferd, Bewegungsnerven zahlrei—
cher als Empfindungsnerven 35.
Beifasliebe 125. Bautalent 165.
Pflichtgefuͤhl 150.
Philipp II., Ehrerbietung und Zer—
ſtoͤrungstrieb 98, 141.
Phrenologie, Einfluß auf andere
Wiſſenſchaften 7. Definition 10,
ihre Grundlehren 24.
Phrenomagnetismus 316.
Phrenological Journal 27, 30, 34,
57, 59, 72, 103, 110, 160, 178.
Philoſopie, die Kant's, Hegel's,
Schelling's, im Widerſpruche mit
der Phrenologie 228. Philoſo—
372 Negifter.
pbie, 15 u zur Phre⸗
nologie 2
Abe 50.
Phyſiologie, ihr ine zur
Phrenologie 231, 237.
Phyſiologiſche Einwendungen gegen
die Phrenologie 238.
Phyſiſche 19 als Mittel zur
Erziehung 3
Pia mater 32.
Picard III.
Pindar, Idealitaͤt 160.
Pinel 102.
Piron, Witz 168.
i Geſchlechtstrieb 68.
Pitt, W., Vergleichungsgabe 216
Platon 238, Staatsrecht 317.
Plexus 14.
Politiſche Geſtaltung Europas 293.
Porphyrii de abstinentia ab ani-
malibus necandis libr. IV. 333.
Prachtliebe 126.
Preßfreiheit 110.
Processus mastoideus 66.
Prochaska, Sch. 103.
Protuberantia occipitalis 79.
Prozeß, unſer deutſcher, „liegt noch
in den Windeln“ 361.
Pulſiren des Gehirns, ſichtbar. 26.
O.
Qualität des Gehirns 41 f. Qua⸗
2355 und Quantitaͤt des Gehirns
N.
Rabelais, Witz 167.
Rabener, Witz 168.
Raſſen der Menſchen, ihre verſchie—
denen Zuſtaͤnde 290 ff.
Raiſonnirende Monomanie 315.
Raphael, Bautalent 165.
Raſtloſigkeit 145.
Raumſinn 193.
Raufſinn (Bekaͤmpfungstrieb) 93.
Ravaillac, Zerſtoͤrungstrieb 98.
Recht, Verhaͤltniß der Phrenologie
zu ihm 354.
Rechte Hemiſphaͤre, Verhaͤltniß ih—
rer Organe zu denen der linken 235.
Rechte und linke Seite 21.
Regionen des Kopfes 55.
Regnier, Witz 108.
Regulus, Gewiſſenhaftigteit 152.
Regungen, verſchiedene, des Geiſtes
zu gleicher Zeit 32.
Reichard, Tonſinn 177.
Reinlichkeit 175.
Reiſeluſt 205.
Rembrandt, Farbenſinn 198.
Religion, Religioſitaͤt 135. Ver:
e der Phrenologie zu ihr 351.
Retina 13.
Retzer, Brief an ihn 4.
Reue 151, 271.
Revolution, franzöſiſche, 221.
Richard n Zerſtörungs⸗
trieb 98.
Richerand 26.
Richter, Jean Paul, Witz 167.
Kritik 316. 322.
Rigoni 8.
Rindenſubſtanz 20.
Robespierre, Wohlwollen 133
Roſſini 177.
Roß, Capitain, 80.
Rouſſeau 91
Rubens, Farbenſinn 198.
Rückenmark 14, verlängertes 16, 21.
Ruͤckennerven 17.
Ruͤckſichtsloſigkeit 124.
Ruͤckſchritte des Geiſtes, theilweiſe 33.
Ruͤſſel des Elephanten, ſeine Em—
pfindungsnerven 35.
Ruhmſucht 126.
Rumpelt, Sch. TI.
S.
Sachſinn 189.
Salvator Roſa, Farbenſinn 198.
Saurin, Stehlſucht 112.
Sauvage de l'Aveyron 174.
Schaͤdel 18, deffen äußere Ober:
fläche entſpricht in der Regel der
innern 36. — nicht Gegenſtand
der Phrenologie 238.
Schaͤdellehre, Verhaͤltniß der Phre—
nologie zu ihr 237.
Schaf, Nahrungstrieb 115.
Schamgefuͤhl 265.
Scharfſinn 217.
Schauſpieler 107. Nachahmung 172.
Negifter.
Scheidungslinien der Organe noch
keine entdeckt 22.
Scheidler, ſeine Seelenlehre 239
Schelling, ſ. Philoſophie 228.
Scheltworte, als Mittel zur Er—
ziehung 344.
Scherz 167.
Schiller 75, 77. Idealitaͤt 160.
Sch. 155. 162. Groͤße des Ge—
hirns 243.
Schinderhannes 102, IM.
Schlaf 265, 33.
. 220.
Schmerz 250.
Schoͤnberger, Maler, Ortſinn 202.
Schoͤnheitsgefuͤhl 160.
Schottland 5, 7.
. e Gewiſſenhaftigkeit
AU
Schranken der Gefühle 145.
Schrecken 129.
Schriftſteller, unterſchied ihres Ein—
heitstriebs 86.
Schubert, ſeine Seelenlehre 239.
Schwaͤrmer 156
nenden; geiſtige, 32.
Schwerz 9
Schwein, ſein Schaͤdel 37.
Schwerkraft und Schwungkraft 51.
Schwierigkeit phrenologiſcher Beo—
bachtung 58.
Schwindel 197.
Schwungkraft, ihr Sitz 195.
Scrupuloſitaͤt 152.
Seekrankheit 197.
Seelenfrieden 151.
Seelengroͤße 151.
Seelenlehre, alte, Verhaͤltniß der
Phrenologie zu ihr 237.
Selbſtaufopferung 134.
Selbſtbewußtſein kein Grundver—
moͤgen 251.
Selbſtgefuͤhl 24, 117.
Selbſtmord 104.
Selbſtpeinigung 152.
Selbſtſtaͤndigkeit und Unſelbſtſtaͤn—
digkeit 265.
Selbſtuͤberſchaͤtzung 120.
Selbſtvertrauen, geſtoͤrtes,
Seneka 141.
Senſitivitaͤt 59.
119.
373
en Severus, Zerſtoͤrungs—
trieb 9
Serres 73
Shakeſpeare, Idealitaͤt 160. Groͤße
des Gehirns 243. Kritik 322.
Shelley, Queen Mab 333.
Sheridan, Thatſachenſinn 212. Ver—
gleichungsgabe 216.
Simpſon 116.
Singtalent des Maͤnnchens der Sing—
voͤgel fehlt dem Weibchen 34.
Singvoͤgel, Tonſinn 177.
Sinne, die, des Menſchen 39; Er—
klaͤrung derſelben 39.
Sinnlichkeit 60.
Sinus frontalis, ſ. Stirnhoͤhle.
Sittenverderbniß dieſer Zeit 349.
Sokrates, Bautalent 166. Schluß⸗
vermoͤgen 220.
Solon 219.
Soͤmmerring 25.
Sophokles, Idealitaͤt 160.
Sorglichkeit 127.
Spanier, Tonſinn 177.
Specialitaͤt 27, 31.
Speculation 10, 24 f.
Spieler, Hoffnung 154.
Spina cruciata 66.
Sprachtalent 180.
Spurzheim 5. Sch. 6, 27, 41,58,
59, 68, 71, 81, 80, 99, 11
134, 14²⁴ 149,
167, 168, 169,
„189, 192, 195,
207, 209, 210,
’
154,
173,
197,
115
122,
157,
180,
202
220.
Staatsrecht und die Phrenologie 357.
Staar, Sorglichkeit 128.
Stair, Lord, witzige Anekdote 169.
Statik 196.
Stehlſucht 112.
Steinbock 118.
Stephan I. von Ungarn, Ehrerbie—
tung 168
Sterne, Witz 167.
Stirnhöhle 24, 37, 57.
Stirnnaht 24.
Stolz bei einem Bettler 118.
Storch, Erwerbtrieb II].
Stortzenbecker, Erwerbtrieb 111.
Strafanſtalten, ihr betruͤbender Zu—
ſtand 359 f.
130,
25
374
Strafrecht und die Phrenologie 358
Struve, Sch. 9, 31, 44, 48, 67,
230, 250, 293, 362.
Sully, Zahlenſinn 212.
Swieten, van, 25.
Swift, Witz 167.
Sylla, Zerſtoͤrungstrieb 98.
Sympathie 174, und Antipathie 257.
Syntheſe 223.
Synthetiſche Seelenlehre, Verhält:
niß zur analytiſchen 242 ff.
T.
Tabak mit Ruͤckſicht auf Erziehung
Tadelſucht 120.
Takt, richtiger, 257.
Taktgefuͤhl 206.
Talente, Eintheilung 64.
Talente 164.
Tardy, Moͤrder und Seeraͤuber 97.
Taſſo, Wunderglaube 157. Idea⸗
litaͤt 160.
Taſtezirkel 56.
Taube, Sorglichkeit 129.
Taube und Taubſtumme 181.
Temperament, deſſen Einfluß 41;
nervoͤſes, ſanguiniſches, lympha—
tiſches, phlegmatiſches, deren Kenn:
zeichen 42 ff. — ſelten unvermiſcht
44. Einfluß deſſelben mit Koͤr⸗
perbewegung 54. Verhaͤltniß der:
ſelben zu den einzelnen Organen
des Gehirns 247 f.
Termiten, Bautalent 166.
Thaͤtigkeit der Geiſtesorgane wird
hervorgerufen durch das Bieten
der ihnen entſprechenden Gegen—
ſtaͤnde 45 f.; verſchiedene Geſetze
der Thaͤtigkeit 46 f.
Thatſachenſinn 207.
Themiſtokles 126.
Theologen, Gegner der Phrenolo—
gie 230.
Thiere, ihre Stufenleiter 17.
Thierquaͤlerei 101.
Tiberius, Wohlwollen 133.
Tiedemann 69. Sch. 19.
Tiefe der Stirn von vorn nach hin—
ten 56.
Tiger, Verheimlichungstrieb 106.
Tintorelli, Geſtaltſinn 191.
Regiſter.
Tiſſot 67.
Titian, Farbenſinn 198.
Tonſinn 176.
Tracy, ſeine Seelenlehre 239.
Traͤgheit ſteht der Anerkennung der
Phrenologie im Wege 228.
Trajan, Wohlwollen 133.
Traum 265. Traumwelt 33.
Trieb 60.
Tugend 265.
Tunica arachnoidea 23.
Tycho de Brahe, Ortſinn 203.
U.
Uccelli, Sch. 8.
Ueberanſtrengung des Geiſtes mit
Ruͤckſicht auf Erziehung 340 f.
Uebereinſtimmung der Entwickelung
der Geiſteskraͤfte mit der Ent—
wickelung ihrer Organe 28.
Uebung, Einfluß der Uebung der
Geiſtesvermoͤgen 44 ff.; wie weit
ſie die Kraft eines Vermoͤgens
ſteigern kann 47; phrenologiſche
57; — des Körpers und des Ge—
hirns oder des Geiſtes 338.
Unbehaglichkeit 250.
Unbeſtaͤndigkeit 146.
Unbeugſamkeit 145.
Ungeduld 250.
Unkenntniß der Phrenologie, die ein—
zige Quelle der Einwendungen
gegen ſie 228.
Unluſt 250.
Unmuͤndigkeit des Geiſtes 121.
Unparteilichkeit 150.
Unproductivitaͤt unſerer Zeit 349.
Unregelmaͤßige Kopfbildung 58.
Unterberger, Maler, Bautalent 165.
Unterricht, phrenologiſch geleitet 8.
Unterſchied, wie groß in der Ent—
wickelung der Organe des Gei—
ſtes 36.
Unthaͤtigkeit der geiſtigen Vermoͤ—
gen, ihre Folgen 48.
Unwiſſenheit der Gegner der Phre—
nologie 237.
Urſache und Wirkung 223.
Negifter.
V.
Vasco di Gama, Ortſinn 203.
Vega, Zahlenſinn 209.
Venen 12.
Verachtung 120.
Verbindung, innige des Geiſtes und
Gehirns. — der Organe 244 ff.
Verbrecher, Idealitaͤt 161.
Verbrechen iſt Symptom geiſtiger
Krankheit 360.
Verehrung des Alten 140.
Vergleichungsgabe 215.
Verhaͤltniß der Gehirnmaſſe zur
Nervenmenge 53. — der Phre—
nologie zum Leben 303. — der
Phrenol. zur Heilkunde 309. —
der Phrenol. zur Kunſt 316. —
der Phrenol. zur Geſchichte der
Menſchheit 325. — der Phre—
nol. zur Erziehung 332. — der
Phrenol. zur Moral 348. — der
Phrenol. zur Religion 351. —
der Phrenolog. zum Rechte 354.
Verheimlichungstrieb 105. — mit
Ruͤckſicht auf Erziehung 347.
Vrletzung des Gehirns, partielle, 32.
— Verletzung eines oder beider
Organe 235.
Vernet, Ortſinn 204.
Vernunft 265.
Verſchiedenartigkeit der Gehirnbil—
dung, immer verbunden mit Ver—
ſchiedenheit der geiſtigen Anlagen
und Neigungen 30. — der Ge—
ſetze in Deutſchland 356.
Verſchiedenheit, angeborne, der Gei—
ſteskraͤfte 3, 34. — geiſtige des
maͤnnlichen und weiblichen Ge—
ſchlechts und ihre Erklaͤrung 30.
Verſchneiden, Einfluß auf den Nak—
ken der Thiere 70.
Verſoͤhnlichkeit 133.
Verſuche an lebenden Thieren (Vi—
viſektionen) koͤnnen nicht gegen
die Phrenologie ſprechen 235.
Vertrauen 154.
Vimont, Sch. 8, 72, 86, 98.
Victor Amadeus J., Erwerbtrieb 112.
Virgil, Idealitaͤt 160.
375
Viſionen 156.
Voiſin 8.
Voltaire, Idealitaͤt 160, Witz 167.
Vorſicht 129.
W.
Wahnſinn, partieller 31, 33.
Wahrheitsliebe 149.
Walter Scott, Ortſinn 203. That—
fachenfinn 208.
Waſſerkopf 23.
Weihe, Sorglichkeit 128.
Weiße Subſtanz 20.
Wieland, Witz 168.
Wien 4, 5.
Widerlegung der Einwendungen ge—
gen die Phrenologie 227.
Wilde, Beifallsliebe 125. Gewiſ—
ſenhaftigkeit 149.
Wilkie, Farbenſinn 198.
Willensfreiheit 136, 257.
Willenskraft 25, 257.
Windungen des Gehirns 18.
Wirbelthiere 14.
Witz 167
Wohlwollen 24. 131.
Worthalten 153.
Wortſinn 180.
Wunderbare, Gefuͤhl fuͤr das, 156.
Wurmſer, General, Bekaͤmpfungs—
trieb 93.
3. —
Zahlen, als Gradbeſtimmungen der
Organe 56.
Zahlenſinn 210.
Zarlenga 8.
Zeitſchriften, engliſche, der Phre—
nologie guͤnſtig 7.
Zeitſchrift fuͤr Phrenologie 21, 50,
53, 69, 105, 113, 140, 173, 178,
181, 228, 229, 231, 235, 294,
299, 315, 316, 325.
Zeitſinn 205.
Zerſtoͤrungstrieb 97 ff.
Zeugung 271.
Zierlichkeit 175.
Zimmermann, der Weg zum Pa—
radies 333.
376 Regiſter.
Zoiſt, engliſche phrenologifche Zeit- Zuſammenſetzungstalent 164.
ſchrift 316. Zuſammenwirken der verſchiedenen
Zugvoͤgel, Ortſinn 203. phyſiſchen und geiftigen Kräfte Al.
Zuͤmpferlichkeit 78. - Zuſtaͤnde der Einzelnen 250. — der
Zumſteeg, Tonſinn 177. Familie 287. — der verſchiede—
Zuneigung 133. nen Menſchenraſſen 291 ff.
Zuſammenhang der Geiſtesverrich- Zweck unſeres Lebens 46.
tungen 50.
ee nee
8
/
$. 23 S. 152 3. 5 von unten ſtatt „Ludwig der Baier, als er in die Gefangen—
ſchaft feines Gegenkaiſers Friedrich's von Oeſterreich zurückkehrte“, lies: „Friedrich
von Oeſterreich, als er in die Gefangenſchaft ſeines Gegenkaiſers Ludwig des Baiern
zurückkehrte.“
Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig
.
*
7
4
De:
1
1
Accession no.
Author t ruve, G. v.
Handbuch der
Phrenologie.
Ich cent
Call no 5870
887
1845