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Full text of "Hieronymus : eine biographische Studie zur alten Kirchengeschichte"

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STUDIEN 


ZUR 


GESCHICHTE  DER  THEOLOGIE 


UND  DER  KIRCHE 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


N.  BONWETSCH         und  R.  SEEBERG 

(iOTTINGEN  BERLIN 


ZEHNTER  BAND 


BERLIN 

TROWITZSCH  &  SOHN 

IQOö 


HIERONYMUS 


EINE  BIOGRAPHISCHE  STUDIE  ZUR  ALTEN 
KIRCHENGESCHICHTE 

VON 

LIC.  Dh  GEORG  GRÜTZMACHER 

A.  O.  PROFESSOR    DER   THEOLOGIE 


ZWEITER  BAND 

SEIN    LEBEN    UND   SEINE    SCHRIFTEN   VON  385   BIS  400 


BERLIN  'V/\'i\ 

TROWITZSCH  &  SOHN  ^  r>/  \ 

1906 


Vorwort. 


Es  ist  mir  vor  allem  ein  Bedürfnis,  für  die  freundliche 
Aufnahme  zu  danken,  die  der  erste  Teil  meiner  Hieronymus- 
Biographie  gefunden  hat.  Abgesehen  von  Einzelheiten,  auf 
die  ich  in  Kürze  nicht  einzugehen  vermag,  hat  man  von 
mehreren  Seiten  eine  weitere  Ausführung  des  Milieus  für 
wünschenswert  gehalten,  ich  hatte  eine  solche  Erweiterung 
absichtlich  vermieden,  nicht  etwa  aus  Bequemlichkeit,  sondern 
weil  nur  allzuleicht  die  Entwicklung  der  Persönlichkeit,  ihre 
Schicksale  und  ihre  Werke,  bei  einer  breiten  Milieuschilderung 
nicht  genügend  hervortreten.  Ich  sehe  mich  schon  bei  der 
Art,  in  der  ich  mir  meine  Aufgabe  gestellt  habe,  aus  den 
Werken  des  Hieronymus  selbst  das  Milieu,  in  dem  er  wirkt, 
zu  erheben,  gezwungen,  dem  ersten  Bande  noch  zwei  Bände 
folgen  zu  lassen.  Wollte  ich  in  gleicher  Ausführlichkeit  wie 
im  ersten  Bande  Leben  und  Werke  des  Hieronymus  behandeln, 
so  mußte  ich  den  letzten  Lebensabschnitt  des  Hieronymus  in 
weiteren  zwei  Bänden  darstellen.  Der  vorliegende  zweite 
Band  behandelt  die  Zeit  von  385  bis  400,  der  dritte  Band  die 
Zeit  von  400  bis  420,  bis  zum  Tode  des  Hieronymus.  ich 
hoffe  aber,  daß  der  dritte  Band,  der  zunächst  den  Origenistischen 
Streit  zur  Darstellung  bringen  wird,  nicht  solange  auf  sich 
warten  lassen  wird,  wie  der  zweite.  Ich  wollte  dem  zweiten 
Band    noch    einen    Paragraphen    über    das    Klosterleben    des 


VI  Vorwort. 

Hieronymus  und  der  Paula  beifügen,  habe  aber  diesen  Para- 
graphen zurückgestellt,  da  ich  im  dritten  Band  von  der  Über- 
setzung der  Klosterregel  des  Pachomius  durch  Hieronymus 
zu  handeln  habe. 

Dieser  zweite  wie  der  folgende  dritte  Band  erscheint  im 
Verlag  von  Trowitzsch  &  Sohn  in  Berlin,  der  auch  den  ersten 
Band  von  dem  bisherigen  Verlag  übernommen  hat. 

Dem  dritten  Bande  wird  das  Namen-  und  Sachregister 
beigegeben  werden. 

Heidelberg,  im  Januar  1906. 

Georg  Grützmacher. 


Inhaltsverzeichnis. 


Das  Leben  des  Hieronymus. 


Seite 


Kapitel  VII. 
Die  Reisen  des  Hieronymus  bis  zu  seiner  Niederlassung 

in  Bethlehem. 

§  26.     Die  Reise  des  Hieronymus  und  der  Paula  nach  Antiochia  1 — 5 
§  27.     Die   Reise    der    Paula    und    des    Hieronymus    durch    das 

Heilige  Land 5—12 

§  28.     Der  Aufenthalt  Paulas   und   des   Hieronymus   in  Ägjpten  12 — 17 

Kapitel  Vlil. 

Die  ersten  Jahre  des  Hieronymus  im  Kloster  zu 

Bethlehem. 

§  29.  Die  ersten  literarischen  Werke  des  Hieronymus  aus  seinem 
bethlehemitischen  Aufenthalt,  die  Kommentare  zu  den  vier 
Paulusbriefen      18—50 

^5  30.     Die  hebräischen  Studien  des  Hieronymus  und  seine  ersten 

alttestamentlichen  Auslegungsschriften 50—74 

§  31.  Zwei  Übersetzungsarbeiten  des  Hieronymus,  die  39  Lukas- 
homilien  des  Origenes  und  das  Buch  des  Didymus  über 
den  heiligen  Geist 74—84 

§  32.     Hieronymus  als  Mönchsbiograph 84 — 91 

^  33.     Die  Bibelübersetzung  des  Hieronynms 91—110 

§  34.     Die  Kommentare  zu  den  fünf  kleinen  Propheten,  Nahum, 

Micha,  Zephanja,  Haggai  und  Habakuk 110 — 127 

§  35.     Der  Schriftstellerkatalog  des  Hieronymus 128 — 144 


VIII  Inhalt. 

Seite 
Kapitel  IX. 
Von  der  Wiederanknüpfung  des  Hieronymus  mit  Rom 
bis  zum  Beginn  des  Origenistischen  Streites. 

i;  36.     Der  Streit  des  Hieronymus  mit  Jovinian 145 — 172 

ij  37.     Die  Beziehungen  des  Hieronymus  zu  Rom  in  den  neunziger 

Jahren  des  vierten  Jahrhunderts 172 — 195 

i;  38.  Der  Jona-  und  Obadjakommentar 195—207 

§  39.  Alte  Freunde  des  Hieronymus,  sein  Verkehr  mit  der  Heimat  208—221 

tj  40.  Neue  Freunde  und  Freundinnen 222 — 243 

>5  41.  Der  Matthäuskommentar  des  Hieronymus 244—270 


Kapitel  VII. 

Die  Reisen  des  Hieronymus  bis  zu  seiner  Nieder- 
lassung in  Bethlehem. 


§  26. 

Die  Reise  des  Hieronymus  und  der  Paula 
nach  Antiochia. 

Im  August  des  Jahres  385,  als  die  Herbstwinde  wehten, 
bestieg  Hieronymus  in  Ostia,  dem  Hafen  Roms,  das  Schiff, 
das  ihn  nach  dem  Orient  bringen  sollte.  Wir  dürfen  ihm 
glauben,  daß  sein  Herz  ruhiger  schlug,  als  er  die  verhaßte 
Stadt  verließ,  als  er  den  Staub  des  abscheulichen  Babylon  von 
den  Füßen  schütteln  konnte,  das  ihm  so  schlecht  gelohnt 
hatte. ')  Vor  ihm  lag  die  heilige  Stadt  Jerusalem  und  das  Ideal 
eines  stillen  Gelehrtenlebens;  er  ahnte  nicht,  daß  ihm,  dem 
ewig  und  überall  Unverträglichen,  auch  das  heilige  Land  bald 
ein  heißer  Boden  werden  würde.  Ein  treuer  Freund,  der 
Priester  Vincentius,  begleitete  ihn  auf  seiner  Fahrt.  In  Kon- 
stantinopel waren  wir  ihm  zuerst  in  der  Umgebung  des  Hie- 
ronymus begegnet');  er  scheint  auch  in  Rom  sein  Genosse 
gewesen  zu  sein,  obwohl  Hieronymus  seiner  nirgends  in  seinen 
römischen  Briefen  gedenkt.  Auch  der  jugendliche  Bruder  des 
Hieronymus,    Paulinian,    von   dem    wir  hier    zum   ersten  Male 

^)  Contra  Rufin.  III,  22,  Vallarsi  II,  551:  mense  Augusto,  flantibus 
etesiis  cum  sancto  Vincentio  presbytero  et  adolescente  fratre  et  aliis  mon- 
achis,  qui  nunc  Jerosolymae  commorantur,  navini  in  Romano  portu  securus 
ascendi,  maxima  me  sanctorum  frequentia  prosequente. 

»)  s.  Band  I,  187—191. 

Grützmacher,   Hieronymus.    II.  1 


Bis  zur  Niederlassungf  in  Bethlehem 


& 


hören,  und  einige  lateinische  Mönche,  die  später  im  Bethle- 
hemitischen  Kloster  mit  ihm  zusammenlebten,  befanden  sich 
in  seiner  Reisegesellschaft.  Während  das  römische  Volk  dem 
verhaßten  Mönche  seine  Flüche  nachsandte,  gab  ihm,  wie  er 
Rufin  gegenüber  mit  Genugtuung  hervorhebt,  eine  große  Schar 
von  Heiligen  beim  Abschiede  das  Geleit.  Die  Mehrzahl  der 
Glieder  des  asketischen  Kreises,  den  er  in  Rom  um  sich  ge- 
sammelt hatte,  war  ihm  trotz  aller  Anfeindungen  treu  geblieben 
und  hing  nach  wie  vor  mit  Liebe  an  dem  begeisterten  Apostel 
der  Virginität. 

Die  Reise  ging  über  Rhegium;  hier  verweilte  er  kurze 
Zeit  am  Scylläischen  Gestade,  und  die  alten  Fabeln,  die  er 
einst  in  der  Schule  gelernt  hatte,  von  der  raschen  Fahrt  des 
vielgewandten  Odysseus,  von  dem  Gesang  der  Sirenen,  von 
dem  unersättlichen  Schlund  der  Charybdis  lebten  in  seiner 
Erinnerung  wieder  auf.  An  dem  Vorgebirge  Malea  vorüber 
und  durch  die  Cykladen  hindurch  gelangte  er  nach  Cypern.') 
Hier  machte  er  Station  bei  dem  verehrten  Bischof  Epiphanius 
von  Salamis,  den  er  von  der  römischen  Synode  im  Jahre  382 
her  persönlich  kannte"),  und  genoß  seine  Gastfreundschaft. 
Dann  kam  er  nach  Antiochia,  wo  ihn  der  Bischof  Paulin  von 
Antiochia  aufnahm,  der  ihn  einst  zum  Priester  geweiht  hatte.') 
In  der  Hauptstadt  Syriens  scheint  Hieronymus  so  lange  ver- 
weilt zu  haben,  bis  Paula  und  Eustochium  aus  Rom  ein- 
getroffen waren,  um  dann  in  Gemeinschaft  mit  ihnen  die  Reise 
durch  das  heilige  Land  zu  unternehmen,  die  sie  nach  Jerusalem 
führte.  Als  Hieronymus  Rom  verließ,  rüsteten  sich  bereits 
Paula  und  Eustochium  ebenfalls  zur  Reise  nach  dem  Orient. 
Wenig  später  müssen  sie  ihm  gefolgt  sein.  Den  Grund, 
warum  man  eine  gemeinschaftliche  Abreise  von  Rom  vermied, 
werden  wir  wohl  darin  zu  suchen  haben,  daß  man  den  bösen 
Nachreden    nicht    noch    weiteren  Stoff    zu    geben  wünschte.*) 


')  Contra  Rnfin.  MI,  22,  Vallarsi  II,  551. 

»)  s.  Band  I,  198. 

»)  s.  Band  I,  175. 

*)  Die  Annahme  (Tobler  und  Molinier,  Itinera  Hierosolymitana  et  de-' 
scriptiones  terrae  sanctae,  Genf  187Q,  S.  XV,  Reinkens,  Die  Einsiedler  des 
heiligen  Hieronymus,  1863,  S.  208  und  226,  Anm.),  daß  Paula  bereits  383 


Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem.  3 

Schwer  wurde  Paula  der  Abschied  gemacht.  Ihr  Bruder,  ihre 
Verwandten,  ihre  Schwäger  und  ihre  Kinder,  die  das  liebe- 
vollste Mutterherz  noch  umzustimmen  gedachten,  beglerteten 
sie  bis  zum  Hafen.  Der  kleine  Toxotius  streckte  seine  bittenden 
Hände  am  Ufer  nach  der  Mutter  aus,  ihre  Tochter  Ruffina, 
deren  Hochzeit  nahe  bevorstand,  beschwor  sie  schweigend 
mit  ihren  Tränen,  sie  möge  doch  wenigstens  ihre  Hochzeit 
abwarten.  Paula  aber,  trockenen  Auges  zum  Himmel  blickend, 
überwand  die  Liebe  zu  den  Kindern  durch  ihre  Liebe  zu  Gott. 


nach  der  römischen  Synode  die  Bischöfe  Epiphanius  und  Paulinus  nach 
dem  Orient  begleitet  habe,  ist  falsch.  Hieronymus  sagt  ausdrücklich 
ep.  108,  6,  Vallarsi  I,  688,  daß  sie  nur  voto  et  desiderio,  nicht  aber  tat- 
sächlich mit  den  Bischöfen  nach  dem  Orient  reiste.  Die  oben  gegebene 
Darstellung  über  die  Zeit  der  Reise  des  Hieronymus  und  der  Paula  wird 
den  Angaben  der  Quellen  gerecht.  Sicher  ist  zunächst,  daß  Paula  und  Hie- 
ronymus mitten  im  Winter  von  Antiochia  nach  Jerusalem  reisten  (Contra 
Rufin.  111,  22  und  ep.  108,  7).  Daß  Hieronymus  auf  dieser  Reise  der 
Reisebegleiter  der  Paula  war,  geht  aus  einer  gelegentlichen  Erwähnung 
seiner  Anwesenheit  bei  ihrem  Besuch  in  Bethlehem  hervor;  ep.  108,  10: 
me  andiente  iurabat  cernere  se  oculis  fidei  infantem  pannis  involutum 
vagientem  in  praesepe  dominum.  Daß  aber  Hieronymus  die  Seereise 
nach  Antiochia  nicht  zusammen  mit  Paula,  sondern  vor  ihr  gemacht  hat, 
läßt  sich  daraus  folgern,  daß  er  in  dem  Abschiedsbrief  an  Asella,  den 
er  in  Ostia  kurz  vor  Antritt  seiner  Fahrt  nach  dem  Orient  schrieb,  Paula 
und  Eustochium  grüßen  läßt  (ep.  45,  6),  aber  ihre  baldige  Abreise  nach 
Jerusalem  voraussetzt  (ep.  45,  2).  Auch  bei  der  Schilderung  der  Abreise 
der  Paula  gedenkt  er  seiner  Anwesenheit  nicht.  Aus  der  Lebendigkeit 
dieser  Schilderung  darf  man  natüriich  bei  dem  rhetorischen  Pathos  des 
Hieronymus  nicht  auf  persönliche  Anwesenheit  schließen,  zumal  da  er 
diese  Abschiedsszene  auf  die  später  erhaltene  mündliche  Kunde  hin  ge- 
zeichnet hat.  Bei  seiner  Reise  führt  er  ausdrücklich  nur  als  Reisebegleiter 
Vincentius,  seinen  Bruder,  und  einige  Mönche  an  (Contra  Rufin.  III,  22). 
Wollte  man  aber  annehmen,  Hieronymus  habe  durch  seinen  Abschiedsbrief 
an  Asella  und  die  Grüße  an  Paula  absichtlich  die  Römer  irreführen  wollen, 
so  fällt  dieser  Grund  Rufin  gegenüber  fort,  der  über  den  wirklichen  Sach- 
verhalt unterrichtet  sein  mußte.  Wenn  man  aber  für  die  Annahme  einer 
gemeinsamen  Seereise  des  Hieronymus  und  der  Paula  nach  Antiochia 
darauf  hinweist,  daß  beide  dieselben  Punkte  berührten  und  beide  bei 
Bischof  Epiphanius  und  Paulinus  sich  aufhielten  (ep.  108,  7  und  Contra 
Rufin.  111,  22),  so  ist  doch  die  Übereinstimmung  keine  vollständige.  Daß 
Paula  sich  zum  Teil  an  den  gleichen  Orten  aufhielt,  erklärt  sich  einfach 
aus  dem  gleichen  Reiseziel,  der  gleichen  Reiseroute  und  den  gleichen  Be- 
kanntschaften. 

V 


4  Bis  zur  Niederlassung  in  Betiilehem. 

Sie  wollte  nichts  wissen  von  ihrer  Mutterschaft,  um  sich  als 
Magd  Christi  zu  bewähren.  Nur  ein  Trost  blieb  der  Mutter, 
Eustochium  begleitete  sie,  um  als  treue  Gefährtin  ihre  Lebens- 
weise zu  teilen.  Das  Schiff  durchfurchte  bereits  die  See,  und 
während  die  ganze  Reisebegleitung  zurück  nach  dem  Strande 
schaute,  wandte  Paula  allein  ihre  Augen  nach  der  entgegen- 
gesetzten Seite  hin,  damit  sie  die  nicht  sähe,  die  sie  ohne 
Qual  nicht  anblicken  konnte.  Gewiß  hat  Hieronymus  recht, 
wenn  er  für  Paula  in  der  Trennung  von  ihren  Kindern,  die 
sie  so  zärtlich  liebte,  das  schwerste  Opfer  sah.  Ihren  Gatten 
hatte  sie  verloren;  noch  war  kaum  ein  Jahr  vergangen,  seit 
ihre  Tochter  Bläsilla  infolge  ihrer  übertriebenen  Askese  ihr  ent- 
rissen war:  jetzt  verließ  sie  Heimat,  Verwandte  und  Kinder,  von 
denen  ihr  jüngstes,  Toxotius,  noch  nicht  einmal  erwachsen  war, 
um  sich  auf  Erden  zu  enterben  und  ein  Erbe  im  Himmel  zu 
finden.')  Die  heißblütige  Paula  hatte  Hieronymus  gewonnen; 
sie  war  eine  echte  Nonne  geworden,  die  das  asketische  Ideal,  das 
er  gepredigt  hatte,  mit  voller  Rücksichtslosigkeit  und  Energie  er- 
füllte, ja  in  der  Folgezeit  durch  Verschleuderung  ihres  Besitzes 
sogar  rücksichtsloser  und  energischer,  als  ihm  lieb  war. 

Das  Schiff  der  Paula  nahm  zunächst  dieselbe  Reise- 
route, die  kurz  zuvor  Hieronymus  mit  seinen  Genossen  be- 
fahren hatte.  Aber  die  vornehme  Römerin  konnte  es  sich 
schon  auf  dieser  Seereise  nicht  versagen,  möglichst  alle  Stätten 
zu  besuchen,  an  die  sich  teure  Erinnerungen  aus  der  christ- 
lichen Vergangenheit  knüpften.  So  landete  sie  auf  der  Insel 
Pontia,  dem  Verbannungsort  der  Flavia  Domitilla,  der  Nichte 
Kaiser  Domitians,  und  besuchte  die  Räume,  in  denen  diese 
angeblich  ein  langes  Martyrium  für  ihr  Christenbekenntnis 
erduldet  hatte.  Nach  der  Durchfahrt  durch  die  Scylla  und 
Charybdis  gelangte  sie  bei  ruhiger  Fahrt  durch  das  Meer  der 
Adria  nach  Methone,  wo  sie  ihrem  Körper  ein  wenig  Ruhe 
gönnte.  An  der  Insel  Rhodus  und  Lycien  vorüber  kam  sie 
nach  Cypern,  wo  sie  wie  Hieronymus  bei  Bischof  Epiphanius 
zehn  Tage  Rast  machte,  den  sie  während  der  römischen 
Synode    in    ihrem  Palast  beherbergt    hatte.     Sie    besuchte    die 


')  Ep.  108,  6. 


Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem.  5 

Klöster  in  der  Nähe  von  Salamis  und  beschenkte  die  Mönche 
reich,  die  die  Liebe  zu  dem  Mönchsvater  Hilarion  aus  aller 
Welt  dahin  zusammengeführt  hatte,  wo  dieser  gestorben  war. 
Von  dort  ging  es  in  kurzer  Fahrt  nach  Seleucia  und  dann 
zu  Lande  hinauf  nach  Antiochia.  Wie  Hieronymus  stieg  sie 
auf  kurze  Zeit  im  Hause  des  Bischofs  Paulin  ab  und  begann 
dann  in  Gemeinschaft  mit  Hieronymus  die  Reise  durch  das 
heilige  Land.') 


§  27. 

Die   Reise   der  Paula  und   des  Hieronymus  durch  das 

heilige  Land. 

Mitten  im  Winter  bei  der  heftigsten  Kälte')  brachen  Paula 
und  Eustochium  mit  Hieronymus  und  seinen  Freunden  von 
Antiochia  auf.  Die  vornehme  Frau,  die  früher  gewohnt  ge- 
wesen war,  von  Eunuchen  in  einer  Sänfte  getragen  zu  werden, 
verzichtete  auf  alle  Bequemlichkeiten  und  bestieg  den  Esel.') 
Der  Bischof  Paulin  von  Antiochia,  der  des  Landes  kundig  war, 
übernahm  die  Führung  der  Reisegesellschaft.')  Die  Reise  ging 
zunächst  durch  Kölesyrien  und  Phönizien.  in  Sarepta  besuchte 
man  den  kleinen  Turm    des   Propheten  Elia,')    dann    gelangte 


')  Ep.  108,  7. 

"")  Contra  Rufin.  III,  22  und  ep.  108,  7. 

»)  Ep.  108,  7. 

*)  Contra  Rufin.  IH,  22:  deductus  ab  eo  (seil.  Paulino)  intravi  Jero- 
solymam. 

'")  Antonini  Piacentini  Itinerarium  c.  2,  ed.  Gildemeister,  Berlin  1889, 
S.  2.  In  diesem  im  Jahre  570  verfaßten  Itinerar  des  heiligen  Landes  sind 
die  von  den  Pilgern  besuchten  heiligen  Stätten  schon  erheblich  vermehrt 
und  in  den  späteren  Itinerarien  (die  Itinera  Hierosolymitana  ed.  T.  Tobler 
und  A.  Molinier,  Genf  1879)  sind  sie  noch  vi'eiter  gewachsen.  Nur  eine 
ältere  Beschreibung  einer  Pilgerfahrt  nach  dem  heiligen  Lande  als  die  des 
Hieronymus  besitzen  wir  in  der  333  unternommenen  Reise  der  Pilgerin 
von  Bordeaux:  Itinerarium  a  Bordigala  Hierosolymam,  ebenfalls  bei  Tobler 
und  Molinier. 


6  Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem. 

man  an  Tyriis  vorüber  nach  dem  alten  Akko,  dem  damaligen 
Ptolemais.  Durch  die  Gefilde  Megiddos,  wo  König  Josia 
seinen  Tod  fand,')  kam  man  in  das  Land  der  Philister  und 
bewunderte  die  Ruinen  des  einst  mächtigen  Dor.  Dann 
ging  es  nach  Caesarea,  wo  das  Haus  des  Hauptmanns  Cor- 
nelius, das  zu  einer  christlichen  Kirche  umgewandelt  war,') 
und  die  Wohnung  des  Evangelisten  Philippus  und  seiner  vier 
jungfräulichen  und  prophetischen  Töchter  von  der  Reisegesell- 
schaft besichtigt  wurden.  Auf  der  Straße  von  Caesarea  nach 
Jerusalem  berührte  man  das  halbzerstörte  Antipatris  und  das 
alte  Lydda,  das  damalige  Diospolis,  berühmt  durch  die  Wunder 
der  Auferweckung  der  Dorkas ')  und  der  Heilung  des  Aeneas.*) 
Die  Pilger  besuchten  Arimathia,  die  Stadt  des  Joseph,  der 
den  Herrn  begrub,  die  einstige  Priesterstadt  Nobe  und  endlich 
Joppe.  Die  letztere  Stadt  besaß  eine  doppelte  Berühmtheit: 
aus  Joppe  war  der  Prophet  Jona  geflohen,  und  hier  zeigte 
man  auch  den  Felsen,  an  dem  Andromeda  angeschmiedet,  von 
Perseus  befreit  worden  war.)  Weiter  reisend  gelangte  man  nach 
Nicopolis,  dem  alten  Emmaus,  nach  Unter-  und  Ober-Bethoron, 
und  von  dort,  indem  man  Ajalon,  die  Stadt,  in  der  josua 
Sonne  und  Mond  Befehl  gab,  und  Gibeon,  die  Stadt  der 
Holzfäller  und  Wasserträger,  rechts  liegen  ließ,  nach  dem  voll- 
ständig zerstörten  Gibea.  Hier  rastete  Paula  kurze  Zeit.  Sie 
gedachte  der  Sünde  der  Gibeoniten,  des  in  Stücke  geteilten 
Weibes  (Rieht.  20,  4  ff.),  und  daß  nur  um  des  Apostels  Paulus 
halber  300  Männer  des  Stammes  Benjamin  bei  dem  Blutbad 
verschont    blieben.     Das    gewaltige    Mausoleum    der    Königin 


')  Hieronymus  besitzt  die  unbestimmte  Vorstellung,  daß  die  große 
Ebene  die  Ebene  von  Megiddo  gewesen  sei;  s.  Schlatter,  „Zur  Topographie 
und  Geschichte  Palästinas",  Calw  1893,  S.  298. 

'-)  Die  Pilgerin  von  Bordeaux  erwähnt  nur  einen  balneus  Cornelii, 
Itin.  Hier.  cd.  Geyer  S.  15. 

*)  Nach  der  Apostelgeschichte  9,  36—43  wurde  Dorkas  von  Petrus 
in  Joppe  erweckt,  Antonini  Piacentini  c.  46,  S.  33  nennt  Joppe  auch  als 
Begräbnisstätte. 

*)  Act.  9,  33. 

*)  Hier.  Comm.  in  Jon.  I,  3,  Vallarsi  VI,  394:  hie  locus  est,  in 
quo  usque  hodie  saxa  monstrantur  in^  littore,  in  quibus  Andromeda 
religata  Persei  quondam  sit  liberata  praesidio. 


Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem.  7 

Helena  von  Adiabene')  zur  Linken  lassend,  erreichte  Paula  mit 
ihren  Begleitern  das  letzte  Ziel  ihrer  Sehnsucht,  Jerusalem. 

Obwohl  der  Prokonsul  von  Palästina,  der  Paulas  Familie 
gut  kannte,  der  adligen  Römerin  Diener  entgegensandte  und  sie 
im  Prätorium  Wohnung  zu  nehmen  einlud,  wählte  sie  in 
Jerusalem  eine  niedrige  Herberge.  Die  durch  die  heiligsten 
Erinnerungen  geweihten  Stätten  besuchte  sie  mit  solcherlnbrunst, 
daß  es  ihr  schwer  wurde,  sich  von  der  einen  loszureißen  und  zur 
andern  zu  wenden.  Sie  betete  unter  dem  Kreuz  des  Herrn,") 
sie  betrat  das  Grab  des  Herrn,')  küßte  den  Stein,  welchen  der 
Engel  von  der  Grabestür  gewälzt  hatte,')  und  den  Ort,  wo 
der  Leichnam  des  Herrn  gelegen  hatte.  Sie  sah  die  Säule 
mit  dem  Blute  des  Erlösers  befleckt,  an  die  er  bei  der  Geiß- 
lung  gefesselt  war,  und  die  jetzt  die  Halle  einer  Kirche  trug.') 
Sie  weilte  an  dem  Ort,  wo  am  Pfingstfest  der  heilige  Geist 
auf  die  120  gläubigen  Seelen  herabgekommen  war. ')  Aber 
die  Stadt  der  Geburt  des  Erlösers,  Bethlehem,  machte  auf 
Paula  einen  noch  tieferen  Eindruck  als  die  Stadt  seines 
Leidens  und  Sterbens.  Stand  doch  auch  im  Mittelpunkt  der 
Frömmigkeit  der  Zeit  das  Wunder  der  Menschwerdung,  nicht 
der  Tod  der  Erlösers.  Auf  dem  Wege  von  Jerusalem  nach 
Bethlehem  hatte  Paula  zur  Rechten  der  Staatsstraße  noch  das 
Grabmal     der   Rahel    besichtigt.')     In    Bethlehem    eilte    sie  zu 


^)  Die  Fürstin  Helena  von  Adiabene  lebte  zur  Zeit  des  Kaisers  Claudius. 
Eine  geborene  Mesopotamierin,  Proselytin  des  Judentums,  wurde  sie  später 
von  der  Legende  mit  der  Kaiserin  Helena,  der  Gemahlin  Konstantins,  zu  einer 
Person  verschmolzen;  s.  Zahn,  Forschungen  zur  Geschichte  des  Kanons  1,374. 
Monabazus,  der  Sohn  der  Helena,  hatte  für  sie  und  ihren  Sohn  Izates  drei 
Stadien  von  Jerusalem  das  große  Mausoleum  erbaut.  Joseph.  Antiqu.  XX,  4,  3; 
Eusebius,  Hist.  eccl.  II,  12;   Itinerarium   a  Bordigala  Hierosolymam  S.  15. 

*)  Antonini  Piacentini  c.  20.  S:  14. 

^)  Über  der  Grabstätte  erhob  sich  nach  der  Pilgerin  von  Bordeaux, 
S.  18,  die  Basilika  des  Kaisers  Konstantin. 

^)  Cyrill  von  Jerusalem,  Katechese  13,  bezeugt  ebenfalls  die  Existenz 
des  Auferstehungssteines;  nach  Antonini  Piacentini  c.  18,  S.  13  war  der 
Stein  zu  seiner  Zeit  mit  Gold  und  Edelsteinen  geziert. 

'")  Pilgerin  von  Bordeaux,  S.  17:  columna  adhuc  ibi  est,  in  qua  Christum 
flagellis  ceciderunt;  s.  auch  Antonini  Piacentini  c.  22,  S.  16. 

")  Ep.  108,  9. 

')  Pilgerin  von  Bordeaux,  S.  19  und  Antonini  Piacentini  c.  28,  S.  20. 


8  Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem. 

der  Geburtshöhle  des  Erlösers:  visionäres  Entzücken  ergriff 
sie,  sie  schaute  mit  den  Augen  des  Glaubens  das  in  Windeln 
gewickelte  Kind,  den  wimmernden  Herrn  in  der  Krippe,  die 
anbetenden  Magier,  den  glänzenden  Stern  darüber,  Maria,  die 
Mutter  und  Jungfrau,  den  fleißigen  Nährvater  Joseph,  die 
herbeieilenden  Hirten,  die  gemordeten  Knaben,  den  wütenden 
Herodes,  die  Flucht  Josephs  und  Marias  nach  Egypten.  Unter 
seligen  Freudentränen  rief  sie:  Gegrüßet  seist  du,  Bethlehem, 
Brothaus,  in  dem  jenes  Brot  geboren  wurde,  das  vDm 
Himmel  herabkommt;  gegrüßet  seist  du,  Ephrata,  fruchtreichste 
und  fruchttragende  Gegend,  deren  Fruchtbarkeit  der  Herr  ist. ') 
Es  ist  verständlich,  daß  eine  so  aufrichtig  fromme,  für  sinn- 
liche Eindrücke  religiös  empfängliche  Frau  wie  Paula  die 
ganze  Wonne  empfand,  an  der  heiligsten  Stätte  zu  weilen, 
wo  der  Himmel  die  Erde  geküßt  hatte.  Schon  damals  wählte 
sie  Bethlehem  als  Ruheplatz,  weil  es  die  Heimat  ihres  Herrn 
war.  Hieronymus  scheint  mit  weit  nüchterneren  Gedanken  die 
Reise  mitgemacht  zu  haben.  Er  weiß  von  sich  keine  Ver- 
zückung beim  Anblick  der  Geburtshöhle  des  Erlösers  zu  be- 
richten, trocken  registriert  er  seine  Erlebnisse:  ich  sah  viele 
Wunder,  und  was  vorher  das  Gerücht  mir  überliefert  hatte, 
habe  ich  mit  eignen  Augen  gesehen.  )  Das  gelehrte  Interesse 
an  den  Lokalitäten  des  heiligen  Landes  scheint  schon  damals 
bei  ihm  neben  dem  religiösen  wirksam  gewesen  zu  sein."*) 
Vielleicht  beunruhigte  ihn  auch  die  übertriebene  Wohltätigkeit, 
die  Paula  übte,  so  daß  er  sich  bereits  Sorgen  für  die  Zukunft 
machte.  Überall  merkt  er  in  seinem  Reisebericht  der  Paula 
an,    daß    sie    in    Cypern,    in    Jerusalem    und    später    bei    den 

•)  Ep.  108,  10. 

")  Contra  Rufin.  111,  22,  Vallarsi  11,  551. 

*)  Später  hat  er  die  Kenntnis  des  heiligen  Landes  noch  erweitert,  s. 
Praef.  ad  lib.  Paralipomena  iuxta  LXX,  Vallarsi  X,  431  (s.  auch  Zöckler, 
S.  147):  quomodo  Oraecorum  historias  niagis  intelligunt,  qui  Athenas 
viderint  .  .  .  ita  sanctam  scriptiiram  lucidius  intuebitur,  qui  ludaeam  oculis 
contemplatus  est  et  antiquaruiu  urbiuin  niemorias,  locorumque  vel  eadem 
vocabula  vel  mutata  cognoverit.  Unde  et  nobis  curae  fuit  cum  eruditissimis 
Hebraeorum  hunc  laborem  subire,  ut  circuniiremus  provinciam,  quam 
universae  Christi  ecciesiae  sonant. 


Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem.  9 

nitrischen  Mönchen  ihre  Gebefreudigkeit  ausgiebig  betätigte.*) 
Dies  ist  allerdings  geschrieben,  als  er  nach  dem  Tode  der 
Paula  unter  den  Folgen  ihrer  profusen  Wohltätigkeit  zu  leiden 
hatte;  aber  es  ist  sehr  wohl  möglich,  daß  Hieronymus  sich 
bereits  auf  der  Reise  Gedanken  darüber  machte.  — 

Von  Bethlehem  nahm  die  Pilgerkarawane  nach  Süden 
ihren  Weg.  Man  benutzte  die  alte  Straße  nach  Gaza;  hier  bot 
die  Quelle  eine  denkwürdige  Erinnerung,  in  der  der  Eunuch 
vom  Philippus  getauft  worden  war.')  Von  Bethsur  gelangte 
man  nach  Eskol  und  von  dort  nach  Hebron.  Diese  Stadt 
und  ihre  Umgebung  war  besonders  reich  an  Gedenkstätten 
aus  der  Patriarchengeschichte.  Hier  zeigte  man  die  Zelle  der 
Sara,  die  Wiege  des  Isaak,  die  Reste  der  Therebinthe  des 
Abraham,')  das  Grab  des  Enaksohnes  Adam*)  und  das  aus 
Ziegelsteinen  erbaute  Grabdenkmal  des  Kaleb.  Am  folgenden 
Tage  bei  Sonnenaufgang  zogen  die  Reisenden  weiter  auf  die 
Anhöhe  von  Kapharbarucha.  Vor  dem  Auge  breitete  sich  die 
weite  Wüste,  die  Gegend,  wo  die  untergegangenen  Städte  Sodom 
und  Gomorra,  Adama  und  Seboim  gelegen  hatten,  und  die 
Balsampflanzungen  und  Weinstöcke  von  Engeddi  und  Segor. 
Im  Gedächtnis  an  die  Schandtat  der  Töchter  Lots  hielt  Paula 
an  dieser  Stätte  ihren  jungfräulichen  Gefährtinnen  eine  Lektion, 
in  der  sie  eindringlich  vor  dem  Weingenuß  warnte.  Hier 
hatte  die  Reise  den  südlichsten  Punkt  erreicht  und  man 
kehrte  über  Thekoa,  die  Heimat  des  Propheten  Amos,  nach 
Jerusalem  zurück.  In  Jerusalem  bestiegen  sie  noch  den  Ölberg, 
die  Stätte  der  Himmelfahrt  Christi,  wo  sich  zum  Gedächtnis 
ein  glänzendes  Kreuz  befand,')    und  besuchten    das  Grab  des 


1)  Ep.  108,  7;  108,  10;  108,  14. 

^)  Ep.  46,  19  ad  Marcellam;  Pilgerin  von  Bordeaux,  S.  19;  Antonini 
Piacentini  c.  32,  S.  22. 

')  Joseph.  Bell.  Judaicum  IV,  9,  7.  Die  Pilgerin  von  Bordeaux,  S.  19, 
hat  die  Therebinthe  sechs  Stadien  von  Hebron  noch  333  gesehen  und  die 
hier  auf  Befehl  Konstantins  errichtete  Basilika.  Schlatter,  Zur  Topographie 
und  Geschichte  Palästinas  S.  221,  nimmt  die  Vernichtung  der  Therebinthe 
im  Aufstande  der  Juden  gegen  Konstantin  an. 

*)  Josua  14,  15. 

'")  Die  Pilgerin  von  Bordeaux,  S.  18,  erwähnt  hier  eine  von  Konstantin 
errichtete  Basilika. 


10  Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem. 

Lazarus,')  das  gastliche  Haus  Marias  und  Marthas  und  den 
Flecken  Bethphage.')  Dann  wandte  man  sich  nach  Norden 
geraden  Wegs  nach  Jericho.  Auch  diese  Stadt  war  voll  von 
teuren  Erinnerungsstätten:  an  den  barmherzigen  Samariter,  an 
den  Zöllner  Zachäus,  der  die  Sykomore  bestieg,  um  Jesum 
zu  sehen,')  und  an  die  Heilung  der  beiden  Blinden.  Von 
Jericho  ging  es  nach  Gilgal  und  von  dort  an  die  Ufer  des 
Jordan,  dessen  Wasser  sich  auf  Befehl  des  Elias  und  Elisa 
wie  eine  Mauer  gestellt  und  den  Durchzug  gestattet  hatten, 
und  in  dem  der  Erlöser  getauft  war.')  Man  zog  weiter  nörd- 
lich nach  Bethel,  wo  sich  die  Gräber  Josuas  und  Eleazars, 
des  Sohnes  des  Hohenpriesters  Aaron,  befanden,  und  nach 
Silo,  wo  der  zerstörte  Altar  gezeigt  wurde.  Man  weilte  in 
Sichern,  dem  damaligen  Neapolis,  und  besuchte  die  Kirche, 
die  an  dem  Berg  Garizim  angelehnt  über  dem  Jakobsbrunnen 
erbaut  war.  )  Dann  machte  man  nach  Nordwesten  einen 
Abstecher  zu  den  Gräbern  der  zwölf  Patriarchen  und 
nach  Sebaste,  dem  alten  Samaria.  Hier  an  den  Gräbern  des 
Elisa,")  Obadja  und  Johannes  des  Täufers ')  bot  sich  den 
Pilgern  ein  erschütterndes  Bild:  Von  Dämonen  besessene 
Menschen  heulten  wie  Wölfe,  bellten  wie  Hunde,  brüllten  wie 
Löwen  oder  Stiere  und  zischten  wie  Schlangen.  Andere 
drehten  den  Kopf  im  Kreise,  wieder  andere  beugten  sich  rück- 
wärts mit  dem  Scheitel  bis  zur  Erde,  und  Frauen  hatten  sich 
am  Fuß  aufgehängt,  aber  ihre  Kleider  fielen  doch  nicht  über 
das  Gesicht  herab.')     Tiefes  Mitleid  ergriff  Paula    und  sie  bat 


')  Pilgerin  von  Bordeaux,  S.  IS;  Antonini  Piacentini  c.  16,  S.  12. 

')  Alle  diese  Stätten  werden  auch  in  dem  Briefe  der  Paula  und 
Eustochium  ep.  46,  12,  Vallarsi  1,  206ff.  genannt.  Des  auf  dem  Ölberg  er- 
richteten Kreuzes  gedenkt  Hieronymus  auch  Kommentar  zum  Zephanja  1,  15 
u.  16,  Vallarsi  VI,  6Q2:  de  Oliveto  monte  quoque  crucis  fulgente  vexillo 
plangere  ruinas  tempii  sui  populum  miserum  s.  Vallarsi  I,  695,  Anm.  c. 

^)  r^ilgerin  von  Bordeaux,  S.  19;  Antonini  Piacentini  c.  15,  S.  11. 

•*)  Antonini  Placeutini  c.  9. 

*)  Pilgerin  von  Bordeaux,  S.  16,  ohne  aber  eine  Kirche  zu  erwähnen. 

*)  Antonini  Piacentini  c.  S,  S.  6. 

■)  Hieron.  Comm.  zum  Mich.  Vallarsi  VI,  437:  Sebaste,  in  qua  et  sancti 
Johannis  Baptistae  ossa  sunt  condita. 

**)  Ep.  108,  13;  Vallarsi  1,  697.     Auch  am  Grabe  Christi  befanden  sich 


Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem.  11 

für  die  Unglücklichen  um  die  Barmherzigkeit  Christi.  Obwohl 
Paula  jetzt  von  den  ungewohnten  Anstrengungen  der  Reise 
angegriffen  war,  wollte  sie  doch  keine  biblische  Sehenswürdig- 
keit vorüberlassen.  Zu  Fuß  bestieg  sie  noch  den  Berg  bei 
Samaria,  in  dessen  zwei  Höhlen  zur  Zeit  der  Verfolgung  und 
Hungersnot  der  Prophet  Obadja  100  Propheten  mit  Wasser 
und  Brot  ernährt  hatte.  In  schnellem  Fluge  stattete  man  noch 
den  heiligen  Orten  Galiläas,  Nazareth,  Kana,  Kapernaum  und 
dem  See  von  Tiberias '),  einen  Besuch  ab,  bestieg  den  Tabor, 
den  Berg  der  Verklärung  des  Herrn'),    und  genoß   den  Blick 


nach  ep.  46,  8,  Vallarsi  1,  204  solche  Dämonische:  si  nobis  non  credimus, 
credamus  saltem  diabolo  et  angelis  eins,  qui  quotiescunque  ante  illud 
de  obsessis  corporibus  expelluntur  quasi  in  conspectu  tribunalis  Christi 
stantes  contreniiscunt,  rugiunt  et  sero  dolent  crucifixisse,  quem  tinieant. 
Ähnliche,  zum  Teil  sich  wörtlich  deckende  Beschreibungen  Dämonischer 
hat  Vallarsi  1,  697  Anm.  c  gesammelt:  Hilarius,  Contra  Constantium 
n.  8,  wo  auch  von  Frauen  die  Rede  ist,  die  ohne  Stricke  in  der  Luft 
hängen  oder  am  Fuß  aufgehängt  sind  und  deren  Kleider  nicht  in 
das  Gesicht  fallen;  vgl.  Sulp.  Sev.  Dialog.  3,  Paulinus  v.  Noia,  Natalis 
S.  Felicis  c.  7. 

')  Contra  Rufin.  111,  22:  vidi  quoque  formosissimum  lacum. 

2)  Ep.  108,  13;  Vallarsi  1,  13.  Mit  der  Besteigung  des  Tabor  bricht 
der  Reisebericht  des  Hieronymus  ab,  unmittelbar  daran  schließt  sich  die 
Schilderung  der  Reise  nach  Ägypten.  Es  scheint  also,  als  ob  Paula 
vom  Tabor  direkt  nach  Ägypten  gereist  sei.  Da  aber  die  Reisegesell- 
schaft bei  der  Reise  nach  Ägypten  Orte,  die  an  der  Straße  von  Jerusalem 
nach  Gaza  liegen,  berührt  hat,  so  ist  es  wahrscheinlich,  daß  man 
vom  Tabor  zunächst  nach  Jerusalem  zurückkehrte  (Leipelt,  Ausgewählte 
Schriften  des  Hieronymus,  deutsch  H,  14).  Auf  welchem  Wege  wissen 
wir  nicht;  wahrscheinlich  nahm  man  den  Rückweg  über  Silo  und 
Bethel,  wie  Paula  es  bei  der  projektierten  Reise  mit  Marcella  in  Aus- 
sicht nimmt  (ep.  46,  12).  Der  Reisebericht,  den  Hieronymus  Contra  Rufin. 
III,  22  gibt,  ist  so  kurz,  daß  aus  ihm  auch  nichts  mit  Sicherheit  zu 
schließen  ist.  Nach  ihm  ist  Hieronymus  von  Antiochia  nach  Jerusalem 
gelangt  und  von  dort,  d.  h.  doch  von  Jerusalem  nach  Ägypten  geeilt. 
Merkwürdig  ist  es,  daß  Hieronymus  sich  nicht  ausdrücklich  bei  Be- 
schreibung der  Reise  der  Paula  (ep.  108,  14)  als  Reisebegleiter  nennt. 
Daß  er  aber  daran  teilnahm,  geht  sicher  daraus  her\or,  daß  er  bei 
der  Anwesenheit  Paulas  in  Bethlehem  zugegen  war  und  eine  genaue 
Kenntnis  der  Lokalitäten  des  heiligen  Landes  besitzt,  die  wahrscheinlich 
auf  die  mit  Paula  unternommene  Rundreise  durch  das  heilige  Land 
zurückgeht. 


12  Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem. 

auf  den  in  der  Ferne  sich  erhebenden  Hermon,  die  weiten 
Gefilde  Galiläas,  den  Bach  Kison  und  die  Stadt  Nain.  Über 
Silo  und  Bethel  kehrt  man  vermutlich  auf  demselben  Wege 
nach  Jerusalem  zurück,  — 


§  28. 
Der  Aufenthalt  Paulas  und  des  Hieronymus  in  Ägypten. 

Nur  kurze  Zeit  werden  Hieronymus  und  Paula  in  Je- 
rusalem geweilt  haben,  dann  traten  sie  die  Reise  nach  Ägypten 
an.  Man  zog  auf  dem  Landwege  die  alte  Straße  nach  Gaza 
über  Socho  an  der  Quelle  des  Simson')  vorbei  nach  Morasthim, 
wo  über  dem  Grabe  des  Propheten  Micha  sich  eine  Kirche 
erhob.  Nachdem  man  Gath,  Maresa  und  Lachis  hinter  sich 
hatte,  begann  die  mühevolle  Wüstenwanderung  durch  den 
weichen  Sand,  der  den  Reisenden  unter  den  Füßen  wich,  bis 
zum  Bach  Sihor  bei  Rhinocorura,  der  die  Grenze  zwischen 
Palästina  und  Ägypten  bildete.  Dann  durchzogen  sie  die  fünf 
Städte  Ägyptens,  in  denen  die  kanaanitische  Sprache  gesprochen 
wurde,  das  Land  Gosen  und  die  Ebene  Tanis,  bis  sie  nach 
Alexandria,  dem  alten  No,  gelangten.  ') 

in  Alexandria  verweilte  man  fast  einen  Monat,  und  hier 
trat  Hieronymus  in  innige  Beziehungen  zu  dem  Leiter  der 
altberühmten  Katechetenschule,  dem  blinden  Didymus.     Auch 


')  Antonini  Piacentini  c.  32,  S.  22. 

")  Die  Namen  im  Reisebericht  nach  Ägypten  ep.  lOS,  14,  Vallarsi  I, 
698  sind  schlecht  überliefert  und  zum  Teil  nicht  zu  identifizieren.  So  liest 
Vallarsi  Sochoth  nach  1.  Sam.  17,  1,  einem  Lagerplatz  der  Philister,  aber 
Leipelt,  Ausgewählte  Schriften  S.  114,  hat  statt  dessen  Socho  eingesetzt, 
was  in  den  Zusammenhang  besser  palit.  Der  Ortsname  Chorreos  vor 
Gath-Rimmon  in  Juda  und  der  Landschaftsname  Idumea  vor  Lachis,  wo 
man  in  der  Aufzählung  einen  Stadtnamen  erwartet,  scheinen  auch  der 
Korrektur  zu  bedürfen.  Erst  die  Prüfung  der  handschriftlichen  Überlieferung 
wird  hier  ein  sicheres  Urteil  ermöojiclien. 


Bis  zur  Niederlassung  in  Bethleiiem.  13 

sein  Freund  und  späterer  Gegner  Rufin  hatte  zu  den 
Füßen  des  gelehrten  Mannes  gesessen. ')  Schon  in  Rom  hatte 
Hieronymus  im  Auftrage  des  römischen  Bischofs  Damasus 
die  Schrift  des  Didymus  über  den  heiligen  Geist  zu  über- 
setzen begonnen,  ohne  sie  jedoch  zu  vollenden.')  Jetzt  lernte 
er  ihn  persönlich  kennen  und  mit  großem  Eifer  suchte  er  den 
kurzen  alexandrinischen  Aufenthalt  auszunutzen,  um  von  ihm 
zu  lernen.  Hieronymus  bezeichnete  es  sogar  als  den  Haupt- 
zweck seiner  Reise  nach  Ägypten,  daß  er  den  heißen  Wunsch 
hatte,  die  Bekanntschaft  des  Didymus  zu  machen  und  ihm 
Fragen  über  schwierige  Schriftstellen  vorlegen  zu  können.') 
Paula  hatte  jedenfalls  bei  der  Reise  nach  Ägypten  kein  anderes 
Motiv  gehabt,  als  die  Heroen  der  Weltentsagung  bewundern 
und  ihnen  ihre  Verehrung  bezeugen  zu  dürfen.  Hieronymus, 
der  in  der  Mitte  der  Vierziger  stand,  und  dessen  Haare  sich 
bereits  grau  färbten,  schämte  sich  nicht,  den  Vorträgen  des 
Didymus  über  die  Schriftauslegung  beizuwohnen."*)  Er  ver- 
anlaßte  auch  Didymus,  einen  Kommentar  zu  dem  Propheten 
Hosea  zu  schreiben,  da  der  große  Lehrer  des  Didymus, 
Origenes,  keine  vollständige  Auslegung  des  Propheten  hinter- 
lassen hatte.  Didymus  kam  der  Bitte  nach  und  widmete  den 
vierbändigen  Hoseakommentar  seinem  eifrigen  Schüler.  Eben- 
falls auf  Bitte  des  Hieronymus  verfaßte  er  auch  einen  Kom- 
mentar zum  Propheten  Sacharja.  )  Hieronymus  war  eben 
damals  noch  von  der  größten  Hochschätzung  für  Origenes 
erfüllt  und  so  schloß  er  sich  auch  mit  Begeisterung  an  Didy- 
mus an,  zumal  dieser  die  Heterodoxien  des  großen  Alexan- 
driners, so  gut  es  ging,  zu  retouchieren  wußte,  ohne  ihn  aber 
preiszugeben.)     Mit  Stolz  nannte  Hieronymus  noch  später  den 


»)  Rufin,  Contra  Hieron.  II,  12,  Vallarsi  il,  642. 

'')  s.  Band  1,  213  ff. 

^)  Comm.  in  ep.  ad  Ephes.,  prol.,  Vallarsi  VII,  539. 

*)  Ep.  84,3  Vallarsi  I,  520.  —  Comm.  in  Hoseam  prol.  Vallarsi  VI,  XXIV. 

^)  Comm.  in  Hoseam  prol.  Vallarsi  VI,  XXHl  und  Comm.  in  Zach, 
prol.,  Vallarsi  VI,  777;   Contra  Rufin.  III,  28,  Vallarsi  II,  558. 

")  Ep.  84,  10,  Vallarsi  I,  527:  Didymus  errores  eins  (seil.  Origenis) 
nititur  excusare,  ut  tarnen  illius  esse  fateatur,  non  scriptum  negans  sed 
sensum  scribentis  edisserens.  Aliud  est,  si  qua  ab  haereticis  addita  sunt, 
aliud,  si  quis  quasi  bene  dicta  defendat. 


14  Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem. 


ö 


blinden  und  doch  sehenden  Didymus  seinen  Lehrer  in  der 
Schriftausiegung  neben  Gregor  von  Nazianz ')  und  benutzte 
mit  Dank  in  seinem  Epheser-  und  Galaterkommentar  die 
Kommentare  des  Didymus.  )  Dies  mußte  aber  anders  werden, 
als  Hieronymus  im  Streit  mit  Rufin  den  Bruch  mit  Origenes 
vollzog,  im  Jahre  395  hatte  Didymus  hochbetagt  die  Augen 
geschlossen,  und  Hieronymus  brauchte  nicht  mehr  die  Vor- 
würfe seines  einstigen  Lehrers  zu  fürchten.  In  dem  um  401 
geschriebenen  Brief  an  Pammachius  und  Oceanus  tritt  uns 
diese  Wandlung  des  Hieronymus  entgegen:  Es  ist  ihm  plötz- 
lich sehr  unangenehm,  daß  er  in  einem  Briefe  an  Didymus 
diesem  seinem  Lehrer  seine  Ehrfurcht  bezeugt  hatte,  zumal  da 
er  diesen  Brief  selbst  nicht  mehr  besitzt,  aber  seine  Gegner  ihn 
gegen  ihn  ausspielen.  Er  behauptet  jetzt,  daß  dieser  Brief  sonst 
nichts  Kompromittierendes  für  ihn  enthalte.  Didymus  ist  ihm 
ein  Verteidiger  der  Ketzereien  des  Origenes  geworden,  der  sich 
vergeblich  bemüht  habe,  dem  zweifelhaften  Sprachgebrauch  des 
Origenes  einen  kirchlich  korrekten  Sinn  unterzuschieben.  )  Und 
Rufin  gegenüber,  der  ihn  verspottet,  daß  er  immer  von  seinem 
Lehrer  Didymus  spreche,')  erklärte  er:  Wir  preisen  sein  Ge- 
dächtnis und  die  Reinheit  seines  Glaubens  über  die  Trinität, 
aber  worin  er  dem  Origenes  in  schlechter  Weise  vertraut  habe, 
rücken  wir  von  ihm  ab.')  Auch  habe  er  nur  die  durchaus 
orthodoxe  Schrift  des  Didymus  über  den  heiligen  Geist  über- 
setzt. Während  Didymus  dem  Rufin  ein  dogmatisch  an- 
stößiges Werk  über  die  Frage,  warum  die  Kinder  sterben, 
dediziert  habe,  in  dem  er  die  abscheulichen  Heterodoxien  des 
Origenes  vom  präexistenten  Sündenfall  aufwärme,  habe  er  ihm 
nur  den  unverfänglichen  Hoseakommentar  gewidmet.')     Es  ist 


»)  Ep.  50,  1,  Valiarsi  I,  235. 

-')  Comni.  in  Eph.  prol.,  Valiarsi  VII,  543.  —  Conini.  in  Gal.  prol. 
Valiarsi  VII,  360. 

^)  Ep.  84,  10,  Valiarsi  I,  527. 

*)  Rufin,  Contra  Hier.  II,  12,  Valiarsi  II,  642. 

*)  Contra  Rufin.  II,  16,  Valiarsi  II,  507;  Contra  Rufin.  HI,  27,  Valiarsi  II, 
556:  in  Didynio  vero  et  meinoriani  praedicanuis  et  super  trinitate  fidei 
puritatem,  sed  in  caeteris,  quae  Origeni  male  credidit,  iios  ab  eo  re- 
trahinuis. 

«)  Contra  Rufin.  III,  28,  Valiarsi  II,  558. 


Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem.  15 

für  den  Charakter  des  Hieronymus  bezeichnend,  daß  er  den 
einst  so  bewunderten  Mann,  den  er  gelegentlich  noch  den 
gelehrtesten  Mann  seiner  Zeit  nennt,  dessen  Freundschaft  er 
sich  rühmt  und  dessen  Jesaiakommentar  er  benutzt,  preis- 
gab, als  er  selbst  zu  einem  engherzigen  Orthodoxen  wurde.') 
Auch  an  seiner  Exegese  findet  er  jetzt  allerlei  auszusetzen: 
der  Kommentar  zu  Hosea  sei  ein  ganz  allegorisches  Werk, 
das  den  geschichtlichen  Sinn  wenig  berücksichtige,")  Es  kann 
uns  dies  nicht  wunder  nehmen;  Treue  gegenüber  seinen 
Freunden  war  nicht  eine  Eigenschaft  des  Hieronymus,  wenn 
sie  in  den  Geruch  der  Ketzerei  kamen. 

Von  Alexandria  aus  besuchte  die  Reisegesellschaft  die  ni- 
trische  Mönchskolonie,  die  Stadt  des  Herrn,  wie  sie  Hieronymus 
nennt.  )  Es  scheint  nur  ein  kurzer  Besuch  gewesen  zu  sein,  der 
aber  Paula  aufs  höchste  enthusiasmierte.  Der  heilige  und  ehr- 
würdige Konfessorbischof  Isidor  ging  der  vornehmen  Römerin 
aus  konsularischem  Geschlecht  in  feierlicher  Prozession  mit  den 
Mönchen,  von  denen  viele  Priester  und  Diakonen  waren,  ent- 
gegen. Die  Weltflüchtigen  bewiesen  oft  einen  feinen  Instinkt 
in  der  Menschenbehandlung.  Paula  frohlockte  zwar  über  die 
Verherrlichung  des  Herrn,  aber  bekannte  sich  zugleich  einer 
solchen  Ehre  ganz  unwürdig.  Sie  warf  sich  vor  jedem  einzelnen 
der  Heiligen  nieder,  in  denen  sie  Christus  zu  schauen  glaubte; 
sie  lernte  den  jüngeren  Macarius,  Arsenius  und  Serapion  kennen') 


')  Comm.  in  Hos.  prol.  Vallarsi  Vi,  S.  XXIII;  Comm.  in  Jes.  prol., 
Vallarsi  IV,  5.  Im  Brief  an  Augustin  ep.  112,  20,  Vallarsi  I,  747,  nennt  er 
Didymus  als  Psalmenkommentator. 

-)  Comm.  in  Zach,  prol.,  Vallarsi  VI,  777. 

^)  Der  Aufenthalt  in  Nitria  ist  nach  dem  Besuch  in  Alexandria  an- 
zusetzen. Dies  geht  deutlich  aus  ep.  108,  14,  Vallarsi  I,  698  hervor:  et 
urbem  No,  quae  postea  versa  est  in  Alexandriam,  et  oppidum  domini 
Nitriae.  Für  die  Meinung  Vallarsis  XI,  92,  der  die  Reihenfolge  umkehrt, 
spricht  nichts:  denn  der  kurze  Reisebericht  Contra  Rufin.  III,  22,  Vallarsi  II, 
551,  erwähnt  den  Aufenthalt  in  Alexandria  überhaupt  nicht.  Auch  für  die 
Vermittelungshypothese  Zöcklers,  S.  149,  Anmerk.  2,  der  den  Besuch  in 
Nitria  in  die  30  Tage  des  alexandrinischen  Aufenthaltes  setzt,  läßt  sich 
nichts  Durchschlagendes  beibringen. 

*)  Was  die  genannten  Eremiten  betrifft,  so  kann  zunächst  der 
Konfessorbischof  Isidor  nicht  mit  Isidor  von   Pelusium  identifiziert  werden 


16  Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem. 

und  wünschte  nicht  eingedenk  ihres  Geschlechts  und  der 
körperlichen  Gebrechlichkeit  mit  ihren  jugendlichen  Gefährtinnen 
unter  so  vielen  tausend  Mönchen  zu  wohnen.  Hieronymus 
scheint  die  Begeisterung  seiner  Freundin  nicht  geteilt  zu  haben. 
Daß  er  aber  bereits  damals  unter  den  Chören  der  Heiligen 
zu  Nitria  die  verborgenen  Giftschlangen  der  origenistischen 
Ketzerei  erkannt  habe,  ist  eine  dreiste  Fälschung  der  Wahr- 
heit.') Er,  der  damals  noch  ein  entschiedener  Bewunderer  des 
Origenes  war  und  soeben  mit  Didymus  einen  innigen  Freund- 
schaftsbund geschlossen  hatte,  sah  damals  im  Origenismus 
noch  nicht  das  Gift,  das  er  erst  später  in  ihm  erkannte.  Auf 
den  Entschluß  der  Paula,  sich  nicht  in  der  nitrischen  Mönchs- 
kolonie dauernd  niederzulassen,  sondern  nach  Bethlehem  zurück- 
zukehren, hat  aber  gewiß  Hieronymus  eingewirkt.  Die  bösen 
Erfahrungen,  die  er  einst  in  der  Eremitenkolonie  der  Wüste 
Chalcis  bei  Antiochia  gemacht  hatte,  ließen  es  ihm  nicht  rätlich 
erscheinen,  es  noch  einmal  mit  einer  Niederlassung  inmitten 
der  Heiligen  zu  versuchen.  Vielleicht  fürchtete  er  auch  bei 
der  für  asketischen  Heroismus  so  empfänglichen  Paula  den 
konkurrierenden  Einfluß  dieser  Heiligen  auf  die  ihm  ergebene 
Frau.     Er  wollte  ihr  einziger  Heiliger  sein  und  bleiben. 

Wegen  der  glühenden  Sonnenhitze  kehrte  man  nicht  auf 
dem  Landwege  von  Ägypten   nach  Palästina  zurück,    sondern 


(s.  Zocker,  S.  150,  Anm.  1,  gegen  Vailarsi  I,  704),  da  Isidor  (t  um  450) 
nur  Presbyter  und  auch  jünger  als  der  hier  genannte  Isidor  war.  Richtiger 
werden  wir  ihn  wohl  für  einen  Bischof  des  in  der  Nähe  der  nitrischen 
Wüste  gelegenen  Hermopolis  parva  zu  halten  haben  (s.  Vailarsi  XI,  91). 
Mit  Macarius  kann  nur  der  jüngere  nitrische  gemeint  sein  (Palladius  Hist. 
Laus.  c.  7),  da  der  ältere  damals  bereits  tot  war.  Serapion  ist  identisch 
mit  dem  von  Palladius  (Hist.  Laus.  c.  7)  genannten  Heiligen  Nitrias  und 
Arsenius  mit  dem  von  Socrates  (Hist.  eccl.  IV,  27)  genannten.  Rufin 
(Contra  Hieron.  II,  12,  Vailarsi  II,  642)  nennt  unter  anderen  auch  Macarius, 
den  Jüngeren,  Isidor  und  Serapion  als  solche,  die  er  bei  seinem  6jährigen 
Aufenthalt  in  Ägypten  persönlich  kennen  gelernt  habe.  Ob  Isidor  und 
Serapion  —  von  letzterem  bemerkte  Rufin  ausdrücklich,  daß  ihn  Hiero- 
nymus nicht  persönlich  gekannt  habe  —  mit  den  von  Hieronymus  ge- 
nannten Isidor  und  Serapion  identisch  sind,  ist  möglich,  bleibt  aber  bei 
der  Häufigkeit  dieser  Namen  fraglich. 

')  Contra  Rufin.  III,   22,    Vailarsi    11,    551:    inde    contendi    Ägjptum, 
lustravi  monasteria  Nitriae  et  inter  sanctorum  choros  aspides  latere  perspexi. 


Bis  zur  Niederlassung  in  Bethlehem.  17 

fuhr  zu  Schiffe  von  Pelusium  nach  Majuma,  der  Hafenstadt 
Gazas,  und  zwar,  wie  Hieronymus  sagt,  mit  solcher 
Schnelligkeit,  daß  man  Paula  und  ihre  Reisegesellschaft  für 
einen  Vogel  hätte  halten  können.  Man  ließ  sich  jetzt  dauernd 
in  Bethlehem  nieder,  aber  noch  drei  Jahre  mußte  man  mit 
einer  engen  Herberge  vorlieb  nehmen,  bis  die  Zellen  der  Klöster 
und  die  an  der  durch  Bethlehem  führenden  Staatsstraße  er- 
richteten Pilgerherbergen  fertiggestellt  waren.') 


»)  ep  108,  14,  Vallarsi  II,  699  u.  Contra  Rufin.  III,  22,  Vallarsi  II,  551. 


Grützmacher,  Hieronymus.    II. 


Kapitel  VIII. 

Die  ersten  Jahre  des  Hieronymus  im  Kloster 

zu  Bethlehem. 


§29. 


Die    ersten    literarischen  Werke   des  Hieronymus  aus 

seinem  betlilehemitischen  Aufenthalt,  die  Kommentare 

zu  den  vier  Paulusbriefen. 

Nach  der  Rückkehr  nach  Bethlehem  begann  Hieronymus 
sogleich  seine  literarische  Tätigkeit  aufzunehmen.  Er  selbst 
sagt:  Ich  gab  mich  nicht  träger  Muße  hin,  sondern  lernte 
vieles,  was  ich  vorher  nicht  wußte.')  Durch  die  exegetischen 
Vorträge  des  Didymus  angeregt,  wandte  er  sich  zunächst  der 
neutestamentlichen  Exegese  zu.  Die  Briefe  des  Paulus  wollte 
er  in  selbständigen  Kommentaren  behandeln.  Er  gedachte 
ursprünglich  alle  Paulusbriefe  zu  kommentieren,)  aber  sein 
beweglicher  Geist  wurde  nach  Vollendung  der  vier  Kommentare 
zum  Philemon-,  Kolosser-,  Epheser-  und  Titusbriefe  von  neuen 
wissenschaftlichen  Arbeiten  angezogen.  Wie  er  die  Über- 
setzung der  Schriften  des  Origenes  nicht  vollendete,  so  blieb 
auch  der  geplante  Oesamtkommentar  zu  allen  Paulinen  ein 
Torso.  Paula  und  Eustochium  hatten  ihn  zu  dieser  Arbeit 
veranlaßt,  ihnen  hat  er  auch  die  Auslegungsschriften  gewidmet. 

Mit  dem  kleinsten  Briefe  des  Paulus,    dem  Philemonbrief, 


»)  Contra  Rufin.  III,  22,  Vallarsi  II,  551. 

«)  Comm.  in  Eph.  Hb  11  praef.,  Vallarsi  VI,  585  ut  cepta  in  apostolum 
explanatio  ipsius  Pauli,  cuius  epistolas  conannir  exponere,  orationibus 
compleatur. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  19 

begann  er  seine  Arbeit.  Er  nennt,  wie  im  Kommentar  zum 
Titusbrief,  keinen  älteren  Kommentar,  den  er  benutzt  hat.  Dar- 
aus folgern  zu  wollen,  daß  er  tatsächlich  keinen  benutzt  hat, 
wäre  sehr  gewagt,  da  Hieronymus,  wie  Zahn  scharf  sagt, 
unter  allen  lateinischen  Dieben  einer  der  ärgsten  und  ver- 
schlagensten war.')  Zunächst  könnte  man  an  eine  Benutzung 
des  Origenes  denken,  der  den  Philemonbrief  kommentiert  hat.') 
Bei  der  Bezeichnung  des  Epaphras  als  des  Mitgefangenen  des 
Paulus  bemerkt  Hieronymus,  daß  einige  —  er  gebraucht  gerne 
den  Plural,  wenn  er  auch  nur  einen  Ausleger  im  Auge  hat, 
um  seine  Abhängigkeit  zu  verdecken  —  unter  dieser  Gefangen- 
schaft allegorisch  die  Gefangenschaft  der  Seele  im  Leib  ver- 
stehen. Diese  Auslegung,  die  Rufin  sich  in  seiner  Streitschrift 
gegen  Hieronymus  bei  seiner  Anklage  auf  Origenismus  nicht 
entgehen  ließ,  und  die  auch  im  Epheserkommentar  wieder- 
kehrt, hat  er  sicher  von  Origenes.')  Sonst  läßt  sich  die  Ab- 
hängigkeit von  Origenes  hier  nicht  nachweisen,  da  Hieronymus 
in  diesem  Kommentar  fast  ganz  die  Allegorie  vermeidet.  Ob  er 
noch  andere  und  welche  Kommentare  er  benutzt  hat,  läßt  sich 
nicht  mit  Sicherheit  sagen.  Mir  scheint  der  Kommentar  selb- 
ständiger und  weniger  flüchtig  als  seine  späteren  Kommentare 
gearbeitet  zu  sein,  mehr  wage  ich  nicht  zu  behaupten.  Je 
mehr  Hieronymus  zum  Vielschreiber  wurde,  um  so  mehr  ver- 
zichtete er  auf  eigenes  Nachdenken  und  hielt  es  für  bequemer, 
andere  Autoren  einfach  auszuschlachten.  — 

In  der  Vorrede  zum  Kommentar  kommt  Hieronymus  auf 
die  Gegner  der  Kanonizität  und  Authentizität  des  Briefes  zu 
sprechen.  Die  Kritiker,  deren  polemische  Erörterung  Hierony- 
mus wiedergibt,  beanstandeten  den  Brief  seines  persönlichen 
Inhalts  und  seines  privaten  Charakters  halber,  sei  es,  daß  man 
ihn  von  Paulus  ableitete  oder  von  einem  anderen  geschrieben 
sein    ließ.     Der  Brief  galt    ihnen    nicht  für  inspiriert,    da    der 


*)  Zahn,  Forschungen  zur  Geschichte  des  Kanon  II,  8S. 

-')  s.  ein  Bruchstück  des  Origeneskommentars:  Pamphilus,  Apologia 
pro  Origene  Delarue  IV,  696  ff.  s.  Zahn,  Geschichte  des  neutestamentl. 
Kanons  II,  1002. 

^)  Rufin,  Contra  Hieron.  I,  40,  Hieron.,  Comm.  in  Ephes.  3,1, 
Vallarsi  VII,  587. 

2* 


20  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Zustand  der  Inspiration  bei  den  Aposteln  wie  bei  den  Pro- 
pheten kein  stetiger  gewesen  sei;  denn  solche  Bemerkungen 
des  Paulus,  daß  er  den  Mantel  in  Troas  gelassen  (2.  Tim.  4,  13) 
und  solche  Ausbrüche  leidenschaftlichen  Hasses  (Gal.  5,  12) 
könne  man  unmöglich  als  Zeugnisse  des  durch  Paulus  reden- 
den Christus  ansehen.  Allein  Jesus  Christus  sei  dauernd  im 
Besitze  des  heiligen  Geistes  gewesen.  Auch  im  Philemon- 
briefe  fänden  sich  rein  persönliche  Mitteilungen  des  Apostels: 
„Bereite  mir  eine  Herberge"  (V.  22),  ja  der  ganze  Brief  enthalte 
nichts  Erbauliches.  Selbst  wenn  er  von  Paulus  sei,  sei  er  ein 
Empfehlungsbrief  und  kein  Lehrbrief.  Des  nichtssagenden, 
einfältigen  Inhalts  halber  gehöre  er  nicht  in  den  Kanon. 
Endlich  sei  er  auch  von  den  Meisten  der  Alten  als  Bestand- 
teil des  Kanons  zurückgewiesen  worden.')  Es  ist  nun  die 
Frage,  wo  wir  diese  entschiedenen  Bestreiter  der  Kanonizität 
des  Philemonbriefes  zu  suchen  haben.  Da  die  Zeitgenossen 
des  Hieronymus,  die  Antiochener  Chrysostomus  und  Theodorus 
von  Mopsuestia,  sich  ebenfalls  gegen  Angriffe  auf  die  Kano- 
nizität des  kleinen  Paulusbriefs  wenden,  und  da  die  Kirche  zu 
Edessa  zur  Zeit  Ephraims,  wenn  nicht  alles  trügt,  den  Brief 
nicht  anerkannt  hat,  ^)  so  werden  wir  die  Kritiker  des  Briefes 
in  der  ostsyrischen  Kirche  zu  suchen  haben.  Es  sind  sicher 
gelehrte  theologische  Reflexionen,  nicht  Nachwirkungen  alter 
Tradition,  die  hier  zur  Verwerfung  des  Briefes  geführt  haben. 
Gegen  diese  Kritiker  wendet  sich  Hieronymus  zunächst  nicht 
mit  eigenen  Argumenten,  sondern  mit  solchen,  die  er  einem 
orthodoxen  Apologeten  entnommen  hat.  Zahn  glaubt  in 
diesem  Didymus  oder  Apoliinaris  erkennen  zu  können;  letztere 
Annahme  scheint  sich  mehr  als  die  erstere  zu  empfehlen, 
obwohl  wir  sonst  nichts  von  einem  Kommentare  des  Apolli- 


')  s.  die  gründlichen  Erörterungen  bei  Zahn,  Geschichte  des  Kanon 
I,  267  ff.  und  II,  997:  „Die  Gegner  und  Verteidiger  der  Kanonizität  des 
Philemonbriefes  im  4.  Jalirluindert".  Nur  scheint  mir  eine  reinliche 
Scheidung  in  der  Vorrede  zum  Kommentar  unmöglich  zwischen  dem,  was 
Hieronymus  seiner  Quelle  entlehnt,  und  dem,  was  er  selbst  hinzugesetzt 
hat.  Auch  werden  sich  nicht  mit  Sicherheit  zwei  Gruppen  von  Kritikern 
des  Philemonbriefes  erkennen  lassen,  von  denen  die  eine  vor  der  Zeit  des 
Hieronymus,  die  andere  zu  seiner  Zeit  gelebt  hat. 

^)  s.  Zahn,  Geschichte  des  Kanons  I,  267  und  II,  1003. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  21 

naris  zum  Philemonbriefe  wissen.  Sollte  der  ungenannte 
Theologe  —  Hieronymus  spricht  auch  hier  nach  der  beliebten 
Manier  im  Plural  —  ApoUinaris  sein,  so  könnte  dieser  An- 
nahme zur  Stütze  dienen,  daß  Hieronymus  in  seinem  Philemon- 
kommentar  sich  fast  durchweg  einer  historischen  Auslegung 
des  Briefes  befleißigt,  die  er  dann  zum  großen  Teil  dem 
ApoUinaris  entnommen  hätte.  Der  anonyme  Apologet  stellte 
den  Kritikern  des  Briefes  zunächst  entgegen,  daß  in  allen 
Paulusbriefen,  auch  den  von  ihnen  als  kanonisch  anerkannten, 
sich  Äußerungen  fänden,  die  auf  die  menschliche  Schwach- 
heit des  Apostel  Paulus  Bezug  nehmen.  Wie  könnte  man 
also  diese  Äußerungen  gegen  die  Inspiration  des  Philemon- 
briefes  ausspielen,  zumal  da  nach  dem  Worte  des  Erlösers 
(Matth.  25,34)  einen  Becher  kalten  Wassers  dem  Durstigen 
darzureichen.  Armen  die  Füße  zu  waschen,  für  sie  ein  Kalb 
zu  schlachten  und  eine  Mahlzeit  zu  bereiten  doch  nicht  nur 
keine  Sünde  sei,  sondern  auf  diese  Werke  der  Nächstenliebe 
hin  die  Christen  zu  Gotteskindern  angenommen  würden.  Eine 
freie  und  tiefe  Auffassung  des  Wesens  des  Christentums 
spricht  aus  diesen  Worten  gegenüber  einer  Kritik,  die  dog- 
matisch engherzigen  Köpfen  entsprungen  war.  Wenn  wir 
auch  sonst  keine  anderen  Anzeichen  hätten,  so  könnten  wir 
schon  aus  diesen  Gedanken  der  Vorrede  zum  Philemon- 
kommentar  schließen,  daß  sie  nicht  das  Eigentum  des  Hiero- 
nymus waren.  Und  doch  ist  es  wieder  für  die  Anempfindungs- 
fähigkeit  des  Hieronymus  bezeichnend,  daß  er  solche  Argumente 
sich  zu  eigen  machte.  Endlich  verweist  Hieronymus  —  er 
scheint  hier  selbst  zu  sprechen  die  Gegner  der  Kanonizität 
des  Briefes  darauf,  daß  selbst  Marcion,  der  die  Pastoralbriefe 
nicht  aufgenommen  habe,  den  Philemonbrief  als  kanonisch 
recipierte  und  nicht  einmal  einer  Redaktion  wie  die  übrigen 
Paulinen  unterzogen  habe.')  Hieronymus  zeigt  auch,  daß  er 
ein  Verständnis  besitzt  für  das  überaus  zarte  Schreiben,  das 
uns  in  die  Seele  des  großen  Apostels  einen  tiefen  Blick  tun 
läßt.     Er  nennt  es   mit  evangelischer  Anmut   geschrieben   und 

*)  Hieronymus  weiß  dies  nicht  aus  eigner  Kenntnis  Marcions,  sondern 
aus  Tertullian,  Adv.  Marc.  V,  21,  s.  Zahn,  Geschichte  des  neutest.  Kanons 
II,  426. 


22  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

bezichtigt  mit  Recht  die,  welche  den  Brief  der  EinfaU  be- 
schuldigen, des  Mangels  an  Verständnis  für  das,  was  in  den 
einzelnen  Worten  an  Kraft  und  Weisheit  verborgen  ist.') 

Da  es  der  erste  Paulusbrief  war,  den  Hieronymus  kom- 
mentierte, suchte  er  zunächst  eine  Antwort  auf  die  Frage  zu 
geben,  warum  und  wann  Saulus  den  Beinamen  Paulus  an- 
genommen habe,  den  er  seinen  Briefen  vorsetze.  Da  die 
heilige  Schrift  darauf  keine  Antwort  enthielt,  so  war  man  auf 
Kombinationen  angewiesen.  So  finden  wir  denn  bei  Hiero- 
nymus zuerst  die  später  weit  verbreitete  Hypothese,  daß,  wie 
Scipio  von  der  Unterwerfung  Afrikas  den  Beinamen  Africanus, 
Metellus  von  der  Besiegung  Kretas  Creticus,  die  römischen 
Kaiser  nach  den  von  ihnen  unterjochten  Volksstämmen  Ad- 
iabenici,  Parthici,  Sarmatici  genannt  wurden,  Paulus  nach  dem 
ersten  Beutestück  seiner  Heidenmission,  dem  Prokonsul 
Sergius  Paulus,  den  Beinamen  Paulus  angenommen  habe.') 
Über  die  Familie  des  Apostel  Paulus  teilt  uns  Hieronymus 
eine  ihm  überkommene  Überlieferung  mit  —  die  Quelle 
nennt  er  leider  nicht  -,  daß  die  Eltern  des  Apostels  Paulus 
aus  Gyskalis  in  Judäa  stammten.  Hier  sei  Paulus  geboren 
und  erst  später,  als  die  Römer  die  Provinz  verwüstet  hätten, 
mit  seinen  Eltern  nach  Tarsus  in  Cilicien  gebracht  worden. 
Ein  gleiches  Schicksal  habe  auch  die  Familie  des  Epaphras 
und  Aristarchus  betroffen,  die  nach  Colossae  gebracht  worden 
seien,  weshalb  Paulus  sie  als  seine  Mitgefangenen  bezeichnet.') 

Da  Paulus  sich  im  Philemonbriefe  wie  im  Epheser-,  Phi- 
lipper- und  Kolosserbrief  einen  Gefangenen  Christi  nennt,  so 
kann  der  Brief  nur  aus  der  Gefangenschaft  des  Paulus  ge- 
schrieben sein,  und  da  im  f^hilipperbriefe  ein  Gruß  vom 
Hausgesinde  des  Kaisers  (Philipp.  4,  22)  bestellt  wird,  so 
kann  man  nach  Hieronymus  nur  an  die  römische  Gefangen- 
schaft des  Paulus  denken.  Onesimus  ist  der  Überbringer  dieses 
Schreibens  des  Paulus  wie  desKolosserbriefes.  Er  soll  ihn  seinem 
Herrn  Philemon  und  Archippus,  wahrscheinlich  dem  Bischof  von 
Colossae,  bestellen.    Timotheus   wird  als  Mitadressat  genannt, 

•)  Comm.  in  Phil,  prol.,  Vallarsi  VII,  741  ff. 

*)  Comm.  in  Phil,  ad  1,  Varliarsi  VII,  745;  de  vir.  ilinst.  c.  5. 

ä)  Comm.  in  Phil,  ad  23  und  24,  Vallarsi  Vll,  762;  de  vir.  illiist.  c.  5. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  23 

weil  ein  von  zweien  geschriebener  Brief  ein  größeres  Ansehen 
beanspruchen  kann.  Der  Apostel  Paulus  habe  nämlich  immer, 
wenn  er  einen  Brief  diktierte,  ohne  jede  Spur  von  Eifersucht, 
in  seinen  Briefen  angemerkt,  wenn  der  heilige  Geist  etwas 
einem  seiner  Genossen  eingegeben  habe.') 

Mit  lebendiger  Phantasie  zeichnet  Hieronymus  die  Situation, 
die  den  Anlaß  zu  dem  Schreiben  gegeben  hatte.  Der  Sklave 
Onesimus  hatte  seinen  Herrn  Philemon  heimlich  verlassen, 
nachdem  er  ihm  ein  Hausgerät  gestohlen  hatte.  Er  war  nach 
Italien  geflohen,  weil  er  dort  nicht  zu  fürchten  brauchte,  man 
werde  ihn  leicht  entdecken.  Hier  hatte  er  das  Geld  seines  Herrn 
in  schwelgerischem  Leben  durchgebracht.  Von  Paulus  in  Rom 
bekehrt  und  getauft,  wusch  er  die  Flecken  seines  früheren 
Lebens  durch  würdige  Buße  ab.")  Und  der  großherzige 
Apostel,  der  im  Kerker  in  Fesseln  lag,  der  in  qualvoller 
Finsternis  unter  dem  Schmutz  des  Leibes  und  unter  der 
Trennung  von  seinen  Lieben  litt,  dachte  nicht  an  sich,  sondern 
nur  an  das  Evangelium  Christi  und  wollte  den  Sklaven,  Flücht- 
ling und  Dieb  Onesimus  bei  sich  behalten,  damit  er  im  Guten 
beharre.') 

Die  Exegese  des  Briefes  ist  im  ganzen  geschickt  und 
natürlich.  Nur  zum  Vers  22  glaubt  er  den  Apostel  ent- 
schuldigen zu  müssen,  daß  er  sich  eine  Herberge  bestelle. 
Er  tue  dies  nicht,  weil  er  reich  oder  mit  vielem  Gepäck 
beschwert  sei;  für  den  Raum  seines  Leibes  wäre  er  mit  einem 
kleinen  Raum  zufrieden  gewesen:  aber  der  Apostel  durfte  nicht 
an  einem  schlechten  Platz  wohnen,  wenn  er  zur  Predigt  des 
Evangeliums  in  eine  Stadt  kam.  Er  mußte  darauf  sehen,  daß 
er  schlechte  Nachbarschaft,  wie  die  Nähe  des  Theaters  oder 
eines  Bordells  vermied,  und  ein  großes  Haus  aufsuchen,  das 
viele  Leute  fassen  konnte.')  Hieronymus  vermeidet  in  diesem 
Kommentar  fast  ganz  die  Allegorie,  zu  der  allerdings  in  diesem 
Briefe  auch  nichts  zu  verlocken  schien.     Nur   am  Schluß  des 


')  Dieser  Gedanke    stammt  nach  Zahns  Vermutung    (Geschichte  des 
Kanon  II,  1003)  von  Didymus. 

*)  Comm.  in  Phil,  ad  S  und  9,  Vallarsi  VII,  755. 
")  Comm.  in  Phil,  ad  10,  Vallarsi  VII,  756. 
*)  Comm.  in  Phil,  ad  v.  22,  Vallarsi  VII,  761. 


24  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Briefes,  wohl  um  Paula  und  Eustochium  mit  seiner  Gelehr- 
samkeit zu  imponieren,  deutet  er  alle  im  Briefe  vorkommenden 
griechischen  und  lateinischen  Namen,  als  ob  sie  hebräische 
wären,  wobei  er  uns  Übersetzungen  wie  z.  B.  Philemon  =  Mund 
des  Brotes  und  andere  mehr  bietet.')  Diese  Namendeutungen 
kombiniert  er  dann  noch  miteinander  und  weiß  so  den  Schein 
eines  wunderbaren  Tiefsinns  zu  erwecken.  Es  ist  ein  starkes 
Stück,  daß  Hieronymus,  der  damals  schon  gründlichere  Kennt- 
nisse im  Hebräischen  besaß,  wahrscheinlich  aus  Origenes 
diesen   Unsinn    in   seinen   Kommentar  herübergenommen   hat. 

Noch  eins  zeichnet  diesen  Kommentar  des  Hieronymus 
vor  seinen  späteren  aus,  in  denen  er  es  versäumt  hat:  er  gibt 
überall  an,  wo  die  altlateinische  Übersetzung  nach  seiner 
Meinung  den  griechischen  Text  unrichtig  oder  undeutlich 
wiedergegeben  hat.') 

Für  exegetische  Schwierigkeiten,  wie  sie  z.  B.  im  Vers  4 
vorliegen,  wo  der  Apostel  von  der  Liebe  und  dem  Glauben  an 
Christus  und  seine  Heiligen  spricht,  zeigt  er  eine  Empfindung, 
wenn  er  die  Schwierigkeit  auch  recht  oberflächlich  dadurch  zu 
lösen  versucht,  daß  der  Glaube  an  Gott  auf  keine  andere 
Weise  zustande  käme,  als  indem  man  seinen  Heiligen  glaube, 
die  Wahres  über  Gott  geschrieben  haben. 

Für  die  theologischen  Überzeugungen  des  Hieronymus 
sind  endlich  die  Erörterungen  nicht  ohne  Wichtigkeit,  die  er 
an  Vers  14  knüpft:  Ohne  deine  Zustimmung  aber  wollte 
ich  nichts  tun,  damit  deine  gute  Tat  nicht  gleichsam 
erzwungen,  sondern  freiwillig  wäre.  Hier  gibt  nach  Hieronymus 
der  Apostel  eine  Antwort  auf  die  Frage,  warum  Gott  den 
Menschen  nicht  unwandelbar  gut  geschaffen  habe.  Der 
Mensch  sollte  nicht  durch  Zwang,  sondern  durch  freien  Willen 
gut  sein;  denn  so  war  er  Gott  ähnlich,  der  ihn  nach  seinem 
Bilde  schuf  und  ihm  den  freien  Willen  gab,  da  Gott  auch  gut 
ist,  weil  er  das  Gute  will,  nicht  weil  er  dazu  gezwungen  wird. ') 


^)  Comm.  in   F'hil.  ad  v.  25,  Vallarsi  VII,  764. 

2)  Comm.  in  Phil,  ad  v.  20,  Vallarsi  VII,  752.  Der  Lateiner  liest  ita 
für  )'«/,  aber  das  griechische  vai  ist  nach  Hieronymus  ebenso  schwer  wie 
das  hebräische  n;x  wiederzugeben. 

»)  Comm.  in  Phil,  ad  22,  Vallarsi  VII,  756 ff. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  25 

Wenige  Tage  nach  Vollendung  des  Philemonkommentars 
begann  er  an  dem  Galaterkommentar  zu  arbeiten.  Er  hatte 
soeben  einen  Brief  aus  Rom  erhahen,  der  ihm  Kunde  brachte 
von  dem  Tode  der  Albina,  der  ehrwürdigen  Mutter  seiner 
Freundin  Marcella.  So  widmete  er  denn  diesen  Kommentar 
neben  Paula  und  Eustochium  der  gelehrten  Marcella  als  ein 
Zeichen  seiner  Anteilnahme  an  dem  Verlust,  der  sie  betroffen 
hatte.  Bescheidener  und  offener,  als  er  sonst  pflegte,  nennt 
er  die  Kommentare,  die  er  bei  seiner  Arbeit  benutzte.  Viel- 
leicht fürchtete  er  das  scharfe  Urteil  der  Marcella,  die,  wie  er 
aus  seinem  römischen  Aufenthalt  wußte,  sich  nicht  rasch  zu- 
frieden gab,  sondern  alles  prüfte,  und  in  der  er  nicht  sowohl 
eine  Schülerin  als  Richterin  über  seine  Werke  sah.  Sein 
Kommentar  sollte  der  erste  lateinische  werden,  der  diesen 
Namen  verdiene;  denn  der  einzige  bisher  vorhandene  des 
G.  Marius  Victorinus  war  nach  seinem  Urteil  völlig  unbrauch- 
bar. Im  Anschluß  an  die  Griechen,  vor  allem  an  Origenes, 
glaubte  Hieronymus  ein  würdiges  Werk  schaffen  zu  können. 
So  sind  wir  hier  besser  als  beim  Philemon-  und  Titus- 
kommentar  über  die  von  ihm  benutzten  Quellen  unterrichtet. 
Von  Origenes  haben  ihm  der  fünfbändige  Kommentar,  die 
kurze  Auslegung  im  zehnten  Buch  seiner  Stromata,  verschiedene 
Traktate  und  Excerpte  zum  Galaterbriefe  vorgelegen.  Ferner 
hat  er  aus  den  exegetischen  Arbeiten  des  Didymus  und 
Apollinaris,  eines  alten  Häretikers  Alexander,')  des  Eusebius 
von  Emesa  und  Theodor  von  Heraclea  einzelnes  in  seinen 
Kommentar  herübergenommen.  Leider  besitzen  wir  keinen 
dieser  Kommentare  mehr,  so  daß  wir  nicht  mit  Sicherheit  das 
von  anderen  Kommentatoren  Entlehnte  von  der  eigenen  Arbeit 
des  Hieronymus  abgrenzen  können.  Durch  die  Generalbeichte 
in  der  Vorrede  zu  seinen  Kommentaren  verstand  es  Hieronymus, 
seine  Unselbständigkeit  und  Abhängigkeit  zu  verdecken.  Im 
Kommentar    selbst  nennt    er    nur   an    einer   Stelle  Origenes,') 


^)  Es  ist  wohl  der  Valentinianer  Alexander  gemeint;  s.  Zahn,  Ge- 
schichte des  neutest.  Kanons  I,  728. 

2)  Comm.  ad  Gal.  3,  1,  Vallarsi  VII,  418;  ad  4,  28,  Vallarsi  VII,  474; 
ad  5,  13,  Vallarsi  VII,  494  (Zitat  aus  dem  10.  Buch  der  Stromata);  ad  5,  24, 
Vallarsi  VII,  513. 


26  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

obwohl  er  ihn  fortwährend  benutzt.  Zahns  Urteil  ist  durch- 
aus zutreffend:  Besäßen  wir  von  Origenes  Auslegung  des 
Galaterbriefes  ähnlich  große  Stücke  wie  von  derjenigen  des 
Epheserbriefes,  so  würden  wir  sicherlich  einen  ebenso  voll- 
ständigen Beweis  für  die  Abhängigkeit  des  Hieronymus  von 
ihm  führen  können.')  Bei  den  drei  uns  in  der  Apologie  des 
Pamphilus  aufbewahrten  Bruchstücken  des  Origeneskommentars 
ist  die  Benutzung  durch  Hieronymus  erweislich,  obwohl  er 
zu  keiner  der  drei  Stellen  Origenes  als  seine  Quelle  nennt.*) 
Sicher  hat  Hieronymus  auch  zu  Gal.  1,  19  einen  auf  Hegesipp 
fußenden  Bericht  des  Origenes  über  Jakobus  den  Gerechten 
und  seinen  Nachfolger  Simeon  benutzt,  da  er  hier  Jakobus 
den  Gerechten  wegen  seiner  ausgezeichneten  Sitten,  seines 
unvergleichlichen  Glaubens  und  seiner  nicht  geringen  Weisheit 
Bruder  des  Herrn  genannt  sein  läßt,  während  er  in  seiner 
Schrift  gegen  Helvidius  Jakobus  den  Gerechten  mit  dem 
Apostel  Jakobus  Alphäi  Sohn  identifiziert  und  ihn  zum  Vetter 
Jesu  gemacht  hatte.') 

Als  Inhalt  des  Galaterbriefes  bezeichnet  Hieronymus  in 
der  Vorrede  dasselbe  Thema,  das  der  Apostel  im  Römerbriefe 
behandle,  das  Aufhören  des  alten  und  die  Einführung  eines 
neuen  Gesetzes.  Während  aber  Paulus  im  Römerbriefe  belehrt, 
schilt  er  hier,  um  die  törichten  Galater  durch  seine  Autorität 
zum  rechten  Glauben  zurückzuzwingen.  Ein  weiterer  Unter- 
schied ist  der,  daß  Paulus  im  Galaterbriefe  an  Heidenchristen 
schreibt,  die  durch  die  Autorität  solcher  erschreckt  wurden, 
welche  versicherten,  daß  Petrus,  Jakobus  und  die  Kirchen 
Judäas  das  Evangelium  Christi  mit  dem  alten  Gesetz  ver- 
bunden hätten,  daß  auch  Paulus  anders  in  Judäa  handle  und 
anders  den  Heiden  predige,  und  daß  sie  vergeblich  an  den 
Gekreuzigten  glaubten,  wenn  sie  das  vernachlässigten,  was 
die  Apostelfürsten  beobachteten.  Deshalb  geht  Paulus  so 
vorsichtig  den  Mittelweg,  damit  er  weder  gedrängt  durch  das 


')  Zahn  11,  429,  Anm.  5. 

2)  Zu  Gal.  1,  1;  Gal.  1,  11;  Gal.  4,  4;  Delarue  IV,  690 ff.;  s.  Zahn, 
Geschichte  des  neutest.  Kanons  11,  429,  Anm.  5. 

^)  Vallarsi  VII,  346:  s.  Zahn,  Forschungen  zur  Geschichte  des 
Kanons  VI,  273. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  27 

Gewicht  und  die  Autorität  seiner  Vorgänger  die  Gnade  des 
Evangeliums  preisgebe,  noch  seinen  Vorgängern  Unrecht  tue, 
wenn  er  die  Gnade  verteidige.  Ja,  Paulus  geht  auf  gekrümmten 
Wegen  und  gleichsam  durch  geheime  Laufgräben  einher,  in- 
dem er  lehrt,  daß  das  Verhalten  des  Petrus  durch  die  Rück- 
sicht auf  das  ihm  anvertraute  Volk  der  Beschneidung  ein- 
gegeben sei,  damit  es  nicht  plötzlich  von  der  alten  Art  zu 
leben  ablasse,  am  Kreuz  Ärgernis  nehme  und  vom  Glauben 
abfalle,  daß  es  aber  für  ihn,  den  Paulus,  als  Heidenmissionar 
angemessen  sei,  das  als  Wahrheit  zu  verteidigen,  was  Petrus 
der  Heilsökonomie  halber  verleugne.  Diesen  komplizierten 
Sachverhalt  habe  Porphyrius  nicht  durchschaut  und  deshalb 
im  ersten  Buche  seines  Werkes  uarä  Xgioriavcov  behauptet, 
daß  Petrus  von  Paulus  getadelt  worden  sei,  weil  er  nicht  auf 
dem  rechten  Weg  bei  der  Verkündigung  des  Evangeliums 
einhergehe.  Porphyrius  werfe  dem  Petrus  Irrtum,  dem  Paulus 
Frechheit  vor,  nur  um  das  Dogma  der  Christen  der  Lüge 
zu  zeihen,  da  die  Führer  der  Kirchen  sich  untereinander  wider- 
sprechen.') 

Über  die  Frage  nach  der  Abfassungszeit  und  dem  Ab- 
fassungsort des  Galaterbriefes  hat  sich  Hieronymus  in  seinem 
Kommentar  nicht  ausgesprochen.  Auch  Gal.  4,  13,  wo  Paulus 
von  einem  früheren  Aufenthalte  in  Galatien  spricht,  hat  ihm 
keinen  Anlaß  gegeben,  Vermutungen  über  die  Gründungszeit 
der  galatischen  Gemeinden  zu  äußern. 

Sehr  ausführlich  hat  er  sich  dagegen  über  die  Adressaten 
des  Paulusbriefes  ausgelassen.')  Es  sind  die  Bewohner  der 
Landschaft  Galatien,  deren  Hauptstadt  Ancyra  ist.  Diese 
Galater  stammen  nach  Laktanz  aus  Gallien  und  haben  sich  in 
Galatien  mit  den  Griechen  vermischt.')  Wie  vom  Orient  nach 
dem  Occident  Völkerwanderungen  stattgefunden  haben  — 
Hieronymus  gedenkt  hier  der  Gründung  Karthagos  durch  die 


')  Comm.  in  Gal.  Praef.,  Vallarsi  Vll,  370ff. 

2)  Comm.  in  Gal.  Hb  II,  praef.  Vallarsi  VII,  425. 

')  Das  Zitat  stammt  aus  dem  3.  Band  der  verlorenen  Briefsannnlung 
des  Lactantius  ad  Probum,  s.  Harnack,  Altchristi.  Literaturgeschichte  II, 
737 ff.  Die  Nachricht  des  Marcus  Varro  über  die  Galater  hat  uns  Hierony- 
mus nicht  mitgeteilt. 


28  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethleiiem. 

Tyrier  und  der  ausgedehnten  griechischen  Kolonisation  bis 
zum  fernen  Westen  —  so  sind  umgekehrt  die  Galater  aus 
Gallien,  Abkömmlinge  der  wilderen  keltischen  Stämme,  nach 
Kleinasien  gewandert.  Seine  ursprünglichen  Eigenschaften  hat 
der  Volksstamm  auch  bis  heute  noch  bewahrt;  deshalb  nenne 
sie  der  Apostel  töricht  und  wahnsinnig.  Und  Hieronymus, 
der  die  Galater  aus  eigener  Anschauung  kannte  —  auf  seiner 
Reise  von  Aquileja  nach  Antiochia  hatte  er  Galatien  berührt 
—  bezeugt,  daß  noch  zu  seiner  Zeit  Ancyra  durch  Schismata 
zerrissen  sei.  Neben  den  sonst  in  der  Christenheit  verbreiteten 
Sekten  der  Montanisten,  Ophiten,  Borboriten  und  Manichäer 
gibt  es  in  Galatien  die  sonderbaren  Sekten  der  Tascodrogen 
oder  Passalorynciten  und  der  Artotyriten.')  Die  Galater  sind 
auch  im  Orient  die  einzigen,  die  nicht  griechisch,  sondern 
eine  den  Trevirern  verwandte  Sprache  sprechen,  die  etwas 
verderbt  ist,  ähnlich  wie  in  Afrika  das  Phönizische  korrumpiert 
ist  und  auch  das  Lateinische  als  Weltsprache  einen  stetigen 
Umwandlungsprozeß  durchlebt. 

Den  ganzen  Galaterkommentar  des  Hieronymus  durch- 
zieht die  Polemik  gegen  Marcion.  Da  Hieronymus  von  der 
Lehre  des  gefährlichen  Häretikers  nur  eine  ganz  unklare  Vor- 
stellung hat,  so  verdankt  er  diese  Mitteilungen  über  den  Text 
und  die  Auslegung  des  Marcion  dem  damit  wohl  vertrauten 
Origenes,  wie  Zahn  erwiesen  hat.") 


')  Über  die  Tascodrogiten  (Asi<odrugiten,  Ascodrobi)  oder  griechisch 
Passalorynciten  und  die  Artotyriten,  einen  Zweig  der  Montanisten  oder 
Marcioniten,  deren  Eigentünihciikeit  der  Gebrauch  von  Brot  und  Käse  bei 
der  Eucharistie  war,  s.  Zaini,  Oeschiciite  des  neutest.  Kanons  II,  437. 
Zahn  stellt  die  ältesten  Nachrichten  über  diese  Häresien  aus  Epiphanius 
und  Philaster  zusammen. 

*)  Geschichte  des  Kanons  II,  426  ff.  zu  Gal.  1,  1;  3,  1;  3,  13;  4,  24; 
5,  12;  6,  6.  Vallarsi  VII,  375,  418,  434,  473,  493,  523.  Nur  die  Stelle 
Gal.  5,  10,  Vallarsi  VII,  490  bezieht  sich  nicht,  wie  Zahn  meint,  auf  Marcion, 
sondern  auf  Porphyrius,  s.  Comm.  in  Gal.  praef.,  Vallarsi  VII,  371.  Wichtig 
sind  besonders  die  Stellen:  Gal.  5,  12:  „O  daß  doch  verschnitten  würden, 
die  euch  verwirren",  die  gegen  Marcion  und  Valentin  von  Origenes  bzw. 
Hieronymus  verwandt  wird.  Marcion  und  Valentin  nennen  den  Demiurgen 
grausam  und  hart,  aber  ein  härteres  Urteil  als  des  Apostels  des  guten 
Gottes  werden  sie  im  Alten  Testament  nicht  aufweisen  können.  Gal.  6,  6 
legie  Marcion    nach  Origenes    resp.  Hieronymus    so  aus,    daß    der    Kate- 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  29 

Von  den  übrigen  Gnostikern  erwähnt  Hieronymus  noch 
Basilides  und  Valentin,  von  denen  er  ebenfalls  nur  aus  Origenes 
etwas  wußte.  Er  stellt  sie  immer  mit  Marcion  zusammen  und 
sie  sind  für  ihn  besonders  bösartige  Ketzer,  die  das  Alte 
Testament  verworfen  und  den  heiligen  Geist  nicht  gehabt 
haben.  Von  Valentin  weiß  er  wenigstens  noch  aus  Origenes, 
daß  er  eine  eigentümliche  Äonenlehre  vorgetragen  hat.')  Über 
den  Gnostiker  Apelles  und  die  Philumene  zeigt  sich  Hiero- 
nymus durch  Tertullians  verlorene  Schrift  gegen  Apelles  unter- 
richtet.) Die  Polemik  gegen  die  Ebioniten,  die  Christus  für 
einen  bloßen  Menschen  halten  und  die  Beschneidung  üben, 
scheint  Hieronymus  ebenfalls  aus  dem  Kommentar  des  Origenes 
geschöpft  zu  haben.  Er  bringt  hier  zu  Gal.  3,  14  die  merk- 
würdige Notiz,  daß  der  angebliche  Häresiarch  Ebion,  der  halb 
Jude  und  halb  Christ  war,  die  Stelle  Deut.  21,  23  „Verflucht 
ist  jeder,  der  am  Holz  hängt",  erklärt  habe,  (Wl  vßgic:  ßeov 
6  KQ£ji(äjii€}'oc:.'')  Da  Hieronymus  sonst  keine  selbständige 
Kenntnis  über  den  Enkratiten  und  Doketen  Cassianus  verrät, 
wird  er  die  Auslegung  der  Stelle  Gal.  6,  8:  „Wer  auf  das 
Fleisch  säet,  wird  vom  Fleisch  das  Verderben  ernten",  die 
Cassianus  im  Sinne  eines  vollständigen  Eheverbots  deutete, 
ebenfalls  dem  Kommentar  des  Origenes  entnommen   haben.') 


chumene  mit  seinem  Lehrer  an  allem  Guten  teilnehmen  solle,  also  auch 
am  Gebete,  wodurch  die  Schranke  zwischen  Getauften  und  Katechumenen 
aufgehoben  würde,  s.  Krüger  A.  Marcion  R.  E.  'XII,  273.  Zu  Gal.  3,  6, 
Vallarsi  Vll,  422  merkt  Origenes  resp.  Hieronymus  an,  daß  Marcion  die 
Verse  Gal.  3,  6 — 3,  9  getilgt  habe.  Zu  Gal.  4,  4  hat  Hieronymus  die  Mit- 
teilung des  Origenes  über  Marcion  mißverstanden,  s.  Zahn,  Geschichte  des 
neutest.  Kanons  II,  431.  Er  erweckt  den  Schein,  als  ob  Marcion  yevö/tf^vov 
öiä  yvvaiKÖg  statt  fk  ywaiuöc;  geschrieben  habe,  während  nach  Zahn 
Marcion  diesen  Satz  getilgt  hat  imd  eine  Verwechselung  mit  Valentin  vorliegt. 

')  Ad  Gal.  1,  11  und  12,  Vallarsi  Vll,  386;  ad  Gal.  5,  2,  Vallarsi  Vll, 
493;  ad  Gal.  1,  4,  Vallarsi  Vll,  378:  Valentini  deliramenta  et  fabulae  con- 
temnendae  sunt,  qui  triginta  aiöivac;  suos  ex  eo,  quod  in  scripturis 
saecula  legantur,  affinxit,  dicens  eos  esse  animalia  et  per  quadradas  et 
ogdoadas,  decadas  quoque  et  duodecadas  tot  edidisse  numeros  saeculorum, 
quot  in  Aeneide  foetus  scropha  generavit. 

2)  Ad  Gal.  1,  9,  Vallarsi  Vll,  383. 

^)  s.  Harnack,  Altchristi.  Literaturgeschichte  S.  209. 

*)  Ad  Gal.  6,  8,    Vallarsi  Vll,    526.     Es    ist    sicher    mit    Zahn    nicht 


30  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Als  eigene  Zutaten  des  Hieronymus  werden  wir  dagegen 
die  Erwähnung  des  Piiotinus, ')  den  er  neben  Ebion,  des  Mani,"^) 
den  er  neben  Marcion  stellt,  und  des  Arius  zu  betrachten 
haben.)  Auch  gegen  Laktanz,  der  den  heiligen  Geist  mit 
Vater  und  Sohn  identifiziert,*)  und  seinen  Lehrer  Apollinaris, 
der  Christus  halbiert,  polemisiert  er  gelegentlich,  gegen  letzteren 
jedoch,  ohne  ihn  namentlich  zu  nennen.  )  Auch  gegen 
Chrysostomus  —  denn  dieser  wird  unter  dem  sehr  gelehrten 
Mann  unserer  Zeiten  zu  verstehen  sein  —  führt  er  einen 
Hieb.  Er  verspottet  seine  Auslegung  von  Gal.  6,  11,  wonach 
Paulus  als  Hebräer  die  griechischen  Buchstaben  nicht  kannte 
und,  weil  er  seinen  Brief  unterschreiben  mußte,  mit  Mühe  die 
krummen  Linien  in  großen  Zügen  nachmalte.") 

Ausführlicher  setzt  sich  Hieronymus  mit  dem  Heiden 
Porphyrius  in  seinem  Galaterkommentar  auseinander.  Da(3  er  eine 
selbständige  Kenntnis  von  der  Schrift  des  Neuplatonikers  gegen 
die  Christen  besaß,  ist  fraglos,  aber  auch  bereits  Apollinaris  wird 
in  seinem  von  Hieronymus  benutzten  Kommentar  den  schärfsten 
und  gewandtesten  Gegner  des  Christentums  bekämpft  haben,  so 
daß  er  bei  ihm  Anleihen  machen  konnte.  Hieronymus  kündigt 
hier  sogar  eine  ausführliche  Gegenschrift  gegen  Porphyrius 
an,  die  aber  wie  so  viele  andere  geplante  Arbeiten  des 
Hieronymus  nie  zur  Ausführung  gekommen  ist.  Sie  wäre  auch 
nur  ein  Konglomerat  aus  den  Werken  seiner  Vorgänger  ge- 
worden, vermehrt  um  einige  bissige  und  boshafteBemerkungen.") 

Tatianus,  sondern  Cassianus  zu  lesen,  s.  Forschungen  zur  Geschichte  des 
Kanons  I,  6  ff.  und  Harnack,  Altchristi.  Literaturgeschichte,  S.  202  ff. 

')  Ad  Gal.  1,  1. 

■-)  Ad  Gal.  1,  1   und  Gal.  4,  24. 

■')  Ad  Gal.  5,  9,  einmal  gedenkt  er  auch  der  Novatianer  ad  Gal.  4,  19, 
Vallarsi  Vi!,  467. 

*)  Ad  Gal.  4,  6,  Vallarsi  VII,  450,  Hieronymus  nennt  das  8.  Buch  der 
Briefe  des  Lactantius  ad  Deuietrianuni  als  Quelle,  während  er  de  vir.  illust. 
c.  80  nur  2  Bücher  Briefe  ad  Demetrianum  erw<ähnt.  An  einer  Stelle, 
wahrscheinlich  im  Galaterbrief,  werden  wir  einen  Schreibfehler  anzu- 
nehmen haben. 

^)  Ad  Gal.  1,  1,  Vallarsi  VII,  375. 

«)  Ad  Gal.  0,  11,  Vallarsi  VII,  530. 

")  Ad  Gal.  2,  13,  Vallarsi  VII,  410:  sed  et  adversum  Porphyrium  in 
alio,  si  Christus  iusserit,  opere  pugnabimus. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  31 

Die  Proben,  die  er  hier  im  Kommentar  in  der  Widerlegung 
des  Por|3hyrius  gibt,  lassen  eine  solctie  Vermutung  berechtigt 
erscheinen.  Wenig  glücklich  stellt  er  den  Streit  des  Petrus 
und  Paulus  in  Antiochia,  Gal.  2,  13,  als  Scheingefecht  hin,  um 
so  den  Vorwürfen  des  Porphyrius  zu  entgegnen.  Und  ohne 
durchschlagende  Gründe  lehnt  er  die  Deutung  des  Porphyrius 
von  Gal.  1,  16  ab,  wonach  unter  dem  Fleisch  und  Blut,  mit 
dem  Paulus  nach  seiner  Bekehrung  nicht  zusammen  gekommen 
sei,  Petrus,  Johannes  und  Jakobus  zu  verstehen  sei,  mit  denen 
er  ein  Zusammentreffen  vermieden  habe.') 

Besonderes  Interesse  hat  Hieronymus  in  seinem  Kom- 
mentar auf  die  Textkritik  gewandt.  Er  legte  seiner  Aus- 
legung die  altlateinische  Übersetzung,  nicht  seinen  korrigierten 
Text,  zugrunde  und  merkte  immer  ausdrücklich  an,  wo  er 
die  Übersetzung  nach  den  griechischen  Kodices  der  Korrektur 
bedürftig  hielt.)  Den  von  ihm  benutzten  griechischen 
Text  bezeichnete  er  einmal  ausdrücklich  als  den  Text  des 
Origenes,  an  zwei  anderen  Stellen    führte    er   die    Lesart    des 


>)  Gal.  2,  13,  Vallarsi  VII,  410;  Gal.  1,  16,  Vallarsi  VH,  391  und 
ohne  Porphyrius  zu  nennen,  Gal.  5,  10,  Vallarsi  VII,  490;  Gal.  5,  12, 
Vallarsi  VII,  493. 

^)  Gal.  1,  16  will  er  mit  den  Griechen  statt  non  acquievi  carni  et 
sanguini  lesen  non  contuli  cum  carne  et  sanguine,  Vallarsi  VII,  391 ; 
Gal.  2,  5  lesen  latini  Codices:  quibus  ad  horam  cessimus  subiectioni, 
Hieronymus  zieht  die  Lesart  der  Griechen  vor  non  ad  horam,  Vallarsi  VII, 
399,  401;  Gal.  5,  4  lautet  die  altlateinische  Übersetzung:  evacuati  estis 
a  Christo,  die  nach  dem  Griechischen  zu  korrigieren  ist:  in  Christi  opere 
cessastis,  Vallarsi  VII,  481;  Gal.  5,7  id  quod  nunc  latinus  posuit  interpres, 
veritati  non  oboedire  et  in  graeco  scriptum  est:  tij  ü/.tjüriit.  in)  nFiOrötiai 
in  superiori  loco  ita  interpretatus  est:  non  credere  veritati.  Quod  quidem 
nos  in  vetustis  codicibus  non  haberi,  in  suo  loco  annotavimus,  licet  et 
graeca  exemplaria  hoc  errore  confusa  sint,  Vallarsi  VII,  487;  Gal.  5,  8  ex 
Deo  hält  Hieronymus  für  einen  Schreibfehler  aus  ex  eo,  Vallarsi  VII,  487; 
Gal.  5,  9  will  Hieronynms  die  altlateinische  Lesart:  modicum  fermentum 
totam  conspersionem  fermentat  ersetzt  wissen  durch  modicum  fermentum 
totam  massam  corrumpit,  Vallarsi  VII,  488;  Gal.  6,  17  will  Hieronymus 
nach  den  Griechen  de  caetero  labores  mihi  nemo  exhibeat  lesen  statt 
de  caetero  nemo  mihi  molestus  sit,  Vallarsi  VII,  534;  vergl.  ferner  Gal.  4,  28, 
Vallarsi  VII,  474;  Gal.  5,  24,  Vallarsi  VII,  513;  auch  über  den  altlateinischen 
Text  von  Luc.  22,  37  ad  Gal.  4,  4;  von  Apost.  15,  29  ad  Gal.  5,  2;  von 
1.  Kor.  13,  3  ad  Gal.  5,  26. 


32  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Origenes  an.')  Es  ist  bezeichnend  für  die  Unselbständigkeit  der 
Arbeit  des  Hieronymus,  daß  er  Sätze  des  lateinischen  Textes, 
die  sich  im  Griechischen  nicht  fanden,  einfach  nicht  kommen- 
tierte und  dann  die  naive  Begründung  hinzufügte:  er  habe 
sie  nicht  ausgelegt,  da  er  in  den  von  ihm  benutzten  griechischen 
Kommentatoren  nichts  darüber  gefunden  habe.") 

Auch  auf  die  Zitate  aus  dem  Alten  Testament  richtete 
Hieronymus  sein  Augenmerk.  Er  machte  es  dabei  zu  einem 
methodischen  Grundsatz  seiner  Auslegung,  daß  er  die  Zitate 
des  Apostels  mit  dem  hebräischen  Text  und  den  griechischen 
Übersetzungen  der  LXX,  des  Aquila,  Theodotion  und  Sym- 
machus  verglich,  um  die  Zitationsweise  des  Apostels  zu  be- 
stimmen. Er  kommt  dabei  zu  dem  Resultat,  daß  Paulus  nicht 
wörtlich,  sondern  stets  nur  sinngemäß  zitiert  habe.  Zu  der 
Stelle  Deut.  27,  26  will  er  auch  samaritanische  Handschriften 
verglichen  haben  und  das  nur  im  Text  der  LXX  vorhandene 
omnis  dort  wiedergefunden  haben.')  Bei  einer  anderen  alt- 
testamentlichen  Stelle  beruft  sich  Hieronymus  auch  auf  die 
Erklärung,  die  ihm  sein  Hebräer,  der  ihn  in  den  heiligen  Schriften 
unterrichtete,  vermittelt  hat.')  Daß  Hieronymus  trotz  der  Bei- 
ziehung eines  großen  gelehrten  Apparates  bisweilen  Flüchtig- 
keiten beging,  wird  man  bei  seiner  raschen  Arbeitsweise  nicht 
verwunderlich  finden.  So  ist  es  ihm  entgangen,  daß  Paulus, 
wo  er  Gal.  3,  17  430  Jahre  von  Abraham  bis  auf  das  Gesetz 
zählt,  nicht  Gen.  15,  13,  sondern  den  Text  der  LXX  zu  Ex.  12,  40, 
seiner  Berechnung  zugrunde  gelegt  hat.')  Im  Anschluß  an 
den  Text    macht    Hieronymus    eine    Reihe    philologischer  Be- 


•)  Ad  Gal.  3,  1,  Vallarsi  Vil,  418  und  Gal.  4,  28,  und  Gal.  5,  24,  s. 
Band  I,  216. 

*)  Gal.  5,  7:  sed  quid  nee  in  graecis  libris  nee  in  bis,  qui  apostolum 
commentati  sunt,  hoc  scriptum  invenimus,  praetereundum  videtur,  Vallarsi 
VII,  487;  vergl.  auch  Gal.  5,  21,  Vallarsi  Vli,  509,  und  Gal.  3,  1,  Vallarsi 
VII,  418. 

3)  Gal.  3,  10,  Vallarsi  VII,  429;  zu  dem  Zitat  Hab.  2,  4  gibt  er  LXX, 
Theodotion,  Aquila;  zu  Deut.  21,23  LXX,  Aquila,  Symmachus,  Theodotion 
und  hebräischen  Text,  Vallarsi  VII,  435;  s.  auch  zu  Gal.  1,  14,  Vallarsi  VII, 
380  und  zu  Gal.  6,  18,  Vallarsi  VII,  534. 

*)  Deut.  21,  23,  Vallarsi  VII,  435. 

4  Ad  Gal.  3,  17,  Vallarsi  VII,  439. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  33 

obachtungen,  die  seinen  Sinn  für  die  Unterschiede  der  ver- 
schiedenen Sprachen  beweisen.  So  behauptet  er,  daß  das 
Wort  (ijrouä/auiHg  Gal.  1,  12,  nur  in  der  heiligen  Schrift,  aber 
nirgends  im  profanen  Griechisch  gebraucht  werde.  Und  hieran 
knüpft  er  eine  Erörterung  über  die  Schwierigkeiten,  mit  denen 
die  Übersetzer  aus  dem  Hebräischen  zu  kämpfen  hatten.  Die 
LXX  hätten  bei  ihrer  Arbeit  notgedrungen  eine  Reihe  von 
neuen  Worten  schaffen  müssen,  wie  auch  Cicero  in  seinen 
Tusculanen  bei  der  Übersetzung  philosophischer  Termini 
aus  dem  Griechischen  getan  habe.')  Die  wirklichen  und  an- 
geblichen Verstöße  des  Paulus  gegen  die  Konstruktion  erklärt 
sich  Hieronymus  daraus,  daß  der  Apostel,  ein  Hebräer  von 
Hebräern,  in  seiner  Muttersprache  gut  geschult  war,  aber  in 
der  ihm  doch  fremden  griechischen  Sprache  bisweilen  Fehler 
machte.  ^) 

Was  die  sachliche  Auslegung  des  Galaterbriefes  betrifft, 
so  zeigt  auch  dieser  Kommentar  das  eklektische  Verfahren  des 
Hieronymus.  Er  schwankt  zwischen  historischer  und  alle- 
gorischer Auslegung  und  stellt  verschiedene,  ihm  überkommene 
Deutungen  nebeneinander,  ohne  sich  für  eine  zu  entscheiden.*) 
Ein  tieferes  Verständnis  für  die  im  Briefe  niedergelegten  Grund- 
gedanken der  paulinischen  Heilsauffassung  fehlt  vollständig. 
Den  klaren  Worten  des  Apostels  schiebt  er  unbewußt  sein 
Verständnis  des  Heilsprozesses  unter,  wonach  aus  Glauben  und 
Werken  der  Mensch  vor  Gott  gerecht  wird.')  Aber  wer  ver- 
stand damals  Paulus  wirklich;  Origenes,  an  den  sich  Hieronymus 
vor  allen  anschloß,  versagte  in  diesem  Punkte  ebenfalls  völlig- 

Besonders  interessant  sind  für  uns  die  ziemlich  reichlich 
in  den  Kommentar  eingefügten  Bezugnahmen  auf  die  Zeit- 
verhältnisse. Da  außer  Gott  niemand  Vater  genannt  werden 
soll,  so  will  er  nicht,  daß  die  Vorsteher  der  Klöster,  ja  er 
selbst,  mit  dem  Titel  Abt  angeredet  werden.')   Und  wenn  Paulus 


')  Ad  Gal.  1,  12,  VallarsiVH,  387;  s.  auch  ad  Gal.  1,  5,  Vallarsi  VII, 
380,  ad  Gal.  5,  26,  Vallarsi  VII,  515. 

2)  Ad  Gal.  6,  1,  Vallarsi  VII,  520  und  Gal.  2,  3-5,  Vallarsi  VII,  400. 
^)  Z.  B.  Gal.  1,  17,  Vallarsi  VII,  392  ff. 

*)  Gal.  2,  16,  Vallarsi  VII,  412  und  Gal.  3,  2,  Vallarsi  VII,  418. 
")  Ad  Gal.  4,  6,  Vallarsi  VII,  451. 

Grützmacher,    Hieronymus.    U.  3 


34  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

das  Halten  der  Feste  verbietet,  so  könnte  man  dieses  Verbot 
auch  auf  die  christlichen  Feste  beziehen,  auf  die  beiden  Fast- 
tage, Mittwoch  und  Freitag,  den  Sonntag,  das  40tägige  vor- 
österliche Fasten,  auf  Ostern  und  Pfingsten  —  er  nennt  noch 
nicht  das  Weihnachtsfest  —  und  die  Märtyrertage.  Diesen 
Einu^urf  v^iderlegt  er  damit,  daß  die  christlichen  Festtage 
allerdings  nicht  heiliger  als  andere  Tage  sind  und  nur  von 
klugen  Männern  für  die  Schwachen  eingerichtet  wurden,  welche 
mehr  in  der  Welt  als  in  Gott  leben  und  nicht  jeden  Tag  einer 
gottesdienstlichen  Versammlung  beiwohnen,  gewiß  eine  eigen- 
tümlich mönchische  Begründung  der  christlichen  Feste.')  Die 
Stelle  Gal.  4,  13,  in  der  Paulus  die  Galater  seine  Brüder  nennt, 
gibt  Hieronymus  Anlaß,  sich  über  den  Hochmut  der  Bischöfe 
zu  beklagen,  die  sich  kaum  herbeilassen,  ihre  Mitknechte  an- 
zusehen und  anzureden.)  Und  die  Erfahrung  des  Paulus, 
daß  die  Galater  nach  seinem  Weggang  plötzlich  abfielen,  be- 
stätigt Hieronymus  als  auch  in  seiner  Zeit  häufig  wieder- 
kehrende Erscheinung:  wenn  ein  durch  Beredsamkeit  und 
Lebenswandel  ausgezeichneter  Lehrer  irgendwo  eine  erfolg- 
reiche Wirksamkeit  entfaltet  und  seine  Gemeinde  zum  Almosen- 
geben, zum  Fasten,  zur  Keuschheit,  zur  Armenpflege  erzogen 
hat,  so  geht  in  der  Regel  alles  wieder  zugrunde,  was  er 
geschaffen  hat,  wenn  er  fortgeht  ),  ein  Zeichen,  wie  stark  auch 
damals  die  Christengemeinden  Personalgemeinden  waren.  Auch 
auf  die  Mißstände,  die  sich  aus  der  gleichzeitigen  Festfeier  von 
heidnischen  und  christlichen  Festen  ergaben  —  er  gedenkt 
vielleicht  hier  an  Erfahrungen,  die  er  in  Rom  gemacht  hat  — 
macht  Hieronymus  aufmerksam.')  Endlich  geißelt  er  noch  mit 
herbem  Spott  die  immer  mehr  um  sich  greifende  Rhetorik  in 
den  christlichen  Predigten.  Die  Rede,  mit  der  Lüge  der 
rhetorischen  Kunst  geschmückt,  tritt  wie  eine  Dirne  öffentlich 
auf,    und   man   sucht   nur    das  Beifallklatschen    des  Volkes   in 


')  Ad  Gal.  4,  10  ii.  11,  Vallarsi  VII,  457. 

»)  Ad  Gal.  4,  13,  Vallarsi  VII,  458. 

=*)  Ad  Gal.  4,  17  u.  18,  Vallarsi  VII,  464. 

*)  Ad  Gal.  5,  1,  Vallarsi  VII,  477:  quod  aiitem  nationes  observent 
dies,  menses  et  annos,  utinam  nesciremus,  ne  nobis  cum  eis  esset  nun- 
quam  mixta  festivitas. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  35 

der  Kirche.  Die  Kirche  Christi  ist  aber  nicht  aus  der  Akademie 
und  dem  Lyceum,  sondern  aus  dem  niedrigen  Volk  entstanden.') 
Gewiß  war  dieser  Vorwurf  berechtigt,  aber  aus  dem  Munde 
eines  Mannes,  der  durch  seine  Rhetorik  ebenfalls  viel  gesündigt 
hat,  berührt  er  uns  eigentümlich. 

Wie  stark  die  Subjektivität  des  Kommentators  seine 
Exegese  beeinflußt  hat,  mögen  einige  besonders  charakteristische 
Beispiele  zeigen.  Das  scharfe  paulinische  Wort:  „Oder  suche 
ich  Menschen  zu  gefallen?"  mußte  dem  nach  dem  Beifall  der 
Menschen  lüsternen  Hieronymus  außerordentlich  unbequem 
sein.  Der  Apostel  will  uns  auch  nicht  lehren  —  so  führt  er 
aus  —  das  Urteil  der  Menschen  zu  verachten.  Wenn  es  ge- 
schehen kann,  sollen  wir  Gott  und  Menschen  gefallen.  Nur 
wenn  wir  den  Menschen  auf  keine  andere  Weise  gefallen 
können,  als  daß  wir  uns  das  Mißfallen  Gottes  zuziehen,  dann 
müssen  wir  Gott  mehr  als  den  Menschen  zu  gefallen  suchen.') 
Und  wie  unfähig  er  war,  den  Charakter  des  großen  Heiden- 
apostels zu  begreifen,  zeigt  sich  an  seiner  Auffassung  des 
antiochenischen  Streites  zwischen  Petrus  und  Paulus,  die  ihn 
später  in  den  literarischen  Kampf  mit  Augustin  verwickelte. 
Wenn  er  sich  hier  auch  an  Origenes,  Eusebius  und  Apollinaris 
anschloß,  so  war  ihm  doch  die  Auffassung  des  Streites 
der  Apostel  als  ein  Scheingefecht  besonders  sympathisch, 
während  der  ehrliche  Augustin,  der  alle  Heuchelei  von  Grund 
der  Seele  haßte,  davor  zurückschreckte.  Beide  Apostel,  Petrus 
und  Paulus,  erschienen  Hieronymus  als  geschickte  Schau- 
spieler, die  eine  Komödie  aufführen.  Erst  aß  Petrus  mit  den 
Heidenchristen,  eingedenk  des  Wortes,  daß  kein  Mensch  ge- 
mein oder  unrein  sei;  )  dann  zog  er  sich  plötzlich  zurück, 
und  die  übrigen  Judenchristen  und  Barnabas  ahmten  sein 
Verhalten  nach.  Die  Heidenchristen  fingen  nun  aber  an, 
auch  nach  dem  Gesetze  zu  leben,  da  sie  nicht  durch- 
schauten, daß  Petrus  dieses  Verhalten  nur  mit  der  Absicht 
angenommen  hatte,  um  die  Juden  auf  diese  Weise  zu 
gewinnen.    Als  aber  Paulus  sah,  daß  auf  diese  Weise  die  Gnade 

')  Praef.  ad  lib.  III,  Vallarsi  VII,  483  ff. 
■')  Ad  Gal.  1,  10,  Vallarsi  VII,  384. 
')  Apost.  10,  34  u.  35. 


36  Die  ersten  Jahre  im   Kloster  zu  Bethlehem. 

Christi  Gefahr  laufe,  wandte  er  gegenüber  Petrus  ebenfalls  die 
Verstellung  an.  Er  widersprach  ihm  öffentlich,  nicht  um  die 
Absicht  des  Petrus  zu  tadeln,  sondern  nur  um  die  schädliche 
Wirkung  auf  die  gläubigen  Heiden  abzuwehren.  Wer  aber 
hier  annehmen  wollte  —  so  folgert  Hieronymus  — ,  daß  der 
Apostel  Paulus  wirklich  seinem  Vorgänger  Petrus  einen  Vor- 
wurf habe  machen  wollen,  der  vergegenwärtigt  sich  nicht, 
daß  Paulus  selbst  den  Juden  ein  Jude  geworden  ist,  um  die 
Juden  zu  gewinnen,  und  sich  derselben  Verstellung  wie  Petrus 
schuldig  machte,  als  er  sich  in  Kenchreä  sein  Haupt  scheren 
ließ,  in  Jerusalem  in  das  Nasiräat  eintrat  und  die  Opfer  brachte 
und  als  er  auf  seiner  ersten  Missionsreise  den  Timotheus 
beschneiden  ließ.  Der  erheuchelte  Streit  zwischen  den 
Aposteln  sollte  den  Gläubigen  den  Frieden  bringen.')  So 
rettete  Hieronymus  durch  seine  Auslegung  die  Einheit  der 
Autorität  der  Apostel,  aber  auf  Kosten  ihres  Charakters,  der 
dadurch  in  ein  zweifelhaftes  Licht  gerückt  wurde.  Die  Maxime, 
daß  der  gute  Zweck  das  Mittel  heilige,  fand  also  Hiero- 
nymus in  dem  Verhalten  der  Apostel  betätigt. 

Nicht  ohne  Geschick  versucht  Hieronymus  den  Bericht 
der  Apostelgeschichte  mit  dem  des  Galaterbriefes  zu  vereinigen. 
Er  hat  natürlich  auch  hier  seine  Vorgänger  benutzt  und  gibt 
deshalb  oft  mehrere  Lösungen.  Ist  Paulus  nach  Lukas  sogleich 
nach  seiner  Bekehrung  nach  Jerusalem  gegangen,  so  ist  dies 
durch  den  Galaterbrief  nicht  ausgeschlossen;  denn  dieser  Auf- 
enthalt diente  ihm  nur  dazu,  sich  der  Verfolgung  zu  ent- 
ziehen und  führte  ihn  nicht  mit  den  Uraposteln  zusammen.) 
Wenn  Paulus  und  Petrus  sich  auf  dem  Apostelkonzil  die 
Mission  unter  Unbeschnittene  und  Beschnittene  teilten,  so  ist 
damit  nur  für  jeden  der  Apostel  ein  Hauptauftrag  gegeben, 
was  nicht  die  Bekehrung  einzelner  Heiden,  wie  z.  B.  die  Be- 
kehrung des  Hauptmanns  Cornelius  durch  Petrus,  die  die 
Apostelgeschichte  berichtet,  noch  die  Bekehrung  einzelner 
Juden  durch  Paulus  ausschließt.^)  Trotz  aller  Unvollkommen- 
heiten  und  trotz  der  Abhängigkeit  von  den  griechischen  Exe- 

1)  Ad  Gal.  2,  11   11.   12,  Vallarsi  VII,  406  ff. 
"■)  Ad  Gal.  1,  17,  Vallarsi  VII,  392  ff. 
»)  Ad  Gal.  2,  7—9,  Vallarsi  VII,  404. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  37 

geten  ist  der  Kommentar  des  Hieronymus  zum  Galaterbrief 
ein  beaclitenswertes  Werk,  das  seinen  späteren  exegetischen 
Produi<ten  erheblich  überlegen  ist. 

Flüchtiger  und  unselbständiger  als  der  Galaterkommentar 
ist  der  Epheserkommentar  des  Hieronymus  gearbeitet.  Bereits  im 
Galaterkommentar  hatte  er  die  Mängel  seines  Werkes  damit  ent- 
schuldigt, daß  er  bei  der  Schwäche  seiner  Augen  und  seinem 
leidenden  Zustand  seinen  Kommentar  nicht  selbst  geschrieben 
habe,  sondern  daß  er  habe  diktieren  müssen,  was  ihm  auf  die 
Zunge  gekommen  sei.  Die  Tyrannei  des  Schreibers  zwinge  ihn 
zur  Flüchtigkeit;  denn  wenn  er  ein  wenig  nachdenken  wolle,  um 
einen  besseren  Ausdruck  zu  suchen,  so  tadle  ihn  der  Schreiber 
schweigend,  spiele  mit  der  Hand,  runzle  die  Stirn  und  be- 
zeige durch  seine  ganze  Körperhaltung,  daß  er  vergeblich  an- 
wesend sei.')  Noch  schneller  als  den  Galaterkommentar  hat 
Hieronymus  den  Epheserkommentar  ausgearbeitet.  Er  gesteht, 
daß  er  bisweilen  an  einem  Tage  tausend  Zeilen  schreibe,  um 
nur  rasch  die  beabsichtigte  Auslegung  sämtlicher  Paulusbriefe 
zu  vollenden.-')  Der  Kommentar  ist  Paula  und  Eustochium  ge- 
widmet; aber  auch  seiner  Freundin  Marcella,  die  ihn  brieflich 
darum  gebeten  hatte,  übersandte  er  ein  Exemplar  desselben.') 
Er  selbst  hatte  nach  der  eiligen  Vollendung  ein  böses  Ge- 
wissen; er  bat  seine  Freundinnen  ausdrücklich,  seinen  Kom- 
mentar nicht  ihm  Übelwollenden  und  Verleumdern  zuzustellen, 
damit  man  ihn  nicht  herabsetze.')  Auch  seiner  Unselbständig- 
keit ist  er  sich  wohl  bewußt:  „ihr  mögt  wissen,  daß  Origenes 
drei  Bände  zu  diesem  Brief  geschrieben  hat,  dem  wir  uns  teil- 
weise angeschlossen  haben.  Auch  Apollinaris  und  Didymus 
haben  Kommentare  ediert,  von  denen  wir  nur  wenig  auf- 
genommen haben,  und  einiges  haben  wir  von  uns  hinzugefügt 
oder  weggelassen,  so  daß  ein  unterrrichteter  Leser  sogleich 
von  Anfang  an  weiß,  daß  dies  Werk  sowohl  ein  fremdes  wie 
unser  eigenes  sei."')    Durch  die  Vergleichung  der  vorhandenen 


1)  Praef.  in  üb.  III  Gal.,  Vallarsi  VII,  486. 

■')  Praef.  in  üb.  II  Eph.,  Vallarsi  VII,  585. 

3)  Praef.  in  lib.  II  Eph.,  Vallarsi  VII,  585. 

')  Praef.  in  lib.  I  Eph.,  Vallarsi  VII,  539. 

"•)  Praef.  in  lib.  I  Eph.,  Vallarsi  VII,  543. 


38  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Fragmente  des  Origenes  mit  dem  Kommentar  des  Hieronymus 
wird  dies  bestätigt.')  Die  Mitteilungen  über  den  Text  und 
die  Auslegung  des  Marcion  hat  Hieronymus,  wie  Zahn  über- 
zeugend nachgewiesen  hat,  hier  wie  im  Galaterkommentar  von 
Origenes  herübergenommen.')  Dasselbe  gilt  von  seiner  Er- 
wähnung des  Valentin,  Sabellius  und  Ebion.  Die  Polemik 
gegen  Arius,  Macedonius,  Eunomins  und  Photinus  )  hat  Hie- 
ronymus hinzugefügt  oder  dem  Apollinaris  und  Didymus 
entlehnt.  Auf  sein  eigenes  Konto  kommt  mit  Sicherheit  nur 
die  Kritik  des  Apollinaris.') 

Rufin  griff  später  Hieronymus  besonders  seines  Epheser- 
kommentars  halber  an.  Er  warf  ihm  sklavische  Abhängig- 
keit von  Origenes  vor,  dessen  Heterodoxien  er  unbesehen 
herübergenommen  habe.  Dies  ist  nicht  ganz  richtig.  Ge- 
wiß hat  Hieronymus  den  Kommentar  des  Origenes  überall 
ausgeschlachtet  und  seine  Abhängigkeit,  die  er  in  der  Einleitung 
bekannt  hatte,  im  Kommentar  selbst  verdeckt,  in  dem  er  nach 
der  von  ihm  beliebten  Manier  von  einem  oder  mehreren  Aus- 
legern spricht,  wenn  er  Origenes  benutzt.  Einmal  führt  er 
sogar  die  Auslegung  des  Origenes  mit  den  Worten  ein:  ein 
fleißiger  Leser  wird  die  Frage  aufwerfen.  Niemand  konnte 
vermuten,  daß  er  hier  Origenes  zitierte,  erst  in  seiner  Ver- 
teidigung gegenüber  Rufin  sah  er  sich  genötigt,  dies  einzu- 
gestehen und  sich  noch  obenein  wegen  des  lobenden  Prä- 
dikats, das  er  dem  Origenes  beilegte,  zu  verteidigen.  )  Rufin 
hat  alle  Sätze  seines  Kommentars  aufgestochen,  in  denen  er 
irgend  eine  heterodoxe  Anschauung  des  großen  Alexandriners 
reproduzierte  und  nicht  ausdrücklich   ablehnte.     So   trägt  Hie- 

')  Zahn,  Geschichte  des  neutestanientlichen  Kanon  II,  S.  427,  Anm.  2. 
Hier  hat  Zahn  die  zahlreichen  und  umfangreichen  Stücke  des  Origenes- 
konimentars  zum  Epheserbrief,  welche  uns  bei  Gramer,  Gatenae  gr.  patr. 
zum  Neuen  Testament  VI,  96  ff.  erhalten  sind,  mit  dem  Hieronymuskom- 
mentar  verglichen  und  ihre  Benutzung  nachgewiesen.  Auch  die  Einteilung 
des  Kommentars  in  drei  Bücher  scheint  Hieronymus  von  Origenes  entlehnt 
zu  haben. 

'■')  Zahn,  Geschichte  des  neutestanientlichen  Kanon  II,  428  ff. 

»)  Eph.  3,  11,  Vallarsi  VII,  515;  Eph.  4,  4,  Vallarsi  VII,  610. 

*)  Eph.  4,  10,  Vallarsi  VII,  614. 

")  Eph.  1,  7,  Vallarsi  VII,  576;    Gontra  Rufin.  I,  24,    Vallarsi  II,  480. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  39 

ronymus  ohne  Kritik  die  Theorie  des  Origenes  vor,  daß  auch 
im  Himmel  Beförderungen  und  Ehrungen,  Auf-  und  Absteigen, 
Wachstum  und  Abnehmen  der  Einzelnen  stattfinden  wird,')  daß 
den  Engeln  erst  durch  die  Kirche  das  Geheimnis  Christi  ge- 
offenbart sei'),  und  daß  durch  das  Kreuz  Christi  nicht  nur  den 
Menschen,  sondern  auch  den  Engeln  die  Versöhnung  gebracht 
sei.')  Andere  Stellen  des  Epheserbriefes  deutet  er  mit  Origenes 
auf  die  uTTOKaräOTaai^.")  Und  ganz  origenistisch  schreibt  er: 
Wir  mögen  als  Männer  unsere  Gattinnen  pflegen,  d.  h.  als  Seelen 
unsere  Leiber,  so  daß  die  Weiber  zu  Männern,  d.  h.  die  Leiber 
zu  Seelen  werden  und  kein  Unterschied  des  Geschlechts  mehr 
statthat,  sondern  wie  bei  den  Engeln  weder  Mann  noch  Weib 
ist,  damit  wir,  die  wir  den  Engeln  ähnlich  sein  werden,  schon 
jetzt  anfangen  zu  sein,  was  uns  im  Himmel  versprochen  ist.^) 
Die  Fesseln,  von  denen  Paulus  spricht,  bezieht  Hieronymus 
mit  Origenes  auf  die  Seele,  die  im  Körper  gefesselt  ist.')  Das 
Beugen  unserer  Kniee  vor  Gott,  das  Sitzen  des  Sohnes  zur 
Rechten  des  Vaters  versteht  er  wie  dieser  bildlich;")  und  die 
Seelen,  die  vom  Körper  befreit  sind,  gelangen  dorthin,  wo  der 
unkörperliche  Gott  seinen  Wohnsitz  hat") 

Aber  trotz  allem  wäre  es  ungerecht,  anzunehmen  —  wir 
dürfen  uns  hier  nicht  durch  das  Urteil  seines  Gegners  Rufin 
bestimmen  lassen  —  daß  Hieronymus  damals  ganz  im  Banne 
der  heterodoxen  Anschauungen  des  Origenes  stand.  Wir 
brauchen  ihm  zwar  nicht  zu  glauben,  daß  er,  wie  er  später 
behauptet,  als  er  sich  vom  Origenismus  reinwaschen  will, 
schon  im  Epheserkommentar  die  Lehre  von  der  djroHaräöTaoig 
als  Häresie  bezeichnet  habe.    Niemand  kann  dies  seinen  dies- 


')  Eph.  1,  21,  Vallarsi  VIF,  566. 

2)  Eph.  3,  10,  Vallarsi  VII,  594. 

")  Eph.  1,  23,  Vallarsi  VII,  569;  Eph.  2,  18,  Vallarsi  Vll,  583;  Eph.  4,  9, 
Vallarsi  VII,  614. 

')  Eph.  4,  4,  Vallarsi  VII,  609;  Eph.  4,  13,  Vallarsi  VII,  616;  Eph.  4,  16, 
Vallarsi  VII,  619. 

»)  Eph.  5,  29,  Vallarsi  VII,  659. 

«)  Eph.  3,  1,  Vallarsi  VII,  586;  Eph.  4,  1,  Vallarsi  VII,  606. 

')  Eph.  3,  4,  Vallarsi  VII,  598;  Eph.  5,  4,  Vallarsi  VII,  640. 

*)  Eph.  1,  12,  Vallarsi  VII,  676. 


40  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

bezüglichen  Äußerungen  entnehmen.')  Aber  deuth'ch  lehnt  er 
doch  die  Lehre  des  Origenes  von  der  Präexistenz  der  Seelen') 
ab  und  ebenso  scharf  verurteilt  er  die  Annahme  des  Origenes, 
daß  die  zukünftige  Strafe  für  die  Sünde  keine  äußerliche  sei, 
sondern  in  der  Sünde  selbst  und  dem  Bewußtsein  der  bösen 
Tat  bestehe,  bei  der  der  Wurm  im  Herzen  nicht  stirbt  und 
das  Feuer  im  Geist  entzündet  wird,  wie  bei  dem  Fieber- 
kranken, der  auch  nur  innerliche  Qual  erdulde.  Er  nennt  dies 
leere  täuschende  Worte.'')  Einmal  bemerkt  er  auch,  daß  der 
Leser  die  Deutung  des  Origenes,  der  unter  den  Fesseln  die 
Einkerkerung  der  Seele  im  Leib  verstehe,  nicht  anzunehmen 
brauche.')  Gewiß  sah  Hieronymus  damals  noch  nicht  in 
Origenes  den  großen  Ketzer,  dazu  stand  er  noch  zu  sehr 
unter  dem  Einfluß  des  Didymus;  aber  es  beginnt  sich  doch 
bereits  in  ihm  das  Mißtrauen  gegen  gewisse  Heterodoxien 
des  Alexandriners  zu  regen,  und  es  ist  zum  Teil  Mangel  an 
Selbständigkeit  und  Bequemlichkeit,  wenn  er  ihn  ausschreibt, 
ohne  durchgreifende  Korrekturen  oder  Warnungszeichen  im 
kirchlich-rechtgläubigen  Sinne  anzubringen.  Eine  ähnliche 
Stellung  wie  zu  Origenes  nimmt  er  zu  seinem  alten  Lehrer 
Apollinaris  in  dem  Epheserkommentar  ein.  Er  nennt  ihn 
nicht  namentlich,  aber  die  nüchterne  Exegese  des  Antiocheners, 
dessen  Kommentar  wir  leider  nicht  mehr  besitzen  —  nach  den 
Proben,  die  Hieronymus  gibt,  bedauern  wir  seinen  Verlust  nur 
um  so  mehr  -  ist  überall  kenntlich.  Er  führt  Apollinaris 
in  der  Regel  mit  den  Worten  ein:  ein  anderer  sagte  einfach.') 
Auch  ihn  benutzt  er,  aber  gegen  seine  heterodoxe  Christo- 
logie  verwahrt  er  sich,  ohne  ihn  zu  nennen.")  Was  Hierony- 
mus dem  verlorenen  Kommentar  des  Didymus  entnommen  hat. 


')  Eph.  4,  16,  Vallarsi  VII,  619  und  Contra  Rufin.  I,  26;  Vallarsi  ist 
allerdings  bereit,  ihm  dies  zu  glauben  s.  Anm.  6,  S.  619. 

")  Eph.  1,  4,  Vallarsi  VII,  550. 

•')  Eph.  5,  6,  Vallarsi  VII,  644. 

')  Eph.  4,  1,  Vallarsi  VII,  606. 

^)  Eph.  2,  7;  Eph.  1,  23;  Eph.  4,  26  etc. 

^)  Eph.  4,  10,  Vallarsi  VII,  614  nee  statim  ista  dicentes  locum  alteri 
haeresi  damus,  quae  dimidiatam  Christi  asserit  dispensationem,  sed  sie 
unum  et  Dei  et  hominis  filium  confitemur,  ne  dispensationem  assumti 
hominis,  qua  salvati  sumus,  ex  parte  credentes,  in  parte  truncemus. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Betiilehem.  41 

läßt  sich  nicht  mehr  mit  Sicherheit  feststellen.  Er  nennt  ihn 
innerhalb  des  Kommentars  an  keiner  Stelle.  Vielleicht  hat  er 
ihn  als  das  Werk  eines  noch  lebenden  Theologen  nicht  in  so 
ausgiebiger  Weise  wie  die  Kommentare  des  Origenes  und 
Apollinaris  zu  benutzen  gewagt. 

Der  Brief  ist  nach  Hieronymus  an  die  Epheser  gerichtet. 
Daß  ihn  Marcion  nach  Laodicea  adressiert  sein  läßt,  davon 
scheint  er  trotz  der  Benutzung  des  Origenes  nichts  zu  wissen. 
Dagegen  ist  ihm  die  Lesart  in  Eph.  1,  1  bekannt:  Sanctis 
Omnibus,  qui  sunt.')  Paulus  schrieb  den  Brief  als  Gefangener 
um  des  Zeugnisses  Christi  willen  von  Rom  aus.')  Er  hatte 
von  Jerusalem  bis  Illyrikum  das  Evangelium  gepredigt,  war 
dann  nach  Rom  gegangen  und  entweder  schon  in  Spanien  ge- 
wesen oder  beschloß,  dorthin  zu  reisen.^)  Paulus  beschäftigt 
sich  in  dem  Briefe  besonders  ausführlich  mit  den  Engeln  und 
Dämonen.  Dies  hat  darin  seinen  Grund,  daß  in  Ephesus 
der  Götzendienst  und  die  Zauberei  in  höchster  Blüte  standen.') 

Auch  in  diesem  Kommentar  hat  Hieronymus  die  Diffe- 
renzen der  griechischen  und  lateinischen  Handschriften  genau 
registriert  und  Korrekturen  der  altlateinischen  Übersetzung 
vorgeschlagen. ')  Im  ganzen  ist  der  Kommentar  ziemlich 
trocken  geschrieben,  nur  bisweilen  zeigt  Hieronymus  seine 
glänzenden   schriftstellerischen   Gaben.      Mit    hoher  Schönheit 


>)  Eph.  1,  1,  Vallarsi  VII,  545. 

2)  Eph.  6,  20  und  Eph.  3,  1—4,  Vallarsi  VII,  682. 

")  Eph.  3,  13,  Vallarsi  VII,  596. 

*)  Praef.  ad  lib.  I  Eph.,  Vallarsi  VII,  541. 

^)  Eph.  1,  6,  Vallarsi  VII,  553;  Eph.  1,  10,  Vallarsi  VII,  556  statt 
instaurare  recapitulare;  Eph.  1,  14  pignus  für  äQoaßfov;  ne^inoiiiai^  iä.\?,c\\- 
lich  mit  adoptio  wiedergegeben,  es  muß  acquisitio  oder  possessio  heißen; 
Eph.  2,  16  übersetzen  einige  Lateiner  i^v  avm  seil,  in  cruce  fälschlich  mit 
semetipso.  Eph.  3,  7,  Vallarsi  VII,  592.  Eph.  3,  13  liest  der  Lateiner 
deficiatis,  Vallarsi  VII,  597;  Eph.  3,  15,  Vallarsi  VII,  559;  Eph.  4,  16, 
Vallarsi  VII,  620:  haec  apud  nos  obscuriora  sunt,  quia  lurafpootHcTig  dicuntur 
in  Graeco;  Eph.  4,  19,  Vallarsi  VII,  621:  ujriiÄytjKÖrFs  übersetzt  der  La- 
teiner falsch  mit  desperantes  semetipso,  besser  wäre  indolentes  sive  indo- 
lorios;  Eph.  4,  27,  Vallarsi  VII,  629  über  die  Lesarten  Belial  und  Beliar; 
Eph.  5,  22,  Vallarsi  VII,  654:  Vom  Lateiner  ist  hinzugefügt  subditae  sint; 
Eph.  5,  31,  Vallarsi  VII,  659:  Im  Text  von  Matth.  5,  12  fügen  einige 
Codices  sme  causa  zu. 


42  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

hat  Hieronymus  das  Bild  des  Apostels  gezeichnet:  Paulus 
war  ein  Mensch  von  scharfem  und  durchdringendem  Geist. 
Er  stand  auf  dem  Schiff,  führte  das  Steuer  und  brach  die 
schäumenden  Fluten  der  Häresie  durch  die  Sicherheit  seines 
Glaubens.  Doch  nicht  ohne  Sorge  und  Angst  sah  er,  wie 
die  Winde  hier  und  dorthin  wehten,  und  besorgt  horchte  er 
auf  und  überwand  die  Gegensätze.  Aber  nicht  leicht  ward 
ihm  der  Sieg.  Er  sah,  daß  die  Worte  und  Gründe  der  Gegner 
nicht  leicht  überwunden  werden  konnten,  mit  denen  sie  die 
Wahrheit  zugrunde  zu  richten  suchten.  Und  weil  er  ihre 
dialektischen  und  teuflischen  Künste  erkannte,  darum  setzte  er 
seine  ganze  Hoffnung  auf  Gottes  Hilfe.  Von  Gott  hoffte  er, 
daß  er  allen  Zweifel  aus  seinem  Geist  vertreibe,  ihn  in  der 
Wahrheit  festige  und  die  Liebe  Christi  in  ihm  mehre,  von 
dem  er  gewiß  war,  daß  er  sein  und  der  ganzen  Kirche 
Haupt  sei. ') 

Auch  in  dem  Epheserkommentar  hat  Hieronymus  gelegent- 
lich praktische  Exegese  mit  bezug  auf  die  Mißstände  seiner 
Zeit  getrieben.  Er  eifert  gegen  den  Kirchengesang,  bei  dem 
die  Psalmensänger  nach  Art  der  Tragöden  ihre  Kehle  und 
Schlund  mit  einer  süßen  Medizin  beschmieren,  so  daß  man 
in  der  Kirche  theatralische  Rhythmen  zu  hören  bekommt.')  Das 
Wort  des  Apostels:  Erzieht  eure  Söhne  in  Zucht  und  Ver- 
mahnung des  Herrn,  mögen  sich  die  Bischöfe  und  Presbyter 
ad  notam  nehmen,  die  ihre  Söhne  in  der  weltlichen  Wissenschaft 
unterrichten,  sie  Komödien  lesen  und  die  schimpflichen  Werke 
der  Schauspieler  singen  lassen,  wobei  die  Erziehungskosten 
vielleicht  aus  geistlichen  Mitteln  bestritten  werden.  Was  als 
Sühnegeld  für  eine  Sünde  eine  Jungfrau  oder  eine  Witwe, 
die  ihre  ganze  Habe  darbrachte,  oder  sonst  ein  Armer  für  die 
Kirchenkasse  geopfert  hat,  das  erhält  so  der  Grammatiker  oder 
Rhetor  als  Neujahrsgeschenk,  als  Geschenk  bei  den  Satur- 
nalien oder  als  Minerval')  und  verwendet  es  zum  häuslichen 
Verbrauch  oder  sogar  als  Gabe  für  einen  heidnischen  Tempel 


>)  Eph.  4,  15,  Vallarsi  VII,  617. 
2)  Eph.  5,  19,  Vallarsi  VII,  652. 

')  Geschenk,  das  der  Schüler  dem  Lehrer  beim  Eintritt  in  die  Schule 
brachte,   bestehend  aus  Eßwaren,    Tert.,  de  idol.  c.  10  s.  Georges  II,  822. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  43 

oder  eine  schmutzige  Hure.')  Obwohl  Hieronymus  das  Beugen 
der  Kniee  in  Eph.  3,  14  im  geistlichen  Sinne  mit  Origenes 
verstanden  wissen  will,  verwahrt  er  sich  doch  entschieden 
dagegen,  daß  er  damit  der  christlichen  Sitte,  Gott  mit 
gebeugten  Knieen  anzubeten,  entgegentreten  wolle.")  Überaus 
interessant  ist  auch  die  Erörterung,  die  Hieronymus  an  das 
Apostelwort  knüpft,  daß  die  Frau  ihren  Mann  fürchten  soll. 
In  dem  Zeitalter  der  Decadence,  in  dem  er  lebt,  schienen  ihm 
gewiß  nicht  mit  Unrecht  die  Frauen  im  allgemeinen  den  Männern 
in  sittlicher  Beziehung  weit  überlegen.  Die  Frauen  verstehen 
noch  dem  Hauswesen  vorzustehen,  die  Kinder  zu  erziehen,  die 
Sklaven  in  Disziplin  zu  halten,  während  die  entnervten  Männer 
nur  noch  schwelgen  und  Hurerei  treiben.  Ob  daher  nicht  die 
Frauen  die  Männer  regieren  müssen,  statt  sie  zu  fürchten, 
will  er  dem  Urteil  des  Lesers  überlassen.'') 

Für  die  theologischen  Überzeugungen  des  Hieronymus  bietet 
der  Kommentar  wenig  Ausbeute.  Nur  betont  er  auch  hier  wie 
im  Galater-  und  Philemonkommentar  im  Anschluß  an  Origenes 
energisch  die  menschliche  Willensfreiheit:  Gott  will,  daß  alle 
gerettet  werden  und  zur  Erkenntnis  der  Wahrheit  kommen. 
Aber  weil  niemand  ohne  seinen  eigenen  Willen  gerettet  wird 
—  denn  wir  haben  einen  freien  Willen  — ,  so  will  Gott,  daß 
wir  das  Gute  wollen,  so  daß,  wenn  wir  gewollt  haben,  er 
selbst  an  uns  seinen  Rat  erfüllen  kann.')  Der  freie  Wille  des 
Menschen  wird  nicht  durch  die  Gnade  aufgehoben,  sondern 
die   Freiheit    unseres  Willens   hat  Gott   selbst  zum  Urheber.') 

Endlich  sind  noch  die  Mitteilungen  des  Hieronymus  über 
das  viel  diskutierte  Zitat  Eph.  5,  14:  „Erhebe  dich,  der  du 
schläfst,  und  stehe  auf  von  den  Toten,  und  Christus  wird  dich 
erleuchten",  nicht  ohne  Interesse.  Wer  mit  einer  einfachen 
Antwort  zufrieden  ist,  wird  sagen,  daß  Paulus  dies  Zitat  aus 
den  verborgenen  Propheten  oder  den  sogenannten  Apokryphen 
entnommen  habe,  nicht  um  die  Apokryphen  damit  zu  billigen, 


')  Vaüarsi  VII,  666. 

2)  Vallarsi  VII,  599. 

8)  Eph.  5,  33,  Vallarsi  VII,  662. 

*)  Eph.  1,  11,  Vallarsi  VII,  558. 

")  Eph.  2,  9,  Vallarsi  VII,  577. 


44  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

sondern  wie  er  Verse  des  Aratus,  Epimenides  und  Menander 
gebraucht  hat.  Hat  er  doch  auch  bei  der  Predigt  in  Athen 
die  Inschrift  eines  heidnischen  Altars  verwandt;  nur  lautet 
diese  nicht,  wie  Paulus  sagt,  dem  unbekannten  Gott,  sondern 
den  Göttern  Asiens,  Europas,  den  unbekannten  und  fremden 
Göttern.  Hieronymus  behauptet  nun,  alle  Editionen  der  alten 
Schriften  und  die  Werke  der  Hebräer  genau  durchforscht  und 
das  Zitat  nirgends  gefunden  zu  haben.  Er  erklärt  es  sich  daher 
so,  daß  der  Apostel,  ähnlich  wie  die  Propheten  voll  heiligen 
Geistes,  plötzlich  in  die  Worte,  die  Christus  über  sich  spricht, 
ausgebrochen  sei:  „Dies  sagt  der  Herr".  Er  gibt  dann  noch 
eine  Erklärung,  die  er  einmal  in  der  Kirche  gehört  habe  und 
die  vielleicht  auf  seinen  Lehrer  Gregor  von  Nazianz  zurück- 
geht.') Der  Prediger  sagte:  Das  Zeugnis  bezieht  sich  auf 
Adam,  der  auf  Golgatha  begraben  ist,  wo  der  Herr  gekreuzigt 
wurde.  Als  der  Herr  auf  Golgatha  über  dem  Grabe  Adams 
gekreuzigt  wurde,  erfüllte  sich  die  Prophetie:  Stehe  auf,  Adam, 
der  du  schläfst,  und  erhebe  dich  von  den  Toten,  und  Christus 
wird  dich  berühren,  weil  durch  die  Berührung  mit  dem  Blut 
Christi  und  seinem  herabhängenden  Leib  Adam  belebt  wurde 
und  sich  erhob.')  Hieronymus  bezeugt,  daß  diese  Auslegung 
von  dem  Volk  mit  Beifall  und  Klatschen  aufgenommen  wurde; 
er  selbst  hält  sie  aber  für  nicht  dem  Kontext  entsprechend. 
Nach  dem  Epheserkoqimentar  nahm  Hieronymus  den 
Tituskommentar  in  Angriff.  Wenige  Monate  waren  erst  seit 
der  Vollendung  des  Galaterkommentars  vergangen,  aber  seine 
Absicht,  alle  Paulinen  zu  kommentieren,  drängte  ihn  zur  Eile.') 
Daß  er  gerade  den  Titusbrief  kommentierte,  hatte  wohl  darin 
seinen  Grund,  daß  unter  den  Pastoralbriefen  allein  von  diesem 
ein  Kommentar  des  Origenes  vorhanden  war.  Hieronymus 
hat  sich  in  diesem  Kommentar,  sowohl  in  der  Einleitung  wie 
im  Kommentar  selbst,  völlig  über  die  von  ihm  benutzten  Werke 
ausgeschwiegen.  Daß  er  solche  benutzt  hat,  erhellt  aus  einer 
Reihe  von  Stellen,  in  denen  er  verschiedene  Ausleger  anführt, 

')  Auch  zu  Eph.  5,  32  bringt  er  eine  mündliche  Erklärung  Gregors  bei. 
*)  Es  ist  hier  die  Lesart  iini/Hii'nn,  nicht  iTTK/arrin  vorausgesetzt;  s. 
Hieronymus  ad  Matth.  27,  33,  Vallarsi  VII,  232;   ep  46,  3,  Vallarsi  I,  199. 
«)  Tit.  1     11    Vallarsi  VII,  704. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  45 

ohne  jedoch  ihre  Namen  zu  nennen.  So  berichtet  er  z.  B.,  daß 
einige  das  Zitat  Tit.  1,  12,  das  nach  seiner  Meinung  der  Schrift 
des  Epimenides  über  die  Orakel  entstammt,  aus  dem  Werke 
des  Cyrenäers  Callimachus  über  den  Preis  des  Jupiter  ableiten, 
wo  es  sich  aber  nur  unvollständig  wiederfindet.  Einige  machen 
auch  dem  Apostel  wegen  der  Benutzung  eines  falschen  Lehrers 
Vorwürfe,  aber  Paulus  billigt  nicht  mit  der  Zitation  von  Versen 
aus  den  Phaenomena  des  Aratus  oder  den  Komödien  des  Menander 
die  Werke  dieser  heidnischen  Autoren,  so  wenig  wie  hier  den 
Epimenides.  Dann  müßte  man  auch  das  apokryphe  Henochbuch 
für  kanonisch  halten,  weil  es  der  Apostel  Judas  einmal  zitiert.') 

Daß  Hieronymus  hier  wie  in  den  anderen  Kommentaren 
Origenes  benutzt  hat,  läßt  sich  noch  durch  Vergleich  mit  den 
spärlichen  Fragmenten  des  Origeneskommentars  erweisen.-) 
Ob  und  welche  Kommentare  Hieronymus  außerdem  benutzt 
hat,  läßt  sich  nicht  mehr  feststellen. 

In  der  Vorrede  zum  Kommentar,  den  er  wie  die  früheren 
Paula  und  Eustochium  zueignete,  will  Hieronymus  wissen,  daß 
Tatian  einige  paulinische  Briefe  verworfen,  aber  den  Titusbrief 
für  echt  gehalten  habe,  während  Marcion  und  Basilides  sämt- 
liche Pastoralbriefe  und  den  Hebräerbrief  zurückgewiesen  und 
aus  den  übrigen  Paulinen  das  ihnen  Mißfällige  getilgt  hätten. 
Zahn')  wird  Recht  haben,    wenn  er  diese  konfusen    und   un- 


»)  Tit.  1,  12,  Vallarsi  VII,  705  ff.;  s.  Tit.  3,  3  ff.,  Vallarsi  Vll,  732; 
Tit.  1,  16,  Vallarsi  VII,  713;  Tit.  1,  6,  Vallarsi  VII,  697. 

^)  s.  Harnack,  Altchristliche  Literaturgeschichte  I,  375,  wo  die  fünf 
Fragmente  aus  der  Apologie  des  Pamphilus  und  ein  Zitat  aus  Barsanuphius 
registriert  sind.  Besonders  deutlich  ist  die  Berührung  des  dritten  Fragments 
mit  Hieronymus  Tit.  3,  11,  Vallarsi  Vll,  738,  wo  er  im  Anschluß  an 
Origenes  eine  Definition  von  Schisma  und  Häresie  gibt;  s.  auch  Tit.  1,4, 
Vallarsi  VII,  691. 

')  Zahn,  Forschungen  zur  Geschichte  des  neutestamentlichen  Kanons, 
I,  6.  Von  Basilides  wissen  wir  nicht,  daß  er  die  Pastoralbriefe  abgelehnt 
hat.  Die  Mitteilung  des  Eusebius  findet  sich  Eus.  h.  e.  IV,  29,  6;  s.  dazu 
Jülicher,  Einleitung  ins  Neue  Testament,  S.  301.  Exegesen  des  Tatian 
zu  Paulusbriefen  finden  sich  bei  Clemens  Alex.  -Harnack  glaubt  mit 
Sicherheit  aus  unserer  Stelle  schließen  zu  können,  daß  Tatian  die  Briefe 
an  Timotheus  verworfen  hat;  s.  Altchristliche  Literaturgeschichte  II,  491.  Er 
beruft  sich  auf  Clem.  Strom  II.  11,52,  wo  aber  nur  allgemein  von  einer  Ver- 
werfung der  Briefe  an  Timotheus  durch  Häretiker  die  Rede  ist. 


46  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

bestimmten  Angaben  auf  Reminiszenzen  an  Eusebius,  der  von 
einer  Rezension  der  Paulusbriefe  durch  Tatian  berichtet,  und 
auf  irgend  eine  vermutlich  durch  den  Origeneskommentar  ihm 
zugekommene  Exegese  des  Tatian  zum  Titusbrief  zurückführt. 

Den  Titusbrief  läßt  Hieronymus  von  Nikopolis  aus  ge- 
schrieben sein,  das,  am  Gestade  von  Actium  gelegen,  nach 
dem  Siege  des  Augustus  über  Antonius  und  Kleopatra  seinen 
Namen  erhalten  hat.')  Der  Adressat  ist  Titus,  der  Schüler  des 
Paulus,  den  er  zur  Belehrung  der  Kreter  dort  zurückgelassen 
hatte.  Er  war,  wie  Hieronymus  aus  Tit.  2,  6  schließt,  jung- 
fräulich geblieben.-)  Daß  er  Bischof  auf  Kreta  gewesen  sei, 
berichtet  er  nicht,  während  er  den  Apollos  zum  Bischof 
von  Korinth  macht.  )  In  welche  Zeit  des  Lebens  Pauli  der 
Brief  gehört,  darüber  hat  Hieronymus  keine  Reflexionen  an- 
gestellt. 

Auch  dieser  Kommentar  bietet  wieder,  wie  die  anderen, 
eine  Reihe  textkritisch ')  und  sprachgeschichtlich  wichtiger 
Bemerkungen.  So  hat  er  sich  z.  B.  um  die  Bedeutung  des 
griechischen  Wortes  jieqiovöio^  Tit.  2,  14  bemüht.  Er  be- 
hauptet, daß  ihm  auf  Anfrage  bei  den  Grammatikern  keine 
Stelle  aus  der  profanen  Literatur  nachgewiesen  werden  konnte. 
Er  hat  dann  die  LXX,  Aquila,  Symmachus,  Theodotion  und 
die  Quinta  zur  Erklärung  herangezogen  und  es  im  Sinne  von 
egregius  gedeutet.  In  demselben  Sinne  glaubt  er  auch  im 
Herrengebet  fl;r/o(''rj<05=  egregius  verstehen  zu  müssen,  d.  h.  das 
ausgezeichnete  Brot,  welches  vom  Himmel  herabkommt. 
Scharf  lehnt  er  die  Deutung  von  tmovöiog  =  crastinus  ab,  da 
den  Christen  verboten   sei,  an   den  morgigen  Tag  zu  denken. 

In  der  Auslegung  des  Buches  tritt  uns  des  öfteren  ein 
auch  sonst  dem  Hieronymus  eigener  Lieblingsgedanke  ent- 
gegen.   Er  tritt  für  den  Bund  der  Wissenschaft  und  Frömmig- 


')  Tit.  3,  12,  Vallarsi  VII,  738. 

')  Vallarsi  VII,  720. 

»)  Tit.  3,  13,  Vallarsi  VII,  739. 

*)  Tit.  1,  9;  Tit.  1,  10;  Tit.  2,  15;  Tit.  3,  10,  Vallarsi  VII,  737:  der 
Grieche  liest:  haereticum  hominem  post  imam  correptionem  devita,  der 
Lateiner:  post  unam  et  alteram  correptionem,  quod  verum  papa  quoque 
Athanasius  approbabat;  Tit.  3,  15,  Vallarsi  VII,  740. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  47 

keit  ein.  Es  gibt  Wissenschaften  wie  die  Geometrie,  Arith- 
metik und  Musik,  die  in  ihrer  Wissenschaft  die  Wahrheit 
haben,  aber  mit  der  Frömmigkeit  nichts  zu  tun  haben.  Und 
es  gibt  andererseits  solche,  die  die  wahre  Erkenntnis  der 
Frömmigkeit  haben,  aber  von  der  Wahrheit  der  weUlichen 
Wissenschaften  nichts  wissen.')  Mit  dem  Apostel  fordert  er 
von  den  Bischöfen,  daß  sie  fromm  und  gelehrt  sind,  nicht  faul 
und  verschlafen,  es  nicht  für  Sünde  halten  die 'heiligen  Schriften 
zu  lesen  und  nicht  die  als  Schmäher  und  Lumpen  verachten, 
die  über  das  Gesetz  Gottes  Tag  und  Nacht  nachdenken.')  Der 
Brief  mit  seinen  praktischen  Ermahnungen  mußte  Hieronymus 
besonderen  Anlaß  zur  Beleuchtung  des  kirchlichen  Lebens 
seiner  Zeit  geben.  Und  da  seinem  kritischen  Blick  nicht  leicht 
etwas  entging,  was  in  der  Kirche  faul  und  ungesund  war, 
so  enthüllt  uns  sein  Tituskommentar  schärfer  als  die  früheren 
Kommentare  manche  kirchlichen  Schäden  seiner  Zeit.  Die 
Bischöfe  sollen  es  sich  merken,  daß  sie  nach  Verdienst  und 
nicht  nach  Gunst  die  Presbyter  einsetzen:  „Aber  jetzt  sehen 
wir,  daß  die  meisten  dieses  Recht  mißbrauchen,  daß  sie  nicht 
die  zu  Säulen  der  Kirche  aufzurichten  suchen,  welche  der 
Kirche  mehr  nützen  können,  sondern  für  die  sie  selbst  eine 
Vorliebe  haben,  oder  durch  deren  Gefälligkeit  sie  geködert 
sind,  oder  für  die  ein  Vornehmer  ein  gutes  Wort  eingelegt 
hat  und,  um  das  Häßlichste  nicht  zu  verschweigen,  die  durch 
Geschenke  ihr  Klerikeramt  erlangen."  Hieronymus  erinnert  dann 
die  Bischöfe  daran,  daß  ursprünglich  Bischof  und  Presbyter 
identisch  waren,  und  daß  anfänglich  die  Kirchen  durch  den  Rat 
der  Presbyter  geleitet  wurden.  Erst  als  in  den  Kirchen  Schismata 
entstanden,  sei  ein  monarchischer  Bischof  aus  dem  Kreise  der 
Presbyter  zur  Leitung  der  einzelnen  Kirchen  erhoben  worden.") 
Für  diese  Theorie  über  die  Entstehung  des  monarchischen 
Episkopats,  die  Hieronymus  auch  in  einem  Briefe  an  Evangelus 
wiederholt  und  des  weiteren  begründet,  beruft  er  sich  auf  die 
Schriftstellen  wie  Philipp.  1,  1,   Act.  20,  28,   Hebr.  13,  17  und 


1)  Tit.  1,  2,  Valiarsi  VII,  6y0. 

2)  Tit.  1,  9,  Valiarsi  VII,  704. 

3)  Tit.  1,  5,  Valiarsi  VII,  694  ff. 


48  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

1.  Petr.  5,  1.')  Er  zieht  aber  auch  eine  praktische  Folgerung 
daraus,  die  nicht  ohne  Spitze  gegen  den  Episkopat  ist:  Die 
Presbyter  sollen  wissen,  daß  sie  nach  Gewohnheitsrecht  der 
Kirche  dem  Bischof  unterstellt  sind,  aber  die  Bischöfe  sollen 
bedenken,  daß  sie  mehr  durch  Gewohnheitsrecht  als  durch 
göttliche  Anordnung  über  den  Presbytern  stehen. 

Daß  die  Bischöfe,  die  verheiratet  sind,  sich  des  ehelichen 
Umgangs  enthalten,  ist  ihm  eine  selbstverständliche  Voraus- 
setzung.') Dagegen  entwickelt  er  eine  eigentümliche  Ansicht 
über  die  Forderung  des  Paulus,  daß  nur  ein  Monogamer 
Bischof  werden  könne.  Der  in  der  Einehe  lebende  sei  nicht 
immer  besser,  als  der,  welcher  zwei  Frauen  gehabt  habe;  denn 
wenn  der  letztere  beide  Frauen  früh  verloren  habe,  so  hätte 
er  enthaltsamer  gelebt  als  der,  welcher  bis  ins  Greisenalter 
in  ehelicher  Gemeinschaft  stand.  Doch  könne  allerdings  nur 
der  zur  Monogamie  ermahnen,  welcher  selbst  monogam  iebe. 
Die  Beziehung  auf  das  Verbot  der  Polygamie,  die  nach  jüdischer 
Sitte  erlaubt  war,  lehnt  er  ab.  Dann  aber  stellt  er  die  merk- 
würdige Forderung  auf,  daß  der  als  Monogamer  und  deshalb 
als  fähig  zur  Bekleidung  eines  Priesteramts  zu  gelten  habe, 
welcher  als  Heide  eine  erste  Ehe  und  als  Christ  eine  zweite 
Ehe  geschlossen  habe.  Die  erste  Ehe,  die  er  als  Heide  ge- 
schlossen hat,  wird  durch  die  Taufe  gleichsam  abgewaschen. 
Auch  später  in  einem  Briefe  an  Oceanus  verteidigt  er  diese 
Ansicht;  aber  die  kirchlichen  Autoritäten,  wie  der  römische 
Bischof  Siricius,  Ambrosius  und  Augustin  wandten  sich  gegen 
diese  gewundene  Beweisführung,  und  ihre  Stellungnahme, 
wonach  nur  ein  Monogamer  die  Priesterweihe  erhalten  durfte, 
wurde  Kirchenrecht.')  Heftige  Klage  erhebt  er  auch  gegen 
die  Bischöfe,  die  die  Pflicht  der  Gastfreundschaft  vernach- 
lässigen   und    gastfreundliche    Laien    aus    Eifersucht    exkom- 


»)  Ep.  146,  Vallarsi  I,  1074,  s.  L.Sanders,  Etudes  sur  St.  Jerome  1903, 
S.  296  ff.  de  la  distinction  entre  episcopes  et  presbytres,  hier  die  umfang- 
reiche Literatur,  die  sich  mit  dieser  Frage  beschäftigt. 

*)  Tit.  1,  9,  Vallarsi  VII,  712. 

^)  Ep.  69,  2,  Vallarsi  I,  410.  Der  Erlaß  des  Siricius  ad  Himerium 
Tarracon.  epis.  c.  10  und  11  vom  11.  Februar  385  bei  Hardouin,  Collectio 
Concil.  1,  847. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  49 

munizieren  und  aus  der  Kirche  herauswerfen.')  Im  Anschluß 
an  die  Ermahnung  des  Apostels,  daß  der  Bischof  kein  Wein- 
säufer sein  solle,  entwirft  er  mit  grellen  Farben  ein  Bild  von  den 
wilden  Orgien  seiner  Zeit.  Die  einen  werfen  in  der  Trunken- 
heit mit  Bechern  als  Geschossen  und  gießen  den  Inhalt  den 
anderen  ins  Gesicht;  die  anderen  schreien,  wieder  andere 
schlafen.  Sie  speien  aus,  um  trinken  zu  können,  und  sie 
trinken,  um  auszuspeien.  Als  persönliches  Bekenntnis  fügt  er 
dem  hinzu,  daß,  wenn  er  einmal  die  Abstinenz  unterbrach  — 
wir  dürfen  uns  also  in  dieser  Beziehung  von  der  asketischen 
Strenge  des  Hieronymus  keine  übertriebene  Vorstellung 
machen  — ,  es  ihm  stets  geschadet,  und  wenn  er  sie  wieder 
aufnahm,  stets  genützt  habe.')  Ein  eigentümliches  Schlaglicht 
auf  die  sittlichen  Zustände  in  der  Kirche,  wie  sie  durch  die 
Forderung  der  geschlechtlichen  Enthaltsamkeit  des  Klerus 
sich  herausbildeten,  wirft  auch  die  Bemerkung  des  Hierony- 
mus, doch  ja  die  Forderung  des  Apostels  zu  beachten,  die 
jungen  Frauen  in  aller  Liebe  zu  ermahnen,  da  es  häufig  vor- 
komme, daß  unsere  Liebe  zu  einer  Jungfrau  oder  Frau  zuerst 
heilig  beginne,  allmählich  aber  sinnlich  ausgehe.^)  Vielleicht 
dürfen  wir  auch  in  diesem  Wort  den  Niederschlag  innerer 
Kämpfe  sehen,  die  seiner  sinnlichen  Natur  das  Verhältnis  zu 
seinen  römischen  Freundinnen  bereitet  hatte. 

Nach  Vollendung  seines  Tituskommentars  wandte  sich 
Hieronymus  alttestamentlichen  Auslegungsschriften  zu.  Der 
Grund  dafür  ist  wohl  einmal  darin  zu  sehen,  daß  sein  beweg- 
licher Geist  gern  ein  neues  Arbeitsgebiet  in  Angriff  nehmen 
wollte;  dann  aber  entging  er  auch,  was  bei  einer  Fortsetzung 
der  Kommentierung  der  Paulinen  eintreten  mußte,  der  Nötigung, 
selbständig  zu  Werke  gehen  zu  müssen.  Bisher  hatte  er  die 
Kommentare  des  Origenes  benutzen  können;  zu  den  Briefen  an 
Timotheus  fehlte  aber  eine  solche  griechische  Vorlage,  die  ihm 
seine  Arbeit  erleichterte.  Endlich  hatte  Hieronymus  während  der 
ersten  Jahre  seines  bethlehemitischen  Aufenthalts  seine  Kennt- 
nisse in  der  hebräischen  Sprache  bereichert  und  vertieft;   und 

')  Tit.  1,  9,  Vallarsi  VII,  112. 
2)  Tit.  1,  7,  Vallarsi  VII,  700. 
»)  Tit.  2,  2,  Vallarsi  VII,  715. 

Orützniacher,   Hieronymus.    II.  4 


50  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

für  ihn,  der  es  verstand,  sein  Licht  vor  den  Leuten  leuchten 
zu  lassen,  war  im  Alten  Testament  ein  fruchtbares  Arbeits- 
gebiet gegeben. 


§  30. 

Die    hebräischen  Studien    des  Hieronymus    und    seine 
ersten  alttestamentlichen  Auslegungsschriften. 

Während  seines  Aufenthalts  als  Einsiedler  in  der  Wüste 
Chalcis  hatte  Hieronymus  bei  einem  Judenchristen  das  Studium 
der  hebräischen  Sprache  begonnen.')  Nach  seiner  Nieder- 
lassung im  Heiligen  Lande  setzte  er  es  mit  Eifer  fort.  Gegen 
hohes  Honorar  nahm  er  bei  dem  Juden  Bar  Anina  Unterricht, 
der  aber  Hieronymus  aus  Furcht  vor  seinen  Glaubensgenossen 
nur  des  Nachts  aufzusuchen  wagte.')  Rufin  beschuldigte  des- 
halb in  boshafter  Weise  den  Hieronymus,  daß  er  für  diesen 
Barrabas  Christus  verraten  habe,  indem  er  die  jüdische  Weis- 
heit der  christlichen  vorziehe. ')  Aber  auch  mit  anderen  jüdischen 
Christen  trat  er  in  Verbindung.  Schon  in  seinen  neutestament- 
lichen  Kommentaren  hatte  Hieronymus  mehrfach  von  ihm  durch 
jüdischeGelehrte  zugekommenen  Mitteilungen  Gebrauch  machen 
können.')  Mit  einem  Juden,  der  vorgab  in  Rom  Christ  geworden 
zu  sein,  disputierte  er  über  die  Differenzen  der  Genealogien  nach 
Matthäus  und  Lukas.  Ihm  imponierte  die  genaue  Schrift- 
kenntnis und  das  unglaubliche  Gedächtnis  der  Juden,  die,  vom 


')  s.  Band  I,  160. 

*)  Ep.  84,  3,  Vallarsi  I,  520;  Rahmer,  die  hebräischen  Traditionen  in 
den  Werken  des  Hieronyiiuis,  Quaestiones  in  Oenesin,  Breslau  1861  S.  8, 
Anni.  4  hat  die  Identifikation  des  Bar  Clianina  mit  einem  Haggadisten,  der 
in  Lydda  lebte,  wahrscheinlich  gemacht. 

=>)  Rufin,  Contra  Hier.  II,  12,  Vallarsi  II,  642;  Hier.  Contra  Rufin.  I,  13, 
Vallarsi  II,  469. 

*)  Gal.  3,  14,  Vallarsi  VII,  436;  die  Übersetzung  von  Deut.  21,  23, 
s.  Zahn,  Geschichte  des  neutest.  Kanons  II,  649,  Anm.  1. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  51 

Kindesalter  an  in  der  Heiligen  Schrift  unterrichtet,  alle  Genealogien 
von  Adam  bis  Zorobabel  und  alle  Zahlen  des  Alten  Testaments 
auswendig  hersagen  können.  Aber  er  tröstet  sich  dieser  Über- 
legenheit gegenüber  damit,  daß  die  Christen  mehr  auf 
den  Sinn  als  die  Worte  ihr  Augenmerk  richten.')  Je  länger 
je  mehr  wurde  er  sich  auch  der  großen  Schwierigkeit  bewußt, 
die  einem  Lateiner  bei  der  Aussprache  des  Hebräischen  ent- 
gegenstehen. Wenn  wir  einen  Akzentfehler  machen,  kurze 
Silben  lang  oder  lange  kurz  aussprechen,  so  pflegen  die  Juden 
über  uns  zu  lachen,  besonders  auch  bei  der  Aussprache  der 
Aspiraten  und  Gutturalen.  Daher  kommt  es,  daß  die  LXX 
die  Buchstaben  n  und  >,  weil  es  keine  doppelte  Aspiration 
im  Griechischen  gibt,  mit  anderen  Buchstaben  ausdrücken  und 
statt  Rahel,  Rachel,  statt  Jeriho,  Jericho  usw.  schreiben.  Bei 
anderen  Buchstaben  läßt  sich  dies  aber  nicht  machen,  da  die 
Juden  drei  verschiedene  S  haben,  während  die  Lateiner  und 
Griechen  nur  ein  S  haben.  Der  Aussprache  halber  hat 
Hieronymus  die  Hexapla  zu  Rate  gezogen,  von  der  er  sich 
aus  der  Bibliothek  von  Cäsarea  eine  Abschrift  fertigen  ließ, 
weil  hier  in  der  zweiten  Kolumne  das  Hebräische  mit 
griechischen  Buchstaben  wiedergegeben  war.  Der  Arbeit 
dieses  unsterblichen  Genies  —  so  bekannte  Hieronymus  — 
verdanken  wir  es,  daß  wir  nicht  so  sehr  den  Hochmut  der 
Juden  fürchten,  die  an  den  geöffneten  Lippen,  der  verdrehten 
Zunge,  dem  zischenden  Speichel  und  der  rauhen  Kehle  ihre 
Freude  haben.')  Hieronymus  glaubte  aber  nicht  ausgelernt 
zu  haben,  nachdem  er  sich  in  der  hebräischen  Sprache  hatte 
unterweisen  lassen.  Er  hatte  die  richtige  Empfindung,  daß 
die  Christen  für  das  sprachliche  Verständnis  des  Alten  Testa- 
ments auf  die  jüdischen  Rabbinen  angewiesen  seien.  Für  die 
Erklärung  des  schwierigen  Buches  Hiob  zog  er  daher  noch 
später  einen  Mischnahlehrer  aus  Lydda  heran,  der  sich  wie 
Bar  Anina  seine  Dienstleistungen  mit  schwerem  Golde  auf- 
wiegen ließ.)     Und  als  er  das  Buch  Tobia  übersetzte,  mußte 


»)  Tit.  3,  9,  Vallarsi  Vli,  736;  Tit.  2,  13,  Vallarsi  Vil,  726. 

2)  Tit.  3,  9,  Vallarsi  VII,  735. 

3)  Praef.  in  Job.,  Vallarsi  IX,  1100:  Comm.  in  Habacuc  2,  15,  Vallarsi 
Vi,  623,  Amos  3,  11;  Nahum  1,  9  und  2,  18;  Zach.  14,  10;  Maleachi  2,  13. 


52  Die  ersten  Jahre,  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

ihm  ein  Jude  oder  Judenchrist  helfen,  der  gleichmäßig  des 
Hebräischen  und  Aramäischen  kundig  war.')  Auch  bei  seinem 
ersten  alttestamentiichen  Kommentar  zum  Prediger,  den  er 
jetzt  in  Angriff  nahm,  stand  ihm  ein  Hebräer  beratend  zur 
Seite. 

Vor  fünf  Jahren  hatte  er  den  Prediger  Salomonis  in  Rom 
mit  Bläsilla  gelesen,  als  sich  die  junge  Witwe  einem  asketischen 
Leben  weihte.  Hieronymus  hatte  wohl  die  Lektüre  dieses 
Buches  gewählt,  um  ihr  die  Eitelkeit  der  Welt  und  ihrer  Lust 
vor  Augen  zu  stellen.  Auf  ihre  Bitte  hatte  er  dann  einen 
Kommentar  zu  schreiben  begonnen.  Da  trat  ihr  plötzlicher 
Tod  ein.  Dem  Andenken  der  früh  Dahingeschiedenen,  ihrer 
Mutter  Paula  und  ihrer  Schwester  Eustochium  ist  der  Kom- 
mentar gewidmet. 

In  der  Vorrede  bemerkt  Hieronymus  ausdrücklich,  daß 
er  keiner  Autorität  gefolgt  sei,  sondern  selbst  aus  dem 
Hebräischen  übersetzt  habe.  Nur  die  LXX  habe  er  berück- 
sichtigt, wo  sie  sich  nicht  zu  weit  vom  hebräischen  Texte 
entfernen,  und  gelegentlich  Aquila,  Symmachus  und  Theodotion 
herangezogen.')  Man  könnte  nun  hieraus  entnehmen,  daß 
Hieronymus  zum  ersten  Male  in  vollständiger  Unabhängigkeit 
von  früheren  Exegeten  gearbeitet  habe."*)  Dem  ist  aber  keines- 
wegs so.  Das  Verdienst  des  Hieronymus  besteht  nur  darin, 
daß  er  den  ins  Lateinische  übersetzten  hebräisciien  Text  seiner 
Exegese  zugrunde  gelegt  hat.  hn  übrigen  hat  er  hier  wie 
sonst  die  Arbeiten  älterer  Ausleger  benutzt,  hn  Kommentar 
verrät  er  seine  Bekanntschaft  mit  Kommentaren  zum  Prediger, 
die  von  Origenes,  Apollinaris  von  Laodicea,  Gregorius 
Thaumaturgus  und  Viktorin  von  Pettau  stammen.')  Da  uns 
diese  Werke    mit  Ausnahme  der  Metaphrasis  des  Gregorius  ) 

')  r^raef.  in  Mb.  Tdbiae,  Vallarsi  X,  3  u.  4. 

■-')  Praef.  in  Eccl.,  Vallarsi  VII,  381. 

')  s.  Zöckler,  Hieronymus  S.  166. 

••)  Die  vier  Kommentatoren  zitiert  er  Eccl.  4,  13,  Vallarsi  Vli,  424, 
wobei  er  die  Auslefjun<2[en  des  Gregorius  in  metaphrasi  ecclesiasticae  und 
des  Apollinaris  wörtlich  wiedergibt.  Eccl.  12,  5  erwähnt  er  noch  den 
Apollinaris  und  macht  die  Mitteilung,  daß  dieser  dem  Text  des  Symmachus 
folge,  Vallarsi  VII,  491. 

^)  Das  Werk,  das  auf  uns  gekommen  ist,  enthält  auch  das  Zitat  des 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  53 

fast  vollständig  verloren  sind,')  so  läßt  sich  die  Abhängigkeit 
des  Hieronymus  nicht  genauer  kontrollieren.  Nur  die  Be- 
nutzung des  Origenes  ist  durch  den  ganzen  Kommentar  hin- 
durch deutlich  zu  erkennen.)  Gleich  im  Eingang  des  Kom- 
mentars begegnet  uns  eine  auf  Origenes  zurückgehende  Ein- 
teilung der  salomonischen  Schriften:  die  Proverbien  sind  für 
die  Kinder,  der  Prediger  für  das  Mannesalter,  das  Hohelied 
für  das  Greisenalter  bestimmt  und  verhalten  sich  wie  Ethik, 
Physik  und  Logik  in  der  Philosophie  zu  einander.^)  Zu 
Eccl.  1,6  gibt  er  die  Deutung  des  Origenes,  der  die  Gestirne 
als  beseelte  Wesen  auffaßt,  ohne  eine  Kritik  daran  zu  knüpfen. 
Später  hat  er  behauptet,  daß  er  im  Kommentar  zum  Prediger 
seinen  Dissensus  gegenüber  dieser  Heterodoxie  des  Origenes 
für  „die  Klugen"  deutlich  zum  Ausdruck  gebracht  hätte.')  Er 
hat  hier  einmal  wieder  der  Wahrheit  nicht  die  Ehre  gegeben. 
Auch  der  Klügste  konnte  aus  dem  Kommentar  nicht  ent- 
nehmen, daß  er  diese  Annahme  des  Origenes  mißbillige. 
Überall,  wo  er  Origenes  in  seinem  Kommentar  benutzt  und 
von  der  Präexistenz  der  Seelen,  von  ihrem  vorzeitlichen 
Sündenfall,  ihrer  Einkerkerung  in  die  Leiber  und  ihrer  end- 
lichen Beseligung  handelt,  )  verhält  er  sich  rein  referierend. 
Auch  die  Polemik  gegen  Marcion  und  die  tropologische  Aus- 
legung von  Eccl.  7,  27,  die  unter  den  Männern  die  Gedanken, 


Hieronymus  und  erweist    sich  dadurch   als  echt,    s.  Bonwetsch,    Oregorius 
R.  C.3  VII,  157;  Harnack,  Altchristi.  Literaturgeschichte  I,  430. 

')  Von  Apollinaris  sind  bisher  keine  Bruchstücke  seines  Kommentars 
veröffentlicht,  vielleicht  stecken  sie  noch  in  den  ungedruckten  Catenen, 
Krüger,  Apollinaris  R.  E.^  I,  673;  auch  von  Victorin  ist  nichts  erhalten, 
s.  Harnack,  Altchristi.  Literaturgeschichte  11,  732.  Die  Auslegung  des 
nicht  genannten  beredten  Mannes  Eccl.  3,  5  u.  7,  14,  Vallarsi  lil,  409 
u.  442  geht  vielleicht  auf  Gregor  von  Nazianz  zurück. 

-)  Von  Origenes  existieren  noch  drei  unbedeutende  Fragmente 
Gallandi,  Bibl.  patr.  XIV,  Appendix  S.  30  zu  Eccl.  3,  3;  3,  7  u.  3,  16  u.  17, 
die  sämtlich  von  Hieronymus  benutzt  sind,  s.  Harnack,  Altchristi.  Literatur- 
geschichte I,  358  u.  404. 

3)  Eccl.  1,  1,  Vallarsi  III,  384;    ep.  30,  1,  s.  Vallarsi  III,  389,    Anm.  e 
u.  Zöckler  S.  167. 

*)  Vallarsi  III,   383;    Contra   Johannem  Jeros.  c.  17,    Vallarsi  II,  423. 

'=)  Eccl.  1,  9,  Vallarsi  III,  391;  er  zitiert  hier  jreQi  ägyöjv  lib.  III,  c.  5, 
s.  ep.  124,  9;  Eccl.  4,  3  u.  6;  6,  10;  8,  12;  9,  4;  12,  6. 


54  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

unter  den  Weibern  die  Werke  versteht,  geht  auf  Origenes 
zurück.') 

Neben  den  griechischen  und  lateinischen  Auslegern  hat 
aber  auch  Hieronymus  sehr  ausgiebig  aus  der  Quelle  der 
Hebräer  geschöpft.  Sein  Hebräer  hat  ihm  die  zeitgenössische 
Auslegung  des  Predigers,  wie  sie  die  Rabbinen  übten,  ver- 
mittelt. Dies  gibt  seinem  Kommentar  einen  besonderen  Wert. 
Hieronymus  weiß,  daß  unter  den  Juden  Kontroversen  über 
die  Aufnahme  des  Predigers  in  den  Kanon  bestanden.  Einige 
fürchteten,  daß  das  Buch  geradezu  zum  Oenußleben  anreizen 
könnte,  und  sie  wollten  seine  Aufnahme  in  den  Kanon  nur 
mit  dem  letzten  Kapitel  entschuldigen,  in  dem  die  Gottesfurcht 
und  das  Bewahren  der  göttlichen  Gebote  eingeschärft  würde. ') 
Einmal  nannte  er  seine  jüdische  Autorität.  Zu  Eccl.  4,  13; 
„Besser  ist  ein  armer  und  weiser  Knabe,  als  ein  reicher  und 
törichter  König"  hat  ihm  sein  Hebräer  die  Auslegung  des 
berühmten  Rabbinen  Ben  Akiba  mitgeteilt,  der  die  Stelle  auf 
den  inneren  Menschen,  der  nachdem  14.  Jahre  in  uns  geboren 
wird,  im  Gegensatz  zu  dem  äußeren  Menschen,  der  aus  dem 
Mutterleibe  hervorgeht  und  vom  Laster  nicht  lassen  will, 
bezog.') 

Die  Exegese  der  Rabbinen  zum  Prediger,  in  die  uns 
Hieronymus  einen  Blick  tun  läßt,  ist  nun  um  nichts  besser 
als  die  Exegese  der  Kirchenväter.  Auch  sie  allegorisieren  in 
der  kühnsten  und  geschmacklosesten  Weise.  Die  Flüsse,  die 
wieder  an  ihren  Ort  zurückkehren,  sind  die  Menschen,  die 
wieder  zu  Staub  werden.')  Der  Gerechte,  der  in  seiner  Ge- 
rechtigkeit untergeht,  und  der  Gottlose,  der  lange  lebt  in  seiner 
Bosheit,  wird  auf  die  Söhne  Aarons  und  Manasses  bezogen;') 
das  Wort  des  Predigers:  Wolle  nicht  zu  gerecht  sein,  auf  Saul, 
der  Agag  schonte.")     Unter  dem   lebenden  Hund,    der    besser 


')  Eccl.  11,  2,    Valiarsi  111,  4S0,    Vallarsi  111,  448,    s.    auch    Tit.  1,  6, 
Vallarsi  VII,  699. 

«)  Eccl.  1,  1,  Vallarsi  VII,  385;  Eccl.  12,  13,  Vallarsi  III,  496. 

»)  Vallarsi   111,  424. 

*)  Eccl.  1,  7,  Vallarsi  111,  389. 

*)  Eccl.  7,  15,  Vallarsi  III,  442. 

«)  Eccl.  7,  10,  Vallarsi  III,  444. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  55 

als  der  tote  Löwe  ist,  werden  die  lebenden  Rabbinen,  die  besser 
als  Moses  und  die  toten  Propiieten  sind,  verstanden.') 

Der  Prediger  ist  nach  Hieronymus  ein  Werk  des  Königs 
Salomo,  von  dem  er  auch  Jesus  Sirach  geschrieben  sein  läßt. 
Salomo  hat  nach  der  Überlieferung  der  Hebräer  das  Buch  ge- 
schrieben, um  Buße  zu  tun,  weil  er  auf  Weisheit  und  Reich- 
tum vertrauend,  Gott  durch  Vielweiberei  beleidigt  hatte.") 
Interessant  ist  es,  wie  sich  Hieronymus  mit  dem  Inhalt  des 
merkwürdioen  Buches  abzufinden  sucht.  Einmal  stellt  er  neben 
den  buchstäblichen  Sinn  des  Buches  den  geistlichen  Sinn, 
nach  dem  unter  dem  Prediger  Christus  begriffen  werden  soll, 
ohne  jedoch  diese  doppelte  Auslegung  reinlich  und  konsequent 
durchzuführen.  Dann  aber  bereiten  dem  christlichen  Ausleger 
die  Worte  des  Predigers  große  Schwierigkeiten,  in  denen  ein 
Fortleben  des  Menschen  nach  dem  Tode  geleugnet  wird  oder 
mindestens  dahingestellt  bleibt.  Die  Worte:  „Wer  weiß,  ob  der 
Geist  der  Menschenkinder  aufsteigt  und  der  Geist  des  Viehs 
hinabsteigt"  glaubt  er  nicht  auf  die  Vernichtung  der  Seele 
mit  dem  Körper,  sondern  auf  die  Unterwelt,  in  die  vor  der 
Ankunft  Christi  alles  in  gleicher  Weise  herabsteigen  mußte 
deuten  zu  müssen.  )  Da  er  dem  9.  Kapitel,  in  dem  der 
Prediger  zum  Lebensgenuß  auffordert,  keinen  christlichen  Sinn 
abgewinnen  kann,  verfällt  er  auf  den  Ausweg,  daß  hier  der 
Prediger  gar  nicht  seine  Meinung,  sondern  die  Epikurs, 
Aristipps,  der  Kyrenaiker  und  des  „übrigen  Viehs"  der 
Philosophen  wiedergäbe,  die  er  dann  erst  im  folgenden  wider- 
lege.') Darum  füge  der  Prediger  im  H.  Kapitel  der  epikuräischen 
Lebensregel  „Freue  dich,  Jüngling,  in  deiner  Jugend,  und  laß 
dein  Herz  guter  Dinge  sein"  die  ernste  Mahnung  hinzu  „aber 
wisse,  daß  dich  Gott  um  dies  alles  vor  Gericht  fordert".') 

')  Eccl.  9,  4,  Vallarsi  lli,  459,  s.  Eccl.  3,  1,  Vallarsi  III,  407  die  Be- 
ziehung auf  Israel;  zu  Eccl.  1,  14;  Eccl.  3,  9;  Eccl.  5,  5;  Eccl.  5,  6; 
Eccl.  7,  8;  Eccl.  8,  14;  Eccl.  9,  13  Exegesen,  die  er  von  den  Hebräern 
hat;  vgl.  auch  Eccl.  10,  4;   10,  5;  11,  2;  11,  9. 

'')  Eccl.  1,  12  und  Eccl.  10,  8,  wo  er  Sirach  22,  29  zitiert,  Vallarsi 
III,  472. 

»)  Eccl.  3,  21,  Vallarsi  III,  416. 

')  Eccl.  9,  7ff.,  Vallarsi  III,  461. 

*)  Eccl.  11,  9ff,  Vallarsi  III,  486. 


56  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Praktische  Anwendungen  auf  zeitgenössische  VerhäHnisse 
fehlen  hier  fast  vollständig.  Nur  einmal  führt  er  einen  kräftigen 
Hieb  gegen  die  Bischöfe,  die  nach  ihrem  Tode  in  feierlicher 
Leichenrede  selig  gepriesen  werden,  während  sie  in  ihrem 
Leben  andere  nur  geärgert  haben.  Es  ist  auch  schwer  einen 
Bischof  anzuklagen,  da  er  selbst,  wenn  er  der  Sünde  überführt 
ist,  nicht  bestraft  wird.')  Auch  seine  ewige  Klage  wiederholt 
er  über  die  Zungenfertigkeit  in  der  Kirche,  die  nach  dem 
Beifall  der  Menge  hascht,  während  ein  wirklich  gelehrter 
Mann  —  er  denkt  wohl  an  sich  —  verborgen  bleibt  und 
Verfolgungen  leiden  muß.)  Es  ist  das  traurige  Los  der  Ge- 
lehrten, die  Tag  und  Nacht  Bücher  schreiben,  daß  Toren  aus 
ihren  Büchern  die  Samen  der  Häresien  entnehmen  und  fremde 
Arbeiten  verleumden.  ) 

Nach  der  Vollendung  des  Kommentars  zum  Prediger 
nahm  Hieronymus  drei  Arbeiten  in  Angriff,  durch  die  er  hoffen 
durfte,  die  lateinische  Literatur  zu  bereichern,  da  sie  bisher 
nichts  ähnliches  besaß.  Er  schrieb  ein  Buch  über  die  hebräischen 
Eigennamen,  ein  zweites  Buch,  betitelt  „Hebräische  Unter- 
suchungen zum  Buch  der  Genesis",  und  ein  drittes  über  die 
Lage  und  Namen  der  hebräischen  Örter.  Die  erste  und  letzte 
Arbeit  sind  im  wesentlichen  nichts  als  Übersetzungen  von 
Werken  des  Origenes  und  Eusebius  von  Cäsarea.  Sie 
konnten  von  Hieronymus  schnell  fertiggestellt  werden  und 
boten  ihm  eine  willkommene  Gelegenheit,  seinen  literarischen 
Ruhm  ohne  große  Mühe  zu  mehren.  Die  hebräischen  Quästionen 
zur  Genesis  stellen  aber  ein  völlig  neues  literarisches  Unter- 
nehmen dar,  zu  dem  er  allein  von  seinen  Zeitgenossen  auf 
Grund  seiner  Kenntnis  der  hebräischen  Sprache  befähigt  war. 
Mit  der  ihm  eigenen  Bescheidenheit  hat  er  deshalb  in  der 
Vorrede  zu  diesem  Werk  seine  Arbeit  als  ein  neues,  sowohl 
Griechen  wie  Lateinern  bisher  unbekanntes  Werk  ausposaunt.') 

Nach  der  Vorrede  zu  dem  ersten  der  drei  genannten 
Werke    benutzte    Hieronymus    ein    griechisches  Onomastiken, 


»)  Eccl.  S,  10,  Vallarsi  111,  454. 
*)  Eccl.  9,  11,  Vallarsi  111,  464. 
8)  Eccl.  2,  21,  Vallarsi  111,  405.' 
*)  Praef.  in  Onomastica  sacra  -ed.  Lagarde  S.  26. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  57 

das  ihm  als  Arbeit  des  Origenes  überliefert  war  und  ursprüng- 
lich auf  Philo  zurückging.  Origenes  hatte  das  Werk  des 
Philo  durch  Hinzufügung  der  Verdolmetschung  der  neutesta- 
mentlichen  Eigennamen  erweitert.  Wir  haben  keinen  Grund, 
diese  Angaben  des  Hieronymus  zu  bezweifeln,  da  sie  durch 
das  Onomastikon  ihre  Bestätigung  empfangen.') 

Daß  Hieronymus  ein  Werk  des  Origenes  als  Vorlage 
hatte,  beweist  zunächst  die  Tatsache,  daß  er  bei  den  neu- 
testamentlichen  Eigennamen  am  Schluß  die  Eigennamen  des 
Barnabasbriefes  ebenfalls  interpretiert.  Da  Hieronymus  diesen 
Brief  zu  den  Apokryphen  rechnet,  so  hätte  er  ihn  sicher  nicht 
ohne  Unterscheidung  den  kanonischen  Büchern  beigeordnet, 
wenn  er  hier  nicht  einfach  dem  Origenes  folgte,  der  ihn  als 
8.  katholischen  Brief  in  seinem  Kanon  hatte.')  Daß  aber  dem 
Onomastikon  eine  Arbeit  Philos  zugrunde  lag,  wird  durch 
Vergleichung  mit  den  Erklärungen  der  Eigennamen  in  den 
Werken  Philos  zur  Gewißheit  erhoben.  )  Dieses  Philonisch- 
Origenistische  Onomastikon  war  nach  Hieronymus  in  den 
griechischen  Bibliotheken  vielfach  zu  finden;  aber  die  vor- 
handenen Exemplare  differierten  stark  von  einander,  und  die 
Anordnung  der  Namen  war  so  verworren,  daß  er  sich  ent- 
schloß, auf  Zureden  der  Brüder  Lupulus  und  Valerianus  — 
vermutlich  Mönche  des  Klosters  in  Bethlehem  —  und  um  der 
praktischen  Brauchbarkeit  des  Werkes  willen  die  biblischen 
Schriften  der  Reihe  nach  durchzugehen  und  das  ganze  Material 
neu  zu  bearbeiten.  Diese  Arbeit  war  aber  im  wesentlichen 
formaler  Natur,  wie  sich  aus  einem  Vergleich  mit  den  uns 
erhaltenen  griechischen  Onomastika  ergibt,  die  wohl  fast 
sämtlich  Rezensionen  oder  Auszüge  aus  dem  Origenistischen 
Onomastikon  sind,  wenn  sie  auch  nicht  alle  unter  seinem  Namen 
überliefert  sind.') 


')  Zahn,  Geschichte  des  neut.  K.  II,  Q48ff. 

-)  Zahn,  Geschichte  des  neut.  Kanons  II,  951. 

')  Vallarsi  III,  699ff.  Libri  nominum  Hehraicorum  pars  quaenam 
ex  operibus  Philonis  Judaei  collecta. 

*)  In  den  Onomastica  sacra  Vaticana  bei  Lagarde-  S.  202—224  haben 
wir  es  sicher  mit  Origenistischem  Gut  zu  tun,  wie  die  Vergleichung  mit 
dem  Onomasticon  des  Hieronymus  Vallarsi  III,  353ff.  lehrt.     Es  sind  zum 


58  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Hieronymus  stellte  zunächst  im  Eigennamenlexikon  die 
Ordnuno-  wieder  her,  indem  er  die  Namen  nach  den  einzelnen 
biblischen  Büchern  des  Alten  und  Neuen  Testaments  und 
innerhalb  der  einzelnen  Bücher  nach  der  alphabetischen  Reihen- 
folge anordnete.  Diese  Anordnung  wird  die  ursprüngliche 
gewesen  sein,  während  die  Zusammenstellung  sämtlicher 
Eigennamen  aller  biblischen  Bücher  nach  dem  Alphabet,  wie 
sie  zum  Teil  in  den  griechischen  Onomastica  vorliegt,')  der 
Bequemlichkeit  halber  und  zur  Vermeidung  zahlreicher  Wieder- 
holungen gemacht  wurde. 

Was  die  sachliche  Arbeit  des  Hieronymus  an  dem 
Origenistischen  Onomasticon  betrifft,  so  kann  ihm  der  Vor- 
wurf nicht  erspart  bleiben,  daß  er  sich  wider  besseres 
Wissen  sklavisch  an  seine  Vorlage  angeschlossen  und  die 
Etymologien  des  Origenes,  der  doch  nur  mit  der  dürftigsten 
und  äußerlichsten  Kenntnis  des  Hebräischen  ausgerüstet 
war,  kritiklos  zu  eigen  gemacht  hat.  Obwohl  er  selbst 
damals  bereits  gründlichere  Kenntnisse  im  Hebräischen 
besaß  und  in  den  Untersuchungen  zur  Genesis  über  die 
Griechen  spottet,   die  mit  einem  hebräischen  Namen  wie  Sara 


Teil  Auszüge,  die  zu  bestimmten  Zwecken  gemacht  sind,  wie  z.  B.  das 
erste  Fragment  eines  Onomastikon  rninivria  nov  ri'  nj  ihojTi'FvCTi.t  yonipij 
i'ii(prQoiiivo)i'  ifioaiKihv  nroiiaror,  in  dem  sich  ein  Verzeichnis  der  zwölf 
Apostel  nn't  13  Namen,  darunter  Paulus,  Matthäus,  Markus,  Lukas,  findet; 
das  zweite  Fragment  enthält  nur  in  den  Evangelien  enthaltene  Eigennamen, 
das  dritte  nur  die  Namen  alttestamentlichcr  Patriarchen,  das  vierte  nur 
weibliche,  das  fünfte  nur  männliche  Namen.  Am  ausführlichsten  ist  das 
alphabetisch  geordnete  und  Lexikon  betitelte  Verzeichnis  des  Codex 
Vaticanus  1456  Lagarde*  S.  212,  dessen  Etymologien  mit  Hieronymus 
vielfach  übereinstimmen;  s.  Vallarsi  III,  605 ff.  Dagegen  weichen  die 
Olossae  Colbertiiiae  Lagarde^  S.  224ff.,  Vallarsi  III,  b67  und  noch  stärker 
das  Onomasticon  Coisliaiuim  Lagarde-'  S.  194  ff.  von  den  Etymologien 
das  Hieronymus  ab,  so  daß  hier  sehr  fraglich  ist,  ob  diese  Onomastika 
auf  F^hilo-Origenes  zurückgehen.  Aus  dem  Codex  Marchialanus  der  LXX, 
der  nicht  nur  die  Hexapla,  sondern  auch  die  t6i«)i  des  Origenes  benutzt 
hat,  hat  E.  Klostermann,  Z.  f.  a.  W.  XXIII,  135—140,  1903,  eine  Anzahl 
übersetzter  Eigennamen,  die  sich  als  Randbemerkungen  finden,  ediert. 
Sie  gehen  vermutlich  auf  Origenes  zurück  und  die  Übereinstimmung  mit 
dem  Hieronymianischen  Onomastikon  ist  hier  eine  ziemlich  weitgehende. 
')  s.  Lagarde^  S.  212  ff. 


Die  ersten  Jalire  im  Kloster  zu  Bethlehem.  59 

alle  möglichen  etymologischen  Spielereien  trieben,  obwohl  er 
den  richtigen  Grundsatz  aufstellt,  daß  man  um  ein  einer 
Sprache  angehöriges  Wort  zu  etymologisieren  keine  fremde 
Sprache  heranziehen  dürfe,')  schämt  er  sich  nicht,  die  Ety- 
mologien griechischer  und  lateinischer  Namen  des  Neuen 
Testaments,  wie  Petrus,  Blastus,  Archelaus,  Diabolus,  Ephesus, 
Quadrans,  Caesar,  Julius,  die  Origenes  aus  dem  Hebräischen 
abgeleitet  hatte,  einfach  abzuschreiben. ')  Nur  bisweilen 
schlägt  ihm  sein  wissenschaftliches  Gewissen  und  er  bemerkt 
dann,  daß  diabolus  richtiger  nach  dem  Griechischen  der 
Ankläger,  Mesopotamia  das  Land  zwischen  Euphrat  und 
Tigris,  Theophilus  der  von  Gott  Geliebte,  Areopagus  der 
Hügel  des  Mars,  Eutychus  der  Glückliche  bedeute.  ) 
Damit  man  ihn  aber  nicht  der  Unwissenheit  beschuldigen 
kann,  gibt  er  die  summarische  Erklärung  ab,  daß  alle  Namen 
der  Apostelgeschichte  griechischen  und  lateinischen  Ursprungs 
sind  und  die  gegebenen  Etymologien  nur  gezwungen 
aus  der  hebräischen  Sprache  abgeleitet  werden  können, 
„wie  dem  Leser  deutlich  sein  wird".^)  Er  verfährt  aber 
im  einzelnen  ganz  willkürlich  und  inkonsequent.  Während 
er  z.  B.  bei  den  Eigennamen  der  Apostelgeschichte  wie 
Alexander,  Agabus,  Apollonia,  Athenienses,  Apelles,  Artemis, 
Antipatris,  Adrumetium,  Adria,  Cappadocia,  Festus,  ausdrücklich 
auf  die  fehlerhafte  Etymologie  aufmerksam  macht,')  unterläßt 
er  es  wieder  bei  anderen  Namen  aus  Bequemlichkeit  und 
Flüchtigkeit.  Gewiß  war  Hieronymus  trotz  seiner  umfang- 
reichen, ja  in  seiner  Zeit  einzigartigen  Kenntnisse  nicht  im- 
stande, ein  fehlerloses  Eigennamenlexikon  zu  schreiben;  schon 
die  assyrischen,  babylonischen  und  ägyptischen  Namen  mußten 
ihm    unüberwindliche  Schwierigkeiten    bereiten.    Vielleicht    ist 


')  Quaest.  in  Gen.  17,  15,  Lagarde  S.  27. 

^)  s.  J.  Clericus,  Quaestiones  Hieronymianae,  Amsterdam  171Q, 
S.  396  ff. 

^)  Diabohis,  Lagarde  S.  93,  Mesopotamia,  Lagarde  S.  103,  Eutychus, 
Lagarde  S.  102;  Theophilus,  Lagarde  S.  106;  s.  auch  Lydia,  Lagarde  S.  103; 
Andreas,  Lagarde  S.  99. 

')  Lagarde  S.  101;  S.  103;  S.  104. 

•')  Lagarde  S.  100  u.  S.  102. 


60  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Betlilehem. 

noch  heute  kein  einzelner  zur  allseitig  befriedigenden  Lösung 
einer  solchen  Aufgabe  befähigt;  aber  Besseres,  als  er  ge- 
schaffen hat,  hätte  er  bei  etwas  gründlicherer  Erfassung  seiner 
Aufgabe  leisten  können.  Zwar  hat  er  an  einer  Reihe  von 
Etymologien  Korrekturen  angebracht,')  bei  anderen  auf  seine 
hebräischen  Quästionen  und  sein  Buch  über  die  Örtlichkeiten 
verwiesen,^)  in  denen  er  diese  Namen  genauer  behandle,  bei 
wieder  anderen  den  hebräischen  Text  herangezogen.')  Einmal 
hat  er  beim  Buche  Levitikus  einen  Nachtrag  der  von 
Origenes  ausgelassenen  Eigennamen  gemacht.^)  Er  hat  auch 
die  Zahl  der  etymologischen  Deutungen  vermehrt,  )  bei 
neutestamentlichen  Eigennamen  ihren  syrischen  und  nicht 
hebräischen  Ursprung  hervorgehoben ")  und  bei  anderen  Worten 
ihre  ägyptische  Ableitung  notiert.')  Aber  alle  diese  Ansätze 
zur  Verbesserung  und  zur  Kritik  sind  ohne  durchgreifende 
Konsequenz  gemacht.  Und  von  phantastischen  etymolo- 
gischen Vorstellungen  hat  er  sich  trotz  seiner  umfangreichen 
Sprachkenntnisse  nicht  frei  gemacht.  Er  läßt  einerseits  Eigen- 
namen wie  Berenice,  Sarepta  und  Greta  aus  syrischen,  und 
hebräischen  Bestandteilen   zusammengesetzt   sein')    und   zitiert 


')  Zu  Chermel  Jos.  12,  15,  Lagarde  S.  55;  Joacli  Jes.  15,  4,  Lagarde 
S.  81;  Aroer  Jer.  48,  Q,  Lagarde  S.  85;  Alphaeus  Mattli.  10,  3,  Lagarde 
S.  93;  Essai  Matth.  1,  5,  Lagarde  S.  Q3;  Josafat  Matth.  1,  8,  Lagarde 
S.  94;  Joram  Matth.  1,  8,  Lagarde  S.  94;  Maria  Matth.  1,  6,  Lagarde  S.  95, 
wo  er  für  die  Bedeutung  Stella  niaris  sive  amarum  mare  eintritt,  Magda- 
lene  Matth.  27,  56,  Lagarde  S.  95;  Naason  Matth.  2,  23,  Lagarde  S.  95. 

-)  Solche  Verweisungen  zu  Efrata  Ruth  4,  1;  Escaboth  1  Reg.  14,  3; 
Subochai  2  Reg.  21,  18;  Chabratha  4  Reg.  5,  19;  Thelabim  Ez.  3,  15; 
Tliamnuiz  Ez.  8,  14;  Ausitidi  Job.   1,  1;  Galaad  Gen.  31,  47;    Eleon  Num. 

26,  26. 

")  Maseroth  Lagarde  S.  47,  Sufan,  Lagarde  S.  49. 

*)  Vier  Namen  umfaßt  der  Nachtrag  Lagarde  S.  42. 

")  z.  B.  Seth,  Lagarde  S.  37;    Rachel  S.  36;  Esau  S.  32;  Maria  S.  95. 

•■•)  Acheldamach  Matth.  27,  8;  Bethfage  Matth.  21,  1;  Barrabas  Matth. 

27,  16;  Golgotha  Matth.  27,  33;  Iturea  Luk.  3,  1;  Abba  Mark.  15,  43; 
Talitha  cumi  Mark.  5,  41;  Zachaeus  Luk.  19,  2;  Martha  Luk.  10,  38;  Beroea 
Act.  17,  10;  Ellada  Act.  20,  2;  Maran  atha  1.  Kor.  16,  22. 

')  Somthonfanech  nach  Hieronymus  zu  lesen  Zapfanethfane  Lagarde 
S.  138,  s.  Quaestiones  in  Gen.  41,  45. 

")  Greta  inter  syrum    et    hebraeum  Act.  2,  1 1 ;    Berenice  Act.  25,  13; 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  61 

eine  wunderliche  Etymologie  des  Eigennamen  Syrtis  aus 
Sallust,')  um  mit  seinen  Kenntnissen  zu  renommieren.  Und 
anderseits  überrascht  er  den  Leser  mit  wiri<lichen  Kenntnissen, 
indem  er  ihm  mitteilt,  daß  das  lateinische  Wort  Canna,  das 
in  der  Tat  ein  semitisches  Lehnwort  ist,  aus  dem  Hebräischen 
stamme-)  und  Barsabas  und  Bariona  Zusammensetzungen  aus 
der  hebräischen  und  syrischen  Sprache  sind. 

Viele  der  sonderbaren  und  befremdlichen  Deutungen  gehen 
aber  darauf  zurück,  daß  dem  Hieronym.us  kein  vokalisierter  und 
mit  diakritischen  Zeichen  versehener  Text  vorlag,  und  daß  er 
ferner  vielfach  wie  Origenes  nach  dem  Gehör,  d.  h.  nach  dem 
äußeren  Wortklang,  etymologisierte.")  Vor  allem  aber  dürfen 
wir  eins  bei  der  Beurteilung  dieses  Werkes  nicht  außer  acht 
lassen.*)  Das  Werk  des  Hieronymus  wie  das  ihm  zugrunde 
liegende  Werk  Philos  und  Origenes  sollte  nicht  in  erster  Linie 
wissenschaftlichen,  sondern  erbaulichen  Zwecken  dienen.  Es 
kam  den  Autoren  daher  weniger  auf  die  sprachliche  Korrekt- 
heit wie  auf  die  asketische  Brauchbarkeit  und  den  mystischen 
Tiefsinn  ihrer  Etymologien  an.  Die  Folgezeit  hat  es  in 
diesem  Sinne  ausgiebig  benutzt.  Etwas  Besseres  an  die  Stelle 
zu  setzen  war  man  nicht  imstande.  Man  bewunderte  die  un- 
übertrefflich scheinende  Gelehrsamkeit  und  schöpfte  aus  dieser 
unversiegbaren  Quelle  für  Exegese  und  Predigt  das  ganze 
Mittelalter  hindurch. 

Gleichzeitig  mit  dem  Onomasticon  hatte  Hieronymus 
seine  hebräischen  Untersuchungen  oder  Traditionen  zur  Ge- 
nesis auszuarbeiten  begonnen.  Den  Anstoß  zu  diesem,  wie 
wir  oben  bemerkten,  völlig  neuen  literarischen  Unternehmen 
hatte  ihm  jedenfalls  das  Onomasticon  gegeben.  Die  Diffe- 
renzen zwischen    dem  Text    der  LXX    und    dem    hebräischen 


Barsabas  Act.  1,  23;  Bariona  Matth.  16,  17  syrum  est  pariter  et  hebraeum, 
bar  qiiippe  lingua  syra  filius  et  iona  coluniba  utroque  sermone  dicitiir; 
Sarepta  Luk.  4,  26. 

')  Syrtis  a  tractu  Act.  27,  17,  Lagarde  S.  lOS,  s.  Bell.  Jug.  c.  78. 

-)  zu  Cane  Jos.  16,  8  calamus;  notandum,  quod  latinum  canna  de 
lingua  hebraea  sumptum  est,  Lagarde  S.  55. 

')  z.  B.  die  Deutungen  zu  Gen.  30,  11  u.  Gen.  30,  26;  s.  dazu 
Rahmer,  Die  hebräischen  Traditionen,  S.  71. 

'*)  s.  auch  Zöckler,  Hieronymus  S.  169. 


62  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Text  waren  ihm  stärker  zum  Bewußtsein  gekommen,  und  die 
Notwendigkeit  iiatte  sich  ihm  aufgedrängt,  für  die  Ety- 
mologien der  Eigennamen  auf  die  hebräischen  Traditionen 
zurückzugreifen,  die  ihm  seine  jüdischen  Lehrer  vermittelten. 
In  der  Vorrede  zu  seinem  Werke  kündigte  Hieronymus  solche 
Untersuchungen  zu  allen  Büchern  des  Alten  Testaments  an. 
Dieser  Plan  ist  nicht  zur  Ausführung  gelangt;  denn  die  auf 
uns  gekommenen  Quästionen  zu  den  Büchern  der  Könige  und 
der  Chronik,')  in  denen  Rahmer'")  echte  Quästionen  des  Hiero- 
nymus in  ihrem  ersten  Entwürfe  vermutete,  stammen  nicht 
von  der  Hand  des  Kirchenvaters.  In  Sprache  und  Anlage 
sind  sie  ganz  anders  geartet  als  seine  Quästionen  zur  Genesis, 
und  Rabanus  Maurus,  der  sie  benutzte,  schrieb  sie  ausdrück- 
lich einem  Hebräer  zu,  der  zu  seiner  Zeit  lebte. ^)  Durch  die 
Übersetzung  des  Alten  Testaments  aus  dem  hebräischen  Grund- 
text und  durch  seine  ausgeführten  Kommentare  zu  den  pro- 
phetischen Büchern  des  Alten  Testaments  wurde  für  Hiero- 
nymus die  Fortführung  seines  Quästionenwerkes  überflüssig. 

Die  Absicht  seines  Werkes  war,  das  Mißtrauen  gegen 
den  hebräischen  Text  zu  beseitigen.  Die  altlateinische  Über- 
setzung, die  er  mit  den  griechischen  Übersetzungen  und  dem 
hebräischen  Texte  verglich,  wollte  er  nach  dem  Urtext  emen- 
dieren.  Wir  haben  es  hier  also  mit  einer  Vorarbeit  zu  seinem 
großen  Übersetzungswerk  des  Alten  Testaments  zu  tun.  Da- 
neben aber  wünschte  Hieronymus  Namen,  Orte  und  Sachen 
aus  der  hebräischen  Sprache  zu  erklären  und  so  das  Ona- 
masticon  und  das  Buch  der  Örtlichkeiten  durch  die  Quästionen 
zu  ergänzen  und  zu  korrigieren.  Hieronymus  wußte,  daß  sein 
Unternehmen,  den  hebräischen  Text  zu  der  ihm  gebührenden 
Anerkennung  zu  bringen,  auf  Widerstand  stoßen  würde.   Hatte 


')  Vallarsi  III,  753—822. 

^)  Rahmer,  Die  hebräisclien  Traditionen,  S.  8,  Anm.  2. 

^)  Vallarsi  III,  753,  Admonitio;  auch  Tillemont,  Memoires  XII,  633, 
liat  die  Abfassunj];  weiterer  Abschnitte  der  Quästionen  über  die  Genesis 
hinaus  angenommen,  da  im  Liber  locorum  auf  Quästionen  hingewiesen 
wird,  die  sich  in  den  Quästionen  zur  Genesis  nicht  finden.  Möglich  bleibt 
es,  daß  Hieronymus  weitere  Quästionen  bereits  vorbereitet,  aber  nicht  ab- 
geschlossen hat,  die  dann  verloren  gingen;  s.  auch  Klosterniann,  Eusebius 
Onomasticon,  Christi.  Schriftsteller  13,  S.  XXVII,  Anm.  1. 


Die  eisten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  63 

er  doch  in  Rom  ähnliches  bei  der  Bibelrezension  des  Neuen 
Testaments  erlebt,  wo  konservative  Borniertheit  ihm  Schändung 
des  Heiligen  vorgeworfen  hatte.  Er  salvierte  sich  daher  durch 
die  vorsichtige  Erklärung,  daß  er  nicht  den  bei  den  Christen 
gebräuchlichen  LXX  Text  der  Irrtümer  beschuldigen  und  seine 
Arbeit  gegen  die  LXX  gerichtet  wissen  wolle;  denn  die 
siebenzig  Übersetzer  hätten  mit  Rücksicht  auf  den  König 
Ptolemaeus  den  mystischen  Sinn  und  alles,  was  auf  Christi 
Ankunft  Bezug  hatte,  in  ihrer  Übersetzung  unterdrückt,  damit 
sie  nicht  einen  zweiten  Gott  anzubeten  schienen,  sie,  die  der 
Platoniker  Ptolemaeus  wegen  ihres  Monotheismus  hoch  schätzte. 
Um  seine  kühne  kritische  Neuerung  annehmbar  zu  machen, 
berief  sich  Hieronymus  auf  den  Herrn,  die  Evangelisten  und 
den  Apostel  Paulus,  die  oft  aus  dem  Alten  Testament  zitieren, 
was  in  unseren  Kodices,  d.  h.  der  LXX  und  Itala,  nicht  stehe. 
Er  folgerte  daraus,  daß  die  Exemplare  des  alttestamentlichen 
Textes  als  die  richtigen  zu  gelten  haben,  die  mit  dem  Neuen 
Testamente  übereinstimmen.  Und  endlich  verwies  er  auf 
Origenes,  den  er  auch  in  der  Vorrede  zum  Onomasticon  be- 
geistert als  den  größten  Lehrer  der  Kirche  nach  den  Aposteln 
gepriesen  hatte,  in  seinen  volkstümlichen  Homilien  folge  er 
den  LXX,  in  den  ausgeführten,  für  die  Gelehrten  bestimmten 
Kommentaren,  den  rö,«o<,  gehe  er  aber  auf  den  hebräischen 
Text  zurück.') 

Die  Quästionen  behandeln  eine  Reihe  von  schwierigen 
exegetischen  Stellen  der  Genesis,  sie  sind  ein  aphoristischer 
Kommentar,  dessen  Wert  vor  allem  darin  besteht,  daß  Hie- 
ronymus die  Haggada,  die  ihm  durch  seine  jüdischen  Lehrer 
übermittelt  wurde,  ausgiebig  benutzte.  Diese  jüdischen  Tra- 
ditionen, die  damals  noch  mündlich  überliefert  wurden,  wurden 
später  in  den  verschiedenen  Midraschsammlungen  schriftlich 
fixiert.  Wir  haben  dadurch  die  Möglichkeit,  die  Benutzung- 
jüdischer  Quellen  durch  Hieronymus  bei  Deutungen  nach- 
zuweisen, wo  er  selbst  es  nicht  ausdrücklich  angegeben  hat.') 
Daneben    hat     er    den    Josephus    besonders    zur    Völkertafel 

')  Praefatio,  Lagarde  S.  1 — 3. 

-)  s.  Rahmer,  Die  hebräischen  Traditionen  in  den  Werken  des  Hie- 
ronymus, Breslau  1S61. 


64  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Gen.  10  wörtlich  ausgeschrieben.')  Von  christlichen  Exegeten 
nennt  er  namentlich  nur  einmal  Eusebius  von  Emesa,  dessen  Er- 
klärung von  Sabech  Gen.  22,  13  gleich  Ziegenbock  er  lächerlich 
macht.-)  Auch  gegen  Ambrosius,  der  die  Völkernamen  Gog 
und  Magog  auf  die  Gothen  bezog,  polemisiert  er,  jedoch  ohne 
ihn  zu  nennen.')  Seine  messianische  Deutung  des  Jacobitischen 
Segens,  Gen.  4Q,  hat  er  fast  ganz  dem  Origenes  entnommen.') 

Bemerkenswert  ist  es,  daßHieronymussichindenQuästionen 
bisweilen  von  der  christlich-exegetischen  Tradition  zu  eman- 
zipieren versucht.  Die  Anfangsworte  der  Genesis:  „im  Anfang 
schuf  Gott  Himmel  und  Erde",  die  die  Altercatio  Jasonis  et 
Papisci"^),  Tertullian  adversus  Praxeam,  und  Hilarius  in  seinem 
Psalmenkommentar')  auf  Christus  bezogen  hatten,  lassen  nach 
Hieronymus  bei  wörtlicher  Übersetzung  diese  Deutung  unmöglich 
zu.  An  anderen  Stellen  dagegen,  wie  z.  B.  bei  der  Exegese 
des  Wortes  "!2'?>,  Gen.  24,43,  im  Sinne  von  unberührter  Jung- 
frau, stellt  er  sich  wegen  des  Dogmas  von  der  Jungfrauengeburt 
auf  den  Boden  der  traditionellen  christlichen  Exegese.') 

Die  Korrekturen,  die  Hieronymus  an  der  lateinischen  Bibel- 
übersetzung auf  Grund  des  hebräischen  Textes  vornahm,  treffen 
oft  das  Richtige:  Gen.  1,  2  erklärt  er  nsn"!^  „der  Geist  brütete 
über  den  Wassern"  und  Gen.  2,  21  übersetzt  er  n!2"["in  statt 
mit  Ekstase  im  Anschluß  an  Aquila  und  Symmachus  mit  Schlaf. 
Hieronymus  hat  weiter  auf  die  Widersprüche  in  den  Zahlen- 
angaben des  Lebensalters  der  vorsintflutlichen  Patriarchen  nach 


')  Lagarde  S.  15,  außer  den  von  Lagarde  S.  VIII  aufgeführten 
namentlichen  Zitaten  des  Josephus,  s.  auch  zu  Gen.  25,  1  Lagarde  S.  39 
iuxta  historicos  Hebraeorum. 

■•')  s.  Lagarde  S.  34,  der  Kommentar  ist  verloren. 

^)  S.  Lagarde  S.  14.  Die  Deutung  des  Ambrosius  de  fide  11,  16.  Im 
Kommentar  zu  Ezechiel  praef.  IIb.  II  hat  Hieronymus  ebenfalls  dagegen 
polemisiert,  s.  Vallarsi  III,  317,  Anni.  d. 

■*)  Origenes,  Homilie  XVII,  s.  Harnack,  Altchrist  L.  G.  I,  344,  quidam 
profetice  interpretatur. 

*)  Harnack  I,  93;  Zahn,  Forschungen  IV,  308  ff. 

^)  Tertullian  adversus  Praxeam  c.  5 ;  Hilarius  in  expositione  psalmi  2, 
s.  Lagarde  S.  VIII. 

')  Auch  bei  der  Deutung  des  Jakobsegens  im  messianischen  Sinne 
folgt  er  der  christlichen  Tradition. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Betlileheiii.  65 

den  LXX  und  nach  dem  hebräischen  Text  aufmerksam  gemacht. 
Die  LXX  eeben  das  Alter  der  Patriarchen  höher  an.  Nach  den 
LXX  mußte  Methusalem  noch  14  Jahre  nach  der  Sintflut  gelebt 
haben,  während  er  nach  den  hebräischen  und  samaritanischen') 
Codices  in  dem  Jahre  starb,  in  dem  die  Sintflut  begann.  Da 
die  letzte  Angabe  einen  chronologischen  Widerspruch  in  der 
Schrift  auflöste,  gab  ihr  natürlich  Hieronymus  den  Vorzug.') 
Aber  in  anderen  Fällen  versagte  dieses  Mittel,  chronologische 
Differenzen  mit  Hilfe  des  hebräischen  Textes  zu  lösen.  Abraham 
war  nach  Gen.  12,  4  75  Jahre  alt,  als  er  Haran  verließ  und  sein 
Vater  Thara  war  damals  bereits  tot.  Beim  Tode  seines  Vaters 
mußte  er  aber,  wenn  wir  die  Zahlen  der  Genesis  zugrunde 
legen,  135  Jahre  alt  gewesen  sein.  Hieronymus  gibt  die  künst- 
liche Lösung,  indem  er  die  75  Jahre  nicht  von  der  Geburt 
Abrahams,  sondern  von  seiner  Errettung  aus  dem  feurigen 
Ofen  rechnete.')  Ismael  mußte  nach  den  Zahlenangaben  der 
Genesis,  als  er  von  Abraham  mit  seiner  Mutter  Hagar  ver- 
trieben wurde,  mindestens  ein  ISjähriger  Jüngling  sein.  Nun 
trug  aber  nach  Gen.  21,14  Hagar  ihren  Sohn  auf  der  Schulter. 
Hieronymus  weiß  sich  nicht  anders  zu  helfen,  als  diesen  Wider- 
spruch dadurcli  zu  lösen,  daß  Abraham  Brot  und  Wasserschlauch 
der  Hagar  auf  die  Schultern  legte  und  ihr  dann  den  Jüngling 
an  die  Hand  gab.') 

Durch  die  starke  Heranziehung  der  jüdischen  Traditionen 
bekamen  seine  Quästionen  einen  eigentümlichen  Charakter.  Diese 
jüdischen  Sagen  waren  etwas  ganz  neues  für  das  christliche 
Publikum,  die  sein  Interesse  und  seine  Neugier  erregen  mußten. 
Und  gleichzeitig  steigerten  diese  Mitteilungen  die  Bewunderung 
für  das  tiefgründige  Wissen  des  Hieronymus.  Da  hörte  man,  daß 
die  Hebräer  aus  den  Worten  Gen.  2,  8  C"!pi^  die  Schöpfung 
des    Paradieses    vor    Himmel    und    Erde    folgerten,  )    daß    Ur 

^)  Vielleicht  ist  unter  den  libri  Saniaritoruni  nichts  anders  als  die 
samaritanisch-ojriechische  Übersetzung  zu  verstehen,  von  der  wir  Bruch- 
stücke unter  dem  Namen  ro  l'a/(a(jFiriK6r  besitzen,  s.  Novvack,  Die  Bedeu- 
tung des  Hieronymus  für  die  alttestamentliche  Textkritik,  S.  34,   Anm.  40. 

2)  Gen.  5,  3,  Lagarde  S.  10,  Rahmer  S.  21  ff. 

^)  Gen.  12,4,  Lagarde  S.  19. 

')  Lagarde  S.  32. 

")  Lagarde  S.  4,  s.  Rahmer  S.  17. 

O  r  ü  tzinacli  er ,    Hieronymus.    II.  5 


66  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Chasdim  Gen.  11,28  im  Hebräischen  „im  Feuer  der  Chaldäer" 
bedeute  und  Abraham,  der  das  Feuer  nicht  hätte  anbeten 
wollen,  in  einen  Feuerofen  geworfen,  aber  von  Gott  wunderbar 
errettet  worden  sei,')  daß  die  Namenänderung  des  Abram  in 
Abraham  und  der  Sarai  in  Sarah  darauf  beruhe,  daß  Gott  von 
dem  Tetragrammaton  den  Buchstaben  H  dem  ursprünglichen 
Namen  hinzugesetzt  habe.")  Und  weiter  erzählte  Hieronymus, 
daß  das  Scherzen  Ismaels,  das  Gen.  21,  Q  die  Sara  reizte,  nach 
der  Erklärung  der  Rabbinen  entweder  darin  bestanden  hätte, 
daß  Ismael  Götzenbilder  fertigte,  oder  als  Erstgeborener  den 
Isaak  verspottete. ')  Auch  kultische  Bräuche  der  Juden  erklärte 
er  den  Christen  im  Anschluß  an  Erzählungen  der  Genesis. 
So  wurde  am  Neujahrstage  bei  den  Juden  zur  Erinnerung  an 
den  für  Isaak  geopferten  Widder  ein  Widderhorn  geblasen.*) 
Und  wie  mußte  man  nicht  über  den  wunderbaren  Tiefsinn  des 
hebräischen  Textes  staunen,  wenn  Hieronymus  seine  Leser  be- 
lehrte, daß  Ephron  erst  mit  ",  dann  ohne  1  geschrieben  wurde, 
um  durch  letztere  Schreibung  das  gleißnerische  und  selbst- 
süchtige Benehmen  Ephrons  Abraham  gegenüber  anzudeuten.'^) 
Auch  die  Sprachkenntnisse  des  Hieronymus  schienen  schier 
unergründlich,  wenn  er  den  Beinamen  des  Joseph,  den  dieser 
Gen.  41,45  erhielt,  aus  dem  Ägyptischen  als  Retter  der  Welt  ) 
und  das  Wort  CJ^'H  Gen.  36,  24  aus  dem  Punischen  als  warme 
Bäder  deutete.') 

Daß  die  von  Hieronymus    zum   ersten  Male   im  Prediger- 


')  Lagarde  S.  19,  s.  Rahmer  S.  24. 

*)  Lagarde  S.  27,  s.  Rahmer  S.  28. 

')  Lagarde  S.  31,  s.  Rahmer  S.  31.  R.  weist  hier  nach,  dali  eine  wört- 
liche r^arallele  zwischen  dem  Midrasch  und  Hieronymus  vorliegt.  Die  erste 
Auslegung  wird  im  Midrasch  auf  Rabbi  Akiba  zurückgeführt.  Dies  ist 
beachtenswert,  da  Hieronymus  bereits  im  Kommentar  zum  Prediger  diesen 
berühmten  Rabbiner  zitiert  hatte. 

*)  Lagarde  S.  34,  Rahmer  S.  35. 

*)  Gen.  23,  16,  Lagarde  S.  36,  s.  Rahmer  S.  36  über  die  ethische 
Deutung  des  defektiven  Waw. 

»)  Lagarde  S.  61,  Rahmer  S.  51. 


7 


i-T. 


)  Lagarde  S.  56,  s.  Rahmer  S.  46,  der  noch  auf  zwei  Worte  nö .  V 
Jes.  7,  8  und  i"'P'P  Jon.  4,  6  aufmerksam  macht,  die  Hieronymus  aus  dem 
Puinschen  ableitet. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  67 

kommentar  und  dann  hier  in  noch  größerem  Umfange  bei- 
p-ezosene  Exegese  der  Rabbinen  sachh'ch  keinen  Fortschritt 
bedeutete,  haben  wir  schon  oben  bemerkt.')  Bei  aller  Ver- 
wandtschaft mit  der  allegorischen  Exegese  der  Kirchenväter 
unterscheidet  sie  sich  von  ihr  nicht  nur  durch  die  noch  größere 
Willkür,  sondern  auch  durch  die  juristische  Spitzfindigkeit  und 
das  Fehlen  jeder  systematischen  Abzweckung.  Die  Kirchen- 
väterexegese suchte  doch  wenigstens  das  ganze  Alte  Testament 
messianisch  zu  deuten,  dies  war  der  Kanon  ihrer  Auslegungs- 
methode. Die  rabbinischen  Identifikationen  von  Bileam  mit 
dem  Elihu  des  Hiobbuches  und  des  Melchisedek  mit  Sem, 
dem  Sohne  Noahs,  sind  nichts  weiter  als  müßige  Spielereien.-) 
Und  dann  sei  noch  auf  eines  hingewiesen,  was  bei  den  Kirchen- 
vätern fast  vollständig  fehlt.  Die  jüdischen  Exegeten  haben 
eine  besondere  Freude  an  der  Ausmalung  sexuell  anstößiger 
Geschichten  und  an  der  Hineindeutung  derartiger  Motive 
in  solche  Geschichten,  die  nichts  davon  enthalten.  So  sei 
nach  der  Meinung  der  Hebräer  Joseph  an  Potiphar  wegen 
seiner  großen  Schönheit  zur  schimpflichen  Dienstleistung, 
d.  h.  jedenfalls  zur  Päderastie,  verkauft  worden  und  von 
Potiphar,  als  später  seine  Manneskraft  aufhörte,  zum  Priester 
in  Heliopolis  gemacht  worden.  )  Auch  bei  der  Geschichte 
von  Lot  und  seinen  Töchtern  berichtet  uns  Hieronyinus 
von  den  Reflexionen  der  Rabbinen  über  die  Ausübung  des 
Beischlafs.') 

Schon  bei  der  Ausarbeitung  des  Onomasticon  hatte 
Hieronymus  die  bevorstehende  Herausgabe  eines  Buches  über 
die  hebräischen  Örtlichkeiten  angekündigt.)     Nach  Vollendung 


1)  s.  S.  54. 

-)  Gen.  22,  20,  Lagarde  S.  35  und  Gen.  14,  18,  Lagarde  S.  24. 

*)  Lagarde  S.  57. 

^)  Lagarde  S.  30,  Rahmer  S.  35.  Die  Stelle  ist,  worauf  Rahmer  hin- 
weist, wichtig  für  die  Abfassung  der  Massora,  da  Hieronymus  bereits  den 
massorethischen  Punkt  als  in  seinem  Text  vorhanden  bezeugt. 

■'')  Praef.  lib.  interpretationis  hebraicorum  nominum,  Lagarde  S.  26; 
das  Buch  trägt  in  verschiedenen  Handschriften  und  Drucken  verschiedene 
Bezeichnungen:  Über  de  situ  et  nominibus  locorum  hebraicorum,  über  de 
distantiis  locorum,  über  locorum,  oder  über  locorum  et  nominum,  s.  Eusebius 
Onomasticon  ed.  V.  E.  Klostermann,  Leipzig  1904,   S.  XI. 

5' 


68  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

seiner  Quästionen  zur  Genesis  muß  es  bald  erschienen  sein. 
Die  Arbeit  des  Hieronymus  über  die  Lage  und  die  Namen 
der  hebräischen  Örter  ist  im  wesentlichen  eine  Übersetzung 
der  Schrift  des  Eusebius  nsoi  tcov  romucov  övojuütojv  ei'  nj  lieiu 
ygacpT}.  Eusebius  hatte  noch  drei  selbständige  topographische 
Schriften ')  oder  drei  in  einem  Buch  zusammengefaßte  Ab- 
handlungen ")  seiner  Schrift  über  die  Ortsnamen  vorangehen 
lassen,  die  aber  Hieronymus  nicht  übersetzt  hat  und  die  nicht 
mehr  erhalten  sind.  Das  Werk  des  Eusebius  enthielt  nicht 
alle  Ortsnamen  der  ganzen  Heiligen  Schrift,  im  Alten  Testament 
sind  die  Bücher  Levitikus,  Ruth,  Daniel,  Esra,  Nehemia  in  den 
Überschriften  übergangen;  aber  sie  enthalten  auch  keine  oder 
wenigstens  keine  nicht  sonst  vorkommenden  Ortsnamen. 
Andere  alttestamentliche  Bücher  wie  die  Chronik,  die  Makka- 
bäerbücher,  die  Propheten  und  Hiob  sind  unter  der  Oesamt- 
überschrift  der  Königsbücher  zum  Teil  mit  berücksichtigt. 
Vom  Neuen  Testament  waren  nur  die  Ortsnamen  der  Evan- 
gelien, nicht  die  der  Apostelgeschichte  und  Briefe,  behandelt. 
Es  ist  dies  daraus  zu  erklären,  daß  Eusebius  in  seinem  Ono- 
masticon  im  wesentlichen  nur  die  Namen  des  Heiligen  Landes 
und  der  umliegenden  Reiche  aufzunehmen  beabsichtigte.  Nach 
seiner  Vorrede  wollte  er  auch  nur  die  Namen  von  Städten 
und  Dörfern  aufführen.  Er  hat  sich  auch  hier  nicht  streng 
an  seinen  Plan  gehalten,  sondern  auch  die  Namen  der  Flüsse, 
Landschaften,  Berge,  Ebenen,  Wüsten  und  sogar  der  ver- 
schiedenen heidnischen  Götzen  mit  in  sein  Onomasticon  ein- 
gereiht.'i  Hieronymus  war  nicht  der  erste,  der  die  Schrift 
des  Eusebius  ins  Lateinische  übersetzte.  Er  hatte  bereits  einen 
Vorgänger,    dessen  Namen   er  nicht  nennt;    aber    diese  Über- 


•)  Harnack,  L.  O.  I,  574. 

'-)  E.  Klostermann,  Eusebius  Schrift  nroi  Tö>r  TojriKön'  öi'o//äro)/  rrhy 
ri>  Tij  Ofäh  ygacpfj,  Texte  und  Untersuchungen  N.  F.  VIII,  Heft  2.  1902  und 
die  kritische  Ausgabe  des  Onomasticon  des  Eusebius  und  der  Über- 
setzung des  Hieronymus  in  den  Griechischen  christl.  Schriftstellen  der  ersten 
3  Jahrhunderte,  Band  11,  Eusebius  Bd.  III.  von  E.  Klostermanii,  Leipzig 
1Q04.  P.  Thomsen,  Palästina  nach  dem  Onomasticon  des  Eusebius  1903, 
Tübinger  Dissertation. 

■)  s.  Onomasticon  des  Eusebius,   ed.  Klostermann,  S.  XIII. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  69 

Setzung  war  so  voller  Fehler,    daß  eine  neue  Arbeit  kein  un- 
nützes  Unternehmen  schien.') 

Hieronymus  hat  nun  keine  einfache  Übersetzung  geliefert, 
sondern  Änderungen  vorgenommen,  da  ihm,  wie  er  sagte,  die 
Arbeit  des  Eusebius  mit  späteren  Veränderungen  und  Fehlern 
überliefert  worden  war.  In  der  Vorrede  macht  er  die  Bemerkung, 
daß  er  nach  der  Anordnung  des  griechischen  Alphabets  übersetzt 
habe,  während  sein  Onomasticon  gerade  im  Unterschied  von 
dem  Eusebianischen  nach  dem  lateinischen  Alphabet  angeordnet 
ist.  Er  spricht  weiter  von  Auslassungen  dessen,  was  ihm  des 
Gedächtnisses  nicht  würdig  schien,  während  diese  in  der  Tat, 
wie  ein  Vergleich  mit  der  Arbeit  des  Eusebius  zeigt,  sehr 
selten  sind.)  Vielleicht  erklären  sich  diese  Angaben  so,  daß 
Hieronymus  die  Vorrede  vor  Fertigstellung  seiner  Übersetzung 
geschrieben  hat  und  später  bei  der  Ausführung  seines  Vorhabens 
es  doch  für  praktisch  geboten  hielt,  seine  ursprüngliche  Idee 
zu  ändern.')  Im  ganzen  ist  die  Übersetzung  des  Hierony- 
mus eine  sehr  zuverlässige  Arbeit, ')  die  sich  streng  an  den 
Text  des  Eusebius  hält.  Nur  wenig  Mißverständnisse  lassen 
sich  dem  Hieronymus  nachweisen.^)  Einer  gründlichen  Revision 
hat  aber  Hieronymus  die  Arbeit  des  Eusebius  nicht  unter- 
zogen. Er  hat  weder  das  Werk  des  Eusebius  durch  Nach- 
tragung der  Namen  aus  den  nicht  berücksichtigten  Büchern 
der  Heiligen  Schrift  vervollständigt,  noch  die  vielen  Irrtümer 
des    Eusebius    berichtigt,    die    sich    aus    seiner    mangelhaften 


')  Praef.  Hieronymi,  in  lib.  loc.  ed.  Klostermann,  S  3. 

-)  s.  Onomasticon  ed.  Klostermann,  S.  XXIX.  Da  die  griechische 
Überlieferung  nur  auf  die  stark  verderbte  griechische  Handschrift,  Cod. 
Val.  1456  saec.  XII  zurückgeht,  so  läßt  sich  nicht  mit  absoluter  Sicherheit 
das  Verhältnis  des  Hieronymus  zu  seinem  Original  feststellen. 

*)  Hierfür  kann  vielleicht  der  Schlußsatz  der  Praefatio  ed.  Kloster- 
mann, S.  3,  herangezogen  werden :  ut  enim  mihi  excelsa  non  vindico, 
ita  terrae  cohaerentia  supergredi  posse  me  credo. 

*)  Onomasticon  ed.  Klostermann,  S.  XXVIII. 

*)  s.  zu  Masereth  den  Nachweis  bei  Klostermann,  S.  XXVIII,  Anm.  1; 
ebenfalls  ein  Mißverständnis  scheint  zu  Aermon  S.  21,  12  ff.  vorzuliegen. 
Eusebius  sagt,  daß  der  Berg  Hermon  wie  ein  Heiligtum  von  den  Heiden 
geehrt  werde,  Hieronymus  berichtet  aber,  daß  ein  berühmter  Tempel  auf 
dem  Gipfel  sei,  der  von  den  Heiden  verehrt  werde. 


70  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Kenntnis  des  Hebräischen  erklären.  Eusebius  hatte  vielfach 
die  Ortsnamen  mit  dem  Artikel,  mit  angehängtem  He  locale 
oder  mit  Präpositionen  verschmolzen  wiedergegeben,  er  hatte 
Patronymica,  Gentiliaca,  Himmelsrichtungen  und,  wie  schon 
oben  bemerkt,  Gottheiten  in  buntem  Durcheinander  in  sein 
Lexikon  der  Ortsnamen  aufgenommen.^)  Hieronymus  hat 
hieran  nicht  viel  geändert.  Er  bemerkt  nur  gelegentlich,  daß 
er  Etymologien  von  Ortsnamen,  wie  sie  Eusebius  gegeben 
habe,  nicht  für  richtig  halte'),  und  einmal  erklärt  er  summarisch, 
daß  der  aufmerksame  Leser  erkennen  möge,  daß  er  nicht  alles, 
was  er  übersetze,  billige,  sondern  deshalb  einiges  nach  dem 
griechischen  Texte  stehen  lasse,  weil  er  sich  über  diese  Dinge 
in  den  hebräischen  Quästionen  ausführlicher  ausgesprochen 
habe.')  Auf  dieses  Werk  hat  er  24  mal  hingewiesen'*), 
jedoch  nicht  nur  auf  die  Quästionen  zur  Genesis,  die  wir  be- 
sitzen, sondern  auch  auf  die  zu  den  anderen  Büchern,  die  uns 
nicht  erhalten  sind. 

Dann  aber  hat  Hieronymus  auch  Zusätze  zu  dem 
Werk  des  Eusebius  gemacht,  die  natürlich  für  uns  von  der 
größten  Bedeutung  sind.  Diese  bestehen  einmal  in  Korrekturen 
des  Eusebius   nach  dem  hebräischen  Text  ),   ferner  konnte  er 

')  M.  Spanier,  Exegetische  Beiträge  zu  Hieronymus  Onomasticon, 
Magdeburg  1896,  Berner  Dissertation,  und  M.Spanier,  Nachträge  und  Be- 
richtigungen, Magdeburg  1898. 

'^)  zu  Daniascus  ed.  Klostermami,  S.  77,  hie  tantum  interpretis  sum 
functus  officio,  non  quo  ancillam  Abraae  Masec  nuncupatam  probo;  zu 
Dannaba,  S.  77:  hcet  mihi  longe  ah'ter  videatur;  zu  Enacim,  S.  85,  sed 
mihi  videtur  non  esse  nomen  loci  Enacim,  sed  habitatorum  Chebron;  zu 
Efrata,  S.  83,  est  autem  in  tribu  Judae,  licet  plerique  male  aestiment  in 
tribu  Beniamin. 

^)  zu  Elmoni,  S.  91,  porro  diligens  lector  agnoscat,  quod  in  prin- 
cipio  quoque  libri  huius  aliqua  ex  parte  perstrinxi,  nie  non  oninia  quae 
transfcro  comprobare,  sed  idcirco  quaedam  iiixta  aiitoritatem  Graecam 
reiinquere,  quia  de  his  in  libris  Hebraicariim  qiiaestioiium  plenius  disputavi. 

••)  s.  Klostermann,    Namenregister  Hebraicariim  quaestionum,  S.  203. 

*)  z.  B.  Arboc,  S.  7,  corrupte  in  nostris  codicibus  Arboc  scribitur, 
cum  in  Hebraicis  legatur  Arbe;  Rhinocorura,  S.  149,  sciendum  autem  quod 
hoc  vocabulum  in  libris  Hebraicis  non  habetur,  sed  a  LXX  interpretibus 
propter  notitiam  loci  additum  est;  Scenae,  S.  153,  locus,  qui  lingua  Hebraica 
appellatur  Socchoth,  Klostermann  hat  hier  den  Zusatz  des  Hieronymus 
nicht  durch  den  Druck  markiert. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  71 

aus  der  Quelle  der  Hebräer  schöpfen,  die  ihm  über  die  Namen 
und  Lage  mancher  biblischen  Orte  eine  von  Eusebius  ab- 
weichende Tradition  vermittelten.  So  hat  ihm  sein  Hebräer, 
mit  dem  er  die  Heilige  Schrift  las,  versichert,  daß  der  Berg 
Hermon  unmittelbar  in  der  Nähe  von  Paneas  sich  erhebe.') 
Von  den  Hebräern  weiß  er,  daß  Achad  mit  Nisibis  identisch, 
Aialon  ein  Dorf  bei  Nicopolis  am  zweiten  Meilenstein,  wenn 
man  nach  Jerusalem  reist,  sei,  Aenam  keinen  Ort,  wie  Eusebius 
meinte,  sondern  einen  Scheideweg  bedeute,  wo  zwei  Wege  zu- 
sammenlaufen.') Aus  seinem  vielseitigen  Wissen  bringt  er 
auch  die  Notiz,  daß  nach  Sallust  die  Quellen  des  Euphrat  und 
Tigris  in  Armenien  gezeigt  werden "),  und  streut  bisweilen 
Erinnerungen  aus  der  römischen  Geschichte  ein:  die  Stadt 
Nisibis,  die  von  Lucullus  belagert  und  erobert  sei,  sei  vor 
wenigen  Jahren  durch  Kaiser  Jovian  an  die  Perser  abgetreten 
worden,  eine  Bemerkung,  nach  der  wir  seine  Übersetzung  des 
Liber  locorum  etwa  um  3Q0  ansetzen  müssen. ') 

Endlich  hat  Hieronymus  aus  eigener  Kenntnis  Ergänzungen 
des  Eusebianischen  Onomasticon  angebracht.  Die  Identifikation 
von  biblischen  Ortsnamen  mit  ihm  bekannten  Städten  wie  Aemath 
mit  Epiphania  in  Coelesyrien,  Chennereth  mit  der  von  Herodes 
dem  Kaiser  Tiberius  zu  Ehren  erbauten  Stadt  Tiberias,  Chettiim 
mit  Cypri  Citium,  Reblatha  mit  Antiochia  geht  auf  Hierony- 
mus zurück.  )  Auf  Autopsie  scheint  eine  so  detailierte  Angabe 
zu  beruhen,  daß  das  Dorf  Bethacat  in  Samaria  ein  so  enges 
und  niedriges  Tor  habe,  daß  man  nur  einzeln  und  nicht  stehend 
das  Dorf    betreten  könne.     Es  scheint  so,    aber  aus  dem  Zu- 


')  zu  Aermon,  S.  21. 

2)  zu  Achad,  S.  5,  nach  den  Hebräern  identisch  mit  Nisibis;  zu  Aenam, 
S.  9,  s.  Spanier,  S.  3;  zu  Ailon,  S.  19;  zu  Aseroth,  S.  11,  verum  haec  loca 
non  Aseroth,  sed  Aserim  appellari  Hebraei  putan^. 

»)  zu  Eufrates,  S.  83. 

*)  zu  Achad,  S.  5. 

')  zu  Aemath,  S.  23,  ego  autem  investigans  repperi  Aemath  urbem 
Coeles  Syriae  appellari,  quae  nunc  graeco  sermone  Epiphania  nuncapatur; 
zu  Chennereth,  S.  173;  zu  Chettiim,  S.  175,  Klostermann  hat  hier  den 
Zusatz  des  Hieronymus  nicht  im  Druck  markiert;  zu  Reblatha,  S.  147;  es 
ist  hier  nicht  sicher,  ob  wir  es  mit  einem  Zusatz  des  Hieronymus  zu  tun 
haben,  da  der  griechische  Text  eine  Lücke  aufweist. 


72  Die  ersten  Jahre  im   Kloster  zu  Bethlehem. 

sammenhang  geht  deutlich  hervor,  daß  Hieronymus  lediglich 
aus  der  Übersetzung  des  Aquila  und  Symmachus  diese  Mit- 
teilung mit  der  ihm  eigenen  Phantasie  herausgesponnen  hat.') 

Aber  solche  auf  lokalen  Kenntnissen  beruhende  Be- 
merkungen des  Hieronymus  zum  Text  des  Eusebius  fehlen 
doch  nicht  ganz,  wenn  wir  auch  bei  seiner  Art,  sich  Kennt- 
nisse zuzuschreiben,  die  er  nicht  besitzt,  sondern  nur  anderen 
verdankt,  überaus  vorsichtig  sein  müssen.')  Diewirklichauf  seine 
Reise  durch  das  Heilige  Land  zurückgehenden  Mitteilungen 
sind  für  unsere  Kenntnis  der  Topographie  von  Palästina  recht 
wichtig.  Dabei  ist  zunächst  eins  bemerkenswert,  daß  Hiero- 
nymus überall  an  Stätten,  die  durch  die  biblische  Geschichte 
geweiht  waren,  von  christlichen  Kirchen  zu  berichten  weiß,  von 
denen  Eusebius  noch  nichts  erwähnt.  So  kannte  Hieronymus 
eine  Kirche  in  Aggai,  wo  Jacob  schlief,  als  er  nach  Meso- 
potamien ging,  in  Bethanien,  wo  Lazarus  auferweckt  war,  am 
Ölberg,  wo  der  Herr  gebetet  hatte,  an  der  Quelle  bei  Sichar, 
wo  der  Herr  mit  der  Samariterin  das  denkwürdige  Gespräch 
gehabt  hatte.")  Die  Eiche  dagegen,  unter  der  Abraham  in 
Mamre  gewohnt  hatte,  wurde  noch  zu  den  Zeiten  des  Eusebius 
den  Pilgern  des  Heiligen  Landes  gezeigt,  Hieronymus  be- 
richtet, daß  sie  bis  zur  Zeit  des  Kaisers  Konstantins  vorhanden 
war,  dann  scheint  sie  zugrunde  gegangen  zu  sein.  An  ihrer 
Stelle  erhob  sich  in  seinen  Tagen  dort  ebenfalls  eine  Kirche.^)  Wir 
dürfen  daraus  schließen,  daß,  je  mehr  die  Pilgerfahrten  nach 
dem  Heiligen  Lande  zunahmen,  auch  überall  an  den  Wall- 
fahrtsstätten Kirchen  erbaut  wurden. 

Aber  man  vermehrte  auch  stetig  die  heiligen  Stätten,  nach 
denen  die  Frommen  durch  angebliche  Reliquien  von  Männern  der 
heiligen  Geschichte  zur  Anbetung  gelockt  werden  sollten.    Auch 

')  zu  Bethacath,  S.  59,  pro  quo  Aquila  interpretatus  est  domus 
curvantiuin,  Symmachus  domus  singulorum,  eo  quod  angustus  et  humilis 
introitus  singulos  tantum,  et  nee  ipsos  stantes,    ingredi  sustineret. 

*)  s.  z.  B.  Hieronymus  Aegyptius,  qui  antiquitates  Phoenicum 
pu lehre  sermone  conscripsit,  während  Eusebius  nichts  von  pulchro 
sermone  berichtet,  und  Hieronymus  dieses  Werk  sicher  nicht  gekannt  hat; 
s.  dazu  Klostermann,  S.  XXVI 1. 

')  Aggai,  S.  7;    Bethania,  S.  59;  Sychar,  S.  165. 

■')  Arboc,  S.  7. 


Die  eisten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  73 

hierfür  ist  Hieronymus  Zeuge.  In  Arbe  befanden  sich  nach 
Hieronymus  die  Gräber  der  4  Patriarchen  Adam,  Abraham,  Isaak 
und  Jakob'),  in  Sebaste  die  Reliquien  Johannis  des  Täufers.")  Von 
beiden  erwähnt  Eusebius  noch  nichts.  Nach  Modeim  wall- 
fahrtete  man  bereits  zur  Zeit  des  Eusebius  zu  den  Gräbern  der 
Makkabäer;  als  Hieronymus  um  390  seinen  über  locorum  schrieb, 
erhob  Antiochia  ebenfalls  den  Anspruch,  die  Reliquien  der 
jüdischen  Helden  zu  besitzen,  worüber  Hieronymus  sehr  un- 
gehalten ist.  )  Es  fangen  also  bereits  die  Stätten,  an  denen 
man  die  Reliquien  verehrter  Männer  zeigte,  an,  sich  zu  ver- 
doppeln. Die  Glossen  des  Hieronymus  zu  dem  Texte  des 
Eusebius  lassen  uns  so  einen  Blick  in  den  immer  mehr  zu- 
nehmenden Reliquienkultus  tim,  und  es  ist  nur  zu  bedauern, 
daß  Hieronymus  uns  nicht  in  noch  umfangreicherem  Maße  von 
seiner  besseren  Kenntnis  des  Heiligen  Landes  Mitteilung  hat 
zukommen  lassen.  Nur  bei  der  Erwähnung  Bethlehems  verrät 
er  einmal  seine  intimere  Bekanntschaft  mit  den  dortigen  Lokali- 
täten. Er  nennt  den  Turm  Ader  und  gibt  seine  Entfernung 
von  Bethlehem  auf  1000  Schritt  an.  Er  bestimmt  geographisch 
genau  das  Grabmal  des  jüdischen  Königs  Archelaus,  das  am 
Anfang  des  Pfades  liegt,  der  von  der  öffentlichen  Staatsstraße, 
die  von  Bethlehem  nach  Jerusalem  führte,  nach  unseren  Mönchs- 
zellen hin  abbiegt.^)  Wir  vermissen  auch  schmerzlich  ge- 
legentliche Bemerkungen  über  Land  und  Leute,  die  Hieronymus 
uns  hätte  geben  können.  Nur  eine  kulturhistorisch  inter- 
essante Notiz  ist  mir  aufgefallen.  Hieronymus  berichtet, 
daß  man  den  Schnee  im  Sommer  vom  Berge  Hermon  herab- 
brachte, um  ihn  in  Tyrus  bei  üppigen  Lustbarkeiten  zu  ver- 
wenden. )     Seine  Übersetzung    des  Werkes   des  Eusebius   hat 


')  zu  Arboc,  S.  7,  Arbe,  id  est  quattuor,  eo  quod  ibi  tres  patriarchae, 
Abraam,  Isaac  et  Jacob,  sepulti  sunt,  et  Adam  magnus,  ut  in  Jesu  Hbro 
scriptum  est:  licet  eum  quidam  conditum  in  loco  Calvariae  suspicentur. 

-)  Someron,  S.  155. 

')  Modeim,  S.  133,  unde  fuerunt  Maccabaei,  quorum  hodie  ibidem 
sepulcra  monstrantur,  satis  itaque  miror,  quomodo  Antiochiae  eorum  reli- 
quias  ostendant,  aut  quo  hoc  certo  auctore  sit  creditum. 

*)  Bethleem,  S.  43. 

^)  Aermon,  S.  21 :  de  quo  (seil,  de  monte  Aermone)  nunc  aestivae 
nives  Tyrum  ob  delicias  deferuiitur. 


74  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

aber  dem  Abendland  die  Kunde  vom  Heiligen  Land  vermittelt 
und  Eucherius,  Arculfus,  Beda,  Rabanus  Maurus  und  viele 
andere  Autoren  des  Mittelalters  haben  allein  aus  ihm  geschöpft. 


§  31. 

Zwei  Übersetzungsarbeiten  des  Hieronymus,  die 

39  Lukashomilien  des  Origenes  und  das  Buch   des 

Didymus  über  den  heiligen  Geist. 

Noch  in  Rom  hatte  Hieronymus  die  Schrift  des  Didymus 
„Über  den  heiligen  Geist"  zu  übersetzen  begonnen,  hatte  sie  aber 
unvollendet  gelassen,  als  sein  Gönner  Papst  Damasus,  der  ihn 
dazu  veranlaßt  hatte,  gestorben  war.')  386  hatte  er  auf  seiner 
Reise  nach  Alexandria  die  persönliche  Bekanntschaft  des  blinden 
„Sehers"  gemacht.  Jetzt  vollendete  er  die  angefangene  Arbeit 
und  widmete  sie  seinem  Bruder  Paulinian  und  seinen  Freun- 
dinnen Paula  und  Eustochium.  Nachdem  er  seiner  römischen 
Gegner  mit  heftigem  Spott  gedacht  hat, ')  fährt  er  in  der  Vor- 
rede zur  Übersetzung  fort:  „Und  um  den  Autor  des  Buches 
im  Titel  einzugestehen,  so  wollte  ich  lieber  der  Dolmetscher 
eines  fremden  Werkes  sein,  als,  wie  einige  es  tun,  eine  häß- 
liche Krähe,  mich  mit  fremden  Federn  schmücken.  Ich  habe 
vor  nicht  langer  Zeit  die  Bücher  eines  gewissen  Mannes  über 
den  heiligen  Geist  gelesen,  auf  die  man  das  Wort  des  Komikers 
Terenz  anwenden  könnte,  daß  aus  guten  griechischen  Lei- 
stungen nicht  ebensolche  lateinische  werden.  Nichts  ist  dort 
dialektisch,  nichts  kraftvoll  und  nichts  übersichtlich,  was  auch 
den  widerwilligen  Leser  zur  Zustimmung  zwingt,  sondern  alles 
schlaff,  weichlich,  gleißend  und  nur  äußerlich  wohlgestaltet, 
mit  ausgesuchten  Farben  hier  und  dort  geschminkt.  Aber 
mein  Didymus    hat    das  Auge    der  Braut    im   Hohenlied    und 


')  s.  Bd.  1,  214. 
•-)  Bd.  I,  204. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  75 

jene  Augen,  die  Jesus  befiehlt  über  die  weißen  Saaten  zu  er- 
heben; wer  diesen  liest,  wird  den  Diebstahl  der  Lateiner  erkennen 
und  die  Bäche  verachten,  wenn  er  aus  der  Quelle  zu  schöpfen 
angefangen  hat." ')  Diese  giftigen  anonymen  Invektiven  sind 
eeeen  Ambrosius    und   seine   drei  Bücher    über    den    heiligen 


to'-ts 


Geist  gerichtet.  Rufin  hat  Hieronymus  später  deshalb  die  herbsten 
Vorwürfe  gemacht.'")  Und  dieser  Angriff  auf  den  mailändischen 
Bischof  steht  nicht  allein.  Noch  bissiger  und  boshafter  schreibt 
er  in  der  kurz  danach  verfaßten  Übersetzung  der  Lukas- 
homilien  des  Origenes  an  Paula  und  Eustochium:  „Ihr  sagt, 
daß  ihr  vor  wenigen  Tagen  Kommentare  zu  Matthäus  und 
Lukas  von  gewissen  Leuten  gelesen  habt,  von  denen  der  eine 
schwerfällig  in  Form  und  Inhalt  sei,  der  andere  mit  den 
Worten  spiele  und  im  Inhalt  fasele."')  Er  kann  hier  nur  den 
388  verfaßten  Lukaskommentar  des  Ambrosius  meinen.')  Er 
beschimpft  Ambrosius  als  einen  Weissagevogel,  der  von  der 
linken,  d.  h.  der  Unglück  verkündenden  Seite,  hergeflogen 
käme,  als  einen  laut  krächzenden  Raben,  der  sich  über  die 
Farben  aller  Vögel  lustig  mache,  obwohl  er  selbst  ganz 
schwarz  sei.  )  Warum  war  Hieronymus  plötzlich  auf  Ambrosius 
so  schlecht  zu  sprechen?  Wodurch  hatte  dieser  ihn  gereizt? 
Waren  es  doch  die  gleichen  Ideale,  für  die  beide  kämpften, 
waren  doch  beide  Vertreter  der  Orthodoxie,  beide  begeisterte 
Anhänger  und  Wegbereiter  der  mönchischen  Frömmigkeit  im 
Abendland  gewesen.  Hatten  es  sich  doch  beide  zur  Lebens- 
aufgabe gemacht,  die  griechische  Theologie,  vor  allem  die 
Werke  des  Origenes  durch  Wort  und  Schrift  dem  "lateinischen 


')  Praef.  in  libriim   Didymi  de  spiritu  sancto,  Vallarsi  11.  105  ff. 

-)  Rufin,  Contra  Hier.  II,  23,  Vallarsi  II,  651  ff.;  der  Zweifel  Vallarsis,  ob 
hier  Ambrosius  gemeint  ist  (Vallarsi  II,  106  Anm.  e),  ist  völlig  unbegründet 
und  erklärt  sich  nur  aus  Voreingenommenheit  für  Hieronymus.  Auch 
Th.  Schermann,  Die  griechischen  Quellen  des  heiligen  Ambrosius,  München 
1902,  S.  98,  läßt  es  unentschieden,  obwohl  er  die  ausgedehnteste  Benutzung 
der  Schrift  des  Didymus  durch  Ambrosius  nachweist. 

3)  Rufin,  Contra  Hier.  II,  21,  Vallarsi  II,  648. 

*)  Rauschen,  Jahrbücher  der  christlichen  Kirche,  S.  293,  und  Excurs  Xll. 

'")  Praef.  in  transl.  homil.  3)  Origenis  in  Lucam,  Vallarsi  VII,  245. 
Noch  einmal,  ep.  121,  quaestio  6,  erwähnt  Hieronymus  den  Kommentar 
des  Ambrosius,  ohne  jedoch  an  ihm  Kritik  zu  üben,  Vallarsi  I,  861. 


76  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Occident  zu  vermitteln.  Gerade  die  Gemeinsamkeit  ihrer  Be- 
strebungen erregte  den  Neid  des  Hieronymus.  Sein  Charakter 
erscheint  hier  einmal  wieder  von  der  häßlichsten  Seite.  Dem 
römischen  Aristokraten  und  gewaltigen  Gottesstreiter  war  das 
Los  aufs  lieblichste  gefallen,  er  war  der  einflußreichste  Bischof 
der  abendländischen  Kirche,  der  auch  die  Kaiser  nach  seinem 
Willen  leitete.  Und  der  ehrgeizige  Hieronymus,  der  sich  einst 
auf  den  Stuhl  Petri  Hoffnungen  gemacht  hatte,  saß  einsam  im 
Kloster  zu  Bethlehem,  und  nur  wenige  Frauen  vertrauten  sich 
seiner  Seelenleitung  an.  Als  er  noch  in  Rom  weilte,  hütete  er 
sich,  es  mit  dem  mächtigen  Bischof  zu  verderben.  Damals 
schrieb  er  an  Eustochium  über  die  Bücher  von  der  Jungfrauschaft, 
die  Ambrosius  seiner  Schwester  Marcellina  gewidmet  hatte: 
„Ambrosius  hat  in  diesen  eine  solche  Beredsamkeit  entfaltet, 
daß  er,  was  immer  zum  Lobe  der  Jungfrauschaft  gereicht, 
erforscht,  ausgesprochen  und  aufgezählt  hat.')"  In  der  Chronik 
hatte  er  zum  10.  Jahre  Valentinians  dem  mailändischen  Bischof 
ein  glänzendes  Zeugnis  ausgestellt:  Nach  dem  späten  Tode  des 
Arianers  Auxentius,  als  Ambrosius  den  Bischofstuhl  in  Mailand 
bestiegen  hatte,  wurde  ganz  Italien  zum  orthodoxen  Glauben 
bekehrt.'')  Jetzt,  wo  Hieronymus  widerwillig  seinen  ehrgeizigen 
Hoffnungen  für  immer  entsagt  hatte,  sieht  er  in  ihm  nur 
den  glücklichen  Nebenbuhler,  dem  er  sich  durch  Wissen 
und  Rhetorik  überlegen  weiß.  Mit  der  ihm  eigenen  Perfidie, 
nicht  mit  offenem  Visier,  sondern  mit  feiger  Anonymität 
fällt  er  ihn  an.  Er  stellt  der  Art  des  Ambrosius,  der  sich 
mit  fremden  Federn  zu  schmücken  liebe,  seine  Bescheidenheit 
und  seine  Ehrlichkeit  gegenüber.  Wenn  er,  Hieronymus, 
griechische  Werke  ins  Lateinische  übersetze,  gebe  er  sie 
nicht  als  seine  eigenen  aus,  sondern  gestehe  offen  vor  aller 
Welt  den  Namen  des  Autors  ein.  Gewiß  hat  Ambrosius  in 
seinen  Werken  die  Griechen  stark  benutzt,  aber  der  Vorwurf 
des  Hieronymus  gegen  ihn  ist  lediglich  aus  schriftstellerischer 
Eitelkeit  und  aus  Konkurrenzneid  geboren.  Als  Hieronymus  392 
sein  Buch    über    die  berühmten   Schriftsteller  schrieb,    konnte 


1)  Ep.  22,  22,  Vallarsi  I,  105. 

0  Chronik  ed.  Schöne,  S.  195,  vergl.  auch  ep.  15,  4  ad  Damasum. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Betlilehem.  77 

er  unmöglich  Ambrosius  ganz  totschweigen,  aber  die  kurze 
Notiz,  die  er  ihm  widmete,  ist  mit  Bosheit  gesättigt:  „Am- 
brosius, der  Bischof  von  Mailand,  schreibt  bis  zum  heutigen 
Tag,  über  den  ich,  weil  er  noch  am  Leben  ist,  mein  Urteil 
suspendiere,  um  nicht  entweder  der  Schmeichelei  oder  der 
Wahrhaftigkeit  halber  getadelt  zu  werden."')  Und  als  3Q5 
Ambrosius  gestorben  war,  fuhr  Hieronymus  auch  nach  seinem 
Tode  fort,  die  Werke  des  verhaßten  Mannes  herabzusetzen. 
Gelegentlich  zitierte  er  ihn  wohl  als  Verteidiger  der  Jungfrau- 
schaft mit  Anerkennung, -1  aber  im  übrigen  läßt  er  kein  gutes 
Haar  an  seinen  Schriften:  „Die  sechs  Bücher  Hexaemeron  des 
Ambrosius  sind  eine  schamlose  Kompilation  aus  Origenes, 
Basilius  und  Hippolyt, ')  der  Psalmenkommentar  des  Ambrosius 
ist  ein  Plagiat  aus  Origenes." ')  Hieronymus  verspottet  Am- 
brosius, ohne  ihn  zu  nennen,  daß  er  Debora  für  eine  Witwe 
und  Barak  für  ihren  Sohn  gehalten  habe.)  Dabei  hütete  sich 
allerdings  Hieronymus  in  den  Briefen  an  seine  römischen  Freunde, 
Pammachius  und  Oceanus,  und  an  Augustin,  der  das  Werk 
des  Ambrosius  über  den  heiligen  Geist  sehr  hochschätzte,") 
Ambrosius  zu  beschimpfen.  Hieronymus  wußte,  daß  er 
Augustin,  dem  begeisterten  Verehrer  des  Mailändischen 
Bischofs,  gegenüber  mit  einem  Tadel  des  Ambrosius  nur  sich 
selbst  kompromittiert  hätte.  Aber  Rufin  befand  sich  im  Besitz 
eines  Briefes  des  Hieronymus,  in  dem  er  andere  wegen  ihrer 
Angriffe  auf  Ambrosius  in  Schutz  genommen  und  die  Be- 
schuldigung einer  sklavischen  und  unehrlichen  Benutzung  der 
Griechen  gegen  Ambrosius  erhoben  hatte.  Rufin  wollte  diesen 
Brief,  der  ihm  ein  willkommenes  Pressionsmittel  auf  seinen 
Gegner  war,  nicht  vor  der  Zeit  veröffentlichen,  weil  er  auch 
einige  geheimnisvollere  Dinge  enthielt.')  Hieronymus  antwortete 


>)  de  vir.  illust.  c.  124. 

-')  Ep.  48,  14,  Vallarsi  I,  223. 

ä)  Ep.  84,  7,  Vallarsi  I,  525. 

*)  Ep.  112,   20,    Vallarsi  1,  747,    Contra  Rufin.  1,    1,    Vallarsi  II,   459; 

Contra  Rufin.  III,  14,  Vallarsi  II,  544. 

^)  Ep.  54,  17,  Vallarsi  I,  291,  s.  Ambrosius  de  viduis  c.  8. 

*)  De  doctrina  christiana  c.  21,  46. 

•)  Contra  Hier.  11,  22,  Vallarsi  II,  649. 


78  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

auf  diese  Anzapfung  Rufins  nicht,  ein  Zeichen,  daß  er  ein 
böses  Gewissen  hatte.  Gewiß  woMte  er  seinen  Gegner  nicht 
zur  Veröffenth'chung  eines  Briefes  reizen,  in  dem  er  einem  Ver- 
trauten einmal  seine  ganze  Galle  über  Ambrosius  ausgeschüttet 
hatte.  Er  fürchtete  wohl  vor  allem  das  Urteil  Augustins,  mit 
dem  er  damals  schon  in  Korrespondenz  getreten,  und  dessen 
aufgehender  Stern  ihm  nicht  entgangen  war. 

Daß  Hieronymus  gerade  die  Schrift  des  Didymus  über 
den  heiligen  Geist  ins  Lateinische  übersetzte,  hatte  wohl  darin 
seinen  Grund,  daß  dieser  Origenist  wenigstens  im  Dogma  der 
Trinität  von  unbezweifelter  Orthodoxie  war. ')  Die  Schrift  des 
Didymus  ist  mit  großem  dialektischem  Scharfsinn  geschrieben.  So 
bemüht  sich  z.  B.  Didymus,  die  Einwohnung  des  Satans  als  einer 
geschaffenen  Substanz  von  dem  Einwohnen  der  ungeschaffenen 
Trinität  im  Menschen  begrifflich  zu  unterscheiden.")  Auf  die 
Form  hat  er  wenig  Wert  gelegt.  Sie  stellt  im  wesentlichen  die 
Aussagen  des  Neuen  und  Alten  Testaments  über  den  heiligen 
Geist  zusammen,  um  dies  ist  der  Hauptzweck  nachzu- 
weisen, daß  der  heilige  Geist  keine  sichtbare  oder  unsichtbare 
Kreatur,  auch  keine  Energie  Gottes,  sondern  von  gleicher  Sub- 
stanz mit  Vater  und  Sohn  sei.  Didymus,  der  unter  den  Augen 
des  Athanasius  die  Verbindung  des  Homousianismus  mit  dem 
Origenismus  vollzogen  hatte,  hatte  sich  in  dieser  Schrift  vor 
jeder  Heterodoxie  gehütet.  Vorsichtig  hatte  er  den  Unterschied 
zwischen  Engeln  und  Menschen  festgehalten:  Die  Engel  sind 
ehrwürdiger  und  um  vieles  besser  als  die  Menschen  durch  die 
leibhaftigere  und  vollere  Einwohnung  der  Trinität.  Nur  leise 
klingt  das  origenistische  Theologumenon  an,  daß  die  Menschen 
zu  Engeln  werden:  Es  ist  das  Verlangen  der  vollkommenen 
und  zur  Vollendung  ihrer  Heiligung  kommenden  Menschen, 
den  Engeln  gleich  zu  werden.  )  Man  könnte  nun  und  man 
hat  vermutet,  daß  Hieronymus  die  Heterodoxien  des  Didymus 
wegretouchiert  habe.  Aber  der  Zweifel  daran,  daß  der  Origenist 
Didymus  die  Termini  o//oorr?/oc  und  äroiioovö/o::  gebraucht  habe. 


')  Contra  Rufin.  II,  16,  Vallarsi  II,  507. 

*)  De  spiritu  sancto  c.  60  ff.,  Vallarsi  II,  164  ff. 

')  De  spiritu  sancto  c.  7,  Vallarsi  II,  113. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  7Q 

ist  ganz  unbegründet.')  Obwohl  wir  das  griechische  Original 
nicht  FTiehr  besitzen,  werden  wir  es  auch  nach  der  Vorrede  für 
ausgeschlossen  halten,  daß  Hieronymus  inhaltlich  tiefergreifende 
Korrekturen  angebracht  hat.  Es  findet  sich  auch  nichts,  was 
nicht  Didymus  geschrieben  haben  könnte.  Wahrscheinlich  ist  nur 
die  Zitation  von  Arnos  4,  13  nach  dem  hebräischen  Text  eine 
Glosse  des  Hieronymus,  die  er,  um  seine  gelehrten  Kenntnisse 
anzubringen,  eingefügt  hat,')  obwohl  Didymus  auch  etwas 
hebräisch  konnte.')  Daß  wir  es,  abgesehen  von  einigen  Aus- 
lassungen und  gelegentlichen  Hinzufügungen, ^)  mit  einer  im 
ganzen  wortgetreuen  Übersetzung  des  Werkes  des  Didymus  zu 
tun  haben,  beweist  auch  die  ausgebildete  griechische  Termino- 
logie, die  Hieronymus  nicht  ohne  Schwierigkeiten  lateinisch 
wiederzugeben  vermag.  Die  Übersetzung  liest  sich  deshalb 
vielfach  schwülstig  und  ist  nicht  besonders  gelungen,  zumal 
dem  Hieronymus  die  scharfe  begriffliche  Gedankenentwicklung 
des  Didymus  innerlich  fremd  war. 

Nach  der  Vollendung  der  Übersetzung  der  Schrift  des 
Didymus  wandte  sich  Hieronymus  einem  neuen  Übersetzungs- 
werk zu.  Die  Übersetzung  der  3Q  Homilien  des  Origenes  zum 
Lucasevangelium  sollte  Paula  und  Eustochium  als  Ersatz  für 
den  oberflächlichen  Kommentar  des  Ambrosius  dienen.  Aber 
er  war  sich  bewußt,  daß  diese  Homilien  diesen  Zweck  nur 
unvollkommen  erfüllten.  Er  beugte  deshalb  bereits  in  der 
Einleitung  vor:  Ich  gestehe  ein,  daß  bevor  jener  einwirft  -  er 
dachte  natürlich  an  Ambrosius  —  daß  Origenes  in  diesen 
Traktaten  wie  ein  Knabe  mit  Knöcheln  spiele,  anders  die  Werke 
seines  Mannesalters  und  wieder  anders  die  ernsten  Leistungen 
seines  Oreisenalters  sind.')  Er  will  deshalb  später  das  Ver- 
sprechen, das  er  einst  in  Rom  der  Bläsilla  gegeben  hatte,  ein- 
lösen   und    die    ausführlichen    Kommentare    des  Origenes    zu 

')  s.  Jacob  Basnage,  Animadversiones  in  Didymum  et  eins  opera  bei 
Canisius,  Lection.  antiqu.     Amsterdam  1728  1,  202. 

-)  De  spiritu  sancto  c.  15,  Valiarsi  11,  123. 

*)  Th.  Schermann,  die  griechischen  Quellen  des  heiligen  Ambrosius. 
München  1902.     S.  79,  Anm.  1. 

^)  s.  über  die  einschneidendste  Korrektur  Schermann  S.  80. 

5)  Prologus,  Valiarsi  Vil,  247. 


80  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Matthäus,  Lukas  und  Johannes  übersetzen;')  aber  man  merkt 
es  ihm  deutlich  an,  daß  er  den  alten  Plan,  den  ganzen  Origenes 
ins  Lateinische  zu  übersetzen,)  doch  nicht  ausführen  wird. 
Dazu  besaß  der  unruhige  Gelehrte  zu  wenig  ausharrende  Hin- 
gebung an  eine  so  langwierige  Arbeit.  )  Sein  späterer  Ge- 
sinnungswechsel ließ  ihn  natürlich  diesen  Gedanken  ganz 
zurückstellen. 

Es  ist  schwer,  sich  ein  sicheres  Urteil  über  die  Über- 
setzung der  Origeneshomilien  durch  Hieronymus  zu  bilden. 
Schmerzlich  vermissen  wir  gerade  hier  eine  kritische  Ausgabe 
des  Hieronymus,  da  die  Textüberlieferung  bei  Vallarsi  von 
Zahn  mit  Recht  als  mangelhaft  bezeichnet  wird.  Vom  Ori- 
ginal besitzen  wir  nur  Fragmente,  die  aus  lauter  Katenenhand- 
schriften  stammen.')  Die  Homilien  sind  nach  der  Überschrift 
an  Sonntagen  gehalten  und  gehören,  wie  Zahn  bereits  mit 
Recht  vermutet  hat,  nicht  zu  den  extemporierten,  sondern  zu 
den  von  Origenes  selbst  herausgegebenen  Homilien.  Sie  fallen 
wahrscheinlich  in  die  erste  Zeit  seines  palästinensischen  Aufent- 
halts.) Sicher  ist  zunächst,  was  aus  gelegentlichen  Zitaten 
des  Origenes    erhellt,    daß   die    3Q  Homilien,    die  Hieronymus 

')  Über  die  Differenzen  der  Zahlenangaben  der  Bücher  des  Origenes 
zu  Matthäus,  Lucas  und  Johannes  s.  Harnack,  altchristliche  Literatur- 
geschichte 1,  366  ff. 

•-)  s.  Band  1,  212. 

^)  Es  ist  ein  Irrtum  Zöcklers  S.  174,  wenn  er  die  Übersetzung  der 
Origeneshomilien  vor  die  hebräischen  Quästionen  zur  Genesis  ansetzt.  Die 
Anordnung  der  Werke  ist  im  Schriftstellerkatalog  c.  135  die  chronologische. 
Aus  den  NX  orten  des  prologus  V'allarsi  VII,  245:  praetermisi  paululum 
Hebraicarum  quaestionum  libros  geht  hervor,  daß  Hieronynuis  hebräische 
Quästionen,  also  die  zur  Genesis,  bereits  geschrieben  hatte,  nur  die  Fort- 
setzung der  Quästionen  zu  den  übrigen  Büchern  des  alten  Testaments  zeit- 
weilig vertagte. 

*)  Eine  Zusammenstellung  der  griechischen  Fragmente  bei  Harnack- 
Preusclien,  Altchristliche  Literaturgeschichte  1,404  und  ausführlicher  bei  Zahn, 
Geschichte  des  neutestamentlichen  Kanons  II,  624,  Anm.  2.  Bei  Harnack- 
Preuschen  ist  die  fehlerhafte  Angabe,  daß  das  Göttinger  Programm  —  es 
ist  von  Magnus  Crusius  —  vom  Jahre  1753  stammt,  dahin  zu  korrigieren, 
daß  es  1735,  also  vor  der  Origenesausgabe  von  de  la  Rue  1740  Migne 
P.S.  13,  1803  ff.,  in  der  die  meisten  griechischen  Fragmente  aufgenommen 
sind,  erschienen  ist. 

*)  Zahn  S.  623. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  81 

Übersetzte,  nur  ein  Teil  einer  größeren  Sammlung  waren.')  Die 
ersten  33  Homilien  behandelten  die  4  ersten  Kapitel  des  Lukas- 
evangeliums; dann  scheint  Hieronymus  die  Geduld  verloren 
und  aus  den  Homilien  über  die  übrigen  20  Kapitel  des 
Evangeliums  nur  noch  6  ausgewählt  zu  haben,  die  besonders 
markante  Schriftworte  aus  Kapitel  10,  12,  17,  19  und  20  be- 
handelten. 

Es  ist  nun  weiter  die  Frage,  ob  wir  eine  wörtliche  Über- 
setzung oder  eine  freie  Bearbeitung  der  Homilien  vor  uns 
haben.  Tiefgreifendere  dogmatische  Korrekturen  am  Text  des 
Origenes  scheint  Hieronymus  nicht  gemacht  zu  haben;  denn 
daß  er  den  Ausdruck  vjröaran/^.  den  Origenes  vom  heiligen 
Geist  braucht, entsprechend  dernicänischenChristologie  lateinisch 
mit  persona  wiedergibt,  darf  nicht  hierher  gerechnet  werden.') 
Alle  Heterodoxien  des  Origenes,  auch  solche,  gegen  die  sich 
Hieronymus  bereits  in  seinen  neutestamentlichen  Kommentaren 
verwahrt  hatte,  wie  die  Verwandlung  der  Seligen  in  Engel,') 
die  Präexistenz,  Sündenfall  und  Einkerkerung  der  Seelen  in 
die  Leiber,')  das  endliche  Aufhören  der  Höllenstrafen')  und 
die  Erlösung  der  gefallenen  Engel")  begegnen  uns  hier.  Auch 
die  dem  Hieronymus  und  seinen  Freundinnen  bei  ihrem  extra- 
vaganten Marienkultus  so  anstößigen  Äußerungen  des  Origenes 
über  die  Mutter  des  Herrn,  daß  Maria  der  Reinigung  von  der 
Sünde  wie  alle  Menschen  bedurft  habe,  ja  zeitweilig  im 
Glauben  an  ihren  Sohn  wankend  geworden  sei,')  hat  Hierony- 
mus wörtlich  wiedergegeben. 

Es  kann  sich  nur  darum  handeln,  ob  Hieronymus  Ver- 
kürzungen oder  Erweiterungen  am  Text  vorgenommen  hat. 
Zahn  hat  bereits  darauf  hingewiesen,  daß  die  lateinische  Über- 
setzung,   mit  den  Fragmenten    des  Originals    verglichen,    teils 

•)  Zahn  S.  622,  Anm.  2. 

')  Origenes   in  Lucam  Homilie  25  ed.  de  la  Rue  M.  P.  G.  13,  1866. 

^)  Homilie  39,  Vallarsi  VII,  365. 

')  Homilie  4,  Vallarsi  Vll,  257. 

^)  Homilie  35,  Vallarsi  VII,  358;  der  Versuch  des  Huetius  die  Äuße- 
rung des  Origenes  orthodox  zu  deuten,  ist  undurchführbar. 

«)  Homilie  23,  Vallarsi  VII,  322;  Homilie  31,  Vallarsi  Vll,  342. 

')  Homilie  14,  Vallarsi  VII,  286;  Homilie  17,  Vallarsi  VII,  300; 
Homilie  20,  Vallarsi  VII,  309,  s.  Zöckler  S.  176. 

O  rü  tz  in  ach  e  r  ,    Hieronymus.    II.  6 


82  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

mehr,  teils  weniger  bietet.')  Auf  Grund  einer  genauen  Ver- 
gleichung  ergibt  sich,  daß  außer  wenigen  Fällen,  wo  Hierony- 
mus  den  griechischen  Text  verkürzt  zu  haben  scheint,-)  in  der 
Regel  die  lateinische  Übersetzung  ausführlicher  ist.  Vielleicht 
hat  aber  Hieronymus  doch  das  Original  treu  wiedergegeben, 
und  die  griechischen  Fragmente  stellen  nur  einen  verkürzten 
Text  dar.  In  einigen  Fällen  allerdings,  wozu  eine  Reihe  deut- 
lich erkennbarer  Glossen  gehören,  in  denen  Hieronymus  einen 
griechischen  Ausdruck  lateinisch  erklärt,  )  ist  die  überarbeitende 
Hand  des  Hieronymus  erkennbar.  Die  trockene  und  schlichte 
Darstellungsweise  des  Origenes  kontrastiert  so  stark  von  der 
lebendigen  rhetorischen  Manier  des  Hieronymus,  daß  solche 
formelle  Redaktionen  sofort  ins  Auge  fallen.  Wie  knapp  sind 
z.  B.  die  Ausführungen  des  Origenes  über  die  Gerechtigkeit 
in  den  Augen  Gottes:  die  Menschen  verstehen  es  nicht,  in 
würdiger  Weise  zu  loben,  da  sie  auf  den  Schein  sehen,  das 
Verborgene  aber  nicht  kennen.  Bei  ihnen  erhält  oft  die  irr- 
tümliche Meinung  vor  der  irrtumslosen  Recht.  Anders  be- 
urteilen jene,  anders  Gott  das  Leben  der  Menschen.  Es  kann 
geschehen,  daß  einer  nach  dem,  was  vor  Augen  ist,  vor  den 
Menschen  gerecht  erscheint,  aber  nach  dem  Verborgenen  seines 
Sinnes  es  nicht  ist  und  im  geheimen  böse  Gedanken  hat. 
Solche  meint  Paulus,  wenn  er  von  einigen  spricht,  deren 
Lob  nicht  von  Menschen,  sondern  von  Gott  ist.  Hören 
wir,  was  Hieronymus  an  dieser  Stelle  seiner  Übersetzung 
bietet:  Es  kann  geschehen,  daß  ein  Gerechter  vor  Menschen 
gerecht  ist,  aber  nicht  vor  Gott.  Wenn  z.  B.  ein  Mensch 
nichts  hat,  worin  er  über  mich  schlecht  spricht,  imd  er,  alles 
an  mir  betrachtend,  nichts  findet,  um  mich  herabzusetzen,  so 
bin  ich  in  den  Augen  der  Menschen  gerecht.  Stelle  dir  vor, 
alle  haben  die  gleiche  Meinung  über  mich  und  versuchen 
mich  zu  kritisieren  und  können  dennoch  nichts  finden,  sondern 
loben  mich  einmütig,  so  bin  ich  gerecht  vor  den  Augen  der 
meisten  Menschen.     Aber    das  Urteil    der  Menschen    ist    kein 


')  Zahn  S.  Ö24. 

*)  z.  B.  Homilie  1  de  la  Rue  M.  P.  G.  13,  1803. 
')  z.  B.  jTejTÄi}QOfpoQr]jiievc>v  de  la  Rue  M.  P.  G.  13,  1803;    ufjÜTiöro^ 
M.  P.  G.  13,  1805;  KFjaQiTCiiLii-i'r)  M.  P.  G.  13,  1816  usw. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  83 

sicheres;  denn  sie  wissen  nicht,  ob  ich  in  der  Verborgenheit 
meines  Herzens  nicht  gesündigt  habe,  ob  ich  ein  Weib  angesehen 
habe  ihrer  zu  begehren  und  in  meinem  Herzen  der  Ehebruch 
geboren  wurde.  Die  Menschen  wissen  auch  nicht,  wenn  sie 
mich  nach  meinen  Kräften  Almosen  geben  sehen,  ob  ich  es 
dem  Gebot  Gottes  gemäß  getan  oder  das  Lob  und  die  Gunst 
der  Menschen  gesucht  habe.  Es  ist  ein  schweres  Ding  in 
den  Augen  Gottes  gerecht  zu  sein  und  um  keines  anderen 
Grundes  halber  das  Gute  zu  tun,  als  des  Guten  halber  und 
Gottes  halber,  des  Vergelters  des  guten  Werkes.  So  redet 
auch  der  Apostel  von  denen,  deren  Lob  nicht  von  Menschen, 
sondern  von  Gott  ist.')  Diese  Texterweiterungen  scheinen  mir 
in  Gedanken  und  Form  den  Stempel  des  Geistes  des  Hierony- 
mus  zu  tragen.)  In  anderen  Fällen  kann  man  zweifelhaft  sein 
und  die  oben  angedeutete  Lösung  für  die  richtige  halten,  daß 
Hieronymus  nur  den  längeren  ursprünglichen  Text  in  der 
Übersetzung  erhalten  hat  und  die  Katenenhandschriften  den 
Text  verkürzt  haben. 

Die  Übersetzung  der  Origeneshomilien  sollte  Paula  und 
Eustochium  ein  Ersatz  für  den  Lukaskommentar  des  Ambrosius 
sein,  aber  die  gelehrten  Nonnen  wünschten  auch  einen 
Matthäuskommentar  zu  besitzen.  Der,  welchen  sie  bisher 
gebraucht  hatten,  vermutlich  der  Evangelienkommentar  des 
Bischofs  Fortunatianus  von  Aquileja,')  genügte  ihnen  nach  in- 


')   Homilie  2  de  la  Rue  M.  \\  G.  13,  1805,  Anm.  3. 

•-')  Vgl.  auch  Homilie  27  de  la  Rue  M.  P.  G.  13,  1870,  die  Aus- 
führungen über  Johannes  den  Täufer  und  das  griechische  Fragment  zu 
Homilie  39  bei  Gallandi  XIV,  109  und  Gramer,  Catenae  II  147  und  zu 
Homilie  37  das  bei  Gramer,  Gatenae  II,  140  erhaltene  Fragment  mit  der 
Übersetzung  des  Hieronymus. 

')  Für  die  Identifikation  des  ungekannten  Matthäuskommentars  mit 
dem  Kommentar  des  Bischofs  Fortunatianus  sprechen  folgende  Gründe: 
Hieronymus  besaß  diesen  Kommentar,  den  er  sich  von  dem  Greis  Paulus 
aus  Konkordia  hatte  schicken  lassen  ep.  10,  3,  Vallarsi  I,  24.  In  de 
vir.  illust.  c.  97  charakterisiert  er  diesen  Kommentar  ähnlich  wie  in  dem 
Prolog  zu  den  Lukashomilien:  Fortunatianus  in  evangelia  titulis  ordinatis 
breves  sermone  rustico  scripsit  commentarios.  In  der  Vorrede  zu  seinem 
Matthäuskommentar  nennt  er  von  lateinischen  Kommentaren  neben  Hilarius 
und  Viktorinus  nur  noch  den  des  Fortunatianus.  Er  kannte  also  außer  den 
beiden  nur  noch  diesen  lateinischen  Kommentar  zu  Matthäus,  Vallarsi  VII,  7. 

6« 


84  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethleiiem. 

halt  und  Form  nicht.')  Da  Hieronymus  trotz  seiner  skrupel- 
losen Art  rasch  etwas  auf  das  Papier  zu  werfen,  einstweilen 
nicht  imstande  war,  ihren  Wunsch  zu  erfüllen,  lieh  er  ihnen 
die  Matthäuskommentare  des  Hilarius  von  Poitiers  und  des 
Märtyrers  Viktorin,  die  er  in  seiner  Bibliothek  besaß.')  Erst 
einige  Jahre  später  entschloß  er  sich,  einen  eigenen  Kommentar 
zum  Matthäusevangelium  zu  schreiben. 


§  32. 
Hieronymus  als  Mönchsbiograph. 

Immer  neue  literarische  Pläne  gingen  Hieronymus  durch 
den  Kopf.  Er  konnte  die  Einsamkeit  des  Klosters,  wie  es 
scheint,  auf  die  Dauer  nur  ertragen,  wenn  er  Werke  schuf, 
durch  die  er  die  Aufmerksamkeit  weitester  Kreise  auf  sich  zog. 
Nichts  mußte  ihm,  dem  Ehrgeizigen,  schmerzlicher  sein,  als  ein 
vergessener  Mann  noch  zu  seinen  Lebzeiten  zu  werden.  In 
der  Vorrede  zu  der  Biographie  des  Mönches  Malchus  spricht 
er  von  einem  großen  Oeschichtswerk,  das  die  Geschichte  der 
Kirche  von  der  Ankunft  des  Erlösers  bis  auf  seine  Zeit  be- 
handeln sollte.  Seine  Absicht  scheint  es  gewesen  zu  sein, 
eine  Kirchengeschichte  mit  besonderer  Berücksichtigung  des 
biographischen  Elements  zu  schreiben:  wie  und  durch  welche 
Männer  die  Kirche  entstanden,  herangewachsen,  durch  Ver- 
folgungen erstarkt  und  durch  Martyrien  gekrönt  ist  und,  nach- 
dem sie  unter  die  Herrschaft  christlicher  Fürsten  gekommen 
ist,  an  Macht  und  Reichtum  zugenommen,  an  Tugenden  aber 
abgenommen  hat.  Dies  klingt  alles  schön  und  groß.  Hierony- 
mus nimmt  hier  fast  einen  modernen  Standpunkt  in  der  Be- 
urteilung der  Geschichte  der  Kirche  ein.  Von  den  christlichen 
Kaisern  datiert  nach  ihm  der  Verfall  und  die  sittliche  Decadence 


')  Prologus  in  Orig.  homil.  in   Lucam,  Valiarsi  VII,  245. 
'-)  Prologus  in  Orig.  homil.  in   I.ucam,  Valiarsi  VII,  245. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  85 

der  Kirche.  Wie  anders  hatte  noch  Eusebius  geurteilt,  als  er 
im  Leben  Konstantins  ein  Gemälde  auf  Goldgrund  von  dem 
ersten  christlichen  Kaiser  entwarf.  Und  ich  bin  sicher,  falls 
Hieronymus  den  Plan  ausgeführt  hätte,  so  hätte  er  bei  der 
mit  so  zähem  Fleiß  geschriebenen  Eusebianischen  Kirchen- 
geschichte eine  gründliche  Anleihe  gemacht.  Als  Vorläufer 
seiner  geplanten  umfangreichen  Kirchengeschichte  schrieb 
Hieronymus  zwei  kleine  Biographien  des  gefangenen  Mönches 
Malchus  und  des  seligen  Hilarion.  Schon  als  Eremit  in  der 
Wüste  Chalcis  hatte  er  mit  der  Vita  des  angeblich  ersten 
Mönches,  Paulus  von  Theben,  die  neue  Literaturgattung  der 
Mönchsbelletristik  durch  ein  besonders  phantastisches  Erzeug- 
nis bereichert.')  Jetzt  ging  er  daran,  die  Geschichte  eines 
obskuren  Mönches  Malchus  niederzuschreiben,  die  dieser  ihm 
einst  selbst  erzählt  hatte,  als  er  sich  in  Maronia  aufhielt,  einem 
in  der  Nähe  Antiochias  gelegenen  und  seinem  Freunde,  dem 
Bischof  Evagrius,  gehörigen  Dorfe.')  Evagrius  war  seit  388 
oder  38Q  der  Nachfolger  des  Paulinus,  der  ihn  einst  zum 
Priester  geweiht  hatte,  an  der  kleinen  orthodoxen  Gemeinde 
der  syrischen   Hauptstadt,  Antiochia,  geworden. 

Die  Vita,  die  keinen  Mönchsheroen,  sondern  einen  einfachen 
syrischen  Mönch  aus  Nisibis  schildert,  der  nach  wunderbaren 
Schicksalen  mit  einer  alten  Frau  in  Maronia  in  geistlicher  Ehe 
unter  einem  Dach  lebte,  ist  reich  an  intimen  Zügen  und  legitimiert 
sich  dadurch  als  wesentlich  historisch.  Nur  in  der  romantischen 
Fluchtgeschichte  des  Mönchs  finden  sich  einige  lächerlich  un- 
glaubliche Situationen.  Malchus  und  seine  Genossin  hatten 
sich  in  eine  Höhle  geflüchtet;  ihr  Herr,  dem  sie  entlaufen 
waren,  verfolgte  sie  mit  einem  Diener  und  gelangte  auch  zu 
der  Höhle.  Als  darauf  der  Diener  und  der  Herr  sich  in 
die  Höhle  begaben,    um   sich  der  Flüchtlinge  zu  bemächtigen. 


')  s.  Band  1,  löOff.  Über  die  griechischen  Rezensionen,  die  zum 
Teil  sehr  frei  das  lateinische  Original  wiedergeben,  s.  die  gründliche 
Arbeit  von  J.  Bidez,  Deux  versions  grecques  inedites  de  la  vie  de  Paul 
de  Thebes,  Recueil  de  travaux  publies  par  la  faculte  de  philosophie  et 
lettres  25  fasc.  Gent  1900  (dazu  meine  Anzeige,  Deutsche  Literaturzeitung 
1902,  S.  1503  N.  24. 

")  Vita  Malchi  c.  2  u.  c.  10,  Vallarsi  II,  42  u.  48. 


86  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

tauchte  plötzlich  zur  rechten  Zeit  eine  Löwin  auf,  die  beide 
nacheinander  zerriß,  die  Flüchtlinge  aber  und  die  Dromedare 
der  Verfolger  merkwürdigerweise  verschonte.  Als  aber 
Malchus  am  Abend  die  Höhle  zu  verlassen  wagte,  standen 
noch  immer  die  Dromedare  ruhig  wiederkäuend  vor  der  Höhle 
und  schienen  nur  darauf  zu  warten,  daß  Malchus  und  seine 
Mitsklavin  sie  zum  Ritt  durch  die  Wüste  benutzten. 

Besonders  interessant  ist  die  Vita  Malchi,  weil  sich  in  ihr 
sehr  stark  dieUngebundenheit  des  ältesten  Mönchslebens  wieder- 
spiegelt. Malchus  verließ  gegen  den  Willen  seines  Abtes  seine 
Eremitengenossenschaft,  der  er  sich  angeschlossen  hatte,  und 
der  Abt  hatte  kein  rechtliches  Mittel,  ihn  zurückzuhalten.  Er 
wollte  sein  Erbgut  verkaufen,  einen  Teil  den  Armen,  einen 
Teil  seinem  Kloster  zuwenden,  einen  Teil  aber  sich  selbst  zu 
eigner  Verwendung  vorbehalten.  Der  Mönch  hatte  noch  das 
Recht,  völlig  frei  über  seinen  Besitz  zu  verfügen  und,  wenn 
er  es  auch  als  Untreue  empfand,  daß  er  sich  selbst  etwas 
reservieren  wollte,  so  konnte  ihn  doch  keiner  daran  hindern. 
Auch  die  Form  des  Zusammenlebens  eines  Mönches  mit  einer 
Frau  in  einer  Hausgemeinschaft,  die  die  Mönchsregeln  des 
Pachomius  und  Basilius  streng  verbieten,  erscheint  hier  noch 
als  etwas  Harmloses  und  durchaus  Unanstößiges.  Und  der 
Fleischgenuß  —  der  Mönch  nährte  sich  auf  der  Flucht  von 
halbrohem  Fleisch  und  Kamelsmilch  —  wurde  ebenfalls  noch 
nicht  als  etwas  Unerlaubtes  verpönt.  Die  Vita  ist  eine  wich- 
tige Urkunde  für  die  überaus  elastischen  Formen  des  ältesten 
Mönchtums,  die  sich  erst  im  Laufe  der  Zeit  allmählich  ver- 
festigten. 

Neuerdings  hat  man  diese  Vita  dem  Hieronymus  ab- 
gesprochen und  sie  für  die  leichte  Überarbeitung  eines  grie- 
chischen Originals  von  unbekanntem  Verfasser  erklärt.  Nur 
die  Vorrede  soll  von  Hieronymus  stammen,  in  der  Vita  aber 
hätten  wir  es  mit  einem  mit  höchstem  Raffinement  ausgeführten 
literarischen  Raub  zu  tun.')  Mit  schneidendem  Scharfsinn  hat 
van    den    Ven    die    Gründe    für    diese    Hypothese    widerlegt 

*)  s.  Kunze,  Marcus  Eremita  und  Hieronymus,  Theol.  Literaturblatt 
1898  XIX,  391  398  und  H.  von  Schubert,  Lehrbuch  der  Kirchengeschichte  I, 
596,  der  diese  Hypothese  übernommen  hat. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  87 

und  die  lateinische  Vita,  die  in  allen  Einzelzügen  den  Stil 
und  Geist  des  Hieronymus  erkennen  läßt,  als  das  Original 
und  den  griechischen  Text  als  Übersetzung  erwiesen,  von  der 
noch  eine  Tochterübersetzung  in  syrischer  Form  auf  uns  ge- 
kommen ist.')  ich  möchte  den  Gründen,  die  dagegen  sprechen, 
daß  wir  es  in  der  Vita  Malchi  mit  einer  dreisten  Aneignung 
fremden  Gutes  durch  Hieronymus  zu  tun  haben,  nur  noch  einen 
hinzufügen:  Dürfen  wir  ihm  denn  etwas  Derartiges  zutrauen? 
Gewiß  war  Hieronymus  nicht  prüde  in  der  Benutzung  fremder 
Arbeiten,  aber  er  war  viel  zu  klug,  um  in  so  schamloser  Weise 
seine  literarische  Freibeuterei  zu  üben,  wie  man  hier  ange- 
nommen hat.  Er,  der  den  Ambrosius  des  Plagiats  an  den 
Griechen  beschuldigte,  wußte,  daß  ihm  seine  Gegner  auf  die 
Finger  paßten.  Er  hätte  sich  nie  eine  solche  Blöße  gegeben 
und  die  Übersetzung  eines  fremden  Werkes  ohne  jede  An- 
deutung in  der  Vorrede  für  sein  eignes  ausgegeben. 

Auch  die  bald  nach  der  Vita  Malchi  von  Hieronymus  ver- 
faßte Vita  des  Hilarion  von  Gaza  ist  mit  hyperkritischem  Miß- 
trauen behandelt  worden.')  Gewiß  finden  sich  in  der  Vita 
viele  legendarische  Züge,  die  aber  nicht  allein  auf  das  Konto 
des  Hieronymus,  sondern  der  Volkssage  zu  setzen  sind,  wie  sie 
sich  schon  bei  Lebzeiten  des  Heiligen  ausbildete.  Wir  sind 
auch  nicht  imstande,  den  historischen  Kern  in  allen  einzelnen 
Zügen  herauszustellen,  da  uns  außer  der  Vita  des  Hieronymus, 
der  einen  verlorenen  Brief  des  Bischofs  Epiphanius  von  Salamis 
benutzte,  nur  noch  bei  dem  Kirchenhistoriker  Sozomenos  einige 


*)  Paul  van  den  Ven,  S.  Jerome  et  la  vie  du  moine  Malchus  le  Captif, 
Löwen  1901  (s.  dazu  meine  Rezension  Deutsche  Literaturzeitung  1902, 
Nr.  4,  S.  225).  Besonders  wichtig  ist  der  Nachweis  van  den  Vens,  daß  die 
griechische  Übersetzung  an  allen  Punkten  der  Vita  Malchi,  in  denen  die 
Ungebundenheitdes  ältesten  Mönchtums hervortritt,  entsprechend  derspäteren 
strengeren  Disziplin  Korrekturen  angebracht  hat. 

»)  W.  Israel,  Die  Vita  S.  Hilarionis  des  Hieronymus  als  Quelle  für 
die  Anfänge  des  Mönchtums  kritisch  untersucht,  J.  f.  w.  Th.  23,  129  ff.  1880; 
dagegen  O.  Zöckler,  Hilarion  von  Gaza,  eine  Rettung  N.  J.  f.  d.  Th. 
3,  147  ff.  1894;  Grützmacher,  Hilarion  R.  E.  3  Vlll,  54—56,  1900.  Über  die 
griechische  Übersetzung  der  Vita,  die  von  Sophronius,  dem  Freund  des 
Hieronymus,  stammt,  s.  P.  van  den  Ven,  Jerome  et  la  vie  du  moine  Malchus 
le  Captif,   Löwen  1901,  S.  105  ff. 


88  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

unabhängige  Angaben  aus  der  mündlichen  Tradition  über 
Hilarion  überliefert  sind.')  Es  ist  aber  ein  durch  nichts  zu  recht- 
fertigender Gewaltstreich,  wenn  man  dem  Hilarion  sogar  die 
Existenz  abgesprochen  hat.  Die  wichtigsten  Tatsachen  seines 
Lebens  sind  durchaus  historisch  glaubwürdig.  Hilarion  war  in 
Tabatha,  fünf  römische  Meilen  südlich  von  Gaza,  291  von  heid- 
nischen Eltern  geboren.  In  Alexandria  hatte  er  den  ersten 
Unterricht  empfangen  und  hier  Griechisch  gelernt,  das  er  neben 
seiner  Muttersprache,  dem  palästinensischen  Aramäisch,  be- 
herrschte. Dann  kehrte  er  in  die  Heimat  zurück  und  begann, 
ergriffen  von  der  mönchischen  Erweckungsbewegung,  in  der 
Nähe  der  Hafenstadt  Gazas,  Majuma,  ein  Eremitenleben  in 
Nachahmung  des  ägyptischen  Heiligen  Antonius  zu  führen. 
Bekleidet  mit  einem  groben  härenen  Untergewand,  einem  aus 
Fellen  bestehenden  Obergewand  und  dem  kurzen  Mantel,  wie 
ihn  die  Hirten  trugen,  erwarb  er  sich  seinen  Unterhalt  nach 
Art  der  ägyptischen  Eremiten  durch  Flechten  von  Körben  aus 
Binsen.  Er  fastete  bis  zum  Sonnenuntergang  und  wohnte  in 
einer  kleinen,  nach  Sozomenos  aus  Reisig,  Ziegeln  und  Ton- 
scherben hergestellten  Einsiedlerzelle.  Durch  häufige  Dämonen- 
erscheinungen geplagt,  erhielt  er  die  Gabe  der  Heilung  dämo- 
nischer und  anderer  Kranker.  Als  ihm  die  Heilung  der  Söhne 
einer  vornehmen  Frau  Aristänete  und  des  Elpidius,  eines  späteren 
praefectus  praetorio,  gelang,  sammelte  sich  32Q  um  ihn  eine 
Eremitenkolonie.  Viel  weiß  Hieronymus  auch  von  dem  Missions- 
wirken des  Hilarion  unter  den  Sarazenen  zu  berichten,  eine 
Nachricht,  die  an  dem  Zeugnis  des  Sozomenos,  daß  sein  eigner 
Großvater  Alapion  in  Bethelia  von  Hilarion  zum  Christentum  be- 
kehrt worden  sei,  und  an  dem  Übertritt  sarazenischer  Stämme  zum 
Christentum  vor  dem  Regierungsantritt  des  Kaisers  Valens  ihre 
Stütze  findet.  Später  verließ  Hilarion  Palästina  und  begab  sich 
nach  Ägypten,  wo  er  die  von  Kaiser  Constantius  verbannten 
Bischöfe  Dracontius  und  F^hilo  und  die  Stätte,  an  der  der  be- 
rühmte Eremit  Antonius  geweilt  hatte,  aufsuchte.  Von  Ägypten 
gelangte  er  nach  Sizilien,  wo  er  einige  Zeit  in  der  Nähe  des  Vor- 

')  Sozomenos,  Hist.  eccl.  111,  14;  V.  10;  VI,  32  hat  bereits,  wie 
van  den  Ven  S.  108  ff.  nachgewiesen  hat,  die  griechische  Übersetzung  der 
Vita  Hilarionis  gekannt  und  benutzt. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  89 

gebirges  Pachynum  als  Eremit  hauste;  dann  wanderte  er  nach 
Epidaurus  in  Dahnatien  und  kam  von  dort  nach  Cypern.  Hier 
lernte  ihn  der  Verehrer  des  Mönchtums,  Epiphanius  von  Salamis, 
kennen  und  hier  starb  er  im  Jahre  371  SOjährig.  Zum  großen 
Schmerze  der  Cyprioten  wurde  der  Leichnam  des  Heiligen  von 
einem  Schüler  nach  Majuma  entführt.  In  Palästina  blieb  sein 
Andenken  lebendig,  und  in  der  Nähe  Bethelias  hat  Sozomenos 
noch  eine  Zahl  von  Schülern  des  Hilarion  kennen  gelernt,  die 
er  namentlich  nennt.  Wenn  Hieronymus  auch  die  Bedeutung 
seines  Heiligen  aus  lokalpatriotischen  Motiven  stark  übertrieben 
haben  mag,  um  dem  palästinensischen  Mönchtum  einen  dem 
ägyptischen  Antonius  ebenbürtigen  Patriarchen  zu  geben,  so 
gebührt  doch  dem  Hilarion  der  Ruhm,  schon  früh  in  der  ersten 
Hälfte  des  4.  Jahrhunderts  das  Eremitenleben  nach  Palästina 
verpflanzt  und  im  Süden  des  Landes  verbreitet  zu  haben.  Doch 
geht  die  Entstehung  zahlreicher  Klöster  und  Eremitenkolonien 
in  Palästina  im  Verlaufe  des  4.  Jahrhunderts,  über  die  wir  durch 
Basilius  und  Hieronymus  selbst  unterrichtet  sind,  keineswegs  auf 
Hilarion  allein  oder  auch  nur  in  erster  Linie  auf  ihn  zurück.') 
Die  Vita  des  Hilarion  ist  die  umfangreichste  und  die  am 
gewandtesten  und  ruhigsten')  geschriebene  der  drei  Mönchs- 
biographien, die  wir  von  der  Hand  des  Hieronymus  besitzen. 
Es  ist  ein  Fortschritt  in  der  Leichtigkeit  und  Gefälligkeit  der 
Darstellung  unverkennbar,  wenn  wir  die  Biographie  des  Paulus 
von  Theben  mit  der  des  Hilarion  vergleichen.^)  Die  Kunst  zu 
fabulieren  versteht  Hieronymus  wie  keiner  seiner  Zeitgenossen, 
dies  müssen  ihm  auch  seine  Neider  lassen,  wenn  er  auch  viele 
Motive  aus  dem  antiken  Roman  in  die  christliche  Legende 
hergenommen  hat,  und  der  literarische  Charakter  der  Vita 
Hilarionis  durch  die  Formen  der  antiken  Biographie  bestimmt 
ist.*)     So  grob  sinnliche  Erzählungen,  wie  sie  uns  in  der  Vita 

')  Basilius  ep.  207,  223,  226,  Hieronymus  ep.  82. 

-')  Martin  Schanz,  Geschichte  der  römischen  Literatur  !V,  S.  395,  möchte 
deshalb  auf  ein  griechisches  Original  schließen  ;  nach  meiner  Meinung  haben 
wir  auch  hier  keinen  Grund  zu  dieser  Annahme. 

^)  s.  auch  Zöckler,  Hieronymus  S.  179. 

')  P.  Winter,  Der  literarische  Charakter  der  Vita  beati  Hilarionis  des 
Hieronymus,  Programm  zur  Gedächtnisfeier  für  den  Senator  P.  F.  A.  Just, 
Zittau  1904. 


90  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Pauli  begegneten,  finden  sich  in  den  beiden  späteren  Viten 
nicht.  Nur  gelegentlich  tritt  seine  unbezwingbare  Lüsternheit 
hervor.  Er  kann  es  eben  bisweilen  nicht  lassen,  Situationen 
von  prickelndem  Reiz  zu  schildern,  obwohl  wir  auch  hier  nicht 
zu  scharf  urteilen  dürfen,  da  zum  Teil  die  großartige  Ungeniert- 
heit in  der  Behandlung  geschlechtlicher  Dinge  als  Reflex  antiker 
Naivität  angesehen  werden  muß.') 

Vor  allem  aber  verstattet  uns  die  Vita  Hilarionis  einen  tiefen 
Blick  in  die  christliche  Volksfrömmigkeit  der  Zeit.  Hilarion 
macht  unfruchtbare  Weiber  fruchtbar,  heilt  Blinde  und  Gicht- 
brüchige, treibt  nicht  nur  Dämonen  aus  Menschen  aus,  son- 
dern es  gelingt  ihm  auch,  ein  wütendes  baktrisches  Kamel 
von  seinem  Dämon  zu  befreien  und  dadurch  zu  zähmen.-) 
Hilarion  besitzt  die  Gnadengabe,  aus  dem  Gerüche  der  Per- 
sonen und  Sachen,  mit  denen  er  in  Berührung  kommt,  zu  er- 
kennen, welchem  bösen  Geist  und  welchem  Laster  jemand 
unterliege.  Als  sein  Jünger  Hesychius  ihm  ein  Büschel  grüner 
Erbsen  aus  dem  Garten  eines  geizigen  Eremiten  zur  Abend- 
mahlzeit vorsetzt,  ruft  er  entsetzt  aus:  Riechst  du  nicht  diesen 
häßlichen  Gestank,  wie  sie  nach  Habsucht  stinken.  )  Un- 
gemein charakteristisch  ist  auch  die  Geschichte  eines  heid- 
nischen Jünglings,  der  eine  gottgeweihte  Jungfrau  entehren 
will,  für  den  Kampf  des  heidnischen  und  christlichen  Aber- 
glaubens. Der  Jüngling  geht  nach  Memphis  zu  den  Priestern 
des  Äskulaps,  d.  h.  des  Serapis,  und  kehrt  mit  cyprischen 
Metalltäfelchen  zurück,  auf  denen  sonderbare  Worte  und  Figuren 
eingegraben  sind,  und  vergräbt  diesen  Liebeszauber  unter  der 
Schwelle  der  Wohnung  des  Mädchens.  Der  Zauber  wirkt,  das 
Mädchen  fängt  in  wilder  Liebesleidenschaft  an  zu  rasen,  und 
die  Eltern  bringen  es  zu  Hilarion.  Der  Greis  redet  den  Liebes- 
teufel an,  der  in  sie  gefahren  ist:  Groß  ist  deine  Macht,  der 
du  durch  einen  Bindfaden  und  Metalltäfelchen  gebunden  fest- 
gehalten wirst.  Sage  mir,  weshalb  hast  du  es  gewagt,  in  die 
gottgeweihte  Jungfrau    zu   fahren.      Dann   treibt    er  ihn  aus.') 


')  Vita  Malchi  c.  6,  Vailarsi  II,  45,  Vita  Hilarionis  c.  21,  Vallarsi  II,  23. 

2)  Vita  Hilarionis  c.  13,  c.  15,  c.  19,  c.  23. 

»)  Vita  Hilarionis  c.  28. 

•»)  Vita  Hilarionis  c.  21. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  91 

Die  Vita  Hilarionis  stellt  uns  mit  greifbarer  Deutlichkeit  die 
starke  Assimilation  des  Christentums  an  das  Heidentum,  mit 
dem  es  in  heißem  Kampfe  liegt,  und  seine  fortschreitende  Verwelt- 
lichung vor  Augen.  Von  den  Zirkusunternehmern  zu  Gaza 
ist  der  eine  ein  Diener  des  Gottes  Marnas,  der  andere  ein 
Christ.  Da  der  heidnische  Konkurrent  sich  einen  Zauberer 
hält,  der  durch  dämonische  Beschwörungen  seine  Pferde  an- 
treibt und  die  seines  Gegners  zurückhält,  begibt  sich  der  Christ 
zu  Hilarion  und  bittet  um  seinen  Beistand.  Nach  einigem 
Sträuben  —  hatte  Hilarion  doch  einst  einen  todkranken  Wagen- 
lenker nur  unter  der  Bedingung  geheilt,  dem  verfluchten  Zirkus- 
spiel zu  entsagen')  —  gibt  ihm  Hilarion  seinen  mit  Wasser 
gefüllten  Tonbecher,  und  der  Christ  besprengt  damit  Pferde, 
Wagen,  Stall,  Wagenlenker  und  die  Zirkusschranken.  Bei  dem 
Rennen  siegen  die  Pferde  des  Christen,  und  alles  Volk,  auch 
die  Heiden,  schreien:  Der  Gott  Marnas  ist  von  Christus  be- 
siegt worden.)  Eine  christliche  Magie  stellt  sich  der  heid- 
nischen entgegen;  je  mehr  sich  das  Christenturti  in  der  Welt 
einlebte,  um  so  stärker  flutete  der  heidnische  Aberglauben  in 
das  Christentum  hinein. 


§  33. 
Die  Bibelübersetzung  des  Hieronymus. 

In  Rom  hatte  Hieronymus  einst  die  Revision  des  neu- 
testamentlichen  Textes  auf  Anregung  seines  hohen  Gönners, 
des  Papstes  Damasus,  begonnen  und  nach  dessen  Tode  fort- 
gesetzt. Ob  er  diese  Arbeit  bereits  in  Rom  oder  erst  in  den 
ersten  Jahren  seines  Aufenthaltes  in  Bethlehem  vollendet  habe, 
darüber  können  wir  nur  Vermutungen  aufstellen.  Wahrschein- 
lich lag  sie  im  Jahre  392  bei  der  Abfassung  des  Schriftsteller- 

>)  Vita  Hilarionis  c.  16. 
-)  Vita  Hilarionis  c.  20. 


92  Die  ersten  Jahre  im   Kloster  zu  Bethlehem. 

katalogs,  sicher  im  Jalire  3Q8  fertig  vor/)  Daß  Hieronymus 
aber  in  Bethlehem  eine  neue,  unmittelbar  aus  dem  griechischen 
Grundtext  schöpfende  lateinische  Ausgabe  des  Neuen  Testa- 
ments verfertigt  habe,  läßt  sich  durch  nichts  beweisen,  und 
diese  Annahme  ist  auch  allgemein  aufgegeben.'-) 

Hieronymus  wandte  jetzt  seine  ganze  Arbeit  dem  Alten 
Testamente  zu.  Schon  in  Rom  hatte  er  den  altlateinischen 
Psalter  einer  Revision  unterzogen.  In  den  ersten  Jahren  seines 
Bethlehemitischen  Aufenthaltes  hatte  er  dann,  da  der  Text  des 
liturgisch  viel  gebrauchten  Buches  abermals  verwildert  war, 
eine  neue  gründlichere  Revision  des  Psalters  nach  dem 
hexaplarischen  Text  der  LXX  folgen  lassen.  )  Dem  Psalter 
ließ  Hieronymus  eine  Revision  des  Buches  Hiob  folgen.')  in 
seiner  Vorrede  weist  er  mit  Resignation  darauf  hin,  daß  er  mit 
solchen  textkritischen  Arbeiten  nur  bissigen  Anfeindungen 
ausgesetzt  sei:  )  den  Verbesserer  der  Fehler  nenne  man  einen 
Fälscher,  der  die  Irrtümer  nicht  entferne,  sondern  säe;  denn 
die  Gewöhnung  an  das  Alte  sei  gerade  beim  Bibeltext  so 
groß,  daß  auch  eingestandene  Fehler  ängstlich  konserviert 
werden  und  man  lieber  schönere  Kodices  als  emendierte  haben 
wolle.  Es  ist  eine  Ironie  im  Leben  des  Hieronymus,  die 
manches  erklärt,  daß  er  für  seine  mühevollste  und  beste  Arbeit, 
die  dem  Text  der  Bibel  gewidmet  war,  fast  nur  Undank  erntete, 
während    er  für  seine  leichtfertigen  und  flüchtigen  Leistungen 

')  s.  Chronologie  Bd.  I,  77ff  u.  219ff. 

^)  Corssen,  Epist.  ad  Oal.  Berlin  1885,  S.  35,  hat  die  Vermutung  aus- 
gesprochen, daß  das  Neue  Testament  nach  Hieronymus  eine  Rezension 
erfahren  habe,  da  sich  zwischen  den  Kommentaren  des  Hieronymus  und 
der  Vulgata  Differenzen  bemerkbar  machen. 

')  s.  Bd.  1,  223ff.  u.  H.  Ehrensberger,  Psalterium  vetus  und  die 
Psalterien  des  heiligen  Hieronymus,  S.  1 — 14,  Programm,  Tauberbischofs- 
heim 1887. 

*)  Lagarde,  Mitteilungen  II,  ISQff.,  hat  in  seiner  Ausgabe  des  Hiob 
nach  der  alexaiidrinischeii  Version  lediglich  den  in  den  beiden  einzigen 
ihm  bekannten  Handschriften  vorliegenden  Text  abgedruckt;  C.  P.  Caspari, 
Das  Buch  Hiob  1,  1  bis  38,  U)  in  Hieronymus'  Übersetzung  aus  der 
alexandrinischen  Version  nach  einer  St.  Gallener  Handschrift  saec.  VIII, 
Christiania  1893;  Georg  Baer,  Textkritische  Studien  zum  Buche  Hiob,  Zeit- 
schrift f.  alttest.  Wissenschaft  1896,  S.  297—314. 

■')  s.  auch  Praef.  in  lib.   Paralipom.,  Vallarsi  X,  433. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethiehein.  93 

von  der  urteilslosen  Menge  seiner  Bewunderer  gepriesen 
wurde.  Hat  doch  in  dieser  Hinsicht  auch  sein  größter  Zeit- 
genosse Augustin  so  wenig  wissenschaftlichen  Sinn  besessen, 
daß  er  der  Hieronymianischen  Übersetzung  des  Alten  Testa- 
ments aus  dem  Hebräischen  nicht  nur  keinen  Geschmack 
abgewinnen  konnte,  sondern  von  ihr  die  größte  Verwirrung 
der  Gemeinden  ängstlich  besorgte.') 

Hieronymus  mußtesich  bei  der  Revision  desHiob,die  erPaula 
und  Eustochium,  diesem  einzigen  Exempel  von  Adel  und  Demut, 
dedizierte,  damit  trösten,  daß  wenigstens  diese  beiden  ihm  er- 
gebenen Frauen  seine  Arbeit  voll  zu  würdigen  imstande  waren 
und  sich  über  den  seligen  Hiob,  der  bei  den  Lateinern  im 
Schmutze  lag  und  von  den  Würmern  der  Irrtümer  starrte, 
nach  seiner  Wiederherstellung  freuen  würden.  Diese  Revision 
der  altlateinischen  Bibelübersetzung  nach  dem  hexaplarischen 
Text  der  LXX  setzte  Hieronymus  fort.  Sicher  hat  er  eine 
solche  revidierte  Ausgabe  der  Salomonischen  Schriften,  Pro- 
verbien,  Prediger,  Hoheslied  und  der  Chronik  herausgegeben. 
Wir  besitzen  zwar  nicht  mehr  den  Text,  wohl  aber  noch  die 
Vorreden  zu  diesen  Ausgaben,  von  denen  die  zu  den  salo- 
monischen Schriften  Paula  und  Eustochium,)  die  zu  den  Büchern 
der  Chronik  seinem  römischen  Freunde  Domnio  und  einem 
sonst  unbekannten  Rogatianus  zugeeignet  waren.  ) 

Wie  bei  der  Revision  des  Psalters  bediente  sich  Hierony- 
mus in  diesen  nach  der  hexaplarischen  LXX  revidierten 
Büchern  der  von  Origenes  gebrauchten  kritischen  Zeichen. 
Der  Obelus  bezeichnete  alle  im  hebräischen  Texte  fehlenden 
Sätze  der  LXX,  der  Asteriskus  dagegen  die  Sätze,  die  sich  nur 
im  hebräischen  Texte  und  in  der  Übersetzung  des  Theodotion 
fanden.  Allerdings  erwähnt  er  in  den  Vorreden  zu  Hiob,  der 
Chronik  und  den  Salomonischen  Büchern  nicht  ausdrücklich  seine 
Benutzung  der  Übersetzung  des  Theodotion,  was  natürlich 
nicht  ausschließt,  daß  er  sie  zur  Hilfe  herbeigezogen  haben 
wird.  Aber  er  hat  doch  sicher  nicht  nur  die  in  der  LXX 
fehlenden  Sätze  einfach  nach  Theodotion  ins  Lateinische  über- 


*)  Ep.  112,  20  Hieronymi  ad  Augustinum,  Vallarsi  I,  746ff. 
2)  Praef.  in  lib.  Salomonis  iuxta  LXX,  Vallarsi  X,  435. 
*)  Praef.  in  lib.  Paralipom.,  Vallarsi  X,  433. 


94  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Betlilehetii. 

setzt,  sondern  bereits  bei  dieser  Revisionsarbeit  den  hebräischen 
Text  selbst  herangezogen.  In  der  Vorrede  zur  Chronik  gedenkt 
er  ausführlich  dieser  seiner  Bemühungen.  Er  hatte  einen 
Gesetzeslehrer  aus  Tiberias,  der  bei  den  Hebräern  in  hohem 
Ansehen  stand,  beigezogen  und  mit  ihm  die  Chronik  von  An- 
fang bis  zu  Ende  durchgelesen.  Das  kritische  Resultat,  das 
sich  ihm  aus  dieser  gemeinsamen  Lektüre  ergab,  faßte  er  dahin 
zusammen,  daß  gerade  dieses  alttestamentliche  Buch,  das  so 
viele  Namen  enthielt,  in  den  griechischen  und  lateinischen 
Kodices  von  Fehlern  wimmelte  und  die  hebräischen  Namen 
so  entstellt  waren,  daß  man  sie  für  barbarische  oder  sarmatische 
Namen  halten  konnte.  Hieronymus  glaubte  aber,  daß  die 
Schuld  nicht  den  Übersetzern  der  LXX,  sondern  den  Ab- 
schreibern zuzuschreiben  sei.  Diese  haben  aus  unemendierten 
Kodices  Unemendiertes  abgeschrieben,  indem  sie  oft  drei 
Namen  mit  Ausstoßung  von  Silben  in  ein  Wort  zusammen- 
faßten oder  einen  Namen  wegen  seiner  Länge  in  zwei  oder 
drei  Worte  teilten. 

Hat  nun  Hieronymus  das  ganze  Alte  Testament  nach  den 
LXX  emendiert  oder  nur  einen  Teil,  Psalter,  Hiob,  Chronik 
und  die  Salomonischen  Schriften?  Zöckler')  hat  das  erstere 
angenommen  und  eine  Revision  sämtlicher  kanonischen  Bücher 
des  Alten  Testaments  mit  Ausschluß  der  Apokryphen  durch 
Hieronymus  für  wahrscheinlich  erachtet.  Er  hat  sich  für  diese 
Annahme  auf  Äußerungen  des  Hieronymus  berufen,  in  denen 
er  ganz  allgemein  von  einer  Revision  des  lateinischen  Alten 
Testaments  nach  den  LXX  spricht.  Den  Angriffen  Rufins 
gegenüber,  der  wie  Augustin  von  seiner  Übersetzung  des 
Alten  Testaments  aus  dem  Hebräischen  nichts  wissen  wollte, 
berief  sich  Hieronymus  auf  seine  Revision  der  Itala  nach  den 
LXX,  die  er  mit  dem  größten  Fleiße  angefertigt  habe,  um  ihm 
zu  beweisen,  daß  es  doch  ein  Blödsinn  wäre,  ihn  als  Feind 
der  LXX  zu  bezeichnen.')  Und  an  den  vornehmen  Spanier 
Lucinius,  der  ihn  398  um  eine  Abschrift  seiner  Bücher  bat, 
schrieb    er,    daß    er    gewiß  die  Edition  der  LXX,    die    er    vor 

')  Hieronymus  S.  182. 

^)  Contra  Rufin.  11,  24,  Vallarsi  II,  518;  Contra  Rufin.  Mi,  25,  Vallarsi 
11.  555;  ep.  106,  2,  Vallarsi  1,  676. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  95 

vielen  Jahren  aufs  fleißigste  emendiert  herausgegeben  habe, 
besitze.')  Trotzdem  diese  beiden  Äußerungen  so  allgemein 
lauten,  glaube  ich  nicht,  daß  Hieronymus  außer  den  oben- 
genannten Schriften,  von  denen  uns  entweder  noch  der  Text 
oder  wenigstens  die  Vorreden  erhalten  sind,  noch  sämtliche 
übrieen  Schriften  des  Alten  Testaments  nach  den  LXX 
emendiert  hat.  Daß  von  dieser  Italarevision  des  Hieronymus 
keine  Spuren  mehr  erhalten  sind,  ist  natürlich  kein  durch- 
schlagender Grund  für  diese  Annahme.  Man  könnte  zur  Er- 
klärung  dieses  Tatbestandes  eine  gelegentliche  Äußerung  des 
Hieronymus  in  einem  Briefe  an  Augustin  vom  Jahre  415  her- 
beiziehen. Hieronymus  entschuldigt  sich  hier  dem  Augustin 
gegenüber,  ihm  keine  Abschrift  seiner  Italarevision  nach  den 
LXX  besorgen  zu  können,  da  einmal  in  Palästina  Mangel  an 
des  Lateinischen  kundigen  Abschreibern  sei,  dann  aber  habe 
er  auch  das  meiste  seiner  früheren  Arbeit  durch  den  Betrug 
eines  Unbekannten,  den  er  nicht  namhaft  macht,  verloren.') 
Man  könnte  also  damit  das  spurlose  Verschwinden  des  größten 
Teils  eines  so  umfassenden  Werkes  erklären.  Was  mir  aber  für 
meine  Ansicht  zu  sprechen  scheint,  ist,  daß  Hieronymus  in 
seinen  Vorreden  zur  Übersetzung  des  Alten  Testaments  aus 
dem  Hebräischen  von  einer  Revision  der  Psalmen,  des  Hiob, 
der  Salomonischen  Schriften  und  der  Chronik,  die  er  nach 
den  LXX  vorgenommen  habe,  spricht  und  sie  denen  zum  Ge- 
brauch empfiehlt,  die  seine  Übersetzung  aus  dem  Urtext  nicht 
gebrauchen  wollen.')  Es  sind  dies  aber  gerade  die  Bücher, 
von  denen  wir  allein  mit  Sicherheit  aus  dem  erhaltenen  Text 
oder  aus  den  Vorreden  wissen,  daß  er  sie  emendiert  hat.  Es 
wäre  ein  ganz  merkwürdiger  Zufall,  wenn  er  in  allen  anderen 
Fällen,  falls  er  wirklich  das  ganze  Alte  Testament  nach  den  LXX 
emendiert  hätte,  von  dieser  Arbeit  geschwiegen  hätte.  Nur 
betreffs  der  Prophetenbücher  scheint  es  mir  noch  möglich,  ja 
sogar  wahrscheinlich,  daß  sie  Hieronymus  nach  dem  LXX 
revidiert  hat;  denn  in  seinen  Kommentaren  zu  den  Propheten 


»)  Ep.  71,  5,  Vallarsi  1,  432. 

2)  Ep.  134,  Nachschrift,  Vallarsi  1,  1038. 

3)  Die    Vorrede    bei    Migne    28,    11 25 ff.;    28,    11 79 ff.;    28,    1323 ff.; 
28,  1012,  41  ff. 


96  Die  ersten  Jahre  im   Kloster  zu  Bethlehem. 

stellte   er  neben    die   Übersetzung  aus   dem   hebräischen  Text 
die  Übersetzung  nach  der  LXX.') 

Wir  dürfen  annehmen,  daß  diese  Revisionsarbeit  des 
Hieronymus  an  einem  Teil  der  alttestamentlichen  Bücher  sich 
rasch  und  weit  im  Abendlande  verbreitete.  Als  ihm  der 
Spanier  Lucinius  398  schrieb,  setzte  Hieronymus  voraus,  daß 
dieser  im  Besitze  seiner  Revision  des  Alten  Testaments  sei, 
und  Augustin  benutzte  für  seine  Annotationen  zu  Hiob  ebenfalls 
die  Hieronymianische  Hiobrezension  nach  den  LXX.  Daß  auf 
uns  nur  die  Texte  des  Psalter  und  Hiob  in  dieser  Revision 
gekommen  sind,  w^ährend  Chronik,  Propheten  und  Salomonische 
Schriften  verloren  gegangen  sind,  mag  die  bereits  oben  er- 
wähnte zufällige  Notiz  des  Hieronymus  erklären,  wonach  er  selbst 
schon  zu  seinen  Lebzeiten  nicht  mehr  Abschriften  sämtlicher 
von  ihm  revidierten  Bücher  besaß,  sondern  durch  Betrug  eines 
Unbekannten  darum  gebracht  worden  war.  Hat  aber  Hieronymus 
nur  einen  Teil  des  Alten  Testaments  nach  den  LXX  einer  Revision 
unterzogen,  so  wird  auch  das  Schweigen  über  diese  Arbeit 
in  seinem  3Q2  verfaßten  Schriftstellerkatalog  verständlicher. 
Daß  er  diese  Arbeit  damals  bereits  fertiggestellt  hatte,  ist  so 
gut  wie  sicher.  Er  erwähnt  hier  aber  nur  seine  Übersetzung 
des  Alten  Testaments  aus  dem  Hebräischen,  die  er  damals 
nur  begonnen,  aber  sicher  noch  nicht  vollendet  hatte.  )  Wahr- 
scheinlich hatte  die  hexaplarische  Italarevision  für  ihn  in  der 
Zeit  ihre  Bedeutung  verloren,  in  der  er  mit  der  Übersetzung  des 
Alten  Testaments  aus  dem  Grundtext  begonnen  hatte;  und 
dann  war  diese  Revisionsarbeit  ein  Torso  geblieben,  an  dem 
er,  der  sonst  doch  nicht  allzu  bescheiden  von  seinen  Arbeiten 
dachte,  so  wenig  Freude  hatte,  daß  er  im  Verzeichnis  seiner 
Werke  für  die  Nachwelt  davon  schwieg.  Bedeutsam  ist  aber 
diese  Arbeit  vor  allem  dadurch,  daß  sie  uns  zeigt,  wie  Hierony- 
mus sich  stufenweise  immer  mehr  seinem  Ziel,  einen  möglichst 
authentischen  Text  des  Alten  Testaments  herzustellen,  annähert. 
Erst  hatte  er  nur  den  Italatext  des  Psalters  korrigiert,  dann 
hatte  er  eine  gründlichere   Revision    des  Psalters,    der    Bücher 

')  Humfr.   Hodius,    De  Bibiiorum   textibus   origin.  vers.  gr.  et    latina 
vulgata  I.  IV  Oxon.   1705  fol.  S.  354 ff. 
")  De  vir.  illiist.  c.   135. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  97 

Salomonis,  der  Chronik  und  wahrscheinlich  auch  der  Propheten 
nach  dem  hexaplarischen  Texte  der  LXX  vorgenommen,  und 
zuletzt  machte  er  sich  an  eine  neue  Übersetzung  des  Alten 
Testaments  aus  dem  hebräischen  Text. 

Hier  zeigt  sich  Hieronymus  in  der  immer  tieferen  Er- 
fassung der  wissenschaftlichen  Aufgabe,  die  er  sich  stellte, 
als  wirklicher  Gelehrter,  der  er  trotz  aller  Flüchtigkeit  und 
alles  Leichtsinns  wenigstens  der  Anlage  nach  war.  In 
dieser  Beziehung  übertrifft  er  alle  seine  Zeitgenossen,  auch 
Augustin  mit  eingeschlossen,  weit.  Wir  müssen  aber  auch 
seine  eminente  Arbeitskraft  und  Arbeitsfreudigkeit  bewundern, 
daß  er  nach  der  mühevollen  Arbeit  der  Revision  eines  Teils 
des  Alten  Testaments  nach  den  LXX  nicht  vor  der  viel  mühe- 
volleren einer  Übersetzung  des  ganzen  Alten  Testaments 
aus  dem  Orundtext  zurückschreckte.  Und  es  ist  dies  um 
so  höher  einzuschätzen,  als  der  nach  Anerkennung  Lüsterne 
eine  Arbeit  unternahm,  von  der  er  sich  nach  seinen  Er- 
fahrungen in  Rom  sagen  mußte,  daß  er  nur  Undank  ernten 
werde;  und  in  der  Tat  haben  ja  die  Besten  seiner  Zeit,  wie 
bereits  oben  hervorgehoben  wurde,  Männer  wie  Augustin,  das 
gigantische  Unternehmen  nicht  nur  nicht  zu  würdigen  ver- 
mocht, sondern  mit  unverhohlenem  Mißtrauen  begleitet.  Das 
Dogma  von  der  Verbalinspiration  der  Heiligen  Schrift  und 
seelsorgerische  Bedenken  wegen  der  Verdrängung  des  alten 
geheiligten  Textes  reagierten  gegen  jede  Arbeit  am  Text  der  Bibel. 

Zuerst  begann  Hieronymus  die  zwei  Bücher  Samuelis  und 
die  zwei  Bücher  der  Könige,  nach  griechischer  Zählung  die 
vier  Bücher  der  Könige,  zu  übersetzen.')  Vielleicht  nahm  er 
diese  Bücher  zuerst  in  Angriff,  weil  sie  ihm  die  geringsten 
sprachlichen  Schwierigkeiten  bereiteten.  In  dem  sogenannten 
prologus  galeatus  an  Paula  und  Eustochium  schickte  er  dem 
ganzen  Übersetzungswerk  eine  Vorrede  voraus.")  Er  nennt 
hier  keine  Hilfsmittel,  die  er  benutzt  hat;  aber  es  ist  deutlich, 
daß  er  seine  Kenntnisse  den  Hebräern  und  Origenes  verdankt. 
So  finden    wir   z.  B.  seine  Mitteilung    über    die  Schriftzeichen 


■fc> 


')  Chronologie  Bd.  I,  74 ff. 

-)  Vallarsi  IX,  453-60,  Migne  28,  547 ff. 

O  rü  tzinach  er,    Hieronymus.    II. 


98  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

der  Juden,  wonach  die  Juden  früher  die  samaritanische  Schrift 
gebrauchten  und  erst  nach  dem  Exil  durch  Esra  die  jetzt 
übhche  Quadratschrift  annahmen,  im  Talmud  und  bei  Origenes 
wieder.')  Hieronymus  zählt  22  kanonische  Bücher  des  Alten 
Testaments  nach  den  22  Buchstaben  des  hebräischen  Alphabets 
wie  Origenes  und  Athanasius.)  Daneben  weiß  er  noch  von 
einer  Zählung  von  24  Büchern,  wobei  Ruth  und  Klagelieder 
als  selbständige  Bücher  gezählt  würden,  und  von  einer  von 
27  Büchern,  welche  den  27  Buchstaben  entsprächen,  die  das 
hebräische  Alphabet  mit  Einschluß  der  fünf  Finalbuchstaben 
habe.*)  Das  Plus  der  fünf  kanonischen  Bücher  entsteht  bei  der 
letzteren  Zählung  durch  Zählung  von  zwei  Büchern  Samuelis, 
zwei  Büchern  der  Könige,  zwei  Büchern  der  Chronik,  zwei 
Büchern  Esra  und  Trennung  der  Klagelieder  vom  Propheten 
Jeremias.  Er  gibt  dann  die  griechischen  und  hebräischen 
Namen  der  Bücher  des  alttestamentlichen  Kanons*)  und  zählt 
fünf  Bücher  Mosis,  acht  Propheten  und  neun  Hagiographen, 
zu  denen  er  hier  nach  hebräischer  Anordnung,  abweichend 
von  seiner  sonstigen  Gewohnheit,  Daniel  zählt.  ) 

Scharf  versuchte  Hieronymus  die  Apokryphen  vom  Kanon 
abzugrenzen:  Was  nicht  zu  dem  Kanon  gehört,  ist  zu  den 
Apokryphen)  zu  rechnen,  wie  die  Weisheit  Salomonis,  Jesus 
Sirach,  Judith,  Tobias,  der  Hirte  des  Hermas'),  das  erste  Buch  der 


')  Origenes  in  Ez.  9,  4  u.  Ps.  2  de  la  Rue  H,  539;  Gemara  Hier. 
Sanhedrin  f.  22,  s.  H.  Reusch,  Lehrbuch  der  Einleitung  ins  Alte  Testament, 
Freiburg  1870,  S.  185 ff. 

-)  Eusebius,  Hist.  eccl.  VI,  25;  Athanasius  epist.  fest.  I,  961   ed.  Ben. 

^)  Epiphanias,  De  mensuris  et  ponderibus  c.  22  u.  23. 

••)  s.  über  die  Abweichungen  von  Origenes  u.  Eusebius  die  An- 
merkungen Martianay  bei  Vallarsi  iX,  453ff. 

*)  In  der  f'raef.  in  Dan.,  Migne  28,  1291  zählt  er  fünf  Bücher  Mosis, 
acht  Propheten  und  elf  Hagiographen,  wobei  jedenfalls  Ruth  und  Klage- 
lieder als  selbständige  Bücher  unter  den  Hagiographen  gezählt  sind; 
ep.  33,  8,  Vallarsi  1,  277:  Daniel  quartus  vero,  qui  et  extremus  inter 
quattuor  profetas. 

'^)  Über  seine  Stellung  zu  den  Apokryphen  s.  die  alles  Material  bei- 
bringende Abhandlung  von  L.  Sanders,  Etudes  sur  S.  Jerome,  Brüssel 
1903,  La  question    de  la  canonicite  des  libres  deuterocanoniques,  S.  196  ff. 

')  Über  die  Stellung  des  Hermas  beim  Alten  Testament  und  seine 
Wertung  s.  Athanasius,  ep.  fest.  ed.  Ben.  1,  963  und  Sanders,  S.  198  ff. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  99 

Makkabäer,  von  dem  Hieronymus  noch  den  hebräischen  Grund- 
text kannte,  und  das  zweite  Buch  der  Makkabäer,  das  griechisch 
geschrieben  sei.  Dies  Verzeichnis  der  alttestamentlichen  Apo- 
kryphen ist  aber  nicht  vollständig.  In  der  Vorrede  zum  Jeremias 
gedenkt  er  noch  des  Buches  Baruch '),  in  der  Vorrede  zum 
Daniel  ^)  der  sich  nur  in  der  griechischen  Redaktion  des 
Propheten  findenden  Zusätze,  der  Geschichte  der  Susanna,  des 
Lobgesangs  der  3  Männer  im  feurigen  Ofen,  der  Fabeln  vom 
Bei  und  Drachen  zu  Babel,  und  in  der  Vorrede  zu  Esra')  des 
3.  und  4.  Buches  Esra.  Seine  Stellung  zu  den  Apokryphen  ist 
nicht  widerspruchlos,  aber  im  allgemeinen  läßt  sich  doch  sagen, 
daß  er  aus  seiner  Vorliebe  für  den  hebräischen  Kanon  kein 
Hehl  gemacht  hat.  Nur  im  Kampfe  mit  Rufin  gab  er  seine 
ablehnende  Stellung  zu  den  Apokryphen  zeitweilig  auf  und 
machte  Zugeständnisse  an  die  in  der  abendländischen  Kirche 
herrschend  werdende  Beurteilung  der  Apokryphen,  die  sie  zum 
Kanon  rechnete.')  Sonst  ist  Hieronymus  der  Meinung,  daß 
die  Apokryphen,  wie  Judith,  Tobias,  die  Makkabäerbücher,  Jesus 
Sirach  und  die  dem  Juden  Philo  zugeschriebene  Weisheit 
Salomonis,  zwar  in  der  Kirche  gelesen  werden  dürfen,  aber 
nicht  zu  den  kanonischen  Schriften  gehören.  Ihre  gottesdienst- 
liche Lesung  diene  der  Erbauung  der  Gläubigen,  aber  die 
Dogmen  unseres  Glaubens  dürfe  man  in  keinem  Falle  durch 
ihr  Zeugnis  begründen.  )  Hieronymus  wollte  auch  zunächst 
die  praktischen  Konsequenzen  aus  seinem  Standpunkte  ziehen, 
wonach  die  Apokryphen  Schriften  von  wertloser  oder  minder- 
wertiger Dignität  seien.  Er  übersetzte  deshalb  auch  nicht, 
wie  er  sagt,  die  Träumereien  des  3.  und  4.  Buches  Esra;  auch 
das  Buch  Baruch,  die  Weisheit,  Jesus  Sirach,  die  Makkabäer- 
bücher und  die  Zusätze  zum  Buch  Esther  ließ  er  unübersetzt. 
Aber  die  Zusätze  im  griechischen  Daniel  nahm  er  inkonsequent 
in  seine  neue  Übersetzung  auf,  obwohl  er  in  der  Vorrede  die 
Kritik  der  Juden,  die  diese  Geschichten  für  albern  und  unglaub- 


1)  Migne  28,  847  ff. 

2)  Migne  28,  1291. 
")  Migne  28,  1401. 

*)  Rufin,  Contra  Hier.  11,  33;  Hier.,  Contra  Ruf.  11,  33. 
*)  Praef.  in  lib.  Salomonis,  Migne  28,  1242  ff. 

7* 


100  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

würdig  erklärte,  ausführlich  referierte,  ohne  einen  Versuch  zu 
ihrer  Widerlegung  zu  machen.  Nur  durch  das  Vorsetzen  des 
Obelus  bezeichnete  er  sie  als  unecht,  d.  h.  nicht  zum  hebräischen 
Text  gehörig.  Später  übersetzte  er  die  beiden  apokryphen 
Bücher  Judith  und  Tobias  aus  dem  Chaldäischen ;  aber  in  den 
Vorreden  an  die  ihm  befreundeten  Bischöfe  Chromatius  und 
Heliodorus ')  bekannte  er  ausdrücklich,  daß  er  nur  dem  Wunsche 
und  Drängen  der  beiden  abendländischen  Bischöfe  nachgegeben 
habe,  denen  er  zu  Dank  verpflichtet  war  und  die  ihm  stets  bei 
seinen  für  sie  gefertigten  Arbeiten  ausgiebige  finanzielle  Unter- 
stützung geliehen  hatten.')  Das  Buch  Judith  habe  er  auch  deshalb 
übersetzt,  weil  es  die  Nicänische  Synode  zu  den  heiligen 
Schriften  gerechnet  habe.  )  Großen  Fleiß  und  Sorgfalt  ver- 
wandte er  übrigens  auf  die  ihm  unsympathischen  Arbeiten  nicht. 
Dem  Buche  Tobias  widmete  er  nur  die  Arbeit  eines  Tages, 
dem  Buche  Judith  die  einer  Nacht  und  übersetzte  mehr  sinn- 
gemäß als  wörtlich. 

Bei  der  Übersetzung  der  kanonischen  Bücher  aus  dem 
Hebräischen  hat  sich  Hieronymus  redlich  gemüht,  möglichst 
Vollkommenes  zu  leisten.  Mit  Stolz  fordert  er  den  Leser  auf: 
Nimm  meine  Übersetzung  des  Samuel  und  der  Könige,  meine, 
sage  ich,  meine;  denn  was  wir  durch  vieles  Übersetzen  und 
sorgsames  Emendieren  gelernt  haben  und  können,  ist  unser.*) 
Mit  Absicht,  so  hebt  er  mehrfach  hervor,  hat  er  nirgends  an 
dem  hebräischen  Text  Änderungen  vorgenommen,  sondern 
diesen  möglichst  verständlich  wiederzugeben  versucht.')  Er 
ist  in  seiner  Übersetzung  keinem  der  Alten  sklavisch  gefolgt, 
sondern  hat  bald  wörtlich,  bald  sinngemäß  übersetzt.)  Er  hat 
dabei  naturgemäß  mit  vielen  Schwierigkeiten,  je  nach  den  ver- 
schiedenen Büchern,  zu  kämpfen  gehabt.     Beim  Hiob,  der  den 


')  Praef.  in  Tobiani,  Mijjne  29,  23  ff.  und  Praef.  in  Jud.  29,  397  ff. 

^)  Praef.  in  lib.  Salomonis,  Migne  28,  1241  ff. 

•■')  Diese  Behauptung  des  Hieronymus  geht  wohl  auf  einen  unter- 
geschobenen, uns  verlorenen  Kanon  von  Nicäa  zurück;  s.  Sanders  S.  232, 
Anni.  1. 

*)  Prologus  galeatus,  Migne  28,  557. 

»)  Prol.  zum  Psalter,  Migne  28,  1 125  ff.;  Prol.  zu  Esther,  Migne  28,  1433. 

^)  Praef.  in  Hiob,  Migne  28,  1079  ff. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu   Bethlehem.  101 

Hebräern  als  schwer  verständlich  galt,  zog  er  einen  jüdischen 
Lehrer  aus  Lydda  herbei  und  mußte  ihm  seine  Hilfeleistung 
mit  schwerem  Geld  aufwiegen.')  Die  Blume  der  Rede  des 
beredtesten  Propheten  Jesaia,  der  als  Mann  vornehmer  Ab- 
kunft nichts  Bäuerisches  in  seiner  Rhetorik  hat,  ließ  sich  nur 
schwer  in  der  Übersetzung  wiedergeben,  )  während  der  Priester 
Jeremias,  ein  Dörfler  aus  Anathot  bei  Jerusalem  bäuerischer  im 
Stil  seiner  Rede  ist,  und  der  Priester  Ezechiel  zwischen  beiden 
die  Mitte  hält.  Aber  der  Anfang  und  das  Ende  des  Ezechiel 
stellten  durch  ihre  Dunkelheit  wieder  schwere  Anforderungen 
an  den  Übersetzer.')  Auch  beim  Propheten  Joel  bereitete  ihm 
zwar  nicht  der  leichtere  Anfang,  wohl  aber  der  Schluß,  der 
schwer  verständlich  ist,  große  Schwierigkeiten.')  Besonders 
hat  er  aber  über  der  Übersetzung  der  aramäischen  Stücke  in 
Daniel  und  Esra  geschwitzt.  Er  erzählt,  wie  er  bei  der  Über- 
setzung des  Daniel  fast  verzweifelt  sei  und  nur  durch  den 
Zuspruch  des  Hebräers,  der  ihn  im  Chaldäischen  unterrichtete, 
ausgeharrt  habe.  Er  bekennt,  daß  er  es  auch  in  der  Erlernung 
der  chaldäischen  Sprache  nur  dahin  gebracht  habe,  dieselbe  zu 
lesen  und  zu  verstehen,  aber  nicht  sie  zu  sprechen.*)  Bei  der 
Übersetzung  des  chaldäisch  geschriebenen  Tobias  ließ  er  sich 
deshalb  von  einem  des  Hebräischen  und  Chaldäischen  kundigen 
Juden  das  Chaldäische  zuerst  ins  Hebräische  übertragen  und 
diktierte  dann  dem  Notar  die  lateinische  Übersetzung  aus  dem 
Hebräischen.  )  Weil  er  das  Chaldäische  nicht  genügend  be- 
herrschte, hat  er  auch  das  Chaldäische  Buch  Judith  nur  sinn- 
gemäß wiederzugeben  vermocht.')  Im  allgemeinen  scheint 
Hieronymus  auf  die  Übersetzung  der  einzelnen  kanonischen 
Bücher  des  Alten  Testaments  verhältnismäßig  viel  Zeit  verwandt 
zu  haben.')     Nur  in    der  Vorrede  zu  den  Büchern  Salomonis 

»)  Praef.  in  Hiob,  Migne  28,  1079  ff. 

-')  Prol.  in  Jes.,  Migne  28,  771. 

ä)  Prol.  in  Jerem.  Migne  28,  847  ff.   und  in  Ezech.,  Migne  28,  937  ff. 

*)  Prol.  in  duodecim  proph.,  Migne  28,  1013  ff. 

4  Prol.  in  Dan.,  Migne  28,  1291  ff. 

6)  Prol.  in  Tob.  Migne  29,  23  ff. 

')  Prol.  in  Jud.  Migne  29,  39  ff. 

*)  Prol.  in  Pentateuchum,  Migne  28,   147  ff.;    Prol.  in  Josuam  Migne 

28,  461  ff. 


102  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

nennt  er  diesen  Teil  der  Übersetzung  ein  Werk  von  drei  Tagen. 
Er  übertreibt  hier  vielleicht;  aber  wenn  er  für  das  Buch  Judith 
und  Tobias  einen  Tag  oder  eine  Nacht  brauchte,  so  ist  es 
immerhin  möglich,  daß  er  in  drei  Tagen  Sprüche,  Prediger 
und  Hoheslied  übersetzt  hat.  Allerdings  besaß  er  gerade  für 
diesen  Teil  seiner  Übersetzungsarbeiten  umfangreiche  Vor- 
arbeiten. Er  hatte  einen  Kommentar  zum  Prediger  geschrieben 
und  die  Bücher  Salomonis  nach  den  LXX  emendiert.  Daß  aber 
bei  einer  solchen  Schnellarbeit  die  Solidität  seiner  Übersetzung 
leiden  mußte,  ist  naturgemäß.  Die  Übersetzung  ist  deshalb 
auch  nicht  in  allen  ihren  Teilen  gleichwertig,  aber  dies  ist 
schließlich    bei    einem    so  großen  Werk    nicht  verwunderlich. 

Um  ein  besseres  Verständnis  der  Bücher  für  den  Leser  zu 
ermöglichen,  hat  Hieronymus  die  Propheten,  die  Psalmen  und 
Hiob  in  längere  und  kürzere  Abschnitte  schreiben  lassen,  wie 
dies  bei  den  Reden  Ciceros  und  Demosthenes  gebräuchlich  war.') 
Er  ging  dabei  zum  Teil  von  der  irrigen  Voraussetzung  aus,  daß 
dieseBücher  mitAusnahme  des  Anfangs  undSchlusses  desHiobs, 
der  in  Prosa  geschrieben  sei,  in  Metren,  und  zwar  Hexametern 
verfaßt  seien.  Aber  auch  bei  der  Chronik  hat  er  dieses  Ver- 
fahren angewandt,  hier  allerdings  mit  der  Absicht,  daß  die  Namen, 
die  durch  die  Abschreiber  so  stark  korrumpiert  waren,  künftighin 
in  seiner  Übersetzung  besser  auseinandergehalten  würden. 

Durch  alle  Vorreden  zu  den  einzelnen  Büchern  seiner 
Übersetzung  geht  ein  polemischer  Zug,  überall  setzt  er  sich 
mit  Gegnern  seines  Übersetzungswerkes  auseinander.  Wer 
sind  denn  diese  Gegner,  und  wo  haben  wir  sie  zu  suchen  ? 
Er  macht  sie  nirgends  persönlich  namhaft,  aber  seine  römischen 
Freunde  Domnio  und  Rogatianus,  auf  deren  Bitten  er  das 
Buch  Esra  übersetzte,  bat  er,  seine  Übersetzung  nicht  zu  ver- 
öffentlichen, sondern  privatim  zu  lesen.  Sie  sollten  nur  ihm 
wohlgesinnten  Brüdern  ein  Exemplar  zur  Verfügung  stellen, 
diese  aber  bei  der  Abschrift  ermahnen,  besonders  auf  die  zahl- 
reichen Namen,  die  sich  in  dem  Buch  fänden,  acht  zu  geben, 
und  sie  getrennt  in  Intervallen  abzuschreiben,  damit  die  Namen 
nicht  wieder,    wie  dies    in  der  Itala    der  Fall  sei,    korrumpiert 


')  Prol.  in  Jes.,  Migne  28,  771. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethleiiem.  103 

würden.  Es  sind  also  vermutlich  dieselben  römischen  Kreise, 
die  früher  seine  Revisionsarbeit  am  Neuen  Testament  ver- 
dächtigt hatten,  die  nun  auch  seine  Übersetzung  des  Alten 
Testaments  aus  dem  Hebräischen  möglichst  schlecht  machten. 
Während  er  aber  fast  immer  im  Plural  von  seinen  Neidern 
und  Kritikern  redet,  die  eifersüchtig  auf  seine  Arbeit  sind,  sie 
öffentlich  tadeln,  aber  im  geheimen  lesen,  spricht  er  in  der 
Vorrede  zum  Buch  Esra  von  der  zischenden  Hydra  und  ein 
anderes  Mal  in  der  Vorrede  zum  Buch  Josua  von  dem  Skorpion, 
der  sich  gegen  uns  erhebt  und  nicht  aufhört,  das  heilige 
Werk  mit  vergifteter  Zunge  zu  zerpflücken.')  Hier  ist  ver- 
mutlich Rufin  gemeint,  der,  nachdem  er  mit  Hieronymus  zer- 
fallen war,  sich  zum  Wortführer  der  Kreise  gemacht  hatte,  die 
sein  Unternehmen  als  pietätloses,  gegen  die  durch  den  Gebrauch 
der  Väter  geheiligten  LXX  gerichtetes  brandmarkten.') 

Hieronymus  antwortete  nun  auf  diese  aus  Eifersucht,  Kurz- 
sichtigkeit und  ängstlichem  Festhalten  am  Traditionellen  hervor- 
gehenden Angriffe  mit  einer  Sachlichkeit  und  Ruhe,  die  wir  bei 
ihm  sonst  so  oft  vermissen. ')  Nur  selten  läßt  er  sich  hierzu  der 
alten  Leidenschaftlichkeit  hinreißen,  sondern  nimmt  sein  Kreuz  als 
Märtyrer  der  Wissenschaft  seinen  engherzigen  Gegnern  gegen- 
über auf  sich.  Wenn  die  LXX  rein  und  wie  sie  ursprünglich 
von  den  70  ins  Griechische  übersetzt  worden  waren,  geblieben 
wären,  so  wäre  es  überflüssig,  so  schreibt  er  an  den  Bischof 
Chromatius  in  der  Vorrede  zu  Chronik,  daß  du,  heiligster  und 
gelehrtester  Bischof,  mich  auffordertest,  daß  ich  die  hebräischen 
Bücher  ins  Lateinische  übersetzte.  Da  aber  in  Ägypten  die  Re- 
daktion der  LXX,  die  auf  Hesychius,  da  von  Konstantinopel  bis 
Antiochia  die  Redaktion,  die  auf  Lucian,  und  in  Palästina,  die  ge- 
braucht wird,  die  auf  Origenes  zurückgeht,  so  wird  eine  Über- 
setzungsarbeit  aus  dem  Hebräischen  zur  dringenden  Notwendig- 
keit.')   Es  gibt  bei  den  Lateinern  so  viel  Exemplare  wie  Codices, 


')  vergl.  Prol.  in  Conim.  in  Joel,  Vallarsi  VI,  167;  Prol.  in  Comm. 
in  Hosea  lib.  II,  Vallarsi  VI,  54. 

2)  Contra  Rufin.    II,  24,  Vallarsi  II,  518. 

^)  vergl.  ep  57,  ad  Pammacliium,  de  optimo  genere  interpretandi, 
Vallarsi  I,  303,  s.  auch  Bd.  I,  183  ff. 

*)  Migne  28,  1323  ff. 


104  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu   Bethlehem. 

da  jeder  willkürlicheZusätze  macht.')  Zwar  ist  die  Textverderbnis 
nicht  bei  allen  Büchern  gleichmäßig.  Aber  z.  B.  das  Buch 
Esther  hat  durch  verschiedene  Übersetzer  zahlreiche  Zusätze 
bekommen '),  im  Hiob  sind  die  LXX  und  die  altlateinische  Über- 
setzung unvollständig,  es  fehlen  in  der  altlateinischen  Über- 
setzung 70  oder  80  Verse,')  im  Jeremia  ist  die  Anordnung 
der  Visionen  in  den  LXX  und  bei  dem  Altlateiner  ganz  in 
Verwirrung  geraten  und  läßt  sich  nur  nach  dem  hebräischen 
Text  wiederherstellen.')  Nur  im  Ezechiel  sind  die  Abweichungen 
der  altlateinischen  Übersetzung  vom  hebräischen  Text  unbe- 
deutend.') Immer  wieder  hebt  Hieronymus  hervor,  daß  er  mit 
seiner  Übersetzung  keinen  Tadel  gegenüber  den  LXX  und  der 
altlateinischen  Übersetzung  aussprechen  wolle,  sondern  sie 
nur  verbessere.  Wenn  bei  den  Griechen  der  Jude  Aquila, 
die  jüdelnden  Häretiker  Symmachus  und  Theodotion,  die  viele 
Geheimnisse  des  Erlösers  durch  listige  Übersetzung  unter- 
schlugen, in  der  HexajDla  in  der  Kirche  gebraucht  und  von 
kirchlichen  Männern  ausgelegt  werden,  wie  viel  weniger  dürfe 
seine  Arbeit  eines  von  christlichen  Eltern  geborenen  Christen, 
der  das  Kreuzeszeichen  an  der  Stirn  trage,  von  übelwollenden 
Lehrern  zurückgewiesen  werden.  Sei  doch  seine  Absicht  nur 
darauf  gerichtet  gewesen,  Ausgelassenes  nachzuholen,  Falsches 
zu  korrigieren  und  die  Geheimnisse  der  Kirche  in  reiner  und  zu- 
verlässiger Rede  zu  offenbaren.  „Wer  will,  mag  alte  Bücher  oder 
solche  auf  purpurnem  Pergament  mit  Gold  und  Silber  oder 
mit  überaus  großen  Buchstaben  geschriebene,  mehr  Lasten  als 
Kodices  haben;  möge  man  mir  und  den  Meinen  nur  erlauben, 
arme  Papierhandschriften  zu  besitzen  und  nicht  sowohl  schöne 
als  verbesserte  Kodices."  Allerdings  will  Hieronymus  auch 
nichts  von  einer  Inspiration  der  LXX  wissen.  Mit  Rücksicht  auf 
ihren  Auftraggeber,  den  König  Ptolemäus,  haben  die  70  die 
trinitarischen  Aussagen  verhüllt.  „Ich  verdamme  und  tadle 
nicht  die  LXX,    aber  allen  jenen  ziehe  ich   mutig  die  Apostel 


•)  Migne  28,  1433. 
*)  Migne  28,  1433. 
")  Migne  28,  1079  ff. 
*)  Migne  28,  847  ff. 
")  Migne  28,  937  ff. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  105 

vor." ')  Bei  den  Aposteln  und  Evangelisten  finden  sich  viele 
Zitate  aus  dem  Alten  Testament,  die  sich  in  unseren  Kodices 
nicht,  wohl  aber  im  hebräischen  Original  finden.')  Er  macht 
aber  auch  auf  die  Inkonsequenzen  der  kirchlichen  Praxis  im 
Gebrauch  der  LXX  aufmerksam.  Beim  Daniel  gebrauche  man 
die  LXX  nicht,  warum  wisse  er  nicht,  vielleicht  weil  sie  sehr 
ungenau  sei.  Statt  dessen  bediene  man  sich  hier  des  Theo- 
dotion.^)  Und  auch  seine  Revision  des  Hiob  nach  der  Hexapla, 
die  Zusätze  aus  Theodition  oder  dem  hebräischen  Text  ent- 
halte, lasse  man  anstandslos  zum  kirchlichen  Gebrauch  zu. 
„Es  mögen  also  meine  Neider  lernen,  im  ganzen  aufzunehmen, 
was  sie  in  Teilen  aufgenommen  haben,  oder  konsequent  meine 
Revision  des  Altlateiners  mit  den  Asterisken  ebenfalls  ablehnen."*) 
Seine  Übersetzung  aus  dem  Grundtext  soll  einem  wissen- 
schaftlich-apologetischen Zweck  dienen.  „Es  ist  etwas  anderes, 
in  den  Kirchen  der  Christo  Gläubigen  die  Psalmen  zu  lesen 
und  etwas  anderes,  den  Juden,  die  einzelne  Worte  böswillig 
kritisieren,  zu  antworten."  )  Gegen  den  praktischen  Gebrauch 
der  LXX  hat  er  nichts  einzuwenden;  er  selbst  erklärt,  daß  er 
sie  im  Konvent  seinen  Mönchen  auslege).  Aber  als  sein  Freund 
Sophronius  mit  den  Juden  disputierte,  und  messianische 
Stellen  aus  dem  Psalter  zitierte,  mußte  er  die  böse  Erfahrung 
machen,  daß  die  Juden  ihm  sagten,  daß  dies  nicht  im  hebräi- 
schen Text  des  Psalters  stehe.  Deshalb  hatte  er  Hieronymus 
gebeten,  eine  neue  wortgetreue  Übersetzung  des  Psalters  aus 
dem   Hebräischen    anzufertigen,    die    er  dann    ins   Griechische 


^)  Praef.  in  Pentateiichum  an  Desiderius  gerichtet,  Migne  28,  147  ff. 
Desiderius  ist  der  Adressat  der  ep.  47,  Freund  des  Paulin  von  Noia  und 
Sulpicius  Severus,  s.  unten.  Hier  erwähnt  auch  Hieronymus  die  Legende, 
daß  die  70  von  Ptolemaeus  in  70  Zellen  eingesperrt  wurden,  als  helle- 
nistisches Märchen,  von  dem  Aristeas  und  Josephus  nichts  wüßten. 

-)  Praef.  in  Pentateuchum,  Migne  28,  147  ff. 

^)  Praef.  in  Dan.,  Migne  28,  1291  ff. 

*)  Praef.  in  Hiob,  Migne  28,   1079  ff. 

'")  Psalterium  iuxta  Hebraeos  Hieronymi  e  recognitione  P.  de  Lagarde, 
Leipzig  1874  und  Baethgen,  eine  Handschrift  der  Psalmen  iuxta  Hebr. 
Hieronymi,  Zeitschr.  f.  alttest.  Wissenschaft  1881,  S.  105—112. 

•')  Praef.  in  Chron.,  Migne  28,  1323. 


106  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

zurückzuübersetzen  versprach.')  Mit  Ironie  spottet  deshalb 
Hieronymus,  daß  die  Menschen,  die  sonst  stets  neue  Genüsse 
lieben  und  deren  Gaumen  nicht  die  benachbarten  Meere  ge- 
nügen, sich  allein  beim  Studium  der  Schrift  mit  dem  alten 
Geschmack  zufrieden  geben.  Um  den  Juden  die  Waffe  aus 
der  Hand  zu  ringen,  daß  sie  nicht  mehr  über  die  Verfälschung 
der  Heiligen  Schrift  durch  die  Christen  spotten  können,')  will  er 
sich  trotz  aller  Anfeindungen  nicht  abhalten  lassen,  eine  möglichst 
wortgetreue  Übersetzung  aus  dem  Hebräischen  zu  verfertigen. 
Und  wenn  auch  die  meisten  seiner  Zeitgenossen  ihm 
immer  wieder  seine  Arbeit  durch  häßliche  Verdächtigungen  zu 
verleiden  suchten,  so  hatte  er  doch  die  Genugtuung,  daß  er 
wenigstens  bei  seinen  Freunden  und  Freundinnen,  denen  er  die 
einzelnen  Teile  seines  Übersetzungswerkes  widmete,  bei  den 
Bischöfen  Heliodor  und  Chromatius,')  den  römischen  Freunden 
Domnio  und  Rogatianus, ')  dem  Priester  Desiderius,  )  bei 
Paula  und  Eustochium*^)  und  bei  seinem  Klosterbruder  Sophro- 
nius')  auf  Verständnis  für  die  mühevolle  Arbeit  rechnen  konnte. 
Den  Freunden  etwas  Angenehmes,  der  Kirche  etwas  Nütz- 
liches, der  Nachwelt  Würdiges  zu  schreiben,  das  ist  sein  Trost. 
Von  dem  Urteil  der  Gegenwart,  die  durch  Haß  und  Liebe  be- 
stimmt wird,  appelliert  er  an  die  Zukunft.**)  Und  die  Hoffnung, 
daß  er  für  die  gegenwärtigen  Leiden  in  der  Zukunft  belohnt 
werde,  hat  nicht  getrogen,  indem  die  Kirche  seinem  Werke 
durch  die  Kanonisierung  zu  einer  Apotheose  ohnegleichen 
verhelfen  hat. 


')  I^rol.  in  Psal.,  Migne  28,  1125  ff.,  Hieronymus  de  vir.  ilUist.  c.  134 
bezeugt,  daß  Sophronius  diese  Übersetzung  der  Psalmen  und  der  (Pro- 
pheten ins  Griechische  tatsächhch  gemacht  hat. 

'^)  Praef.  in  Jes.,  Migne  28,  774;    Praef.  in  Josuam,  Migne  28,  461  ff. 

^)  Dem  Bischof  Heliodor  sind  gemeinsam  mit  Chromatius  die  Bücher 
Salomonis,  Chromatius  allein  ist  die  Chronik  gewidmet. 

*)  Domnio  und  Rogatianus  ist  das  Buch  Esra  gewidmet. 

'■)  Desiderius  ist  der  Pentateuch  gewidmet. 

*)  Paula  und  Eustochium  sind  die  Königsbücher,  die  Propheten, 
Daniel,  Hiob  und  Esther,  Eustochium  allein  nach  dem  Tode  der  Paula 
sind  die  Bücher  Josua  und  Richter  gewidmet. 

')  Sophronius  ist  der  Psalter  gewidmet. 

*)  Praef.  in  Dan.,  Migne  28,  1291  ff.  und  Praef.  in  Jes.,  Migne  28,  771. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  107 

Es  ist  leicht,  der  Arbeit  des  Hieronymus  eine  gute  oder 
schlechte')  Zensur  zu  erteilen,  sei  es,  daß  man  ihre  unbestreit- 
baren Vorzüge  oder  ihre  ebenso  unbestreitbaren  Mängel  hervor- 
hebt. Es  ist  aber  recht  schwer,  dieses  größte  Lebenswerk,  an 
dem  er  15  Jahre  seines  Lebens  arbeitete,  gerecht  zu  beurteilen. 
Vm  dies  zu  können,  müßte  man  die  ganze  Arbeit  unter  Ver- , 
gegenwärtigung  der  Bedingungen,  unter  denen  sie  gemacht 
wurde,  und  der  Hilfsmittel,  die  er  benutzen  konnte  oder  zum 
größten  Teil  selbst  schaffen  mußte,  gleichsam  nachschaffen. 
Dazu  sind  wir  heute  noch  nicht  imstande,  da  seine  Arbeit 
uns  noch  nicht  in  der  Gestalt  vorliegt,  die  er  ihr  gegeben 
hat.  In  der  Hauptsache  ist  nur  für  die  Evangelien  in  der 
Übersetzung  des  Hieronymus  sicherer  Orund  geschaffen,  um 
so  weniger  für  die  übrigen  Teile  seiner  Bibel,  so  urteilt  ein 
kompetenter  Beurteiler,  Eberhard  Nestle,  über  den  gegen- 
wärtigen Stand  der  Forschung.-^)  Aber  selbst  wenn  wir  eine 
kritische  Ausgabe  der  Vulgata  des  Hieronymus  besäßen,  so 
würde    ich    mir    kaum    ein    abschließendes    Urteil    anmaßen. 

Sicher  ist  diese  Arbeit,  dies  darf  man  sagen,  eine  wissen- 
schaftliche Tat.  Luther,  der  sonst  so  scharf  über  Hieronymus 
urteilte,  hat  dies  bereits  ausgesprochen:  St.  Hieronymus  hat  für 
seinePerson  dasmeisteundgrößte  im  Dolmetschen  getan,  welches 
ihm  keiner  allein  nachtun  wird.'')  Es  war  in  der  Tat  ein  kühnes 
Unternehmen,  diese  Arbeit  in  Angriff  zu  nehmen,  und  es  ge- 
hörte Zähigkeit  und  Fleiß  dazu,  sie  durchzuführen.  Vieles  hat 
Hieronymus  angefangen,  große  literarische  Pläne  entworfen, 
aber  rasch  wieder  fallen  lassen;  hier  hat  er  sich  mit  strenger 
Selbstzucht  zur  Vollendung  des  einmal  begonnenen  Werkes 
gezwungen  und  seine  unruhige  Natur  mit  Energie  diszipliniert. 
Keiner    seiner    Zeitgenossen,    ja    im    weiten    Kreis    der    nach- 


')  ich  weise  beispielsweise  hin  auf  die  bei  aller  Gründlichkeit  doch 
borniert  einseitigen  und  ungerechten  Ausstellungen  von  Joh.  Clericus, 
Quaestiones  Hieronymianae,  Arristerdam  1700. 

-)  E.  Nestle,  Bibelübersetzungen  R.  E.  »  111,  25—58,  dort  die  Literatur 
über  die  Vulgata,  vor  allem  S.  Berger,  L'histoire  de  la  Vulgate  pendant 
les  Premiers  siecles  du  moyen  äge,  Paris  1893. 

^)  s.  Zöckler,  Hieronymus  als  Bibelübersetzer  und  Exeget  S.  342  ff., 
Luthers  Tischreden,  Erlanger  Ausgabe  62,  462. 


108 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 


folgenden  Jahrhunderte  kein  Theologe  bis  zu  den  Tagen  der 
Renaissance  hat  etwas  Ähnliches  unternommen,  und  keiner  war 
zu  dieser  Arbeit  auch  nur  entfernt  befähigt  wie  er.  Es  ist 
ein  naiver  Vorwurf,  den  Luther  dem  Hieronymus  macht:  „Hätte 
er  zween  oder  drei  zu  sich  genommen,  die  ihm  geholfen,  so 
wäre  der  heilige  Geist  kräftiger  dabei  gewesen."  Dies  war 
im  Reformationszeitalter  möglich,  aber  wo  gab  es  zur  Zeit 
des  Hieronymus  zwei  oder  drei,  die  ihm  hätten  helfen  können. 
Die  einzigen,  die  er  herbeiziehen  konnte,  die  ji^idischen 
Rabbinen,  hat  er  so  weit  wie  möglich  herbeigezogen,  aber  sie 
konnten  ihm  das  nicht  geben,  was  er  vor  allem  brauchte,  eine 
feste  grammatische  Grundlage,  weil  sie  sie  selbst  nicht  be- 
saßen. Daß  er  keine  solche  hatte,  daß  er  z.  B.  die  matres 
lectionis  als  Vokale  betrachtete,  die  Gutturale  miteinander  ver- 
wechselte, Sin  und  Schin  nicht  unterschied,  über  das  Verhältnis 
des  Status  constructus  keine  bestimmten  Regeln  kannte,  die 
tempora  verbi  und  die  hebräische  Satzbildung  ihm  unbekannt 
waren,  daß  er  von  den  übrigen  semitischen  Dialekten  mit  Aus- 
nahme des  Chaldäischen  nur  wenig  wußte,  wie  beispielsweise 
eine  gelegentliche  Bemerkung  zeigt,  daß  der  Hiob  mit  der 
arabischen  Sprache  die  größte  Verwandtschaft  habe,')  alles 
dies  ist  nicht  zu  bezweifeln.')  Es  kann  auch  als  erwiesen 
gelten,  daß  Hieronymus  trotz  seiner  Kritik  an  den  LXX  und 
den  griechischen  Übersetzungen  des  Aquila,  Symmachus  und 
Theodotion  dieselben  stark  benutzt  hat  )  und  möglichst  das 
Gegebene  beibehielt,  um  nicht  zu  großen  Anstoß  zu  erregen.') 
Was  die  Art  seiner  Übersetzung  des  hebräischen  Textes  be- 
trifft —  im  wesentlichen  war  sein  hebräischer  Text  mit  dem 
masoretischen  identisch,  er  war  völlig  unpunktiert  und  ohne 
diakritische  Zeichen,  und  die  von  ihm  gelesene  Vokalisation 
steht     unter     allen    alten     Übersetzungen    dem    masoretischen 


>)  Praef.  in  Dan.,  Migue  28,  1291   ff. 

*)  Nowack,  Die  Bedeutung  des  Hieronymus  für  die  alttestamentliche 
Textkritik,  Göttinnen  1875. 

■■')  s.  Nowack  S.   12  ff. 

*)  Praef.  des  Kommentars  zum  Prediger:  ex  hebraeo  transferens 
magis  ine  LXX  interpretum  consuetudini  coaptavi  in  his  dumtaxat,  quae 
non  multum  ab  Hebraeis  discrepabant. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  109 

Text  am  nächsten ')  —  so  kann  man  auch  hier  kaum  von 
festen  Grundsätzen  sprechen.)  An  Pammachius  schrieb  er 
in  dem  Brief  über  die  beste  Art  zu  übersetzen,  )  daß  die 
Heilige  Schrift  im  Gegensatz  zu  allen  anderen  Schriften  mög- 
lichst wörtlich  übersetzt  werden  müsse,  weil  hier  auch  die 
Ordnung  der  Worte  ein  Geheimnis  sei,  und  in  den  Vorreden 
hat  er  es  immer  wieder  betont,  daß  er  möglichst  wörtlich  aus 
dem  Hebräischen  übersetze.  Aber  in  einem  späteren  Briefe*) 
ist  er  doch  wieder  auch  für  die  Heilige  Schrift  für  eine  freiere 
Übersetzungsart  eingetreten,  indem  man  nicht  wörtlich,  sondern 
sinngemäß  übersetzen  und  die  Idiome  der  anderen  Sprache 
durch  die  Eigentümlichkeiten  der  eigenen  Sprache  wiederzugeben 
versuchen  müsse.  Hieronymus  hat  auch  vielfach  nach  den 
im  letzten  Schreiben  ausgesprochenen  Grundsätzen  gehandelt 
und,  um  seinen  Lesern  nicht  unverständlich  zu  bleiben,  den 
schnellen  Wechsel  der  Personen,  wie  er  im  Hebräischen  üblich 
ist,  in  seiner  Übersetzung  vermieden,  lateinische  Perioden 
statt  der  hebräischen  Parataxen  gebaut,  sich  nicht  gescheut 
zusamimenzuziehen  und  sich  anderswo  wieder  erklärende  Zu- 
sätze gestattet.  Es  erscheint  mir  aber  nicht  unwichtig,  wenn 
man  Hieronymus  eine  gewisse  Prinziplosigkeit  bei  seiner 
Übersetzung  mit  Recht  vorwirft,  überhaupt  die  Frage  zu  er- 
heben, wie  weit  man  feste  Grundsätze  für  ein  solches 
Übersetzungswerk  aufstellen  kann  und  darf.  Eine  solche 
Übersetzung  des  Alten  Testaments  aus  dem  Hebräischen  in 
das  Latein  der  Zeit  des  Hieronymus  bedeutet  doch  eine  Um- 
setzung des  Ideengehalts  und  der  Begriffswelt  einer  durch 
weite  Zeiträume  getrennten  Geisteskultur  in  eine  vielfach 
anders  geartete.  Dazu  gehört  fast  mehr  Takt  als  Grundsätze, 
mehr  divinatorischerScharfsinn  als  grammatische  Schulung.  Zum 
Übersetzer  war  Hieronymus  geschaffen  wie  kaum  einer.  Bei 
der  großen  Verschiedenartigkeit  des  hebräischen  und  latei- 
nischen   Sprachidioms,    so    sagt    Fritzsche,  )    lag    die    Gefahr 


^)  s.  Nowack,  S.  55. 

^)  s.  auch  Hoberg,  de  S.  Hieronymi  ratione  iiiterpretandi,  Bonn  1886. 

^)  Ep.  57  ad  Paminachium  de  optimo  genere  interpretandi. 

*)  Ep.  106  ad  Sunniam  et  Fretelam  c.  3,  54  und  55. 

*)  Lateinische  Bibelübersetzungen  R.  E.  -  VllI,  448. 


110  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

sklavischer  Wörtlichkeit  nahe.  Hieronymus  hat  sie  im  ganzen 
vermieden  und  eine  gewisse  Mitte  zwischen  zu  großer 
Wörthchkeit  und  zu  großer  Freiheit  innezuhaHen  gewußt,  so 
daß  die  Sprache,  wenn  auch  das  hebräische  Kolorit  überall 
durchblickt,  den  damaligen  Leser  durchaus  nicht  verletzte, 
sondern  förderte.  Und  setzen  wir  noch  hinzu,  trotz  der  großen 
Verschiedenheit  des  kulturellen  Milieus,  in  dem  Hieronymus  lebte 
und  dessen,  in  dem  die  Bücher  des  Alten  Testaments  entstanden 
sind,  hat  er  es  verstanden,  in  seiner  Übersetzung  durch  Anmut, 
Eleganz,  ja  Klassizität  des  Stils ')  das  schlichte  und  gewaltige 
Gotteswort  des  Alten  Testaments  zu  den  Menschen  seiner 
Zeit  und  seiner  Zunge  lebendig  und  kraftvoll  reden  zu  lassen. 
So  wenig  Imponierendes  der  Charakter  des  Hieronymus  hat, 
so  ungerecht  und  kleinlich  wäre  es,  diesem  seinem  verdienst- 
vollsten Werk  seine  Anerkennung  und  Bewunderung  versagen  zu 
wollen.  Aber  es  ist  auch  bezeichnend,  daß  die  größte  Leistung 
seines  Lebens  kein  eigenes  Werk,  sondern  eine  Übersetzung 
war.  Er  war  eben  kein  produktiver  Geist  wie  Augustin,  der 
Mit-  und  Nachwelt  neue  Bahnen  wies,  sondern  nur  der  größte 
jener  Vermittler  des  religiösen  Erbes  der  hebräischen  und 
griechischen  Antike  an  die  lateinische  Welt. 


§  34. 

Die  Kommentare  zu  den  fünf  kleinen  Propheten,  Nahum, 
Micha,  Zephanja,  Haggai  und  Habakuk. 

Als  Hieronymus  um  3Q0  sein  großes  Übersetzungswerk 
des  Alten  Testaments  aus  dem  Hebräischen  begann,  nahm  er 
gleichzeitig  im  Anschluß  an  seine  Übersetzung  der  Propheten 
ein  anderes  Werk  großen  Stils  und  großen  Umfangs  in  An- 
griff, einen  Kommentar  zu  sämtlichen  prophetischen  Büchern 
des  Alten  Testaments.     Dieses  Werk    hat  ihn  fortdauernd  die 

•)  Zöckler  S.  365. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu   Bethlehem.  111 

letzten  drei  Jahrzehnte  seines  Lebens  neben  anderen  Arbeiten 
beschäftigt.  Er  hat  das  Zwölfprophetenbuch,  Daniel,  Jesaja 
und  Ezechiel  vollständig  kommentiert,  und  nur  die  zuletzt  in 
Angriff  genommene  Erklärung  des  Jeremia  blieb  ein  Torso. 
Dieses  Riesenwerk,  das  bei  Vallarsi  drei  volle  Bände  füllt, 
verliert  bei  näherer  Betrachtung  viel  von  dem  imponierenden 
Eindruck,  den  es  zunächst  macht.  Es  ist  sehr  ungleichartig 
und  größtenteils  sehr  unselbständig  gearbeitet. 

Den  Anfang  machte  Hieronymus  mit  der  Auslegung  der 
fünf  kleinen  Propheten,  Nahum,  Micha,  Zephanja,  Haggai  und 
Habakuk.  Kurz  vorher  hatte  er  das  Hebräerevangelium,  wie 
er  sagt,  ins  Griechische  und  Lateinische  übersetzt.')  Nur 
von  der  lateinischen  Übersetzung  des  Hebräerevangeliums  hat 
er  uns  in  seinem  Matthäuskommentar  Fragmente  erhalten.  Ob 
er  vom  Hebräerevangelium  wirklich  eine  griechische  Über- 
setzung angefertigt  oder,  was  wahrscheinlicher,  nur  eine 
Revision  der  bereits  vorhandenen  griechischen  Übersetzung 
vorgenommen  hat,  läßt  sich  bei  dem  Fehlen  der  Quellen  nicht 
mit  Sicherheit  beantworten. 

Die  vier  ältesten  Kommentare  zu  den  kleinen  Propheten 
Nahum,  Micha,  Zephanja  und  Haggai  sind  sämtlich  Paula 
und  Eustochium  gewidmet,  obwohl  sich  in  der  Vorrede  zum 
Habakuk  die  merkwürdige  Bemerkung  findet,  daß  er  den 
Kommentar  zum  Nahum  auf  Bitten  des  Bischofs  Chromatius 
geschrieben  habe.')  Nach  der  handschriftlichen  Überlieferung 
ist  nur  der  Kommentar  zum  Habakuk  seinem  gelehrten  Freund 
Chromatius  von  Aquileja  zugeeignet,  der  auch  an  seiner  Bibel- 
übersetzung den  lebhaftesten  Anteil  genommen  hatte.  In  der 
Vorrede  zum  Propheten  Zephanja')  versucht  er  sich  gegen- 
über dem  Spott  seiner  Gegner,  daß  er  seine  Werke  am  liebsten 
Frauen  widme  —  er  wurde  zu  einer  solchen  Verteidigung 
bei  der  Dedication  seiner  Werke  an  Frauen  später  noch  des 
öfteren  genötigt*)  —  zu  rechtfertigen:  „Wenn  sie  wüßten,  daß 
Hulda  als  Prophetin  auftrat,    während   die  Männer  schwiegen, 


*)  Kommentar  zu  Micha,  Vallarsi  VI,  520;  de  vir.  illust.  c.  135. 
•'')  Praef.  in  Habakuk,  Vallarsi  VI,  587  ff. 
3)  Prol.  in  Zephanja,  Vallarsi  VI,  671  ff. 
*)  ep.  65,  1,  Vallarsi  1,  371   ff. 


112  Die  ersten  Jahre  im   Kloster  zu  Bethlehem. 

Debora  als  Richterin  und  Prophetin  die  Feinde  Israels  ijber- 
wunden  hat,  während  Barak  sich  furchtsam  zurijckhielt,  und 
Judith  und  Esther  als  Typen  der  Kirche  sowohl  ihre  Gegner 
töteten,  als  auch  Israel,  das  zugrunde  gehen  wollte,  aus  der 
Gefahr  befreiten,  so  würden  sie  mich  niemals  verspotten." 
Aus  dem  Neuen  Testament  führte  er  dann  die  heiligen  Frauen 
Anna,  Elisabeth  und  vor  allem  Maria  an,  deren  klares  Licht 
alle  die  kleinen  Feuer  der  Gestirne  verdunkelt.  Aber  auch  die 
griechische  und  lateinische  Geschichte  weiß  von  klugen  und 
tapferen  Frauen  zu  erzählen,  von  Aspasia,  Sappho,  Themista 
und  Cornelia,  der  Mutter  der  Gracchen.  Er  schließt  mit  dem 
geschickten  Hinweis,  daß  der  auferstandene  Herr  zuerst  den 
Weibern  erschienen  sei  und  diese  zu  Aposteln  an  die  Apostel 
gemacht  habe,  so  daß  die  Männer  nicht  erröteten,  den  zu 
suchen,  welchen  schon  vorher  das  schwächere  Geschlecht  ge- 
funden hatte.  Aber  ganz  unrecht  haben  seine  Gegner  doch 
nicht  gehabt;  die  vier  den  Frauen  gewidmeten  Kommentare 
sind  oberflächlicher  gearbeitet,  als  der  dem  Bischof  Chro- 
matius  gewidmete  Habakukkommentar.  Seinen  kritiklosen 
Bewunderern,  I^aula  und  Eustochium,  mußte  er  vor  allem 
Erbauliches  bieten,  wie  er  selbst  im  Nekrolog  der  Paula  be- 
zeugt:') „Wenn  Paula  auch  die  Geschichte  liebte  und  diese  für 
das  Fundament  der  Wahrheit  hielt,  so  folgte  sie  doch  mehr 
dem  geistlichen  Verständnis."  Aber  Chromatius  ließ  sich 
damit  nicht  abspeisen,  er  hatte  Hieronymus  ausdrücklich  um 
eine  geschichtliche  Auslegung  des  Propheten  Habakuk  ge- 
beten.) Es  ist  gewiß  auch  nicht  zufällig,  daß  Hieronymus 
im  Habakukkommentar  häufiger  als  in  den  für  seine  Freun- 
dimien  bestimmten  Kommentaren  die  profane  Literatur  berück- 
sichtigt und  genauer  auf  die  Lesarten  der  sieben  griechischen 
Übersetzungen  eingeht,  die  er  aus  der  Hexapla  heranzieht,  um 
dem  Bischof  durch  seinen  gelehrten  Apparat  zu  imponieren. 

Die  Kommentare  sind  eigentlich  Doppelkommentare,  da 
Hieronymus  sowohl  seine  Übersetzung  der  Propheten  aus 
dem  Hebräischen  wie  den  Text  der  LXX  kommentierte.')    Daß 

•)  Ep.  108,  26.  Vallarsi  I,  713. 

*)   Prol.  in  Habakuk,  Vallarsi  VI,  587  ff. 

*)  s.  zu  Nahum  1,  10;  1,  12  u.  13;  Habakuk  3,  11  ff. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  113 

er  auch  die  LXX  erkläre,  begründet  er  damit,  daß  er  der 
zischenden  Schlange  oder  dem  Sardanapal  keine  Gelegenheit 
zum  Tadel  geben  wolle.')  Von  diesem  Gegner,  der  schimpf- 
licher durch  seine  Laster  als  durch  seinen  Namen  sei,  ihn  aber 
nicht  an  der  Fortsetzung  des  angefangenen  Weges  hindern  solle, 
spricht  er  auch  in  den  Kommentaren  zum  Zephanja  und 
Habakuk.')  Und  noch  einmal  gedenkt  er  im  Kommentar  zu 
Nahum  gelegentlich  dieser  Schlange,  die  von  der  Wassersucht 
befallen,  aber  wieder  geheilt  worden  sei.')  Es  ist  vermutlich 
auch  derselbe  Kritiker,  den  er  am  Schluß  des  Kommentars  zum 
Haggai  als  die  Furie  Alecto  apostrophiert:')  „Ich  beschwöre  dich, 
Leser,  daß  du  dem  in  schneller  Rede  Diktierenden  verzeihst  und 
nicht  die  Lieblichkeit  der  Rede  suchst,  die  ich  seit  langer  Zeit 
durch  das  Studium  der  hebräischen  Sprache  verloren  habe,  ob- 
wohl die  Furie  Alecto  behauptet,  daß  ich  immer  ein  Kind  und 
stumm  gewesen  bin.  Dem  antworte  ich:  Der  Herr  wird  das 
Wort  dem  Evangelisten  geben  und  viele  Kraft."  Und  im  Kom- 
mentar zum  Micha  wirft  er  ihm  das  Schimpfwort  an  den 
Kopf,  daß  er  eine  Hydra  oder  Lernäische  Schlange  sei, 
und  droht  ihm,  seine  wiederwachsenden  Häupter  mit  pro- 
phetischer Keule  abzuschlagen.')  Man  hat  Rufin  unter  diesem 
Gegner  verstanden),  und  wir  wissen  ja  in  der  Tat,  daß  Rufin 


^)  Nahum  3,  8  u.  9,  Vallarsi  VI,  572. 

2)  Zephanja  3,  20,  Vallarsi  VI,  734  und  Prol.  in  Habakuk  lib.  II, 
Vallarsi  VI,  631. 

3)  Nahum  3,  1,  Vallarsi  VI,  564. 
')  Vallarsi  VI,  773. 

^)  Micha  1,  1,  Vallarsi  VI,  434  und  Prol.  zu  Micha  lib.  II,  Vallarsi 
VI,  480. 

^)  Hieronymus  bezeichnet  an  einer  Reihe  von  Stellen  mit  Hydra  und 
Skorpion  Rufin ;  vergl.  Vorrede  zur  Übersetzung  des  Josua,  Prolog  zum 
Joelkommentar,  Vallarsi  VI,  167,  Prolog  zum  Hoseakommentar  lib.  II, 
Vallarsi  VI,  54  und  ep.  130,  16.  In  der  Vorrede  zur  Übersetzung  des 
Esra,  wo  wahrscheinlich  ebenfalls  Rufin  gemeint  ist,  schwankt  die  Über- 
lieferung des  Textes  zwischen  sibilans  hydra  und  excetra.  Daraus  zu  folgern, 
daß  auch  der  in  unserem  Fall  mit  excetra,  Sardanapal,  Alecto,  hydra  bezeich- 
nete Gegner  mit  Rufin  identisch  sein  müsse,  halte  ich  nicht  für  angängig. 
In  ep.  6,  Vallarsi  I,  17  spricht  Hieronymus  von  einer  iberischen  Schlange, 
excetra,  und  hier  ist  wahrscheinlich  der  Priester  Lupicinus  von  Stridon, 
sicher  nicht  Rufin    gemeint.     Hieronymus    hat   also   verschiedene  Gegner 

Grützmacher,    Hieronymus.    II.  8 


114  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

von  der  Übersetzung  des  Hieronymus  aus  dem  Hebräischen 
nichts  wissen  wollte;  aber  von  einer  Verfeindung  des  Hie- 
ronymus mit  Rufin  aus  der  Zeit  vor  3Q2  wissen  wir  nichts. 
Da  es  nun  auch  nicht  angängig  ist,  die  Kommentare  in  eine 
spätere  Zeit  herabzurücken,  weil  der  Schriftstellerkatalog  vom 
Jahre  3Q2  ihre  Abfassung  bezeugt,  so  werden  wir  die  Schimpf- 
worte des  Hieronymus  auf  einen  uns  unbekannten  Gegner 
seines  Übersetzungswerkes  beziehen  müssen.  Waren  es  doch 
weite  Kreise,  die,  wie  wir  oben  hervorgehoben  haben,  dem 
Hieronymus  deshalb  zürnten.  Um  ihnen  entgegenzukommen, 
exegesierte  er  neben  dem  hebräischen  Text  auch  den  gebräuch- 
lichen und  bekannten  Text  der  LXX.  Dabei  machte  er  sich 
bisweilen  die  Sache  bequem,  indem  er,  wo  die  Übereinstimmung 
der  LXX  und  des  hebräischen  Textes  eine  fast  wörtliche  war, 
sogar  nur  die  LXX  erklärte.') 

Aus  zwei  Quellen  hat  Hieronymus  vor  allem  seine  Kommen- 
tare geschöpft  und  aus  diesen  Quellen  besteht  im  wesentlichen 
der  ganze  Inhalt  seiner  Kommentare.  Es  sind  wieder  Origenes 
und  die  Hebräer.  Er  selbst  ist  nicht  viel  mehr  als  Kompilator. 
Auf  Origenes  geht  im  großen  und  ganzen  die  tropologische 
Auslegung,  der  die  LXX  zugrunde  liegen,  auf  die  Hebräer  die 
historische    Auslegung    des    hebräischen    Textes    zurück.      In 

mit  denselben  Sciiimpfwörtern  traktiert.  Wenn  hier  Rufin  oremeint  wäre, 
so  müßten  wir  die  Steihuij^  des  Hieronymus  zu  F^ufin  einer  vollständigen 
Korrektur  unterziehen,  wozu  wir  aber  keinen  zwingenden  Grund  haben. 
Es  ist  auch  schon  unwahrscheinlich,  daß  Hieronymus  in  einem  Werke  wie 
dem  Habakukknmmcntar,  den  er  dem  Bischof  Chromatius  von  Aquileja 
widmete,  der  mit  Hufin  innig  befreundet  war,  Rufin  als  zischende  Schlange 
und  Sardanapal  bezeichnet  hätte.  Auch  den  Vorwurf,  welchen  der  als  Hydra 
bezeichnete  Gegner  dem  Hieronymus  machte,  daß  er  die  Kommentare  des 
Origenes  ausgiebig  benutzte,  konnte  Rufin  bei  der  damaligen  Situation  un- 
möglich dem  Hieronymus  machen.  Es  gäbe  nur  eine  Möglichkeit,  die 
r\)lemik  gegen  den  ungenannten  Gegner  auf  Rufin  zu  beziehen,  nämlich 
die  Annahme,  daß  diese  polemischen  Sätze  erst  in  einer  späteren  Aus- 
gabe der  Kommentare  von  Hieronymus  hinzugefügt  wären.  Diese  neue 
Ausgabe  würde  dann  in  die  Zeit  seines  Streites  mit  Rufin  also  etwa  400 
zu  setzen  sein.  Wahrscheinlich  erscheint  mir  dies  deshalb  nicht,  weil  die 
Polemik  so  innig  mit  der  Exegese  verwebt  ist,  daß  sie  nicht  den  Eindruck 
eines  späteren  Zusatzes  macht. 

')  7..  B.  Zephanja  3,  20,  Vallarsi  Vi,  734. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  115 

seiner  beliebten  Manier  hat  er  die  Benutzung  des  Origenes 
verschwiegen;  nur  in  der  Vorrede  zum  zweiten  Buch  des 
Michakommentar  gesteht  er  sie  in  der  Polemik  gegen  seine 
Gegner  ein,  die  ihm  vorwerfen,  daß  er  die  Werke  des  Origenes 
ausbeute  und  die  Schriften  der  Alten  durch  Überarbeitung  ver- 
derbe: „Was  jene  für  die  größte  Lästerung  halten,  halte  ich  für 
das  größte  Lob,  da  ich  jenen  nachahmen  will,  der  allen 
Klugen  und  euch  zweifellos  gefallen  muß."  Mit  Berufung  auf 
die  Lateiner  Ennius,  Vergil,  Plautus,  Cäcilius,  Terenz  und 
Cicero,  die  es  auch  nicht  anders  mit  den  Griechen  gemacht 
haben,  und  auf  Hilarius,  der  im  Psalmenkommentar  fast 
40  000  Verse  des  Origenes  sinngemäß  übersetzt  habe,  die 
dann  ebenfalls  alle  des  Diebstahls  schuldig  wären,  verteidigt 
er  sein  literarisches  Freibeutertum. 

Den  Kommentar  des  Origenes  zu  den  kleinen  Propheten 
in  25  Büchern,  von  dem  er  ein  von  Pamphilus  geschriebenes 
Exemplar  auf  der  Bibliothek  in  Cäsarea  gefunden  hatte,  hatte 
er  nach  seinem  eigenen  Zeugnis  mit  so  großer  Freude  begrüßt, 
wie  wenn  er  in  den  Besitz  der  Schätze  des  Krösus  gelangt 
sei.')  Da  dieser  Kommentar  des  Origenes  für  uns  vollständig 
verloren  gegangen  ist,  so  können  wir  die  Abhängigkeit  des 
Hieronymus  im  einzelnen  nicht  mehr  nachweisen.  Daß  aber 
eine  solche  besteht,  darauf  weisen  deutliche  Spuren  in 
seinem  Kommentar.  Wenn  Hieronymus  die  Flüsse,  die  nach 
Nahum  1,  4  und  1,  8  vertrocknen  sollen,  allegorisch  auf  die 
heidnischen  Philosophen  und  auf  die  Häretiker  Valentin, 
Marcion,  Bardesanes  und  Tatian  mit  einigen  der  unseren 
deutet,')  wenn  er  von  der  irrenden  Weisheit  als  der  letzten 
Emanation  des  Schöpfergottes  nach  Valentin,  von  dem 
monströsen  Namen  dßoä^a^,  den  Basilides  gebraucht,')  spricht, 
so  stammt  diese  Kenntnis  der  Gnostiker  aus  Origenes.  Über- 
all, wo  Hieronymus  gegen  Marcion,  Tatian  und  die  Montanisten 
polemisiert,')    können    wir    mit  Sicherheit    auf  Benutzung  des 


1)  De  vir.  ilkist.  c.  75. 
')  Vallarsi  VI,  538. 
■')  Nah.  1,  11,  Vallarsi  Vi,  545. 

')  Gegen  Marcion    Haggai  1,  1  ff.,  Vallarsi  VI,  742;    Micha  1,  10  ff., 
Vallarsi  VI,  445,    gegen  Tatian  Haggai  1,  10,    Vallarsi  VI,  750,    gegen  die 

8* 


116  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Origenes  srhiießen,  da  Hieronymus  nur  aus  dieser  Quelle 
etwas  über  die  alten  Häretiker  weiß.  Er  liebt  es  dann,  diese 
Abhängigkeit  zu  verdecken,  indem  er  die  Hauptketzer  seiner 
Zeit,  wie  Arius  und  Eunomins,  beifügt.  Er  hat  es  aber 
immer  vermieden,  Origenes  namentlich  zu  nennen.  Hieronymus 
drückt  sich  möglichst  unbestimmt  aus:  „ich  habe  in  dem  Buch 
eines  Gewissen  gelesen,  daß  unter  dem  Ausguß  die  Häretiker 
verstanden  werden  müssen." ')  Auch  die  ausgeführte  Dämono- 
logie, die  Hieronymus  im  Habakukkommentar  vorträgt,')  hat 
er  dem  Origenes  entnommen,  wie  sich  aus  einer  fast  wörtlichen 
Parallele  mit  einer  uns  noch  in  der  Übersetzung  Rufins  erhaltenen 
Josuahomilie  des  Origenes  erweisen  läßt.')  Ebenso  geht  die 
mystische  Zahlenspielerei,  die  uns  vor  allem  in  der  Auslegung 
des  Propheten  Haggai  begegnet,  wo  Hieronymus  mit  allen 
allegorischen  Künsten  das  Datum  der  Weissagung  des  Pro- 
pheten im  siebenten  Monat  am  einundzwanzigsten  Tage  aus- 
deutet, gewiß  auf  Origenes  zurück. 

Merkwürdig  ist  es,  daß  uns  die  Heterodoxien  des  großen 
Theologen  in  diesen  alttestamentlichen  Kommentaren  des 
Hieronymus  verhältnismäßig  selten  begegnen,  obwohl  Hierony- 
mus damals  noch,  wie  seine  Vorrede  zum  Propheten  Micha 
beweist,  ein  rückhaltsloser  Bewunderer  des  Großmeisters  der 
allegorischen  Exegese  war.  Nur  zu  Haggai  1,  10')  gibt  er  die 
Auslegung  des  Origenes  mit  Kritik  wieder,  wie  wir  aus  dem 
erhaltenen  zweiten  Buch  des  Johanneskommentars  des  Origenes 
kontrollieren  können:  Johannes  der  Täufer,  Maleachi  und  Haggai 
sind  nach  Origenes  Engel  gewesen,  die  mit  göttlicher  Dis- 
pensation und  auf  göttlichen  Befehl  menschlichen  Körper 
angenommen  haben  und  als  Menschen  gewandelt  sind.  Auch 
Jakob,  der  später  Israel  genannt  wurde,  sei  ein  Engel  gewesen. 
Die  Natur  aller  vernünftigen  Wesen  sei  auch  ein  und  dieselbe, 
und  deshalb  würden  die  Menschen,  die  Gott  gefallen  haben,  den 

MoMtanistcn    Prol.  in  Habakiik,    Vallarsi  VI,  587  ff.,    gegen    Marcion    und 
Basihdes  Micha  6,  10,  Vallarsi  VI,  511. 

')  Habakuk  2,  9ff.,  Vallarsi  VI,  619,  vergi.  Micha  1,  16,  Vallarsi  VI,  448. 

')  Habakuk  3,  14  ff.,  Vallarsi  VI,  659. 

')  s.  Vallarsi  VI,  659,  Anm.  a. 

*)  Vallarsi  VI,  751. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  117 

Engeln  gleich  werden.  Hieronymus  fügt  diesem  Referat  aus 
dem  Kommentar  des  Origenes  bei:  „So  meinen  jene;  wir  aber 
nehmen  an,  daß  der  Prophet  einfach  ein  Engel,  d.  h.  Bote 
Gottes  genannt  sei,  weil  er  den  Willen  des  Herrn  dem  Volke 
verkündet  hat."  Vorsichtig  lehnt  er  also  hier  diese  zu  hetero- 
doxen  Folgerungen  führende  Auslegung  des  Origenes  ab,  und 
wir  dürfen  wohl  annehmen,  daß,  wenn  in  diesen  Kommentaren 
uns  so  selten  solche  heterodoxen  Meinungen  begegnen, 
Hieronymus  dieselben  unterdrückt  oder  retouchiert  hat.  In 
Micha  6,  1:')  „Höret,  was  der  Herr  spricht:  Erhebe  dich  und 
eile  zum  Gericht  gegen  die  Berge,  und  die  Hügel  mögen  deine 
Stimme  hören"  schimmert  deutlich  die  Auslegung  des  Origenes 
durch,  der  unter  den  Bergen  die  Engel,  denen  die  Besorgung 
der  menschlichen  Dinge  anvertraut  ist,  verstanden  wissen  will. 
Über  die  Engel  soll  nach  Origenes  das  Gericht  ergehen,  wenn 
sie  nicht  alles  getan  haben,  was  zu  ihren  Aufgaben  gehört, 
oder  über  das  Volk,  wenn  es,  falls  die  Engel  alles  getan 
haben,  nicht  hat  hören  wollen.  Hieronymus  knüpft  hier 
keine  Kritik  an  die  Exegese  des  Origenes,  sondern  stellt 
nur  eine  andere  Auslegung  daneben,  wonach  man  unter  den 
Bergen  und  Hügeln  auch  die  Patriarchen  Abraham,  Isaak  und 
Jakob  verstehen  könne.  Auch  die  Origenistische  Theorie,  daß 
die  Seelen  wegen  ihrer  Sünden  in  die  Körper  gebannt  seien, 
läßt  er  unbeanstandet  passieren.')  In  Nahum  1,9)  blickt  auch 
die  Lehre  des  Origenes  von  der  Apokatastasis  durch:  Gott 
verhänge  deshalb  im  gegenwärtigen  Leben  Strafen,  um  nicht 
ewige  Strafen  verhängen  zu  müssen.  Aber  auch  hier  hat  sich 
Hieronymus  nicht  gegen  diese  Heterodoxie  verwahrt.  Es 
sind  also  alle  eigentümlich  Origenistischen  Theologumena  in 
diesen  Kommentaren  des  Hieronymus    vorhanden;')    aber    sie 

')  Vallarsi  VI,  500  ii.  501,  s.  die  fast  wörtliche  Parallele  in  der  Ho- 
milie  des  Origenes  zu  Numeri,  die  in  der  Übersetzung  Rufins  erhalten 
ist,  Vallarsi  VI,  501,  Anm.  a,  und  bei  Vallarsi  VI,  499  die  Parallele  aus 
Rufin,  expositio  Symboli  und  Hilarius  Traktat  zu  Ps.  61,  2. 

-)  Micha  6,  1,  Vallarsi  VI,  501:  eorum,  qui  suo  vitio  exstitere  ter- 
reni,  fundamenta  dicantur. 

')  Vallarsi  VI,  543. 

^)  s.  Micha  1,    16,    Vallarsi   VI,    451,    wo    er    eine    dritte    Auslegung 


118  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

treten  nicht  so  scharf  wie  z.  B.  im  Epheserkommentar  hervor. 
Rufin  hat  ihm  deshalb  auch  nur  die  Vorrede  zum  zweiten  Buch 
des  Micha,  in  der  er  ausdrückh'ch  Origenes  als  Meister  der 
Exegese  preist,  vorgerückt,  während  ihm  die  in  den  fünf  Kom- 
mentaren enthaltenen  Heterodoxien  entgangen  sind. 

Es  ist  weiter  die  Frage,  ob  Hieronymus  außer  Origenes 
noch  andere  christliche  Kommentatoren,  und  welche  er  be- 
nutzt hat.  Aus  einigen  Stellen  ist  mit  Sicherheit  zu  schließen, 
daß  er  noch  andere  Exegeten  herangezogen  hat.  Nur  die  mar- 
kanteste Stelle  sei  hervorgehoben.  Zu  dem  Text  der  LXX  in 
Habakuk  3,  1:  „Inmitten  der  zwei  Tiere  wirst  du  erkannt",  gibt 
er  eine  ganze  Zahl  verschiedener  Auslegungen,  die  er  deutlich 
als  von  verschiedenen  Auslegern  herrührend  unterscheidet.  Viele 
verstehen  unter  den  zwei  Tieren  den  Sohn  Gottes  und  den 
heiligen  Geist,  wie  sie  auch  die  Seraphim  in  Jesaia  6  und  die 
Cherubim  in  Exodus  25  auf  Christus  und  den  heiligen  Geist 
beziehen.  Dies  ist  die  Auslegung  des  Origenes.')  Dann  fährt 
Hieronymus  aber  fort:  Die  volkstümliche  Meinung  bezieht  den 
Satz  auf  den  Erlöser,  weil  er  zwischen  den  zwei  Räubern  ge- 
kreuzigt als  Messias  erkannt  wurde;  die  aber,  welche  ein 
besseres  Verständnis  haben,  sagen,  daß  in  der  ersten  Kirche, 
die  aus  der  Beschneidung  und  Vorhaut  gesammelt  worden 
war,  durch  die  beiden  Völker,  die  ihn  von  beiden  Seiten 
umgaben,  der  Erlöser  erkannt  wurde.  Es  gibt  endlich  auch 
solche,  die  unter  den  beiden  Tieren  das  alte  und  neue 
Testament  verstehen,  in  deren  Mitte  der  Herr  erkannt  wird. 
Hieronymus  hat  demnach  eine  Reihe  christlicher  Exegeten 
benutzt;  da  er  aber  nirgends  einen  Namen  nennt,  wissen 
wir  nicht,  aus  welchen  Quellen  er  außer  aus  Origenes  ge- 
schöpft hat.') 

Neben  den  christlichen  Kommentatoren,  vor  allem  neben 
Origenes,  hat  aber  Hieronymus  auch  die  jüdisch -exegetische 
Tradition  benutzen  können,  und  ihr  verdankt  er  die  historische 
Auslegung  der  Propheten.     Er  bekennt  des  öfteren,  daß  er  bei 


referiert,  die  die  Stelle  auf  die  Gefangenschaft  der  menschlichen  Seele   im 
Leibe  bezieht. 

•)  s.  Band  I,  188. 

*)  vergl.  auch  z.  B.  Mich.  4,  1,  Vallarsi  VI,  501. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  119 

der  buchstäblichen  Auslegung  des  hebräischen  Textes  nichts 
von  sich  aus  beibringe,  sondern  nur  der  Auslegung  der  Hebräer 
folge,  von  denen  er  lange  Zeit  unterrichtet  worden  sei.  Er 
wolle  den  Christen  einfach  mitteilen,  was  er  von  ihnen  ge- 
lernt habe.  Der  Leser  könne  dann  selbst  entscheiden,  ob  er 
der  buchstäblichen  Exegese  der  Hebräer  oder  der  allegorischen 
der  Christen  den  Vorzug  gebe.') 

Hieronymus  ringt  auch  in  diesen  Kommentaren  mit  dem 
Problem,  die  historische  und  die  allegorische  Exegese  in  ihrer 
beiderseitigen  Berechtigung  zu  erweisen  und  vor  allem  sie  gegen- 
einander abzugrenzen.  Es  gibt  Stellen,  in  denen  auch  die  Ge- 
schichte einen  metaphorischen  Sinn  hat,  der  aber  von  der 
allegorischen  Auslegung  zu  unterscheiden  ist.  Wenn  einer 
sagen  wird:  Siehe,  während  du  nichts  in  der  Auslegung  der 
Geschichte  weißt,  bist  du  in  die  Netze  der  Allegorie  geraten 
und  hast  die  Tropologie  mit  der  Geschichte  vermischt.  Er 
möge  hören,  daß  nicht  immer  die  metaphorische  Auslegung 
der  Geschichte  mit  der  Allegorie  zusammenfällt,  weil  häufig 
die  Geschichte  selbst  metaphorisch  erzählt  wird  und  unter  dem 
Bild  einer  Frau  oder  eines  Mannes  über  ein  ganzes  Volk  ge- 
predigt wird.)  Die  historische  Auslegung  ist  nach  Hieronymus 
eindeutig  und  straff;  sie  hat  den  Vorzug,  daß  der  Exeget 
nicht  umherschweifen  kann.  Die  allegorische  Auslegung  läßt 
ihm  dagegen  eine  große  Freiheit.  Aber  Hieronymus  macht 
doch  den  Versuch,  auch  die  allegorische  Auslegung  an  ge- 
wisse Regeln  und  Gesetze  zu  binden.  Einmal  muß  die 
Allegorie  einen  frommen  Sinn  ergeben,  sie  muß  erbaulich 
sein,  zweitens  muß  sie  dem  Kontext  der  Worte  folgen, 
und  endlich  darf  sie  nicht  zu  gewaltsam  einander  entgegen- 
gesetzte Dinge  miteinander  verbinden.')  Er  will  die  Willkür 
der  allegorischen  Exegese  eindämmen,  ihr  einen  wissenschaft- 
lichen Charakter  als  erbaulich-ästhetischer  Exegese  aufprägen. 
So  lehnt    er  die  allegorische  Exegese  von  Hab.  2,  11   ab,    die 


')  Nah.  2,  1,  Vallarsi  VI,  550;  Mich.  1,  10,  Vallarsi  Vi,  443;  Zeph.  2,  5  ff. 
Vallarsi  VI,  700:  neque  enim  nunc  nobis  propositum  est  historiae  texere 
veritatem,  sed  ea  intimare  nostris,  quae  accepimus  ab  Hebraeis. 

-)  Hab.  3,  14  ff.,  Vallarsi  VI,  658  ff. 

*)  Hab.  1,  11,  Vallarsi  VI,  599. 


120  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

unter  dem  Stein,  der  aus  der  Wand  schreien  wird,  und  dem 
Holz,  das  unter  den  Verbindungen  der  Gebäude  antworten 
wird,  den  Erlöser  am  Kreuz  und  den  Schacher,  der  den  Herrn 
lästerte,  verstand.  Diese  vielleicht  von  Origenes  stammende 
allegorische  Auslegung  gibt  nach  Hieronymus  zwar  einen 
frommen  Sinn,  aber  sie  kann  nicht  mit  dem  Kontext  der 
Prophetie  in  Einklang  gebracht  werden. 

Aber  auch  die  buchstäbliche  Auslegung,  der  die  Juden 
folgen,  bedarf  notwendig  einer  Ergänzung  durch  die  allegorische 
Exegese.  Wenn  z.  B.  bei  den  Propheten  vielfach  von  dem 
Strafgericht  über  Moab,  Ammon  und  die  Philister  die  Rede  ist, 
so  wird  dies  von  den  Juden  auf  die  Zukunft  bezogen,  wo  der 
Messias  kommen  und  diese  Völker,  die  die  Juden  verspottet 
haben,  bestrafen  werde.  Warum  bestraft  aber  Gott  nur  die  um 
Israel  umwohnenden  Völker,  während  doch  die  Juden  über 
den  ganzen  Erdkreis  zerstreut  sind?  Warum,  so  fragt  Hiero- 
nymus, wird  Gallien,  Britannien,  Spanien,  Italien,  Afrika  keine 
Strafe  angedroht?')  Die  historische  Exegese  ist  also  bisweilen 
praktisch  unbrauchbar,  und  deshalb  muß  die  allegorische  Exe- 
gese ergänzend  hinzutreten. 

Aus  der  jüdischen  Tradition  hat  Hieronymus  seine  An- 
gaben über  die  zeitliche  Ansetzung  der  einzelnen  Propheten 
entnommen.  Nahum  weissagte  über  Ninive  unter  dem  König 
Hiskia  von  Juda,  als  bereits  die  zehn  Stämme  des  Nordreiches 
in  die  Gefangenschaft  der  Assyrer  fortgeführt  waren.  Einige 
halten  EIcesaeus  für  den  Vater  des  Nahum,  der  auch  Prophet 
gewesen  sei,  andere  Elcesi  für  ein  Dorf  in  Galiläa,  die  Heimat 
des  Propheten,  dessen  Ruinen  nur  den  Juden  bekannt,  Hiero- 
nymus vermutlich  auf  seiner  F-^undreise  durch  das  heilige  Land 
gezeigt  wurden.  )  Micha  aus  Morasthi,  einem  kleinen  Dorfe 
nahe  bei  Eleutheropolis,  weissagte  nach  Hosea,  Amos  und 
Jesaja    unter  Jotham,    dem   Nachfolger   des   Usia,    unter  Ahas 

')  Zeph.  2,  S  ff.,  Vallarsi  VI,  704. 

-)  Praef.  in  Nahum,  Vallarsi  VI,  533  ff.  Bei  seiner  Rundreise 
durch  das  heilige  Land  erwähnt  er  nicht  den  Besuch  in  Elcesi  in  Galiläa 
s.  §  27.  Da  aber  der  Reisebericht  mit  der  Besteigung  des  Thabor  ab- 
bricht, so  ist  es  wohl  möglich,  daß  sich  daran  ein  Abstecher  nach  Galiläa 
anreihte. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  121 

und  Hiskia.')  Zephanja,  dessen  Ahnen  ebenfalls  nach  jüdischer 
Tradition  Propheten  waren,  prophezeite  in  den  Tagen  des  Josia 
und  sagte  den  Sieg  Nebukadnezars,  die  Zerstörung  Jerusalems 
und  die  Gefangenschaft  Judas  voraus.')  Haggai  trat  im  zweiten 
Jahre  des  Königs  Darius,  im  siebzigsten  Jahre  nach  der  Zer- 
störung des  Tempels  auf.  Hieronymus  fügt  hier  nach  der 
von  ihm  übersetzten  Eusebianischen  Chronik  die  synchronisti- 
schen Angaben  hinzu,  daß  zu  derselben  Zeit  der  siebente  König 
der  Römer,  Tarquinius  Superbus,  im  27.  Jahre  seiner  Herrschaft 
stand.  „Man  muß  nach  der  buchstäblichen  Auslegung  wissen, 
daß  Haggai  und  Zacharja  Propheten  starken  Geistes  waren,  daß 
sie  gegen  das  Edikt  des  Königs  Artaxerxes,  gegen  die  Samari- 
taner  und  alle  Heidenvölker  ringsum,  die  die  Erbauung  des 
Tempels  verhindern  wollten,  befahlen,  daß  der  Tempel  erbaut 
werde.  Und  Zorobabel  und  Josua  und  das  Volk  mit  ihnen  zeigte 
nicht  geringen  Glaubens,  daß  sie  mehr  auf  die  Propheten 
hörten,  die  den  Befehl  zum  Bau  des  Tempels  gaben,  als  auf 
den  König,  der  es  verbot."^)  Habakuks  Prophetie  endlich, 
dessen  Name  bei  den  Griechen  und  Lateinern  korrumpiert 
Ambacus  lautet,  richtet  sich  gegen  Babylon  und  Nebukadnezar, 
den  König  der  Chaldäer,  und  er  weissagte,  wie  aus  Daniel 
erhellt,  zu  einer  Zeit,  wo  bereits  die  beiden  Stämme  des 
Reiches  Juda  in  die  Gefangenschaft  geführt  worden  waren.*) 
Mancherlei  philologische,  geographische  und  historische 
Kenntnisse  verdankt  Hieronymus  den  Hebräern,  und  wenn 
auch  manches  von  zweifelhaftem  Wert  war,  so  vermittelten 
seine  Kommentare  doch  der  christlichen  Welt  die  exegetische 
Tradition  der  Hebräer,  von  denen  kein  Lateiner  und  kein 
Grieche  außer  etwa  Origenes  etwas  wußte.  Um  nur  einige 
Beispiele  herauszugreifen,  so  übersetzte  sein  Hebräer  z.  B. 
P"12  Nah.  3,  1  weder  mit  Aquila  mit  t-^av^enöindg,  noch  mit 
Symmachus  ujroTo/.äa  oder /nsÄoKoma,  sondern  mit  KvßegiHOfiö^  = 

')  Praef.  in  Mich,  und  Mich.  1,1,  Vallarsi  VI,  431   ff. 

2)  Zeph.  1,  1,  Vallarsi  VI,  675. 

")  Praef.  in  Hagg.  Vallarsi  Vi,  735  ff. 

*)  Praef.  in  Hab.,  Vallarsi  VI,  587.  Auf  Grund  der  nur  in  dem 
griechischen  Daniel  c.  17  erzählten  Geschichte,  wonach  Habakuk  mit  der 
Mahlzeit  zu  Daniel  in  die  Löwengrube  geschickt  wird,  gelangt  Hieronymus 
zu  diesem  Ansatz. 


122  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

gubernaculum.')  Aus  jüdischer  Tradition  weiß  er,  daß  das 
Fischtor  Zeph.  1,  10  mit  dem  Tore  Jerusalems  identisch  ist, 
das  nach  Diospolis  und  Joppe  führt.)  Aus  derselben  Quelle 
ist  ihm  aber  auch  die  vermutlich  falsche  Deutung  von  No 
Ammon  Nah.  3,  8 — 9  auf  Alexandria  zu  gekommen,  während 
darunter  wahrscheinlich  das  ägyptische  Theben  zu  verstehen 
ist.  Reseph  Hab.  3,  5  ist  nach  hebräischer  Überlieferung  der 
Name  des  Obersten  der  Dämonen,  )  und  die  Stelle  Hab.  3, 
3  ff.:  „Der  Herr  wird  von  Süden  kommen",  bezogen  die 
Hebräer  auf  den  Messias,  der  aus  dem  im  Süden  gelegenen 
Bethlehem  stammen  sollte.*)  Die  Erkenntnis,  daß  der  Prophet 
Habakuk  aus  epischen  und  lyrischen  Bestandteilen  zusammen- 
gesetzt ist,  verdankt  Hieronymus  ebenfalls  seinem  Hebräer.') 
Aber  Hieronymus  nahm  doch  nicht  alles  kritiklos  auf,  was 
ihm  von  den  Juden  zugekommen  war.  Ein  echtes  Produkt 
jüdischer  Haggada  hatte  ihm  sein  aus  Lydda  stammender 
Lehrer^)  im  Anschluß  an  Hab.  2,  15  erzählt:  „Wehe  dem,  der 
seinem  Freunde  einen  Trank  gibt  beimischend  seinen  Honig 
und  ihn  trunkend  macht,  daß  er  seine  Blöße  schaue".  Dem 
jüdischen  König  Zedekia,  der  von  Nebukadnezar  geblendet  nach 
Babylon  geführt  worden  war,  sei  bei  einem  festlichen  Gelage,  um 
ihn  zu  verspotten,  ein  stark  abführender  Trank  gereicht  worden, 
der  dann  sogleich  bei  Tische  zur  Belustigung  der  Gäste  seine 
Wirkung  tat,  so  daß  das  Schriftwort  Hab.  2,  15  in  Erfüllung 
ging.  Wie  lächerlich  dies  ist,  setzt  Hieronymus  hinzu,  werdet 
ihr  erkennen,  wenn  ich  auch  nichts  dazu  sage.  Prinzipiellen 
Widerspruch  erhob  aber  Hieronymus  gegen  die  Auslegung  der 
Hebräer,  die  die  von  den  Christen  auf  die  Ankunft  Christi  und 
das  Gericht  über  Jerusalem  bezogenen  Prophetenstellen  auf 
die  zukünftige  Ankunft  des  noch  zu  erwartenden  Messias,  die 
Errichtung  eines  irdischen  Messiasreiches   und  das  zukünftige 

')  Valiarsi  VI,  5Ö3. 
*)  Valiarsi  Vi,  684. 
')  Valiarsi  VI,  641. 
')  Valiarsi  VI,  637. 

')  F^raef.  in  Hab.  üb.  II,  Valiarsi  VI,  631   ff. 

*)  Praef.  in  Hiob,  wo  derselbe  jüdische  Lehrer  erwähnt  wird,  s.  oben 
§  33,  S.  101. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  123 

Über  die  Heidenvölker  ergehende  Gottesgericht  deuteten.  Hiero- 
nymus  ist  nicht  nur  empört  über  den  jüdischen  Unglauben, 
der  Christus  nicht  als  Messias  anerkennen  will,  sondern  er 
findet  auch  die  jüdischen  Zukunftshoffnungen  dumm,  frivol 
und  anmaßend.  Daß  dem  jüdischen  Volke,  das  von  der 
Knechtschaft  befreit  wird,  bei  der  Ankunft  des  Messias  alle 
Nationen  dienen  sollen,')  daß  an  jenem  Tage,  wenn  vom 
Messias  die  Mauern  Jerusalems  wieder  aufgebaut  werden,  die 
heiligen  Schriften,  das  Gesetz  und  die  Propheten,  den  Christen 
genommen  und  dem  jüdischen  Volke  übergeben  werden  sollen,') 
sind  ihm  jüdische  Behauptungen  von  unverschämter  Frechheit. 
Mit  besonderem  Eifer  bekämpfte  Hieronymus  die  sinnlichen 
Zukunftshoffnungen:  man  darf  nicht  glauben,  daß  Gott  aus 
Gold  und  Edelsteinen  und  nicht  aus  lebendigen  Steinen  Jeru- 
salem bauen  werde. ^)  Hier  zeigt  sich  der  dogmatisch  sonst  so 
schwankende  Hieronymus  als  entschiedener  und  schroffer  Gegner 
des  Chiliasmus.  Die  Weissagungen  der  Propheten  Micha  und 
Zephanja  vom  Gerichtstage  Gottes  und  dem  zukünftigen 
Messiasreich  bezieht  er  fast  durchgängig  auf  das  Gericht 
über  Jerusalem  und  das  Friedensreich,  das  Christus  bereits 
gebracht  hat.  Er  bekämpft  hier  nicht  nur  die  Juden,  sondern 
auch  die  chiliastisch  denkenden  Christen.  Wenn  also  einer 
der  Christen  und  am  meisten  der  neuen  Klugen,  deren  Namen 
ich  verschweige,  damit  ich  keinen  zu  verletzen  scheine,  glaubt, 
daß  die  Prophetie  noch  nicht  erfüllt  sei,  so  möge  er  wissen, 
daß  er  den  Namen  Christi  falsch  trage  und  eine  jüdische 
Seele  und  nur  keine  Beschneidung  des  Körpers  habe.')  Er 
nennt  die  Chiliasten  halbe  Juden,  die  unsern  ganzen  Glauben 
zugrunde  richten,  die  erbärmlichsten  der  Menschen.)  Diese  Ab- 
lehnung des  Chiliasmus  hat  Hieronymus  von  Origenes  über- 
nommen und  auch  später  beibehalten,  als  er  sich  von  seinem 
Meister    lossagte    und   seine    dogmatischen   Aufstellungen    als 


')  Mich.  4,  11    ff.,  Vallarsi   VI,  485;    Mich.  5,  7  ff.,    Vallarsi  VI,  49S; 
Zeph.  2,  12  ff.,  Vallarsi  VI,  709. 

»)  Mich.  7,  8  ff.,  Vallarsi  VI,  522. 
3)  Hagg.  2,  16  ff.,  Vallarsi  VI,  767. 
■•)  Zeph.  3,  14,  Vallarsi  VI,  728. 
*)  Zeph.  3,  IQ,  Vallarsi  VI,  731. 


124  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Heterodoxien  verwarf.  Seine  entschiedene  Stellungnahme  gegen 
den  Chiliasmus  hat  aber  vor  allem  mitgewirkt,  daß  die  mittel- 
alterliche Kirche  die  Erwartung  eines  tausendjährigen  Reiches  als 
Ketzerei  verurteilte  und  in  der  Eschatologie  trotz  aller  sinnlichen 
Ausmalung  des  ewigen  Strafzustandes  und  der  ewigen  Selig- 
keit bei  der  Ablehnung  des  Chiliasmus  den  spiritualistischen 
Motiven  des  Origenes,  die  Hieronymus  aufgenommen  hatte, 
treu  blieb,  und  dies  trotz  der  Bibüzität  des  Chiliasmus. 

Eigentümlich  frei  spricht  sich  Hieronymus  in  diesen 
Kommentaren  über  die  Inspiration  der  heiligen  Schriften  aus.') 
Vor  der  starren  Verbalinspiration  bewahrten  ihn  seine  text- 
kritischen Kenntnisse.  Das  Zitat  Mich.  5,  1  „Und  du  Beth- 
lehem Ephrata"  stimmte  bei  Matth.  2,  6  weder  mit  den  LXX 
noch  mit  dem  hebräischen  Text  überein.  Seine  Meinung  ist 
nun,  daß  der  Evangelist  Matthäus  mit  dem  ungenauen  Zitat 
die  Nachlässigkeit  der  Schriftgelehrten  und  Priester  im  Lesen 
der  Heiligen  Schrift,  die  diese  Worte  vor  Herodes  zitieren, 
habe  bemerklich  machen  wollen.  Nach  einer  anderen  Erklärung 
sind  aber  die  zahlreichen  Abweichungen  alttestamentlicher 
Zitate  vom  Grundtexte  im  Neuen  Testament  darauf  zurück- 
zuführen, daß  die  Apostel  und  Evangelisten  nicht  aus  den 
Büchern,  sondern  aus  dem  Gedächtnis  zitieren  und  dieses 
Gedächtnis  sie  naturgemäß  bisweilen  im  Stich  läßt.-)  Bei 
Habakuk  2,  4  macht  Hieronymus  darauf  aufmerksam,  daß  der 
Apostel  diese  Stelle  im  F^ömerbriefe  1,17  nach  den  LXX  zitiere. 
Er  tue  es  deshalb,  weil  die  Römer  die  hebräischen  Schriften 
nicht  kannten.  Es  kommt  aber  den  Aposteln  nicht  auf  die 
Worte,  sondern  auf  den  Sinn  an.  Nur  wo  eine  sinngemäße 
Differenz  zwischen  den  LXX  und  dem  hebräischen  Text  besteht, 
gebraucht  der  Apostel  nach  Hieronymus  das  hebräischeOriginal.'') 

Endlich  sind  noch  die  Ausführungen  des  Hieronymus 
über  die  göttliche  Providenz  im  Habakukkommentar  für  sein 
religiöses  Empfinden  charakteristisch.  Er  besitzt  zu  wenig 
religiöse  Energie,  um  nicht  den  Gedanken  der  göttlichen 
r^rovidenz  mit  rationalistischen  Bedenken  abzuschwächen.     Es 

')  s.  auch  Zöckler,  S.  189. 
2)  Vallarsi  VI,  789. 
')  Vallarsi  Vi,  612. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  123 

ist  absurd,  die  Majestät  Gottes  herabzuzielien,  um  anzunehmen, 
daß  Gott  weiß,  wieviel  Flöhe  in  jedem  Augenblick  geboren 
werden  und  wieviel  sterben,  welche  Menge  von  Wanzen, 
Flöhen  und  Fliegen  auf  der  Erde  ist,  wieviele  Fische  im 
Wasser  schwimmen,  und  welche  von  den  Kleinen  der  Raub 
der  Großen  werden  müssen.  Wir  sind  nicht  so  törichte 
Schmeichler  Gottes,  daß  wir  seine  Macht  auch  auf  das  Niedrige 
herabziehen.  Seine  nüchterne  Verständigkeit,  die  uns  immer 
wieder  bei  allen  pathetischen  Worten  entgegentritt,  begnügt 
sich  nicht  mit  dem  religiösen  Postulat  der  göttlichen  Providenz; 
er  versucht  es,  sie  auszudenken  und  gelangt  naturgemäß  zu 
Absurditäten.  Er  spottet  über  die  Dummheit,  einen  eigenen 
Engel  namens  Tegri  den  Reptilien  vorzusetzen,  wie  es  das 
apokryphe  Buch  Hermas  tut.  Man  müßte  dann  auch  eigene 
Engel  für  die  Fische,  Bäume  und  Tiere  annehmen. 

Besondere  Sorgfalt  hat  Hieronymus  auf  den  Text  ver- 
wandt. Was  er  hierüber  berichtet,  ist  noch  heute  für  uns 
zum  Teil  von  größtem  Wert  und  größter  Bedeutung.  Be- 
sonders im  Habakukkommentar  notiert  er  neben  den  Lesarten 
der  LXX,  Aquila,  Symmachus  und  Theodotion  auch  die  Lesarten 
der  Quinta,  Sexta  und  Septima  zum  Dodekapropheton.")  Er 
versucht  auch  die  verschiedenen  Übersetzungen  zu  charakteri- 
sieren, wenn  er  z.  B.  zu  Hab.  3,  11  ff.  die  Übersetzung  der 
Ebioniten  und  halben  Christen,  Theodotion  und  Symmachus, 
als  jüdisch  bezeichnet,  während  der  Jude  Aquila  und  die 
Quinta  wie  die  Christen  übersetzen,  und  die  Sexta  noch  deut- 
licher das  christlich  messianische  Verständnis  der  Stelle  zum 
Ausdruck  bringt.  Einmal  spricht  er  sogar  von  zwei  Aus- 
gaben des  Symmachus  und  teilt  beide  Lesarten  mit.')  Er  ver- 
gleicht die  LXX  mit  dem  hebräischen  Text^)  und  bemüht  sich 
sogar  um  Korrekturen   der  LXX.')     In  der  Regel  gibt  er  dem 


»)  s.  z.  B.  Hab.  1,  9  ff.,  Vallarsi  VI,  618;    Hab.  2,  15,  Vallarsi  VI,  623. 

-)  Nah.  3,  1,   Vallarsi  Vi,  563. 

^)  Z.  B.  Mich.  2,  9,  wo  er  bemerkt,  daß  die  Übersetzung  zu  den 
Propheten  vielleicht  nicht  LXX  genannt  werden  dürfe,  da  nach  Josephus 
und  der  hebräischen  Tradition  nur  die  5  Bücher  Mosis  von  den  LXX  für 
König  Ptolemäus  übersetzt  worden  sind. 

•*)  Mich.  6,  3,  Vallarsi  VI,  502. 


126  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

hebräischen  Text  den  Vorzug  vor  den  LXX,  aber  bisweilen 
schwankt  er  auch,  ob  entweder  die  Bosheit  der  Juden  den 
ahen  Text  korrigiert  oder  ob  die  LXX  Zusätze  zum  hebräischen 
Text  gemacht  haben.  Besonders  wertvoll  sind  für  uns  die 
sich  allerdings  selten  findenden  Angaben  über  Varianten  in 
den  hebräischen  Codices.') 

Was  die  Form  seiner  Kommentare  betrifft,  so  bemerkt 
Hieronymus  selbst,  daß  die  trockenen  Auseinandersetzungen 
über  den  hebräischen  Text,  die  LXX  und  die  anderen  Über- 
setzungen dem  Leser  lästig  fallen  mögen;  aber  er  schreibe  auch 
nicht  erdichtete  Streitreden  oder  Schulübungen  und  ergehe 
sich  nicht  in  Gemeinplätzen,  sondern  er  schreibe  Kommentare 
und  zwar  zu  den  kleinen  Propheten,  die  viele  dunkle  Stellen 
enthielten.  Im  ganzen  sind  die  Kommentare  auch  ziemlich 
trocken,  nur  bisweilen  erhebt  er  sich  zu  höherem  Schwung, 
wie  z.  B.  in  der  Schilderung,  daß  das  Christentum  der  Welt 
den  Frieden  gebracht  hat.  )  Bezugnahme  auf  zeitgeschichtliche 
Verhältnisse,  wie  sie  uns  in  den  neutestamentlichen  Kommen- 
taren häufiger  begegnen,  sind  in  diesen  alttestamentlichen 
Auslegungsschriften  spärlicher  vorhanden.  Gelegentlich  flicht 
er  eine  Anekdote  ein,  die  er  selbst  als  Schüler  beim  Tode 
Kaiser  Julians  erlebt  hat.  )  Mit  Bedauern  registriert  er,  daß 
die  mit  weltlichen  Ehren  und  Reichtümern  Ausgestatteten  nur 
selten  oder  niemals  zur  Kirche  kommen.^)  Er  ermahnt  die 
Christen,  wenn  einer  ihrer  Verwandten  sterbe  und  der  Fiskus 
das  Vermögen  beschlagnahme,  nicht  zu  weinen  und  nicht  das 
Gegenwärtige,  sondern  das  Zukünftige  ins  Auge  zu  fassen.') 
Besonders  eindrucksvoll  und  dramatisch  schildert  er  uns  aus 
eigener  Anschauung  die  ergreifende  Wehklage  der  Juden  über 
den  Fall  Jerusalems  und  die  Zerstörung  des  Tempels,  zu  der 
sie  sich    noch  jährlich    zu   versammeln   pflegten"):    „Bis  heute 


')  Hab.  2,   IQ,    Vallarsi  Vi,    630:    praeterea    sciendum    in  quibusdam 
hebraicis  vohiminibus  non  esse  additnm  „omnis",  sed  absolute  spiritum  legi. 
2)  Vallarsi  VI,  475  ff. 
')  Band  I,  117. 
♦)  Vallarsi  VI,  697. 
*)  Vallarsi  VI,  454. 
")  Zeph.  1,  15  und  16  s.  auch  Zöckler,  S.  188. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  127 

dürfen  die  bösen  Ackerbauer  Jerusalem  nicht  betreten  und 
müssen  es  mit  Geld  erkaufen,  daß  sie  die  Zerstörung  ihrer  Stadt 
beweinen  können,  und  die,  welche  einst  Christi  Blut  erkauften, 
müssen  jetzt  ihre  Tränen  erkaufen.  Nicht  einmal  ihr  Weinen 
ist  umsonst.  Man  kann  sehen,  wie  am  Tage  der  Einnahme 
und  Zerstörung  Jerusalems  durch  die  Römer  das  trauernde 
Volk  zusammenkommt,  wie  abgelebte  arme  Weiber  und  Greise 
mit  Lumpen  bedeckt  und  durch  die  Last  der  Jahre  gebeugt, 
herbeiströmen,  um  durch  ihren  Anzug  und  die  Haltung  ihrer 
Leiber  den  Zorn  Gottes  zu  verkünden.  Es  sammelt  sich  der 
Haufe  der  Elenden  und,  während  das  Kreuz  des  Herrn  er- 
glänzt und  seine  Auferstehungskirche  hell  strahlt,  während 
vom  Ölberg  die  Kreuzesfahne  weht,  beklagt  ein  unglückliches 
und  doch  nicht  bemitleidenswertes  Volk  die  Ruinen  seines 
Tempels.  Die  Tränen  stehen  auf  ihren  Wangen,  die  Arme 
sind  matt  und  zerschlagen,  die  Haare  zerrauft,  und  der  wach- 
habende Krieger  fordert  seinen  Lohn  dafür,  daß  ihnen  noch 
weiter  zu  klagen  gestattet  sei.  Und  bei  diesem  Anblick  sollte 
man  noch  ungewiß  bleiben  über  den  Tag  der  Trübsal  und 
der  Angst,  des  Wetters  und  des  Ungestüms,  der  Finsternis  und 
des  Dunkels,  derPosaunen  und  derTrompeten.  Sie  haben  wirklich 
bei  ihrer  Trauer  Trompeten  und  die  Stimme  ihrer  Freude 
ist  in  Jammer  verwandelt,  wie  der  Prophet  sagt.  Sie  heulen 
über  die  Asche  ihres  Heiligtums  und  über  den  zerstörten 
Altar,  über  die  einst  so  feste  Stadt  und  über  die  hohen 
Zinnen  des  Tempels,  von  wo  sie  einst  Jakobus  den  Bruder 
des  Herrn  herabstürzten."  Ein  fanatischer  Judenhaß  spricht 
aus  diesen  Worten  des  Hieronymus,  und  doch  verschmähte 
er  es  nicht,  sich  zu  den  Füßen  der  jüdischen  Rabbinen  zu 
setzen,  um  sich  von  ihnen  in  der  heiligen  Sprache  des  alten 
Bundes  unterweisen  zu  lassen. 


128  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

§  35. 
Der  Schriftstellerkatalog  des  Hieronymus. 

„Ohne  Zweifel  gehört  die  Schrift  de  viris  illustribus  zu 
den  verdienstvollsten,  ja  v^enn  man  vc^ill,  zu  den  genialsten 
Geistesprodukten  unseres  Schriftstellers",  so  schrieb  Zöckler 
1865  in  seiner  Biographie  des  Hieronymus.')  Und  jezt,  wo 
auf  Grund  eingehendster  Forschungen")  als  Quellen  oder 
richtiger  als  Quelle  des  Schriftchens  die  Kirchengeschichte  des 
Eusebius  erwiesen  ist,  ist  das  Urteil  ins  Gegenteil  umge- 
schlagen, und  man  kritisiert  aufs  schärfste  die  Leichtfertigkeit 
und  Unwahrhaftigkeit  des  Hieronymus,  wie  sie  uns  mit  er- 
schreckender Deutlichkeit  gerade  bei  der  Abfassung  dieser 
Schrift  entgegentrete.  So  urteilt  Harnack:')  „Aus  dem  Bettel- 
gewand des  unglaublich  eilfertig  geschriebenen,  nach  berühmten 
Mustern  abgefaßten  Traktats  schaut  nur  die  Eitelkeit  des  Schrift- 
stellers hervor."  Man  könnte  gegen  das  letzte  überaus  harte 
Urteil  einwenden:  Hieronymus  hat  hier  nicht  schlimmer  als 
sonst  gearbeitet,  alle  seine  literarischen  Untugenden  begegnen 
uns  nur  wieder.  Er  ist  fast  überall  Kompilator,  nur  be- 
sitzen wir  bei  seinen  exegetischen  Werken  fast  nie  sämtliche 
seiner  Vorlagen,    um    ihm    seine    literarische   Freibeuterei    mit 


')  S.  120. 

'^)  St.  von  Sychowski,  Eine  quellenkritische  Untersuchung  der  Schrift 
des  heiligen  Hieronymus  de  viris  illustribus,  München  1894.  CA.  Bernoulli, 
Der  Schriftstellerkatalog  des  Hieronymus,  Freiburg  und  Leipzig  18Q5;  vergl. 
auch  das  vorzügliche  zusammenfassende  F^eferat  über  diese  Forschungen 
bei  M.  Schanz,  Geschichte  der  römischen  Literatur  bis  zum  Gesetzeswerk 
des  Kaisers  Justinian,  Teil  IV,  404  ff.,  München  1904;  die  Ausgabe  von 
Herding,  Leipzig  1879,  ist  allgemein  als  ungenügend  erkannt;  Bernoullis 
Ausgabe  in  der  Sammlung  ausgewählter  kirchen-  und  dogmengeschicht- 
licher Quellenschriften,  Heft  11,  Freiburg  1895,  ruht  auf  fünf  Handschriften; 
Richardsons  Ausgabe,  Texte  und  Untersuch.,  Band  XIV,  1.  Heft,  Leipzig 
1896,  hat  eine  große  Zahl  (108)  Handschriften  benutzt  und  neun  zur 
Grundlage  seines  Textes  gemacht.  Ein  Mangel  der  fleißigen  Arbeit 
besteht,  wie  von  allen  Kritikern  hervorgehoben  wurde,  darin,  daß  er  die 
griechische  Übersetzung  der  Schrift  zur  Herstellung  des  Textes  unbenutzt 
gelassen  hat. 

')  Texte  und  Untersuch.  V,  1,  S.  120. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  129 

derselben  Deutlichkeit  nachweisen  zu  können.  Mir  würde  es 
jedoch  ungerecht  erscheinen,  seine  exegetischen  Arbeiten  trotz 
aller  Abhängigkeit  von  berühmten  Mustern  mit  diesem  Schrift- 
stellerkatalog gleichzustellen.  Der  Schriftstellerkatalog  ist,  wie 
Overbeck  es  ausgesprochen  hat,  in  der  Tat  vielleicht  das 
krasseste  Denkmal  der  mannigfachen  und  argen  Schäden  seiner 
Arbeitsweise. ')  Aber  trotz  allem,  was  man  mit  Recht  an  der 
Arbeit  getadelt  hat:  wer  unter  seinen  Zeitgenossen  war  denn 
in  der  christlichen  Literatur  griechischer  und  lateinischer 
Sprache  so  belesen  wie  Hieronymus,  daß  er  nur  ein  solches 
Werk  wie  Hieronymus  hätte  schreiben  können?  Gewiß  hat 
er  von  der  älteren  christlichen  Literatur  des  zweiten  und  dritten 
Jahrhunderts  fast  nichts  gekannt,-)  aber  über  die  Literatur  des 
vierten  Jahrhunderts  ist  er  doch  in  einer  Breite  informiert  wie  kein 
Grieche  und  kein  Lateiner  seines  Zeitalters.  Daß  aber  solche 
Menschen  mit  dem  Wissen  eines  Konversationslexikons  keine 
wissenschaftlich  produktiven  Köpfe  sind,  sollte  keinen  Kenner 
der  Geschichte  verwundern.  Daß  solche  Vielwisser  in  der 
Regel  ihr  wirkliches  Wissen  noch  größer  erscheinen  lassen 
und  sich  aus  Eitelkeit  ein  Scheinwissen  beilegen,  ist  psycho- 
logisch ebenfalls  verständlich.  Wenn  wir  weiter  in  Betracht 
ziehen,  daß  das  unkritische  Zeitalter  des  Hieronymus  ihm  alle 
seine  flüchtigen  Arbeiten  mit  Dank  abnahm,  aber  für  seine 
mühevollste  Arbeit,  die  Bibelübersetzung  des  Alten  Testaments 
aus  dem  hebräischen  Text,  keine  Spur  von  Verständnis  besaß, 
so  können  wir  es  begreifen,  daß  er,  trotz  allem  der  gelehrteste 
christliche  Schriftsteller  der  Zeit,  sich  keine  Mühe  gab,  seinen 
Zeitgenossen  gründliche  Arbeiten  zu  liefern,  da  sie  die  Unter- 
scheidungsgabe   des    Guten    und  Bösen    nicht    besaßen.     Ich 


')  Die  Anfänge  der  Kirchengeschichtsschreibung,  Basler  Universitäts- 
programm 1892,  S.  19,  Anm.  34. 

-)  s.  die  Zusammenstellung  über  seine  Kenntnisse  der  altchristlichen 
Literatur  bei  Bernoulli,  S.  200  ff.  Danach  hätte  er  nur  Josephus,  Tatians 
Kommentar  zum  Titusbrief,  Irenäus,  die  apostolischen  Väter  von  älteren 
griechischen  Kirchenvätern  gekannt.  Es  ist  aber  bezeichnend,  daß  man  ihm 
auch  eine  lateinische  Übersetzung  der  Schriften  des  Papias  und  Polykarp,  die 
er  selbst  gar  nicht  kannte,  noch  zu  seinen  Lebzeiten  andichtete;  s.  ep.  71,  5, 
wo  Hieronymus  das  Gerücht  als  falsch  bezeichnet,  daß  er  Josephus,  Papias 
und  Polykarp  ins  Lateinische  übersetzt  habe. 

G  r  ü  tzm  ach  e  r ,    Hieronymus.    II.  9 


130  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

möchte  mit  Bernoulli  dem  Hieronymus  auch  nicht  das  Ver- 
dienst absprechen,  daß  er  mit  dem  Schriftstellerkatalog  neue 
literarische  Bahnen  zu  betreten  versuchte,  die  bisher  noch 
keiner  gegangen  war.  Gewiß  hat  Hieronymus  den  Begriff 
einer  christlichen  Literaturgeschichte  im  Schriftstellerkatalog 
sehr  eng  und  äußerlich  gefaßt;  aber  der  erste  Ansatz  zu  einer 
solchen  war  doch  damit  gegeben.  Aller  Anfang  bei  der 
Inangriffnahme  einer  neuen  literarischen  Aufgabe  ist  schwer. 
Und  mag  man  gegen  Hieronymus  sagen  was  man  will,  eine 
Empfindung  für  wissenschaftliche  Probleme  besaß  der  begabte 
Dalmatiner,  und  in  der  Inangriffnahme  großer  literarischer 
Aufgaben  hat  er  sich  vielfach  versucht.  Fraglos  hat  er  aber  nur 
selten  wie  bei  dem  Bibelwerk  die  ergriffene  Aufgabe  mit 
Zähigkeit  durchgeführt;  in  der  Regel  werden  wir  stark  ent- 
täuscht, wenn  wir  sehen,  wie  sein  keineswegs  geringes  Talent 
so  wenig  Gründliches  leistet. 

Der  ihm  befreundete  Reiteroberst  Dexter  hatte  ihn  zur 
Abfassung  des  Schriftstellerkatalogs  aufgefordert.')  Sein  hoher 
Gönner  hatte  dabei  den  Wunsch  geäußert,  daß  er  in  Nach- 
ahmung des  Sueton  de  viris  illustribus  )  ein  Werk  schreiben 
möchte,  welches  den  Heiden  den  Vorwurf  nehme,  das  Christen- 
tum sei  keine  Religion  der  literarisch  Gebildeten.  Seine  Schrift 
trägt  deshalb  deutlich  einen  apologetischen  und  polemischen 
Charakter.  Am  Schluß  des  Prologs  sagt  er:  „Mögen  also 
Celsus,  Porphyrius  und  Julian,  die  gegen  Christus  bissigen 
Hunde,  und  ihre  Anhänger,  die  glauben,  daß  die  Kirche  keine 
Philoso]-)hen,  Redner  und  Lehrer  gehabt  habe,  es  lernen,  wie 
große  und  bedeutende  Männer  die  Kirche  begründet,  auf- 
gebaut   und    geschmückt    haben,    und    mögen    sie    aufhören, 


')  s.  Contra  RnUn.  II,  23,  Vallarsi  II,  516.  Schanz,  S.  355,  Anui.  2, 
identifiziert  ihn  mit  Dexter,  dem  Sohn  des  Bischofs  Pacian  von  Barcelona, 
den  Hieronynnis  im  Katalog  c.  132  clarus  ad  saeculum  et  Christi  fidei 
dedifus  erwähnt,  und  der  eine  historia  onmimoda,  die  dem  Hieronymus 
gewidmet  war,  geschrieben  habe,  die  er  aber  noch  nicht  gelesen  habe.  Sicher 
ist  diese  Identifikation  nicht,  aber  sie  erscheint  mir  doch  wahrscheinlich. 

')  Über  seine  Nachahnning  des  Sueton  s.  den  Nachweis  bei  Bernoulli, 
S.  76  ff.  Die  Griechen  Hermippus,  Antigonus,  Carystius,  Satyrus  und  den 
Musiker  Aristoxenus  und  die  Lateiner  Varro,  Santra,  Nepos,  Hyginos,  die 
Hieronynnis  in  der  Vorrede  anführt,  kennt  er  nur  dem  Namen  nach. 


Die  ersten  Jalire  im  Kloster  zu  Betiileliein.  131 

unseren  Glauben  bäurischer  Einfalt  zu  beschuldigen,  und  lieber 
ihre  Unwissenheit  eingestehen."  Aus  dieser  Tendenz  erklärt 
sich  die  auf  den  ersten  Blick  befremdliche  Aufnahme  des 
Heiden  Seneca  und  der  Juden  Philo,  Josephus  und  Justus 
von  Tiberias  in  den  Katalog  der  kirchlichen  Schriftsteller.- 
Allerdings  bestand  wenigstens  bei  drei  dieser  Männer  durch 
den  apokryphen  Briefwechsel  Senecas  mit  Paulus,  durch  das 
günstige  Urteil  des  Josephus  über  Christus  und  durch  die  an- 
gebliche Beschreibung  des  Lebens  der  ältesten  alexandrinischen 
Christen  in  Philos  de  vita  contemplativa  zwischen  ihnen  und 
dem  Christentum  eine  gewisse  Beziehung.  Aber  das  Motiv  bei 
Aufnahme  in  den  Katalog  war  doch,  die  Zahl  der  christlichen 
Schriftsteller  möglichst  groß  erscheinen  zu  lassen.  Aus  dem- 
selben Motiv  hat  er  auch  die  christlichen  Häretiker  unter  die 
christlichen  Schriftsteller  eingereiht;  und  er,  der  später  so 
ängstlich  um  seine  Orthodoxie  besorgt  war  und  den  Graben 
zwischen  der  Kirche  und  der  Häresie  nicht  breit  genug  machen 
konnte,  hat  hier  die  Häretiker  mit  dem  Mantel  der  christlichen 
Liebe  bedeckt,  nur  um  den  Heiden  mit  der  großen  Zahl  christ- 
licher Schriftsteller  zu  imponieren.  Bei  Tatian ')  hat  er 
wenigstens  angemerkt,  daß  er  der  Stifter  der  Sekte  der  Enkra- 
titen,  bei  Bardesanes,')  daß  er  erst  Valentinianer  und  dann  der 
Begründer  einer  eigenen  Sekte  war,  bei  Tertullian, ')  daß  er 
später  zum  Montanismus  abfiel,  allerdings  mit  dem  Seiten- 
hieb, daß  er  durch  den  Neid  und  die  Schmähungen  der 
Kleriker  der  römischen  Kirche  —  er  hatte  ja  selbst  ähnliches 
erduldet  dazu    veranlaßt    worden    wäre.      Bei    Novatian ') 

und  Donatus  berichtet  er,  )  daß  sich  die  Katharer  und 
Donatisten  von  ihnen  herleiten,  und  bei  Photin, ')  daß  er 
der  Restaurator  der  Häresie  der  Ebioniten  geworden  sei. 
Bei    Marceil    von  Ancyra")    dagegen    läßt    er    aus  Mangel    an 


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86. 

132  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

eigenem  Urteil  die  Frage  offen,  ob  er  Sabellianer  war  oder 
nicht.  Asterius  nennt  er  einen  Philosophen  der  arianischen 
Partei,')  aber  Priscillian  und  seine  Freunde')  behandelt  er  nicht 
als  Häretiker,  ja  er  scheint  fast  für  sie  eintreten  zu  wollen.) 
Ganz  unbeanstandet  läßt  Hieronymus  Lucifer  von  Calaris,') 
gegen  dessen  Lehre  er  einst  in  Rom  selbst  polemisiert  hatte, 
und  seinen  Lehrer  Apollinaris  von  Laodicea.)  Die  Bischöfe 
Lucius  von  Alexandria')  und  Eunomins  von  Cyzicus ')  werden 
zwar  als  Arianer  bezeichnet,  aber  es  wird  kein  tadelnder  Zusatz 
dazu  gemacht.  Daß  Hieronymus  Origenes ')  nicht  als  Häretiker 
bezeichnet,  sondern  sein  unsterbliches  Genie  feiert  und  alle 
Synoden,  die  gegen  ihn  gehalten  wurden,  sowie  alle  Vorwürfe 
gegen  ihn  verschweigt,  findet  in  seiner  damaligen  theologischen 
Stellungnahme  eine  ausreichende  Erklärung.  Es  ist  bei  dieser 
inkonsequenten  Haltung  des  Hieronymus  gegenüber  den 
Häretikern  verständlich,  daß  Augustin,  der  klare  und  scharfe 
Abgrenzungen  liebte,  daran  Anstoß  nahm:")  „In  dem  Buch, 
wo  du  aller  Kirchenschriftsteller,  deren  du  dich  erinnern 
konntest,  und  ihrer  Schriften  gedacht  hast,  wäre  es,  glaube  ich, 
bequemer  gewesen,  wenn  du  bei  den  Häresiarchen,  falls  du 
sie  nicht  auslassen  wolltest,  hinzugefügt  hättest,  wovor  man 
sich  bei  ihnen  hüten  muß."  Er  bedachte  dabei  nicht,  daß 
Hieronymus  eigentlich  nur  eine  Häresie  kannte,  die  Bekämpfung 
der  Virginität,  sonst  aber  recht  imfähig  war,  dogmatische  Diffe- 
renzen scharf  zu  fixieren. 

Mit  der  apologetischen  Tendenz  des  Buches  hängt  es 
weiter  aufs  engste  zusammen,  daß  Hieronymus  es  liebt,  mög- 
lichst viel  lobende  Prädikate  den  einzelnen  Verfassern  und 
Büchern  zu  erteilen,  um  die  literarischen  Produkte  der  Christen 

')  C.  94. 

*)  C.  121-123. 

')  Später  ep.  75,  c.  3,  Vallarsi  I,  449  bezeichnet  er  den  Priscillianis- 
miis  als  spurcissima  haeresis  Basilidis,  instar  pestis  et  morbus. 

*)  C.  95. 

»)  C.  104. 

«)  C.  118. 

')  C.  120. 

8)  C.  54. 

9)  Ep.  67  ad  Hieronymum  c.  9,  Vallarsi  I,  406,  s.  Zöckler,  S.  193. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  133 

in  hellstem  Lichte  erscheinen  zu  lassen.  Er  wollte  damit  nicht 
so  sehr  den  Schein  eigener  Kenntnis  erwecken,  als  vielmehr 
den  Heiden  die  christliche  Literatur  in  den  höchsten  Tönen 
anpreisen.  Deshalb  hat  er  auch  die  Kritik  an  den  Häretikern 
zurückgestellt,  damit  die  Heiden  nicht  auf  die  Widersprüche 
der  christlichen  Autoren  unter  sich  aufmerksam  würden. 

Nach  dem  Vorbild  des  Sueton  stellt  Hieronymus  135 
christliche  Autoren  in  je  einem  Kapitel  dar.  Wie  der  Heide 
die  berühmten  Schriftsteller  in  Reihe  und  Glied  aufgestellt 
hatte,  den  Kleinen  neben  dem  Großen,  so  läßt  Hieronymus 
die  christliche  Phalanx  dagegen  aufmarschieren.') 

In  zwei  Teile  läßt  sich  der  Katalog  zerlegen,  c.  1  —  78  von 
Petrus  bis  auf  Bischof  Phileas  von  Thmuis  in  Ägypten,  und 
c.  7Q — 135  von  Arnobius  bis  auf  seine  eigene  Person.  Der 
erste  Teil  ist  nun  in  69  Nummern  einfach  aus  der  Kirchen- 
geschichte des  Eusebius  zusammengestellt,  wie  Bernoulli, 
Sychowski  und  Huemer  in  gründlichster  Einzeluntersuchung 
dargetan  haben.')  Er  verschweigt  diese  seine  Quelle  nicht, 
sondern  nennt  sie  in  der  Vorrede  und  bisweilen  in  einzelnen 
Kapiteln.  )  Man  könnte  also  den  Schriftstellerkatalog  in  Parallele 
zu  der  Chronik  stellen,  wo  er  auch  Eusebius  übersetzt,  mit 
einigen  Notizen  vervollständigt  und  eine  selbständige  Fort- 
setzung gegeben  hat.')     Aber    wieviel    offener  lautet  das  Ein- 


')  s.  Bernoulli,  S.  76  ff.,  der  die  Abhängigkeit  von  Sueton  auch  in 
stilistischer  Beziehung  deutlich  gemacht  hat. 

-)  J.  Huemer,  Studien  zu  dem  ältesten  christlichen  Literarhistoriker, 
Wiener  Studien  16,  121  ff.,  1894. 

^  De  vir.  illust.  ed  Richardson  prol.  S.  1  ff.  quamquam  et  Eusebius 
Pamphili  in  decem  ecciesiasticae  historiae  libris  maximo  nobis  adiumento 
fuerit,  et  singulorum,  de  quibus  scripturi  sumus,  volununa  aetates  auctoruni 
suorum  saepe  testantur;  c.  15  bemerkt  er  bei  der  disputatio  Petri  et 
Appionis,  dafi  sie  Eusebius  dem  Clemens  im  dritten  Buch  der  Kirchen- 
geschichte abspricht,  de  vir.  illust.  ed.  Richardson,  S.  17;  c.  54  verweist  er 
für  die  genaueren  Daten  über  Origenes  auf  das  sechste  Buch  der  Kirchen- 
geschichte des  Eusebius,  de  vir.  illust.  ed.  Richardson,  S.  33. 

•*)  Ich  möchte  nur  auf  besonders  charakteristische  Beispiele  der  Ab- 
hängigkeit des  Schriftstellerkatalogs  von  der  Kirchengeschichte  des  Eusebius 
hinweisen:  Marcus  c.  8  =  Euseb.  h.  e.  II,  15;  Josephus  c.  13  ^  Eus.  h.  e. 
III,  9;  Clemens  c.  15  =^  Eus.  h.  e.  III,  15;  Ignatius  c.  16  =  Eus.  h.  e.  III, 
36,  2;  Polykarp  c.  17=  Eus.  h.  e.  III,  36,  1. 


134  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Betiilehem. 

geständnis  seiner  Abhängigkeit  von  dem  gelehrten  Kirchen- 
historiker in  der  Chronik.  Damals,  noch  im  Anfang  seiner 
schriftstellerischen  Laufbahn,  schrieb  er  in  Konstantinopel 
unter  den  Augen  Gregors  von  Nazianz;  jetzt  nach  12  Jahren 
wollte  er  als  berijhmt  gewordener  Schriftsteller  seine  Unselb- 
ständigkeit nicht  mehr  offen  eingestehen.  Gegen  die  Benutzung 
selbst  werden  wir  ja  nichts  einwenden  dürfen.  Verurteilte  doch 
das  Zeitalter  den  literarischen  Diebstahl  auch  nicht  in  der- 
selben Weise,  wie  wir  ihn  heute  verurteilen.  Aber  wie  leicht- 
fertig hat  er  seine  Vorlage  benutzt. 

Ohne  Kommentar  kann  der  erste  Teil  seines  Schrift- 
stellerkatalogs überhaupt  nicht  benutzt  werden.')  Um  nur 
einige  Beispiele  herauszugreifen:  Aus  den  Namen  des  Vaters 
und  Großvaters  des  Apologeten  Justin  hat  er  einen  Namen 
Priscus  Bacchius  gemacht.  Durch  ein  Mißverständnis  des 
Eusebius  hat  er  berichtet:  Bartholomäus  habe  das  Kommen 
Christi  nach  dem  Matthäusevangelium  verkündet.  Aus  den 
Worten  des  Eusebius,  daß  der  Bischof  Serapion  von  Antiochia 

')  In  einigen  Fällen  scheinen  mir  Bernoulli  und  v.  Sychowski  zu  hart 
über  Hieronymus  zu  urteilen.  Wenn  z.  B.  Bernoulli  dem  Hieronymus  den 
Vorwurf  macht,  daß  er  den  Bischofssitz  des  Hippolyt,  den  Eusebius  auch 
nicht  mehr  kannte,  hätte  ohne  Mühe  feststellen  können,  da  er  in  Rom  ge- 
vvesen  war,  so  halte  ich  dies  nicht  für  zutreffend.  Auch  daß  Hieronymus 
nach  der  Vorrede  zu  seinem  398  geschriebenen  Matthäuskommentar  den 
Matthäuskommentar  des  Hippolyt  kennt  und  in  ep.  71  ad  Luciuium  die 
Traktate  des  Hippolyt  über  das  Sabbatfasten  und  das  tägliche  Nehmen  der 
Eucharistie  erwähnt,  läßt  noch  nicht  den  Schluß  auf  eine  Nachlässigkeit 
des  Hieronynnis  im  Schriftstellerkatalog  zu,  da  ihm  diese  Schriften  Mippolyts 
erst  später  bekannt  geworden  sein  können.  Die  Behauptung  v.  Sychowskis, 
da(i  Hieronynnis  von  Lucifer  von  Calaris  mehr  als  die  eine  Schrift  morien- 
lium  pro  filio  dei  gekannt  hat,  läßt  sich  ebenfalls  nicht  erweisen.  Ich  ver- 
stehe auch  nicht,  wie  Bernoulli,  S.  278,  dem  Hieronymus  die  Kenntnis  des 
Kommentars  des  Oregorius  Thaiimaturgos  zum  Prediger  absprechen  kann, 
obwohl  er  ein  Zitat  in  seinem  Kommentar  zum  Prediger,  c.  4,  13,  daraus 
bringt:  „Allein  dieses  Zitat  ist  ganz  isoliert  und  beweist  an  sich  noch 
keine  wirkliche  Bekanntschaft."  Endlich  will  mir  nicht  einleuchten,  daß 
die  Nachricht  des  Hieronymus  über  l^seudepigraphen  des  Modestus  nach 
Bernoulli,  S.  198,  auf  Kombination  aus  Eusebius  h.  e.  VI,  12,  3  zurück- 
gehen soll.  Dies  sind  alles  kleine  und  unwichtige  Ausstellungen,  die  an 
dem  erbrachten  Nachweis,  daß  Hieronymus  überaus  leichtfertig  gearbeitet 
hat,  nichts  wesentliches  ändern. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethleiiem.  135 

rFjf  jTsg/  Äöyov^  dOKijöeco^  getrieben  habe,  macht  er  ein 
Werk  des  Serapion  über  die  Askese.  Irenäus  und  Justin,  dem 
Märtyrer,  die  Eusebius  als  Zeugen  für  die  Abfassung  der 
Apokalypse  durch  den  Apostel  Johannes  genannt  hatte,  legt 
er  Kommentare  zur  Apokalypse  bei.')  Daß  er  an  Eusebius 
selten  Kritik  geübt  —  für  Novatus  hat  er  einmal  richtig 
Novatian  eingesetzt,  und  von  dem  Freund  des  Origenes 
berichtet  er,  daß  er  nicht  Valentinianer,  sondern  Marcionit 
war"-)  —  sondern  ihn  im  allgemeinen  als  irrtumslose  Autorität 
benutzt  hat,  werden  wir  ihm  nicht  zu  schwer  anrechnen 
dürfen;  denn  von  der  christlichen  Literatur  des  zweiten  und 
dritten  Jahrhunderts  besaß  er  eben  keine  eigene  Kenntnis, 
und  eine  solche  war  trotz  der  Bibliothek  von  Cäsarea,  die 
er  ja  hätte  benutzen  können,  nicht  im  Handumdrehen  zu 
erlangen.  Auch  erscheint  es  mir  mehr  Gedankenlosigkeit  als 
bewußter  Betrug  der  Leser,  )  wenn  er  chronologische  Daten 
aus  Eusebius  abschreibt,  die  nur  für  die  Zeit  des  Eusebius, 
nicht  für  seine  eigene  passen.  Aber  eine  solche  Erklärung  ist 
nicht  mehr  möglich,  wenn  er  Titel  von  Schriften,  die  er  nur 
aus  Eusebius  kennt,  absichtlich  verdreht,')  und  in  dem  Kapitel 
über  Philo,  das  er  mit  vielen  Mißverständnissen  aus  Eusebius 
abgeschrieben  hat,  hinzufügt:  „Es  gibt  noch  Schriften,  die 
nicht  in  unsere  Hände  gekommen  sind",  während  überhaupt 
nichts  in  seine  Hände  gekommen  ist,  was  Philo  geschrieben 
hat,  und  er  von  Philo  nur  aus  Eusebius  weiß.  Hier  gibt  er 
sich  den  Schein  selbständigen  Wissens  und  führt  absichtlich 
seine  Leser  irre. 

Außer  der  Kirchengeschichte  des  Eusebius  hat  Hierony- 
mus  für  den  ersten  Teil  seines  Werkes  noch  seine  Übersetzung 
der  Chronik  des  Eusebius,  deren  chronologische  Anordnung 
er  vor  der  Kirchengeschichte  bevorzugte,')  und  für  die  ersten 
Kapitel  das  Neue  Testament  benutzt. 

»)  s.  Eiiseb.  h.  e.  IV,  18,  S,  Bernoulli,  S.  172. 
■')  Bernoulli,  S.  20  ff . 
^)  s.  auch  Schanz  S.  406. 

*)  s.  z.  B.  Die  Titel  der  Schriften  des  Melito  von  Sardes,    c.  24,  die 
er  nur  aus  Eusebius  kennt. 
")  s.  Bernoulli,  S.  167. 


136  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Ganz  fehlen  aber  auch  im  ersten  Teil  nicht  Zusätze, 
die  Hieronymus  aus  eigner  Kenntnis  der  christlichen  Literatur 
gemacht  hat.  Daß  dies  Bemerkungen  sind,  wie  sie  jeder 
gelehrte  Mann  mehr  oder  weniger  darbieten  konnte,')  möchte 
ich  nicht  zugeben.  Gewiß  hat  Hieronymus  im  Schriftsteller- 
katalog keine  Früchte  eifrigen  Nachforschens  niedergelegt; 
aber  sein  Wissen  war  doch  umfassender  als  das  seiner 
Zeitgenossen  und  deshalb  konnte  er  trotz  aller  Flüchtigkeit 
mehr  geben  als  andere.  Der  Wert  des  ersten  Teiles  des 
Schriftstellerkatalogs  besteht  für  uns  in  gelegentlichen  bio- 
graphischen Mitteilungen  und  im  Bericht  über  Schriften,  deren 
einziger  Zeuge  bisweilen  Hieronymus  ist.  So  hat  er  z.  B. 
im  Artikel  Petrus  das  ludicium  Petri  und  die  Petrusapokalypse 
genannt,  im  Artikel  Jakobus  ein  Zitat  aus  dem  Hebräer- 
evangelium über  die  Erscheinung  Jesu  vor  Jakobus  gebracht, 
im  Artikel  Paulus  die  lokale  Legende,  deren  er  auch  im 
Philemonkommentar  gedachte,  von  dem  Geburtsort  des  Paulus 
in  Gischala  in  Galiläa  berichtet  und  den  apokryphen 
Laodicenerbrief  erwähnt,  im  Artikel  Johannes  den  alten 
Evangelienprolog  zum  Johannes  benutzt.)  Von  dem  Origenisten 
Tryphon"")  und  dem  antiochenischen  Priester  Geminus*)  wissen 
wir  nur  etwas  aus  Hieronymus.  In  dem  Artikel  Lucian  )  hat  er 
über  seine  Bibelrezension  gehandelt. 

Ein  Verdienst  kann  man  Hieronymus  in  seinem  Schrift- 
stellerkatalog nicht  absprechen;  er  hat  Orient  und  Occident 
unparteiisch  behandelt  und  keine  nationale  und  sprachliche 
Schranken  für  die  Aufnahme  der  Kirchenschriftsteller  in  seinen 
Katalog  gezogen.  Er  hat  deshalb  die  die  griechischen 
Kirchenväter  einseitig  berücksichtigende  Kirchengeschichte 
des  Eusebius  durch  Beifügung  der  Lateiner  ergänzt.  Wert- 
voll sind  daher    die  Nachrichten,    die  er   über    die  Biographie 

')  s.  Schanz,  S.  406. 

-)  Das  Öhnartyrium  des  Johannes,  das  er  aus  Terlulhan  de  praescr. 
haer.  c.  36  kannte  (Adv.  Jov.  11,  26  u.  Comm.  in  Matth.  20,  23)  hat  er 
hier  niciit  erwähnt. 

■•')  C.  57. 

')  C.  64. 

")  C.  77. 


Die  eisten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  137 

und  die  Schriften  Tertullians,')  des  Minucius  Felix,')  Cy- 
prians,')  Pontius/)  des  Biographen  Cyprians,  Novatians,') 
über  die  Acta  Archelai")  und  Viktorin  von  Pettau'')  bringt. 
Während  er  uns  aber  bei  Novatian  ein  vollständiges  Ver- 
zeichnis der  ihm  bekannten  Schriften  gibt,')  hat  er  über 
Tertullian  nur  sehr  fragmentarisch  berichtet,  und  bei  Cyprian 
schiebt  er  sich  sogar  die  Arbeit  mit  der  Phrase  ab:  „Es  ist 
überflüssig,  ein  Verzeichnis  dieses  Genies  zu  machen,  da  seine 
Werke  leuchtender  als  die  Sonne  sind."  Bernoulli")  hat  recht: 
„Ohne  die  Eusebianischen  Krücken  hinkt  Hieronymus  erbärm- 
lich einher."  Wenn  man  seine  Arbeiten  mit  denen  des  Origenes 
und  Eusebius  vergleicht,  so  stehen  sie  tief  unter  diesen.  Bis- 
weilen kam  ihm  auch  diese  Selbsterkenntnis,  wenn  er  z.  B. 
an  Fabiola  mit  Bezug  auf  Tertullian  schrieb:'")  „Ich  bitte  dich, 
daß  ihr  nicht  meinen  Tropfen  mit  dem  Strome  jenes  Mannes 
vergleicht.  Ich  bin  nicht  nach  dem  Genie  großer  Männer, 
sondern  nach  meinen  Kräften  zu  beurteilen." 

Der  zweite  selbständige  Teil  ist  ein  Beweis  dafür,  was 
Hieronymus  aus  eigner  Kraft  zu  leisten  fähig  war.  Um  zunächst 
das  Auffallendste  hervorzuheben,  so  tritt  uns  der  subjektivistische 
Charakter  seiner  Arbeit  hier  aufs  stärkste  entgegen.  Sychowski '') 
hat  darauf  hingewiesen,  wie  seine  Eitelkeit  hier  zum  Ausdruck 
kommt,  und  wie  er  sich  selbst  in  den  Mittelpunkt  stellt.  Daß 
Evagrius  ihm  eine  Abhandlung,  die  nicht  einmal  veröffentlicht 
ist,  Gregor  von  Nyssa  seine  Schrift  gegen  Eunomins, 
Amphilochius  von  Ikonium  seine  Schrift  über  den  heiligen  Geist 
vorgelesen    haben,    Sophronius    seine  Werke    ins  Griechische 


')  C.  53. 

■'')  C.  58. 

3)  C.  67. 

*)  C.  68. 

^)  C.  70. 

«)  C.  72. 

')  C.  74. 

-)  Hieronymus    besaß    die  Schriften  Novatians    in    seiner   BibUothek, 
ep.  10  ad  Paulum  senem. 

9)  Bernoulh",  S.  72. 

'")  Ep.  64,  23,  Vallarsi  I,  370. 

'^)  von  Sychowski,   S.  25  ff. 


138  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Übersetzt  hat,  dies  vergißt  er  nicht  anzumerken.  Erhellt  doch 
daraus,  daß  der  Mönch  im  Erdenwinkel  zu  Bethlehem  mit 
den  hervorragendsten  Gelehrten  und  Kirchenfürsten  seiner 
Zeit  in  innigster  Beziehung  stand.  Wie  kurz  hat  er  dagegen 
Epiphanius  ')  und  Gregor  von  Nyssa")  behandelt,  v^ie  unvoll- 
ständig ist  das  Verzeichnis  der  Schriften  Gregors  von  Nazianz,^) 
dessen  persönlicher  Schüler  er  gewesen  war  und  dessen 
Werke  er  kannte.  Es  mußte  eben  bei  allen  seinen  Arbeiten 
möglichst  schnell  gehen,  und  was  er  nicht  aus  der  Lektüre 
im  Gedächtnis  behalten  hatte  oder  etwa  in  seiner  Bibliothek 
besaß,  blieb  einfach  fort.  Wer  konnte  ihn  denn  der  Nach- 
lässigkeit zeihen;  der  Reiteroberst  Dexter  und  seine  Zeit- 
genossen bewunderten  ja  doch  seine  scheinbar  unermeßliche 
Gelehrsamkeit.  Daß  eine  späte  Nachwelt  schonungslos  seine 
Liederlichkeit  an  den  Pranger  stellen  würde,  konnte  er  nicht 
ahnen.  Wie  boshaft  er  den  Mailänder  Bischof  Ambrosius 
behandelt  hat,  darauf  haben  wir  bereits  in  anderem  Zusammen- 
hang hingewiesen.^)  Aber  auch  seine  Antipathie  gegen  den 
edlen  Johannes  Chrysostomus  )  blickt  durch  den  ihm  gewid- 
meten Artikel  hindurch:  „Johannes,  Priester  der  antiochenischen 
Kirche,  Parteigänger  des  Eusebius  von  Emesa  und  Diodor, 
soll  vieles  schreiben,  wovon  ich  nur  das  Buch  über  das 
Priestertum  gelesen  habe."  Es  klingt  so  bescheiden,  als  ob  er 
sich  nicht  eine  große  Belesenheit  der  Werke  des  Chrysostomus 
anmaßen  wolle,  aber  der  ganze  Tenor  des  Artikels,  der  kein 
Wort  des  Lobes  enthält,  das  er  sonst  so  verschwenderisch 
auszustreuen  pflegte,  zeigt,  daß  Hochmut  und  Stolz  gegen- 
über dem  damals  schon  viel  bewunderten  Manne  dem  Hierony- 
mus  die  Feder  geführt   haben.     Auch    Basilius,    den    er    nicht 

')  C.  114. 

»)  C.  128. 

^)  C.  117.  Ebrard,  „Besitzen  wir  den  vollständig^en  Text  von  Hierony- 
mus  de  viris  ilhistribus?",  Z.  f.  bist.  Theol.  Bd.  32,  403—411,  1862,  hat  diese 
Unj^'leichheit  damit  zu  erklären  gesucht,  daß  wir  nicht  mehr  den  voll- 
ständigen Text  des  Hieronymus  besitzen.  Diese  Hypothese  ist  durch 
von  Sychowski,  S.  37  ff.,  und  Qebhardt,  Ausgabe  der  griechischen  Über- 
setzung von  de  viris  illustribus,  S.  XXIX,  überzeugend  widerlegt. 

*)  C.  124,  s.  oben  S.  77. 

*)  C.  129. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  139 

liebte,')  wird  mit  keinem  Wort  des  Lobes  bedacht,  während 
kleineren  Geistern  dasselbe  reichlich  zuerkannt  wird.  Recht 
oberflächlich  ist  auch  der  Artikel  über  den  Papst  Damasus') 
gearbeitet,  dem  er  doch  persönlich  so  nahe  gestanden  hatte 
und  über  dessen  Schriften  er  gut  orientiert  war.  Auch  bei 
Euzoius,  dem  Bischof  von  Cäsarea,  macht  er  sich  die  Sache 
leicht:  „Viele  und  verschiedene  Traktate  werden  von  ihm  über- 
liefert, die  sich  zu  verschaffen  sehr  leicht  ist."^)  Da  sie  sich 
auf  der  Bibliothek  in  Cäsarea  befanden,  so  war  es  für  ihn 
allerdings  leicht,  sie  zu  beschaffen;  für  uns  ist  aber  alles  ver- 
loren und  dadurch,  daß  er  sich  keine  Mühe  gegeben  hat,  die 
Traktate  zu  nennen,  können  wir  dem  Euzoius  auch  nicht  mehr 
etwaige  unter  falschen  Namen  oder  anonym  überlieferte  Traktate 
zuerkennen.  Mit  keinem  Worte  werden  von  Hieronymus 
Augustin  und  Rufin  erwähnt.  Ich  glaube  nicht,  daß  in  diesen 
beiden  Fällen  eine  böse  Absicht  obwaltet.  Von  Augustin,  der 
damals  noch  im  Anfang  seiner  Schriftstellerei  stand,  hatte  er 
vermutlich  noch  nichts  in  die  Hände  bekommen,  da  sich  eine 
Bekanntschaft  mit  seinen  Schriften  nicht  vor  dem  Jahre  392 
erweisen  läßt.  In  der  Übergebung  Rufins,  der  ja  damals  in 
seiner  unmittelbaren  Nähe  im  Ölbergkloster  weilte,  und  mit 
dem  er  im  lebendigen  Verkehr  stand  —  gelegentlich  erwähnte 
er,  daß  er  die  in  de  viris  illustribus  genannte  Apologie  des 
Pamphilus')  zuerst  in  einem  von  Rufin  entliehenen  Kodex  als 
erstes  Buch  der  Apologie  des  Origenes  unter  dem  Namen  des 
Pamphilus  gelesen  habe")  könnte  man  eher  ein  Zeichen 
der  beginnenden  Verstimmung  vermuten.  Da  aber  das  Zer- 
würfnis mit  seinem  Freunde  erst  einige  Jahre  später  eintrat, 
so  werden  wir  die  Auslassung  einfach  damit  zu  erklären 
haben,  daß  Rufin  damals  noch  nicht  als  Schriftsteller  hervor- 
getreten war;  denn  die  uns  erhaltenen  Produkte  seiner  Schrift- 
stellerei,  die  sicher  datierbar  sind,  sind  sämtlich  nach  392  ge- 
schrieben. 


1)  s.  Bd.  1, 195  die  Notiz  in  der  Chronik  über  den  Hochmut  des  Basilius. 

2)  C.  103. 


3)  C.  113. 

*)  C.  75. 

=)  Adv.  Rufin.  lib.  III,  23. 


140  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Der  Wert  des  zweiten  Teils  besteht  vor  allem  in  den 
zahlreichen  Notizen  biographischer  und  literarischer  Art,  in 
denen  er  wie  z.  B.  fijr  Arnobius/)  luvencus,")  für  die  Lebens- 
schicksale des  Lactanz,')  für  die  Schriften  des  Athanasius*) 
und  des  Acacius  von  Cäsarea,')  für  Aquilius  Severus/)  für 
den  Priscillianer  Tiberianus/)  für  den  Alexandriner  Ambrosius") 
und  für  den  Bischof  Gelasius  von  Cäsarea")  die  einzige  Quelle 
ist.  Hieronymus  schöpfte  diese  Kenntnis  in  der  Regel  aus  den 
Werken,  die  er  gelesen  hatte.  Vielleicht  hat  er  daneben  auch 
Bibliotheksverzeichnisse  benutzt,  wie  man  aus  der  nackten 
Aufzählung  von  Schriften  vermutet  hat.'  )  Werke,  die  er  selbst 
nicht  gelesen  oder  auch  nur  gesehen  hat,  werden  entweder  gar 
nicht  oder  ungenau  oder  unrichtig  zitiert.")  Mit  den  Worten 
multa  et  alia  deutet  er  an,  daß  ihm  nichts  weiter  bekannt  ist.") 
Wie  bei  allen  seinen  Arbeiten  zeigt  sich  auch  hier,  daß  Hierony- 
mus keine  Ausdauer  besaß.  Gegen  Ende  werden  die  Artikel 
immer  kürzer  und  unbestimmter.  Von  dem  Bischof  Gelasius 
von  Cäsarea''^)  berichtet  er  nur:  „er  soll  einiges  in  scharfsinniger 
und  gefeilter  Rede  schreiben,  aber  nicht  veröffentlichen",  von  dem 
skythischen  Bischof  Theotimus:")  „er  veröffentlichte  in  Form 
der  Dialoge  und  der  alten  Redekunst  kurze  und  in  Abschnitten 
abgefaßte  Traktate.  Ich  höre,  daß  er  auch  anderes  schreiben 
soll."  —  Sich  selbst  hat  er  an  den  Schluß  des  Verzeichnisses 
der  berühmten  Schriftsteller  gestellt  und  seine  schriftstellerischen 
Arbeiten    mit    der  größten   Ausführlichkeit    aufgezählt.     Es  ist 


')  C.  79. 
*)  C.  84. 
»)  C.  80. 
*)  C.  87. 
*)  C.  98. 
«)  C.  111. 
')  C.  125. 
")  C.  126. 
«•)  C.  130. 

")  s.  Huemer,  S.  157,  Anni.  45. 
")  z.  B.  Lncifer  v.  Calaris  c.  95. 
'■)  s.  c.  84;  87;  89;  93;  94;   102;  114;  119. 
")  C.  130. 
'*)  C.  131. 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem.  141 

dies  bezeichnend  für  seinen  Charakter,  daß  er  einem  Ambrosius, 
Basilius  und  Chrysostomus  nur  so  kleinen  Raum  gegönnt  hat 
—  ich  möchte  allerdings  daran  erinnern,  daß  auch  ein  Eusebius 
von  Cäsarea  seinen  großen  Gegner  Athanasius  totgeschwiegen 
hat  "  während  er  selbst  als  der  fruchtbarste  und  bedeutendste 
Schriftsteller,  wie  „ein  Riese  unter  den  Zwergen"')  erscheint. 
Später  hat  er  diese  naive  Eitelkeit  damit  erklärt,  daß  er  sich 
an  den  Schluß  des  Werkes  gleichsam  als  eine  unreife  Geburt 
und  den  geringsten  aller  Christen  gestellt  habe.)  Auch  diese 
demütig  klingende  Entschuldigung  wird  wieder  durch  die 
Beziehung  der  Prädikate  auf  sich,  die  der  Apostel  Paulus  von 
sich  gebraucht  hat,  zu  einer  arroganten  Prätension. 

Es  verdient  noch  auf  eine  Seite  des  Schriftstellerkatalogs 
hingewiesen  zu  werden,  der  die  Forscher  bisher  selten  ihre 
Aufmerksamkeit  geschenkt  haben.  Hieronymus  hat  uns  in 
seinem  Werke  eine  Reihe  wertvoller  Angaben  hinterlassen,  die 
sein  Interesse  an  kirchlichen  Baulichkeiten,  vor  allem  aber  an 
den  Reliquien  verehrter  Männer  der  christlichen  Vergangenheit 
zeigen.  Wie  stark  der  Reliquienkult  in  wenigen  Jahrzehnten 
innerhalb  der  Christenheit  zugenommen  hat,  zeigt  sich  bei 
einem  Vergleich  des  Eusebius,  der  nur  selten  in  seiner 
Kirchengeschichte  der  Grabstätten  heiliger  Männer  Erwähnung 
tut,  mit  Hieronymus,  der  in  seinem  Buch  über  die  hebräischen 
Örtlichkeiten')  und  hier  möglichst  genaue  Angaben  macht: 
Petrus  ist  auf  dem  Vatikan  begraben  neben  dem  Weg  der 
Triumphatoren,')  das  Grab  Jakobus  des  Gerechten  wollen 
einige  Christen')  auf  dem  Ölberg  finden,  was  aber  nach  der 
Meinung  des  Hieronymus  falsch  ist.  Die  Reliquien  des 
Evangelisten  Lukas  befinden  sich  in  Konstantinopel,  wohin 
sie  im  20.  Jahre  des  Constantius  mit  den  Reliquien  des 
Apostels    Andreas     gebracht     wurden.'^)       Die    Gebeine    des 


*)  von  Sychowski  S.  25. 
-)  Ep.  47,  3  ad  Desiderium. 
■>)  s.  oben  §  30. 
')  C.  1. 

'")  C.  2.     Die  Auffassung  Bernoullis,    daß    mit  den  quidam  e  nostris 
Occidentalen  gemeint  sind,  ist  zu  eng. 
«)  C.  7. 


142  Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 

Bischofs  Ignatius  sind  in  Antiochia  auf  dem  Kirchhof  außer- 
halb des  Daphnitischen  Tores  bestattet.')  Das  Grab  des 
Origenes'-)  befindet  sich  in  Tyrus,  das  des  Märtyrers  Lucian") 
in  Helenopolis  in  Bithynien,  und  der  Konfessor  der  Orthodoxie, 
der  Bischof  Eustathius  von  Antiochia,  der  von  Kaiser 
Constantius  nach  Traianopolis  in  Thrakien  verbannt  wurde, 
ist  an  seinem  Verbannungsort  bis  heute  begraben/) 

Was  die  Form  des  SchriftstelIeri<atalogs  betrifft,  so  hebt 
Bernoulli")  mit  Recht  die  Vernachlässigung  der  Sache  zugunsten 
einer  glatten  Form  hervor.  Der  Sinn  für  geschichtliche  Treue 
sei  ersetzt  durch  Eleganz  und  stilistischen  Geschmack.  Aber 
trotz  Nachahmung  des  Sueton  in  der  Schlichtheit  der  Diktion) 
zeigt  Hieronymus  eine  recht  affektierte  schriftstellerische  Ge- 
pflogenheit, indem  er  vielfach  griechische  Worte  beibehält. 
Diese  Unart  hat  bei  Hieronymus,  wie  es  scheint,  mit  den 
Jahren  noch  zugenommen.  Je  länger  er  im  Orient  lebte,  um 
so  mehr  gewöhnte  er  sich  an  den  Gebrauch  der  griechischen 
Sprache.  Und  auch  in  den  Predigten  an  seine  Mönche  ver- 
mag er  es  nicht  zu  lassen,  griechische  und  hebräische  Worte 
einzustreuen. 

Endlich  läßt  sich  noch  auf  Grund  des  handschriftlichen 
Befundes,  wie  Gebhardt")  nachgewiesen  hat,  mit  großer  Wahr- 
scheinlichkeit der  Schluß  ziehen,  daß  Hieronymus  von  dem 
bald  viel  begehrten  Buche,  ähnlich  wie  von  seiner  Chronik, 
verschiedene  Ausgaben  veranstaltet  hat.  Gebhardt  begründet 
diese  Annahme  damit,  daß  sich  in  einer  Handschriftengruppe 
ein  Zusatz  zu  dem  81.  Kapitel  findet,  in  dem  Hieronymus 
berichtet,  daß  von  den  30  Büchern  des  Eusebius  gegen 
Porphyrius  nur  20  auf  ihn  gekommen  seien.  Und  in  der- 
selben Handschriftengruppc   ebenso    wie    in    der  griechischen 

')  C.  16. 

")  C.  54. 

^)  C.  77. 

*)  C.  85. 

^)  Benionlli,  S.  22Sff. 

•'•)  Bernoiilli,  S.  232 ff. 

~)  Gebhardt,  Die  Ausgabe  der  griechischen  Übersetzung  de  vir.  illust., 
Texte  u.  Untersuchungen  Bd.  XIV,  Heft  1,  Leipzig  1896,  S.  XXI. 


Die  ersten  Jalire  im  Kloster  zu  Bethlehem.  143 

Übersetzung  des  Schriftstellerkatalogs  hat  auch  das  Schluß- 
kapitel eine  Erweiterung  gefunden,  indem  unter  den  Werken 
des  Hieronymus  noch  drei  seiner  Arbeiten,  die  zwei  Bücher 
gegen  Jovinian,  seine  Apologie  an  Pammachius,  die  er  un- 
mittelbar nach  dem  Schriftstellerkatalog  verfaßte,  und  endlich 
der  Schriftstellerkatalog  selbst')  aufgeführt  werden.  Wenn 
der  Zusatz  in  Kapitel  81  nicht  vorhanden  wäre,  so  könnte 
man  wie  Martianay  und  Vallarsi  sich  den  Sachverhalt  so 
erklären,  daß  ein  Abschreiber  die  drei  Werke  des  Hieronymus 
seinem  Schriftstellerkatalog  hinzugefügt  hätte.  Da  aber  der 
Zusatz  in  Kapitel  81  sich  in  denselben  Handschriften  wie  der 
erweiterte  Schluß  findet,  so  werden  wir  beide  Zusätze  dem 
Hieronymus  selbst  zuschreiben  müssen,  der  sie  bei  einer  neuen 
Ausgabe  seines  Buches,  die  der  ersten  bald  folgte,  gemacht  hat. 
Während  Augustin  den  Schriftstellerkatalog  des  Hierony- 
mus zwar  für  ein  nützliches  Buch  erklärte,  aber  keineswegs 
kritiklos  bewunderte'),  pries  ihn  die  Nachwelt  mit  überschwäng- 
licher  Begeisterung.  )  Eine  griechische  Übersetzung,  deren 
Verfasser  sicher  nicht  der  Freund  des  Hieronymus,  Sophronius, 
ist,  sondern  deren  wahrscheinliche  Entstehung  zwischen  das 
6.  und  Q.Jahrhundert  fällt'),  beweist  die  Hochschätzung  seiner 
Arbeit.')   Aber  auch  die  lange  Reihe  seiner  Fortsetzer  Oennadius, 


')  Bei  Richardson  de  vir.  illust.  S.  43  fehlt  jede  Andeutung  über  diese 
wichtige  Variante.  Der  Schriftsteilerkatalog  wird  hier  unter  dem  Titel 
epitaphium  aufgeführt,  ein  Titel,  dessen  Gebrauch  Augustin  ep.  47  ad 
Hieronymum  c.  2,  Vallarsi  1,  402  und  Hieronymus  ep  112,  3,  Vallarsi  1,  732 
bezeugen.  Eine  andere  Handschrift  (Cod.  Quiniacensis,  jetzt  in  Paris 
Bibl.  nat.  Nov.  acq.  lat.  1460  s.  X)  Gebhardt  S.  XXVI  enthält  inhaltlich 
dieselben  Zusätze  zu  c.  135,  nur  in  anderer  Ordnung  und  Form.  Der 
Schriftstellerkatalog  wird  als  libcr  dedicatus,  d.  h.  dem  Oberst  Dexter 
dediziertes  Buch  aufgeführt,  dann  folgen  die  zwei  Bücher  gegen  Jovinian 
und  die  Apologie  an  Pammachius. 

-)  ep.  47,  2  und  9,  Vallarsi  I,  403  und  406. 

')  s.  von  Sychowski,  S.  12  ff. 

*)  Van  den  Ven,  St.  Jerome  et  la  vie  du  moine  Malchus,  Louvain 
1901,  S.  126. 

'"•)  G.  Wentzel,  die  griechische  Übersetzung  von  de  vir.  illust.  des 
Hieronymus,  Texte  und  Untersuch.,  Bd.  13,  Heft  3,  Leipzig  1895;  Gebhardt, 
die  griechische  Ausgabe  von  de  vir.  illust.,  Texte  und  Untersuch.,  Bd.  14, 
Heft  1,  Leipzig  1896;  Weymann,  Berl.  philog.  Wochenschrift  1897,  S.  139. 


144 


Die  ersten  Jahre  im  Kloster  zu  Bethlehem. 


Isidor  von  Sevilla,  lldefonsus  von  Toledo,  Honorius  von  Autun, 
Sigbertus  von  Gembloux,  Heinrich  von  Gent,  der  Anonymus 
Mellicensis,  Petrus  Monachus,  Diaconus  Ostiensis  und  Johannes 
Trithemius  legen  Zeugnis  davon  ab,  daß  er  mit  seinem  Ver- 
such der  Begründung  einer  neuen  Literaturgattung  bahn- 
brechend gewirkt  hatte,  und  man  sein  Buch  als  klassisches 
Meisterwerk  einer  christlichen  Literaturgeschichte  ansah.  Gerade 
die  oberflächliche  Art,  in  der  Hieronymus  die  christliche 
Literaturgeschichte  in  seinem  Schriftstellerkatalog  behandelt 
hatte,  mußte  seinen  Nachfolgern  zusagen,  die  vor  jeder  schwieri- 
geren literarischen  Aufgabe,  die  geistige  Kraft  und  Selbständig- 
keit des  Denkens  erforderte,  zurückgeschreckt  wären. 


Kapitel  IX. 

Von  der  Wiederanknüpfung 

des  Hieronymus  mit  Rom  bis  zum  Beginn 

des  Origenistischen  Streites. 


§  36. 
Der  Streit  des  Hieronymus  mit  Jovinian. 

Lange  Zeit,  über  sieben  Jahre  waren  vergangen,  ehe  Hierony- 
mus nach  seinem  eiligen  Weggang  seine  Beziehungen  zu  Rom 
wieder  aufnahm.  Wir  besitzen  aus  den  Jahren  385  bis  3Q2 
nur  einen  Brief  an  Marcella,  in  dem  Paula  und  Eustochium 
sich  die  Feder  von  Hieronymus  haben  führen  lassen,  um  ihre 
gelehrte  Freundin  zur  Übersiedlung  nach  Bethlehem  einzuladen. 
Die  Zeit  des  Briefes  steht  zwar  nicht  sicher  fest,')  doch  ist  er 
vermutlich  in  die  ersten  Jahre  des  bethlehemitischen  Aufent- 
haltes der  Paula  und  des  Hieronymus  zu  setzen.  Mit  be- 
geistertem Pathos  bitten  Paula  und  Eustochium  ihre  Freundin, 
die  sie  einst  durch  Wort  und  Beispiel  zu  asketischem  Leben 
aufgemuntert  hatte,  doch  nach  Bethlehem  zu  kommen.  In  der 
üblichen  Art  ihrer  Korrespondenz  wird  dann  dieser  Wunsch 
biblisch  begründet.  Schon  an  Abraham  erging  Gen.  12,  1  der 
Befehl:  „Ziehe  aus  aus  deinem  Lande  und  aus  deiner  Ver- 
wandtschaft und  gehe  in  das  Land,  das  ich  dir  zeigen  werde." 
Um  das  Interesse  der  Marcella  an  dem,  was  Jerusalem  vor 
aller  Welt  auszeichnet,  wachzurufen,  schreiben  sie  ihr:  „Hier 
hat  Adam  gewohnt  und  ist  dort  gestorben.    Deshalb  heißt  der 


•)  Bd.  I,  64;   ep.  46,  Vallarsi  I,  197  ff. 

Grützmacher,   Hieronymus.    II.  10 


146  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Ort,  WO  Christus,  unser  Herr,  gekreuzigt  worden  ist,  die  Schädel- 
stätte, weil  dort  das  Haupt  des  alten  Adam  begraben  worden 
ist,    damit    der   zweite   Adam    oder    das    vom   Kreuze   Christi 
träufelnde  Blut  die  Sünde  des  ersten  Adam,  der  sündigen  Erst- 
lingskreatur, abwasche,  und  sich  der  Ausspruch  des  Apostels 
erfülle:  Erwache,  der  du  schläfst,  und  stehe  auf  von  den  Toten, 
und  Christus    wird    dich    erleuchten.')     Wenn   man    aber  ein- 
wende, daß  Jerusalem,   nachdem  es  mit  dem  Blute  des  Herrn 
befleckt  sei,  aufgehört  habe,  eine  heilige  Stätte  zu  sein,  so  ist 
darauf  zu  antworten,   daß  nicht  die  Stätte  selbst,    sondern  die 
Menschen  die  Sünde  begangen  hätten.    Im  Gegenteil,  Jerusalem 
ist  im  Verlaufe  der  Zeit  heiliger    denn  zuvor   geworden,     ist 
es  doch    die    Stätte    des  Grabes    des  Herrn,    und   Paula    und 
Eustochium  bezeugen  der  Marcella,    daß,  so  oft  sie  dieselben 
betreten,  sie  in   visionärer  Verzückung  den  Heiland  im  reinen 
Linnentuche  schauen    und  bei  längerem  Verweilen  den  Engel 
zu    seinen  Füßen   sitzend    und    das  Schweißtuch    bei    seinem 
Haupt  zusammengewickelt    sehen.     Auch  Wunder    geschehen 
dort,    die  Dämonen  verlassen    die  Leiber    der  Besessenen    am 
heiligen  Grabe.     Nicht  dürfe  man  die  Worte  der  Offenbarung 
Johannis  U,  8  über  die  große  Stadt,  die  geistlich  heißt  Sodom 
und  Ägypten,  auf  Jerusalem,  sondern  man  müsse  sie  auf  die  Welt 
beziehen,     in  panegyrischem  Tone  schildern  die  beiden  Nonnen 
ihrer  römischen  Freundin  Jerusalem  als  die  Wallfahrtsstätte  der 
ganzen  Christenheit.     Pilger  aus  Gallien,   Britannien,  Armenien, 
Persicn,  Indien,  Äthiopien,  Ägypten,  Pontus,  Kölesyrien,  Meso- 
potamien,   durch    die   Sprache    geschieden,    aber   eins    im  Be- 
kenntnis zu  Christus,  eilen  nach  Jerusalem.     Aber  diese  groß- 
artige Ökumenicität  der  christlichen  Kirche,  die  man  in  Jerusalem 
empfindet,    legt  dem  Einzelnen   keinen  Zwang  in  der  Lebens- 
gestaltung auf.     Paula   und  Eustochium  wissen,    daß  Marcella 
einer   übertriebenen  Askese    abhold   war,')    und   so    schreiben 
sie  ihr,    um   sie  nicht  abzuschrecken:    „Das  Fasten   verschafft 
hier  keinem   eine  Auszeichnung,    und  dem,    der  sich  Abbruch 
an   Speise    antut,    bezeugt    man   darob    keine    besondere  Ver- 

')  Ep.  46,  3.     Im   Epheserkommentar    zu  Eph.  5,  14,    hatte  er    diese 
Deutung,  als  dem  Kontexte  nicht  entsprechend,  verworfen,  s.  §  29. 
«)  s.  Bd.  I,  230. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  147 

ehrung;  die  mäßige  Ersättigung  steht  jedem  frei.'")  Und  wie 
selig  ist  es  nicht  für  den  frommen  Christen,  in  Bethlehem  zu 
weilen,  wo  in  der  engen  Felsenhöhle  der  Schöpfer  des  Himmels 
geboren  wurde.  Hier  ist  er  in  Windeln  gewickelt,  von  den 
Hirten  besucht,  vom  Sterne  verkündigt,  von  den  Magiern  an- 
gebetet worden.  Diese  Stätte  ist  wahrlich  heiliger  als  der 
Tarpejische  Felsen,  den  deshalb  so  oft  die  Blitze  trafen,  weil  er 
dem  Herrn  mißfiel.  Welcher  Kontrast  zwischen  der  ruhelosen 
Weltstadt  Rom  und  der  idyllischen  Ruhe  des  stillen  Bethlehem. 
„Hier  ist  alles  ländlich,  nur  Psalmengesang  unterbricht  die 
beständige  Stille.  Wohin  du  dich  wendest,  da  singt  der  Land- 
mann am  Pfluge  sein  Halleluja,  der  schweißtriefende  Schnitter 
erfreut  sich  mit  Psalmengesang,  und  der  Winzer,  wenn  er  mit 
der  Hippe  den  Weinstock  beschneidet,  singt  ein  Loblied  Davids. 
Dies  sind  die  Gesänge,  dies  die  Liebeslieder,  die  man  hier  zu 
Lande  zu  hören  bekommt,  dies  der  Flötenton  der  Hirten  und 
die  Geräte  des  Landmanns."  Kann  es  für  Marcella  noch  eine 
Wahl  geben?  Mit  dem  sehnsüchtigen  Wunsch,  daß  sie  bald 
komme,  um  unter  ihrer  Führung  die  heiligen  Stätten  zu  be- 
suchen, schließt  der  Brief:  „O,  wann  wird  die  Zeit  kommen, 
wo  ein  atemloser  Bote  uns  die  Nachricht  bringt,  unsere  Mar- 
cella sei  am  Gestade  von  Palästina  gelandet,  und  wo  alle  Chöre 
der  Mönche  und  Scharen  der  Jungfrauen  in  ein  Freudengeschrei 
darüber  ausbrechen."  Es  war  die  Zeit  der  ersten  Liebe  zu 
den  heiligen  Stätten,  in  der  dieser  Brief  geschrieben  wurde. 
Noch  erschien  Paula,  Eustochium  und  Hieronymus  das  Heilige 
Land  als  Paradies  und  Rom  als  Babel,  aus  dem  man  geflohen 
war;  aber  auf  die  Dauer  blieb  es  nicht  so.  Es  ist  nur  zu 
natürlich,  daß  ein  so  ehrgeiziger  Charakter  wie  Hieronymus 
sich  mit  der  Abgeschiedenheit  nicht  für  immer  zufrieden  geben 
konnte.  Hatte  ^er  es  doch  als  Eremit  in  der  Wüste  Chalcis 
auch  nicht  lange  ausgehalten.  Er  wollte  bewundert  sein  und 
eine  Rolle  spielen. 

Da  bot  sich  ihm  die  Möglichkeit,  mit  Rom  wieder  anzu- 
knüpfen. Er  brauchte  nicht  einmal  den  ersten  Schritt  zu  tun. 
Pammachius,  der  Schwiegersohn  der  Pau'a,  bat  ihn,  in  Sachen 


')  Ep.  46,  10,  Vallarsi  I,  205. 

10' 


148  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

des  Ketzers  Jovinian  eine  Gegenschrift  zu  schreiben.')  Begierig- 
ergriff er  die  Gelegenheit,  zumal  da  es  galt,  einem  bereits  von 
den  Bischöfen  Siricius  und  Ambrosius  verurteilten  Ketzer 
literarisch  den  Todesstoß  zu  versetzen.  Der  um  seine  Ortho- 
doxie so  besorgte  Hieronymus  hatte  nichts  zu  riskieren, 
die  Akten  über  den  Ketzer  waren  bereits  geschlossen.  Jovinian 
war  jedenfalls  erst  nach  385,  nach  dem  Weggang  des  Hiero- 
nymus in  Rom,  als  Gegner  der  Überschätzung  des  ehelosen 
und  asketischen  Lebens  aufgetreten,  da  ihn  Hieronymus  nicht 
persönlich  kannte.  Während  Jovinian  früher  als  strenger  Asket 
in  schlechtester  Kleidung,  in  zottiger  Tunika,  schwarzem  Hemd 
und  barfuß  umhergegangen  war  und  sich  nur  von  Brot  und 
Wasser  genährt  hatte,  milderte  er  später  sein  asketisches 
Leben  —  dies  dürfen  wir  den  bösartigen  Übertreibungen  des 
Hieronymus,  der  ihn  als  Stutzer  und  Wollüstling,  als  christ- 
lichen Epikur  und  Prediger  sinnlicher  Lust  schildert,  glauben  — 
er  erlaubte  sich  den  Genuß  von  Fleischspeisen,  besuchte  die 
Bäder  und  schloß  sich  vor  allem  nicht  vom  Verkehr  mit  Jüng- 
lingen und  Frauen  ab.')  Dabei  blieb  er  aber  nach  wie  vor 
ehelos,  weil  er  diese  Lebensform  für  sich  als  christlich  geboten 
erachtete.  Er  scheint  ganz  nach  der  Weise  der  vormönchischen 
Asketen  gelebt  zu  haben,  nur  daß  er  später  weniger  rigoros 
verfuhr.  Wir  dürfen  ihn  als  Vertreter  des  alten  Asketenstandes 
betrachten,  der  gegen  die  neuen  und  verschärften  asketischen 
Formen  des  orientalischen  Mönchtums  einen  verzweifelten 
Kampf  kämpfte.  Dabei  gelangte  er  zu  prinzipiellen  Aufstellungen, 
die  mit  den  seit  lange  in  der  Kirche  eingebürgerten  An- 
schauungen in  schroffem  Widerspruch  standen.  Im  heißen 
Kampfe  mit  seinen  Gegnern  war  er  zu  einer,  wenn  auch 
nicht  in  jeder  Beziehung  klaren  —  wir  sind  allerdings  für 
seine  Anschauungen  lediglich  auf  die  Darstellungen  seiner 
Gegner  angewiesen  —  so  doch  im  bewußten  Gegensatz  zu 
der  Überspannung  der  asketischen  Ideale  stehenden  Position 
gelangt.  Daß  wir  es  mit  einem  durchaus  achtbaren,  nicht 
aus    niedrigen    Motiven    handelnden    Manne    zu    tun    haben, 


')  Contra  Jovin.    lib.  I,  c.  1. 
")  Contra  Jovin.    lib.  II,  c.  21. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  149 

dürfen  wir  daraus  schließen,  daß  Augustin,  Ambrosius  und 
Siricius  ihm  nichts  Ehrenrühriges  vorzuwerfen  wagen,  und 
ihn  nur  Hieronymus  —  wo  hätte  er  je  einem  Gegner  gegen- 
über anders  gehandelt  —  mit  Schmutz  bewirft.  Jovinian  muß  mit 
seiner  Agitation  gegen  das  Mönchtum  auch  große  Erfolge  in 
Rom  gehabt  haben.  Männer  und  Frauen  gaben  das  ehelose 
Leben  auf,  nur  unter  den  Priestern  fand  er  keinen  Anhang. ') 
Das  Abendland,  und  vor  allem  Rom,  in  dem  erst  wenige  Jahre 
vor  Jovinian  Helvidius")  als  Gegner  des  Mönchtums  aufgetreten 
war,  war  trotz  aller  Bearbeitung  durch  Damasus,  Hieronymus 
und  Ambrosius  den  asketischen  Idealen  noch  nicht  in  gleicher 
Weise  wie  der  Orient  zugänglich  gemacht.  Daß  sich  Jovinian 
auch  leichtfertige  Naturen  anschlössen,  die  in  ihm  einen  Vertreter 
laxer  christlicher  Sittlichkeit  sahen,  ist  dem  Hieronymus  wohl 
zu  glauben.  Wo  hätten  sich  nicht  in  der  Geschichte  der  Kirche 
an  eine  Persönlichkeit,  die  den  Kampf  gegen  überspannten 
asketischen  Rigorismus  aufgenommen  hatte,  auch  allerlei  frag- 
würdige Individuen  angeschlossen. 

Der  römische  Bischof  Siricius,  der  ja  kein  großer  Freund 
der  Mönchspartei  gewesen  zu  sein  scheint,  hatte  sich  auf  die 
Denunziation  der  mönchischen  Kreise  Roms  hin  genötigt  ge- 
sehen, Jovinian  und  acht  seiner  Anhänger  auf  einer  römischen 
Synode  im  Jahre  390  namentlich  zu  exkommunizieren  und  den 
auswärtigen  Bischöfen,  insbesondere  Ambrosius  von  Mailand 
davon  Mitteilung  zu  machen.^)  Bei  dieser  Verurteilung  hatte 
vor  allem  der  einflußreiche  Senator  Pammachius  mitgewirkt.') 
Da  Jovinian  sich  mit  seinen  treuesten  Anhängern  nach  Mailand 
begeben  hatte,  so  beeilte  sich  Ambrosius  3Q1,  eine  Synode  in 
Mailand  zu  halten,  die  gleichfalls  Jovinian  in  den  Bann  tat. 
Erst  392  oder  393  schrieb  nun  Hieronymus  nach  der  doppelten 
Verurteilung  des  Ketzers  auf  Veranlassung  seiner  römischen 
Freunde,  die  ihm  die  Commentarioli  Jovinians  nach  Bethlehem 
geschickt  hatten,  seine  zwei  Bücher  gegen  Jovinian.') 


')  Augustin  de  haeresibus  c.  82,  ed.  Maur.  VIII,  24  ff. 

2)  s.  Bd.  I,  269. 

^)  Siricii  ep.  2  ad  diversos  episcopos,  Mansi  MI,  663  ff. 

4  Ep.  48,  2. 

^)  Mir  scheinen   diese  Commentarioli  Jovinians    mit  der  von  Siricius 


150  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Es  war  für  Hieronymus  eine  lockende  Aufgabe,  die  ihm 
hier  gestellt  wurde.  Es  erfüllte  ihn  mit  freudiger  Genugtuung, 
daß  seine  römischen  Freunde  seiner  doch  wieder  gedacht 
hatten,  und  daß  er  ihnen  unentbehrlich  zu  sein  anfing.  Er 
schrieb  an  Pammachius:  „Bisweilen  fordert  es  die  christliche 
Bescheidenheit,  auch  gegen  FreundeStillschweigen  zu  beobachten 
und  sich  mehr  durch  Stillschweigen  zu  trösten,  als  durch 
Wiedererneuerung  der  alten  Freundschaft  das  Verbrechen 
der  Aufdringlichkeit  auf  sich  zu  laden.  Solange  du  ge- 
schwiegen, habe  ich  auch  geschwiegen  und  hatte  mir  vor- 
genommen, auch  nicht  eine  Anfrage  über  diese  Angelegenheit 
zu  stellen,  damit  es  nicht  scheine,  als  ob  ich  nicht  einen 
Freund  frage,  sondern  nach  einem  mächtigen  Beschützer  aus- 
gehe. Nun  aufgefordert  durch  deine  Verbindlichkeit,  welche 
dein  Brief  mir  auferlegt,  will  ich  stets  mich  bestreben,  der 
Erste  zu  sein  und  nicht  sowohl  dir  eine  Rückantwort  schreiben, 
als  vielmehr  den  ersten  Brief,  damit  du  erkennst,  daß  ich  aus 
einer  gewissen  Zurückhaltung  geschwiegen  und  noch  be- 
scheidener zu  reden  angefangen  habe." ')  Dann  aber  war 
Hieronymus  der  Kampf  gegen  Jovinian  Herzenssache.  Wie 
gegen  Helvidius  und  später  gegen  Vigilantius  ist  er  auf  dem 
Plan,  wenn  das  Evangelium  der  Virginität,  sein  Evangelium, 
bedroht  war. 

Seine  Bücher  gegen  Jovinian  sind  stilistisch  wie  inhalt- 
lich mit  Sorgfalt  geschrieben.  Wollte  er  doch  gegenüber  dem 
schwerfälligen  und  schwülstigen  Stil  des  Jovinian  seine  Über- 
legenheit schon  äußerlich  beweisen.  Inhaltlich  zeigen  sie  zwar 
kein  tieferes  Eingehen  auf  die  Lehranschauungen  seines  Gegners 
—  dazu  war  der  Polemiker  Hieronymus  einfach  unfähig,  dessen 
Hauptkunst  darin  bestand,  seine  Gegner  samt  und  sonders 
als  niederträchtige  Lumpen  erscheinen  zu  lassen  aber  mit 
großer  Ausführlichkeit  und  mit  dem  ihm  eigenen  kasuistischen 
Scharfsinn  hat  er  alle  Argumente  für  die  Verherrlichung  des 
Mönchsideals    zusammengetragen.     Er  hatte  sich    die   größte 


erwähnten  conscriptio  tenieraria    identisch    zu   sein    entgegen   der  Ansicht, 
die  Haller,  Jovinianus,   die  Fragmente  seiner  Schriften,  die  Quellen  seiner 
Geschichte,  sein  Leben  und  Lehre,  Leipzig  1897,  S.  118,  vertreten  hat. 
')  Ep.  49,  1. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  151 

Mühe  gegeben,  seine  Sache  so  gut  wie  möglich  zu  machen, 
um  seine  römischen  Freunde  zufrieden  zu  stellen,  und  nun 
hatte  er  im  Übereifer  —  es  wirkt  fast  komisch  —  die  Sache 
zu  gut  gemacht,  so  daß  Pammachius  die  Exemplare  seiner 
Schrift  gegen  Jovinian  in  Rom  aufkaufte  und  einziehen  ließ/) 
und  ein  anderer  römischer  Freund  Domnio  ihm  ein  Verzeichnis 
der  anstößigen  Stellen  seines  Buches  zur  Verbesserung  resp. 
zur  Erklärung  zusandte.-) 

Es  ist  schwer,  sich  ein  sicheres  Urteil  über  die  religiöse 
und  theologische  Stellung  Jovinians  zu  bilden,  da  wir  nur 
auf  die  Schriften  seiner  Gegner  angewiesen  sind.  Hieronymus, 
Siricius  und  Ambrosius  haben  uns  zwar  einige  seiner  in  Thesen- 
form formulierten  Gedanken  wörtlich  überliefert,  aber  für  den 
inneren  Zusammenhang  sind  wir  auf  hypothetische  Konstruk- 
tionen gewiesen. ')  Soviel  erscheint  mir  zunächst  sicher,  daß 
alle  Sätze  Jovinians  in  dem  Widerspruch  gegen  das  Mönch- 
tum  orientiert  sind.  Hieronymus  beschäftigt  sich  in  seiner 
Gegenschrift  mit  vier  Sätzen  Jovinians,  die  er  aus  seinen  Büchern 
ausgezogen  hat  und  zu  widerlegen  versucht.  Über  eine  fünfte 
Ketzerei,  deren  ihn  Ambrosius  und  Augustin  beschuldigen,') 
hat  Hieronymus  sich  nicht  ausgelassen.  Es  handelt  sich  hierbei 
um  die  Bekämpfung  der  ewigen  Jungfrauschaft  der  Maria 
durch  Jovinian,  worin  er  bereits  an  Helvidius  einen  Vorgänger 
gehabt  hatte.  Hieronymus  scheint  von  dieser  Heterodoxie 
Jovinians  nichts  gewußt  zu  haben,  sonst  hätte  er  sie  sicher 
nicht  übergangen.  Entweder  hatte  sich  Jovinian  darüber  nur 
mündlich  geäußert,  oder  erst  seine  Schüler  hatten   diese  Kon- 


')  Ep.  49,  2. 

2)  Ep.  50,  3. 

^)  Bei  der  fragmentarischen  Überlieferuug  über  die  Anschauungen 
Jovinians  erscheinen  mir  die  Urteile  protestantischer  Gelehrter  von  Flacius, 
Centuriae  Magdeburgenses;  IV,  5  S.  381,  bis  auf  A.  Harnack,  Die  Lehre  von 
der  Sehgkeit  allein  durch  den  Glauben,  Z.  f.  Theo),  u.  Kirche  II,  138 — 154, 
1891,  und  W.  Haller,  Jovinianus  1897,  die  in  ihm  einen  Protestanten 
seiner  Zeit,  den  tiefsten,  originellsten,  durch  Entschiedenheit  ausgezeich- 
neten Wahrheitszeugen  des  Altertums  sehen,  in  diesem  Umfange  über- 
trieben, mindestens  nicht  mit  Sicherheit  zu  begründen. 

*)  Ambrosius  ep.  8  ad  Siricium;  Augustin  Hb.  de  haeresibus  c.  82. 
ed.  Maur.  VIII,  24  ff. 


152  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Sequenz    aus  den  Gedanken    ihres   Meisters  gezogen,    womit 
sich  dann  das  Schweigen  des  Hieronymus  erl<iären  würde. 

Das  erste  Buch  des  Hieronymus  gegen  Jovinian  ist  dem 
ersten  und  grundlegenden  Satz  Jovinians  gewidmet,  daß  Jung- 
frauen, Witwen  und  Verheiratete,  die  auf  Christus  getauft  sind, 
dasselbe  Verdienst  haben,  wofern  sie  nicht  sonst  in  ihren  Weri<en 
verschieden  sind.  Jovinian  hatte  diesen  Satz  biblisch  begründet. 
Er  hatte  für  die  Oleichwertigkeit  des  ehelichen  und  jungfräu- 
lichen Standes  auf  die  göttliche  Einsetzung  der  Ehe  in  Gen.  2,  24 
und  auf  ihre  Bestätigung  durch  Jesus  Matth.  19,  5  hin- 
gewiesen. Er  hatte  sich  für  die  Gottgefälligkeit  der  Ehe  auf 
die  Gottesmänner  des  alten  und  des  neuen  Bundes  berufen, 
die  in  der  Ehe  gelebt  hatten,  vor  allem  auf  die  Apostel  Petrus 
und  Philippus.')  Auch  der  Apostel  Paulus  empfehle  im  ersten 
Timotheusbriefe  ausdrücklich  die  Ehe.  Jovinian  hatte  daraus 
die  Folgerung  gezogen,  daß  auch  eine  zweite  und  dritte  Ehe 
zu  Recht  bestehe  und  die  bußfertigen  Hurer  wieder  in  die 
Kirche  aufgenommen  werden  müßten.  Er  hatte  sich  aber 
wohl  gehütet,  den  Zölibat  des  Klerus  anzugreifen,  der  schon 
zu  tief  eingewurzelt  war  und  den  gerade  damals  Papst  Siricius 
ausdrücklich  dem  höheren  Klerus,  Bischöfen,  Priestern  und 
Diakonen,  zur  Pflicht  gemacht  hatte.') 

Hieronymus  spielte  nun  gegen  Jovinian  als  die  klassische 
Stelle  für  die  Höherschätzung  der  Virginität  gegenüber  der 
Ehe  1.  Kor.  7  aus.  Hier  hat  der  Lehrer  der  Völker  und  der 
Kirche  den  Korinthern,  die  über  diese  Streitfrage  bei  ihm 
Erkundigung  einzogen,  vollständig  und  unmißverständlich 
geantwortet.')  Hieronymus  gibt  einen  kleinen  Kommentar  zu 
dem  siebenten  Kapitel  des  Korintherbriefs  und  zieht  aus  den 
Worten  des  Apostels  durch  geschicktes  Pressen  der  einzelnen 
Ausdrücke  die  weitgehendsten  Konsequenzen.  Der  Apostel 
sagt:  Es  ist  dem  Menschen  gut,  kein  Weib  anzurühren.  Wenn 
es  gut  ist  kein  Weib  zu  berühren,    so  ist   es  also  böse  eins 


')  Es  liegt  hier  die  uns  vielfach  begegnende,  schon  bei  Polykrates 
von  Ephesus  nachweisbare  Verwechselung  resp.  Identifizierung  des 
Siebenmann  Philippus  mit  dem  Apostel  Philippus  vor. 

*)  Contra  Jov.  1.  I,  34. 

')    Contra  Jov.  1.  I,  6. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  153 


ZU  berühren;  denn  dem  Guten  steht  als  konträrer  Gegensatz 
das  Böse  gegenüber.  Und  er  folgert  dann  weiter:  Wenn  der 
Apostel  Petrus,  der  die  ehelichen  Fesseln  aus  Erfahrung  kannte, 
für  das  Gebet  die  Enthaltung  vom  ehelichen  Umgange  forderte') 
und  an  einer  anderen  Stelle,  1.  Petr.  3,  2,  die  Christen  auf- 
fordert, allezeit  zu  beten,  so  ergibt  sich  mit  zwingender  Not- 
wendigkeit, daß  die  Ehe  der  Christen  zur  Scheinehe  werden 
muß.  „Wenn  wir  uns  vom  Beischlaf  enthalten,  so  halten  wir 
die  Weiber  in  Ehren.  Wenn  wir  uns  davon  nicht  enthalten, 
so  tun  wir  offenbar  ihnen  an  Stelle  der  Ehrenerweisung  das 
Gegenteil,  die  Beschimpfung,  an."  Die  Ehe  ist  nur  gestattet, 
aber  die  Ehelosigkeit  ist  in  jedem  Falle  vorzuziehen.  Eine 
weitere  Limitation  für  die  Ehe  besteht  aber  darin,  daß  die  Ehe 
mit  einem  Heiden,  wie  sie  die  Christinnen  jetzt  vielfach 
schließen  —  er  dachte  hier  gewiß  vor  allem  an  die  Ehen  im 
römischen  Hochadel  —  nach  dem  Apostel  Paulus  streng 
verboten  ist.')  Der  Vorzug  der  Jungfrauschaft  vor  der 
Ehe  ist  aber  darin  zu  finden,  daß  sie  die  Möglichkeit 
gibt,  sich  Gott  inniger  hinzugeben.  Sein  Resultat  ist  also: 
Zwischen  der  Ehe  und  der  Jungfrauschaft  besteht  ein  so 
großer  Unterschied  wie  zwischen  Nichtsündigen  und  Gutestun 
oder,  um  es  eleganter  auszudrücken,  zwischen  dem  Guten 
und  Besseren. ') 

Er  wendet  sich  dann  der  Frage  nach  der  Zulässigkeit 
der  zweiten  und  dritten  Ehe,  der  successiven  Polygamie,  zu. 
hnmer  leidenschaftlicher  läuft  er  gegen  die  Ehe  Sturm,  immer 
stärker  verkehren  sich  seine  sittlichen  Begriffe.  Zuerst  hat 
Lamech,  der  Blutmensch  und  Menschenmörder,  das  eine  Fleisch 
mit  zwei  Frauen  geteilt.  Den  Brudermord  Kains  und  die 
Doppelehe  Lamechs  hat  dasselbe  Strafgericht  der  Sündflut  von 
der  Erde  vertilgt.  Auf  die  erste  Tat  folgte  eine  siebenfache, 
auf  die  zweite  eine  siebenmal  siebenfache  Rache.  Aber  er 
wagt  es  doch  nicht,  die  Konsequenzen  aus  seiner  Beurteilung 
der  Ehe  zu  ziehen.  Die  Kirche  erlaubte  nun  einmal  die  zweite, 
dritte,  ja  achte  Ehe  und  gestattete  dem  Hurer  nach  der  Buße 

')  1.  Petr.  3,  7. 

-)  Contra  Jov.  1.  I,  10. 

3)  Contra  Jov.  1.  I,  13. 


154  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

seine  Wiederaufnahme;    und   so   wagt  Hieronymus    als  unter- 
würfiger Sohn  seiner  Kirche  nicht  daran  zu  rütteln.') 

Dann  geht  Hieronymus  die  lange  Reihe  der  geschichtlichen 
Beispiele  durch,  die  Jovinian  für  die  Gottwohlgefälligkeit  der 
Ehe  aus  dem  Alten  und  dem  Neuen  Testament  herbeigezogen 
hatte.  Eine  wie  unsichere  Lehrautorität  die  allegorisch  aus- 
gelegte Schrift  war,  kommt  uns  hier  zum  stärksten  Bewußtsein. 
Bei  einigem  Geschick  konnte  der  eine  Exeget  alle  Vertreter, 
die  der  andere  für  die  Ehe  hatte  aufmarschieren  lassen,  auf  die 
gegnerische  Seite  abkommandieren.  Und  so  argumentiert  denn 
Hieronymus:  Adam  und  Eva  waren  vor  dem  Sündenfall  im 
Paradies  Jungfrauen,  erst  nach  dem  Sündenfall  außerhalb  des 
Paradieses  haben  sie  sich  verehelicht  und  Kinder  gezeugt. 
Besonders  stolz  ist  Hieronymus  auf  die  Entdeckung,  daß  im 
hebräischen  Texte  beim  zweiten  Schöpfungstag  der  Satz  fehlt: 
„Und  Gott  sah,  daß  es  gut  war."  Dadurch  sei  angedeutet, 
daß  die  Zahl  zwei  nicht  gut  sei,  weil  sie  sich  von  der  Einheit 
trennte  und  die  Ehebündnisse  vorbildete.  Er  überlegt  gar 
nicht,  welche  Blasphemie  er  gegen  das  Schöpfungswerk  Gottes 
damit  ausspricht.  In  einem  anderen  Falle  verwendet  er,  um 
Jovinian  zu  widerlegen,  das  beliebte  argumentum  e  silentio: 
Moses  hat  eine  Frau  und  Kinder  gehabt,  und  deshalb  durfte 
er  nicht  das  gelobte  Land  schauen,  während  der  jungfräuliche 
Josua  es  in  Besitz  nahm.  Triumphierend  verkündet  er:  Wenn 
du  mir  zeigen  kannst,  daß  Josua,  der  Sohn  Naves,  Frau  und 
Kinder  gehabt  hat,  so  will  ich  mich  für  überwunden  erklären.') 
Mit  solchen  Kniffen  und  Künsten  nimmt  seine  Widerlegung 
Jovinians  durch  das  ganze  Alte  Testament  ihren  Fortgang. 
Nur  wenn  ihm  nichts  einfällt,  macht  er  gelegentlich  eine 
Konzession:  „Wenn  aber  Samuel,  der  in  der  Stiftshütte  erzogen 
war,  ein  Weib  nahm,  was  tut  denn  dies  der  Jungfrauschaft 
für  Eintrag?  Als  ob  nicht  auch  heute  noch  sehr  viele  Priester 
Ehen  geschlossen  haben,  und  nicht  der  Apostel  den  Bischof 
als  eines  Weibes  Mann  schildere,  der  seine  Kinder  in  aller 
Keuschheit  erziehe."  ^) 

')  Contra  Jov.  1.  I,  14. 
»)  Contra  Jov.  1.  I,  22. 
")  Contra  Jov.  I.  I,  24. 


Wiederankniipfimg  mit  Rom.  155 

Besondere  Mühe  gab  sich  Hieronymus,  die  unbequeme 
Tatsache  der  Ehe  des  Apostelfürsten  Petrus,  die  Jovinian  für 
seine  These  von  der  Gleichwertigi<eit  der  Ehe  mit  der  Jung- 
frauschaft naturgemäß  scharf  akzentuiert  hatte,  unschädlich  zu 
machen.  Mit  allem  Scharfsinn  versuchte  er  dieses  lästige 
Argument  seines  Gegners  zu  entkräften.  Einmal  hat  Petrus 
geheiratet,,  bevor  er  das  Evangelium  kannte  und  zum  Apostel 
berufen  u'orden  war,  und  dann  hat  er  als  Apostel  seine  eheliche 
Pflicht  nicht  mehr  ausgeübt.  Und  wenn  Jovinian  behauptet, 
daß  alle  Apostel  Frauen  gehabt  hätten  nach  1.  Kor.  9,  4  und  5: 
„Haben  wir  nicht  das  Recht  Weiber  mit  uns  zu  führen,  wie 
die  übrigen  Apostel  und  Kephas  und  die  Brüder  des  Herrn", 
so  deutet  Hieronymus  die  Stelle  so,  daß  unter  ywi)  auch  an 
die  heiligen  Weiber  gedacht  werden  könne,  die  nach  jüdischer 
Sitte  aus  ihrem  Vermögen  den  Aposteln  dienten,  wie  auch  dem 
Herrn  Jesus.  Und  schließlich  macht  er  reinen  Tisch,  indem 
er  kühn  behauptet,  daß  Petrus,  nachdem  er  gläubig  geworden 
sei,  wohl  noch  eine  Schwiegermutter,  aber  kein  Weib  mehr 
gehabt  habe,  obwohl  in  den  Periodi  Petri  von  einem  Weib  und 
sogar  von  einer  Tochter,  die  ihn  auf  seinen  Reisen  begleiteten, 
die  Rede  sei. ')  Johannes,  der  ewig  Jungfräuliche,  ist  auch 
vom  Herrn  mehr  geliebt  worden  als  Petrus,  der  verheiratet 
gewesen  war,  und  während  die  Jungfrauschaft  nicht  stirbt, 
mußte  der  Makel,  den  Petrus  durch  seine  Ehe  auf  sich  geladen 
hatte,  durch  das  Blut  des  Martyriums  abgewaschen  werden. 
Ein  starker  Satz,  den  später  Rufin  -)  aufgriff,  und  der  selbst  einem 
so  asketisch  gestimmten  Zeitalter  als  eine  tiefe  Herabwürdigung 
der  Ehe  und  des  Ansehens  des  Apostels  Petrus  erschien. 

Noch  einmal  wendet  sich  Hieronymus  dann  zum  Alten 
Testament  zurück  und  setzt  sich  ausführlich  und  breit  mit 
Jovinian  Punkt  für  Punkt  auseinander.  Hatte  der  Anwalt  der 
Ehe  auf  Salomo  exemplifiziert,  der  mehrfach  verheiratet  ge- 
wesen war  und  doch  der  Ehre  gewürdigt  ward,  den  Tempel 
Gottes  aufzubauen,  so  stellte  Hieronymus  alle  aus  den  angeblich 


^)  s.  über  die  von  Hieronymus  hier  benutzten  Petrusakten,  H.  Waitz, 
Die  Pseudoklementinen,  Texte  und  Untersuchung.  N.  F.  Band  X,  Heft  4, 
Leipzig  1904,  S.  47,  192  u.  254  ff. 

'^)  Contra  Hieronymum  1.  II,  39. 


156  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

salomonischen  Schriften,  Sprüche  und  Prediger,  gegen  die  Ehe 
gerichteten  Äußerungen  zusammen.  Hatte  der  Ketzer  dem 
Hohenlied  ein  Zeugnis  für  die  Ehe  entnehmen  zu  können 
geglaubt,  so  liest  Hieronymus  mittels  der  allegorischen  Exegese 
aus  ihm  die  geheiligten  Geheimnisse  der  Jungfrauschaft  heraus.') 
Im  Jesaja  gibt  er  zwar  zu,  daß  die  Juden  recht  haben,  die 
das  hebräische  Wort  ni^'?j;  nicht  mit  Jungfrau,  sondern  mit 
erwachsenes  Mädchen  übersetzen,  aber  schließlich  erklärt  er 
doch  die  Stelle  im  Sinne  der  Kirche,  da  mit  r\t2^V  sonst 
nirgends  eine  Verheiratete  bezeichnet  werde.  Wenn  sich  aber 
Jovinian  für  die  Gleichstellung  der  Ehe  mit  der  Jungfrauschaft 
darauf  berief,  daß  die  Kirche  zu  der  Ehrenstellung  der  Priester 
auch  Verheiratete  zulasse,  so  entschuldigte  Hieronymus  dies 
mit  dem  Notstand,  in  dem  sich  die  Kirche,  die  sich  anfangs 
aus  Heiden  ergänzte,  befand:  Der  Apostel  Paulus  mußte  ihr 
anfänglich  leichtere  Vorschriften  geben,  die  sie  zu  tragen 
vermochte.  Auf  den  so  naheliegenden  Einwurf  Jovinians  aber, 
daß,  wenn  alle  Jungfrauen  bleiben,  das  Menschengeschlecht 
doch  einfach  aufhören  müsse  zu  bestehen,  und  daß  Gott  doch 
die  Geschlechter  zur  natürlichen  geschlechtlichen  Vereinigung 
nicht  geschaffen  hätte,  wenn  er  sie  nicht  gewollt  hätte,  weiß 
Hieronymus  nichts  Stichhaltiges  zu  erwidern.  Statt  dessen 
wird  er  geradezu  zynisch:  „Wenn  es  die  Aufgabe  der 
Geschlechtswerkzeuge  ist,  stets  ihre  natürlichen  Bestimmungen 
zu  erfüllen,  dann  mögen,  wenn  ich  müde  geworden  bin,  die 
Kräfte  eines  andern  statt  meiner  eintreten,  und  es  mag,  um  mich 
so  auszudrücken,  die  Lustbefriedigung  mit  dem  ersten  Besten 
meiner  eigenen  Gattin  heftigen  Lusthunger  stillen.'"')  Nachdem 
er  auch  die  Worte  des  zweiten  Petrusbriefes:  „Es  werden 
Spötter  kommen,  die  nach  ihren  eigenen  Lüsten  wandeln",'') 
auf  Jovinian  und  seine  Anhänger  bezogen  hat,  wendet  er  sich 
der  heidnischen  Religions-  und  Sittengeschichte  zu.  Auch  bei 
den  Heiden  hat  die  Virginität  stets  als  der  höchste  Gipfel  der 
Keuschheit    gegolten.*)      Die    heidnischen    Prophetinnen,    die 


')  Contr.  Jov.  1.  I,  28-31. 

*)  Contr.  Jov.  1.  I,  36. 

=•)  2.  Petr.  3,  3. 

*)  Über   seine    Quellen    für    die    Profangeschichte,    Contr.   Jov.    1.   i, 


Wiederanknüpfung  mit  Rom  157 

Sibyllen,  die  Priesterinnen  der  taurischen  Diana  und  der  Vesta 
waren  Jungfrauen,  und  zahlreich  sind  die  Beispiele  aus  der 
griechischen  und  römischen  Geschichte,  nach  denen  heidnische 
Jungfrauen  zur  Wahrung'  ihrer  Keuschheit  sich  selbst  den 
Tod  gegeben  haben/)  Die  Aufzählung  der  Beispiele  macht 
ganz  den  Eindruck  eines  Schulaufsatzes,  wie  ihn  Hieronymus 
in  den  Rhetorenschulen  einst  gelernt  hatte.  Da  sein  Gegner 
nicht  rhetorisch  gebildet  gewesen  zu  sein  scheint,  so  glaubte 
er  ihm  damit  um  so  mehr  zu  imponieren.  Interessant  ist  es 
aber,  daß  Hieronymus  in  diesem  Zusammenhang  auf  die 
religions-geschichtlichen  Parallelen  der  Jungfrauengeburt  des 
Erlösers  aufmerksam  macht.  Er  weiß,  daß  nach  der  Über- 
lieferung der  Stifter  des  Buddhismus,  Buddha,  aus  derSeite  einer 
Jungfrau  geboren  sein  soll,  Plato  als  Sohn  des  Apollo  und  der 
Jungfrau  Periktio  und  Romulus  als  Sohn  des  Mars  und  der  Jung- 
frau llia  galten.')  Wie  könne  man  also  den  Christen  die  Geburt 
unseres  Herrn  und  Erlösers  von  einer  Jungfrau  vorwerfen? 
Dann  folgt  aus  der  Weltgeschichte  noch  eine  lange 
Reihe  von  Schulbeispielen  heidnischer  Ehefrauen,  die  lieber  in 
den  Tod  gingen,  als  daß  sie  ihre  Männer  überlebten  und  eine 
zweite  Ehe  schlössen.  Den  Schluß  bilden  zahlreiche  Zeug- 
nisse heidnischer  Philosophen,  Aristoteles,  Plutarch,  Cicero, 
Seneca  und  Sextus.  Besonders  charakteristisch  ist  das  Zeugnis, 
das    Hieronymus    aus    dem    sonst    vollständig    verloren     ge- 


c  41—49,  spricht  er  sich  Contr.  Jov.  I.  I,  49,  Vallarsi  II,  318,  aus:  Scrip- 
serunt  Aristoteles  et  Plutarchus  et  noster  Seneca  de  matrimonio  libros, 
ex  quibus  et  superiora  nonnulla  sunt  et  ista,  quae  subjicimus.  Bock, 
Aristoteles,  Plutarchus,  Seneca  de  matrimonio  Leipz.  Stud.  19,  1899,  S.  6, 
hat  angenommen,  daß  Hieronymus  Tertullians  verlorene  Schrift  über  ad 
amicum  philosophum  de  nuptiarum  angustiis,  von  der  er  ep.  22,  22  und 
vielleicht  Cont.  Jov.  I.  I,  13  spricht,  benutzt  habe.  Tertullian  aber  habe 
Senecas  Buch  de  matrimonio,  und  dieser  wieder  Aristoteles  und  Theophrast 
benutzt.  Dagegen  hat  Frachter,  Hierocles  der  Stoiker,  Leipzig  1901,  S.  122, 
mit  Recht  die  Benutzung  Senecas,  der  auf  Aristoteles  und  Plutarch  zurück- 
geht, durch  Hieronymus  für  wahrscheinlich  gehalten.  Aus  Seneca  wird 
wohl  auch  das  Zitat  aus  dem  Aureolus  das  Theophrast,  Contr.  Jov.  1.  I,  47, 
Vallarsi  II,  313,  stammen. 

')  Contr.  Jov.  1.  I,  41. 

2)  Contr.  Jov.  1.  I,  42. 


158  Wiederankniipfiing  mit  Rom. 

gangenen  Buch  des  Theophrast,  Aureolus,  über  die  Ehe  an- 
führt, in  dem  das  tiefste  Mißtrauen  gegen  das  Weib  und 
die  entsetzliche  Herabwürdigung  der  Ehe  zu  einem  geradezu 
leidenschaftlichen  Ausdruck  kommt.  Es  ist  merkwürdig,  wie 
der  Schüler  des  Aristoteles  und  der  christliche  Mönch  in  ihrer 
Beurteilung  der  Ehe  zusammentreffen. 

Im  zweiten  Buch  handelt  Hieronymus  zunächst  von  einem 
zweiten  Satz  Jovinians,  mit  dem  sich  sowohl  Augustin  wie 
Julian  von  Eclanum  beschäftigt  haben,  und  den  Ambrosius  als 
die  Lehre  der  Schüler  Jovinians,  des  Sarmatio  und  Barbatian, 
bekämpft  hat.')  Jovinian  hatte  die  prinzipielle  Sündlosigkeit 
der  Wiedergeborenen  behauptet:  Die,  welche  mit  vollem  Glauben 
in  der  Taufe  wiedergeboren  sind,  können  vom  Teufel  nicht 
zu  Fall  gebracht  werden.  Ein  in  der  Taufe  Wiedergeborener 
kann  nicht  sündigen,  wie  Johannes  1.  Joh.  3,  Q  sagt:  „Jeder, 
der  aus  Gott  geboren  ist,  sündigt  nicht."  Wenn  also  ein  ge- 
taufter Christ  fällt,  so  ist  dies  ein  Beweis,  daß  er  kein  wahr- 
haft Wiedergeborener  war.  Er  hat  nur  die  Wassertaufe  wie 
Simon  Magus  in  der  Apostelgeschichte,  nicht  die  Geistestaufe 
erhalten.  Wenn  wir  auch  nicht  die  nähere  theologische  Be- 
gründung und  Ausführung  dieser  seiner  These  kennen,  und 
wenn  ihn  Hieronymus  daraufhin  später  zum  Geistesverwandten 
des  Pelagius,  und  umgekehrt  Julian  von  Eclanum  zum  Ge- 
sinnungsgenossen Augustins,  und  Augustin  wieder  zum 
Pelagianer  gemacht  hat,  so  möchte  ich  auch  diesen  viel  deut- 
baren Satz  von  dem  Ausgangspunkt  seiner  theologischen  Spe- 
kulation, der  Gleichstellung  der  Ehe  mit  der  Virginität,  zu  be- 
greifen versuchen.  Er  diente  ihm  vermutlich  zur  Begründung 
seiner  These,  daß  Jungfrauen,  Witwen  und  Verheiratete,  die 
auf  Christus  getauft  sind,  dasselbe  Verdienst  haben,  wofern 
sie  nicht  sonst  in  ihren  Werken  verschieden  sind;  denn  jeder 
Christ,  so  folgerte  er,  der  mit  vollem  Glauben  getauft  ist,  wird 
durch  die  Taufe  wiedergeboren,  und  er  bleibt  durch  die 
mystische  Einwohnung  Gottes  und  Christi  —  er  knüpfte  hier 
an  Johanneische  Gedankenreihen  an  —  im  Gnadenstand.     Der 


')  Augustin,  opus  imperfectum  contra  Julianum  1.  I,  96ff. ;  Ambrosius, 
ep.  83  ad  Vercellenses,  ed.  Ballerini  V,  554  ff. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  159 

Teufel  vermag  ihn  nicht  zum  Abfall  zu  verleiten.  Ob  er  als 
Eheloser  oder  in  der  Ehe  lebt,  ist  gleichgiltig,  da  kein  be- 
sonderer Stand,  sondern  die  Taufe  und  die  Einwohnung 
Gottes  und  Christi  uns  unsere  Seligkeit  verbürgen.  Wie  weit 
Jovinian  enthusiastische  Folgerungen  über  die  tatsächliche 
Sündlosigkeit  der  Christen  gezogen  hat,  läßt  sich  nicht  mehr 
feststellen. 

Hieronymus  ist  solchen  Gedankengängen  gegenüber  ge- 
radezu hilflos.  Die  Art  seiner  Widerlegung  wird  ganz  äußerlich. 
Er  weiß  nichts  anderes,  als  darauf  hinzuweisen,  daß  nach 
dem  Zeugnis  der  Schrift  auch  der  getaufte  Christ  sündige,  und 
Moses,  Aaron,  David,  Salomo,  selbst  Petrus,  denen  die  Gnade 
Gottes  zuteil  geworden  war,  gesündiget  haben.') 

Dem  dritten  Satz  Jovinians,  der  die  Verdienstlichkeit  des 
Fastens  ablehnt,  widmet  Hieronymus  wieder  eine  ausführliche 
Widerlegung.  Bei  prinzipiellen  theologischen  Auseinander- 
setzungen, wozu  der  zweite  Satz  Jovinians  Anlaß  geboten 
hätte,  versagte  Hieronymus  vollständig;  nur  wo  er  ein  Stück 
der  mönchischen  Frömmigkeit  gefährdet  sah,  war  er  wieder  auf 
dem  Plan.  Jovinian  hatte  folgerichtig  ebenso  wie  die  Bevor- 
zugung des  jungfräulichen  Standes  auch  die  Überschätzung  des 
Fastens  bekämpft:  Das  Fasten  ist  um  nichts  besser,  ver- 
dienstlicher und  gottgefälliger,  als  der  Genuß  von  Speisen, 
der  mit  Danksagung  geschieht.  Er  lehnt  sich  hier  wörtlich 
an  1.  Tim.  4,  4  an.  Gott  hat  alles  zum  Dienst  der  Menschen 
geschaffen.  Wie  der  Mensch  als  Besitzer  und  Beherrscher 
der  Welt  unter  Gott  steht,  so  sind  Tiere  und  Pflanzen  zur 
Nahrung  und  Kleidung,  überhaupt  zum  Gebrauch  der  Menschen 
geschaffen.  Christus  selbst  hat  an  der  Hochzeit  zu  Kana  teil- 
genommen und  dort  nicht  gefastet  oder  auch  nur  gewisse  Speisen 
als  unrein  zurückgewiesen.  Zur  Darstellung  seines  Blutes 
hat  er  im  heiligen  Abendmahl  nicht  das  Wasser,  sondern  den 
Wein  gewählt;  und  auch  Paulus  hat  auf  dem  Schiff  Brot  und 
nicht  Kastanien  gegessen  und  dem  magenleidenden  Timotheus 
den  Rat  gegeben,  Wein  zu  trinken.  Mit  dem  Fasten  ahmen 
die  Christen    den  Heiden    nach:    die  Priester  der  Cybele   und 


^)  Contr.  Jov.  1.  II,  1—4. 


160  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

der  Isis  enthalten  sich  des  Brotes  und  der  Cerealien  und  die 
Pythagoräer  des  Fleischgenusses. 

In  seiner  Widerlegung  versucht  es  Hieronymus,  seinen 
Lesern  durch  seine  scheinbar  ungeheure  Belesenheit  in  den 
Profanschriftstellern  gewaltig  zu  imponieren:  Es  möge  lesen, 
wer  will,  Aristoteles  und  Theophrast  in  Prosa,  Marcellus 
Sidetes  und  unsern  Flavius  in  Hexametern,  auch  Plinius  Se- 
cundus  und  Dioscorides  und  die  übrigen  Physiker  und  Medi- 
ziner.') Und  an  einer  anderen  Stelle  zitiert  er  den  Peripatetiker 
Dicaearchus ')  und  seine  Bücher  von  den  Altertümern  und  der 
Beschreibung  Griechenlands.  Und  an  einer  dritten  Stelle 
nennt  er  das  zweite  Buch  des  jüdischen  Krieges,  das  18.  Buch 
der  Antiquitäten  und  die  zwei  Bücher  gegen  Apion  des 
Josephus  als  seine  Quellen.')  Wenn  man  aber  der  Sache  auf 
den  Grund  geht,  so  hat  er  nichts  von  alledem  gelesen,  son- 
dern alle  seine  medizinischen  Kenntnisse  gehen  auf  Porphyrius 
zurück,  wie  bereits  Vallarsi  bemerkt  hat.*)  Die  abscheuliche 
Verlogenheit  des  Hieronymus  tritt  hier  wieder  zutage,  daß  er 
seine  eigentliche  Quelle,  aus  der  er  schöpft,  nirgends  genannt 
hat.  Nachdem  er  dann  über  die  Argumente  und  Beispiele  der 
Philosophen  gehandelt  hat,  wendet  er  sich  zu  den  christlichen 
Argumenten,  die  für  das  Fasten  sprechen.  Man  sollte  nun 
glauben,  daß  er  hier  wenigstens  selbständig  in  seiner  Beweis- 
führung wäre;  aber  wieder  pflügt  er  mit  einem  fremden  Kalbe 
und  schreibt  fast  wörtlich  Tertullian  aus,  ebenfalls  ohne  ihn 
zu  nennen.')  Man  weiß  nicht,  ob  man  mehr  über  die  Frech- 
heit des  Hieronymus  oder  über  die  Kritiklosigkeit  seiner  Zeit- 
genossen staunen  soll,  denen  er  dies  bieten  durfte. 

Seine  Verteidigung  des  Fastens,  die  auf  diesen  Quellen  ruht, 
geht    davon  aus,    daß  nicht  alle  Tiere    zum  Essen  geschaffen 


')  Contr.  Jov.  i.  II,  c.  6. 

»)  Contr.  Jov.  1.  II,  c.  13. 

»)  Contr.  Jov.  I.  II,  c.  14. 

*)  s.  Vaiiarsi  II,  335,  Anm.  d;  s.  ferner  über  die  Benutzung  von 
Porphyrius  jrroi  äjTo/f/^  finfi'xoiv  J.  Bernays,  Theophrastos'  Schrift  über 
die  Frömmigkeit,  Berlin  1866,  S.  32;  S.  135. 

*)  Contr.  Jov.  1.  II,  15  ff.;  s.  Vallarsi  H,  346,  Anm.  f,  über  die  Benutzung 
von  Tertullian  de  jejuniis  c.  3  und  4. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  161 

seien,  sondern  einige  nur  zu  Arzneimitteln.  „Hyänengalle 
stellt  die  Klarheit  der  Augen  wieder  her,  und  ihr  Mist  wie 
Hundemist  heilt  faulige  Wunden;  und,  was  dem  Leser  viel- 
leicht sonderbar  vorkommen  wird,  zu  welchen  Heilungen 
Menschenkot  nützt,  lehrt  Galenus."  Für  die  Gladiatoren,  die 
Schiffer,  die  Redner  und  Bergarbeiter  sind  Fleischspeisen  zur 
Erhaltung  ihrer  Körperkraft  nötig;  aber  der  Christ,  der  voll- 
kommen sein  will,  braucht  keinen  Wein  zu  trinken  und  kein 
Fleisch  zu  essen.')  Wie  alle  Völker  ihre  eigentümlichen  Sitten 
haben,  z.  B.  die  Araber  von  Kamelsmilch  leben,  die  Pontier 
und  Phrygier  fette  Holzwürmer  als  Delikatesse  essen,  die 
Schotten  einen  völligen  Kommunismus  der  Frauen  haben,  die 
Hyrkanier  ihre  eigenen  Eltern  noch  halb  lebend  den  Vögeln  und 
Hunden  vorwerfen,  die  Skythen  —  die,  welche  ein  Verstorbener 
geliebt  hat,  ihm  lebendig  ins  Grab  mitgeben,  so  haben  auch 
die  Christen  ihre  eigene  Lebenssitte,  indem  sie  sich  des  die 
Sinne  erregenden  Fleisches  und  Weines  enthalten.')  Bereits 
die  heidnischen  Philosophen  haben  die  Genügsamkeit  in  den 
Speisen  gepriesen;  Ärzte,  wie  Hippocrates  und  Galen,  haben  sich 
gegen  die  Völlerei  ausgesprochen,  und  selbst  ein  Epikur,  der 
Verteidiger  der  Sinnenlust,  rät,  von  Wasser,  Brot  und  Gemüse 
zu  leben,  da  das  allein  zur  Notdurft  des  Lebens,  alles  andere 
zum  Laster  des  Schlemmens  gehöre.  Alle  außerchristlichen 
asketischen  Erscheinungen,  die  ägyptischen  Priester,  die 
Essener  und  Therapeuten,  die  Magier  der  Perser,  die 
Brahmanen  Indiens,  die  Pythagoräer,  Orphiker  und  Zyniker, 
werden  der  Reihe  nach  aufgezählt,  um  den  Christen  die  Bei- 
spiele heidnischer  Enthaltsamkeit  vor  Augen  zu  stellen,^) 

Dann  führt  Hieronymus  im  engsten  Anschluß  an  Tertullian 
den  biblischen  Beweis  für  die  Verdienstlichkeit  des  Fastens. 
Schon  der  erste  Adam  empfing  im  Paradies  das  Gebot,  von  allen 
Bäumen  zu  essen,  aber  eines  Baumes  sich  zu  enthalten.  Die 
ganze  Heilige  Schrift  ist  voll  von  Beispielen,  die  uns  den 
Wert  des  Fastens  eindrücklich  machen,  man  denke  nur  an 
Elias,    die  Stadt  Ninive,    Daniel,    die  Nasiräer,    die  Rechabiten, 

')  Contr.  Jov.  1.  II,  6. 
-)  Contr.  Jov.  1.  II,  7. 
»)  Contr.  Jov.  1.  II,  14. 

Grützmacher,    Hieronymus.    II.  11 


162  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Johannes  den  Täufer  und  den  Hauptmann  von  Kapernaum. 
Dabei  fordern  aber  die  Christen  nicht  wie  Marcion  und  Tatian 
beständige  Enthaltsamkeit,  sondern  sie  stellen  nur  die  Enthalt- 
samkeit höher  als  das  üppige  Leben.  Wenn  aber  Jovinian 
das  Fasten  der  Christen  als  Nachahmung  der  heidnischen 
Fasten  wie  im  Isis-  und  Cybelekult  bezeichnet  hatte,  so  drehte 
Hieronymus  den  Spieß  einfach  um,  indem  er  nach  der  alten 
apologetischen  Methode  die  heidnischen  Fasten  auf  eine  Nach- 
äffung des  Teufels  zurückfijhrt:  „Durch  alles,  was  der  Teufel 
aus  Eifersucht  gegen  Gott  bewirkt,  wird  das  Christentum  nicht 
als  Aberglaube  bewiesen."') 

Die  vierte  These  Jovinians,  die  Hieronymus  an  letzter 
Stelle  bekämpft,  stellt  sich  als  selbstverständliche  Konsequenz 
seiner  Anschauung  von  der  Gleichwertigkeit  der  Ehe  und 
Virginität  und  vom  Fasten  und  Nichtfasten  dar:  Alle  Wieder- 
geborenen, die  ihre  Taufgnade  bewahrt  haben,  empfangen 
dieselbe  Vergeltung  im  Himmelreich.  Es  gibt  nur  zwei  Klassen 
von  Menschen,  Gerechte  und  Sünder.  Für  diese  Zweiteilung 
der  Menschen,  die  von  Anfang  an  nachweisbar  sei,  berief  er 
sich  auf  Noah  und  die  in  der  Sündflut  untergegangenen 
Sünder,  auf  Lot  und  die  Sodomiter,  die  Israeliten  und  Ägypter, 
die  Schafe  und  die  Böcke,  den  guten  und  den  schlechten 
Baum,  die  klugen  und  die  törichten  Jungfrauen  in  den 
Gleichnissen  Jesu.  Aus  dieser  seiner  Anschauung  zog  er  auch 
weiter  die  Konsequenz,  daß  den  Märtyrern  keine  höhere  Stufe 
der  Seligkeit  zukäme.  Ob  einer  in  der  Verfolgung  verbrannt, 
erdrosselt  oder  enthauptet  wird,  das  sind  verschiedene  Arten 
des  Kampfes,  aber  es  gibt  nur  einen  Siegeskranz.  Den  Ein- 
wurf, weshalb  sich  dann  der  Gerechte  anstrenge,  wenn  es 
doch  keinen  höheren  Lohn  gebe,  beantwortet  er  damit:  er  tue 
dies  nicht,  um  mehr  zu  verdienen,  sondern  um  nicht  zu 
verlieren,  was  er  hat.  Die  Heiligung  dient  also  zur  Bewahrung 
des  Gnadenstandes,  nicht  zur  Mehrung  der  Verdienstlichkeit. 
Die  wahren  Christen  aber,  die  durch  Taufe  und  mystische  Ein- 
wohnungGottes  und  Christi  wiedergeboren  sind,  bilden  die  wahre 
einige  Kirche,  die  die  Braut,  Schwester  und  Mutter  Christi  ist. 


')  Contr.  Jov.  1.  II,   17. 


Wiederanknüpfung  nn't  Rom.  163 

Hieronymus  verhält  sich  in  diesem  letzten  Teil  fast  rein 
defensiv,  er  versucht  nur  die  einzelnen  Argumente  Jovinians 
zu  zerpflücken.  Besondere  Freude  bereitet  es  ihm,  wenn  er 
seinem  Gegner  eine  verfehlte  Deutung  einer  Bibelstelle  nach- 
weisen kann.  So  triumphiert  er:  „wer  könnte  sein  Lachen 
darüber  zurückhalten,  wenn  Jovinian  Joh.  14,  2,  wo  von  den 
vielen  Wohnungen  im  Hause  des  Vaters  die  Rede  ist,  diese 
Wohnungen  auf  die  auf  dem  Erdboden  zerstreute  Kirche  be- 
zieht.'") Seine  eigene  Position,  die  er  Jovinian  entgegenstellt, 
hat  er  nicht  ohne  Geschick  formuliert:  Gott  ist  nicht  unge- 
recht, daß  er  die  Arbeit  der  verschiedenen  Christen  vergäße 
und  daß  er  ungleiches  Verdienst  mit  gleichem  Lohne  ablohne.') 
Für  die  Theorie  eines  abgestuften  Gnadenlohnes  beruft  er 
sich  auf  Stellen  wie  L  Cor.  15,  22:  Wie  in  Adam  alle  sterben, 
so  werden  auch  in  Christo  alle  lebendig,  jeder  aber  in  seinem 
Range;  1.  Cor.  15,  3Qff.:  Anders  ist  die  Klarheit  der  Sonne, 
anders  die  Klarheit  des  Mondes,  anders  die  Klarheit  der 
Sterne,  und  ein  Stern  unterscheidet  sich  von  dem  andern  an 
Klarheit  und  auf  2.  Cor.  5,  10,  wonach  jedem  ein  Lohn  nach 
seinen  Werken  verheißen  wird.  Während  Jovinian  das  Gleichnis 
vom  Sämann  als  Parabel  aufgefaßt  hatte,  die  nur  von  zwei 
Klassen  von  Menschen,  von  bösen  und  guten,  handle,  legt  es 
Hieronymus  in  der  üblichen  Weise  als  Allegorie  aus  und 
folgert  aus  der  30-,  60-  und  lOOfältigen  Frucht  einen  dreifach 
abgestuften  himmlischen  Lohn.  Die  straffe  Anschauung 
Jovinians,  der  die  Unterscheidung  zwischen  leichteren  und 
schwereren  Sünden  verwarf,  und  die  Sünde  einheitlich  als  Bruch 
mit  Gott  auffaßte,  die,  in  welcher  Form  sie  sich  auch  äußern 
mag,  die  gleiche  Strafe  verdient,  vermag  Hieronymus  so  wenig 
wie  der  gesamte  zeitgenössische  Katholizismus  zu  erfassen. 
Er  ironisiert  sie  nur,  wobei  er  dann  gleich  persönlich  gehässig 
wird:  ich  glaube,  daß  du,  der  du  doch  auch  ein  Mensch  bist, 
schon  einmal  gelogen  hast,  und  du  wirst  nun  nach  deiner 
Theorie  mit  Vatermördern  und  Ehebrechern  die  gleiche  Strafe 
leiden  müssen.  Wenn  alle,  die  zur  Rechten  stehen,  ein  Rekruten- 

')  Contr.  Jov.  1.  II,  28. 

^)  Contr.  Jov.  1.  11,  23. 

II*    ■ 


164  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

maß  zum  Kriegsdienst  tauglich  macht,  so  ist  es  unnütz,  daß 
es  Bischöfe,  Priester,  Diakonen,  Jungfrauen,  Witwen  und  ent- 
haUsame  Verheiratete  gibt.  Laßt  uns  nur  alle  sündigen,  nach 
der  Buße  werden  wir  doch  soviel  gelten  wie  die  Apostel.  Ein 
abscheuliches  Zerrbild  Jovinians,  des  geilen  Epikur,  in  dessen 
Lustgarten  Jünglinge  und  Weiber  umherspringen,  dem  eine 
zahlreiche  Schweineherde  folgt,  die  er  zum  fetten  Braten  der 
Hölle  mästet,  bildet  den  Schluß  der  fanatischen  Streitschrift.') 
Nur  noch  eins  fügt  er  bei:  eine  Apotheose  auf  die  Stadt  Rom, 
die  die  auf  die  Stirn  geschriebene  Gotteslästerung  durch  das 
Bekenntnis  Christi  ausgelöscht  hat,  die  mächtige  Stadt,  die 
Erdkreisbeherrscherin,  die  von  den  Aposteln  gepriesene  Stadt.) 
Als  er  vor  ungefähr  sieben  Jahren  in  heimlicher  Flucht  Rom 
verlassen  hatte,  da  war  die  undankbare  Stadt  ihm  als  ein  Babel 
und  Ägypten  erschienen,  jetzt  wo  er  wieder  die  Sympathien 
der  römischen  Christen  zurückgewinnen  wollte,  brach  er  in 
einen  begeisterten  Lobpreis  auf  Rom  aus,  wo  die  Lehre  des 
Petrus  auf  den  Felsen  Christi  gegründet  ist.') 

Hieronymus  hatte  sicher  gehofft  mit  seiner  Schrift  gegen 
Jovinian  einen  durchschlagenden  Erfolg  zu  erzielen;  aber  selbst 
sein  Freund  Pammachius,  der  ihn  zur  Gegenschrift  gegen 
Jovinian  veranlaßt  hatte,  war  über  das  leidenschaftliche  und 
zügellose  Pamphlet  entsetzt.  Die  Geister,  die  Pammachius 
gerufen,  wollte  er  wieder  los  sein,  und  so  wußte  er  sich  keinen 
anderen  Rat,  als  die  bereits  in  Rom  verbreiteten  Exemplare  der 
Schrift  einzuziehen.')  Ein  anderer  Freund  Domnio  schickte 
dem  Hieronymus  eine  lange  Liste  von  aus  beiden  Büchern 
gegen  Jovinian  ausgezogenen  Stellen,  die  er  einer  Korrektur 
unterziehen  sollte.)  Welch  bittere  Enttäuschung  für  den  eitlen 
Mann,  von  seinen  beiden  besten  Freunden  in  dieser  Weise 
desavouiert  zu  werden.  Hieronymus  hatte  die  Stimmung  in 
Rom  doch  falsch  beurteilt;  er  hatte  aus  der  Verurteilung 
Jovinians    geschlossen,    daß    man    dem  Mönchtum    in    weiten 

>)  Conlr.  Jov.  I.  II,  37. 
^)  Contr.  Jov.  I.  II,  38. 
3)  Contr.  Jov.  I.  H,  37. 
*)  Ep.  49,  2. 
*)  Ep.  50,  3. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  165 

Kreisen    weiter    entgegenzukommen    gewillt    wäre,    als   es  tat- 
sächlich der  Fall  war. 

Mit  einem  Briefean  Pammachius  sandteer  ihm  eineeingehende 
Verteidigungsschrift  seiner  Bücher  gegen  Jovinian.  Hieronymus 
ist  zu  klug,  um  seinem  vornehmen  Freunde  Pammachius  gegen- 
über den  Beleidigten  zu  spielen  oder  ihm  gar  Vorwürfe  für  sein 
Verhalten  zu  machen.  Er  macht  gute  Miene  zum  bösen  Spiel: 
„Was  mein  Büchlein  gegen  Jovinian  betrifft,  so  habe  ich  schon 
gut  erkannt,  wie  klug  und  freundlich  du  durch  Zurückziehung 
der  Exemplare  gehandelt  hast.'")  Aber  dann  wirft  er  sich  so- 
gleich in  die  Brust:  „Wenn  ich  etwas  schreibe,  kann  ich  nicht 
wie  andere  zeitgenössische  Schriftsteller  an  meinen  Kleinig- 
keiten Verbesserungen  anbringen,  da  meine  Werke  sofort  nach 
ihrem  Erscheinen  von  meinen  Freunden  wie  Gegnern  rasch 
in  alle  Welt  verbreitet  werden."  Nach  einigen  Elogen  an 
Pammachius,  die  nicht  ganz  ohne  Bitterkeit  sind,  daß  er  ja  in 
der  Schrift  besser  als  er  selbst  bewandert  sei,  und  nach  der 
Gratulation,' daß  er  durch  den  Willen  des  f^apstes  und  des 
römischen  Volkes  für  die  Priesterweihe  in  Aussicht  genommen 
sei,  verwahrt  er  sich  entschieden  dagegen,  daß  er  zu  heftig 
gegen  die  Verehelichten  gewesen  sei.  Der  Alexandriner  Pierius 
habe  in  seinem  Kommentar  zum  Korintherbriefe  viel  schärfer 
als  er  betont,  daß  Paulus  im  siebenten  Kapitel  offenkundig 
die  Ehelosigkeit  preise,  und  ähnlich  hätten  sich  Origenes,  der 
Bischof  Dionysius  von  Alexandria,  Eusebius  von  Caesarea, 
Didymus  und  Apollinaris  in  ihren  Kommentaren  ausgesprochen. 
In  seiner  Verteidigungsschrift  läßt  er  sich  nur  äußerst  ungern 
zu  gewissen  Retraktationen  herbei.  Er  ist  doch  in  der  Seele 
aufs  tiefste  empört,  daß  man  ihm  eine  derartige  Zumutung 
gestellt  hat.  Ein  einsichtiger  und  gütiger  Leser  hätte  das, 
was  hart  erscheinen  konnte,  nach  dem  Übrigen  beurteilen 
und  ihn  entschuldigen  sollen.  Man  hätte  seine  Fehler 
eher  verbessern  als  tadeln  sollen  und  ihn  nicht  verletzen. 
„Das  ist  eine  feige  Lehrweise,  dem  Kämpfenden  von  der 
Mauer  herab  Streiche  zuzufügen,  und  während  man  selbst 
von  Salben  trieft,    den    blutenden  Kämpfer  der  Feigheit  anzu- 

')  Ep.  49,  2. 


166  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

klagen.'")  Hieronymus  ist  plötzlich  so  mißtrauisch  geworden, 
daß  er  vermutet,  man  habe  ihm,  als  man  ihn  zur  Widerlegung 
Jovinians  aufforderte,  einen  Hinterhalt  legen  wollen.") 

Was  er  weiter  zu  seiner  Verteidigung  anführt,  ist  be- 
zeichnend für  den  Wahrheitssinn  des  Hieronymus.  daß  in 
einer  Streitschrift  wie  in  der  gegen  Jovinian  nicht  wie  in  einer 
dogmatischen  Lehrschrift  alles  im  strengsten  Sinne  wahrhaftig 
gemeint  sei:  Etwas  anderes  sei  es  yvin'uOTiHö)^  zu  einem 
polemischen  Zweck,  etwas  anderes  öo/fiariKcog  zu  einem  Lehr- 
zweck zu  schreiben.  Bei  der  ersten  Art  sei  das  Wortgefecht 
gleichsam  ein  Voltigieren,  in  dem  man  dem  Gegner  antwortend 
bald  dies,  bald  jenes  aufstelle,  Beweisgründe  nach  Belieben 
vorbringe,  anderes  spreche  und  auf  etwas  anderes  hinarbeite, 
gleichsam  Brot  zeige  und  einen  Stein  zum  Wurf  bereit  halte. 
Auch  Origenes,  Methodius,  Eusebius  und  Apollinaris  hätten 
als  Polemiker  gegen  die  Heiden  Celsus  und  Porphyrius  sich 
bisweilen  genötigt  gesehen,  das  zu  sagen,  was  sie  selber 
nicht  für  wahr,  sondern  für  ihren  Zweck  für  notwendig 
hielten.  Auch  Paulus  mache  es  so,  daß  er  Zeugnisse  gegen 
die  Juden  und  andere  Ketzereien  aus  dem  alten  Testament 
anführe,  die  nur  gezwungen  zu  seinem  Siege  dienstbar  sind 
und  in  ihrem  ursprünglichen  Sinne  nicht  für  ihn  sprechen. 
Schamloser  ist  kaum  je  der  Satz,  daß  der  Zweck  das  Mittel 
heilige,  proklamiert  worden,  und  ein  gefährlicheres  Einge- 
ständnis konnte  Hieronymus  kaum  machen,  als  daß  die  christ- 
liche Polemik  an  diesem  Satze  orientiert  sei. 

Man  hatte  Hieronymus  beschuldigt,  daß  er  in  seiner  Ehe- 
verachtung geradezu  dem  Manichaeismus  huldige.  Er  stellte 
dem  entgegen,  da(^  er  sich  ausdrücklich  gegen  Marcion,  Tatian 
und  Mani  verwahrt  habe.  Wenn  er  im  Gleichnis  vom  vielerlei 
Acker  die  hundertfältige  Frucht  auf  die  Jungfrauen,  die  sechzig- 
fältige  auf  die  Witwen,  die  dreißigfältige  auf  die  Verehelichten 
bezogen  habe,  so  bemerkt  er,  daß  viele  Lateiner  und  Griechen 
die  Zahl  100  auf  die  Märtyrer,  die  Zahl  60  auf  die  Jungfrauen, 
die  Zahl  30  auf  die  Witwen  beziehen  und  so  die  Verheirateten 

')  Ep.  48,  12. 
2)  Ep.  48,  20. 


Wiederanknüpfling  mit  Rom.  167 

ganz  und  gar  von  dem  guten  Erdreich  ausschließen.  Da  sei 
er  doch  noch  viel  milder  in  bezug  auf  die  Ehe  gewesen.')  Er 
habe  doch  auch  die  Ehe  eine  Gabe  Gottes  genannt,  könne 
sie  also  unmöglich  verdammen.  Er  habe  die  zweite  und 
dritte  Ehe  erlaubt,  fordere  also  auch  nicht  zur  Auflösung 
der  Ehe  auf.  Er  hatte  gewiß  damit  im  formalen  Sinn  Recht, 
aber  der  fanatische  Haß  gegen  die  Ehe,  der  aus  jeder  Zeile 
seines  Buches  sprach,  ließ  sich  doch  nicht  ableugnen  und 
hatte  selbst  entschiedene  Verteidiger  der  asketischen  Ideale  ver- 
letzt. Pammachius  lebte  damals  noch  mit  Paulina,  der  Tochter 
der  Paula,  in  einer  auch  von  Hieronymus  als  musterhaft 
geschilderten  Ehe,  und  wenn  er  auch  bereits  für  die  Priester- 
weihe in  Aussicht  genommen  war,  so  besaß  er  doch  noch 
so  viel  Gefühl  für  die  maßlose  Überspannung  der  asketischen 
Forderungen  des  Hieronymus,  daß  er  die  ernste  Gefahr  er- 
kannte, die  der  christlichen  Ehe  dadurch  drohte.  Vielleicht 
fürchtete  er  auch,  daß  die  im  Abendland  für  das  Mönchtum 
sich  fortwährend  günstiger  gestaltende  Volksstimmung  wieder 
in  das  Gegenteil  umschlagen  würde.  Aber  alles  wohlgemeinte 
Drängen  seiner  Freunde  half  bei  Hieronymus  nicht  viel. 

Eigensinnig  verteidigte  Hieronymus  die  einzelnen  Stellen 
seiner  Streitschrift,  die  man  ihm  besonders  übelgenommen 
hatte.  Aus  1.  Cor.  7,  2  hatte  er  gefolgert,  daß,  wenn  es  gut 
sei,  kein  Weib  zu  berühren,  dann  sei  es  eben  böse,  ein 
Weib  zu  berühren.  Diese  Folgerung  will  er  aber  jetzt  so  ver- 
standen wissen,  wie  wenn  man  eine  Lampe  mit  einer  Fackel, 
eine  Fackel  mit  einem  Stern,  einen  Stern  mit  dem  Mond, 
den  Mond  mit  der  Sonne,  die  Sonne  mit  Christus  ver- 
gleiche; da  sei  auch  immer  das  Geringere  nichts  im  Vergleich 
mit  dem  Größeren.  Und  wenn  man  ihm  vorwerfe,  daß  er 
die  Jungfrauschaft  mit  dem  Weizen,  die  Ehe  mit  der  Gerste 
und  die  Hurerei  mit  dem  Viehdünger  in  Parallele  stelle,  so 
gehe  der  heilige  Ambrosius  noch  weiter,  der  in  seinem  Buch 
über  die  Witwen  den  Ehestand  mit  dem  Gerstenbrot,  die 
Jungfrauschaft  mit  dem  Leibe  Christi  vergleiche.  Plötzlich 
beruft  er  sich  hier  auf  die  Autorität  des  mailändischen  Bischofs, 

')  Ep.  48,  3. 


168  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

den  er  sonst')  immer  so  bösartig  und  heimtückisch  angegriffen 
hatte.  Jetzt  preist  er  ihn,  der  auch  in  seinen  drei  Büchern 
über  die  Virginität  die  Ehe  als  die  offenbarste  Dienstbarkeit 
geschildert  habe.')  Wohl  durfte  er  in  sachlicher  Beziehung 
Ambrosius  als  Eideshelfer  zitieren;  aber  wie  ernst  und  ruhig 
heben  sich  doch  die  Zitate  aus  den  Schriften  des  nie  würde- 
losen Ambrosius  —  und  Hieronymus  hatte  schon  die  stärksten 
Stellen  ausgewählt  —  von  dem  leidenschaftlichen  Fanatismus 
des  Hieronymus  ab. 

Die  Ausführungen  des  Hieronymus  über  die  Ausübung 
der  ehelichen  Gemeinschaft,  die  sich  mit  dem  Gebet  nicht 
vertrage,  hatte  man  als  hart  und  für  die  Verehelichten  als  ein- 
fach unerträglich  bezeichnet.  Man  hatte  ihm  die  römische 
Sitte,  wonach  die  Christen  den  Leib  des  Herrn  mit  nach 
Hause  nehmen  und  dort  täglich  kommunizieren,  entgegen- 
gehalten, aber  bei  diesem  für  die  Praxis  wichtigen  Punkt  machte 
Hieronymus  auch  nicht  die  geringste  Konzession.  Die  Ehe 
ist  für  diesen  Zölibatär  nun  einmal  so  unrein,  daß  er  es  für 
unmöglich  hält,  am  selben  Tage  nach  der  ehelichen  Gemein- 
schaft die  heilige  Kommunion  zu  empfangen.  Der  sonst  so 
Wandelbare,  in  diesem  Punkte  bleibt  er  fest.  Man  hatte  ihm 
weiter  vorgehalten,  daß  sein  Argument,  das  von  den  am  zweiten 
Schöpfungstage  fehlenden  Worten  hergenommen  war:  „Und 
Gott  sah,  daß  es  gut  war"  nicht  zu  Recht  bestände,  da  die 
lateinische  Bibel  es  enthalte.  Er  berief  sich  auf  den  hebräischen 
Text,  Aquila,  Symmachus  und  Theodotion  und  auf  eine  Reihe 
von  Kirchenvätern.  Zum  Schluß  gab  er  dann  nochmals  die 
feierliche  Erklärung  ab,  daß  er  die  Ehe  nicht  verdamme,  aber 
die  Virginität  bis  in  den  Himmel  erhebe.  Dann  fügt  er  noch  die 
persönliche  Konfession  hinzu,  daß  er  die  Jungfrauschaft  nicht 
deshalb  preise,  weil  er  sie  besitze,  sondern  weil  er  mehr  be- 
wundere, was  er  nicht  besitze.')  Diese  Konfession  erklärt  viel; 
eine  so  durch  und  durch  sinnliche  Natur  wie  Hieronymus  konnte 
nicht  an  die  Keuschheit  der  Ehe  glauben.  Wie  dem  Reinen 
alles  rein  ist,  so  wird  dein  Unreinen  alles  unrein.     Wer  einst  in 

')  s.  oben  S.  75. 
")  Ep.  48,  14. 
')  Ep.  48,  20. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  169 

den  Umarmungen  der  Dirnen  geschwelgt  hat,  wird  nach 
seiner  plötzlichen  Bekehrung  leicht  zu  einem  rücksichtslosen 
Herold  des  jungfräulichen  Lebens.  Und  hinzu  kommt,  daß 
die  Kirche  bei  der  furchtbaren  Verwilderung  des  Ehelebens 
in  der  Zeit  des  absterbenden  Römerreiches  nicht  die  Kraft 
besaß,  der  heidnischen  Wertung  der  Ehe  eine  christliche 
gegenüberzustellen,  sondern  fortwährend  die  Ehelosigkeit  pries. 
So  klingt  denn  die  Apologie  des  Hieronymus  in  einen  be- 
geisterten Lobpreis  der  Virginität  aus:  „Christus  war  jung- 
fräulich, die  Mutter  unseres  jungfräulichen  Herrn  war  eine 
beständige  Jungfrau,  Mutter  und  Jungfrau,  Jungfrau  auch  nach 
der  Geburt,  Mutter  schon  vor  der  Vermählung;  die  Anfänge 
derjungfrauschaft  sind  dadurch  für  beideOeschlechter geweiht."') 
Auf  die  Dauer  vermochte  auch  das  Abendland  diesem  Lock- 
ruf nicht  zu  widerstehen. 

Zunächst  hatte  Hieronymus  noch  mit  einer  starken  Anti- 
pathie gerade  in  den  Kreisen  zu  kämpfen,  wo  man  ihn  noch 
von  seinem  Aufenthalt  her  persönlich  kannte.  Bitter  beklagte 
er  sich  in  dem  Brief  an  seinen  Freund  Domnio  über  einen  von 
ihm  nicht  namentlich  genannten  Mönch,  der  seine  Bücher 
gegen  Jovinian  einer  vernichtenden  Kritik  unterzogen  hatte. 
Auch  dieser  Ungenannte  war  ein  Gegner  Jovinians  und  hatte 
sogar  bei  seiner  Verurteilung  mitgewirkt.")  Aber  ebenso  scharf 
hatte  er  auch  die  Art,  wie  Hieronymus  die  Ehe  behandelt  hatte, 
mißbilligt  und  sie  in  den  Kreisen  der  vornehmen  christlichen 
Frauen  für  ärgerlich  und  gefährlich  erklärt.  Ob  lediglich  persön- 
liche Motive,  wie  es  Hieronymus  darstellt,  dabei  ausschlag- 
gebend waren,  daß  er  in  ihm  den  unbequemen  Nebenbuhler 
verdächtigen  wollte,  läßt  sich  nicht  feststellen,  da  der  ganze 
Brief  des  Hieronymus  aus  nichts  als  einem  heftigen  Ge- 
schimpf  besteht.  Hieronymus  kannte  ihn  von  seinem  früheren 
Aufenthalt  in  Rom  her,  und  der  persönliche  Antagonismus 
muß  schon  damals  die  heftigsten  Formen  angenommen  haben: 
„Wie  oft  hat  mich  jener  Mensch  in  den  gesellschaftlichen 
Kreisen  zum  Zorn  gebracht    und   in  Heftigkeit  versetzt.     Wie 


»)  Ep.  48,  21. 
^)  Ep.  50,  2. 


170  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

oft  geiferte  er  heftig    und  ging  selbst  begeifert  von  dannen." 
Da  dieser  Mönch  sich  großen  Ansehens  und  Einflusses  gerade 
in    den    mönchischen  Kreisen    erfreute,    in  denen  einst  Hiero- 
nymus  als  Autorität  gegolten  hatte,  und  mit  denen  er  durch  seine 
Schrift    gegen  Jovinian   wieder   Fühlung  zu  gewinnen   suchte, 
so  wurde  er  um  so  gereizter  und  schob  in  seiner  beliebten  Weise 
dem  Verkehr  seines  Gegners  mit  den  Jungfrauen  und  Witwen 
allerlei  häßliche  Beweggründe  unter:  Ich  wundere  mich,  daß  er 
sich  nicht  schämt,  als  junger  und  beredter  Mönch,  von  dessen 
Munde  Liebeslieder  fließen,  und  dessen  Rede  so  voller  Eleganz 
ist,  daß  sie  wie  mit  Komikerwitz  und  Anmut  bestreut  erscheint, 
in   den  Häusern    der  Vornehmen   herumzugehen,    bei  Weiber- 
besuchen  hängen   zu  bleiben,    unseren  Mönchsstand    in   Miß- 
kredit  zu  bringen    und  dabei   seinen  Bruder    zu    verkleinern.') 
Nun,  viel  anders  hatte  es  Hieronymus,    als  er  in  Rom  weilte, 
auch  nicht  gemacht.     Aber  in  seiner  Erregung  vergißt  er  sich 
so  weit,    daß  er  plötzlich   das  Ungeheuer  Jovinian   gegen  den 
Gegner  im  eigenen  Lager   in  Schutz  nimmt:    „Selbst  Jovinian, 
der  ungebildete  Sudler,    wird   ihm   mit  vollem  Rechte  zurufen: 
Daß  mich  die  Bischöfe  verdammen,  geschieht  nicht  auf  Gründe 
hin,   sondern  ist  ein  abgekartetes  Spiel."     Hieronymus  möchte 
nun  gern  seinen  Gegner  zu  einer  schriftlichen  Äußerung  reizen, 
um  ihn  dann    mit  der  ganzen,    ihm  zur  Verfügung  stehenden 
Bosheit    zu    widerlegen    oder    ihn    lächerlich    zu   machen.     Er 
droht  ihm:  „Ich  kann  auch  wieder  beißen,   wenn  ich  will;    ich 
kann  auch,  wenn  ich  beleidigt  worden  bin,    mit  dem  Backen- 
zahn   einhauen."     Wir  glauben    ihm    dies  nach    den  zahlreich 
abgelegten  Proben    seiner  Polemik,    aber  wenn    er  dann    fort- 
fährt, daß  er  lieber  der  Schüler  dessen  sein  will,    der  da  sagt 
Jes.  50,  6:    Meinen  Rücken    habe   ich    für  Geißelhiebe    hinge- 
halten, mein  Angesicht  nicht  von  dem  Anspeien  weggewandt; 
„der,  wenn  er  geschmäht  ward,  nicht  wieder  schmähte",  so  hat 
er  diese  christliche  Demut  in  der  Praxis  selten  genug  bewährt. 
Seine  Nächstenliebe   hörte    in   dem  Augenblick    auf,    wo   man 
an  seiner  Person  oder  seinen  Werken  etwas  auszusetzen  fand. 
Ob  er  seiner  Sache  dadurch  genützt  hat,   daß   er  mit  schlecht 

')  Ep.  50,  3. 


Wiederankniipfmio  mit  Rom.  17t 

verhehlter  Verachtung  des  Geschwätzes  in  den  frommen  Damen- 
zirkehi  erklärte:  Sein  Gegner  solle  zu  der  Erkenntnis  kommen, 
daß  es  nicht  ebenso  leicht  sei,  mit  wohl  unterrichteten  Männern 
über  die  Lehren  des  göttlichen  Gesetzes  zu  disputieren,  als 
bei  den  Spindeln  und  Wollkörbchen  der  Mädchen.')  Mit  einem 
echt  hieronymianischen  Zynismus  schließt  dies  giftige  Produkt 
seiner  Feder:  „Ich  verdamme  nicht  die  Ehe,  ich  verdamme  das 
Heiraten  nicht.  Und  damit  er  meine  Gedanken  desto  gewisser 
festhalte,  sage  ich:  ich  will,  daß  alle,  welche  vielleicht  wegen 
der  nächtlichen  Schrecknisse  nicht  allein  schlafen  können,  sich 
Weiber  nehmen."  Wir  hören  nichts  weiter  über  diesen  Gegner 
des  Hieronymus,  jedenfalls  hat  er  sich  nicht  zu  einer  Gegen- 
schrift provozieren  lassen. 

In  Mailand  lebte  der  Streit  noch  einmal  auf.  Zwei  Mönche 
Sarmatio  und  Barbatian,  Angehörige  des  von  Ambrosius  ge- 
stifteten Klosters,  hatten  ihr  Kloster,  durch  Jovinian  veranlaßt, 
verlassen  und  wurden,  als  sie  dorthin  wieder  zurückkehren 
wollten,  von  Ambrosius  abgewiesen.  Sie  gingen  nun  nach 
Vercelli  und  sammelten  hier  Anhänger.  Ambrosius  schrieb 
deshalb  an  die  dortige  Gemeinde,  um  sie  vor  den  Häresien 
Jovinians,  die  die  beiden  Mönche  verbreiteten,  zu  warnen.  ) 
Auch  Augustin  schrieb  später  noch  die  Schrift  de  bono  con- 
jugali  mit  Rücksicht  auf  die  Häresie  Jovinians,  ohne  ihn  jedoch 
namentlich  zu  nennen,  ein  Zeichen,  wie  weit  sich  im  Abend- 
land die  Grundsätze  des  Ketzers  verbreitet  hatten.  Wie  lange 
Jovinian  gelebt  und  wo  er  gestorben  ist,  wissen  wir  nicht. 
Nur  aus  der  Schrift  des  Hieronymus  gegen  Vigilantius  erfahren 
wir,  daß  er  damals,  d.  h.  406,  bereits  gestorben  war.')  Über 
die  näheren  Umstände  seines  Todes  teilt  er  uns  aber  nichts 
mit.  Ein  vom  Jahre  412  datiertes  Edikt  des  Kaisers  Theodosius, 
das  Tillemont ')  auf  Jovinian  beziehen  und  dann  auf  das 
Jahr  389  zurückdatieren  wollte,  hat  mit  unserem  Jovinian  wohl 
nichts  zu  tun,  zumal  in  der  Urkunde  die  Überlieferung  des 
Namens  Jovianus  oder  Jovinianus  schwankt. 


')  Ep.  50,  5. 

^)  Ambrosii  ep.  83  ad  Vercellenses,  ed.  Ballerini  V,  554  ff. 

=*)  Adv.  Vigilantiiim  c.  1,  Vallarsi  II,  387. 

')  Memoires  X,  733  ff. 


172  Wiederankniipfung  mit  Rom. 

Besonders  glücklich  war  für  Hieronymus  seine  Anknüpfung 
mit  Rom  anläßlich  des  Jovinianischen  Streits  gerade  nicht  aus- 
gefallen. Er  hatte  noch  starke  Widerstände  zu  überwinden. 
Er  scheint  dies  selbst  gefühlt  zu  haben.  Mit  dem  Briefe  an 
Pammachius,  in  dem  er  seine  Schrift  gegen  Jovinian  ver- 
teidigte, sandte  er  ihm  seine  Übersetzung  der  16  Propheten- 
bücher aus  dem  Hebräischen  ins  Lateinische  und  teilte  ihm 
mit,  daß,  falls  er  an  dieser  Arbeit  Gefallen  finde,  er  ein  Exemplar 
seiner  Übersetzung  des  Hiob  aus  dem  Hebräischen  ins 
Lateinische  von  seiner  Freundin  Marcella  entleihen  könne.  Auch 
könne  er  von  dem  heiligen  Vater  Domnio  einige  der  Kom- 
mentare zu  den  Zwölfpropheten')  und  auch  zu  den  Büchern 
Samuels  und  der  Könige,  d.  h.  der  4  Bücher  der  Könige,  ent- 
leihen, die  er  diesem  geschickt  habe.)  Er  wollte  wohl  seinen 
römischen  Freunden  durch  die  Zusendung  seiner  Kommentare 
zeigen,  daß  er  nicht  nur  gereizte  Streitschriften,  sondern  auch 
ernste  wissenschaftliche  Werke  zu  verfassen  imstande  war, 
und  hoffte  so,  daß  durch  diese  Arbeiten  sein  Ruf  bei  ihnen 
wiederhergestellt  werden  würde. 


§  37. 

Die  Beziehungen  des  Hieronymus  zu  Rom  in  den 
neunziger  Jahren  des  4.  Jahrhunderts. 

Nach    seinem    Weggang    von    Rom    im    Jahre  385    hatte 
Hieronymus  zeitweilig  alle  alten  Beziehungen  zu  seinen  römischen 


'>  Vallarsi  vermutet  mit  Recht  ep.  49,  4,  Vallarsi  I,  233,  Anm.  b, 
daß  die  392  geschriebenen  Kommentare  zu  Nahum,  Micha,  Zephanja, 
Haggai  und  Habakuk  gemeint  sind. 

*)  Kommentare  zu  den  Büchern  Samuelis  und  der  Könige  sind  uns 
von  Hieronymus  nicht  erhalten,  man  müßte  sie  denn  in  den  Quaestionen  zu 
den  Büchern  der  Könige  und  Chronik  wiederfinden,  s.  oben  §  30,  S.  62. 
Da  diese  aber  vermutMch  nicht  von  Hieronymus  stammen,  so  müssen  die 
hier  erwähnten  Kommentare  als  verloren  gelten. 


Wiederanknüpfiing  mit  Rom.  173 

Freunden  und  Freundinnen  abgebrochen  oder  doch  nur  wenig 
gepflegt.  Er  hatte  sich  in  Bethlehem  während  der  ersten  Jahre 
seines  dortigen  Aufenthalts  in  die  wissenschaftliche  Arbeit  ge- 
stürzt, um  seine  römischen  Mißerfolge  und  den  römischen 
Klatsch  zu  vergessen.  Nach  dem  Streit  mit  Jovinian  wachte 
wieder  in  ihm  der  alte  Ehrgeiz  auf;  er  konnte  auf  die  Dauer 
für  sein  Leben  doch  nicht  die  Öffentlichkeit  entbehren,  er 
wollte  eine  Rolle  in  der  Welt  spielen.  So  wird  denn  seit  den 
Jovinianischen  Händeln  auch  die  Korrespondenz  mit  seinen 
römischen  Freunden  und  Freundinnen  wieder  rege.  Es  ist 
merkwürdig,  daß  uns  aus  dieser  Zeit  nur  ein  Brief  an  seine 
Freundin  Marcella  erhalten  ist.  Vielleicht  sind  aber  andere 
verloren  gegangen.  Man  darf  doch  nicht  aus  dieser  selteneren 
Korrespondenz  auf  eine  Abkühlung  seines  Verhältnisses  zu  der 
gelehrtesten  seiner  Freundinnen  schließen.  Man  müßte  dann 
annehmen,  daß  Paula  und  Eustochium  und  auch  Hieronymus 
es  der  Marcella  nachtrugen,  daß  sie  ihrer  herzlichen  und 
dringenden  Einladung,  ins  heilige  Land  zu  kommen,  nicht 
Folge  geleistet  hatte.  Aber  das  Epitaphium  des  Hieronymus 
auf  Marcella  läßt  doch  von  einer  solchen  Trübung  nichts 
merken,  und  wenn  auch  der  Briefwechsel  mit  ihr  seltener  wurde 
—  während  der  Origenistischen  Wirren  schrieb  er  wieder  an 
sie  und  Pammachius ')  —  so  beweisen  doch  die  Dedikationen 
einzelner  Kommentare  und  Übersetzungen  von  Büchern  des 
Alten  Testaments  aus  dem  Hebräischen,  daß  das  alte  Freund- 
schaftsverhältnis nach  wie  vor  weiter  bestand. 

Der  einzige  Brief  an  Marcella  aus  dieser  Zeit  ist  exegetischen 
Inhalts  und  beantwortet  fünf  exegetische  Fragen,  die  sie  ihm  ge- 
stellt hatte.')  KritischerScharfsinn  und  weiblicheNeugier  mischen 
sich  in  diesen  Fragen  der  Marcella  in  wunderbarer  Weise.  Die 
Fragen  sind  Hieronymus  sichtlich  unbequem,  und  er  weiß  nicht 
recht,  was  er  antworten  soll.  Die  erste  Frage  wünscht  den 
Widerspruch  gelöst  zu  sehen  zwischen  den  Worten  des  Apostels 
1.  Kor.  2,  Q:  „Was  kein  Auge  gesehen  hat  und  kein  Ohr  gehört 
und  in  das  Herz  keines  Menschen  gekommen  ist,  das  hat  Gott 


')  Ep.  97,  ad  Marcellam  et  Pammachium,  Vallarsi  I,  575. 
2)  Ep.  59,  ad  Marcellam,  Vallarsi  I,  325  ff. 


174  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

denen  bereitet,  welche  ihn  lieben"  und  1.  Kor.  2,  10:  „Uns 
aber  hat  es  Gott  durch  seinen  Geist  geoffenbart."  Hieronymus 
antwortet  ihr  darauf,  daß  man  nach  dem,  was  kein  Auge  ge- 
sehen und  kein  Ohr  gehört  hat  und  in  keines  Menschen  Herz 
gekommen  ist,  überhaupt  nicht  fragen  dürfe.  Dies  sei  der 
Zukunft  vorbehalten,  weil  es  alles  menschliche  Denken  über- 
steigt. Was  aber  den  Heiligen  durch  den  Geist  geoffenbart 
sei,  dies  sei  damit  noch  nicht  für  andere  geoffenbart,  da  Paulus 
z.  B.  im  Paradies  unaussprechliche  Worte  gehört  habe,  die  er 
anderen  nicht  mitteilen  durfte.  Die  zweite  Frage,  ob  unter 
den  Schafen  zur  Rechten  die  Christen  und  unter  den  Böcken 
zur  Linken  die  Heiden  zu  verstehen  seien,  wie  sie  seinen 
Werken  entnommen  habe,  oder  nicht  vielmehr  die  Guten  und 
Bösen,  erklärt  er  mit  Hinweis  auf  sein  zweites  Buch  an  Jovinian, 
wo  er  ausführlicher  davon  gehandelt  habe,  für  erledigt.  Die 
dritte  Frage  hat  zum  Inhalt,  ob  bei  der  Wiederkunft  des 
Herrn  die  Lebenden,  die  nach  L  Thess.  4  dem  Herrn  ent- 
gegengehen, ihm  in  ihren  irdischen  Leibern  entgegengehen 
und  also  vorher  nicht  sterben,  oder  ob,  da  unser  Herr  ge- 
storben ist  und  auch  Henoch  und  Elias  nach  der  Apokalypse 
des  Johannes  sterben  sollen,  es  keinen  Menschen  gibt,  der 
den  Tod  nicht  erst  kosten  muß,  ehe  er  aufersteht.  Hieronymus 
gibt  darauf  der  Marcella  die  Antwort,  daß  nach  dem  klaren 
Zusammenhang  des  Thessalonicherbriefes  die  Heiligen  bei  der 
Parusie  des  Erlösers  ihm  in  ihrem  irdischen  Leibe  entgegen- 
gerückt werden,  aber  so,  daß  dabei  die  Leiber  der  Lebendigen 
in  dieselbe  Substanz  verwandelt  werden,  in  der  die  Körper 
der  Toten  auferstehen.  Die  Frage  nach  dem  Erscheinen  des 
Elias  und  Henoch  beantwortet  er  überhaupt  nicht,  da  die 
Apokalypse  nach  seiner  Meinung  entweder  im  geistlichen 
Sinne  verstanden  werden  muß,  oder,  wenn  wir  dem  fleisch- 
lichen Sinne  folgen,  zu  albernen  jüdischen  Fabeleien  führt, 
daß  Jerusalem  dereinst  wieder  aufgebaut  und  die  Opfer 
wieder  im  Tempel  dargebracht  werden  sollen.  In  einer  vierten 
Frage  hatte  Marcella  Hieronymus  um  Auskunft  über  einen 
Widerspruch  in  der  Auferstehungsgeschichte  gebeten.  Nach 
Johannes  sagt  der  auferstandene  Herr  zu  Maria  Magdalena: 
„Rühre    mich    nicht    an;     denn    ich    bin    noch    nicht    hinauf- 


Wiederanknüpfuno  mit  Rom.  1  ib 

gestiegen  zu  meinem  Vater",  und  nach  Matthäus  berühren  die 
Weiber  die  Füße  des  Auferstandenen  und  fallen  vor  ihm 
nieder.  Hieronymus  hilft  sich  hier  damit,  daß  er  das  Wort 
Jesu  an  Maria  Magdalena  dahin  deutet:  Du  verdienst  nicht 
meine  Füße  zu  berühren  und  mich  als  Herrn  anzubeten,  weil 
du  noch  nicht  glaubst,  daß  ich  auferstanden  bin.  Für  dich 
bin  ich  noch  nicht  zum  Vater  aufgestiegen.  Die  Weiber  aber, 
welche  nach  Matthäus  seine  Füße  berühren,  bekennen  ihn  als 
Auferstandenen,  und  deshalb  dürfen  sie  ihn  auch  berühren. 
Die  letzte  fünfte  Frage  endlich  handelt  von  der  Ubiquität 
Christi.  Marcella  hatte  gefragt,  ob  der  Herr  nach  seiner  Auf- 
erstehung mit  seinen  Jüngern  vierzig  Tage  auf  Erden  gewandelt 
sei  und  niemals  anderswo  geweilt  habe,  oder  ob  er  verborgen 
zum  Himmel  hinauf-  und  wieder  herabgestiegen  sei  und  trotz- 
dem den  Aposteln  niemals  seine  Gegenwart  entzogen  habe. 
Hieronymus  setzt  nun  der  Marcella  die  Ubiquität  des  gött- 
lichen Logos  auseinander.  Schon  vor  der  Auferstehung  war 
er  im  Leibe  des  Herrn  und  gleichzeitig  beim  Vater.  „Es  ist 
töricht,  die  Macht  dessen,  den  der  Himmel  nicht  faßt,  in  einem 
kleinen  Körperchen  begrenzen  zu  wollen.  Der,  welcher  überall 
war,  war  auch  zugleich  ganz  im  Menschensohne;  denn  es  ist 
die  Eigenschaft  der  göttlichen  Natur,  überall  zu  sein  und  überall 
ganz  zu  sein.  Er  war  also  zu  gleicher  Zeit  bei  den  Aposteln 
vierzig  Tage  wie  bei  den  Engeln  und  dem  Vater  und  an  den 
äußersten  Enden  des  Meeres;  er  war  mit  Thomas  in  Indien, 
mit  Petrus  in  Rom,  mit  Paulus  in  lllyrien,  mit  Titus  in  Kreta, 
mit  Andreas  in  Achaja,  mit  allen  Aposteln  und  apostolischen 
Männern  an  allen  Enden  der  Welt." 

Die  Fragen  der  Marcella  und  die  Antworten  des  Hieronymus 
sind  vor  allem  deshalb  interessant,  weil  sie  den  Gegensatz 
zwischen  dem  naiven  und  massiven  Gemeindechristentum  mit 
seinen  Anthropomorphismen  und  den  Versuchen  einer  theo- 
logischen Spiritualisierung  der  christlichen  Vorstellungen  wieder- 
spiegeln. Während  zu  allen  Zeiten  die  eschatologischen  Fragen 
das  Interesse  frommer  Laien  besonders  in  Anspruch  nahmen, 
zeigte  Hieronymus  gerade  für  diese  Fragen  kein  sonderliches 
Interesse,  er  empfand  die  Unsicherheit,  hierüber  bestimmte 
Aussagen  machen  zu  können  und  ließ  sich  nur  ungern  darauf 


176  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

ein.  Das  enthusiastische  Zeitalter  der  Kirche,  das  ein  lebendiges 
Interesse  an  der  Eschatologie  gehabt  hatte,  war  bereits  vorüber. 
Nicht  mehr  die  Frage  nach  der  Wiederkunft  des  Herrn, 
sondern  die  Kirche  und  ihre  Herrschaft  auf  Erden  stand  im 
Mittelpunkt  seiner  theologischen  Gedanken. 

Viel  lieber  als  solche  eschatologischen  Fragen  legte 
Hieronymus  seinen  frommen  Schülerinnen  alttestamentliche 
Stellen  aus.  Hier  konnte  er  mit  seiner  Gelehrsamkeit  viel  aus- 
giebiger prunken,  und  dann  konnte  er  bei  der  allegorischen 
Auslegung  seiner  Phantasie  frei  die  Zügel  schießen  lassen. 
Der  jugendlichen  Freundin  der  Marcella,  Principia,  die  ihr  bis 
zu  ihrem  Tode  treu  zur  Seite  stand,  eignete  Hieronymus  eine 
solche  mystische  Auslegung  des  45.  Psalmes  zu. ')  In  der 
Vorrede  verteidigt  er  sich  gegen  die  Vorwürfe,  daß  er  lieber 
Frauen  seine  wissenschaftlichen  Arbeiten  widme  und  das 
gebrechliche  Geschlecht  den  Männern  vorziehe.')  Schon  in 
der  Vorrede  zum  Kommentar  des  Propheten  Zephanja  )  hatte 
er  sich  gegen  ähnliche  Angriffe,  wodurch  sein  schriftstellerisches 
Ehrgefühl  gekränkt  wurde,  wehren  müssen.  Er  wollte  nicht 
nur  Frauenseelsorger  sein;  ärgerlich,  fast  grob,  schreibt  er 
an  Principia:  „Wenn  die  Männer  nach  den  heiligen  Schriften 
fragten,  so  würde  ich  nicht  zu  Frauen  reden."  Aber  Hiero- 
nymus besaß  gerade  für  die  vornehmen  Frauen  eine  be- 
sondere Anziehungskraft,  und  diese  verkündeten  am  be- 
geistertsten seinen  Ruhm.  So  tröstet  er  sich  denn,  wie  in 
der  Vorrede  zum  Propheten  Zephanja,  mit  der  Aufzählung  all 
der  heiligen  Frauen  wie  Debora,  Hulda,  Maria  Magdalena, 
Sara,  Mirjam,  der  Königin  von  Saba,  Elisabeth  und  Priscilla, 
die  die  Männer  durch  Mut  und  Wißbegier  übertroffen  hätten. 
Den  45.  Psalm,  das  Brautlied  Christi  und  seiner  Braut,  der 
jungfräulichen  Kirche,  legte  er  der  Jungfrau  Principia  aus,  nicht 
ohne  in  die  Auslegung  des  öfteren  starke  Komplimente  für 
ihre  Jungfrauschaft  einzuflechten.  Sie  ist  die  Blume  Christi,') 
die  durch  die  Jungfrauschaft    das  Schwert  der  Keuschheit  be- 


^)  Ep.  65  ad  Principiam,  Vallarsi  1,  371  ff. 
*)  Ep.  65,  1,  Vallarsi  I,  372. 
3)  Vallarsi  Vi,  671,  s.  §  34. 
*)  Ep.  65,  2. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  177 

sitzt,  mit  dem  sie  die  Werke  des  Fleisches  tötet  und  die  Lüste 
überwindet,')  die  ihre  Glieder  auf  Erden  getötet  hat  und  täg- 
lich Christus  Myrrhen  darbringt.') 

Welche  Quellen  Hieronymus  für  sein  exegetisches  Send- 
schreiben benutzt  hat,  erfahren  wir  nicht.  Die  gelegentliche  An- 
führung exegetischer  Meinungen  anderer  beweist  eine  Kenntnis 
älterer  Exegeten.  )  Wahrscheinlich  hat  er  Origenes  und  Eusebius 
benutzt.')  Nach  seiner  Gewohnheit  stellt  Hieronymus  bei  der 
Auslegung  seine  Übersetzung  aus  dem  Hebräischen  neben  die 
LXX  und  macht  auf  die  Differenzen  beider  Übersetzungen 
aufmerksam;  aber  auch  Aquila,  Symmachus,  Theodotion,  die 
Quinta  und  Sexta  zieht  er  heran,*)  Was  den  Inhalt  seiner 
Auslegung  betrifft,  so  vereinerleit  die  allegorische  Exegese 
den  Schriftinhalt  derartig,  daß  Hieronymus  überall  seine 
Lieblingsgedanken  hinein-  und  herausliest.  Es  sind  im  Grunde 
nur  drei  religiöse  Begriffe,  mit  denen  er  immer  wieder  arbeitet, 
Christus,  Kirche,  Jungfrauschaft:  „Christus,  die  Jungfrau  aus 
der  Jungfrau,  welcher  nicht  aus  dem  Willen  eines  Mannes, 
sondern  aus  Gott  geboren  ist,  ist  der  Schönste  unter  den 
Menschenkindern.  Wenn  er  nicht  in  seinem  Angesicht  und 
seinen  Augen  etwas  Göttliches  gehabt  hätte,    so    wären    ihm 


')  Ep.  65,  10. 

-)  Ep.  65.  14. 

^)  Bereits  Vallarsi  I,  375,  Anin.  b,  hat  darauf  hingewiesen,  daß 
Hieronymus  die  Einteilung  des  45.  Psalmes  dem  Eusebius  entnommen  hat. 

*)  Auf  eine  Benutzung  des  Origenes  weist  das  Zitat  aus  3.  Esra  4,  59, 
ep.  65,  4,  Vallarsi  I,  374,  da  er  an  einer  anderen  Stelle  seiner  Schriften, 
Contra  Vigilantium  c.  6,  vom  3.  Buch  Esra  bemerkt,  daß  man  es  nicht 
nötig  habe  in  die  Hände  zu  nehmen,  weil  es  die  Kirche  verwerfe,  s. 
Sanders,  Etudes  sur  St.  Jerome,  Paris  1903,  S.  272. 

")  Ep.  65,  3;  ep.  65,  18;  ep.  65,  15  merkt  Hieronymus  an,  daß  nur 
der  Altlateiner  in  Ps.  45,  10  die  Worte  habe  „circumdata  varietate"; 
ep.  65,  19  notiert  er  eine  Variante  des  hebräischen  Textes  in  Ps.  45,  14: 
in  quibusdam  exemplaribus  invenitur  esebon,  quod  cogitationes  sonat; 
ep.  65,  14  bemerkt  er,  daß  in  Ps.  45,  9  das  griechische  Wort  ßägig  im 
Sinne  von  Haus  in  den  LXX  gemeint  sei,  vom  Altlateiner  aber  durch  ein 
Mißverständnis  mit  pro  gravibus  übersetzt  sei ;  ep.  65,  9  weist  er  darauf  hin, 
daß  in  Ps.  45,  S  im  Altlateiner  sich  das  Wort  unxit  finde,  das  in  den 
LXX  nur  durch  den  Irrtum  der  Abschreiber  ausgefallen  sei. 

G  riitzmach  er,    Hieronymus.    11.  12 


178  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

niemals  die  Apostel  sofort  gefolgt."')  Wie  dem  Augustin,  ist 
auch  ihm  Christus  das  Ideal  der  Schönheit.  Es  ist  die  über 
das  Heidentum  triumphierende  Kirche,  die  Christus  mit  der 
Glorie  der  Schönheit  geschmückt  und  sich  das  antike  Schön- 
heitsideal zu  eigen  gemacht  hat.  Während  Tertullian  der 
verfolgten  Kirche  das  Bild  Christi  nach  Jes.  53,  2  als  des  aller- 
verachtetsten  vor  Augen  gestellt  hatte,  dessen  Gestalt  kein 
Aussehen  und  keine  Schönheit  hatte,  will  Hieronymus  diese 
Stelle  nur  auf  den  Leidenden  bezogen  wissen.  Zur  Rechten 
Christi  aber  steht  die  auf  den  Fels  Christi  gegründete  katho- 
lische Kirche,  die  Taube,  die  mit  dem  Könige  Christus  regiert, 
ihre  Töchter  sind  die  Seelen  der  Gläubigen,  im  besonderen 
aber  die  Chöre  der  Jungfrauen.  Diesen  Jungfrauen,  welche 
der  Kirche  folgen,  kommt  der  erste  Platz  zu,  den  Freundinnen, 
die  sie  begleiten,  den  Witwen  und  den  in  der  Ehe  Enthaltsamen 
erst  der  zweite  Platz.')  Wenn  du,  o  Tochter  Principia,  mit 
dem  Chor  der  Heiligen  vereint  unter  den  Jungfrauen  zu  dem 
Könige  geführt  wirst  und  aus  elfenbeinernen  Häusern  den 
Bräutigam  ergötzen  wirst  in  deiner  Ehre,  dann  erinnere  dich 
meiner,  der  ich  dir  durch  Offenbarung  des  Herrn  das  Verständnis 
dieses  Psalms  erschlossen  habe  und  sprich:  ich  werde  ein- 
gedenk sein  deines  Namens.  Am  Schlüsse  seines  Schreibens 
stellt  er  ihr,  falls  er  am  Leben  bleibt,  einen  Kommentar  zum 
Hohenlied  in  Aussicht,  ein  Plan,  der,  wie  so  viele  andere  des 
Hieronymus,  nicht  ausgeführt  wurde.') 

Gegen  Ende  des  4.  Jahrhunderts  schlössen  sich  die  ältesten 
und  vornehmsten  Geschlechter  Roms  in  immer  zahlreicheren 
Gliedern  der  mönchischen  Erweckungsbewegung  an.  Der 
römische  Staat  alterte,  seine  höchsten  Ehren  und  Ämter  ent- 
werteten sich  immer  mehr,  sie  wurden  zu  leeren  Würden. 
Barbaren  und  aus  den  niedrigsten  Ständen  hervorgegangene 
Männer  wurden  die  Führer  des  Heeres:  „Was  ehemals  nur 
unter  Patriziern  sich  forterbte  und  nur  der  Adel  als  Vorrecht 
besaß,  das  nimmt  jetzt  der  Militärstand  für  sich  ganz  allein 
in  Anspruch,  und  frühere  Bauern  kleiden  sich  schon  seit  langem 


')  Ep.  65,  8,  Vallarsi  I,  377. 

')  Ep.  65,  20,  Vallarsi  I,  389. 

')  s.  Praef.  Comm.  in  Matth.  VII,  8. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  179 

in  die  strahlende  Toga  mit  der  goldgestickten  Palm^")  Während 
die  Macht  des  Staates  zusehends  abnahm,  wuchs  die  Macht 
der  christlichen  Kirche.  Die  römischen  Aristokraten,  die  sich 
so  lange  von  dieser  plebejischen  Gesellschaft  ferngehalten 
hatten,  konnten  jetzt  auch  in  der  Kirche  ihren  Ehrgeiz 
befriedigen.  „Geringes  geben  wir  auf  und  Großes  besitzen 
wir  dafür.  Hundertfach  verzinsen  sich  die  Verheißungen 
Christi",  so  konnte  Hieronymus  an  den  Senator  Pammachius 
schreiben,  als  dieser  Mönch  wurde. ')  Aus  dem  edlen  Geschlecht 
der  Fabier  wurde  Fabiola  Nonne,  und  Furia,  eine  Verwandte 
des  Pammachius.  aus  dem  ebenso  berühmten  Geschlecht  der 
Furier,  beschloß  nach  dem  Tode  ihres  Mannes  keine  zweite 
Ehe  mehr  einzugehen,  sondern  sich  der  keuschen  Witwen- 
schaft zu  weihen.  Während  seines  römischen  Aufenthalts 
hatte  Hieronymus  nur  verhältnismäßig  bescheidene  Erfolge 
erzielt,  jetzt  übte  er  von  Bethlehem  aus  den  größten  Einfluß 
auf  den  römischen  Hochadel  aus.  Hieronymus  gehörte  zu 
den  Menschen,  die  stärker  durch  Briefe  als  durch  ihre  Persön- 
lichkeit wirken.  Wer  ihn  persönlich  kennen  lernte,  wurde 
leicht  durch  sein  eitles  und  zänkisches  Wesen  abgestoßen. 

Hieronymus  war  überaus  glücklich,  als  sich  die  ihm 
persönlich  unbekannte')  Witwe  Furia  an  ihn  wandte:  „Es 
freut  sich  mein  Geist,  es  jubelt  mein  Inneres,  es  froh- 
lockt mein  Herz,  daß  du  nach  dem  Tode  deines  Mannes 
das  zu  sein  wünschest,  was  Titiana,  deine  Mutter  heiligen 
Angedenkens,  schon  lange  bei  Lebzeiten  ihres  Mannes  gewesen 
ist."  Furia  war  durch  die  engsten  verwandtschaftlichen 
Beziehungen  mit  den  vornehmsten  Gliedern  des  asketisch 
gesinnten  Kreises  verknüpft.  Sie  war  nicht  nur  mit  Pam- 
machius verwandt,  ihr  verstorbener  Bruder  war  auch  derGatte  der 
ältesten  Tochter  der  Paula,  Bläsilla,  gewesen. ')  Auch  ihre  ver- 
storbene Mutter  Titiana  muß  diesen  Kreisen  nahe  gestanden 
haben;  sie  hatte  eine  enthaltsame  Ehe  während  ihrer  letzten 
Lebensjahre  geführt    und   ihre  glühende  Liebe  zu  Christus  in 


»)  Ep.  .66,  7,  Vallarsi  I,  396. 

-)  Ep.  66,  7,  Vallarsi  I,  396. 

^)  Ep.  54,  3,  Vallarsi  I,  2S1 :  exceptis  epistolis  ignoramus  alterulrum. 

')  Ep.  54,  2,  Vallarsi  I,  2S0. 

12* 


180  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Fasten,  Almösengeben   und  Hilfeleistungen    gegen  die  Diener 
Gottes  bewiesen.')     Noch  jung    war  Furia  Witwe  geworden; 
ihr  Gatte  war  der  Sohn  eines  Konsularen  Probus -')  gewesen, 
und    ihre  Ehe    war,    wie    es    scheint,    keine    unglückliche    ge- 
wesen.    Hieronymus  übertreibt  wohl,  wenn  er  schreibt,  welche 
Drangsale  des  ehelichen  Standes  hast  du  nicht  in  demselben 
erfahren.  )     Aber  ein  anderes  Mal  sagt  er  dagegen,  wenn  dein 
Ehemann  auch  noch  so  liebenswürdig,   noch  so  gut  gewesen 
wäre,    der    Tod    hätte    doch    alles    geraubt.')      Kinderlos    war 
sie  zurückgeblieben    als  einzige  Erbin   des  großen  Vermögens 
ihres  Gatten    und  ihres  Vaters.     Ihr  Vater,    ein  Konsular  und 
Patrizier  namens  Laetus, ')   obwohl  Christ,  drängte  seine  noch 
jugendliche  Tochter   zur  Ehe.')     Er  wollte    einen  Stammhalter 
haben,    dem  er  sein  Vermögen    vererben  konnte.     Da  machte 
sich  die  asketische  Partei    an  die  junge  Witwe  heran  und  be- 
arbeitete sie   mit  allen  Mitteln,    um  die  adelige  Römerin  ihrem 
Kreise    anzugliedern    und    sich    ihre    Reichtümer    zu    sichern. 
Auch  Hieronymus  wurde  mobil  gemacht  und  sollte  durch  eine 
Epistel  mit  seiner  gewandten  Feder  die  Schwankende  gewinnen. 
Er  wußte  wohl,  dal^  er  damit  einen  gewaltigen  Sturm  der  Gegner 
der  Mönchspartei    heraufbeschwören   würde:    „Es   werden  die 
Vornehmen     gegen    meinen    Brief    sich    erheben,     die    ganze 
Patrizierschaar  wird  dagegen  donnern,  mich  als  Zauberer  und 
Verführer  ausschreien,    den   man   bis   an  die  äußersten  Enden 
der  Erde    verbannen    müsse".     Aber  in  Bethlehem   war  er  für 
ihre    Angriffe    unerreichbar,    hier    konnte    er    seinen    Mut    am 
Schreibtisch    beweisen.     Vorsichtig    behandelte   er    den   Vater, 
der  sich  dem  Entschlüsse  Furias  widersetzte:  „Ich  will  ja  doch 
gewiß  nicht  die  Tochter  vom  Vater  trennen";  aber  er  fügt  auch 
hinzu:  „Ehre  deinen  Vater,  aber  nur,  wenn  er  dich  vom  wahren 

')  Ep.  54,  6,  Vallarsi  I,  283. 

-')  Ep.  123,  18:  Furia,  F'robi  quondam  consulis  nurus,  Vallarsi  1,  910. 

')  Ep.  54,  4,  Vallarsi  I,  281. 

*)  Ep.  54,  6,  Vallarsi  1,  283. 

^)  Der  Name  Laetus  darf  vielleicht  aus  der  Äußerung  des  Hieronymus 
erschlossen  werden  ep.  54,  6;  Vallarsi  1,283:  pater  tuus,  quem  ego  honoris 
causa  nomino,  non  quia  consularis  et  patricius;  sed  quia  Christianus  est, 
impleat  nomen  suum.     Laetetur  filiam  genuisse  Christo,  non  saeculo. 

«)  Ep.  54,  6,  Vallarsi  1,  283. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  181 

Vater  nicht  lostrennt.  Die  Bande  der  Blutsverwandtschaft 
sollst  du  so  lange  anerkennen,  als  diese  ihren  Schöpfer  aner- 
kennt. ')  Der  Vater  wird  sich  betrüben,  aber  Christus  wird 
sich  freuen,  deine  Familie  wird  traurig  sein,  aber  die  Engel 
werden  dich  beglückwünschen;  du  gehörst  nicht  dem  an,  der 
dich  geboren,  sondern  dem,  der  dich  wiedergeboren  und  mit 
einem  hohen  Preis,  mit  seinem  Blute  wiedererkauft  hat."'^)  Aber 
Hieronymus  weiß  auch,  daß  Priester  und  Mönche  in  Rom  mit 
dem  Vater  und  der  Familie  im  Bunde  dem  Entschluß  der 
Furia,  sich  dem  Witwenstande  zu  weihen,  entgegenarbeiten. 
Noch  hatte  die  strenge  Mönchspartei,  deren  geistiger  Führer 
Hieronymus  auch  in  Bethlehem  blieb,  nicht  die  unumschränkte 
Herrschaft  in  Rom  erlangt.')  Er  zieht  deshalb  alle  Register, 
um  die  vornehme  Römerin  in  ihrem  Entschlüsse  zu  bestärken. 
Es  sind  kräftige  Sprüchlein,  die  sich  Hieronymus  hier  leistet. 
Er  warnt  sie  vor  der  zweiten  Ehe:  „Warum  willst  du  wieder 
aufnehmen,  was  dir  schädlich  war.  Der  Hund  frißt  wieder 
sein  Gespei  und  das  Schwein  wälzt  sich  wieder  im  Kote,') 
Das  vernunftlose  Vieh  und  die  frei  umherschweifenden  Vögel 
fallen  nicht  wieder  in  dieselben  Fußangeln  und  Netze."  )  Buße 
soll  sie  tun  für  ihre  Ehe.  Sie  trägt  die  Erinnerung  an  die 
genossene  Lustbefriedigung  in  sich,  sie  weiß  es,  was  sie  ver- 
loren hat,  und  woran  sie  sich  ergötzte.  Diese  brennenden 
Pfeile  des  Teufels  müssen  nun  mit  Fasten  und  Nachtwachen 
ausgelöscht  werden. °)  Die  Keuschheit  kann  sie  sich  aber  nur 
erhalten,  wenn  sie  alle  Speisen  meidet,  die  die  Lüsternheit 
wecken.  Schon  der  heidnische  Arzt  Galen  warnt  in  seiner 
Schrift  über  die  Gesundheit  die  Männer  und  Frauen  im  jugend- 
lichen Alter  vor  üppiger  Kost.  Der  alte  Fanatiker  der  Askese, 
Hieronymus,  scheut  vor  keiner  Schamlosigkeit  zurück:  „Nichts 
setzt  den  Leib  so  in  Flammen  und  reizt  die  Schamteile  wie 
unverdaute    Speisen    und    krampfhaftes    Aufstoßen.      Ich    will 


>)  Ep.  54,  9,  Vallarsi  I,  281. 

'')  Ep.  54,  4,  Vallarsi  I,  282. 

4  Ep.  54,  5,  Vallarsi  I,  283. 

*)  2.  Petr.  2,  22. 

^)  Ep.  54,  3,  Vallarsi  I,  281. 

'•)  Ep.  54,  7,  Vallarsi  1,  284. 


182  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

doch  lieber  bei  dir,  meine  Tochter,  bezüglich  der  Anständigkeit 
des  Ausdrucks  ein  wenig  Gefahr  laufen,  als  die  Sache  in 
Gefahr  bringen."  Neben  dem  Fasten  soll  sie  dem  Gebet  und 
der  Lektüre  der  heiligen  Schriften  obliegen.  Er  verweist  sie 
als  geistlicher  Berater,  dem  sie  sich  anvertrauen  kann,  auf  den 
heiligen  Exuperius.  Es  ist  derselbe  Mann,  der  uns  später  als 
Bischof  von  Toulouse  wieder  begegnet  und  mit  dem  Hiero- 
nymus  auch  später  noch  in  Verbindung  steht.')  Dann  folgen 
die  üblichen  Ermahnungen  zur  Wohltätigkeit,  die  Warnungen 
vor  dem  Umgang  mit  jungen  Männern,  in  den  Dienst  der 
christlichen  Liebestätigkeit  soll  sie  ihren  Reichtum  stellen: 
„Kaufe  Jungfrauen  los,  nimm  Witwen  auf.'")  Mit  raffinierter 
Kunst  stellt  er  ihr  alle  die  unangenehmen  Folgen  vor  Augen, 
die  eine  zweite  Heirat  mit  sich  bringen  kann.  In  der  Regel 
will  der  zweite  Mann  nur  ihr  Vermögen;  er  wird  das  Andenken 
an  den  ersten  Gatten  entehren,  und  wenn  er  bereits  verheiratet 
gewesen  ist  und  Kinder  hat,  die  er  in  die  Ehe  mitbringt,  so  wirst 
du  als  böse  Stiefmutter  verdächtigt  werden.  Alle  die  Nacht- 
bilder aus  den  verwüsteten  Ehen  in  diesem  Zeitalter  tiefster 
sittlicher  Decadence  führt  er  ihr  vor  die  Seele:  „Wenn  der 
Stiefsohn  krank  wird  und  der  Kopf  ihm  tut  weh,  so  wirst  du 
als  Giftmischerin  verschrieen."  Was  sind  dagegen  die  heiligen 
Witwen  Hanna,  die  Witwe  von  Sarepta,  Judith,  Noemi.  Und 
wirkungsvoll  preist  er  zum  Schluß  das  lebendige  Beispiel  seiner 
römischen  Freundin  Marcella,  die  nur  sieben  Monate  verheiratet 
gewesen  und  das  Muster  einer  christlichen  Witwe  sei.  „Denke 
täglich  an  den  Tod,  und  du  wirst  niemals  an  eine  zweite  Ehe 
mehr  denken."  Was  in  seinen  Kräften  stand,  hatte  Hieronymus 
getan,  und  er  konnte  sich  schmeicheln,  wieder  eine  vornehme 
Römerin  dem  Rachen  des  Satan  entrissen  und  in  die  sichere 
Scheuer  der  asketischen  Heiligen  gesammelt  zu  haben.') 

')  Ep.  123,  c.  16  ad  Ageriichiam;  Praef.  zum  Kommentar  des  Saciiarja. 
Die  Möglichkeit,  daß  Furia  etwa  in  Gallien  und  nicht  in  Rom  zu  suchen 
sei,  besteht  nicht  (gegen  Zöckler,  S.  222,  Anm.  2),  da  Rom  deutlich  als 
ihr  Aufenthaltsort  bezeichnet  ist,  ep.  54,  18  und  ep.  54,  13. 

^)  Ep.  54,  14,  Vallarsi  1,  289. 

')  Aus  ep.  123,  18,  Vallarsi  I,  910  können  wir  entnehmen,  daß  Furia 
Witwe  blieb. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  183 

Während  wir  aber  später  von  Furia  nichts  mehr  hören, 
trat  Fabiola  in  noch  innigere  Beziehungen  zu  Hieronymus  und 
kam  sogar  zum  Besuch  nach  Bethlehem,  Sie  muß  erst  einige 
Jahre  nach  seinem  Weggang  von  Rom  den  Entschluß  gefaßt 
haben,  Nonne  zu  werden,  da  wir  in  seiner  römischen  Zeit 
noch  nichts  von  ihr  hörten.  So  begann  der  Same,  den 
Hieronymus  einst  ausgestreut  hatte,  jetzt  seine  Früchte  zu 
tragen.  Ein  bewegtes  Leben  lag  bereits  hinter  Fabiola.  Sie 
war,  wie  Hieronymus  sagt,  unter  die  Räuber  gefallen,  aber 
auf  Christi  Schultern  heimgetragen  worden.  Wo  die  Sünde 
überflüssig  geworden  war,  war  die  Gnade  noch  überflüssiger 
geworden.  Es  bewährte  sich  an  ihr  das  Schriftwort,  daß, 
wem  mehr  verziehen,  mehr  liebt.')  Hieronymus  ist  nicht  blind 
für  die  Gefahren  solcher  plötzlichen  Bekehrungen.  Leicht 
konnte  an  die  Stelle  des  früheren  Kokettierens  mit  seidenen 
Kleidern,  Gold  und  Edelsteinen  ein  Kokettieren  mit  Bußkleidern 
treten :  Nach  Wegwerfung  der  ersteren  tun  wir  uns  bisweilen 
auf  unsere  ruhmbringenden  Bußkleider  etwas  zugute  und 
erkaufen  uns  mit  unserer  Armut  die  Volksgunst.')  Eine  ge- 
borene Herrscherklasse,  wie  der  römische  Hochadel,  wußte 
die  Sympathien  der  Plebs,  die  er  früher  durch  seinen  Luxus 
an  sich  gefesselt  hatte,  jetzt  durch  heroische  Wohltätigkeit 
zu  erwerben.  Die  Türen,  welche  früher  Schwärme  von  Visiten- 
machern ausgespieen  hatten,  sind  jetzt  von  Elenden  belagert.^) 
Es  steckte  in  diesen  Römern  und  Römerinnen  trotz  aller 
Decadence  eine  nicht  gering  einzuschätzende  Energie,  und  sie 
äußerte  sich  jetzt  in  dem  schroffen  Bruch  mit  dem  früheren 
Sinnenleben,  das  sie  geführt  hatten.  Fabiola  war  in  erster 
Ehe  mit  einem  Wollüstling  verheiratet  gewesen,  dessen 
Laster  nicht  einmal  eine  Dirne  oder  Sklavin  ertragen  konnte. 
Sie  hatte  sich  von  diesem  widerlichen  Lump  nach  den 
römischen  Gesetzen  scheiden  lassen:  „Anders  sind  freilich 
die  Gesetze  der  Kaiser,  anders  das  Gesetz  Christi,  etwas 
anderes  schreibt  Papinian,  etwas  anderes  Paulus  vor.'")     Ent- 


')  Ep.  77,  12,  Vallarsi  I,  463. 
-)  Ep.  77,  2,  Vallarsi  I,  454. 
^)  Ep.  66,  5,  Vallarsi  I,  394. 
*)  Ep.  77,  3,  Vallarsi  I,  455. 


184  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

gegen  den  kirchlichen  Gesetzen  war  sie  nicht  unverheiratet 
geblieben,  sondern  hatte  noch  zu  Lebzeiten  des  ersten  Mannes 
einen  Mann  geheiratet,  mit  dem  sie  in  glücklicher  Ehe  lebte. 
Dann  war  ihr  zweiter  Mann  gestorben,  und  nun  tat  sie  einen 
Schritt,  der  so  recht  geeignet  war,  den  weitesten  Kreisen 
Bewunderung  abzunötigen.  Am  Tage  vor  dem  Osterfest,  mit 
dem  Bußsack  bekleidet,  erschien  sie  in  der  Lateranbasilika  und 
tat  öffentlich  —  es  war  dies  schon  damals  nicht  mehr  die 
Sitte  der  Kirche  —  Buße  vor  dem  römischen  Bischof,  den 
Priestern  und  dem  ganzen  Volke,  in  der  ihm  eigenen  plastisch- 
rhetorischen Weise  beschreibt  uns  Hieronymus  den  Eindruck, 
den  die  edle  Römerin  auf  das  Volk  machte,  als  sie  mit  auf- 
gelöstem Haar,  traurigem  Antlitz,  bußfertigen  Händen  und 
demütigem  Nacken  in  der  Kirche  erschien.')  Das  durch  solchen 
Heroismus  leicht  gerührte  Volk  weinte  mit  ihr.  Nachdem  sie 
feierlich  vor  den  Augen  der  ganzen  Kirche  in  die  Kirchen- 
gemeinschaft aufgenommen  worden  war,  begann  sie  nun  ihren 
unermeßlichen  Reichtum  ganz  in  den  Dienst  der  Armen  und 
Kranken  zu  stellen.  Sie  errichtete  ein  großartiges  Krankenhaus 
in  Rom  und  scheute  sich  nicht,  selbst  Hand  anzulegen  bei  der 
Pflege  der  Kranken:  Wie  oft  hat  sie  von  Aussatz  und  Gestank 
ganz  strotzende  Kranke  auf  ihren  eigenen  Schultern  selbst  ins 
Krankenhaus  getragen,  wie  oft  den  schmierigen  Eiter  der 
Wunden  ausgewaschen,  den  manche  andere  kaum  anblicken 
konnten.  Sie  reichte  ihnen  die  SiDcise  mit  eigener  Hand  und 
erquickte  ihren  kaum  noch  lebendigen  Leib  mit  belebenden 
Tränken.')  Eine  solche  Wollust  der  Askese,  die  der  verzärtelten 
Römerin  die  Kraft  gab,  ihren  Ekel  zu  überwinden,  mußte  einer 
verkommenen  Gesellschaft  imponieren.  Priester,  Mönche  und 
Jungfrauen  unterstützte  sie  in  freigebigster  Weise,  und  weit  über 
die  Grenzen  Roms  sandte  sie  den  italienischen  Mönchs- 
genossenschaften reiche  Spenden  zu.  Ihr  ruheloser  Eifer  ließ 
sie  auch  eine  Wallfahrt  nach  Jerusalem  unternehmen.  Hier 
weilte  sie  im  Pilgerhaus  des  Klosters  der  Paula,  und  hier  lernte 
sie    Hieronymus    persönlich    kennen.      Mit    glühendem    Eifer 


')  Ep.  77,  4,  Vallarsi  I,  456. 
-)  Ep.  77,  6,  Vallarsi  I,  45S. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  185 

forschte  sie  in  der  Schrift  und  bestürmte  Hieronymus  in  den 
Bibelstunden  des  Klosters  mit  allerlei  Fragen:  „Aber  sie  tat  sich 
in  ihrer  Lernbegierde  nie  genug,  sondern  je  mehr  sie  in  der 
Erkenntnis  zunahm,  desto  mehr  vermehrte  sich  bei  ihr  der 
schmerzliche  Hunger,  und  als  ob  sie  Öl  ins  Feuer  gösse,  ver- 
größerte sich  ihr  heiliger  Liebeseifer."')  Fabiola  hatte  sogar  die 
Absicht,  sich  dauernd  im  heiligen  Lande  niederzulassen,  aber  der 
Hunneneinfall  im  Jahre  3Q5  —  der  Praefectus  praetorio  Ruffinus 
hatte  die  Hunnen,  um  sich  in  seiner  Macht  zu  erhalten,  herbei- 
gerufen, war  aber  von  dem  Goten  Gainas  getötet  worden  —  ver- 
trieb Fabiola  von  den  heiligen  Stätten.)  Da  Kaiser  Theodosius  im 
Krieg  mit  Arbogast  alle  verfügbaren  Legionen  des  Orients  nach 
Italien  geführt  hatte,  war  der  Orient  den  wilden  Schwärmen 
des  raschen  Reitervolkes  fast  wehrlos  ausgeliefert.  Welches 
Entsetzen  sie  erregten,  prägt  sich  in  dem  einen  Wort  des 
Hieronymus  aus:  Möge  Jesus  solche  Völker  vom  römischen 
Reiche  fernhalten,  die  schlimmer  als  Bestien  sind.  Hieronymus 
und  Paula  waren  mit  ihren  Mönchen  und  Nonnen  ans  Meer 
geflohen  und  hatten  dort  eine  Zeit  lang  am  Meeresstrande  ihre 
Wohnung  aufgeschlagen,  immer  Schiffe  bereithaltend,  um  bei 
herannahender  Gefahr  sogleich  zur  See  gehen  zu  können. 
Fabiola  hatte  es  bei  der  Unsicherheit  aller  Verhältnisse  vor- 
gezogen, nach  Rom  zurückzukehren.  Herzlich  gern  hätte 
Hieronymus  die  reiche,  ihm  so  ergebene  Römerin  in  Bethlehem 
zurückgehalten,  zumal  da  die  finanzielle  Lage  der  Klöster  bedenk- 
lich zu  werden  anfing,  weil  die  Mittel  der  Paula  versiegten. 
Noch  in  dem  Nekrolog  der  Fabiola  schreibt  er:  „Wir  bedauern 
dabei  nur,  daß  wir  diesen  höchst  kostbaren  Schmuck  für  die 
heiligen  Stätten  verloren  haben.  Rom  empfing  zurück,  was  es 
verloren,  und  das  voreilige  böse  Gerede  der  Heiden  ist  durch 
eigenen  Augenschein  widerlegt."  ^)  Man  hatte  in  Rom  Hiero- 
nymus gewiß  nicht  mit  Unrecht  in  Verdacht  gehabt,  daß  er 
die  reiche  Römerin  ebenso  wie  Paula  für  seine  Klöster  gewinnen 
wollte.  Fabiola  hatte  aber  gewiß  nicht  nur  wegen  der  Hunnen- 
gefahr Bethlehem    den  Rücken    gekehrt,    sondern    der    damals 

')  Ep.  77,  7,  Vallarsi  I,  459. 

2)  Philostorgius,  bist.  eccl.  XI,  3;  Claudian  in  Ruff.  lib.  11,  400. 

3)  Ep.  77,  9,  Vallarsi  1,  461. 


186  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

beginnende  Zank  und  die  Reibereien  des  Hieronymus  mit  dem 
Bischof  Johannes  von  Jerusalem  hatten  sie  verstimmt.  Hiero- 
nymus deutet  dies  nur  zart  an:  „Es  herrschte  damals  unter 
uns  eine  gewisse  Uneinigkeit,  und  die  häuslichen  Kriege  waren 
wohl  schlimmer  als  die  Kämpfe  mit  den  Barbaren." 

Nach  ihrer  Heimkehr  nach  Rom  blieb  sie  aber  mit 
Hieronymus  im  brieflichen  Verkehr.  Sie  hatte  ihn  gebeten, 
ihr  über  das  Priestertum  des  Aaron  und  über  die  priesterliche 
Kleidung  zu  schreiben,')  und  er  kam  diesem  Wunsch  nach 
und  tat  noch  ein  übriges,  indem  er  in  dem  exegetischen 
Sendschreiben  auch  von  den  Opfern,  den  Speisen  der  Priester 
und  den  Gefäßen  der  Stiftshütte  handelte.  Durch  allegorische 
Erklärung  verstand  es  Hieronymus,  den  trockenen  statutarischen 
Bestimmungen  des  Leviticus  und  Exodus  einen  wunderbaren 
erbaulichen  Tiefsinn  zu  entlocken.  Wenn  z.  B.  verordnet  wird, 
daß  die  Priester  die  Brust  und  die  Arme  des  Opferstieres 
erhalten  sollen,  so  bedeutet  die  Brust  reine  Gedanken  und  die 
Arme  gute  Werke.  Wenn  der  Priester  keine  körperlichen 
Fehler  haben  darf,  so  sind  damit  die  Laster  der  Seele  gemeint, 
die  er  fliehen  muß.')  Dann  gibt  er  seiner  Freundin  eine 
allegorische  Erklärung  der  Stiftshütte  mit  den  heiligen  Geräten. 
Die  ganze  Welt  wird  unter  dem  Geheimnis  der  Stiftshütte 
beschrieben.')  Vorhof  und  Heiliges  stehen  allen  offen,  es 
bedeutet,  daß  Erde  und  Wasser  allen  Sterblichen  gegeben  sind; 
das  Allerheiligste  bedeutet  den  Himmel,  in  den  nur  wenige 
eintreten  dürfen. 

Erst  nach  dieser  langen  Einleitung  wendet  er  sich  der 
ihm  gestellten  Aufgabe,  die  priesterliche  Kleidung  zu  er- 
klären, zu.  Hier  erörtert  er  zunächst  den  Wortsinn  nach 
der  jüdischen  Auslegung.  Vier  Kleidungsstücke  tragen  alle 
Priester:  die  Binde  um  die  Oberschenkel,  die  leinene  Tunika, 
den  Gürtel  und  die  Mütze.  Um  Fabiola  ein  deutliches  Bild 
der  jüdischen  Priesterkleidung  zu  geben,  zieht  er  Josephus  bei 
und  weist  für  die  eigentümliche  Kopfbedeckung  der  Priester 
auf  die  Kappe  des  Odysseus,  mit  der  dieser  auf  den  Gemälden 

')  Ep.  64,  8,  Vallarsi  I,  357. 
0  Ep.  64,  2,  Vallarsi  I,  354. 
^)  Ep.  64,  9,  Vallarsi  i,  358. 


Wiederankniipfung  mit  Rom.  187 

dargestellt  zu  werden  pflegt.  Dann  behandelt  er  die  vier 
Kleidungsstücke,  die  nur  der  Hohepriester  tragen  durfte:  die 
Mail,  ein  talarartiges  Gewand,  das  Ephod,  das  mit  zwei  Steinen 
auf  jeder  Schulter  befestigt  war,  worüber  er  bereits  früher  in 
einem  Brief  an  Marcella  ausführlich  gehandelt  hatte,')  das  Brust- 
schild (rationale)  mit  zwölf  Edelsteinen  von  wunderbarer  Größe, 
und  endlich  die  goldene  Stirnbinde,  auf  der  sich  der  hebräische 
Gottesname,  das  Tetragrammaton,  befindet.  Nachdem  er  der 
Fabiola  zunächst  im  Anschluß  an  seine  jüdischen  Autoritäten 
Stück  für  Stück  der  priesterlichen  Kleidung  erklärt  hat,  beginnt 
er  die  Segel  des  geistlichen  Verständnisses  auszuspannen.') 
Hier  erfahren  nun  alle  Einzelheiten  der  priesterlichen  und 
hohepriesterlichen  Kleidung  ihre  allegorische  Ausdeutung,  oft 
gibt  er  auch  mehrere  allegorische  Deutungen.  So  können 
z.  B.  die  beiden  Steine,  an  denen  das  Ephod  befestigt  ist,  auf 
Christus  und  die  Kirche  oder  auf  Buchstabe  und  Geist,  wobei 
dann  der  rechte  Stein  den  Geist,  der  linke  den  Buchstaben 
bezeichnet,  gedeutet  werden.  Für  die  zwölf  Steine  des  hohe- 
priesterlichen Schildes  verweist  er  Fabiola  auf  das  aus- 
gezeichnete Werk  des  Bischofs  Epiphanius  jTi:ol  rör  öcoöena 
Äiöo)}'.  dem  er  schon  vorher  nach  seiner  beliebten  Art  einen  Satz 
wörtlich  entlehnt  hatte,  um  mit  Kenntnissen  zu  prunken,  die 
er  nicht  besaß.)  Den  Schluß  des  exegetischen  Sendschreibens  — 
wo  dürfte  dies  in  einem  Briefe  des  Hieronymus  fehlen  -  bildet 
ein  Hymnus  auf  die  Keuschheit  und  ein  Appell  an  Fabiola,  sich 
ihr  zu  weihen.  Den  Anlaß  dazu  entnimmt  er  dem  Fehlen  der 
feminalia  unter  den  priesterlichen  Kleidungsstücken  im  Leviticus, 
Damit  will  Moses  die  Keuschheit,  denn  dies  bedeuten  die 
feminalia,  nicht  zum  Gebot  machen,  sondern  als  freiwillige 
Leistung  des  einzelnen  anstellen.  In  einer  Nacht,  als  schon  das 
Tau  des  Schiffes  vom  Strande  gelöst  worden  war  und  die  Schiffer 


')  Ep.  39,    Vallarsi  I,   137  ff.,    de  Ephod  et  Theraphim   s.  Bd.  I,  233. 

-')  Ep.  64,  19,  Vallarsi  I,  364. 

ä)  Bereits  Vallarsi  I,  363,  Anm.  b,  hat  darauf  hingewiesen,  daß 
Hieronymus  einen  Satz  ep.  64,  17  über  den  Edelstein  Ligurius  wörtlich 
aus  Epiphanius  abgeschrieben  hat,  ohne  auch  nur  seine  Quelle  anzudeuten : 
Scrutans  eos,  qui  de  lapidum  atque  gemmarum  scripsere  naturis,  liguriuni 
invenire  non  potui. 


188  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

zur  Abfahrt  riefen,  will  er  in  aller  Eile  das  Schreiben  aus  dem, 
was  er  im  Gedächtnis  hatte,  diktiert  haben.  Dies  ist  natürlich 
pure  Aufschneiderei,  die  nur  dazu  dienen  soll,  um  der  Fabiola 
noch  mehr  zu  imponieren,  wenn  er  diese  Arbeit  als  improvi- 
sierte hinstellte.  Mit  einem  von  Demut  triefenden  Schlußwort, 
das  gewiß  nicht  zu  ernst  zu  nehmen  ist,  bittet  er  Fabiola, 
falls  sie  in  der  großen  Stadt  Rom  ein  Buch,  das  Tertullian 
über  die  Kleider  Aarons  geschrieben  haben  soll,  er  aber  nicht 
besitze,')  in  die  Hände  bekäme,  doch  nicht  seinen  Tropfen 
mit  jenem  Strome  zu  vergleichen.  Vielleicht  mit  einer  nicht  voli- 
bewußten  Selbsterkenntnis  schätzt  er  seine  Leistungen  durch- 
aus zutreffend  ein,  wenn  er  schreibt:  Ich  bin  nicht  nach  dem 
Genie  großer  Männer,  sondern  nach  meinen  Kräften  zu 
beurteilen.  Hieronymus  hatte  mit  seinem  Briefe  die  Absicht 
verfolgt,  Fabiola  wenn  möglich  zur  Rückkehr  nach  Bethlehem 
zu  bewegen.  „Du  genießest  die  erwünschte  Ruhe,  aber  in 
Babylon  seufzest  du  vielleicht  nach  den  bethlehemitischen  Fluren. 
Wir  in  Ephrata,  nachdem  endlich  der  Friede  wiederhergestellt 
ist,  hören  das  in  der  Krippe  wimmernde  Kind  und  wünschen, 
daß  seine  Klagen  und  Laute  an  dein  Ohr  dringen.'")  Aber 
Fabiola  folgte  diesem  Lockruf  nicht;  sie  hatte  sich  mit 
Pammachius  zu  großartiger  gemeinsamer  Wirksamkeit  im  Dienst 
der  christlichen  Liebestätigkeit  in  Rom  zusammengetan. 

[^ammachius  hatte  395  seine  Gattin  Paulina,  die  zweite 
Tochter  der  Paula,  verloren.  Er  hatte  in  glücklicher,  aber 
kinderloser  Ehe  mit  seiner  Gattin,  von  deren  Charakter  wir 
aus  dem  Nekrolog  des  Hieronymus  nur  ein  blasses  Bild 
gewinnen,')  gelebt.  Schon  im  Streit  mit  Jovinian  hatte  der 
Schwiegersohn  der  Paula  die  Sache  der  Mönchspartei  geführt; 
nach  dem  Tode  seiner  Gattin  hatte  Pammachius,  der,  ein 
Urenkel  von  Konsuln,  dem  edlen  Geschlechte  der  Furier 
angehörte,  das  Purpurgewand  der  Senatoren  mit  der  dunklen 
Tunika  der  Mönche  vertauscht.  Hieronymus  weiß  diese  bedeut- 
same Hinwendung  eines  so  angesehenen  und  beredten  Mannes 


')  s.  über  die  für  uns  vollständig  verlorene  und  nur  dem  Titel  nach 
bekannte  Schrift  Harnack,  Altchristliche  Literaturgeschichte  II,  672. 
*)  Ep.  64,  8,  Vallarsi  I,  358. 
»)  Ep.  66,  Vallarsi  I,  3Q1  ff. 


Wiederankniipfung  mit  Rom.  189 

zur  Sache  des  Mönchtums  nicht  genug  zu  preisen.  Das  Beispiel 
des  Pammachius  war  auch  nicht  wiri<ungslos  geblieben;  bereits 
in  dem  3Q7  geschriebenen  Nekrolog  der  Paulina  kann  es  Hiero- 
nymus  triumphierend  der  Welt  verkünden:  „In  unseren  Tagen 
besitzt  Rom,  was  die  Welt  vordem  noch  nicht  gesehen  hat. 
Damals  waren  die  Weisen,  die  Mächtigen,  die  Adligen  unter  den 
Christen  selten;  jetzt  gibt  es  viele  Mönche,  welche  reich,  von 
angesehenem  und  adligem  Geschlecht  sind."  Nach  dem  Tode 
seiner  Gattin  hatte  Pammachius  sein  großes  Vermögen  ganz 
den  Werken  der  Armen-  und  Krankenpflege  geweiht:  Andere 
Ehemänner  streuen  Veilchen,  Rosen,  Lilien  und  Purpurblüten 
auf  die  Gräber  ihrer  Gattinnen  und  trösten  sich  in  dem 
Schmerze  ihrer  Brust  mit  solchen  Aufmerksamkeiten.  Unser 
Pammachius  befeuchtet  die  heilige  Asche  und  die  ehrwürdigen 
Gebeine  mit  dem  Balsam  der  Almosen."^)  Mit  Fabiola 
zusammen  errichtete  Pammachius  im  römischen  Hafen  ein 
Pilgerhaus:-)  Es  wetteiferten  miteinander  dieser  Mann  und 
diese  Frau,  wer  im  römischen  Hafen  Abrahams  Zelle  auf- 
schlagen würde,  und  es  erhob  sich  unter  beiden  ein  Streit, 
welcher  den  andern  an  Nächstenliebe  übertreffen  würde.  Es 
siegten  aber  beide  und  wurden  besiegt.  Beide  bekennen  sich 
als  Sieger  und  besiegt,  da,  was  einer  wollte,  beide  voll- 
brachten. Mit  gemeinsamen  Mitteln  errichteten  sie  eine 
Herberge.  Die  römischen  Reisenden,  die  eine  Seereise  unter- 
nahmen, fanden  dort  zuvor  Erquickung,  und  aus  allen  Teilen 
der  Welt  stiegen  Arme  und  Reiche  dort  ab.  In  demselben 
Sommer  lernte  Britannien  kennen,  was  der  Ägypter  und  Parther 
bereits  im  Frühjahr  kennen  gelernt  hatte. ')  In  einer  Beziehung 
blieb  aber  Pammachius  trotz  seines  Mönchtums  Aristokrat; 
während  Fabiola  selbst  mit  Hand  anlegte,  stellte  Pammachius 
sein  Vermögen,  aber  nicht  seine  Person  in  den  Dienst  der 
christlichen  Liebestätigkeit,  so  daß  Hieronymus  ihn  ermahnte: 
„Ich  bitte  dich,  geliebtester  Bruder,  mit  der  ganzen  Innigkeit 
meiner  Liebe,  nicht  bloß  dein  Vermögen,  sondern  auch  dich 
selbst  Christo    zum  Opfer    darzubringen.     Wenn    wir    unsere 

')  Ep.  66,  5,  Vallarsi  I,  394. 

2)  Ep.  66,  11,  Vallarsi  I,  399;  ep.  77,  10,  Vallarsi  I,  461. 

3)  Ep.  77,  10,  Vallarsi  I,  461. 


190  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Schätze  zugleich  mit  unserer  Seele  Christi  zum  Opfer  bringen, 
so  wird  er  sie  wohlgefällig  und  freudig  annehmen.  Wenn 
wir  aber  bloß  das  Äußerliche  Gott,  das  Innere  aber  dem  Teufel 
geben,  so  ist  das  keine  gerechte  Teilung,  und  es  trifft  uns  das 
Wort:  Hast  du  nicht  gesündigt,  weil  du  recht  opferst,  aber 
nicht  recht  teilest?"^) 

Fabiola  starb  bereits  399,  ehe  die  Wogen  des  Origenistischen 
Streits  in  Rom  hoch  zu  gehen  begannen.  Ihr  Leichenbegängnis 
gestaltete  sich  zu  einer  glänzenden  Feier.  „So  hat  nicht  Purins 
über  die  Gallier,  nicht  Papirius  über  die  Samniter,  nicht  Scipio 
über  Numantia,  nicht  Pompejus  über  die  Pontier  triumphiert." 
Haufenweise  strömte  die  Menge  zu  ihrem  Leichenbegängnis 
herbei.  Nicht  die  Straßen,  nicht  die  Säulenhallen,  noch  die 
Dächer  vermochten  die  Zuschauer  zu  fassen.  Ganz  Rom  trauerte 
und  freute  sich  über  die  glorreiche  Verklärung  der  Büßerin. 

In  Bethlehem  hatte  Fabiola  einst  mit  Hieronymus  das 
Buch  Numeri  gelesen  und  ihn  gebeten,  ihr  in  einem  eignen 
Werk  das  Verzeichnis  der  Lagerstätten,  an  denen  das  Volk 
Israel  vom  Auszuge  aus  Ägypten  beim  Zug  durch  die  Wüste 
bis  zum  Jordanflusse  rastete,  zu  erklären.  Er  hatte  die  Arbeit 
immer  hinausgeschoben;  jetzt  widmete  er  sie  dem  Gedächtnis 
der  verstorbenen  Freundin  und  sandte  sie)  an  ihren  Ver- 
wandten Oceanus  nebst  dem  Nekrolog  auf  Fabiola,  damit  sie 
sich  freue  durch  die  Wüste  dieser  Welt  endlich  einmal  in  das 
Land  der  Verheißung  gelangt  zu  sein.')  Es  ist  ein  charakte- 
ristisches Produkt  seiner  Feder,  diese  allegorische  Erklärung 
der  Namen  der  42  Lagerstätten  der  Israeliten.')  Das  Recht 
zur  allegorischen  Erklärung  entnimmt  er  Paulus,  der  1.  Kor.  10,  1 1 
einen  Teil  des  Zuges  der  Kinder  Israel  durch  die  Wüste 
allegorisch  deutete.  Wenn  die  Juden  das  Alte  Testament 
wörtlich  verstehen,  so  sollen  wir  Capharnaum  verlassen,  den 
einst  schönen  Acker,  und  mit  Jesus  in  die  Wüste  hinaus- 
ziehen und  sein  Brot  essen.  ) 


')  Gen.  4,  7  nach  den  LXX. 

'■')  Ep.  77,  7,  Vallarsi  I,  459. 

')  Ep.  77,  7,  Vallarsi  I,  459. 

•*)  Ep.  78,  Vallarsi  I,  463  ff. 

^)  Ep.  78,  1   Praefatio,  Vallarsi  i,  464. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  IQl 

Es  sind  42  Lagerstätten  in  Numeri  33,  wie  es  nach 
Matthäus  42  Generationen  von  Abraham  auf  Christus  sind. 
Durch  42  Stationen  läuft  der  wahre  Hebräer,  welcher  von 
der  Erde  zum  Himmel  eilt,  und  betritt  das  Land  der 
Verheißung,  nachdem  er  das  Ägypten  der  Welt  verlassen 
hat.  Wie  Christus,  unser  Herr  und  Heiland,  in  42  Gene- 
rationen vom  ersten  Patriarchen  bis  zur  Jungfrau  erschien, 
so  gelangen  wir  durch  42  Stationen  zum  Himmelreich.  Mit 
großem  Geschick  versteht  es  Hieronymus,  der  Deutung  der 
hebräischen  Namen,  die  zum  Teil  unglaublich  willkürlich  ist, 
aber  seinen  Zeitgenossen  doch  gewaltig  imponieren  mußte, 
da  ihn  keiner  kontrollieren  konnte,  einen  erbaulichen  Sinn 
unterzulegen.  Er  kann  es  dabei  nicht  unterlassen  mit  seinem 
Wissen  zu  renommieren  und  hochmütig  über  einige  kirchliche 
Männer  abzuurteilen,  die,  da  die  griechischen  und  lateinischen 
Codices  vielfach  in  den  Namen  verderbt  sind,  oft  das,  was 
im  Hebräischen  gar  nicht  enthalten  ist,  übersetzen  und  daran 
erdichtete  Erklärungen  knüpfen.')  Da  er  aber  selbst  die  in 
seinem  Buch  der  hebräischen  Ortsnamen  gegebene  Ver- 
dolmetschung der  Namen  einer  Korrektur  unterzieht  und  häufig 
durch  eine  andere  ersetzt,  so  mußte  doch  für  einen  kritischen 
und  nachdenklichen  Leser,  wenn  er  auch  keine  Kenntnis  des 
Hebräischen  besaß,  das  Zutrauen  zu  dem  Wissen  des  Hierony- 
mus erschüttert  werden.  Aber  solche  waren  nicht  allzu  zahl- 
reich, und  da  sie  nichts  besseres  an  die  Stelle  zu  setzen  wußten, 
mußten  sie  wohl  oder  übel  schweigen.  Das  ganze  Büchlein 
übt  auf  den  Leser  eine  tiefgehende  Wirkung,  weil  der  Grund- 
gedanke, das  Christenleben,  ein  Pilgerlauf  durch  die  Wüste 
dieser  Welt  nach  der  ewigen  Heimat,  mit  Energie  festgehalten 
ist.  Es  ist  dies  ja  ein  in  der  christlich  erbaulichen  Literatur 
aller  Zeiten  häufig  wiederkehrender  Gedanke;  aber  die  Aus- 
führung, die  ihm  Hieronymus  hier  gibt,  ist  besonders  anziehend. 
Der  Pilgerlauf  des  Christen  führt  ihn  bald  auf  die  Höhen  der 
Gottesgemeinschaft,  bald  in  die  Tiefen  der  Versuchung,  bis  er 
am  Ende  seines  Lebens  wie  Moses  das  gelobte  Land  schaut 
und,  wenn  er  die  alten  Sünden  beweint  hat,  unter  der  Führung 


')  Ep.  78,  mansio  9,  Vallarsi  I,  472. 


192  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Jesu  den  Jordan  überschreitet  und  das  wahre  Passah  nicht  in 
Ägypten,  sondern  im  Heiligen  Lande  ißt. 

An  Oceanus,  dem  er  dieses  Büchlein  zugesandt  hatte, 
hatte  Hieronymus  neben  Pammachius  den  einflußreichsten 
Freund  in  Rom.  Verwandt  mit  Fabiola  gehörte  auch  er  den 
ersten  Geschlechtern  Roms  an.  Es  war  deshalb  für  Hierony- 
mus überaus  schmeichelhaft,  als  dieser  in  den  kirchlichen 
Kreisen  Roms  bestimmende  Mann  ihn  um  ein  kirchenrecht- 
liches Gutachten  anging.')  Es  handelte  sich  um  die  Frage, 
ob  ein  Priester,  der  vor  seiner  Taufe  schon  verheiratet  gewesen 
war  und  dann  nach  der  Taufe  ein  zweites  Mal  geheiratet 
hatte,  als  Doppeltverheirateter  zu  gelten  habe  und  deshalb 
nicht  zum  Bischof  ordiniert  werden  dürfe.  Der  Fall  war  jüngst 
in  Spanien  vorgekommen.  Craterius,  ein  schon  bejahrter  Mann, 
der  lange  Zeit  Priester  gewesen  war,  war  zum  Bischof  ordiniert 
worden.  Wir  wissen  nicht,  warum  man  plötzlich  gegen  den 
alten  Mann  vorgehen  wollte;  aber  daß  gerade  ein  Führer  der 
Mönchspartei,  wie  Oceanus,  den  Zweifel  an  der  Rechtmäßigkeit 
dieser  Ordination  zum  Bischof  erhob,  zeigt  doch,  daß  es 
im  Zuge  der  Zeit  lag,  immer  schärfere  Forderungen  betreff 
der  geschlechtlichen  Enthaltsamkeit  an  die  Träger  des  Episkopats 
zu  stellen.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  läßt  es  sich  begreifen, 
daß  man  an  der  Entscheidung  des  kasuistischen  Falls  aufs 
lebhafteste  interessiert  war.  So  ging  Oceanus  nicht  nur  in 
eigenem  Namen,  sondern  im  Auftrage  der  römischen  Mönchs- 
partei,) die  mit  Hieronymus  jetzt  wieder  in  steter  Verbindung 
stand,  das  Bethlehemitische  Orakel  an,  sich  über  diese  Frage 
auszusprechen.  Man  hatte  gewiß  gehofft,  daß  Hieronymus 
eine  solche  Ordination  eines  Digamus  zum  Bischof  aufs 
schärfste  verurteilen  würde,  aber  nun  trat  das  Gegenteil  ein. 
Hieronymus  erklärte  sich  wunderlicherweise  in  einem  aus- 
führlichen Schreiben  für  die  Rechtmäßigkeit  der  Ordination 
des  zweimal  verheirateten  Bischofs.') 

Zunächst  behauptet  er,  daß  solche  Ordinationen  nichts 
Seltenes  wären:    „Wenn   ich   solche   Bischöfe    einzeln   nennen 

')  Ep.  69,  5,  Vallarsi  I,  409. 

2)  Contra  Riifin.  I,  32,  Vallarsi  II,  488. 

=•)  Ep.  69,  Vallarsi  1,  409 ff. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  193 

wollte,  so  würde  ihre  Zahl  die  Teilnehmer  der  Synode  vom 
Rimini,  d.  h.  also  300  übersteigen."  Dies  ist  gewiß  eine  starke 
Übertreibung;  in  seiner  Streitschrift  gegen  Rufin')  weiß  er  nur 
von  einigen  solchen  Bischöfen  zu  melden.  Seine  merkwürdige 
Stellungnahme  begründet  Hieronymus  damit,  daß  die  Taufe 
den  Menschen  ganz  neu  mache;  und  deshalb  auch  die  vor 
der  Taufe  geschlossene  Ehe  den  Klerikern  nicht  angerechnet 
werden  dürfe.  Wenn  also  Paulus  1.  Tim.  3,  Iff.  und  Tit.  1,  5ff. 
vom  Bischof  oder  Presbyter  —  denn  beide  waren  ursprünglich 
identisch,  wie  er  immer  geflissentlich  hervorhebt,")  da  er  es 
doch  nur  bis  zum  Presbyter  gebracht  hat  —  fordere,  daß  er 
als  eines  Weibes  Mann  ordiniert  werden  dürfe,  so  dürfe  nur 
die  nach  der  Taufe  geschlossene  Ehe  in  Anrechnung  gebracht 
werden.  Wenn  durch  die  Taufe  alle  Hurerei,  Gottlosigkeit, 
Vatermord,  Inzest  und  widernatürliche  Unzucht  abgewaschen 
wird,  so  sollte  allein  der  Makel  einer  vor  der  Taufe  geschlossenen 
Ehe  nicht  getilgt  werden?  Mit  dialektischer  Kunst  sucht  er 
die  gegnerische  These  ad  absurdum  zu  führen:  „Wenn  alles 
durch  die  Taufe  erlassen  wird,  nur  nicht  eine  vorher  geschlossene 
Ehe,  dann  dürfen  die  Katechumenen  Hurerei  treiben,  nach  der 
Sitte  der  Schotten  oder  Attikoten  Weibergemeinschaft  haben, 
aber  nur  vor  einem  Eheschluß  vor  der  Taufe  müssen  sie  sich 
hüten."  Er  erörtert  dann  noch  die  Möglichkeit  anderer  Aus- 
legungen des  Apostelwortes:  „Ein  Bischof  sei  eines  Weibes 
Mann."  Man  könnte  es  gegen  die  bei  den  Juden  erlaubte 
Polygamie  gerichtet  sein  lassen  oder  unter  dem  Weibe  die 
Kirche  verstehen  oder  die  Translation  eines  Bischofs  von  einer 
Kirche  zur  andern  dadurch  verboten  sehen ;^)  aber  diese  Aus- 
legungen sind  doch  künstlich  und  gezwungen.  Um  seine 
Entscheidung    in    dieser  Frage   als    die    richtige    zu   erweisen, 

')  Contra  Rufin.  1,  32,  Vallarsi  II,  488. 

'^)  s.  den  Tituskommentar  Bd.  II,  §  29;  ep.  146  ad  Evangelum, 
Vallarsi  I,  1078. 

^)  Hieronymus  beruft  sich  dafür  ep.  69,  5,  Vallarsi  I,  415  auf  die 
Nicänische  Synode.  Vallarsi  I,  415  Anm.  a  hat  gemeint,  daß  er  hier  einen 
Sardicensischen  Kanon  als  Nicänischen  zitiert  habe,  wahrscheinlich  hat  er 
aber  doch  c.  15  der  Synode  von  Nicäa  im  Auge  gehabt:  „söo^e,  oJöre 
änd  nÖÄSOic.  el^  noÄtv  /n)  ueraßaiveiv  /.Dtre  imiOKonof,  /<//re  jrgeoßvzeQOv, 
/i)jTe  biäuovov." 

Grützmacher,    Hieronymus.    II.  13 


1Q4  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

weist  er  auf  einen  praktischen  Fall  hin,  wie  er  sich  bei  den 
traurigen  sozialen  Verhältnissen  häufig  ereignen  konnte.  Viele 
heirateten  wegen  zu  großer  Armut  nicht,  sondern  nahmen 
ihre  Mägde  zu  Gattinnen  und  betrachteten  die  mit  ihnen  er- 
zeugten Kinder  als  ihre  legitimen.  Soll  nun  ein  solcher,  der 
nur  seine  Ehe  nicht  in  die  Eheregister  hat  eintragen  lassen, 
als  unverheiratet  gelten?  Dies  wäre  doch  ganz  absurd.  Zum 
Schluß  ergeht  sich  Hieronymus  noch  in  einer  ausführlichen 
Besprechung  der  übrigen  Eigenschaften,  die  der  Apostel  vom 
Bischof  verlange,  außer  daß  er  monogam  sei.  Die  Einleitung, 
die  er  dieser  Erörterung  voranschickt:  „Niemand  möge  glauben, 
daß  ich,  was  ich  geschrieben  habe,  nicht  um  die  Priester 
meiner  Zeit  herabzusetzen,  sondern  zum  Nutzen  der  Kirche 
geschrieben  habe",  läßt  auf  irgend  welche  Hintergedanken  bei 
ihm  schließen.  Wenn  er  sich  entschuldigt,  klagt  er  sich  in 
der  Regel  an.  Er  hat  hier  gewiß  ganz  bestimmte  Persönlich- 
keiten seiner  Zeit  im  Auge,  die  er  nur  nicht  öffentlich  anzu- 
greifen wagte.  Und  wenn  er  besonders  gründlich  die  Forderung 
des  Apostels  behandelt,  daß  der  Bischof  kein  Neophyt  sein 
dürfe:  „Gestern  Katechumene,  heute  Bischof,  gestern  im 
Amphitheater,  heute  in  der  Kirche,  am  Abend  im  Zirkus,  heute 
am  Altar,  früher  der  Protektor  der  Schauspieler,  heute  der 
Konsekrator  der  Jungfrauen,"  so  ist  vermutlich  kein  anderer  als 
Ambrosius  gemeint,  den  er  mit  inbrünstigem  Haß  verfolgte. 
Ambrosius  hatte  in  der  Frage  über  die  Ordination  eines  zwei- 
mal verheirateten  Bischofs  den  gegnerischen  Standpunkt  ver- 
treten'), und  der  Freund  des  Hieronymus  Oceanus  hatte  sich 
diesen  zunächst  zu  eigen  gemacht,  aber  doch  noch  ein  Gut- 
achten des  Hieronymus  eingeholt.  Dies  mochte  Hieronymus 
besonders  gereizt  haben.  Aber  auch  Papst  Siricius,  der  ja 
Hieronymus  ebenfalls  nicht  besonders  zugetan  gewesen  zu  sein 
scheint,  hatte  in  einem  Dekret  bestimmt,  daß  nur  der  als 
Kandidat  für  den  geistlichen  Stand  zugelassen  werden  und  die 
Lektoren-  und  Exorzistenweihe  erhalten  dürfe,  der  vor  der  Taufe 
nur  eine  Frau  gehabt  habe.)  Diese  Stellungnahme  seiner  persön- 

')  De  officiis  lib.  I,  50.     s.  oben  S.  4S. 

*)  ep.    ad    Himeriuni    Tarracon.    episcopum    c.   10   u.  11,    Hardouin, 
Collect.  Concil.  I,  847  vom  11.  Febr.  3S5,  s.  Zöckler,  S.  198. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  195 

liehen  Gegner  hatte  vielleicht  bei  der  sonderbaren  Entscheidung 
des  Hieronymus  mitgewirkt.  Später  zog  er  jedoch  mildere  Seiten 
auf.  In  der  Streitschrift  gegen  Rufin  schreibt  er:')  „Wir  ant- 
worteten auf  die  Anfrage  der  Brüder,  was  uns  richtig  schien, 
ohne  aber  jemand  zu  dieser  Meinung  zwingen  oder  ohne 
die  Dekrete  eines  andern  durch  unsere  Meinung  umstoßen 
zu  wollen."  Aber  nicht  die  Meinung  des  Hieronymus,  son- 
dern die  des  Ambrosius  und  Siricius  trug  den  Sieg  in  der 
Kirche  davon,  die  autoritativen  Führer  Augustin,')  die  Päpste 
Innocenz  1.  und  Leo  der  Große')  traten  ihr  bei,  und  diese 
Entscheidung  lag  auch  in  der  Linie  der  fortschreitenden 
Monachisierung  des  Klerus.  Hieronymus  hat  dies  gewiß 
geschmerzt,  daß  er  hier  den  kürzeren  gezogen  hatte;  aber  die 
Freundschaft  des  Oceanus  und  Pammachius  blieb  ihm  erhalten, 
und  diese  sollte  für  ihn,  als  der  Origenistische  Streit  vom 
Orient  in  den  Occident  gespielt  wurde,  noch  von  großer 
Bedeutung  sein. 


§  38. 
Der  Jona=  und  Obadjakommentar. 

Drei  Jahre  nach  der  Abfassung  des  Kommentars  zu  den 
fünf  kleinen  Propheten  Nahum,  Micha,  Zephanja,  Haggai 
und  Habakuk  schrieb  Hieronymus  die  Kommentare  zum  Jona 
und  Obadja  und  setzte  so  die  längere  Zeit  unterbrochene 
Arbeit  an  dem  Kommentar  zum  Zwölfprophetenbuch  fort. 

Der  Jonakommentar,  der  seinem  Gönner,  dem  Bischof 
Chromatius  von  Aquileja  gewidmet  ist,')  gehört  nach  Form 
und  Inhalt  zu  den  besseren   exegetischen  Arbeiten  des  Hiero- 


1)  Contra  Rufin.  1.  I,  32,  Vallarsi  II,  4SS. 
^)  De  bono  conjugali  c.  18  u.  21. 

^)  s.  Vallarsi  I,  409  Anm.  b,  auch  über  das  erste  Concil  von  Valence, 
c.  1,  vom  Jahre  374. 

*)  Praef.  in  Jon.,  Vallarsi  VI,  387  ff. 

13' 


196  Wiederankniipfung  mit  Rom. 

nymus.  Wußte  er  doch,  daß  der  gelehrte  Bischof,  der  auch 
innig  mit  Rufin  befreundet  war,  zu  seinen  anspruchsvollsten 
Freunden  gehörte,  der  sich  nicht  mit  allzuleichter  Ware 
abspeisen  ließ.  Er  sagt  auch,  daß  er  auf  die  Erklärung  des 
Jona,  des  Typus  des  Erlösers,  der  drei  Tage  und  Nächte  im 
Leibe  des  Seetieres  verweilte  und  die  Auferstehung  des  Herrn 
vorbildete,  besonderen  Eifer  verwandt  habe.') 

Welche  Kommentare  er  benutzt  hat,  verrät  er  nirgends. 
Nur  die  abfällige  Kritik  über  seine  Vorgänger,  wonach  die 
alten  griechischen  und  lateinischen  Kirchenväter  über  dieses 
Buch  viel  Dunkles  und  Unbrauchbares  geschrieben  haben,') 
beweist,  daß  ihm  mehrere  solche  bekannt  gewesen  sein 
müssen.  Daß  er  in  erster  Linie  wieder  den  Origeneskommentar 
zum  Zwölfprophetenbuch  benutzt  hat,  läßt  sich  aus  einer 
Reihe  Bemerkungen  seines  Kommentars  noch  deutlich  erkennen. 
Es  ist  dabei  von  Interesse,  wieviel  schärfer  Hieronymus  jetzt 
gegen  Origenes  und  seine  Heterodoxien  Stellung  nimmt  als 
in  den  früheren  Kommentaren,  allerdings  ohne  ihn  an  irgend 
einer  Stelle  namentlich  zu  nennen.  Im  Anschluß  an  Jon.  2,  7: 
„Du  wirst  mein  Leben  vom  Verderben  befreien"  hatte  Origenes 
sein  beliebtes  Theologumenon  von  der  Vernichtung  des  Leibes 
vorgetragen.  Scharf  bezeichnet  Hieronymus  diese  Anschauung 
als  Ketzerei:  „Wir  wissen,  daß  der  Leib,  den  Christus  von  der 
unbefleckten  Jungfrau  angenommen  hat,  nicht  eine  Befleckung 
Christi,  sondern  sein  Tempel  gewesen  ist;  und  wirbehaupten,  daß 
derselbe  Leib  und  dasselbe  Fleisch  auferstehe,  das  begraben  und 
in  die  Erde  bestattet  ist,  daß  er  nur  seine  Herrlichkeit,  aber  nicht 
seine  Natur  bei  der  Auferstehung  verändere."')  Origenes  hatte 
ferner  Jon.  3,  6  unter  dem  König  von  Ninive,  der  Buße  tut, 
den  Teufel  verstanden,  der  am  Ende  des  Weltlaufs,  weil  keine 
vernünftige,  von  Gott  geschaffene  Kreatur  zugrunde  gehe,  von 
seinem  Hochmut  läßt,  sich  bekehrt  und  wieder  in  seinen 
alten  Platz  eingesetzt  wird.  Mit  bitterer  Ironie  weist  Hiero- 
nymus die  Lehre  von  der  Beseligung  aller  ab.  Wenn  diese 
Lehre  zu  Recht  besteht,  welcher  Unterschied  ist  dann  zwischen 

')  Praef.  in  Jon.,  Vallarsi  VI,  388. 
»)  Praef.  in  Jon.,  Vallarsi  Vi,  387. 
")  Jon,  2,  7,  Vallarsi  VI,  411. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  197 

der  Mutter  Gottes  und,  was  zu  sagen  ein  Verbrechen,  zwischen 
den  Dirnen,  den  Opfern  der  öffentlichen  Lust,  zwischen  Gabriel 
und  dem  Teufel,  den  Aposteln  und  den  Dämonen.  Schon 
droht  Hieronymus  deutlich  damit,  daß  er  den  Kampf  gegen  den 
Origenismus  aufnehmen  werde;  aber  er  findet  es  noch  nicht 
an  der  Zeit,  gegen  das  perverse  Dogma  und  die  teuflische 
Verkündigung  derer,  die  sie  in  den  Winkeln  lehren,  aber 
öffentlich  ableugnen,  in  die  Schranken  zu  treten.  Auch  gegen 
die  subordinatianische  Christologie  des  Origenes  zieht  Hiero- 
nymus zu  Felde.  An  die  Stelle  Jon.  4,  10:  „Du  empfindest 
Schmerz  über  den  Efeu,  an  dem  du  nicht  gearbeitet  und  den 
du  nicht  gemacht  hast"  hatte  Origenes  seine  christologische 
Spekulation  angeknüpft.  Unter  der  Voraussetzung,  daß  unter 
Jonas  Christus  zu  verstehen  sei  und  mit  Herbeiziehung  von 
Mark.  10,  18:  „Was  nennst  du  mich  gut,  niemand  ist  gut  als 
der  einige  Gott"  hatte  Origenes  gefolgert,  daß  der  Vater  größer 
sei  als  der  Sohn,  und  der  Sohn  im  Vergleich  mit  dem  Vater, 
dem  einzig  vollkommenen  und  wahrhaft  guten  Wesen,  von 
geringerer  Vollkommenheit  sei.  Hieronymus  beschuldigt 
Origenes,  daß  er,  ohne  es  zu  wissen,  der  Häresie  des  Marcion 
verfalle  und  bezeichnet  bereits  den  einst  so  verehrten  Meister 
als  den  Vater  des  Erzketzers  Arius. 

Neben  Origenes  ist  auch  hier  wie  in  den  früheren  alt- 
testafnentlichen  Kommentaren  die  jüdische  Exegese  seine  Haupt- 
quelle. Ihr  entnimmt  er  die  historische  Exegese  des  Propheten. 
Nach  der  Tradition  der  Hebräer  ist  der  Verfasser  des  Buches  der 
Jona,  der  2.  Kön.  14,  25  als  Sohn  des  Amathus  aus  Geth  bei 
Opher  genannt  wird.  Er  soll  nach  der  Meinung  der  Juden 
der  Sohn  der  Witwe  von  Sarepta  gewesen  sein,  den  Elias  von 
den  Toten  erweckte.  Sein  Geburtsort  Geth  liegt  zwei  Meilen 
von  Saphorim,  dem  heutigen  Diocaesarea,  einem  kleinen  Dorf, 
wo  noch  heute  sein  Grab  gezeigt  wird.  Andere  lassen  ihn 
fälschlich  in  Diospolis,  dem  alten  Lydda,  geboren  und  begraben 
sein.  Im  Buch  Tobiae  wird  er  Kapitel  14,  5  erwähnt.  Da 
Ninive  unter  König  Josia  zur  Zeit  des  Mederkönigs  Astyages 
zerstört  wurde,  so  erkennen  wir,  daß  die  Niniviten  zuerst  auf 
die  Predigt  des  Jona  Buße  getan  und  Verzeihung  erlangt 
haben,  aber  später  in  ihre  alten  Laster  verfallen  sind  und  das 


198  Wiederanknüpfiino-  mit  Rom. 

Urteil  Gottes  gegen  sich  herbeigerufen  haben.  Was  die  Zeit 
seiner  Prophetie  betrifft,  so  ist  Jona  ein  Zeitgenosse  des  Hosea, 
Arnos  und  Jesaia.')  Von  den  Hebräern  hat  Hieronymus  auch 
die  Deutung  von  Tharsis  im  Sinne  von  Meer,  während  Josephus 
darunter  fälschlich  durch  Veränderung  des  ersten  Buchstabens 
Tarsus  in  Cilicien,  die  Heimat  des  Paulus,  verstanden  habe.') 
Aus  jüdischer  Quelle  stammt  seine  Deutung  des  Namens  Jona, 
gleich  die  Taube  oder  der  Trauernde.  )  Von  den  Juden  hat 
Hieronymus  auch  erfahren,  daß  die  Pflanze  i'P'p,  die  in  der  sy- 
rischen und  punischen  Sprache  ciceia  hieß,')  ein  in  Palästina  an 
trockenen  Stellen  häufig  wachsendes  Staudengewächs  sei,  das 
wunderbar  schnell  in  wenigen  Tagen  aus  dem  Samenkorn 
emporwächst  und  eine  beträchtliche  Höhe  erreicht.  Weil  die 
lateinische  Sprache  kein  Wort  für  diese  Pflanze  besaß,  und 
er  kein  neues  Wort  zu  bilden  wagte,  hat  er  im  Anschluß  an 
die  alten  Übersetzer,  die  kiöoö^  haben,  es  nicht  wie  die  LXX 
und  die  altlateinische  Bibelübersetzung  mit  Kürbis,  sondern 
mit  Efeu  übersetzt.  Der  römische  Kritiker  seiner  Übersetzung, 
vermutlich  derselbe,  den  er  mehrfach  mit  den  verschiedensten 
Schimpfworten  traktierte,  )  hatte  ihn  wegen  dieser  Änderung 
des  Sakrilegs  angeklagt.  Dieser  Wallach,  der  aus  dem  alten 
Geschlechte  der  Kornelier  oder  des  Asinius  Pollio  stammen 
will,  fürchtete  natürlich,  wie  Hieronymus  mit  verächtlichem 
Spott  sagt,  daß,  wenn  statt  Kürbis  Efeu  wüchse,  er  keinen 
f^latz  haben  würde,  wo  er  im  Dunkel  und  Geheimen  seine 
Saufereien  halten  könne.")  Hieronymus  konnte  damals  noch 
nicht  ahnen,  daß  auch  Augustin  an  derselben  Änderung  des 
geheiligten  Textes,  die  doch  so  harmloser  Art  war,  ein  schweres 
Ärgernis  nehmen  und  ihn  deshalb  zur  Rede  stellen  würde.') 


•)  Praef.  in  Jon.,  Valiarsi  VI,  390. 

«)  Jon.  1,1,  Valiarsi  VI,  393;  ep.  37,  2  ad  Marcellam,  Valiarsi  I,  170, 
ad.  Jes.  2,  14. 

^)  über  nominum,  Valiarsi  III,  77. 

*)  Jon.  4,  6,  Valiarsi  VI,  425:  pro  Cucurbita,  sive  hedera  in  hebraea 
legitur  ciceia,  quae  etiam  lingua  syra  et  punica  ciceia  dicitur. 

')  s.  §  33. 

••■)  Jon.  4,  6,  Valiarsi  VI,  425. 

")  Ep.  104  Auguslini  ad  Hieronynium  c.  5;  ep.  131  Augustini  ad 
Hieronymum  c.  6  und  Hieronymus  ep.  112  ad  Augustinum  c.  22. 


Wiederankniipfung  mit  Rom.  199 

Der  Kommentar  ist  wie  bei  den  früheren  kleinen  Propheten 
ein  Doppelkommentar,  d.  h.  Hieronymus  berücksichtigt  neben 
seiner  Übersetzung  aus  dem  Hebräischen  immer  zugleich  den 
Text  der  LXX.  Er  merkt  fast  immer  die  Varianten  beider 
Texte  an  und  versucht  sie  auch  bisweilen  zu  erklären.')  Zu 
Jon.  3,  4  gesteht  er  keine  Erklärung  geben  zu  können,  da  nach 
dem  hebräischen  Text  Jona  40  Tage,  nach  den  LXX  nur  drei 
Tage  Buße  gepredigt  habe,  und  diese  verschiedene  Lesart 
unmöglich  auf  eine  Wortverwechslung  bei  der  völligen  Ver- 
schiedenheit beider  Worte  zurückgeführt  werden  könne.  Daß 
diese  Variante  sich  vielleicht  daraus  erklärt,  daß  die  Zeit  von 
40  Tagen,  die,  wie  er  selbst  bemerkt,  als  typische  Bußzeit  galt, 
für  drei  Tage  eingesetzt  worden  ist  und  die  LXX  mithin  den 
ursprünglichen  Text  erhalten  haben,  darauf  ist  der  sonst  so 
findige  Exeget  nicht  verfallen. 

Was  die  historische  Exegese  des  Propheten  Jona  betrifft, 
so  ist  die  Geschichte  des  Propheten  so  klar  und  durchsichtig, 
daß  es  hier  kaum  Schwierigkeiten  zu  überwinden  gab.  Die 
Erklärung  des  Hieronymus  wird  deshalb  auch  fast  überall  dem 
Wortsinn  gerecht.  Viel  schwieriger  mußte  sich  die  allegorische 
Exegese  gestalten,  die  in  dem  Propheten  einen  Typus  auf 
Christus  sah  und  seine  Schicksale  auf  das  Leben  Christi 
deutete.  Schon  in  der  Vorrede  erklärte  er,  daß  es  viel  Schweißes 
bedürfe,  die  ganze  Prophetie  auf  den  Erlöser  zu  beziehen, 
aber  da  Christus  selbst  Jona  2,  2  auf  sich  bezogen  habe,  so 
müsse  der  Exeget  ihm  folgen:  „Keiner  wird  ein  besserer  Aus- 
leger des  Typus  des  Propheten  Jona  sein  als  Christus,  der 
die  Propheten  selbst  inspirierte  und  die  zukünftige  Wahrheit  in 
seinen  Knechten  voraus  verkündete.  Die  Juden  haben  die  Bücher, 
wir  den  Herrn  der  Bücher;  jene  halten  sich  an  die  Propheten,  wir  an 
das  richtige  Verständnis  der  Propheten;  jene  tötet  der  Buchstabe, 
uns  macht  der  Geist  lebendig.'")  Aber  Hieronymus  empfindet 
doch  sehr  stark,  daß  diese  Allegorie  in  der  Einzelexegese  sich 
nicht  durchführen  läßt.')  Er  beruft  sich  dabei  auf  das  Verfahren 
des  Apostels  Paulus,  der  z.  B.  auch  nicht  die  ganze  Geschichte 

>)  z.  B.  Jon.  4,  2,  Vallarsi  VI,  423. 

2)  Praef.  in  Jon.,  Vallarsi  VI,  387  ff. 

3)  Jon.  1,  3,  Vallarsi  VI,  3Q4  ff. 


200  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

von  Hagar  und  Sara,    sondern    nur   einzelne  Züge  aus  dieser 
Geschichte  allegorisiere.     Gewisse  Partien  der  Geschichte  Jonas 
lassen    sich    denn    auch    leicht  allegorisieren:    Die  Flucht    des 
Jona    nach  Tharsis,    d.  h.    auf  das  Meer,    bedeutet    die  Flucht 
Christi    aus    den    himmlischen  Gebieten    in    das   Meer    dieser 
Welt;')    der  Schlaf  des  Jona,  während  das  Meer  brauste,    läßt 
sich  ungezwungen  auf  den  Schlaf  des  Herrn  im  Schiff  bei  der 
Meerfahrt    deuten.')     Aus    dem  Wort    der  Schiffer  Jon.  1,  14: 
„Laß    nicht  über  uns  kommen  unschuldiges  Blut"    hören    wir 
die  Stimme  des  Pilatus  heraus:  „Ich  bin  rein  vom  Blut  dieses 
Mannes."     Der  Fisch,  der  den  Jona  verschlingt,  ist  die  Unter- 
welt,   die    den  Herrn    aufnimmt.  )     Sein  Verweilen    im    Bauch 
des  Fisches    drei  Tage    und  zwei  Nächte  erklärt  Hieronymus, 
wie  der  Herr  dieses  Geheimnis    erklärt  hat,    von   seinem  Ver- 
weilen in  der  Unterwelt.     Es  ist  nur  die  Frage,    wie  man  die 
drei  Tage  und  zwei  Nächte  zu  zählen  habe.    Einige  machen  die 
wunderliche  Kombination,  daß  der  Freitag  als  zwei  Tage  und 
zwei  Nächte  zu  zählen  ist,  weil  es  nach  der  Kreuzigung  Nacht 
von  sechs  bis  neun  Uhr  wurde,  und  so  der  Tag  in  zwei  Tage 
und  zwei  Nächte  zerfiel;  der  Samstag  sei  dann  der  dritte  Tag, 
und  die  Nacht  vom  Samstag  auf  den  Ostersonntag,  den  Auf- 
erstehungstag, die  dritte  Nacht.    Hieronymus  will  den  Ausdruck 
drei  Tage  und    drei    Nächte    lieber    svnekdochisch    verstehen, 
und  er  rechnet    nun    so,    daß   der  Herr   einen  Teil    des  Frei- 
tags,   den    ganzen  Samstag    und    einen  Teil    des  Sonntags   in 
der  Unterwelt  gewesen  sei,  also  drei  Tage  und  drei  Nächte.*) 
Schwierig    ist    aber  schon  nach  Hieronymus    die    allegorische 
Deutung  des  Kürbis  oder  Efeus,    der  rasch  emporwuchs   und 
rasch  welkte,    auf  Israel  durchzuführen,    und  völlig  unmöglich 
kann  Jona    in    der  Stelle  Jon.  4,  10    als  Typus  Christi    gefaßt 
werden,    wo  Gott    zu    ihm    spricht:    „Du  empfindest  Schmerz 
über  den  Efeu,   an  dem  du  nicht  gearbeitet  hast,  und  den  du 
nicht    gemacht  hast",    sonst  gelangt  man    zu  einer  subordina- 

•)  Jon.  1,1,  Vallarsi  VI,  393. 

«)  Jon.  1,  12,  Vallarsi  VI,  402. 

")  Jon.  2,  1,  Vallarsi  VI,  405. 

*)  Jon.  2,  2,  Vallarsi  VI,  405. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  201 

tianischen  Christologie  wie  Origenes,  die  doch  als  absurd  ab- 
zulehnen ist.') 

Auch  in  diesem  Kommentar  wie  in  den  anderen  alt- 
testamentlichen  Auslegungsschriften  sind  die  Anspielungen 
auf  zeitgenössische  Verhältnisse  verhältnismäßig  seltener  als 
in  seinen  neutestamentlichen  Kommentaren.  An  die  Be- 
kehrung des  Königs  von  Ninive,  der  zuletzt  Buße  tut,')  knüpft 
er  eine  Erörterung  über  die  Bekehrung  der  Philosophen  und 
Rhetoren  seiner  Zeit:  Reiche,  Vornehme,  Mächtige  bekehren 
sich  schwer,  aber  die  Gelehrten,  die  philosophisch  Gebildeten, 
finden  doch  von  allen  am  schwersten  den  Weg  zu  dem 
plebejischen  Kultus.  Es  spricht  ein  tiefer,  verhaltener  Haß  aus 
seinen  Worten,  wenn  er  die  heidnischen  Philosophen  schildert, 
deren  Worte  man  noch  immer  wie  göttliche  Orakel  aufnehme, 
und  die  hochmütig  auf  die  christliche  Religion  herabschauen. 
Nichts  schmerzt  Hieronymus  mehr,  als  die  Erkenntnis,  daß 
die  Geistesaristokraten  dem  Christentum  noch  immer  nicht 
die  wissenschaftliche  Gleichberechtigung  mit  dem  Heidentum 
zuerkennen  wollen. 

Es  ist  auch  interessant,  daß  bereits  Hieronymus  das 
Wunder,  daß  Jona  im  Bauche  des  Fisches  drei  Tage  leben 
konnte,'')  gegenüber  Zweifeln  an  seiner  Tatsächlichkeit  ver- 
teidigen mußte.  Sowohl  in  christlichen  wie  in  heidnischen 
Kreisen  hatte  man  daran  Anstoß  genommen.  Derb,  aber  treffend 
ist  seine  Apologetik.  Den  christlichen  Gegnern  des  Wunders 
hält  er  vor,  daß  sie  doch  an  dem  Wunder  der  drei  Männer 
im  feurigen  Ofen,  des  Daniel  in  der  Löwengrube,  des  Durch- 
zuges der  Israeliten  durch  das  rote  Meer,  wo  sich  die  Wasser 
wie  eine  Mauer  aufstellten,  keinen  Anstoß  nehmen;  und  diese 
Wunder  wären  ebenso  unglaublich,  wenn  nicht  noch  unglaub- 
licher als  dieses.  Und  seinen  heidnischen  Gegnern  empfiehlt  er, 
doch  einmal  die  fünfzehn  Bücher  der  Metamorphosen  des  Ovid 
durchzulesen.  Wenn  sie  die  Verwandlung  der  Daphne  in 
einen  Lorbeerbaum,  des  Jupiters  in  einen  Schwan  und  andere 
Wunder  gläubig  hinnehmen    und    dies  damit  begründen,    daß 


')  Jon.  4,  10,  Vallarsi  VI,  429. 
2)  Jon.  3,  6  ff.,  Vallarsi  VI,  419. 
9)  Jon.  2,  2,  Vallarsi  VI,  405. 


202  Wiederanknüpflinjj  mit  Rom. 

bei  Gott  alles  möglich  sei,  so  könnten  sie  auch  den  christ- 
lichen Wundern  Glauben  schenken,  wo  doch  die  göttliche 
Allmacht  sich  nicht  zu  schimpflichen  und  unsittlichen,  sondern 
nur  zu  sittlichen  Zwecken  betätige. 

Ein  schweres  Problem  bot  dem  Hieronymus  die  Aus- 
legung der  Stelle  Jon.  1,  7,  wo  die  Schiffer  das  Los  werfen 
und  Jona  dadurch  als  der  Schuldige  erkannt  wird.  Die 
Schiffer  waren  nach  der  Erzählung  deutlich  als  Heiden  charak- 
terisiert. Man  konnte  nun  folgern,  daß  auch  das  von  den 
Heiden  geworfene  Los  eine  magische  Kraft  in  sich  trüge, 
den  Schuldigen  als  solchen  kenntlich  zu  machen;  und  damit 
wäre  dem  heidnischen  Aberglauben  ein  gefährlicher  Vor- 
schub geleistet  worden.  Der  christliche  Ausleger  hält  es 
deshalb  für  nötig,  ausdrücklich  zu  betonen,  daß  es  in  diesem 
Falle  nur  der  Wille  Gottes  gewesen  sei,  der  das  ungewisse 
Los  in  wunderbarer  Weise  auf  den  Schuldigen  lenkte.  Auch 
über  die  ethische  Beurteilung  des  Selbstmordes  sah  sich 
Hieronymus  genötigt,  angesichts  des  Wortes  Jon.  1,  12: 
„Werfet  mich  ins  Meer",  sich  auszusprechen.  Er  verwirft  ihn 
natürlich,  und  wohl  im  Anschluß  an  Origenes  will  er  ihn  auch 
nicht  in  der  Verfolgung  gestattet  sein  lassen;  aber  in  einem 
Falle,  wo  die  Keuschheit  Gefahr  läuft,  erscheint  er  ihm  doch 
erlaubt.  Es  ist  bezeichnend,  daß  das  Christentum,  übrigens  in 
Übereinstimmung  mit  der  heidnisch-antiken  Beurteilung,  das  Gut 
der  Keuschheit  so  hoch  wertete,  daß  es  bei  seiner  Gefährdung 
den  Selbstmord  für  sittlich  berechtigt  erklärte.  Es  waren  dies 
die  praktischen  Wirkungen  des  christlichen  Virginitätsideals. 

Endlich  sei  noch  auf  zwei  Stellen  im  Jonakommentar  des 
Hieronymus  hingewiesen,  die  Augustin  später  mit  großer  An- 
erkennung als  Bekenntnisse  des  Hieronymus  zu  seiner  Erb- 
sündenlehre registrierte.  Zu  Jon.  1,  1  hatte  Hieronymus  bei  der 
allegorischen  Auslegung  der  Stelle  bemerkt,  daß  der  Mensch,  der 
Gott  dienen  sollte,  durch  seinen  eigenen  Willen  verderbt  und  so 
sein  eigenes  Herz  von  Jugend  an  eifrig  dem  Bösen  zugetan 
wurde.')     Und  an  Jon.  3,  5:  „Daß  alle  Buße  taten  vom  Größten 

')  Jon.  1,  1,  Vallarsi  VI,  391:  cum  enim  deiis  quasi  quandam  pul- 
cherrimam  domuni  ser\'ituro  sibi  homini  exstruxerit,  depravatus  est  liomo 
propria  volutunte  et  a  pueritia  diligenter  appositum  est  ad  malum  cor  eius. 


Wiederankniipfiin«^  mit  Rom.  203 

bis  zum  Kleinsten"  knüpft  er  als  Begründung  an,  daß  keiner 
ohne  Sünde  sei,  ob  sein  Leben  auch  nur  einen  Tag  währt  oder  ob 
zahlreich  die  Jahre  seines  Lebens  sind;  denn  wenn  die  Sterne 
nicht  rein  sind  im  Angesicht  Gottes,  um  wie  viel  weniger  sind 
der  Wurm  und  die  Fäulnis  rein  und  die,  welche  durch  die  Sünde 
des  Gott  beleidigenden  Adams  schuldig  geworden  sind.')  Beide 
Sätze  klingen  ja  augustinisch  und  konnten  von  Augustin  in 
seinem  Sinne  gedeutet  werden;  daß  sie  aber  nicht  so  ernst 
gemeint  sind,  sondern  Hieronymus  auch  nach  dem  Fall  dem 
freien  Willen  des  Menschen  eine  Mitwirkung  zum  Guten 
zusprach,  beweisen  zahlreiche  andersartige  Äußerungen  von 
ihm.  Erst  als  er  in  den  Streit  mit  Pelagius  hineingezogen 
wurde,  hat  er  zwar  ohne  tiefergehendes  Verständnis  und  ohne 
eigentliches  Herzensinteresse  seine  frühere  Ausdrucksweise  im 
Sinne  Augustins  zu  korrigieren  versucht. 

Viel  leichter  als  beim  Jonakommentar  scheint  sich  Hiero- 
nymus die  Arbeit  bei  der  Auslegung  des  kleinsten  der  zwölf 
Propheten,  bei  Obadja,  gemacht  zu  haben.  Diesen  Kommentar, 
den  er  seinem  einstigen  Mitschüler,  dem  Senator  Pammachius, 
zugeeignet  hat,  mit  dem  er  seit  dem  Streit  mit  Jovinian  in 
inniger  Beziehung  stand,  hatte  er  nach  seinem  eigenen  Zeugnis 
einem  Schnellschreiber  während  zweier  Nächte  in  die  Feder 
diktiert.")  Er  bittet  deshalb  Pammachius,  keine  rhetorischen  An- 
forderungen an  sein  Werk  zu  stellen,  da  er  keine  Zeit  darauf 
verwandt  habe,  den  Stil  zu  glätten,  sondern,  aus  Scham  zu 
schweigen,  dem  Schnellschreiber,  was  ihm  in  den  Mund  kam, 
diktiert  habe. 

Daß  eine  solche  schnelle  Arbeit  nur  eine  Kompilation  sein 
kann  aus  dem,  was  ihm  in  den  von  ihm  benutzten  Quellen 
brauchbar  erschien,  ist  selbstverständlich.  Und  er  hat  es  auch 
ausdrücklich  ausgesprochen,  daß  er  der  Autorität  der  Alten 
und  vor  allem  der  jüdischen  Auslegung  gefolgt  sei.  Die 
Kommentare  seiner  Vorgänger,  vor  allem  des  Origenes,  und 
die  jüdische  Exegese  sind  auch  hier  seine  Quellen.     In  der  mit 


*)  Jon.  3,  5,  Vallarsi  VI,  417:  si  enim  stellae  non  sunt  mundae  in 
conspectu  dei,  qiianto  niagis  vermis  et  putredo  et  hi,  qiii  peccato  offen- 
dentis  Adam  tenentur  obnoxii. 

-)  Praef.  in  Abdiam,  Vallarsi  Vi,  386. 


204  Wiederanknüpfiing  mit  Rom. 

rhetorischem  Pathos  geschriebenen  Vorrede  schildert  er  dem 
Pammachius,  wie  ihn  ein  Jüngling  aus  Italien  in  Bethlehem 
besuchte  und  ihm  einen  Kommentar  zum  Obadja,  den  er  einst 
als  Jüngling  während  seines  Wüstenaufenthalts  in  der  Wüste 
Chalcis  geschrieben  hatte,  vorlegte  und  in  den  höchsten  Tönen 
pries.')  30  Jahre  —  die  Zahl  ist  abgerundet  —  waren  seitdem 
vergangen,  und  Hieronymus  schämte  sich  seines  Jugendwerkes, 
eines  allegorischen  Kommentars,  den  er  damals  ohne  Kenntnis 
der  Geschichte  des  Propheten  verfaßt  hatte;  aber  er  tröstete  sich 
damit,  daß  auch  Cicero,  Tertullian,  Origenes  und  Quintilian  in 
ihren  Jugendwerken  ähnlich  gesündigt  hätten  im  Vergleich  mit 
den  Werken  ihres  reifen  Oreisenalters:  „Jedes  Alter  ist  in  seiner 
Art  vollkommen,  und  jedes  Werk  will  nach  der  Zahl  der  Jahre 
beurteilt  werden."  Jetzt,  nachdem  er  im  Verlauf  der  langen  Zeit 
so  viel  Schweiß  auf  das  Studium  der  Heiligen  Schrift  verwandt 
habe,  hätte  er  wenigstens  eins  gelernt,  die  Wahrheit  des 
Wortes  des  Sokrates  erkennen:  „Ich  weiß,  daß  ich  nichts  weiß." 
Es  ist  aber  bezeichnend,  daß  Hieronymus  trotz  dieser  Kon- 
fessionen sich  so  wenig  Mühe  bei  der  Ausarbeitung  dieses 
Kommentars  gegeben  hat.  Er  bemerkt,  er  habe  sich  gewundert, 
daß  jener  Jüngling  sein  unreifes,  jugendliches  Machwerk  so 
hoch  gepriesen  habe;  aber  er  sei  im  Laufe  der  Jahre  zu  der 
Erkenntnis  gekommen,  daß,  was  einer  auch  für  ein  schlechtes 
Zeug  schriebe,  er  immer  noch  seiner  ähnliche  Leser  fände. 
Auf  diese  Kritiklosigkeit  des  Publikums,  das  seine  Werke  las, 
hat  Hieronymus  gründlich  spekuliert.  Weil  er  sah,  daß  man 
alle  seine  Arbeiten  bewunderte,  so  glaubte  er  sich  von  jeder 
gründlichen  Arbeit  dispensiert. 

In  der  Anlage  ist  dieser  Kommentar  wie  die  übrigen 
Kommentare  zum  Zwölfprophetenbuch  geartet.  Hieronymus 
stellte  seine  Übersetzung  aus  dem  hebräischen  Text  neben  die 
LXX  und  merkte  die  Differenzen  an;  an  einigen  Stellen  zog 
er  auch  die  anderen  Übersetzungen  zur  Erklärung  des  Textes 
herbei.  ) 

')  s.  Bd.  1,  163. 

*)  So  lesen  z.  B.  die  LXX  in  Obadja  20  Ephrata,  der  hebräische  Text 
Sepharad.  Sepharad  bedeutet  aber  nach  der  Sprache  der  Assyrer  —  woher 
er  diese  angebliche  Kenntnis  des  Assyrischen  hat,  verrät  er  uns  nicht  —  die 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  205 

Vor  allem  ist  Hieronymus  nach  seinem  eigenen  Zeugnis 
der  jüdischen  Interpretation  des  Propheten  gefolgt,  und  ihr 
hat  er  die  historische  Exegese  entnommen.  Er  will  jetzt 
erst  die  Fundamente  der  Geschichte  legen  und  dann  darauf 
die  hochragenden  Türme  des  geistlichen  Verständnisses  er- 
richten. Er  wendet  sich  gegen  die,  welche  den  Namen  des 
Propheten  Obadja  mit  Knecht  des  Herrn  übersetzen  und 
Obadja  für  den  Knecht  des  Herrn  halten,  der  sich  erniedrigte 
und  Knechtsgestalt  annahm,  und  von  dem  es  in  Jesaia  heißt: 
Groß  ist  es  für  dich,  mein  Knecht  genannt  zu  werden.  Wie 
Jona  als  Typus  des  Herrn  aufgefaßt  wurde,  so  wurde  auch 
Obadja  messianisch  ausgelegt.  In  jeden  Propheten  trug  man 
dieselben  Gedanken  hinein.  Hieronymus  hat  eine  Empfindung 
davon  und  spricht  sich  hier  scharf  dagegen  aus:  „Wenn  wir 
der  Tropologie  folgen,  so  verderben  wir  die  deutlichste  Pro- 
phetie". ')  Aber  in  der  Praxis  räumt  er  dann  doch  wieder  der 
allegorischen  Auslegung  einen  breiten  Raum  ein. 

Nach  der  hebräischen  Tradition  ist  der  Prophet  Obadja 
ein  Heerführer  gewesen,  der  unter  dem  König  Samarias,  Ahab, 
und  der  gottlosen  Jesabel  die  hundert  Propheten  in  den  Höhlen 
ernährte,  die  ihre  Knie  nicht  dem  Baal  gebeugt  hatten.  Seine 
Höhle  wird  bis  heute  samt  dem  Mausoleum  des  Propheten 
Elisa  und  Johannes  des  Täufers  in  Sebaste,  dem  alten  Samaria, 
gezeigt.-)  Edom,  das  griechische  Idumea,  gegen  das  sich  die 
Prophetie  des  Obadja  richtet,  ist  die  Gegend  Palästinas,  die 
jetzt  den  Namen  Gebalena  führt,  mit  der  Hauptstadt  Eleuthero- 
polis  und  den  Städten  Petra    und  Aila.     Dieser  Landstrich   ist 


Grenze,  gleich  dem  hebräischen  Gebal.  Das  Wort  D'l'w'iö  Obadja  21 
übersetzt  er  mit  Heilande  im  Anschluß  an  Symmachus,  während  die  LXX, 
Aquila  und  Theodotion  es  mit  Gerettete  wiedergeben.  In  Obadja  17  hat 
die  Itala  frumentarius,  ein  veraltetes  lateinisches  Wort,  wie  Hieronymus 
bemerkt,  das  im  Latein  seiner  Zeit  mit  veredarius  oder  agens  in  rebus 
wiederzugeben  ist;  der  hebräische  Text  liest  sarid  =^  reliquus  nach  Aquila, 
effugiens  nach  Symmachus  oder  residuus  nach  Theodotion  und  der  Quinta. 
Auch  eine  Variante  in  den  LXX  zu  Obadja  18  merkt  er  an,  wo  sich 
nvQO(pÖQOg  oder  jrvofpÖQog  findet. 

')  Zu  Obadja  1,  Vallarsi  VI,  364:  dum  tropologiam  sequimur,  per- 
dimus  manifestissimam  prophetiam. 

2)  Vallarsi  VI,  361  ff.  s.  §  27. 


206  Wiederankniipfung  mit  Rom. 

SO  heiß,  daß  die  Einwohner  vielfach  in  Höhlen  wohnen,  um 
sich  vor  der  furchtbaren  Sonnenhitze  zu  schützen.  Während 
aber  das  Gericht,  welches  der  Prophet  Obadja  über  Edom  ver- 
kündet, nach  der  historischen  Deutung  des  Hieronymus  bereits 
unter  Zorobabel  eingetroffen  ist,')  erhoffen  die  Juden  dieses 
Gericht  erst  in  der  Zukunft  und  beziehen  die  Weissagungen 
gegen  Edom  auf  das  Gericht,  welches  über  das  römische 
Reich  ergehen  soll.  So  hat  ihm  sein  Hebräer,  der  ihm  die 
Schrift  auslegte,  den  Vers  20  des  Propheten  erklärt:  die  Ver- 
triebenen der  Stadt  Jerusalem,  die  zu  Sepharad  sind,  werden 
die  Städte  gegen  Mittag  in  Besitz  nehmen,  d.  h.  die  von  Kaiser 
Hadrian  anläßlich  des  Barkochbaaufstandes  nach  dem  Bosporus 
in  die  Gefangenschaft  geführten  Juden  werden  bei  dem  Er- 
scheinen des  Messias  die  Städte  im  Süden  Judäas  wieder  in 
Besitz  nehmen. 

Die  allegorische  Erklärung  des  Propheten  stammt,  wie 
wir  oben  bemerkten,  aus  christlicher  Quelle,  vor  allem  aus 
Origenes.  Die  Kleinheit  des  Propheten,  dessen  Inhalt  sich 
noch  dazu,  wie  Hieronymus  bereits  bemerkt  hat,  größtenteils 
im  Buche  Jeremia,  abgesehen  von  der  veränderten  Ordnung 
und  kleinen  Differenzen,  wiederfindet,")  schien  besonders  zu 
einer  tiefsinnigen  allegorischen  Auslegung  zu  verlocken.  Die 
Edomiten,  gegen  die  die  Prophetie  gerichtet  ist,  werden  tro- 
pologisch  zunächst  auf  die  Juden  bezogen,  die,  wie  Edom 
auf  Jakob,  auf  die  Christen  eifersüchtig  seien.  Der  Judenhaß 
der  alten  Kirche,  den  Hieronymus  trotz  seines  Verkehrs  mit 
den  Rabbinen  von  ganzer  Seele  teilt,  kommt  hier  zu  scharfem 
Ausdruck.  Die  Juden  sind  in  den  Verfolgungszeiten  der  Kirche 
bösartigere  Verfolger  der  Christen  gewesen  als  die  Heiden; 
sie  haben  immer  mit  hämischer  Freude  das  Unglück  der 
Christen  mitangesehen,  und  dies  konnte  man  ihnen  nicht  ver- 
gessen. )  Nach  der  zweiten  allegorischen  Deutung  sind  unter 
Edom  die  Ketzer  zu  verstehen.  Daß  Hieronymus  hier  ganz 
von  Origenes  abhängig  ist,  beweist  die  Nennung  der  Namen 
Marcions,  Valentins,  der  Äonen,  Ogdoaden,  Duodekaden    und 

')  Obadja  17,  Vallarsi  VI,  378. 
■-)  Obadja  1,  Vallarsi  VI,  365. 
^)  Obadja  10,  Vallarsi  VI,  374. 


Wiederanknüpfung^  mit  Rom.  207 

des  Abraxas,  von  denen  er  nur  durch  Origenes  etwas  weiß.') 
Nach  einer  dritten  allegorischen  Deutung  der  Prophetie  ist 
unter  Edom  das  Fleisch  zu  verstehen.  Es  ist  der  Lieblings- 
gedanke des  großen  Alexandriners  von  dem  Kampfe  des 
Fleisches  mit  der  im  Körper  eingekerkerten  Seele,  den  er  auch 
in  diese  Prophetie  hineinallegorisiert  hatte,  und  den  Hieronymus 
von  ihm  entlehnt,  ohne  sich  aber  die  Heterodoxien  des  Origenes 
zu  eigen  zu  machen.')  Nicht  ohne  Geschmack  und  mit  Scharf- 
sinn hat  Origenes  resp.  Hieronymus  es  verstanden,  diese  dritte 
allegorische  Deutung  durchzuführen  und  auf  diese  Weise  dem 
Text  des  alten  Propheten  wirklich  erbauliche  Gedanken  für 
die  Christen  seiner  Zeit  abzugewinnen.  So  knüpft  er  z.  B. 
an  Obadja  10:  „Fremde  werden  in  ihre  Tore  hineintreten  und 
über  Jerusalem  das  Los  werfen"  die  allegorische  Deutung  an: 
Unter  den  Fremden,  die  die  Tore  Jerusalems  betreten,  können 
wir  die  bösen  Gedanken  und  unter  den  Pforten  Jerusalems 
die  fünf  Sinne  der  ruhenden  und  Gott  schauenden  Seele  ver- 
stehen, durch  die  die  Feinde  eindringen  und  die  Beute  Jeru- 
salems teilen.  Wenn  wir  ein  Weib  ansehen,  ihrer  zu  begehren, 
so  ist  der  Tod  durch  die  Augen,  die  Fenster  der  Seele,  ein- 
getreten; wenn  wir  mit  den  Ohren  die  Lüge  und  Bluturteile 
aufnehmen,  so  ist  der  Feind  durch  eine  andere  Pforte  ein- 
gedrungen. Auch  die  anderen  Sinne,  Geruch,  Geschmack  und 
Gefühl,  können  zu  Mittlern  der  Sünde  werden,  wenn  wir  uns 
durch  die  verschiedenen  Wohlgerüche  oder  durch  süße  Speisen 
oder  durch  zarte  Umarmungen  gefangen  nehmen  lassen,  und 
so  die  Gegner  durch  die  verschiedenen  Pforten  eindringen  und 
die  Beute  des  armen  Jerusalems,  d.  h.  der  Seele,  teilen. 


')  Obadja  4  ff.,  Vallarsi  VI,  371. 

-)  Obadja  1,  Vallarsi  VI,  366;  Obadja  2,  Vallarsi  VI,  369;  Obadja  10, 
Vallarsi  VI,  374. 


208  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

§  39. 

Alte  Freunde   des  Hieronymus,  sein  Verkehr  mit  der 

Heimat. 

Jugendfreundschaft  knüpft  in  der  Regel  ein  innigeres  Band, 
als  die  auf  der  Gemeinsamkeit  der  Interessen  und  des  Berufs 
ruhende  Freundschaft  späterer  Jahre,  in  den  bildsamen  Jahren 
der  Jugend,  in  den  Jahren  unserer  Entwicklung  zu  selbständigen 
Persönlichkeiten,  verlangen  wir  stärker  nach  Anschluß,  und  den 
Genossen  dieser  Jahre  gegenüber  geben  wir  uns  offener,  frei 
von  jener  steifen  Gravität,  die  uns  Stellung  und  Beruf  später 
auferlegen.  Das  Freundschaftsverhältnis  des  Hieronymus  zu 
seinem  Jugendfreund  Heliodor  ist  tief  und  echt.  Hier  begegnen 
uns  bei  Hieronymus  einmal  Herzentöne,  die  wir  sonst  so  oft  ver- 
missen. Die  Askese  hatte  dem  Bethlehemitischen  Heiligen  doch 
noch  nicht  das  Herz  ausgetrocknet,  und  die  Eitelkeit  ließ  ihn 
noch  nicht  in  einsamem  Hochmut  verkommen.  Er  vermochte 
noch  mit  wärmster  Zuneigung  und  anhänglichster  Zärtlichkeit 
zu  lieben,  und  dies  beweist,  daß  doch  auch  dieser  unerfreuliche 
Charakter  seine  guten  Seiten  hatte.  Der  Verzicht  auf  die  Welt 
und  die  klösterliche  Abgeschlossenheit  gestalteten  sich  oft  zu 
einem  fruchtbaren  Boden  für  innige  und  zarte  Freundschaft 
Gleichgesinnter. 

Nepotian,  der  Neffe  Heliodors,  entstammte  einem  vor- 
nehmen Geschlecht,  früh  hatte  er  seinen  Vater  verloren.  Sein 
Onkel  Heliodor  weilte  gerade  in  der  Wüste  Chalcis  mit 
Hieronymus,  um  hier  ein  Eremitenleben  zu  beginnen,  als  ihn 
die  Nachricht  von  dem  Tode  seines  Schwagers  erreichte. 
Die  Pietätsgefühle  Heliodors  waren  stärker  als  sein  asketischer 
Enthusiasmus.  Rasch  entschlossen  kehrte  er  in  die  Heimat 
zurück  und  nahm  sich  hier  seiner  verwitweten  Schwester 
und  seines  verwaisten  Neffen  aufs  zärtlichste  an.  Nepotian 
war  in  die  militia  palatii,  die  Leibgarde  des  Kaisers,  eingetreten; 
aber  unter  der  blendend  weißen  Chlamys  hatte  er  das  rauhe 
Büßerhemd  getragen  und  noch  vor  Empfang  der  Taufe  sich 
im  Geheimen  Fasten  auferlegt.  Er  hatte  dann  plötzlich  der 
glänzenden    weltlichen    Laufbahn,    die    sich    ihm    öffnete,    den 


i 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  209 

Rücken  gekehrt  und  sein  ganzes  Vermögen  den  Armen 
geschenkt.  Er  hatte  sogar  Mönch  werden  wollen,  um  die 
Klöster  Ägyptens  und  Mesopotamiens  zu  besuchen  oder  um 
sich  vielleicht  auf  die  Inseln  Dalmatiens  als  Eremit  zurück- 
zuziehen. Aber  die  Liebe  zu  seinem  Oheim  Heliodor,  der 
Bischof  von  Altinum  geworden  war,  hatte  ihn  zurückgehalten; 
der  Onkel  wollte  den  Neffen,  den  er  selbst  erzogen  hatte,  nicht 
ziehen  lassen  und  weihte  ihn  trotz  seines  Sträubens  zum 
Priester.  Heliodor  hatte  dabei  im  stillen  die  Hoffnung,  daß 
Nepotian  später  sein  Nachfolger  in  der  bischöflichen  Würde 
werden  würde.')  Nepotian  wandte  sich  nun  an  seinen  väter- 
lichen Freund  Hieronymus  mit  der  Bitte,  ihm  ein  Vademecum 
für  seine  Laufbahn  als  angehender  Kleriker  mitzugeben,  und 
Hieronymus  kam  auch  394  diesem  wiederholt  geäußerten 
Wunsche  in  einem  inhaltlich  gehaltvollen  und  formell  aufs 
feinste  stilisierten  Schreiben  nach. 

Dieses  Pastorale  war  natürlich  nicht  allein  für  den  Neffen 
seines  alten  Freundes  Heliodor  geschrieben,  sondern  Hieronymus 
wandte  sich  damit  an  die  breiteste  Öffentlichkeit:  „Ich  sage  dies 
nicht",  so  spricht  er  sich  einmal  ausdrücklich  aus,  „weil  ich 
dies  bei  dir  oder  bei  heiligen  Männern  fürchte,  sondern  weil 
in  jedem  Stand,  Beruf  und  Geschlecht  Gute  und  Böse  erfunden 
werden,  und  die  Verdammung  der  Bösen  das  Lob  der  Guten 
ist."-')  Wie  Chrysostomus  in  seinem  Buche  über  das  Priester- 
tum,  zeichnet  Hieronymus  hier  das  Idealbild  eines  Priesters  vom 
mönchisch-asketischen  Standpunkt  aus.  Es  ist  weit  ruhiger  und 
leidenschaftsloser  geschrieben  als  seine  früheren  asketischen 
Mahnschreiben.  Hieronymus  ist  trotz  des  Festhaltens  an  seinen 
asketischen  Grundüberzeugungen  milder  geworden.  Sein 
Schreiben  an  seinen  Freund  Heliodor  über  das  Lob  der  Wüste 
beurteilt  er  jetzt  als  jugendliches  Machwerk  voll  rethorischer 
Floskeln,')  und  wenn  seine  Gegner  sein  jetziges  Werk,  wie 
vor  10  Jahren  sein  Buch  von  der  Jungfrauschaft  an  Eustochium 
steinigen  wollen,  so  können  sie  ihm  wenigstens  diesmal  keine 
persönlich   verletzende  Absicht  unterschieben:    „Ich    habe  nie- 

')  Ep.  60,  9  und  10,  Vallarsi  l,  335. 

2)  Ep.  52,  5,  Vallarsi  I,  258. 

3)  Ep.  52,  1,  Vallarsi  I,  253;    s.  über   diese  Epistel  14,  Bd.  I,  166  ff. 

Grützmacher,    Hieronymus.    II.  14 


210  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

manden  verletzt,  ich  habe  niemandes  Namen  auch  nur  durch 
Beschreibung  kenntlich  gemacht.  Niemanden  hat  meine  Rede 
besonders  getroffen.  Ich  habe  allgemein  über  die  Laster 
gehandelt.  Wer  mir  zürnen  will,  muß  erst  selbst  eingestehen, 
daß  er  ein  solch  lasterhafter  Kleriker  ist,  wie  ich  ihn  geschildert 
habe."')  Hieronymus  ist  vorsichtiger  geworden,  er  will  nicht 
wieder  einen  Sturm  gegen  sich  heraufbeschwören.  Solche 
geschmacklosen  Übertreibungen,  mit  denen  er  einst  im  jugend- 
lichen Enthusiasmus  seinem  Freunde  Heliodor  die  Weltflucht 
angepriesen  hatte:  „Mag  dein  Vater  auf  der  Schwelle  liegen, 
schreite  nur  mutig  darüber  hinweg,  ja  trocknen  Auges  fliege  zur 
Fahne  des  Kreuzes  hin",  hat  er  vermieden.')  Und  Hieronymus 
hat  sich  auch  gehütet,  wie  im  Schreiben  an  Eustochium,  wo 
er  ein  bis  zur  Karikatur  verzerrtes  Bild  eines  weltförmigen 
römischen  Klerikers  entworfen  hatte,  seine  Gegner  persönlich 
anzugreifen.  Es  liegt  die  temperierte  Ruhe  des  Alters  über 
diesem  Schreiben  gebreitet  und  es  spricht  aus  ihm  eine 
schärfere  Welt-  und  Menschenkenntnis.  Hieronymus  kennt 
die  Menschen  zwar  nur  von  einer  Seite,  nämlich  von  der 
schlechten;  aber  nach  ihrer  Erbärmlichkeit  kennt  er  sie  gründlich. 
Er  ist  kein  Stubengelehrter,  der  von  der  Welt  nur  aus  Büchern 
weiß,  er  hat  sich  trotz  seiner  Möncherei  einen  offenen  Blick 
für  alle  Verhältnisse  bewahrt  und  zeigt  sich  in  diesem  Schreiben 
als  kluger  und  nüchterner  Praktiker.  Stellt  man  sich  einmal 
auf  den  mönchisch-asketischen  Standpunkt,  so  wird  man  den 
praktischen  Anweisungen,  wie  sie  hier  Hieronymus  dem 
Nepotian  darbietet,  ihre  Berechtigung  nicht  versagen  können. 
Aus  dem  Namen  des  Klerikers  von  lUrjooy  -  entweder  weil 
er  zu  Gottes  Erbteil  gehört  oder  weil  Gott  sein  Erbteil  ist  — 
leitet  er  die  erste  Hauptpflicht  des  Klerikers,  die  apostolische 
Armut  ab.  Wer  Gott  zum  Erbteil  hat,  darf  nichts  anderes  mehr 
besitzen.  Wie  der  Levit  und  Priester  vom  Zehnten  lebt  und, 
dem  Altar  dienend,  von  dem  auf  dem  Altar  Dargebrachten 
Nahrung  und  Kleidung  erhält,  so  soll  der  christliche  Kleriker 
nackt    dem    nackten    Kreuze    folgen:    „Den    erwerbssüchtigen 

')  Ep.  52,  17,  Vallarsi  I,  267. 
»)  Ep.  14,  2,  Vallarsi  I,  29. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  211 

Kleriker,  der  aus  einem  Armen  reich,   aus  einem  Unbekannten 
berühmt  wird,  fliehe  wie  die  Pest.') 

Eins,  vielleicht  das  schwierigste  Problem  für  den  asketisch 
lebenden  Kleriker  ist  aber  das  Verhältnis  zu  den  Frauen  seiner 
Gemeinde.  Hieronymus  warnt  Nepotian  eindringlich  davor,  keine 
Frauen  in  seiner  Wohnung  zu  empfangen;  und  wir  werden  dieses 
Mißtrauen  in  dem  Zeitalter  der  Dekadence  der  sittlichen  Zustände 
nicht  für  übertrieben  halten  dürfen.  Alle  Töchter  und  Jungfrauen 
Christi  soll  er  entweder  in  der  gleichen  Weise  ignorieren  oder 
in  der  gleichen  Weise  lieben.  Auch  der  früheren  Keuschheit 
soll  er  niemals  trauen:  „Gedenke  immer,  daß  der  Bewohner 
des  Paradieses  aus  seinem  Besitztum  durch  ein  Weib  hinaus- 
geworfen wurde." ')  Ist  ein  Kleriker  krank,  so  soll  ihm  ein 
Bruder,  eine  leibliche  Schwester,  die  Mutter  oder  eine  alte 
Frau,  deren  die  Kirche  viele  ernährt,  Handreichung  tun.  Auf 
seelsorgerischen  Besuchen  bei  Witwen  und  Jungfrauen  soll 
er  sich  stets  von  einem  Lektor,  Akoluthen  oder  Psalmsänger 
begleiten  lassen,  aber  nur  von  solchen  Klerikern,  die  nicht  ihr 
Kleid,  sondern  ihre  Sitten  zieren,  die  nicht  die  Haare  mit  dem 
Brenneisen^  kräuseln,  sondern  deren  Haltung  Keuschheit  ver- 
spricht. Auch  von  den  häufigen  Geschenken,  den  Schweiß- 
tüchlein, den  Bändchen,  den  an  den  Mund  gehaltenen  Kleidern, 
den  dargereichten  oder  vorgekosteten  Speisen,  den  zärtlichen 
und  süßen  Briefchen  weiß  eine  heilige  Liebe  nichts.  Auch 
Hieronymus  hatte  manches  Billet  doux  in  Rom  mit  seinen 
frommen  Schülerinnen  gewechselt  und  manches  Körbchen 
Kirschen  zum  Geschenk  erhalten.  Ob  er  dabei  die  Erfahrung 
gemacht  hatte,  daß  es  nicht  immer  eine  heilige  Liebe  war,  die 
diese  Gaben  darbot? 

Dann  wendet  er  sich  einem  ebenfalls  sehr  heiklen 
Gegenstand  zu,  indem  er  den  Kleriker  vor  Erbschleicherei 
warnt.  Die  heidnischen  Priester,  die  Schauspieler,  Wagen- 
lenker und  Huren  dürfen  Erbschaften  machen,  nur  dem 
christlichen  Kleriker  und  Mönch  ist  dies  untersagt.  Kaiser 
Valentinian  I.  hatte  ein  Gesetz  gegen   die  Erbschleicherei  des 


»)  Ep.  52,  5,  Vallarsi  I,  257. 
2)  Ep.  52,  5,  Vallarsi  1,  257. 

14' 


212  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

christlichen  Klerus  erlassen.')  Hieronymus  so  wenig  wie 
Ambrosius')  wagten  die  Notwendigkeit  und  Nützlichkeit  dieses 
kaiserlichen  Gesetzes  zu  bestreiten:  „ich  beklage  mich  nicht 
über  das  Gesetz,  aber  ich  bedaure,  daß  wir  ein  solches  Gesetz 
verdient  haben."')  Aber  es  ist  bezeichnend,  daß  Hieronymus 
auf  der  einen  Seite  den  Priestern  und  Mönchen  jede  Bereicherung 
aufs  energischste  verbietet,  auf  der  andern  Seite  aber  die  Ver- 
mehrung des  Besitzes  der  Kirche  lebhaft  befürwortet.  Eine 
besitzlose  Kirche  ist  nicht  sein  Ideal.  „Unsere  Erbin  darf  nur 
die  Kirche  sein,  sie,  welche  uns  gebar,  ernährte  und  aufzog. 
Warum  noch  etwas  zwischen  Mutter  und  Kinder  einschieben?") 
Wie  nötig  aber  das  kaiserliche  Gesetz  gegen  die  Erbschleicherei 
war,  mit  welchen  widerlichen  Praktiken  die  christlichen  Kleriker 
sich  reichen  Besitz  zu  verschaffen  wußten,  davon  teilt  uns 
Hieronymus  charakteristische  Züge  mit:  „Ich  höre  von  schimpf- 
lichen Dienstleistungen  der  Kleriker,  die  sie  kinderlosen  Greisen 
und  alten  Frauen  erweisen.  Sie  schieben  ihnen  den  Nachttopf 
unter,  sitzen  an  ihrem  Bett  und  fangen  mit  eigener  Hand  das 
Erbrochene  ihres  Magens  und  den  Schleim  ihrer  Lunge  auf. 
Sie  fürchten  sich  beim  Eintritt  des  Arztes  und  .fragen  mit 
zitternden  Lippen,  ob  es  nicht  besser  gehe;  und  wenn  der 
Greis  wieder  zu  Kräften  kommt,  so  wird  es  ihnen  bange. 
Während  sie  Freude  heucheln,  erleidet  ihr  geiziger  Sinn  inner- 
lich Folterqualen;  denn  sie  fürchten,  daß  sie  ihre  Dienstleistung 
vergeblich  erwiesen  haben  und  vergleichen  die  Jahre  des  noch 
lebenskräftigen  Greises  mit  dem  Alter  Methusalems."') 

Dann  folgen  die  positiven  Forderungen,  die  Hieronymus 
an  den  Kleriker  stellt.  Er  soll  eifrig  in  der  Schrift  lesen,  damit 
er  andere  in  gesunder  Lehre  unterweisen  kann,  er  soll  aber 
auch  selbst  tun,  was  er  anderen  predigt.  SeincFii  Bischof  soll 
er  Untertan  sein  wie  dem  Vater  seiner  Seele,  aber  auch  die 
Bischöfe  sollen  wissen,  daß  sie  Priester  und  nicht  Herren  sind. 
Hieronymus    beklagt  sich  dabei  bitter  über  die  Sitte  gewisser 


')  Cod.  Theod.  1.  XVI,  tit.  3,  coli.  1.  111,  tit.  2. 

-)  Ep.  18,  13. 

»)   Ep.  52,  6,  Vallarsi  1,  259. 

')  Ep.  52,  6,  Vallarsi  1,  259. 

»)  Ep.  52,  6,  Vallarsi  1,  259. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  213 

Kirchen  —  das  vierte  Konzil  von  Karthago  hatte  es  für  Nordafrika 
festgesetzt, ')  —  daß  die  Priester  in  Gegenwart  der  Bischöfe 
schweigen  müssen  und  nicht  reden  dürfen,  gleich  als  ob  die 
Bischöfe  eifersüchtig  auf  die  Priester  sind  oder  es  unter  ihrer 
Würde  finden  sie  anzuhören.  Wenn  der  Priester  in  der  Kirche 
predigt,  so  soll  er  nicht  durch  gewandte  Rhetorik  dem 
ungebildeten  Volk  etwas  vormachen,  sondern  sich  als  wohl- 
erfahrener Kenner  der  Geheimnisse  des  Gottesreiches  erweisen. 
Im  Äußeren  soll  er  alles  Auffallende  vermeiden,  weder  schmutzige, 
noch  ausgesucht  blendende  Kleider  tragen.  Die  Gastmähler 
der  Weltlichen,  besonders  der  Reichen  soll  er  vermeiden:  „Es 
ist  schimpflich,  wenn  an  der  Türe  eines  Priesters  des  armen  ge- 
kreuzigten Christus  die  Liktoren  der  Konsuln  oder  die  Soldaten 
Wache  stehen,  und  der  Richter  der  Provinz  bei  dir  besser 
diniert,  als  in  seinem  eigenen  Palast."  ')  Entschuldigt  man  dies 
damit,  daß  der  Priester  für  die  Armen  und  Unterdrückten  bei  den 
weltlichen  Beamten  Einfluß  gewönne,  wenn  er  den  regsten 
geselligen  Verkehr  mit  ihnen  pflege,  so  macht  dem  entgegen 
Hieronymus  gewiß  nicht  mit  Unrecht  geltend,  daß  ein  asketischer 
Kleriker  dem  weltlichen  Richter  weit  mehr  Achtung  abnötige 
als  ein  weltförmiger.  Auf  die  Wohltat  eines  Richters,  der  nur 
bei  vollen  Bechern  sich  der  Fürbitte  des  Geistlichen  für  einen 
Unglücklichen  zugänglich  erweise,  verzichte  man  lieber  und 
wende  sich  an  Christus,  der  besser  und  schneller  helfen  kann. 
Was  die  asketische  Lebensführung  des  Geistlichen  betrifft, 
so  stellt  Hieronymus  keine  extremen  Forderungen  mehr;  er  ist 
hierin  sichtlich  nüchterner  geworden  als  früher.  Er  verbietet 
nicht  den  Weingenuß,  sondern  fordert  nur  das  richtige  Maß 
im  Trinken,  entsprechend  dem  Alter  und  dem  körperlichen 
Gesundheitszustand.  Auch  im  Fasten  soll  er  Maß  halten  und 
sich  nicht  mehr  auferlegen,  als  er  ertragen  kann.  Schonungslos 
geißelt  er  die  Spielerei  und  Heuchelei,  die  man  mit  dem  Fasten 
trieb.  Man  vermied  zwar  den  Zusatz  von  Öl  an  den  Speisen, 
aber  man  aß  statt  dessen  die  raffiniertesten  Dinge,  wie  Feigen, 
Nüsse,  Datteln,  Honig,  Pistazien;  man  trank  statt  Wasser  leckere 


')  Ep.  52,  7,  Vallarsi  I,  261.   Das  vierte  Konzil  von  Karthago,  Canon  33, 
s.  Vallarsi  I,  261,  Anm.  a. 

-')  Ep.  52,  11,  Vallarsi  1,  263. 


214  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Brühen  und  zerriebene  Gemüse  aus  Muschelschalen.  Besonders 
eindringlich  warnte  er  aber  den  Kleriker  vor  dem  Geschwätz 
der  Menschen.  Willst  du  wissen,  welchen  Schmuck  der  Herr 
begehrt?  Beweise  Klugheit,  Gerechtigkeit,  Mäßigkeit,  Tapfer- 
keit. ')  Es  sind  die  vier  Kardinaltugenden  Piatos,  die  Hiero- 
nymus  als  das  kostbarste  Halsgeschmeide,  als  den  glänzendsten 
Edelstein,  als  Schmuck  und  Schutz,  als  Zierde  und  Schild  eines 
christlichen  Klerikers  preist.  Eine  bessere  Ethik  kennt  auch  der 
christliche  Theologe  nicht.  Die  eigentümliche  Vermählung  des 
Christentums  mit  der  Antike  tritt  uns  hier  aufs  frappierendste 
entgegen. 

Als  letzte  Pflicht  schärft  Hieronymus  dem  Kleriker  das 
seelsorgerische  Gebot  zu  schweigen  ein.  Der  Kleriker  kommt 
durch  seinen  Beruf  in  viele  Häuser,  er  muß  anvertraute 
Geheimnisse  zu  bewahren  wissen.  Als  Prediger  der  Enthalt- 
samkeit soll  er  keine  Ehe  stiften,  als  Priester,  dem  nur  die 
erste  Ehe  erlaubt  ist,  Witwen  nicht  zur  zweiten  Ehe  aufmuntern. 
Er,  der  sein  eigenes  Vermögen  gering  achten  soll,  soll  sich 
nicht  zum  Vermögensverwalter  fremder  Vermögen  machen 
lassen,  um  sich  auf  diese  Weise  zu  bereichern. 

Nepotian  war  überglücklich  über  das  Schreiben  seines 
väterlichen  Freundes.  Er  rühmte  sich,  mehr  als  die  Schätze 
des  Krösus  und  die  Reichtümer  des  Darius  an  ihm  zu  besitzen.- 
Wenn  er  sich  des  Nachts  auf  seinem  Lager  umherwälzte,  so 
lag  das  süße  Buch  auf  der  Brust  des  Einschlafenden.  Wenn 
einer  seiner  Freunde  oder  ein  Fremder  ihn  besuchte,  so  las  er 
es  vor  und  rühmte  das  ihm  dedizierte  Büchlein.'-)  Um  so 
schmerzlicher  war  Hieronymus  berührt,  als  er  bereits  zwei  Jahre 
später  die  Nachricht  von  dem  Tode  des  jungen  hoffnungs- 
vollen Priesters  empfing.  Ein  heftiges  Fieber  hatte  ihn  rasch 
dahin  gerafft.  Gefaßt  war  er  gestorben,  er  hatte  den  heiß- 
geliebten Onkel  Heliodor  noch  sterbend  getröstet.  „Froh  war 
sein  Blick  und,  während  die  andern  weinten,  lächelte  er  selbst 


')  s.  Ep.  64,  21;  ep.  66,  1;  Zöcl<ler,  S.  454,  Anm.  1,  weist  darauf 
hin,  daß  von  einer  Zusanimcnsrellung  der  vier  Kardinaltugenden  mit  den 
drei  theologischen  Tugenden  fides,  spes  und  Caritas,  die  erst  Augustin  voll- 
zog, bei  Hieronymus  noch  nichts  zu  finden  ist. 

■-)  Ep.  60,  11,  Vallarsi  I,  337. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  215 

allein."')  Nepotian  hatte  die  Hand  des  Onkels  ergriffen  und 
auch  noch  seines  väterlichen  Freundes  Hieronymus  gedacht: 
„Die  Tunika,  die  ich  im  Dienste  Christi  gebraucht,  sende 
meinem  liebsten  Hieronymus,  dem  Alter  nach  meinem  Vater, 
der  priesterlichen  Würde  nach  meinem  Bruder,  und  was  du  an 
Liebe  dem  Neffen  erwiesen  hast,  übertrage  auf  jenen,  den  du 
mit  mir  in  gleicher  Weise  liebst."  ') 

Seinem  alten  Freunde  Heliodor  sandte  Hieronymus  ein 
warm  empfundenes  Trostschreiben.  Wohl  hatte  ihm  die 
zärtliche  Anhänglichkeit  seines  jungen  Freundes  geschmeichelt, 
und  er  kann  es  nicht  lassen,  sich  selbst  in  dem  Epitaphium 
auf  Nepotian  ein  Denkmal  zu  setzen,  aber  durch  alle  Rhetorik 
bricht  doch  die  herzlichste  Anteilnahme  hindurch.  „Mein 
Nepotian,  dein,  unser,  nein  Christi  oder  weil  Christi,  deshalb 
noch  mehr  unser,  läßt  uns  als  Greise  zurück,  von  dem 
Pfeile  der  Sehnsucht  nach  ihm  verwundet  und  vom  unerträg- 
lichen Schmerz  gebeugt.  Den  wir  für  unseren  Erben  hielten, 
ihm  halten  wir  das  Begräbnis.  Was  der  Jüngling  uns  tun 
sollte,  müssen  wir  Greise  dem  Jüngling  tun.')  Wie  sollen 
wir  uns  trösten?"  In  kunstvoller  Anordnung  führt  uns  Hiero- 
nymus zunächst  die  Großen  der  griechischen  und  römischen 
Geschichte  vor  Augen:  einen  Perikles,  der  nach  dem  Verluste 
zweier  Söhne  bekränzt  in  der  Volksversammlung  sprach,  einen 
Xenophon,  der,  als  ihm  beim  Opfer  der  Tod  seines  Sohnes 
im  Krieg  gemeldet  wurde,  zuerst  den  Kranz  ablegte,  und  als 
er  hörte,  daß  sein  Sohn  tapfer  in  der  Schlachtenreihe  kämpfend 
gefallen  sei,  ihn  wieder  auf  sein  Haupt  setzte,  und  einen 
L.  Paulus,  der  während  des  Begräbnisses  zweier  Söhne  sieben 
Tage  lang  als  Triumphator  in  Rom  einzog.*)  Nach  diesen 
Schulbeispielen  aus  der  Geschichte  spricht  er  über  den 
Schmerz  des  Christen  beim  Tode  eines  geliebten  Menschen. 
Wir  wissen  zwar,  daß  unser  Nepotian  bei  Christus  ist  und 
sich  in  die  Chöre  der  Heiligen  mischt,  aber  die  Sehnsucht 
nach    seiner    Abwesenheit    können    wir    nicht    ertragen,    nicht 


1)  Ep.  60,  13,  Vallarsi  I,  339. 

2)  Ep.  60,  13,  Vallarsi  I,  339. 
=»)  Ep.  60,  1,  Vallarsi  I,  329. 
*)  Ep.  60,  5,  Vallarsi  1,  332. 


216  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

jenes,  sondern  unser  Los  beweinend.  Je  glücklicher  er  ist, 
um  so  mehr  empfinden  wir  Schmerz,  daß  wir  eines  solchen 
Gutes  entbehren.  Die  Schwestern  beweinten  auch  Lazarus, 
von  dem  sie  wußten,  daß  er  auferstehen  würde,  und  der 
Erlöser  selbst,  um  den  wahren  menschlichen  Schmerz  aus- 
zudrücken, beweinte  den,  welchen  er  wieder  auferweckte. 

Das  kurze  Lebensbild,  das  Hieronymus  von  dem  Ver- 
storbenen gibt,  zeigt  uns  ein  schlichtes,  nicht  an  ungewöhn- 
lichen Lebensschicksalen  reiches  Leben;  aber  wir  bekommen 
dennoch  einen  starken  Eindruck  von  der  Persönlichkeit  Nepotians. 
Mag  Hieronymus  sein  Bild  verklärt  haben  —  wo  geschieht  dies 
nicht  in  Leichenreden  —  wir  begreifen  es,  daß  die  christliche 
Kirche  trotz  alles  Verfalls  um  sie  her  und  auch  in  ihr  die  stärkste 
konservierende  Macht  des  Zeitalters  war  und  blieb,  wenn  sich 
solche  selbstlose  und  opferwillige  Kleriker  wie  Nepotian  in 
ihren  Dienst  stellten.  Als  Last,  nicht  als  Ehre  hatte  er  sein 
priesterliches  Amt  aufgefaßt.  Er  hatte  sich  gemüht  ein  Stab  der 
Blinden,  eine  Speise  für  die  Hungernden,  die  Hoffnung  der 
Elenden,  der  Trost  der  Traurigen  zu  sein,  in  treuester  Liebe 
seinem  Onkel  und  Bischof  Heliodor  ergeben,  hatte  er  ein  Leben 
mönchischer  Enthaltsamkeit  in  Gebet,  Nachtwachen  und  Fasten 
geführt.  Mit  edler  Schamhaftigkeit,  die  sein  jugendliches  Alter 
zierte,  hatte  er  sich  nicht  selbst  gerühmt,  sondern  sich  stets  auf 
die  Autorität  eines  Tertullian,  Cyprian,  Lactanz,  Hilarius,  Minucius 
Felix,  Victorin,  Ambrosius  und,  wie  Hieronymus  bei  seiner  Eitelkeit 
nicht  zu  erwähnen  unterlassen  kann,  auch  auf  ihn  sich  berufen. 
Auch  den  kleinen  und  kleinsten  Dingen  seines  priesterlichen 
Berufs  war  Nepotian  mit  sorgsamstem  Fleiß  nachgegangen: 
„Er  war  besorgt,  ob  der  Altar  glänzte,  ob  die  Wände  der  Kirche 
ohne  Schmutz,  ob  der  Boden  gekehrt  sei,  ob  der  Pförtner 
immer  an  der  Kirchtür  stehe,  ob  der  Vorhang  vor  dem  Eingang, 
ob  die  Kapelle  rein  seien,  ob  die  Gefäße  funkelten.  Er  ließ  die 
Basiliken  und  Kapellen  der  Märtyrer  mit  Blumen,  Blumenzweigen 
und  Weinreben  schmücken,  so  daß,  was  in  der  Kirche  durch 
Anordnung  und  Aussehen  erfreute,  die  Arbeit  und  Sorgfalt  des 
Priesters   bezeugte."')     In  zartester  Weise    sprach  Hieronymus 


')  Ep.  60,  12,  Vallarsi  I,  338. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  217 

seinem  Jugendfreund  Heliodor  zu,  seinen  Schmerz  zu  mäßigen. 
Er  ist  ein  cliristlicher  Bischof,  und  alle  Augen  sind  auf  sein 
Haus  und  sein  Verhalten  gerichtet,  seine  Haltung  bestimmt  die 
öffentliche  Zucht.  Er  muß  deshalb,  soviel  er  kann,  die  Weich- 
heit seiner  Empfindung  und  die  reichlich  fließenden  Tränen 
unterdrücken,  damit  nicht  die  Heiden  die  große  Liebe  zu  dem 
Neffen  als  Verzweiflung  an  Gott  deuten. 

Der  Nekrolog  Nepotians  klingt  in  ein  grandioses  Bild 
von  dem  Verfall  des  Römerreiches  aus.  Keine  irdische  Macht 
schützt  mehr  vor  einem  unnatürlichen  Tode.  Kaiser  und 
Konsuln  haben  seit  Constantius  nur  zu  oft  ein  unnatürliches 
Ende  gefunden.  Seit  mehr  als  zwanzig  Jahren  wird  zwischen 
Konstantinopel  und  den  Julischen  Alpen  täglich  römisches 
Blut  vergossen.  Skythien,  Thracien,  Makedonien,  Dardanien, 
Dacien,  Thessalien,  Achaia,  Epirus,  Dalmatien  und  ganz 
Pannonien  verwüsten  und  berauben  Goten,  Sarmaten,  Quaden, 
Alanen,  Hunnen,  Vandalen  und  Markomannen.  Unberührt  von 
diesen  Unglücksfällen  erschien  der  Orient  und  wurde  nur  durch 
Nachrichten  erschreckt.  Da  brachen  im  vergangenen  Jahre 
aus  den  verborgenen  Felsen  des  Kaukasus  die  Wölfe  des 
Nordens  herein.  Die  furchtbare  Hunneninvasion ')  hatte  bis  in 
das  einsame  Kloster  zu  Bethlehem  Schrecken  und  Entsetzen 
verbreitet  und  die  Insassen  zeitweilig  zur  Flucht  getrieben. 
Hieronymus  empfand  diese  Zerrüttung  des  Reiches  als 
römischer  Patriot,  sein  Christentum  hatte  seinen  Patriotismus 
nicht  auszutilgen  vermocht:  „O  welche  Schande,  das  röFiiische 
Heer,  der  Sieger  und  Herr  des  Weltkreises,  wird  von  den  Hunnen 
besiegt  und  durch  den  Anblick  des  flüchtigen  Reitervolkes 
erschreckt,  das  nicht  zu  Fuß  einhergehen  kann  und,  wenn  es 
die  Erde  berührt,  für  tot  gehalten  wird.')  Wie  glücklich  ist 
Nepotian,  der  dies  nicht  mehr  sieht,  wie  glücklich,  daß  er 
nichts  mehr  davon  hört.  Durch  unsere  Sünden  sind  die 
Barbaren  mächtig,  durch  unsere  Laster  wird  das  römische 
Heer  überwunden."  Das  Gefühl  der  Vergänglichkeit  alles 
Irdischen  überkommt  Hieronymus  mit  unwiderstehlicher  Gewalt. 


1)  Ep.  77,  S,  Vallarsi  I,  460. 

2)  Ep.  60,  17,  Vallarsi  1,  344. 


218  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Daß  der  römische  Staat  dem  Sterben  entgegengeht,  daß  die 
festeste  irdische  Institution  zusammenbricht,  löst  in  ihm  bei 
dem  Tode  seines  jugendlichen  Freundes  auch  den  Gedanken 
an  den  eigenen  Tod  aus.  „Täglich  sterben  wir,  täglich  wechseln 
wir  unsere  Gestalt  und  glauben  dennoch  ewig  zu  sein. 
Während  ich  diktiere,  was  niedergeschrieben  wird,  während  ich 
es  überlese  und  korrigiere,  nimmt  mein  Leben  ab.  So  viele 
Pünktchen  der  Schreiber  entstehen,  so  viele  Augenblicke  der  mir 
zugemessenen  Zeit  vergehen.  Wir  haben  nur  einen  Gewinn, 
daß  wir  durch  die  Liebe  Christi  verbunden  sind.  Die  Liebe 
hört  nimmer  auf.  Deshalb  ist  unser  Nepotian  abwesend,  doch 
gegenwärtig,  und  die  durch  so  große  Fernen  Getrennten  um- 
schlingt er  mit  beiden  Händen.  Dem  wir  körperlich  nicht 
mehr  nahe  sein  können,  den  laßt  uns  in  der  Erinnerung  halten 
und  mit  dem  wir  nicht  mehr  reden  können,  von  ihm  laßt  uns 
niemals  zu  reden  aufhören."') 

Die  Beziehungen  des  Hieronymus  zur  Heimat  waren 
gegen  Ende  der  neunziger  Jahre  des  vierten  Jahrhunderts 
wieder  lebendiger  geworden.  397  hatte  sich  Hieronymus 
genötigt  gesehen,  seinen  Bruder  Paulinian  in  die  Heimat 
zu  senden,  da  das  Pilgerhaus,  das  Paula  und  Hieronymus 
neben  ihren  Klöstern  in  Bethlehem  errichtet  hatten,  viel  Geld 
verschlang.  Paulinian  sollte  deshalb  die  halbverfallenen  Villen 
des  elterlichen  Erbes,  die  den  Händen  der  Barbaren  entgangen 
waren,  und  die  Zinsrenten  der  Eltern  verkaufen,  um  den  Ertrag 
nach  Bethlehem  zu  bringen,  wo  man  dann  die  Unterhaltung 
des  Klosters  und  Pilgerhauses  damit  bestreiten  wollte,  weil  die 
Mittel  der  Paula  nicht  mehr  reichten.')  Durch  diesen  Besuch 
Paulinians  hatte  man  in  der  Heimat  wieder  mehr  von  Hiero- 
nymus gehört,  und  man  wünschte  nun  durch  Briefe  oder  per- 
sönliche Besuche  mit  dem  berühmten  Landsmann  in  engere 
Beziehungen  zu  treten. 

Ein  pannonischer  Bischof  Amabilis  sandte  einen  Diakon 
Heraklius  nach  Bethlehem,  um  von  ihm  einen  Kommentar  zu 
den   zehn   Gesichten   oder  Lasten    des  Propheten  Jesaia,    d.  h. 

')  Ep.  60,  13,  Vallarsi  1,  345. 

-)  Ep.  66,  14  ad  Pammachium,  Vallarsi  I,  401. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  219 

ZU  den  Kapiteln  13 — 23  zu  erbitten  und  mit  heimzubringen. 
Dieser  Kommentar  wurde  von  Hieronymus  später  unverändert 
in  seinen  großen  Kommentar  zu  Jesaia  aufgenommen  und 
bildet  dort  das  fünfte  Bucin.') 

Ein  anderer  blinder  Pannonier  Castrutius")  hatte  Heraklius 
auf  dieser  Reise  nach  Bethlehem  begleiten  wollen.  Man  hat 
ihn  für  einen  Verwandten  des  Hieronymus  wegen  der  Ähn- 
lichkeit seines  Namens  mit  dem  der  Tante  des  Hieronymus, 
Castorina,  gehalten,  doch  läßt  sich  dies  nicht  erweisen. 
Castrutius  war  aber  nur  bis  Cissa  gelangt,  wahrscheinlich 
ein  zwischen  Venedig  und  Triest  gelegener  Ort."*)  Darüber 
tröstet  ihn  Hieronymus  in  einem  launigen  Briefe,')  daß  er  es 
schon  hoch  anzuschlagen  wisse,  wenn  ein  Pannonier,  eine 
Landratte,  sich  den  Stürmen  des  adriatischen  Meeres  und  den 
Gefahren  des  ägäischen  und  jonischen  Meeres  habe  anvertrauen 
wollen.  Er  nehme  den  guten  Willen  für  die  Tat.  Auch  die 
Skrupel,  die  sich  Castrutius  über  den  Verlust  des  Augenlichts  als 
Strafe  für  seine  Sünde  machte,  suchte  er  ihm  zu  nehmen;  denn 
als  die  Apostel  dies  bei  dem  Blindgeborenen  argwöhnten,  wies 
sie  der  Herr  zurecht.  Da  es  den  Gottlosen  bisweilen  gut  und 
den  Frommen  schlecht  auf  Erden  geht,  dürfen  wir  nicht 
Krankheit,  Mühsal  und  Armut  als  Strafen  ansehen.  Auch  der 
Sohn  Gottes  hat  ja  die  Kreuzesschmach  erduldet;  und  wen 
der  Herr  liebt,  den  züchtigt  er.  Zum  Trost  erzählt  er  dem 
Castrutius  eine  Anekdote  seines  verehrten  Lehrers  Didymus:  Als 
der  Eremit  Antonius  nach  Alexandria  kam,  fragte  er  den 
gelehrten  Vorsteher  der  Katechetenschule,  den  blinden  Didymus, 
ob  er  den  Mangel  des  Augenlichts  betraure  und  als  dieser 
dies  bejahte,  antwortete  ihm  Antonius:  „Ich  wundere  mich, 
daß  ein  weiser  Mann  sich  über  den  Verlust  einer  Sache  betrübt, 
die  auch  Ameisen,  Fliegen,  Mücken  besitzen  und  sich  nicht 
vieUmehr  freut  das  zu  besitzen,  was  allein  den  Aposteln  und 
Heiligen  Gottes  gegeben  ist."  Hieronymus  spricht  seinem  Lands- 


^)  Praef.  in  lib.  V  Comm.  in  Isaiam,  Vallarsi  IV,  169. 
-)  Die    Überlieferung    des    Namens    schwankt    zwischen    Castrutius, 
Castricianus  und  Castrianus,   s.  Vallarsi  I,  407  Anm.  a. 
^)  s.  Vallarsi  I,  407  Anm.  a. 
')  Ep.  68,  Vallarsi  I,  407  ff. 


220  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

mann  noch  die  Hoffnung  aus,  daß  es  ihm  vielleicht  im  nächsten 
Jahre  in  Begleitung  des  Diakons  Heraklius,  der  ihm  den  Brief 
des  Hieronymus  überbrachte,  möglich  sein  werde,  seinen 
Besuch  in  Bethlehem  auszuführen.')  Wir  hören  nichts  weiter 
von  Castrutius  und  wissen  daher  nicht,  ob  er  wirklich  nach 
Bethlehem  gelangte. 

Heraklius  scheint  aber  im  nächsten  Jahre  wieder  nach 
Bethlehem  gekommen  zu  sein,  wobei  er  den  Brief  eines 
vermutlich  auch  aus  Pannonien  stammenden  Presbyters  Vitalis 
dem  Hieronymus  aushändigte  und  auf  der  Rückreise  das 
Antwortschreiben  des  Hieronymus  mit  zurücknahm.-)  Vitalis 
hatte  schon  vorher  mit  Hieronymus  in  einen  Briefwechsel 
einzutreten  versucht,  aber  sein  Brief,  den  er  einem  Schiffsherrn 
Zeno  zur  Besorgung  übergeben  hatte,  war  dem  Hieronymus 
nicht  bestellt  worden.  Hieronymus  ist  darüber  verwundert, 
da  ihm  Zeno  einen  gleichzeitig  an  ihn  abgesandten  Brief  des 
Bischofs  Amabilis  richtig  zugestellt  hatte.  Er  konnte  sich  die 
Sache  nur  mit  dem  Irrtum  des  Mannes,  den  er  als  durchaus 
zuverlässig  kannte,  erklären:  Der  griechisch  sprechende 
Schiffseigner  —  wir  gewinnen  einen  interessanten  Einblick  in 
die  antike  Briefbestellung  —  habe  die  lateinische  Adresse 
nicht  entziffern  können.  )  Erst  auf  den  zweiten,  ihm  durch 
den  Diakon  Heraklius  überbrachten  Brief  des  Vitalis  konnte 
Hieronymus  antworten.  Vitalis  hatte  ihm  die  Frage  vorgelegt, 
warum  Salomo  und  Ahas  nach  den  Büchern  der  Könige 
bereits  im  Alter  von  elf  Jahren  Kinder  gezeugt  haben.  Hiero- 
nymus ist  ärgerlich,  daß  man  ihm  immer  mit  solchen  Fragen 
kommt,  die  nur  fromme  Neugier  stellt,  und  ziemlich  deutlich 
antwortet  er  ihm,  daß  der  Apostel  Paulus,  indem  er  die  un- 
begrenzten Genealogien  und  die  jüdischen  Fabeln  verbietet, 
derartige  Fragen  zu  untersagen  scheint:  „denn  was  nützt 
es  am  Buchstaben  zu  hängen  oder  an  dem  Irrtum. des 
Schreibers  und  an  der  Zahl  der  Jahre  Kritik  zu  üben,  da 
deutlich  geschrieben  steht:  der  Buchstabe  tötet,  aber  der  Geist 


')  Ep.  68,  2,  Valiarsi  1,  409. 
»)  Ep.  72,  1,  Valiarsi  1,  434. 

•)  Ep.  72,  1,  Valiarsi  I,  434:    nisi    forte   graeco  homini  latinus  sermo 
inter  chartulas  oberravit. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom. 


221 


macht  lebendig."')  Aber  er  mußte  dem  Vitalis  doch  etwas 
antworten  und  so  verwies  er  ihn  darauf,  daß  noch  vieles 
andere  in  der  Heiligen  Schrift  erzählt  wird,  was  unglaublich 
erscheint,  aber  dennoch  wahr  sei.  Geschehen  doch  auch  noch 
heutzutage  Wunder:  So  sei  in  Lydda  ein  Mensch  mit  zwei 
Köpfen,  vier  Händen,  einem  Bauch  und  zwei  Füßen  geboren 
worden.  Und  er  habe  von  einem  unkeuschen  Weibe  gehört,  das 
durch  einen  zehnjährigen  Knaben  geschwängert  worden  sei.  Im 
letzteren  Falle  sei  auch  die  göttliche  Absicht  des  Wunders 
erkennbar,  da  die  Unkeuschheit  des  Weibes,  das  den  Knaben 
zur  Unzucht  mißbrauchte,  offenbar  gemacht  werden  sollte. 
Das  Kinderzeugen  Salomos  und  Ahas  im  jugendlichen  Alter  sei 
ein  Zeichen  ihrer  Wollust.  Aber  noch  einen  zweiten  Lösungs- 
versuch apologetischer  Art,  der  den  Makel  vom  Charakter  der 
beiden  Könige  nimmt,  gab  Hieronymus  dem  Vitalis.  Nach 
jüdischer  Sitte  wurden  die  Regierungsjahre  der  Könige,  die 
Mitregenten  ihrer  Väter  waren,  noch  den  letzteren  angerechnet, 
so  daß  jene  elf  Jahre  bei  Salomo  und  Ahas  nur  den  Zeitpunkt 
angeben,  an  dem  sie  zu  Mitregenten  angenommen  wurden, 
nicht  das  Alter,  in  dem  sie  Kinder  zu  erzeugen  begonnen 
hatten.  Aber  wohl  ist  dem  Hieronymus  bei  derartigen  Lösungs- 
versuchen nicht;  dazu  besaß  er  doch  zu  viel  wissenschaftlichen 
Sinn,  um  nicht  das  Künstliche  derselben  zu  empfinden.  Er 
möchte  in  Zukunft  mit  derartigen  Fragen  nicht  mehr  behelligt 
werden;  und  mit  einer  nicht  mißzuverstehenden  Deutlichkeit 
schrieb  er  an  Vitalis,  daß  derartige  Fragen  nicht  so  wohl  die 
Sache  eines  wißbegierigen  Mannes  als  eines  Müßiggängers 
zu  sein  scheinen.')  Wir  hören  von  keinem  weiteren  brieflichen 
Verkehr  des  Hieronymus  mit  Vitalis.  Sein  Landsmann  hatte 
wohl  den  Wink  mit  dem  Zaunpfahl  verstanden.  Was  lag  einem 
Hieronymus  jetzt  an  der  Freundschaft  eines  pannonischen 
Priesters,  seit  er  aus  allen  Ländern  von  den  angesehensten 
Männern  und  Frauen  angegangen  wurde. 


')  Ep.  72,  5,  Vallarsi  I,  437. 
•-')  Ep.  72,  5,  Vallarsi  I,  437. 


222  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

§   40. 
Neue  Freunde  und  Freundinnen. 

Als  Hieronymus  Rom  385  verließ,  hatte  er  sich  nach  Frieden 
gesehnt,  aber  seit  der  Mitte  der  neunziger  Jahre  des  vierten 
Jahrhunderts  u^urde  sein  Kloster  in  Bethlehem,  je  länger  je 
mehr,  zu  einer  Wallfahrtsstätte.  Im  Grunde  war  ihm  dies  recht. 
Wie  er  einst  den  enthusiastischen  Entschluß  der  Jugend,  als 
Einsiedler  in  der  Wüste  Chaicis  zu  leben,  nicht  durchzuführen 
vermochte,  sondern  sich  lieber  als  Beichtvater  und  Seelenführer 
des  weiblichen  Hochadels  in  Rom  versuchte,  so  schmeichelte 
es  seinem  Ehrgeiz,  daß  Menschen  aus  allen  Ländern  der  zivili- 
sierten Welt  nach  Bethlehem  kamen  oder  mit  ihm  wenigstens 
Briefe  austauschen  wollten.  Die  Stille  des  klösterlichen  Asyls 
in  Bethlehem  war  zwar  dahin,  aber  es  wurde  einer  der 
wichtigsten  Brennpunkte  des  religiösen  Lebens  des  Zeit- 
alters, und  Hieronymus  erschien  als  ein  lebendiger  Heiliger, 
dem  man  seine  Verehrung  bezeugte  oder  den  man  um  seinen 
Rat  anging. 

Schon  3Q3  wandte  sich  ein  Gallier  Desiderius  an  Hiero- 
nymus und  bat  ihn  um  die  Zusendung  seiner  Werke.  Desi- 
derius, ein  vornehmer,  reicher  und  rhetorisch  gebildeter  Mann, 
hatte  die  Initiative  bei  der  Anknüpfung  des  Freundschafts- 
verhältnisses ergriffen  und  Hieronymus  in  seinem  Briefe  in  der 
üblichen  Weise  Weihrauch  gestreut,  indem  er  ihm  die  Palme 
der  Beredsamkeit  zuerkannte.')  Hieronymus  fühlte  sich  dadurch 
sehr  geschmeichelt  und  wußte  gar  nicht,  wie  er  dieses  dick 
aufgetragene  Lob  erwidern  sollte:  „Wer  und  wie  groß  bin  ich, 
daß  ich  das  Zeugnis  der  Gelehrsamkeit  verdiene.  Du  kennst 
doch  unsern  Grundsatz,  die  Fahne  der  Demut  festzuhalten  und 
durch  Niederungen  wandelnd  die  Höhe  zu  ersteigen."  Dies 
schließt  natürlich  nicht  aus,  daß  er  ihm  mit  gleicher  Münze 
dient  und  seinen  Brief  als  ein  Kunstwerk  der  Beredsamkeit 
preist.  Nach  diesen  üblichen  Verbeugungen  wünscht  er  Desi- 
derius   und    seiner    heiligen,    verehrungswürdigen    Schwester 


')  Ep.  47,  1,  Vallarsi  I,  208. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  223 

Serenilla  Glück  dazu,  daß  sie  beide  die  Fluten  der  Welt  gebändigt 
haben  und  zur  Ruhe  Christi  gelangt  sind,  d.  h.  nichts  anderes,  als 
daß  beide  Ehegatten  sich  zu  einem  enthaltsamen  Leben  ent- 
schlossen haben.')  War  es  doch  wieder  ein  Triumph  des 
asketischen  Geistes  des  Zeitalters,  daß  ein  vornehmer  Römer 
und  seine  Gattin  im  das  Evangelium  der  Enthaltsamkeit 
waren  gewonnen  worden. 

Im  Auftrage  der  Paula,  zu  der  Desiderius  jedenfalls 
Beziehungen  hatte,  lud  er  ihn  zu  einer  Wallfahrt  nach  den 
heiligen  Stätten  ein,  um  ihre  klösterliche  Gemeinschaft  kennen 
zu  lernen.  Vielleicht  hoffte  man  ihn  dort  zu  halten  und 
den  Klöstern  eine  weitere  finanzielle  Sicherung  zu  geben, 
da,  wie  bereits  oben  hervorgehoben  wurde,  die  Mittel  durch 
die  profuse  Wohltätigkeit  der  Paula  erschöpft  waren.  Sehr 
herzlich  und  dringend  ist  übrigens  die  Einladung  des  Hierony- 
mus  nicht  ausgefallen.  Er  setzt  ihm  lange  die  Schwierigkeiten 
auseinander,  die  einer  Reise  nach  dem  heiligen  Lande  entgegen- 
stehen, und  setzt  auch  den  Fall,  daß  ihm  ihre  klösterliche 
Gemeinschaft  nicht  gefalle.  Es  scheint  mehr  der  Wunsch  der 
Paula  als  sein  Wunsch  gewesen  zu  sein,  daß  Desiderius  komme. 
Vielleicht  witterte  er  in  dem  vornehmen  Römer  einen  Kon- 
kurrenten, der  seiner  autoritativen  Stellung  gefährlich  werden 
könnte;  denn  als  wenige  Jahre  später  Paulin  von  Nola  nach 
Bethlehem  kommen  wollte,  winkte  er  so  entschieden  ab,  daß  wir 
uns  seine  sonderbare  Haltung  nur  aus  diesem  Motiv  erklären 
können.  Von  seinen  Werken  sandte  Hieronymus  dem  Desiderius 
zunächst  nichts  zu,  da,  wie  er  sagt,  die  meisten  aus  ihrem  Neste 
entflogen  und  durch  voreilige  Ehre  ihrer  Herausgabe  in  alle 
Welt  verbreitet  sind,")  um  ihm  nichts  zuzuschicken,  was  er 
schon  besitze.  Er  empfahl  ihm  aber,  falls  er  seine  Werke  zu 
entleihen  wünsche,  sich  an  seine  Freundin  Marcella,  die  auf 
dem  aventinischen  Hügel  wohne,  oder  an  seinen  Freund  Domnio 
zu  wenden  und  verwies  ihn  auf  das  Verzeichnis  seiner  Werke, 
das  er  im  Katalog  der  berühmten  Männer  gegeben  habe.  Wenn 
Desiderius  sich  dies  Verzeichnis  von  seinem  römischen  Freunde 


')  Ep.  47,  2,  Vailarsi  I,  208. 
2)  Ep.  47,  3,  Vailarsi  I,  209. 


224  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

geben  lasse,  so  wolle  er  ihm  gern  die  Werke,  die  er  noch 
nicht  besäße,  abschreiben  lassen  und  zuschicken. 

Die  Freundschaft  mit  Desiderius  fand  in  der  Folgezeit  ihre 
Fortsetzung.  Desiderius  kam  zwar  nicht  nach  Bethlehem, 
wenigstens  hören  wir  nichts  davon;  aber  Hieronymus  blieb  mit 
ihm  in  brieflichem  Verkehr  und  dedizierte  ihm  seine  Übersetzung 
des  Pentateuch  aus  dem  Hebräischen.')  Da  Desiderius  auch  zu 
Paulin  von  Nola")  und  Sulpicius  Severus,  der  ihm  seine  Vita 
Martins  von  Tours  zueignete,  Beziehungen  unterhielt,  so  sehen 
wir,  wie  hin-  und  herüber  die  Fäden  zwischen  den  Vertretern 
der  asketischen  Ideale  gesponnen  wurden.  Desiderius  wurde 
später  Priester  in  einer  Aquitanischen  Diözese,  die  in  der  Nähe 
des  Wirkungskreises  des  Vigilantius  lag,  und  denunzierte  diesen 
wegen  seiner  Ketzereien  und  seiner  Gegnerschaft  gegen  das 
Mönchtum  bei  Hieronymus,  so  daß  der  alte  Vorkämpfer  der 
Mönchspartei  zur  Feder  griff  und  eine  seiner  bissigsten  Streit- 
schriften verfaßte.') 

Im  Jahre  3Q5  trug  eine  noch  hervorragendere  Persönlich- 
keit, Paulin  von  Nola,  Hieronymus  seine  Freundschaft  an. 
Paulin  war  erheblich  jünger  als  Hieronymus;  353  zu  Bordeaux 
geboren,  entstammte  er  einer  der  edelsten  und  reichsten  Familien 
des  Landes.  Durch  den  Dichter  Ausonius  war  er  zum  eleganten 
Stilisten  in  Prosa  und  Versen  gebildet  worden.')  Durch  seine 
Familienverbindungen  machte  er  rasch  Karriere.  Martin  von 
Tours,  dessen  Wunderkraft  er  die  Heilung  eines  kranken  Auges 
verdankte,  und  Ambrosius,  in  dem  er  seinen  Vater  und  Führer 
zum  Glauben  verehrte,  gewannen  ihn  für  die  asketischen 
ideale.  Da  seine  Frau  Therasia,  die  ihm  ein  Kind  geschenkt 
hatte,  das  aber  schon  nach  acht  Tagen  starb,  die  Gesinnung 
ihres  Gatten  teilte,  so  beschlossen  beide,  sich  dem  Mönchs- 
leben zu  weihen.  Nach  einem  mehrjährigen  Aufenthalt  in 
Spanien  ließ  er  sich  in  Nola  nieder,  da  der  römische  Bischof 
Siricius,  der  kein  Freund  der  Mönche  war,  den  vornehmen 
Mann  nicht   sehr  liebevoll    in  Rom    aufgenommen  hatte,    weil 

')  s.  §  33. 

-')  S.  Paulini  ep.  43  ad  Desiderium. 

')  Adv.  Vigil.  c.  3,  Vallarsi  II,  389. 

♦)  s.  Hauck,   A.  Paulin  von  Nola,  R.  E.\  XV,  55  ff. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  225 

er  von  ihm,  wie  Hauck  meint,')  eine  Verminderung  der  eigenen 
Unumschränktheit  besorgte.  Hier  an  einem  besuchten  Wall- 
fahrtsorte, dem  Grabe  seines  Lieblingsheiligen  Felix,  erbaute 
er  aus  seinen  reichen  Mitteln  eine  große  Basilika.  In  einem 
Hospital  für  Mönche  und  Arme,  das  er  ebenfalls  errichtet  hatte, 
richtete  er  für  sich  und  seine  Frau  Therasia  eine  dürftige 
Wohnung  ein,  um  sich  den  asketischen  Lebensübungen  hin- 
zugeben. 

Wie  mit  Augustin,  suchte  Paulin  nun  auch  mit  Hiero- 
nymus  in  Beziehung  zu  treten.  Durch  einen  Bruder  Am- 
brosius  übersandte  er  ihm  Geschenke  und  einen  Brief,  von 
dem  Hieronymus  rühmte,  daß  er  bereits  am  Anfang  ihres 
Freundschaftsverhältnisses  die  Bürgschaft  schon  erprobter  Treue 
und  alter  Freundschaft  in  sich  trüge.')  Hieronymus  antwortete 
ihm  in  einem  in  blühendstem  Rhetorenstile  verfaßten  Briefe. 
Er  wollte  dem  Schüler  des  Rhetoren  Ausonius  zeigen,  daß  auch 
er  nicht  vergeblich  alle  Kniffe  der  Rhetorik  in  Rom  erlernt 
hatte.  Der  Grundgedanke  seiner  langatmigen  Aufzählung  der 
Beispiele  der  heidnischen  Philosophen  und  der  christlichen 
Apostel,  auf  den  es  ihm  ankommt,  ist,  daß  die  höchste  Stufe 
christlicher  Vollkommenheit  in  der  Verbindung  von  mönchischer 
Heiligkeit  mit  Bildung  und  Gelehrsamkeit  bestehe:  Heiligkeit 
ohne  Bildung  nützt  nur  sich  allein,  und  so  viel  sie  die  Kirche 
Christi  erbaut  auf  das  Verdienst  des  Lebens,  so  viel  schadet 
sie,  weil  sie  den  Gegnern  nicht  zu  antworten  vermag.^)  Pytha- 
goras,  Plato,  Apollonius  von  Tyana  trieb  die  Lernbegierde  in 
die  weite  Welt;  Paulus  suchte  bei  Petrus  Belehrung:  aber  die 
göttliche  Weisheit  ist  nur  in  Christo  enthalten,  und  von  diesem 
zeugen  die  heiligen  Schriften.  Wie  der  äthiopische  Eunuch 
aber  einen  Lehrer  brauchte,  der  ihm  die  Schrift  erklärte,  so 
kannst  du  ohne  Führer  und  Wegweiser  nicht  in  den  Geist 
der  Heiligen  Schrift  eindringen.  Wie  Grammatik,  Rhetorik, 
Philosophie,  Geometrie,  Dialektik,  Musik,  Astronomie,  Astrologie 
und  Medizin  erlernt  werden  wollen  und  auch  die  verschiedenen 
Handwerke  des  Maurers,  Ackerbauers,  Zimmermanns,  Schneiders, 

')  R.  E.^  XV,  56. 

-)  Ep.  53,  1,  Vallarsi  I,  268. 

4  Ep.  53,  6,  Vallarsi  I,  273. 

Qrützmaclier,    Hieronymus.    II.  15 


226  Wiederanknüpfung-  mit  Rom. 

Holzhauers,  Webers  und  Gerbers  ohne  Lehrer  nicht  ausgeübt 
werden  können,  so  will  auch  die  Kunst,  die  Heilige  Schrift 
auszulegen,  erlernt  werden.  Mit  bitterer  Ironie  beklagt  sich 
Hieronymus,  daß  jede  schwatzhafte  alte  Frau,  jeder  kindisch 
gewordene  Greis,  jeder  phrasenmachende  Sophist  die  Kunst 
der  Auslegung  der  heiligen  Schriften  ausüben  zu  können  glaube, 
daß  sie  lehren,  bevor  sie  etwas  gelernt  haben.  Bei  dieser  un- 
methodischen Bildung  bringt  man  es  dann  fertig,  wie  es  in  den 
aus  Versen  Homers  oder  Vergils  zusammengestellten  Machwerken 
geschieht,  Vergil  zum  Christen  zu  machen,  weil  er  in  der  vierten 
Ekloge  schreibt:  „Schon  kehrt  auch  die  Jungfrau  zurück  und 
Saturnische  Reiche.  Senkt  sich  herab  auch  ein  wunderbar' 
Kind  aus  himmlischer  Höhe."  Als  Führer  in  das  Studium 
der  heiligen  Schriften  möchte  sich  Hieronymus  dem  Paulin 
anbieten:  „Ich  weise  es  von  mir,  Lehrer  zu  sein,  ich  biete 
mich  bloß  zum  Gefährten  an."')  Eine  kurze  Inhaltsangabe  der 
heiligen  Schriften  alten  und  neuen  Testaments  und  der  darin 
enthaltenen  Geheimnisse  sollte  Paulin  die  Beschäftigung  mit 
ihnen  besonders  verlockend  erscheinen  lassen. 

Aber  für  exegetische  Arbeiten  zeigte  Paulin  keine  Neigung. 
Seine  Bildung  war  fast  ausschließlich  lateinisch,  das  Griechische 
verstand  er  zwar,')  aber  der  Mangel  an  gründlichen  sprach- 
lichen Kenntnissen  war  ihm  doch  fühlbar.  Er  betätigte  sich 
lieber  als  christlicher  Hymnendichter,  wo  er  wie  in  seinen 
Hymnen  auf  den  heiligen  Felix  seiner  Phantasie  in  dem  Spiel 
geistreicher  Allegorien  noch  freier  die  Zügel  schießen  lassen 
konnte  als  bei  der  Exegese  der  Heiligen  Schrift. 

Auch  einen  Appell  zu  vollkommener  Weltentsagung  richtete 
Hieronymus  an  Paulin.  Er  hatte  von  Eusebius  von  Cremona, 
dem  Freunde  Paulins,  der  gerade  bei  ihm  in  Bethlehem  weilte, 
von  seiner  Weltverachtung,  der  Ehrwürdigkeit  seiner  Sitten,  der 
Treue  seiner  Freundschaft  und  seiner  Liebe  zu  Christus  gehört, 
aber  Paulin  hatte  sich  noch  einen  Einfluß  auf  die  Verwendung 
seiner  Güter  vorbehalten.  So  mahnte  ihn  Hieronymus,  vollen 
Ernst    mit    dem   Mönchsideal   zu   machen   und    seinen  ganzen 


')  Ep.  53,  9.  Vallarsi  I,  279. 

•')  Hauck,  A.  Paulin  von  Nola,  R.  E.',  XV,  56. 


Wiederankniipfiing  mit  Rom.  227 

Besitz  rasch  zu  verschenken.  Er  will  i<eine  Kompromisse: 
„Wenn  du  es  immer  auf  morgen  verschiebst  und  es  einen  Tag 
um  den  anderen  hinziehst  und  vorsichtig  und  nach  und  nach 
deine  Besitzungen  veri<aufst,  so  hat  Christus  nichts,  womit  er 
seine  Armen  unterhält.  Der  gibt  Gott  alles,  der  sich  ihm  selbst 
gibt.  Leicht  verachtet  der  alles,  der  immer  an  seinen  Tod 
denkt." ')  Es  ist  merkwürdig,  daß  Hieronymus  immer  anderen 
die  völlige  Entäußerung  des  Besitzes  anriet,  während  er  selbst 
es  noch  nicht  einmal  getan  hatte,  sondern  erst  wenige  Jahre 
später  seinen  Bruder  Paulinian  in  die  Heimat  sandte,  um  seinen 
Besitz  zu  verkaufen  und  den  Ertrag  für  sein  Kloster  zu  ver- 
wenden.') Wenn  auch  Paulin  auf  den  in  väterlichem  Tone 
gehaltenen  Brief  des  Hieronymus  hin  keine  Anstalten  machte, 
sich  als  Exeget  unter  seiner  Anleitung  zu  betätigen,  so  äußerte 
er  doch  ein  Jahr  später  den  Wunsch,  die  heiligen  Stätten  zu 
besuchen  und  Hieronymus  persönlich  kennen  zu  lernen.  Gleich- 
zeitig übersandte  er  ihm  einen  Panegyrikus  auf  den  Kaiser 
Theodosius,  den  er  vor  kurzem  verfaßt  und  dem  Kaiser  über- 
sandt  hatte.') 

Hieronymus  befand  sich  auf  die  Ankündigung  seines 
Kommens  in  arger  Verlegenheit.  Vor  wenigen  Jahren  hatte 
er  seine  römische  Freundin  Marcella  eingeladen,  nach  der 
heiligen  Stadt  zu  kommen;  mit  der  höchsten  Begeisterung 
hatte  er  ihr  den  Aufenthalt  im  heiligen  Lande  angepriesen;') 
schon  merklich  kühler  war  seine  Einladung  gehalten,  die  er 
vor  zwei  Jahren  an  den  vornehmen  Gallier  Desiderius  im  Auf- 
trage der  Paula  hatte  ergehen  lassen.  Jetzt  aber  suchte  er 
Paulin  geradezu  von  der  Wallfahrt  abzuhalten.  Ein  Doppeltes 
wird  hierbei  Hieronymus  bestimmt  haben.  Marcella,  seine 
römische  Freundin,  hätte  sich,  wenn  sie  nach  Jerusalem  ge- 
kommen wäre,  trotz  all  ihrer  Selbständigkeit  seiner  Leitung 
unterstellt;  daß  der  vornehme  Paulin  nicht  ein  Gleiches  getan 
hätte,  konnte  er  sich  selbst  sagen,  zumal  da  er  ihn  nicht  nur 
aus   seinen   Briefen,    sondern   auch    aus    der  Schilderung    des 


58. 


13 


')  Ep. 

53, 

10 

,  Vallarsi 

,  279. 

')  s.  § 

39 

•"')  Hau 

ck, 

A. 

Paulin  R. 

E.3  XV 

')  Ep. 

46, 

2, 

Vallarsi  I, 

198. 

228  Wiederanknüpfiing  mit  Rom. 

Eusebius  von  Cremona  kannte.  Bei  aller  Liebenswürdigkeit 
war  Paulin  ein  durchaus  selbständiger  Charakter;  die  Treue 
gegen  seine  Freunde,  die  Eusebius  dem  Hieronymus  als  seinen 
besonderen  Charakterzug  gerühmt  hatte,  war  so  zäh,  daß 
Paulin  seinem  Freundschaftsbündnis  mit  Augustin  und  Hiero- 
nymus zuliebe  nicht  ihre  Gegner  Rufin,  Vigilantius,  Pelagius 
und  Julian  von  Eclanum  opferte,  sondern  auch  ihnen  die  Freund- 
schaft hielt.  Es  kam  weiter  hinzu,  daß  bereits  damals  das 
Verhältnis  des  Hieronymus  zu  dem  Bischof  Johannes  von 
Jerusalem  sich  unerfreulich  zu  gestalten  begann.  Paulin  konnte 
ihm  in  Jerusalem  recht  unbequem  werden,  und  so  gab  er  sich 
die  erdenklichste  Mühe,  den  geliebten  Bruder  fernzuhalten. 
Daß  er  dabei  ein  böses  Gewissen  hat,  spricht  deutlich  aus 
seinen  Worten:  „Indem  ich  aber  dies  sage,  klage  ich  mich 
nicht  selbst  des  Widerspruches  mit  mir  an  und  verdamme  nicht, 
was  ich  selbst  tue,  als  hätte  ich  vergeblich  nach  dem  Beispiel 
Abrahams  die  Meinen  und  mein  Vaterland  verlassen,  sondern 
ich  wage  nur  nicht  die  Allmacht  Gottes  in  eine  enge  Grenze 
einzuschließen  und  auf  einen  kleinen  Fleck  der  Erde  den  zu 
beschränken,  welchen  der  Himmel  nicht  faßt." ') 

Dem  vielgewandten  Hieronymus  ist  es  natürlich  ebenso  gut 
möglich,  für  die  Wallfahrt  nach  Jerusalem,  wenn  er  sie  wünscht, 
wie  gegen  eine  solche,  wenn  er  sie  nicht  wünscht,  eine  Fülle  von 
Argumenten  beizubringen.  Die  Gläubigen,  so  schreibt  er  an 
Paulin,  werden  nicht  nach  der  Verschiedenheit  des  Ortes, 
sondern  nach  dem  Verdienst  des  Glaubens  gewogen;  und  die 
wahren  Anbeter  beten  weder  zu  Jerusalem,  noch  auf  dem  Berge 
Garizim  den  Vater  an,  sondern  weil  Gott  Geist  ist,  müssen 
seine  Anbeter  ihn  im  Geist  und  in  der  Wahrheit  anbeten. 
Sowohl  von  Jerusalem  wie  auch  von  Britannien  steht  der 
Himmel  in  gleicher  Weise  offen;  denn  das  Reich  Gottes  ist 
in  Euch.  Antonius  und  alle  Mönche  Ägyptens,  Mesopotamiens, 
Pontus  und  Armeniens  haben  Jerusalem  nie  gesehen,  und  doch 
steht  ihnen  fern  von  dieser  Stadt  die  Paradiesestür  offen.  Der 
selige  Hilarion,  der  aus  Palästina  gebürtig  war  und  dort  lebte, 
war  nur  an  einem  einzigen  Tage  in  Jerusalem.     Von  der  Zeit 

')  Ep.  58,  3,  Vallarsi  I,  318. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  229 

Hadrians  bis  zur  Herrschaft  Konstantins,  hundertaciitzig  Jahre, 
stand  auf  der  Stätte  der  Auferstehung  ein  Jupiterbild  und  auf 
dem  Hügel  des  Kreuzes  ein  marmornes  Venusbild,  das  die 
Heiden  verehrten;  denn  die  Verfolger  glaubten,  sie  würden 
uns  den  Glauben  an  die  Auferstehung  und  Kreuzigung  nehmen, 
wenn  sie  die  heiligen  Stätten  mit  Götzenbildern  besudelten. 
Unser  Bethlehem,  die  heiligste  Stätte  des  Erdkreises,  von  der 
der  Psalmist  singt:  „Die  Wahrheit  sprosset  aus  der  Erde 
hervor",  umschattete  ein  heiliger  Hain  des  Thammuz  oder 
Adonis,  und  in  der  Höhle,  wo  einst  Christus  als  Kindlein 
wimmerte,  erscholl  die  Totenklage  um  den  Liebling  der 
Venus. ')  Für  einen  Mönch  ist  es  nur  von  Wichtigkeit,  die 
Städte  und  das  Getümmel  der  Städte  zu  verlassen,  und  des- 
halb sollte  ein  Mann  wie  Paulin,  der  einst  eine  so  angesehene 
Stellung  in  der  Welt  eingenommen  hatte,  sich  auf  ein  ein- 
sames Landgut  zurückziehen.)  in  schwärmerischer  Verzückung 
hatte  Hieronymus  einst  der  Marcella  Jerusalem  gepriesen: 
Wir  sagen  dies  freilich  nicht  in  dem  Sinne,  als  ob  wir  etwa 
leugneten,  daß  das  Reich  Gottes  in  uns  selbst  sei  oder  als 
ob  es  nicht  auch  anderwärts  noch  heilige  Männer  gebe, 
sondern  wir  behaupten  nur  gewiß,  daß  die,  welche  auf  dem 
Erdkreise  die  Vornehmsten  sind,  hier  gemeinschaftlich  sich 
einfinden.^)  Und  jetzt  rät  er  Paulin  ab  nach  Jerusalem  zu 
kommen.  In  nüchternster  Weise  schildert  er  ihm  die  heilige 
Stadt  als  eine  Großstadt  wie  viele  andern  mit  einer  Rats- 
versammlung, einer  Garnison,  einer  Schaubühne  und  sogar  mit 
einem  Bordell.  Ja,  wenn  Jerusalem  nur  von  Mönchen  besucht 
würde,  dann  müßte  dieser  Aufenthaltsort  ein  Eldorado  für 
Mönche  sein,  aber  jetzt  gibt  sich  der  ganze  Erdkreis  hier  ein 
Stelldichein,  und  die  Stadt  ist  voll  von  jeder  Art  Menschen 
und  es  herrscht  ein  solches  Gedränge  beiderlei  Geschlechts, 
das  Paulin  hier  ertragen  müßte,  und  dem  er  anderwärts  aus 
dem  Wege  gehen  könne.') 

Paulin  hatte  aber  Hieronymus  in  seinem  Briefe  auch    die 


1)  Ep.  58,  3,  Vallarsi  I,  319. 
«)  Ep.  58,  5,  Vallarsi  I,  320. 
s)  Ep.  46,  10,  Vallarsi  I,  205. 
*)  Ep.  58,  4,  Vallarsi  1,  320. 


230  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Frage  vorgelegt,  ob  er  sich  zum  Priester  weihen  lassen 
solle.  Hieronymus  wagte  nicht  ihm  ausdrücklich  davon  ab- 
zuraten: Wenn  du  das  Amt  des  Priesters  verwalten  willst, 
wenn  dich  die  Mühe  und  die  Ehre  des  bischöflichen  Amtes 
ergötzt,  so  lebe  in  den  Städten  und  Kastellen,  wenn  du  aber 
ein  Mönch  sein  willst,  d.  h.  ein  einsam  Lebender,  was  tust  du 
in  den  Städten?')  Mit  mönchischem  Hochmut  sieht  Hiero- 
nymus doch  auf  die  Kleriker  herab  und  schildert  Paulin  das 
Mönchsleben  als  das  wahre  christliche  Leben:  „Ich  beschwöre 
dich,  da  du  an  deine  heilige  Schwester  Therasia  gefesselt  bist 
und  noch  nicht  vollkommen  mit  freien  Schritten  einhergehst, 
meide  die  Gesellschaft  der  Menschen,  lebe  in  strenger  Askese, 
lies  die  Heilige  Schrift  und  teile  mit  eigner  Hand  den  Armen 
dein  Vermögen  aus.'")  Abermals  fordert  er  Paulin  wie  im 
ersten  Brief  auf,  seine  gewandte  Feder,  die  er  in  dem  Panegyrikus 
auf  den  Kaiser  Theodosius  von  neuem  bewundert  hatte,  in 
den  Dienst  der  christlichen  Exegese  zu  stellen:  Nichts 
Schöneres,  nichts  Gelehrteres,  nichts  Lieblicheres,  nichts  in 
der  lateinischen  Sprache  Vollkommeneres  würde  es  geben  als 
seine  Schriften.  Paulin  würde  der  erste  unter  den  christlichen 
Lateinern  werden,  eine  Zierde  der  Kirche,  wie  er  früher  eine 
Zierde  des  Senats  war.  Der  Priester  Vigilantius,  der  ihm  den 
Brief  Paulins  überbracht  hatte,  nahm  seinen  Brief  wieder  an 
Paulin  mit  zurück;  es  ist  derselbe  Vigilantius,  den  er  später 
so  bitter  bekämpfte,  den  er  hier  noch  als  den  heiligen  Priester 
Vigilantius  bezeichnet. 

Die  Freundschaft  zwischen  Paulin  und  Hieronymus  wurde 
aber  keine  besonders  innige.  Paulin  ging  seine  eignen  Wege,  und 
trotz  des  dringenden  Zuredens  des  Hieronymus  wandte  er  sich  in 
richtiger  Einschätzung  seiner  Kräfte  nicht  der  Exegese  der 
Heiligen  Schrift  zu.  Im  Jahre  409  wurde  er  auf  den  Bischofsstuhl 
von  Noia  erhoben  und  verwaltete  sein  Amt  mit  Gewissenhaftig- 
keit. Er  war  doch  ein  zu  anders  gearteter  Charakter,  um  sich 
zu  Hieronymus  dauernd  hingezogen  zu  fühlen,  mit  dem  er 
eigentlich    nur    die    Schwärmerei    für    die    asketischen    Ideale 


')  Ep.  58,  5,  Vallarsi  I,  320. 
*)  Ep.  58,  6,  Vallarsi  I,  322. 


Wiedcranknüpfuno  mit  Rom. 


231 


gemein  hatte.  Im  übrigen  fand  er  bei  seiner  quietistisch 
beschaulichen  Frömmigkeit  keinen  Gefallen  an  den  dogmatischen 
Kontroversen  seiner  Zeit  und  nahm  auch  keine  entschiedene 
Stellung  dazu,  so  daß  er  Rufin,  Vigilantius  und  Pelagius  nicht 
fallen  ließ,  während  Hieronymus  mit  zunehmendem  Alter  ein 
Fanatiker  der  Orthodoxie  und  grimmiger  Verfolger  der  Ketzer 
wurde. 

Der  einzige  Brief  des  Hieronymus  an  Paulin,  der  uns  noch 
erhalten  ist,')  stammt  aus  dem  Jahre  400  —  einige  kleinere 
Briefe  des  Hieronymus  an  Paulin  sind  für  uns  verloren 
gegangen")  —  aber  dieser  Brief  zeigt,  daß  auch  auf  Seite  des 
Hieronymus  das  Interesse  für  Paulin  stark  erkaltet  ist.  Paulin 
hat  ihm  zwei  exegetische  Fragen  vorgelegt,  die  erste 
Rom.  Q,  16  betreffend,  warum  Gott  das  Herz  des  Pharao 
verhärtet  habe  und  der  Apostel  sage,  es  steht  nicht  in 
unserm  Wollen  und  Laufen,  sondern  bei  Gott,  der  sich 
erbarmte,  was  doch  den  freien  Willen  aufzuheben  scheine,  und 
die  andere,  wie  nach  1.  Kor.  7,  14  die  Kinder  heilig  sein 
könnten,  welche  von  den  Gläubigen,  d.  h.  Getauften,  geboren 
würden,  da  sie  doch  ohne  das  Geschenk  der  Gnade,  die  erst 
nachher  empfangen  wird  und  bewahrt  werden  muß,  nicht 
selig  werden  können.  Es  sind  dies  beides  Fragen,  die  im 
Streite  Augustins  und  Pelagius'  in  den  Vordergrund  traten. 
Man  sieht,  daß  sie  bereits  in  der  Luft  lagen.  Hieronymus 
gab  dem  Paulin  auf  diese  Fragen  keine  Antwort,  einfach  weil 
er  in  dieser  schwierigen  dogmatischen  Materie  nichts  zu  sagen 
weiß  und  nichts  zu  sagen  wagt.  Er  verdeckt  seine  Hilf- 
losigkeit damit,  daß  er  ihm  vorrenommiert,  wie  wenn  ein 
Schiff  nach  dem  Occident  abgehe,  er  soviel  Briefe  schreiben 
müsse,  daß  er  es  kaum  bewältigen  und  deshalb  nur  kurze 
Briefe  schreiben  könne.  Er  sonnt  sich  in  seinem  Ruhm,  von 
aller  Welt  befragt  zu  werden  und  glaubte  sich  deshalb  über- 
hoben, sich  über  solche  heiklen  Probleme,  wie  sie  ihm  Paulin 
gestellt  hat,  den  Kopf  zu  zerbrechen.  Er  drückt  sich  um 
jede     selbständige    Meinungsäußerung     und     verweist    Paulin 

1)  Ep.  85,  Vallarsi  I,  529. 

*)  Ep.  85,  1,   Vallarsi  I,  528:    quod  qiiereris,    me  parvas  et  incomtas 
literulas  mittere,  non  venit  de  incur.'a. 


232  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

für  die  erste  Frage  einfach  auf  Origenes  Schrift  jri-gi  dg/cöv 
und  für  die  zweite  Frage  auf  Tertullians  de  monogamia.  Auch 
macht  ihm  seine  Arbeit  an  der  Übersetzung  der  Schrift  des 
Origenes  Ttegl  uq/ojv  und  am  Danielkommentar  angeblich  eine 
ausführliche  Antwort  unmöglich.  Hieronymus  bedankt  sich  dann 
noch  für  das  ihm  geschenkte  Käppchen,  um  sein  greises  Haupt  zu 
erwärmen,  klein  an  Gewebe,  aber  groß  durch  die  Liebe,  das  er 
gern  angenommen  und  sich  dabei  des  Geschenks  und  des 
Urhebers  des  Geschenkes  gefreut  habe.  Vielleicht  hatte  Paulin 
nach  diesem  Brief  des  Hieronymus  den  Geschmack  an  einer 
Fortsetzung  seines  Briefwechsels  mit  dem  eitlen  Mann  ver- 
loren, der  doch  auf  die  ihn  beschäftigenden  Fragen  keine 
Antwort  zu  geben  wußte.  Jedenfalls  hören  wir  nichts  mehr 
in  der  Folgezeit  über  weitere  Beziehungen  der  beiden  Männer. 
Von  überall  her  wandte  man  sich  an  Hieronymus;  bald 
sind  es  exegetische,  bald  praktisch-kirchliche  Fragen,  über  die 
man  seinen  Rat  einholte.  Wie  ein  lebendiges  Orakel  mußte 
er  über  alles  Rede  stehen,  und  er  war  auch  immer  bereit, 
aus  dem  Schatze  seines  Wissens  Altes  und  Neues  hervor- 
zubringen. Ein  Freund  des  Paulin  von  Nola,  der  gallische 
Priester  und  spätere  Bischof  von  Burdigala,  Amandus,  bat  ihn 
um  Aufschluß  über  drei  dunkle  Bibelstellen  Matth.  6,  34, 
1.  Kor.  6,  18  und  1.  Kor.  15,  25.')  Von  Interesse  ist  vor 
allem  die  Antwort  des  Hieronymus,  in  der  er  sich  mit 
1.  Kor.  15,  25  beschäftigt.  Diese  Stelle,  wonach  am  Ende  der 
Weltzeit  sich  der  Sohn  dem  unterwerfen  wird,  der  ihm  alles 
unterworfen  hat,  so  daß  Gott  alles  in  allem  sei,  konnte  unter 
Voraussetzung  der  orthodoxen  Trinitätslehre  leicht  Anstoß 
erregen.  Hieronymus  verweist  den  Amandus  zunächst  auf 
das  elfte  Buch  des  Hilarius  von  Poitiers  gegen  die  Arianer, 
in  dem  er  sich  mit  dieser  Frage  beschäftige,  und  versucht 
dann  seinerseits  eine  Lösung  zu  geben.  Es  heißt  ja  nicht 
beim  Apostel:    „Der  Vater  wird    alles  in  allem,    sondern  Gott 


')  Ep.  55  ad  Amandnm,  Vallarsi  I,  293,  s.  Anm.  a.  Die  Über- 
lieferung des  Briefes  scheint  nicht  in  Ordnung  zu  sein,  einige  Hand- 
schriften Vallarsi  I,  2Q7,  Anm.  b,  beginnen  mit  ep.  55,  5  einen  neuen 
Brief  an  Amandus.  Wahrscheinlich  ist  ep.  55,  5  vor  ep.  55,  3  u.  4  zu 
stellen. 


Wiederankniipfung  mit  Rom.  233 

alles  in  allem  sein."  Gott  ist  aber  nach  Hieronymus  der 
Name  der  Trinität  und  kann  auf  den  Vater,  Sohn  und  heiligen 
Geist  bezogen  werden,  so  daß  der  Sinn  sei,  am  Ende  der 
Weltzeit  werde  die  Menschheit  der  Gottheit  unterworfen 
werden.  Durch  diese  Kasuistik  glaubte  er  denSubordinatianismus, 
den  man  der  Stelle  entnahm,  abgewehrt  zu  haben. 

Amandus  hatte  seinem  Brief  noch  ein  kurzes  Briefchen  bei- 
gefügt, in  dem  er  Hieronymus  um  Beantwortung  der  Frage  bat, 
wie  man  sich  einer  Frau  gegenüber  zu  verhalten  habe,  die  ihren 
ehebrecherischen  und  sodomitischen  Mann  verlassen  habe  und 
nun  mit  einem  anderen  Manne  zusammenlebe,  wenn  sie  in  der 
Kirche  zum  Tische  des  Herrn  gehen  wolle,  während  ihr  erster 
Gatte  noch  lebe.  Wir  bekommen  durch  den  angezogenen 
Fall  einen  Einblick  in  die  Zerrüttung  der  Ehen  und  die  wider- 
liche Verkehrtheit  der  sittlichen  Zustände.  Amandus  scheint 
nicht  übel  Lust  gehabt  zu  haben,  die  Frau  ohne  vorherige 
Kirchenbuße  zur  Kommunion  zuzulassen.  Er  sucht  die  Frau 
in  jeder  Weise  zu  entschuldigen,  vor  allem  damit,  daß  der 
zweite  Mann  sich  ihrer  gewaltsam  bemächtigt  habe;  aber 
Hieronymus  äußert  starke  Zweifel  an  der  Unschuld  der  Frau 
und  begründet  dies  treffend  damit:  „Warum  hat  denn  später 
nicht  die  Geraubte  den  Räuber  verlassen?"')  Es  war  wahr- 
lich keine  leichte  Aufgabe  für  die  Kirche  und  die  Priester,  in 
diesem  sittlichen  Chaos  wenigstens  noch  ein  Stück  Ordnung 
aufrecht  zu  erhalten.  Was  ihr  zu  Hilfe  kam,  war  der  uner- 
schütterliche Glaube  ihrer  Glieder  an  die  Heilsmittlerschaft 
der  Kirche.  Dieses  Weib,  das  sich  zwar  über  das  Verbot  der 
Kirche,  eine  zweite  Ehe  bei  Lebzeiten  des  ersten  Mannes  ein- 
zugehen, hinweggesetzt  hatte,  wollte  doch  nicht  auf  das  Heils- 
mittei  der  Kirche,  den  Genuß  des  Leibes  Christi,  verzichten, 
und  an  diesem  Punkte  konnte  die  Kirche  mit  ihrer  Zucht  ein- 
setzen. Hieronymus  schärfte  dem  Priester  Amandus  energisch 
ein,  keine  Konzession  irgendwelcher  Art  zu  machen.  Nach 
dem  Worte  des  Apostels  \.  Kor.  7,  3Q  darf  eine  Frau,  deren 
Mann  noch  lebt,  in  keinem  Falle  wieder  heiraten,  und  wenn 
sie  kommunizieren  will,  muß  sie  erst  Buße  tun  und  zwar  so, 


')  Ep.  55,  4,  Vallarsi  1,  296. 


234  Wiederankniipfung  mit  Rom. 

daß  sie  sich  von  dem  zweiten  Manne,  der  nicht  ihr  Mann, 
sondern  nur  ein  Ehebrecher  genannt  werden  könne,  von  der 
Zeit  der  Buße  an  trennt.  Hieronymus  hat  richtig  erkannt, 
daß  die  Kirche  dem  weiteren  Verfall  nur  durch  scharfe  Be- 
hauptung ihrer  sittlichen  Forderungen  erfolgreich  entgegen- 
arbeiten konnte. 

Ein  anderes  Mal  hatte  ein  Priester  Evangelus  dem  Hiero- 
nymus ein  anonymes  Buch  über  den  Priesterkönig  Melchisedek 
gesandt,  in  dem  diese  geheimnisvolle  Persönlichkeit  mit  dem 
heiligen  Geist  identifiziert  wurde.')  Hieronymus  sollte  ihm 
nun  seine  Meinung  über  den  Traktat  schreiben.  Er  antwortete 
zunächst  mit  einem  ausführlichen  Referat  der  Meinungen  der 
alten  Exegeten.  Nur  Origenes  und  Didymus  halten  Melchisedek 
für  einen  Engel,  aber  sie  sind  dem  Hieronymus  bereits  als 
Ketzer  verdächtig;  die  übrigen  Kirchenväter  Hippolyt,  Irenäus, 
Eusebius  von  Cäsarea,  Eusebius  von  Emesa,  Apollinaris  und 
Eustathius  von  Antiochia  sehen  in  ihm  einen  Menschen,  einen 
Kananäer  und  König  der  Stadt  Salem  d.  h.  Jerusalems.  Nach 
der  hebräischen  Tradition  wird  Melchisedek  mit  Sem,  dem 
ersten  Sohne  Noahs,  identifiziert.  Der  Königssitz  des 
Melchisedek  ist  nach  Hieronymus  aber  nicht,  wie  Josephus 
und  alle  unsrigen  meinen,  in  Jerusalem,  sondern  einem  kleinen 
Städtchen  Salem  bei  Skythopolis  zu  suchen,  wo  man  noch 
heute  die  Ruinen  des  Palastes  des  Melchisedek  zeige.  Das 
Resultat,  zu  dem  Hieronymus  gelangt,  ist  ein  nüchtern  kritisches; 
er  will,  wie  Zöckler")  sagt,  nichts  von  den  gnostisch- 
spiritualistischen  Apotheosierungsgelüsten  wissen,  die  man  mit 
der  geheimnisvollen  Persönlichkeit  des  Melchisedek  trieb. 

Derselbe  Evangelus  hatte  auch  an  Hieronymus  eine  Anfrage 
gerichtet,  wie  es  sich  denn  mit  dem  Verhältnis  der  Presbyter 
zu  den  Diakonen  verhalte,  da  in  einzelnen  Gemeinden  wie  in 
der  römischen  sich  die  Diakonen  den  Vorrang  vor  den 
Presbytern  anmaßten  und  auf  das  Zeugnis  eines  Diakonen  ein 


')  Ep.  73,  Vallarsi  I,  438;  Vallarsi  I,  438,  Anm.  e  hat  die  anonyme 
Schrift  in  den  Quaestiones  ex  iitroque  mixtim,  Quaestio  109  bei  Augustin 
cd.  Mauriner  HI,  2,  Appendix  wiedergefunden.  Vielleicht  lag  sie  bereits 
dem  Hippolyt  vor,  s.  Harnack,  Altchristi.  Literaturgeschichte  II,  593. 

^)  Zöckler,  S.  229. 


Wiederanknüpfling  mit  Rom.  235 

Presbyter  ordiniert  zu  werden  pflegte/)  Leidensciiaftiich  erregt 
beantwortete  Hieronymus  diesen  Brief,  da  er,  wenn  er  auch 
sein  Priesteramt  als  Mönch  nicht  ausübte,  doch  von  seiner 
priesterlichen  Würde  durchdrungen  war.  So  oft  er  auf  das  Ver- 
hältnis von  Bischof  und  Priester  zu  sprechen  kam,  verteidigte 
er  eifersüchtig  diese  Würde.  Er  konnte  es  nicht  ver- 
schmerzen, daß  er  es  nicht  zum  Bischof  gebracht  hatte,  wie 
er  einst  in  Rom  gehofft  hatte.  Er  wiederholte  seine  These, 
die  er  im  Tituskommentar  breit  ausgeführt  hatte,')  daß  Bischof 
und  Priester  ursprünglich  dasselbe  waren,  und  nur  zur  Heilung 
der  Spaltungen  in  der  Kirche  ein  monarchischer  Bischof  an 
die  Spitze  der  Gemeinde  trat.  Er  kramt  alle  seine  antiquarischen 
Kenntnisse  aus:  „In  Alexandria  wählten  bis  auf  die  Bischöfe 
Heraclas  232—47  und  Dionysius  247—64  die  Priester  stets 
einen  aus  dem  Presbyterium,  den  sie  Bischof  nannten,  ähnlich 
wie  das  Heer  den  Imperator  und  die  Diakonen  den  Archidiakon 
wählen."  Nur  das  Recht  der  Ordination  hat  der  Bischof  nach 
Hieronymus  vor  dem  Priester  voraus,  sonst  nichts.  Wenn 
aber  in  Rom  die  Sitte  besteht,  daß  ein  Priester  auf  das  Zeugnis 
des  Diakons  ordiniert  wird,  so  ist  dies  eine  lokale  kirchliche 
Sitte,  die  sich  einfach  daher  schreibt,  daß  die  Diakonen  in 
Rom  viel  weniger  zahlreich  als  die  Priester  sind.  Wenn  sich 
aber  die  Diakonen  in  Rom  sogar  erlauben,  sich  unter  die  Priester 
in  der  Kirche  zu  setzen,  statt  zu  stehen,  oder  bei  häuslichen 
Gastmahlen  den  Presbytern  den  Segen  zu  erteilen,  so  ist  dies 
durchaus  als  Mißbrauch  zu  beurteilen.  Daß  der  F^riester  über 
dem  Diakon  steht,  beweist  zur  Genüge  die  Sitte,  daß  einer 
vom  Diakon  zum  Priester  und  nicht  umgekehrt  ordiniert  wird. 
Mit  Emphase  ruft  Hieronymus  aus:  „Wenn  man  nach  der 
Autorität  fragt,  so  ist  die  Autorität  des  ganzen  Erdkreises 
größer  als  die  der  Stadt  Rom.  Wo  einer  Bischof  ist  in  Rom 
oder  Eugubium,  in  Konstantinopel  oder  Rhegium,  in  Alexandria 
oder  Tanis,  wenn  der  Inhaber  dieselben  Verdienste  hat,  so 
kommt  ihm  auch  dieselbe  Priesterwürde  zu."')     In  Rom   hätte 


^)  Ep.  146  ad  Evangelum,  Vallarsi  I,  1074    s.    über   die   zweifelhafte 
Datierung  Bd.  I,  98. 
')  s.  §  29. 
"■)  Ep.  146,  1,  Vallarsi  I,  1076. 


236  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

er  diesen  Satz  sicher  nicht  geschrieben,  als  er  sich  von  der 
Sonne  der  päpstlichen  Gunst  unter  dem  Pontifikat  des  Damasus 
bescheinen  ließ;  aber  jetzt  lebte  er  im  Orient  und  ein  ihm  nicht 
besonders  wohlgesinnter  römischer  Bischof  Siricius  saß  auf 
dem  dortigen  Bischofsthron:  da  verblaßte  bei  ihm  die  Idee 
des  römischen  Primats.  Als  er  später  im  Origenistischen  Streit 
das  Papsttum  brauchte,  hat  er  wieder  andere  Seiten  aufgezogen. 

Einem  sonst  unbekannten  Presbyter  Rufinus,')  dessen 
Freundschaft  ihm  der  Priester  Eusebius  von  Cremona  vermittelt 
hatte,  sollte  Hieronymus  über  das  Urteil  des  Salomo  im  Streit 
zwischen  den  beiden  hurerischen  Weibern  1.  König.  3  schreiben. 
Hieronymus  war  von  der  zwöifmonatlichen  Krankheit,  die  er  im 
Jahre  398  durchgemacht  hatte,  noch  sehr  angegriffen,  und  eine 
schwere  und  nicht  ungefährliche  Wunde  an  der  rechten  Hand 
schmerzte  ihn  noch.  Der  Brief  zeigt  auch  eine  gewisse 
Mattigkeit.  Er  allegorisiert  die  Geschichte  und  bezieht  die 
beiden  Frauen  auf  die  Synagoge  und  die  Kirche,  über  die  der 
wahre  Salomo,  Christus,  sein  Urteil  abgibt. 

Bis  nach  dem  fernen  Spanien  war  der  Ruhm  der  Gelehr- 
samkeit des  Hieronymus  gedrungen.  Die  vorzüglichen  Ver- 
bindungen ermöglichten  einen  regen  Austausch  zwischen  den 
entlegensten  Teilen  des  Weltreichs,  den  wir  heute  noch 
bewundern  müssen.  Ein  vornehmer  und  reicher  Spanier  Lucinius 
hatte  im  Jahre  398  sechs  Schreiber  die  weite  Reise  nach 
[Palästina  machen  lassen,  nur  um  sich  sämtliche  Werke  des 
Hieronymus  abschreiben  zu  lassen,  weil  in  Palästina  ein  Mangel 
an  des  Lateinischen  kundigen  Abschreibern  bestand.')  Hiero- 
nymus fühlte  sich  natürlich  dadurch  sehr  geschmeichelt;  aber 
er  entschuldigt  sich  bei  Lucinius,  daß  er  wegen  seiner  langen 
Krankheit  und  auch  wegen  des  Gewühls  der  Pilger,  die  ihn 
fortwährend  im  Kloster  zu  Bethlehem  besuchten,  nicht  im- 
stande gewesen  wäre,  die  Arbeit  der  Abschreiber  gehörig  zu 
überwachen.  Wenn  sich  also  in  seinen  Werken  Schreibfehler 
finden,  so  solle  Lucinius  sie  nicht  ihm,  sondern  der  Unwissen- 
heit der  Schreiber  und  der  Sorglosigkeit  der  Abschreiber  zu- 


')  s.  über  die  Unmöglichkeit  der  Identifizierung  dieses  Rufin  mit  Rufin 
aus  Aquileja  Vallarsi  I,  445  Anm.  a;  ep.  74  ad   Rufinum. 
')  Ep.  75,  4,  Vallarsi  I,  450. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  237 

rechnen/)  Lucinlus  hatte  ihn  in  seinem  Schreiben  auch  gebeten, 
ihm  die  Abschriften  seiner  Übersetzungen  desjosephus,  Papias, 
und  Polyl<arp  zu  übersenden.')  Hieronymus  teiH  ihm  mit, 
daß  er  diese  Schriften  nicht  übersetzt  habe.  Wir  sehen,  wie 
ihm  schon  zu  seinen  Lebzeiten  bei  seiner  großen  Produktivität 
Schriften  untergeschoben  werden.  Die  Legendenbildung  über 
seine  Verfasserschaft  zahlreicher  anonymer  Schriften  hat  bereits 
damals  begonnen  und  setzt  sich  nach  seinem  Tode  fort.  Von 
seiner  Übersetzung  aus  dem  hebräischen  Grundtext,  die  Hiero- 
nymus mit  Ausnahme  des  Oktateuch  vollendet  hatte,  scheint 
Lucinius  aber  noch  nichts  gehört  zu  haben.  Hieronymus  ließ 
ihm  dieses  sein  Hauptwerk  nun  auch  in  Abschriften  übermitteln. 
Lucinius,  der  sich  mit  seiner  Gemahlin  Theodora  der  Ent- 
haltsamkeit geweiht  hatte,  beabsichtigte,  wie  es  scheint,  auch  eine 
Pilgerfahrt  nach  dem  heiligen  Lande  zu  unternehmen.  Hieronymus 
lud  ihn  aufs  herzlichste  ein,  in  Bethlehem  seine  Wohnung  zu 
nehmen;  mußte  ihm  doch  ein  vornehmer  und  reicher  Mann,  der 
ihn  so  sehr  bewunderte,  als  eine  wichtige  Bereicherung  für  sein 
Kloster  erscheinen.  Gleichzeitig  dankte  ihm  Hieronymus  für  die 
zwei  Mäntelchen  und  den  Überwurf,  die  ihm  Lucinius  zu  eigenem 
Gebrauch,  oder  um  sie  den  Mönchen  zu  schenken,  übersandt 
hatte,  und  erwiderte  die  Geschenke  mit  vier  Bußzilizien  für  ihn 
und  seine  Gattin  und  mit  dem  Kommentar  zu  den  zehn  Visionen 
des  Jesaia,  den  er  vor  kurzem  verfaßt  hatte. ')  Endlich  mußte 
Hieronymus  noch  sein  Urteil  über  gewisse  provinzialkirchliche 
Gebräuche  abgeben,  worum  Lucinius  die  bethlehemitische 
Autorität  angegangen  hatte.  Es  handelte  sich  um  das  in 
Spanien  und  Rom  gebräuchliche  Sabbatfasten  und  den  täg- 
lichen Empfang  der  Eucharistie.  Hieronymus  urteilte  in  diesem 
Punkte  merkwürdig  tolerant,  er  wollte  noch  nichts  von  einer 
Uniformierung  der  kirchlichen  Sitte  wissen,  sondern  schrieb  an 
Lucinius,  jede  Provinz  möge  bei  ihrem  Sinne  bleiben  und  die 
Vorschriften   der  Vorfahren    für  apostolische  Gesetze  halten.^) 


')  Ep.  71,  5,  Vallarsi  I,  432. 
^)  Ep.  71,  5,  Vallarsi  I,  432. 
3)  Ep.  71,  7,  Vallarsi  I,  433. 

")  Ep.  71,6,  Vallarsi  I,  433:    unaquaeque   provincia   abundet  in  sensu 
suo  et  praecepta  maiorum  leges  apostolicas  arbitretur. 


238  Wiederankniipfiing  mit  Rom. 

Ehe  aber  Lucinius  seinen  Entschluß  ausführen  konnte, 
nach  Jerusalem  zu  kommen,  wurde  er  durch  einen  plötzlichen 
Tod  hinweggerafft,  und  Hieronymus  konnte  nur  seine  Witwe 
Theodora  über  den  Tod  des  geliebten  Mannes  trösten.  „Er 
ist  nicht  zu  bedauern,  da  er  im  Himmel  ist,  wo  keine  Sünde, 
wo  die  Herrlichkeit,  ewiges  Lobpreisen  und  unaufhörlicher 
Jubel.,  ist." ')  Im  Himmel  wird  Theodora  dereinst  mit  ihm  ver- 
eint werden,  wo  sie  zwar  nicht  als  Engel,  wie  die  origenistische 
Ketzerei  behauptet  —  Hieronymus  kann  es  schon  nicht  mehr 
lassen,  auch  in  harmlosen,  persönlichen  Briefen  einen  Hieb 
nach  dem  verabscheuungswürdigen  Ketzer  zu  führen  —  sondern 
in  einem  engelähnlichen  Zustande  in  geschwisterlicher  Gemein- 
schaft zusammenleben  würden.  Die  Bezeugung  des  orthodoxen 
Glaubens  und  die  Bekämpfung  der  Ketzer  erscheint  Hierony- 
mus je  länger  je  mehr  als  die  vornehmste  Betätigung  eines 
wahren  Christen.  Er  preist  deshalb  den  verstorbenen  Freund 
Lucinius,  daß  er  für  die  Reinheit  des  Kirchenglaubens  stets 
mutig  eingetreten  sei,  als  die  abscheuliche  Ketzerei  des  Basi- 
lides  —  er  meint  den  Priscillianismus  —  in  Spanien  wütete.") 
Dann  rühmt  er  seine  großartige  Wohltätigkeit,  die  nicht  auf 
Spanien  beschränkt  blieb,  sondern  sich  bis  in  die  fernsten 
Länder  nach  Jerusalem  und  Alexandrien  erstreckte,  wohin  er  Unter- 
stützungen für  Bedürftige  aller  Art  sandte.  Der  Witwe  Theodora 
botHieronymus  seine  geistliche  Hilfean,  abergleichzeitig  wandte  er 
sich  auch  in  einem  Brief  an  den  spanischen  F^riester  Abigaus,  dem 
er,  nachdem  er  ihn  über  seine  Blindheit  getröstet  hatte,  seine 
heilige  Tochter  Theodora  ans  Herz  legte.  Abigaus  solle  die  Witwe 
ermahnen,  nicht  auf  dem  angefangenen  Wege  laß  zu  werden,  daß 
sie  nicht  glaube,  es  sei  genug,  aus  Ägypten  hinausgegangen  zu 
sein,  sondern  dieTugend  sei  erst  vollkommen,  wenn  man  durch  die 
unzähligen  Hinterhalte  zum  Berg  Nebo   und  zum   Fluß  Jordan 

')  Ep.  75,  1,  Vallarsi  I,  448. 

*)  Ep.  75,  3,  Vallarsi  1,  450.  Dal^  der  Priscillianismus  mit  dem 
Gnostiker  Basilides  zusammenhänge,  behauptet  Hieronymus  auch  ep.  120, 10, 
Adv.  Vij,Mlantium  c.  6.  Er  führt  aber  diesen  Basilidianismus  auf  den  alten 
Häretiker  Marcus  zurück,  den  er  aber  mit  einem  zeitgenössischen  Marcus 
aus  Memphis  (s.  Sulp.  Sev.  Chron.  11,  16)  verwechselt;  s.  auch  Harnack, 
altchristl.  Literaturgeschichte  I,  161. 


Wiederanknüpfiing  mit  Rom. 


239 


gelange.)  Ängstlich  wachte  Hieronymus  über  die  Seelen,  die  sich 
ihm  anvertraut  hatten;  und  falls  der  Tod  eine  Ehe  gelöst  hatte, 
besorgte  er  nichts  mehr,  als  daß  der  überlebende  Teil  eine 
zweite  Ehe  schließen  könnte.  Wenn  Theodora  die  keusche 
Witwenschaft  aufgäbe,  so  erschien  dies  dem  Apostel  der  Vir- 
ginität  nicht  viel  weniger  als  ein  ewiges  Verlorengehen.  Alle 
seine  seelsorgerischen  Bemühungen  waren  eigentlich  nur  auf 
das  eine  Ziel  gerichtet,  die  Ehen  zu  Scheinehen  zu  machen, 
die  Witwen  von  einer  zweiten  Ehe  zurückzuhalten  und  die 
Jungfrauen  zur  Bewahrung  der  Jungfrauschaft  als  des  höchsten 
Gutes  zu  veranlassen.  Es  war  das  einzige  Gegengift,  das  er 
und  nicht  er  allein,  sondern  fast  alle  einflußreichen  Führer  der 
christlichen  Kirche  gegen  das  Gift  der  wilden  Sinnenlust,  die 
die  Ehen  zerrüttete,  anzubieten  hatten. 

In  der  Regel  ließ  sich  Hieronymus  die  Freundschaftsbünd- 
nisse anbieten  und  antwortete  nur  auf  Anfragen,  die  man  an 
ihn  stellte.  Unter  Umständen  ergriff  er  aber  auch  die  Initiative, 
zumal  wenn  es  galt,  mit  einer  besonders  vornehmen  Frau  anzu- 
knüpfen und  sie  von  dem  Schließen  einer  zweiten  Ehe  zurück- 
zuhalten. So  wandte  er  sich  an  Salvina,  die  Tochter  des 
Königs  Gildo  von  Mauretanien,  mit  einer  solchen  Witwenepistel, 
die  trotz  des  typischen  Inhalts  individuell  gefärbt  ist.-)  Er 
mußte  die  üblichen  Ermahnungen  in  eine  für  die  Prinzessin 
geeignete  Form  bringen,  um  bei  ihr  Gehör  zu  finden.  Hiero- 
nymus fühlte  sich  sichtlich  nicht  ganz  wohl  bei  diesem  Ver- 
such, mit  dem  kaiserlichen  Hof  in  Konstantinopel  in  Beziehung 
zu  treten.  Man  könnte  es  ihm  als  Ehrgeiz  auslegen  und  ver- 
muten, daß  er  unter  dem  Vorwande  einer  Ansprache  an  die 
Witwe  Salvina  die  Gunst  der  Mächtigen  erschleichen  wolle. 
Natürlich  behauptet  Hieronymus,  daß  er  nie  derartige  Gedanken 
auch  nur  leise  in  seinem  Herzen  bewegt  habe.  Wer  seinen 
ehrgeizigen  Charakter  kennt,  wird  ihm  dies  kaum  glauben. 

Salvina,  die  Tochter  Gildos,  war  vom  Kaiser  Theodosius  dem 
Sohn  des  Praefectus  praetorio,  Nebridius,  zur  Gemahlin  gegeben 
worden.     Theodosius  hatte  politische  Absichten  mit  dieser  Ehe 


')  Ep.  76,  3,  Vallarsi  1,  453. 
0  Ep.  79,  Vallarsi  1,  493. 


240  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

verfolgt;  er  wollte  den  Comes  Mauretaniens  durch  verwandt- 
schaftliche Bande  mit  dem  Kaiserhaus  verknüpfen,  wie  Hiero- 
nymus  an  Salvina  schreibt/)  um  das  in  Bürgerkriegen  revol- 
tierende Afrika  durch  Salvina  gleichsam  als  Geißel  zum  Gehor- 
sam wieder  zurückzuführen.  Da  der  Praefectus  praetorio 
Nebridius  mit  dem  Kaiser  Theodosius  durch  seine  Frau,  die 
Schwester  der  Kaiserin  Aelia  Flacilla,  verschwägert  war,  so 
war  sein  Sohn  Nebridius  mit  den  kaiserlichen  Prinzen  Arcadius 
und  Honorius  in  Konstantinopel  aufgezogen  worden.-)  Nach 
einer  glücklichen  Ehe  war  der  Gatte  der  Salvina,  dieser  Nebridius, 
früh  gestorben  und  hatte  sie  als  junge  Witwe  und  Mutter  eines 
Sohnes,  der  wiederum  den  Namen  des  Vaters  führte,  und  einer 
Tochter  zurückgelassen. 

Obwohl  Hieronymus  Salvina  nicht  persönlich  kannte,  wagte 
er  doch,  sich  mit  einem  Schreiben  an  sie  zu  wenden.  Recht 
gezwungen  motiviert  er  diese  Kühnheit  damit,  daß  er  vermöge 
seiner  priesterlichen  Würde  den  Fortschritt  aller  Christen  in  der 
Tugend  fördern  müsse,  daß  er  auch  dem  älteren  Nebridius, 
dem  Vater  des  verstorbenen  Gatten  der  Salvina,  freundschaftlich 
nahe  gestanden  habe  und  daß  er  endlich  durch  seinen  Sohn  Avitus 
dazu  gedrängt  worden  sei.)  Wir  wissen  sonst  nichts  von  diesem 
Avitus,  den  Hieronymus  hier  erwähnt.  Jedenfalls  war  dieser 
geistliche  Sohn  des  Hieronymus  ein  Anhänger  der  Mönchs- 
partei, die  in  Hieronymus  einen  ihrer  hervorragendsten  geistigen 
Führersah.  Überall  arbeiteten  sich  ihre  Glieder  in  die  Hände; 
und  Avitus  mußte  den  bethlehemitischen  Heiligen  avisiert  haben, 
daß  es  wünschenswert  sei,  wenn  er  durch  ein  Schreiben  auf 
die  Prinzessin  einwirke.  Es  war  dies  wahrlich  keine  leichte 
Aufgabe,  denn  Hieronymus  mußte  hier,  wo  es  sich  um  eine 
dem  Hofe  nahestehende  Frau  handelte,  viel  vorsichtiger  vor- 
gehen, als  wenn  er  sich  z.  B.  an  ein  Glied  des  römischen 
Hochadels,  wie  an  die  Witwe  Furia,  wandte,  da  er  durch  Paula 
und  Eustochium  viel  innigere  Beziehungen  nach  Rom  hatte. 
Hieronymus  gab  sich  die  größte  Mühe,  um  ja  nicht  anzu- 
stoßen.    Immer  wieder  verklausulierte  er  seine  Ermahnungen: 

')  Ep.  7Q.  2,  Valiarsi  1,  495. 
')  Ep.  79,  5,  Valiarsi  1,  498. 
^)  Ep.  79,  1,  Valiarsi  1,  494. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  241 

„Was  ich  sagen  werde,  mögest  du  so  verstehen,  als  ob  es 
nicht  für  dich,  sondern  für  Personen  in  jungen  Jahren  über- 
haupt gesagt  sei."')  Bei  seiner  Warnung  vor  Untceuschheit 
betont  er  ängstlich,  daß  er  nicht  die  Absicht  habe,  ihr  die 
geringsten  Vorwürfe  zu  machen,  sondern  nur  aus  Besorgnis 
für  sie  dies  schreibe,  da  er  ja  nur  den  Wunsch  hege,  sie  möge  erst 
gar  nicht  kennen  lernen,  wovor  er  Furcht  und  Besorgnis  habe.-) 
Sein  asketisches  Pathos  durfte  sich  nicht  in  den  vollen  Brust- 
tönen der  Überzeugung  ergehen,  er  mußte  auf  die  fürstlichen 
Ohren  Rücksicht  nehmen,  die  nicht  an  so  derbe  Töne  gewöhnt 
waren. 

Während  er  in  seinem  Schreiben  an  Furia  trotz  aller 
Schmeicheleien  an  ihrem  Vater  und  Gatten  zum  Teil  herbe 
Kritik  geübt  hatte,  mußte  hier  bei  den  Verwandten  des  kaiser- 
lichen Hofes  alle  Kritik  schweigen,  ihren  Gatten  Nebridius 
schildert  Hieronymus  deshalb  als  einen  Ausbund  von  Tugenden. 
Vor  allem  hebt  er  hervor,  daß  er  so  fromm  und  ein  solcher 
Liebhaber  der  Keuschheit  war,  daß  er,  selbst  noch  jungfräulich, 
seine  Frau  heimführte.')  Seine  Wohltätigkeit,  seine  jungfräu- 
liche Schamhaftigkeit,  seine  Demut  preist  er  in  überschwäng- 
lichster  Weise.  Bisweilen  scheint  er  es  zu  empfinden,  daß 
diese  Schmeicheleien  vielleicht  doch  zu  stark  aufgetragen  sind, 
so  daß  man  ihm  nachträglich  auch  von  christlicher  Seite  Vor- 
würfe machen  könnte.  „Salvina,  an  die  ich  dieses  Büchlein 
schreibe,  weiß  es,  daß  ich  nicht  Selbsterlebtes,  sondern  nur 
Gehörtes  berichte,  daß  ich  auch  nicht  wegen  einer  erwiesenen 
Wohltat  nach  der  Sitte  der  griechischen  Schriftsteller  durch 
eine  Lobrede  Dank  sagen  will.  Mögen  die  Christen  solchen 
Verdacht  entfernen.  Wenn  wir  Kleidung  und  Lebensunterhalt 
haben,  sind  wir  zufrieden." ')  Vor  allem  hebt  aber  Hieronymus 
bei  der  Zeichnung  des  Charakterbildes  des  Nebridius,  des 
Gemahls  der  Salvina,  hervor,  daß  dieser  uneingedenk  seiner 
hohen    militärischen   Würde    mit   Mönchen   und   Priestern    die 


')  Ep.  79,  8,  Vallarsi  I,  501. 
2)  Ep.  79,  8,  Vallarsi  I,  501. 

^)  Ep.  79,  2  sie  religiosus  fuit  et  amator  pudicitiae,  ut  virgo  sortiretur 
uxorem. 

*)  Ep.  79,  4,  Vallarsi  I,  497. 
Grützmacher,   Hieronymus.   II.  16 


I 


Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

regsten  Beziehungen  unterhalten  habe.  Die  Bischöfe*  des 
ganzen  Erdkreises  brachten  vor  ihn  die  Bitten  der  Unglück- 
lichen und  die  Wünsche  der  schwer  Bedrängten,  damit  er  bei 
dem  Kaiser  für  sie  interveniere.')  Nach  allem,  was  Hieronymus 
berichtet,  scheint  Nebridius  eine  starke  Stütze  des  Klerus  und 
der  Mönche  am  kaiserlichen  Hofe  gewesen  zu  sein  und  seinen 
Einfluß  im  Sinne  der  Kirche  geltend  gemacht  zu  haben.  Es 
ist  daher  begreiflich,  daß  in  diesen  Kreisen  sein  Andenken  im 
besten  Gedächtnis  stand,  und  Hieronymus  sich  an  seine  Witwe 
mit  einem  Schreiben  zu  wenden  wagte.  Hieronymus  versteht 
es,  dabei  auf  ein  Mutterherz  einzuwirken:  in  dem  kleinen 
Sohn  Salvinas  leuchtet  schon  ein  Funke  der  väterlichen  Geistes- 
kraft, und  die  Ähnlichkeit  der  Sitten  springt  wie  ein  lebendiges 
Spiegelbild  hervor.  Und  ihre  Tochter  gleicht  einer  Lilien-  oder 
Rosenknospe,  worin  Elfenbein  und  Purpur  sich  vereinigen,  sie 
stellt  zugleich  durch  die  Mischung  der  Ähnlichkeit  so  das  Bild 
der  Mutter  dar,  daß  du  in  demselben  Körper  Vater  und  Mutter 
wiedererkennst.  Sie  ist  so  voll  Anmut  und  Lieblichkeit,  daß 
sie  der  Stolz  aller  Verwandten  ist.  Sie  an  der  Hand  zu  führen, 
hält  selbst  der  Kaiser  Arcadius  nicht  unter  seiner  Würde,  sie 
an  ihrem  Busen  zu  herzen  freut  sich  die  Königin,  die  Mutter 
Salvinas,  die  Gemahlin  des  Königs  Gildo  von  Mauretanien.) 
Es  sind  dieselben  servilen  Schmeicheleien,  deren  sich  die  heid- 
nischen Lobredner  bedienten,  die  der  christliche  Lobredner 
Hieronymus  anwendet.  Es  hat  sich  nichts  geändert,  außer 
daß  einige  Bibelsprüche  eingeflochten  sind.  Allerdings  dürfen 
wir  nicht  generalisieren.  Ein  Chrysostomus  hat  doch  den  Mut 
besessen,  demselben  Hof  auch  bittere  Wahrheiten  zu  sagen, 
aber  deshalb  wurde  auch  der  unbequeme  Bischof  den  Intrigen 
seiner  Gegner  preisgegeben  und  in  die  Verbannung  geschickt. 
Die  Ermahnungen,  die  Hieronymus  an  Salvina  richtet,  sind 
dieselben,  die  er  schon  öfter  vornehmen  Witwen  eingeschärft 
hat,  keine  leckeren  Speisen  zu  essen,  am  besten  sich  des 
Fleisches  und  Weins  überhaupt  zu  enthalten.  „Mögen  sie 
Fleisch    essen,    die  dem  Fleische    dienen,    deren   ungezügeltes 


')  Ep.  7Q,  5,  Vallarsi  I,  498. 
-)  Ep.  79,  5,  Vallarsi  1,  498. 


Wiederankniipfung-  mit  Rom.  243 

Verlangen  nach  Beischlaf  steht,  die  an  einen  Mann  gebunden, 
auf  Erzeugung  von  Kindern  bedacht  sind.  Du,  die  du  alle 
Fleischeslust  mit  deinem  Manne  in  seinem  Grabhügel  begraben 
hast,  hast  nur  nötig  auszuharren  im  Fasten."')  Hieronymus 
verweist  Salvina  auf  den  Verkehr  mit  ihren  Angehörigen,  sie 
braucht  keine  Geselligkeit  zu  suchen,  da  sie  ihre  Mutter,  die 
nach  der  Empörung  Gildos  gegen  Kaiser  Honorius  und  seiner 
Erdrosselung  im  Jahre  398  nach  Konstantinopel  übergesiedelt 
war,  und  ihre  ewiger  Jung-frauschaft  geweihte  Tante  um  sich 
hat.  Geistlicher  Lesung  und  unablässigem  Gebet  soll  sie  sich, 
umgeben  von  einem  Chor  von  Witwen  und  Jungfrauen,  hin- 
geben. Besonders  eindringlich  legt  er  ihr  als  die  vornehm.ste 
Aufgabe  die  Erziehung  ihrer  Kinder  ans  Herz:  Es  ist  kein 
geringes  Verdienst  vor  dem  Fferrn,  Kinder  gut  zu  erziehen.-) 
Nur  eine  Konzession  macht  er  der  Prinzessin  bei  der  Ermahnung 
zu  eingezogenem  Lebenswandel:  Wenn  das  Ansehen  des  vor- 
nehmen Hauses  ein  großes  Hausgesinde  fordert,  so  soll  sie 
diesem  einen  Greis  von  ehrbaren  Sitten  zum  Vorstande  geben, 
dessen  Anstand  die  Würde  der  Gebieterin  wahrt. ')  Wir  hören 
in  der  Folgezeit  nichts  weiter  von  Beziehungen  des  Hieronymus 
nach  Konstantinopel  und  zum  Hof.  Salvina,  die  Freundin  des 
edlen  Chrysostomus,  mit  dem  Hieronymus  im  Origenistischen 
Streit  in  scharfen  Gegensatz  trat,  scheint  in  kein  engeres  Freund- 
schaftsverhältnis zu  ihm  getreten  zu  sein.  Der  Boden  in  Kon- 
stantinopel war  für  ihn  nicht  so  günstig  wie  der  in  Rom,  zu 
dessen  Hochadel  er  in  festen  und  dauernden  Beziehungen  blieb, 

>)  Ep.  7Q,  7,  Vallarsi  I,  500. 

^)  Ep.  79,  7,  Vallarsi  I,  499:   non  est   parvi  apiid   deum  meriti,  bene 
filios  educare. 

3)  Ep.  79,  9,  Vallarsi  I,  502. 


16* 


244  Wiederankniipfung  mit  Rom. 

§  41. 
Der  Matthäuskommentar  des  Hieronymus. 

Der  Matthäuskommentar  ist  die  letzte  neutestamentliche 
Auslegungsschrift,  die  Hieronymus  verfaßt  hat,  falls  wir  von 
dem  zeitlich  nicht  mit  Sicherheit  anzusetzenden  Kommentar 
zur  Apokalypse  absehen,  der  doch  auch  im  wesentlichen  nur 
eine  Kompilation  ist.  Es  ist  begreiflich,  daß  Hieronymus  in 
den  letzten  beiden  Jahrzehnten  seines  Lebens  seine  exegetische 
Tätigkeit  ganz  dem  Alten  Testament  zuwandte,  da  er  hier  auf 
Grund  seiner  hebräischen  Kenntnisse  Selbständigeres  zu  leisten 
vermochte.  Auch  zur  Abfassung  dieses  neutestamentlichen 
Kommentars  wurde  er  nur  durch,  die  dringende  Bitte  des  Priesters 
Eusebius  von  Cremona  veranlaßt;  der  Kommentar  verdankt  also 
nicht  seiner  eigenen  Initiative  die  Entstehung.  Eusebius,  der 
längere  Zeit  in  Bethlehem  geweilt  hatte,  bat  den  von  ihm  hoch 
verehrten  Gelehrten,  ihm  doch  auf  seine  Rückreise,  die  er  noch 
vor  Ostern  398  nach  Rom  antreten  wollte,  als  wertvollstes 
Angebinde  einen  Kommentar  zum  ersten  Evangelium  mit- 
zugeben. Hieronymus  hatte  im  Jahre  3Q7  eine  schwere 
Krankheit  überstanden,  über  die  er  sich  auch  in  den  gleich- 
zeitigen Briefen  äußert.  Fast  12  Monate  war  er  krank  ge- 
wesen, ')  und  erst  in  der  Fastenzeit  des  Jahres  3Q8  fing  das 
Fieber  an  aufzuhören.-)  Noch  matt  von  der  Krankheit,  in  der 
Zeit  der  Rekonvaleszenz,  hat  er  in  Eile  in  zwei  Wochen  den 
Kommentar  dem  Schnellschreiber  diktiert  und  die  Korrektur 
gelesen,  damit  ihn  noch  die  Schönschreiber  vor  der  Abreise 
des  Eusebius  ins  Reine  übertragen  konnten.')  Er  hat  deshalb 
ein  recht  böses  Gewissen  über  die  flüchtige  Art  der  Abfassung 
und  entschuldigt  sich  sehr,  daß  nicht  Arroganz  oder  Vertrauen 
auf  sein  Genie,  sondern  nur  die  Liebe  zu  seinem  Freund  ihn 
zu  einer  so  schnellen  Abfassung  veranlaßt  hätte. 

Bei  seiner  uns    immer  wieder  begegnenden  Eitelkeit,    die 

•)  Ep.  74,  c.  6,  Vallarsi  I,  447. 
*)  Ep.  73,  10,  Vallarsi  I,  444. 

')  Praef.  in  Matth.,   Vallarsi  VII,  8:    at  tu   in  duabus  hebdomadibus, 
imminente  iam  Pascha  et  spirantibus  ventis,  dictare  me  cogis. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  245 

sich  durch  die  ehrenvolle  Aufforderung  geschmeichelt  fühlte, 
hatte  er  nicht  abzulehnen  vermocht.  Lieber  will  er  bei  den 
Gelehrten  Gefahr  laufen,  als  einem  seiner  Verehrer  und  Herolde 
seines  Gelehrtenruhms  im  Abendland  etwas  abschlagen,  was 
dieser  eifrig  forderte.  Natürlich  ziert  er  sich  anfänglich,  aber 
nur,  um  Eusebius  möglichst  deutlich  die  Schwierigkeit  der  ihm 
gestellten  Aufgabe  zum  Bewußtsein  zubringen:  es  sei  schwer, 
die  gesamten  Auslegungsschriften  zu  den  Evangelien  zu 
kennen  und  noch  schwerer,  aus  dieser  Literatur  mit  richtigem 
Urteil  das  Beste  zu  exzerpieren.')  im  Grunde  war  ihm  solche 
Schnellarbeit  durchaus  sympathisch,  da  er  dann  für  seine 
Flüchtigkeiten  einen  Entschuldigungsgrund  zu  haben  glaubte. 
Er  vertröstet  Eusebius  von  Cremona  und  seine  Zeitgenossen, 
daß,  wenn  ihm  noch  ein  längeres  Leben  beschieden  sein  sollte, 
er  eine  gründliche  und  fleißige  Arbeit  über  Matthäus  verfassen 
werde.  Er  hat  dies  so  wenig  getan  und  kaum  beabsichtigt, 
wie  er  den  im  Kommentar  geäußerten  Plan,  den  Markus  zu 
kommentieren,  ausgeführt  hat. 

Mit  der  raschen  Entstehung  seines  Kommentars  begründet 
es  Hieronymus,  daß  er  die  Autorität  der  Alten  beiseite  lasse, 
da  er  sie  jetzt  nicht  lesen  und  ihnen  nicht  folgen  könne.  Bei 
der  Einzelexegese  im  Kommentar  hat  er  auch  nirgends  seine 
Quelle  genannt.  Nur  in  der  Einleitung  zählt  er  die  ihm  be- 
kannten Matthäuskommentare  auf,  die  er  vor  vielen  Jahren 
gelesen  habe.  Es  sind  dies  zunächst  die  Arbeiten  des  Origenes, 
ein  großer  25  Bücher  umfassender  Kommentar,  ebenso  viele 
Homilien  und  ein  kurzer  Kommentar  des  Alexandriners,  ferner 
Kommentare  des  Bischofs  Theophilus  von  Antiochia,  des 
Märtyrers  Hippolyt,  des  Theodor  von  Heraklea,  des  Apollinaris 
von  Laodicea  und  des  Alexandriners  Didymus.-)  Von  lateinischen 
Kommentaren  nennt  er  die  Werke  des  Hilarius  von  Poitiers, 
Victorin  und  Fortunatianus.  Er  behauptet,  daß  er  diesen 
Kommentaren  nur  wenig  entnommen  habe. 

Da  uns  von  dem  Kommentar  des  Theophilus,  den 
er    auch    im    Schriftstellerkatalog    erwähnt')     und     aus    dem 

>)  Praef.  in  Matth.,  Vallarsi  VII,  8. 
2)  Praef.  in  Matth.,  Vallarsi  VII,  7. 
^)  de  vir.  illiist.  c.  25. 


246  Wiederankniipfung  mit  Rom. 

er  ein  Stück  im  Briefe  an  die  Algasia  mitteilt,')  sonst 
nichts  erhalten,  der  Hippolytkommentar  bis  auf  wenige 
unsichere  Fragmente')  verloren  gegangen,  und  von  den 
Kommentaren  des  Theodor  von  Heraklea,  Apollinaris  von 
Laodicea,  Didymus,  Victorin  und  Fortunatianus  ^)  keine  Zeile 
auf  uns  gekommen  ist,  so  können  wir  betreffs  dieser  ver- 
lorenen Kommentare  seine  Abhängigkeit  nicht  mehr  kontrollieren. 
Nur  an  einer  Stelle  nimmt  er  sicher  auf  Apollinaris  Bezug,  in- 
dem er,  ohne  ihn  zu  nennen,  die  von  diesem  aus  der  Stelle 
Matth.  26,  38:  „Meine  Seele  ist  betrübt  bis  in  den  Tod"  für 
sein  Dogma  gezogene  Folgerung  ablehnt,  daß  Jesus  eine 
Seele  ohne  einen  rof'c  besessen  habe,')  Nur  den  Kommentar 
des  Hilarius  besitzen  wir  vollständig')  und  von  dem  großen 
Kommentar  des  Origenes  zu  Matthäus  umfangreiche  Fragmente. 
Was  nun  den  ersteren  betrifft,  so  hat  ihn  Hieronymus  in  der 
Tat  nur  wenig  benutzt.  Nur  an  einer  Stelle  polemisiert  er 
gegen  die  Auslegung  des  Hilarius  von  Matth.  16,  22.  Hilarius 
hatte  die  Worte  Jesu:  „Weiche  hinter  mir  Satanas,  du  bist  mir 
ein  Ärgernis",  nicht  an  Petrus  gerichtet  sein  lassen,  sondern 
an  den  Satan,  der  Petrus  inspiriert  hatte,  gewiß  mit  der 
Absicht,  den  Hauptapostel  Petrus  dadurch  zu  entlasten.") 
Hieronymus  wendet  sich  dagegen:')  „Viele  glauben  —  er  nennt 
nicht  ausdrücklich  Hilarius  -  daß  nicht  Petrus  zurecht  ge- 
wiesen worden  sei,  sondern  der  böse  Geist,  welcher  dies  dem 
Apostel  zu  sagen  einflößte.  Aber  mir  scheint  diese  apostolische 
Verirrung  aus  dem  Affekt  der  Verehrung  herzukommen  und 
nicht  aus  einer  Anreizung  des  Teufels."  Daß  Hieronymus  auch 
in  Matth.  26,  37  die  dokesierende  Ansicht,  wonach  Christus 
nicht  wirklich,    sondern  nur   zum  Scheine   und   aus  Rücksicht 

')  Ep.  121   ad  Al«rasiam,  Vallarsi  1,  866. 

-)  Harnack,  Altchristl.  Literaturgeschichte  I,  498  ff. 

')  Den  Kommentar  des  Fortiinatianus  erwähnt  er  nocli  de  vir. 
ilUist.  c.  97. 

')  Matth.  26,  38,  Vallarsi  Vi!,  119:  discant  ergo,  qui  irrationabilem 
Jesiim  siimpsisse  animam  siiscipantur,  quomodo  contristetur. 

■)  Migne  P.  L.  IX,  950  ff.,  s.  Loofs  A.  Hilarius  R.  E.  ^  VIII,  59. 

«)  Migne  P.  L.  IX,  1011. 

')  Matth.  16,  22,  Vallarsi  VII,  116:  multi  putant,  quod  non  Petrus 
correptus  sit,  sed  adversarius  spiritus,  qui  haec  dicere  apostolo  suggerebat. 


Wiederankniipfung  mit  Rom.  247 

auf  die  Menschen  gelitten  hätte,')  dem  Hilarius  von  Poitiers 
entnommen  hätte,  wie  Zöckler'-)  gemeint  hat,  läßt  sich  nicht 
erweisen;  denn  der  angebliche  Doketismus  des  Hieronymus 
an  dieser  Stelle  beruht  auf  einem  Mißverständnis,  und  Hilarius 
hat  auch  in  seinem  Kommentar  zu  Matth.  26,  37  keine  der- 
artige Anschauung  über  das  Leiden  Christi  geäußert.  Es 
bleibt  also  bei  der  einen  Stelle,  an  der  sich  eine  Bezugnahme 
des  Hieronymus  auf  den  Kommentar  des  Hilarius  nach- 
weisen läßt. 

Nur  einen  von  den  in  der  Vorrede  genannten  Kommentaren 
hat  er  ausgiebig  benutzt,  und  dies  ist  der  große  Kommentar 
des  Origenes.  Daß  dies  nur  aus  dem  Gedächtnis  geschah, 
da  er  ihn  vor  vielen  Jahren  gelesen  haben  will,')  ist  wenig 
glaubhaft.  Da  er  ihn  in  seiner  Bibliothek  besaß,  wird  er  trotz 
der  Schnelligkeit,  mit  der  er  seinen  Kommentar  diktierte,  des 
öfteren  einen  Blick  hineingetan  haben;  denn  so  allein  erklärt 
sich  die  starke,  oft  wörtliche  Abhängigkeit  von  dem  griechischen 
Meister  der  Exegese.  Wir  besitzen  nun  zwar  den  Kommentar  des 
Origenes  nicht  vollständig,  aber  vier  Bruchstücke  der  neun  ersten 
Bände,  ferner  die  8  folgenden  Bände,  Band  10  bis  17,  und  endlich 
in  einer  alten,  wortgetreuen  lateinischen  Übersetzung  die  weiteren 
Bände,  Band  18  bis  25,  bis  zum  Schluß  des  Matthäusevan- 
geliums.') Auf  Grund  dieser  erhaltenen  Stücke  des  Matthäus- 
kommentars läßt  sich  zur  Genüge  die  Abhängigkeit  des  Hiero- 
nymus erweisen,  und  an  anderen  Stellen  läßt  sie  sich  aus  der 
Berührung  mit  Origenistischen  Gedanken  vermuten.  Ich  möchte 
nur  hervorheben,  daß  Hieronymus  alles,  was  er  über  die 
apokryphen  Evangelien,  die  Entstehung  unserer  vier  kanonischen 
Evangelien  und  über  die  Tiersymbole  der  vier  Evangelisten 
mitteilt,    dem    Origenes    entnommen    hat.')     Die    allegorische 


')  Matth.  26,  37,  Vallarsi  I,  218. 

2)  Zöckler,  S.  213,  Anm.  1. 

*)  Praef.  in  Matth.:  legisse  me  fateor  ante  annos  pUirimos  in  Mattheum 
Origenis  viginti  quinqiie  voliimina  et  totidem  eins  homih'as  conimaticuniqiie 
interpretationis  genus. 

*)  Migne  P.  G.  13,  830-1800. 

^)  Praef.  in  Matth.,  Vallarsi  VII,  1  ff.  s.  das  Origenesfragment  zu 
Matth.  1,  Migne  P.  G.  13,  830  und  die  Parallele  in  den  Origeneshomilien 
zu  Lukas,  Homilie  I,  Vallarsi  VII,  248  ff . 


248  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Deutung  der  meisten  Gleichnisse  hat  er  wörtlich  aus  Origenes 
abgeschrieben.')  Auch  was  Hieronymus  z.  B.  zur  Erl<lärung  von 
Korban,  Matth.  15,  4,  bringt,  stammt  nicht,  wie  man  zunächst 
vermuten  könnte,  aus  seinen  jüdischen  Quellen,  sondern  ist 
ganz  Origenistisches  Gut.  Bereits  Origenes  hatte  sich  die  Sitte 
von  den  Juden  erklären  lassen.')  Um  eine  Stelle  hervorzuheben, 
zu  der  uns  der  Kommentar  des  Origenes  nicht  erhalten  ist,  bei 
der  aber  die  Abhängigkeit  des  Hieronymus  von  Origenes  trotz- 
dem sicher  steht,  sei  auf  Matth.  1,  18  verwiesen.  Hieronymus 
antwortet  hier  auf  die  Frage,  warum  Jesus  von  einer  verlobten 
Jungfrau  geboren  werden  mußte,  mit  einem  dem  Bischof  Ignatius 
entnommenen  Worte,  daß  der  so  Geborene  dem  Teufel  nur 
verborgen  bleiben  konnte,  wenn  er  als  der  Sohn  einer  Ehefrau 
erschien.  Da  Hieronymus  die  Ignatianen  nicht  kannte,  so  hat 
Hieronymus  dies  Stück  sicher  dem  Origeneskommentar  ent- 
lehnt.') Daß  Hieronymus  auch  in  diesem  Kommentar  wie  in 
seinen  anderen  Kommentaren  vielfach  den  Schein  erweckt,  als 
ob  eine  Auslegung  von  ihm  stamme,  während  er  sie  dem 
Origenes  entnommen  hat,  kann  uns  nicht  Wunder  nehmen.  So 
bemerkt  er  z.  B.  zu  Matth.  15,  22^):  ich  meine,  die  Tochter 
der  Chanannäerin  bedeutet  die  Seele  der  Gläubigen,  welche 
von  Dämonen  geplagt  wird.  Nach  seiner  beliebten  Manier 
gibt  er  sich  den  Schein  selbständiger  Produktivität,  schmückt 
sich  aber  mit  fremden  Federn,  indem  er  einfach  den  Origenes 
ausschreibt. 

Trotz  der  ausgiebigen  Benutzung  des  Matthäuskommentars 
des  Origenes  hält  sich  aber  Hieronymus  in  diesem  Kommentar 
ganz  frei  von  dessen  Heterodoxien,  und  ohne  ihn  zu  nennen, 
polemisiert  er  scharf  gegen  Origenes,  um  nur  keinen  Zweifel  an 
seiner  eigenen  Rechtgläubigkeit  aufkommen  zu  lassen.  So 
hebt    Hieronymus    bei    der    Erklärung    der    dritten    Bitte    des 

')  7.  B.  Matth.  13,  44,  vom  Sciiatz  im  Acker;  Mattii.  13,  47  vom  Fisch- 
netz; Matth.  13,  32  vom  Senfkorn;  Matth.  20,  1  von  den  Arbeitern  im 
Weinberg. 

')  Matth.  15,  4,  Vallarsi  VU,  111,  Anm.  a. 

")  s.  die  Parallele  in  den  OrigeneshomiUen  zu  Lukas,  Homilie  VI, 
Vallarsi  VII,  261. 

^)  Matth.  15,  22,  Vallarsi  VII,  115,  Anm.  b. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  249 

Vaterunsers  Matth.  6,  10:  „Dein  Wille  geschehe  wie  im  Himmel 
also  auch  auf  Erden"  hervor,  daß  das  Origenistische  Theolo- 
gumenon,  wonach  auch  im  Himmel  Sündenfälle  vorkommen, 
durch  das  Wort  des  Erlösers  widerlegt  werde.')  Wenn 
nach  Matth.  8,  12  in  der  Verdammnis  Heulen  und  Zähne- 
klappen statthaben  wird,  so  ist  dies  für  ihn  ein  Beweis  dafür, 
daß  nicht  nur  die  Seelen  fortleben,  sondern  auch  die  Leiber 
auferstehen.')  Matth.  10,  15  droht  der  Herr  den  Städten,  die 
die  Apostel  nicht  aufgenommen  haben,  ein  härteres  Gericht 
an  als  Sodom  und  Gomorrha;  also  lehrt  auch  der  Herr  keine 
ujioKUTäöTaoig  jtüvtojv,  sondern  einen  verschiedenen  Straf- 
zustand.') Wenn  Origenes  und  seine  Anhänger,  die  die  Auf- 
erstehung des  Fleisches  leugnen,  das  kirchliche  Verständnis 
von  Matth.  10,  29 ff.:  „Alle  Haare  auf  unserem  Haupte  sind 
gezählt"  für  absurd  erklären,  so  bemerkt  Hieronymus  dagegen, 
daß  in  dieser  Stelle  nicht  gesagt  sei,  daß  alle  Haare,  die  vom 
Barbier  abgeschnitten  werden,  erhalten  bleiben,  sondern  nur  daß 
sie  gezählt  sind.  Gott  kennt  also  ihre  Zahl,  aber  es  ist  nicht 
die  Rede  davon,  daß  ihre  Zahl  erhalten  bleibt.*)  An 
Matth.  11,  14,')  wo  Johannes  der  Täufer  als  Elias  bezeichnet 
wird,  und  an  Matth.  14,  1,")  wo  Herodes  Antipas  glaubt,  daß 
Johannes  der  Täufer  von  den  Toten  auferstanden  und  in  Jesus 
erschienen  sei,  hatte  Origenes  seine  Lehre  von  d^v  juersinipv^coöi^, 
der  Seelenwanderung,  geknüpft.  Scharf  weist  Hieronymus 
diese  exegetische  Begründung  des  Origenistischen  Dogmas 
ab.  Wenn  Johannes  der  Täufer  Elias  genannt  wird,  so 
geschieht  dies,  weil  er  in  dem  Geist  und  der  Kraft  des  Elias 
kommt;  und  wie  könne  in  Jesus  die  Seele  Johannes  des  Täufers 
wiederkehren,  da  doch  der  Herr  30  Jahre  alt  war,  als  Johannes 
der  Täufer  geköpft  wurde,  und  bei  der  Annahme  der  Seelen- 
wanderung erst  nach  dem  Verlauf  vieler  Jahre  die  Seelen  in 
die  verschiedenen  Körper  eingepflanzt  werden. 


')  Matth.  6,  10,  Vallarsi  VII,  34. 
^)  Matth.  8,  12,  Vallarsi  VII,  45. 
3)  Matth.  10,  15,  Vallarsi  VII,  60. 
*)  Matth.  10,  29ff.,  Vallarsi  VII,  64. 
^)  Matth.  11,  14,  Vallarsi  VII,  70. 
6)  Matth.  14,  1,  Vallarsi  VII,  100. 


250  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Im  Gleichnis  von  den  beiden  Schuldnern  Matth.  18,  24ff. 
hatte  Origenes  den  Schuldner,  dem  der  Herr  1000  Talente 
erläßt,  auf  den  Teufel  bezogen,  der  uns,  seinen  Mitknechten, 
nicht  die  100  Denare  erläßt.  Da  aber  bei  dieser  Auslegung  die 
Bekehrung  des  Teufels  in  Aussicht  genommen  war,  so  erklärt 
Hieronymus  sie  für  eine  unkirchliche  Interpretation,  die  von 
klugen  Männern  abzulehnen  sei.')  Und  wenn  der  Erlöser  den 
Sadducäern  Matth.  22,  31')  antwortet,  daß  man  bei  der  Auf- 
erstehung weder  heirate  noch  werde  geheiratet  werden,  so  hat 
dieses  Wort  nur  einen  Sinn,  wenn  nicht  nur  die  Seelen,  wie 
Origenes  behauptet,  sondern  auch  die  Körper  auferstehen; 
denn  nur  die  Körper  können  heiraten  und  geheiratet  werden: 
„Niemand  sagt  doch  vom  Stein  oder  Baum  und  von  den 
Dingen,  die  keine  Zeugungsglieder  haben,  daß  sie  nicht 
heiraten  oder  nicht  geheiratet  werden."  Im  Anschluß  an  das 
Wort  Jesu  Matth.  25,  46,  wonach  die  einen  zur  ewigen  Strafe, 
die  Gerechten  aber  zum  ewigen  Leben  eingehen  werden,'') 
betont  Hieronymus  dem  Origenes  gegenüber,  daß  sowohl  die 
Höllenstrafen  ewig  sind,  wie  daß  es  im  ewigen  Leben  keinen 
Sündenfall  mehr  geben  wird.  Wenn  endlich  Origenes  aus 
dem  Worte  Jesu  Matth.  26,  24:  „Gut  wäre  es  für  jenen 
Menschen,  wenn  er  nicht  geboren  wäre,"  die  Präexistenz  der 
Seelen  abgeleitet  hatte,')  so  darf  dies  Wort  nach  Hieronymus 
nicht  so  gepreßt  werden,  sondern  es  ist  einfach  damit  gesagt:  es 
ist  viel  besser  nicht  zu  existieren,  als  in  schlechter  Weise  zu 
existieren.  So  zieht  sich  also  durch  den  ganzen  Kommentar 
des  Hieronymus  eine  scharfe  Polemik  gegen  den  einst  so 
hochgeschätzten  Meister,  den  er  noch  immer  fleißig  benutzt, 
aber  dessen  Heterodoxien  er  jetzt  perhorresziert.  Und  diese 
Polemik  des  Hieronymus,  dies  dürfen  wir  auch  sagen,  ist  nicht 
ungeschickt;  sie  trifft  die  wunden  Stellen,  indem  Hieronymus  den 
Beweis  führt,  daß  der  Neuplatonismus   des  Origenes,    den    er 

')  Matth.  18,  24ff.,  Vallarsi  VII,  143. 

■')  Matth.  22,  31,  Vallarsi  VII,  179. 

")  Matth.  25,  46,  Vallarsi  VII,  210:  prudens  lector  attende,  quod 
et  supplicia  aeterna  sunt  et  vita  perpetua  metum  deinceps  non  habet 
ruinarum. 

*)  Matth.  26,  24,  Vallarsi  VII,  215. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  251 

in  das  Evangelium  hineindeutete,  im  Grunde  nichts  mit  ihm 
zu  tun  hat.  Hieronymus  brachte  es  so  sich  und  seinen  Zeit- 
genossen zum  Bewußtsein,  daß  der  große  Alexandriner  kein 
schriftgläubiger  Theologe  war,  sondern  daß  mehr  als  die  Schrift 
die  griechische  Philosophie  sein  Denken  bestimmt  hatte. 

Außer  den  in  der  Vorrede  genannten  Kommentaren,  von 
denen  er  nur  den  Kommentar  des  Origenes  ausgiebiger 
benutzt  hat,  hat  Hieronymus  nur  ganz  selten  andere  christliche 
Schriftsteller  herangezogen.  Einmal  verweist  er  auf  Eusebius 
und  Julius  Africanus,  die  zur  Erklärung  der  Differenzen  des 
Geschlechtsregisters  Jesu  nach  Matthäus  und  Lukas  auf  die 
jüdische  Leviratsehe  hingewiesen  hatten.')  Ein  anderes  Mal 
bringt  er  zu  Matth.  2,  11  ein  Zitat  aus  der  evangelischen 
Geschichte  des  Priesters  luvencus,  in  dem  die  Gaben  der 
Magier  allegorisch  gedeutet  werden.)  Und  endlich  zitiert  er 
zu  Matth.  24,  5  einen  kurzen  Satz  aus  angeblich  auf  Simon 
Magus  zurückgehenden  Schriften.')  Aus  der  klassischen 
Literatur  hat  er  nur  zwei  Anekdoten  in  seinen  Matthäus- 
kommentar eingeflochten,  die  Geschichte  des  Flaminius')  und 
seiner  Hure  und  die  Geschichte  von  dem  Tyrannen  Dionysius 
und  den  beiden  Pythagoräern,  die  Schiller  in  der  Bürgschaft 
verwertete,')  vermutlich  Reminiszenzen  an  seinen  Schul- 
unterricht. 

Besonders  wertvoll  sind  aber  für  uns  noch  die  Zitationen 
aus  dem  Hebräerevangelium,    das  Hieronymus   gelegentlich  in 


')  Matth.  1,  16,  Vallarsi  VI!,  11:  super  hoc  et  Africanus  temporum 
scriptor  et  Eusebius  Caesanensis  in  Hbris  hKuioivia^  rva->yi'?.i(')v  plenius 
disputarunt. 

-)  Matth.  2,  11,  Vallarsi  Vil,  14,  luvencus,  Historia  evangelica,  Migne 
P.  L.  XIX,  40. 

■')  Matth.  24,  5,  Vallarsi  VII,  193:  haec  inter  cetera  in  suis  voluminibus 
scripta  dimittens:  ego  sum  sermo  dei,  ego  sum  speciosus,  ego  paracletus, 
ego  omnipotens,  ego  omnia  dei,  s.  Harnack,  Altchristi.  Literatur- 
geschichte I,  154. 

*)  Die  Geschichte  findet  sich  Cato  maior  bei  Livius  39,  42,  Cicero, 
Cato  maior  12,  42;  Plutarch,  Cato  maior  c.  17;  Valerius  Maximus  11,9,3, 
s.  M.  Catonis,  quae  extant,  rec.  Jordan,  Leipzig  1860  S.  46. 

=)  Die  Literatur  über  die  beiden  Pythagoräer  s.  unter  A.  Dämon, 
Paulys  Realencyklopädie  des  kiass.  Altertums,  neubearbeitet  von  Wissowa 
Bd.  IV,  2074. 


252  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

seinem  Matthäuskommentar  heranzieht.  Es  wäre  ja  mögh'ch, 
daß  er  diese  Zitate,  wie  Harnack')  vermutet,  schon  bei  Origenes 
fand,  doch  ist  dies  deshalb  unwahrscheinlich,  da  auch  im 
Schriftstellerkatalog  gerade  die  Zitate  aus  dem  Hebräer- 
evangelium ein  selbständiger  Zusatz  des  Hieronymus  sind. 
Hatte  er  doch  nach  seinem  eigenen  Zeugnis)  das  Hebräer- 
evangelium aus  dem  Hebräischen  oder  wie  er  sich  später 
genauer")  ausdrückt,  aus  dem  Chaldäischen  oder  Syrischen, 
d.  h.  aus  dem  Aramäischen  ins  Griechische  und  Lateinische 
übersetzt.  Da  nun  Clemens  Alexandrinus  bereits  eine  griechische 
Übersetzung  des  Hebräerevangeliums  benutzt,  so  hat  vielleicht 
seine  angebliche  Übersetzung  dieses  Evangeliums  ins  Griechische 
—  wir  besitzen  sonst  kein  Übersetzungswerk  des  Hieronymus 
ins  Griechische  —  nur  in  einer  Revision  des  griechischen 
Textes  nach  dem  Aramäischen  bestanden.')  In  Rom  hatte 
Hieronymus  noch  an  die  Identität  des  Hebräerevangeliums  mit 
dem  hebräischen  Matthäus  geglaubt,')  später  scheint  er  diese 
Meinung  aufgegeben  zu  haben,  wenn  er  auch  die  alte  Konfusion 
zwischen  dem  hebräischen  Matthäus  und  dem  judenchrist- 
lichen Hebräerevangelium  nie  unzweideutig  berichtigt  hat.  Er 
spricht  später  von  dem  Hebräerevangelium  als  von  dem  bei 
den  Nazaräern  und  Ebioniten  gebrauchten  Evangelium,  das 
von  den  meisten  für  das  authentische  Evangelium  des  Matthäus 
gehalten  werde.) 

Aus  dem  Hebräerevangelium  notierte  Hieronymus  die 
Variante  zu  der  vierten  Bitte  Matth.  6,  11:  „Unser  Brot 
für  morgen  gib  uns'  heute."')  Er  bemerkte  zu  der  Ge- 
schichte der  Heilung  des  Mannes  mit  der  verdorrten  Hand, 
daß  er  im  Hebräerevangelium  seinem  Beruf  nach  als  Maurer 
bezeichnet  werde.')     Zacharias  wird  dort  der  Sohn  des  Jojada 

')  Altchristi.  Literaturgeschichte  I,  8 ff.' 
-)  de  vir.  illust.  c.  135. 
')  Dial.  adv.  Pclagianos  III,  2. 
')  Harnack,   Aitchristl.  Literaturgeschichte  I,  8. 
')  Bd.  I,  207,  ep.  20,  5. 

*)  Comm.   in  Jesaiam  c.  11,  1;    c.  40,  9;    praef.  in  1.  XVIII;    Comm. 
in  Ezech.  c.  16,  13,  c.  18,  7;  Adversus  Pelagianos  III,  2. 
')  Matth.  6,  11,  Vallarsi  VII,  34. 
')  Matth.  12,  13,  Vallarsi  VII,  77. 


Wiederankniipfung  mit  Rom. 


253 


und  nicht  wie  im  Matthäusevangelium,  Matth.  23,  35,  der  Sohn 
des  Barachias  genannt,')  und  der  Mörder  Barrabas  wird  als 
filius  magistri  eorum  interpretiert.')  Bei  der  Kreuzigung  Jesu 
zerreißt  nicht  nur  der  Vorhang  des  Tempeis,  sondern  die 
Oberschwelle  des  Tempels  von  gewaltiger  Größe  zerbricht 
und  geht  in  Stücke.')  Vielleicht  geht  auch  die  Notiz  zu 
Matth.  7,  22,  daß  Judas  Ischariot  viele  Wunder  unter  den 
Aposteln  getan  habe,  auf  das  Hebräerevangelium  zurück;  doch 
hat  Hieronymus  hier  seine  Quelle  nicht  ausdrücklich  be- 
zeichnet.') 

Trotzdem  der  Matthäuskommentar  des  Hieronymus  in 
mancher  Beziehung  flüchtig  gearbeitet  ist,  so  ist  er  doch  für 
uns  in  vieler  Hinsicht  von  Interesse,  und  es  ist  nicht  leicht 
ihn  allseitig  zu  v/ürdigen. 

Zunächst  hat  Hieronymus  wie  in  allen  seinen  exegetischen 
Schriften  so  auch  hier  nicht  unwichtige  Beiträge  zur  Textkritik 
des  Evangeliums  gegeben.  Er  hat  abweichende  Lesarten,  die 
ihm  aufgefallen  sind,  angemerkt  und  sich  um  die  sprachliche 
Erklärung  schwer  oder  doppelt  zu  deutender  Worte  bemüht. 
In  Matth.  5,  22:  „Ich  aber  sage  euch,  wer  seinem  Bruder 
zürnet,  der  ist  des  Gerichts  schuldig,"  lesen  einige  Codices: 
„wer  seinem  Bruder  ohne  Grund  zürnet,  der  ist  des  Gerichts 
schuldig.')"  In  Matth.  6,  25:  „Sorget  nicht  für  euer  Leben, 
was  ihr  essen  werdet,"  findet  sich  in  einigen  Codices  der 
Zusatz:  „sorget  nicht  für  euer  Leben,  was  ihr  essen  und  was 
ihr  trinken  werdet."')  In  Matth.  11,  19  findet  sich  neben  der 
Lesart:  „die  Weisheit  muß  gerechtfertigt  werden  von  ihren 
Kindern,"  die  andere  „die  Weisheit  muß  gerechtfertigt  werden 
durch  ihre  Werke."")  Im  Gleichnis  vom  Senfkorn  Matth.  13,  32 
notiert    er  den  in  vielen  Codices  sich   findenden  Zusatz:  das 


1)  Matth.  23,  35,  Vallarsi  VII,  190. 

2)  Matth.  27,  16,  Vallarsi  VII,  239. 

3)  Matth.  27,  51,  Vallarsi  VII,  236. 

*)  Matth.  7,  22,  Vallarsi  VII,  41:    sed  et  Judas  apostolus  cum  animo 
proditoris  multa  signa  inter  caeteros  apostolos  fecisse  narratur. 
*)  Matth.  5,  22,  Vallarsi  VII,  26. 
6)  Matth.  6,  25,  Vallarsi  VII,  36. 
')  Matth.  11,  19,  Vallarsi  VII,  72. 


254  Wiederankniipfung  mit  Rom. 

Senfkorn,  welches  das  kleinste  unter  allen  Samenkörnern  ist.') 
in  Matth.  13,  35  wird  das  Zitat  auf  Jesaia,  den  Propheten, 
zurückgeführt,  während  die  meisten  Codices  den  Namen  des 
Propheten,  der  da  spricht,  nicht  nennen.-)  Der  Vers 
Matth.  16,  2:  „Des  Abends  sprecht  ihr:  es  wird  ein  schöner 
Tag  werden,  denn  der  Himmel  ist  rot"  fehlt  in  den  meisten 
Handschriften,  die  dem  Hieronymus  bekannt  waren.')  In 
Matth.  21,  31  merkt  Hieronymus  die  wichtige  Variante  in  dem 
Gleichnis  von  den  beiden  Söhnen  an.  Einige  Exegeten 
lesen:  „Welcher  von  den  zweien  hat  des  Vaters  Willen  getan? 
Sie  sprachen  zu  ihm:  der  Letzte,"  andere  lesen:  „Welcher  von 
den  zweien  hat  des  Vaters  Willen  getan?  Sie  sprachen  zu 
ihm:  der  Erste."  Hieronymus  entscheidet  sich  hier  ausdrück- 
lich für  die  letztere  Lesart  als  die  richtige.')  Im  Gleichnis 
von  der  königlichen  Hochzeit,  Matth.  22,  3,  lesen  die  meisten 
Codices:  „Und  er  sandte  seine  Knechte  aus,  daß  sie  die 
Gäste  zur  Hochzeit  luden,"  nur  einige  lesen  statt  „die  Knechte," 
„den  Knecht".  )  Endlich  lesen  in  Matth.  24,  36  einige  lateinische 
Handschriften:  „Tag  und  Stunde  weiß  niemand,  auch  die 
Engel  im  Himmel  nicht,  auch  nicht  der  Sohn,  sondern  allein 
der  Vater."  In  den  griechischen  Handschriften  aber,  die  nach 
Hieronymus  auf  Origenes  und  Pierius  zurückgehen,  fehlen  die 
Worte,  daß  auch  der  Sohn  nicht  Tag  und  Stunde  der  Wieder- 
kunft des  Menschensohnes  weiß.)  In  der  Regel  referiert 
Hieronymus  nur  über  den  von  ihm  vorgefundenen  hand- 
schriftlichen Bestand,  nur  selten  äußert  er  ein  eigenes  Urteil 
über  die  von  ihm  für  richtig  gehaltene  Lesart.  Bisweilen  aber 
erlaubt  er  sich  auch  radikale  Korrekturen  des  Textes.  So 
vermutet  er,  daß  Matth.  1,  12  die  Abschreiber  die  Namen  der 
Könige  Jojakim    und  Jochachin  (Jechonia)    nicht   auseinander- 

')  Matth.  13,  32,  Vallarsi  VII,  39:  niiilti  legentes  graiuim  sinapis 
miiiiimiin  omnibiis  seiiiiiiibus. 

')  Matth.  13,  35,  Vallarsi  VII,  95. 

)  Matth.  lö,  2,  Vallarsi  VII,  119. 

')  Matth.  21,  32,  Vallarsi  VII,  168. 

■■)  Matth.  22,  3,  Vallarsi  VII,  172. 

'")  Matth.  24,  36,  Vallarsi  VII,  199:  cum  in  graecis  et  maxime 
.\ciamantii  et  Pierii  exemplaribiis  hoc  non  habetur  adscriptum. 


Wiederankniipfuno-  mit  Rom.  255 

gehalten  hätten,  und  deshalb  der  Text  bei  den  Griechen  und 
Lateinern  korrumpiert  sei.')  Auch  in  Matth.  2,  5  ist  mit  dem 
Hebräerevangelium  Bethlehem  Judae  und  nicht  Judaeae  zu  lesen; 
die  erstere  Lesart  hält  Hieronymus  für  die  ursprüngliche  des 
Evangelisten,  während  die  letztere  auf  einem  Irrtum  der  Ab- 
schreiber beruhe.-)  Ebenso  will  er  in  Mark.  1,  2  „wie 
geschrieben  steht  im  Propheten  Jesaia"  den  Namen  des 
Propheten  gestrichen  wissen,  da  er  fälschlich  dem  Zitat,  das 
aus  Maleachi  stammt,  hinzugefügt  worden  sei.') 

Was  die  sprachliche  Erklärung  schwieriger  Worte  betrifft, 
so  weist  er  z.  B.  für  den  Namen  des  Messias,  Matth.  2,  23, 
„Er  soll  Nazarenus  heißen"  auf  die  Bezeichnung  desselben 
als  Sproß  in  Jesaia  11,  1  hin.*)  Um  den  Ausdruck  panis 
supersubstantialis  in  Matth.  6,  1 1  zu  erklären,  zieht  er  die  LXX, 
den  hebräischen  Text  und  Symmachus  heran.'')  In  Matth.  5,  25, 
wo  der  Lateiner  consentiens  übersetzt,  findet  sich  im 
Griechischen  evvoojr.  und  dies  entspricht  nach  seiner  Meinung 
dem  lateinischen  benignus.  )  In  Matth.  8,  3  ist  die  lateinische 
Lesart  „volo  mundare"  nach  Hieronymus  nicht  als  Infinitiv, 
sondern  als  Imperativ  zu  fassen:  Ich  will:  Sei  rein.') 

Merkwürdig  ist  es,  wie  wenig  verhältnismäßig  Hieronymus 
bei  der  Erklärung  des  Matthäusevangeliums  die  anderen  Synop- 
tiker und  das  Johannesevangelium  herangezogen  hat.  Sein 
Blick  ist  für  die  Differenzen  in  der  Darstellung  der  evan- 
gelischen Geschichte  nicht  geschärft,  und  wo  er  solche  findet, 
lösen  sie  sich  ihm  leicht  auf.  Unbewußt  bereichert  er  die 
Geschichte  Jesu  nach  Matthäus  mit  Zügen,  die  er  den  anderen 
Evangelien  entnommen  hat.  Einige  charakteristische  Beispiele 
mögen  diese  Sätze  erhärten.  Wenn  z.  B.  in  den  Apostel- 
katalogen der  verschiedenen  Evangelien  einmal  Lebbäus,  einmal 
Thaddäus,  einmal  Judas  Jakobi  zu   den  zwölf  Aposteln  gezählt 

>)  Matth.  1,  12,  Vallarsi  VII,  11. 

2)  Matth.  2,  5,  Vallarsi  VII,  14. 

^)  Matth.  3,  3,  Vallarsi  VII,  17. 

')  Matth.  2,  23,  Vallarsi  VII,  17. 

^)  Matth.  6,  11,  Vallarsi  VII,  34. 

«)  Matth.  5,  25,  Vallarsi  VII,  27. 

')  Matth.  8,  3,  Vallarsi  VII,  43. 


256  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

werden,  so  erklärt  sich  dies  nach  Hieronymus  einfach  daraus, 
daß  derselbe  Jünger  drei  verschiedene  Namen  gehabt  hat.') 
Da  im  Johannesevangelium  Johannes  der  Täufer  Jesus  bereits 
bei  seiner  Taufe  als  Lamm  Gottes  bezeichnet,  so  kann  die 
Täuferfrage  Matth.  11,  Ir)  „Bist  du  es,  der  da  kommen  soll, 
oder  sollen  wir  eines  anderen  warten?"  nicht  aus  dem  Zweifel 
des  Johannes  an  die  Messianität  Jesu  gestellt  sein,  sondern  nur 
um  seine  eigenen  Jünger,  die  Johannesjünger,  zum  Glauben  an 
Jesum  zu  führen.  Wenn  in  der  Verklärungsgeschichte  nach 
Matthäus  Jesus  seine  Jünger  nach  sechs,  in  der  Verklärungs- 
geschichte nach  Lukas  nach  acht  Tagen  zu  sich  nahm,  so  löst 
sich  diese  Differenz  in  den  Zeitangaben  einfach  dadurch,  daß 
Lukas  den  ersten  und  letzten  Tag  besonders  gezählt  hat.  )  In 
der  Leidensgeschichte  ist  die  Berücksichtigung  der  übrigen 
Evangelisten  ausgiebiger,  und  Hieronymus  ergänzt  hier  har- 
monistisch  die  Darstellung  des  Matthäus  durch  die  übrigen 
Evangelisten.  Nach  Johannes  trug  Jesus  selbst  sein  Kreuz, 
nach  Matthäus  Simon  von  Kyrene.')  Dies  ist  nach  Hieronymus 
so  zu  denken,  daß  erst  Jesus,  dann  Simon  das  Kreuz  trug. 
Wenn  im  Matthäusevangelium')  beide  Räuber,  die  mit  Jesus 
gekreuzigt  wurden,  als  Spötter  des  Herrn  bezeichnet  werden, 
nach  Lukas  der  eine  den  Herrn  verspottet,  der  andere  ihn  als 
Messias  bekennt,  so  legt  sich  Hieronymus  den  Tatbestand  bei 
Matthäus  mit  Hilfe  des  Tropus  der  ntuÄtjifHc:  zurecht,  wonach 
statt  des  einen  Räubers  beide  als  Spötter  eingeführt  werden. 
Die  Evangelien  können  sich  nicht  widersprechen;  deshalb 
müssen  wir  uns  die  Sache  so  denken,  daß  erst  beide  Räuber 
den  Herrn  gelästert  haben  und  dann,  als  die  Sonne  unter- 
ging, das  Erdbeben  eintrat,  die  Felsen  zerrissen  und  die 
Finsternis  hereinbrach,  der  eine  an  Jesum  gläubig  wurde  und 
die  anfängliche  Verleugnung  durch  das  folgende  Bekenntnis 
korrigierte.  Und  wenn  die  Evangelien  verschiedene  Angaben 
enthalten    über  die  Zeit,    zu    der  die  Weiber    am   Grabe  Jesu 


')  Matth.  10,  3,  Vallarsi  VIl,  56. 
*)  Matth.  11,  1,  Vallarsi  VIl,  67. 
')  Matth.  17,  1,  Vallarsi  VII,  129. 
*)  Matth.  27,  32,  Vallarsi  VII,  232. 
*)  Matth.  27,  44,  Vallarsi  VIl,  235. 


Wiederaiiknüpfiing  mit  Rom.  257 

weilten,')  so  ist  dies  kein  Zeichen,  wie  uns  die  Gottlosen  vor- 
werfen, daß  die  Evangelien  lügen,  sondern  wir  müssen  uns 
dies  daraus  erklären,  daß  die  Weiber  zu  verschiedenen  Zeiten 
das  Grab  besucht  haben.') 

Was  die  polemische  Seite  seines  Matthäuskommentars  be- 
trifft, so  hoben  wir  bereits  oben  hervor,  daß  er  des  öfteren  gegen 
Origenes  polemisiert.  Im  übrigen  tritt  hier  im  Vergleich  mit  seinen 
früheren  exegetischen  Arbeiten  zum  Neuen  Testament  die  Polemik 
zurück.  Die  gelegentliche  Erwähnung  Marcions,')  Valentins,*) 
des  Montanus')  und  der  Ebioniten)  hat  er  dem  Origenes- 
kommentar  entlehnt.  Die  Manichäer,  deren  Lehre  für  Hiero- 
nymus  mit  der  der  Marcioniten  zusammenfällt,  hat  er  den 
Marcioniten  beigefügt.  Diese  Polemik  gegen  die  Manichäer  ist 
bisweilen  recht  eigentümlich  geartet.  Der  Geschichte  von  der 
Austreibung  der  Dämonen  und  ihres  Hineinfahrens  in  die 
Schweineherde  entnimmt  Hieronymus  eine  Widerlegung  des 
manichäischen  Dogmas:  Es  möge  der  Manichäer  erröten,  wenn 
von  derselben  Substanz  und  demselben  Urheber  die  Seelen 
der  Menschen  und  der  Bestien  sein  sollen,  da  wegen  des  Heils 
eines  einzigen  Menschen  2000  Schweine  ersäuft  wurden.')  Daß 
an  geeigneten  Stellen  vereinzelte  Hiebe  gegen  die  abscheulichen 
Ketzer  Arius  und  Eunomins  nicht  fehlen,')  gehört  zur  not- 
wendigen Ausstattung  eines  rechtgläubigen  Kommentars.  Auch 
mit  den  heidnischen  Polemikern  Julian  und  Porphyrius  setzt 
sich  Hieronymus  auseinander.  Er  hat  hier  wahrscheinlich  den 
Kommentar  des  Apollinaris  benutzt.  Eine  solche  Widerlegung 
der  heidnischen  Angriffe  war  nötig,  da  die  Heiden  noch  immer 


^)  Matth.  28,  1,  Vallarsi  VII,  240:  qiiod  diversa  tempora  istarum 
mulierum  in  evangeliis  describuntiir,  non  mendacii  Signum  est,  ut  impii 
objiciunt,  sed  sedulae  visitationis  officium,  dura  crebro  abeunt  et  recurrunt 
et  non  patiuntur  a  sepulcro  domini  diu  abesse  vel  longius. 

-)  Andere  Stellen,  wo  er  die  übrigen  Evangelien  berücksichtigt,  siehe 
Matth.  9,  18;  9,  27;  12,  1;  12,  38;  15,  23;  26,  51;  27,  1;  27,  57. 

»)  s.  Matth.  5,  39;  9,  28;  14,  18;  14,  26;  16,  8. 

*)  Matth.  13,  5. 

^)  Matth.  9,  15. 

«)  Matth.  12,  2. 

')  Matth.  8,  32,  Vallarsi  VII,  48. 

^^)  z.  B.  Matth.  14,  33;  Matth.  11,  27. 

Grützmacher,    Hieronymus.    II.  17 


258  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

mit  den  Waffen  Julians  und  Porphyrius  die  Christen  bekämpften. 
Wenn  Julian  uns  die  Widersprüche  in  den  Genealogien  Jesu  nach 
Matthäus  und  Lukas  vorrückt/)  daß  Matthäus  den  Joseph  zum 
Sohn  des  Jakob,  Lukas  ihn  zum  Sohn  des  Heli  macht,  so  hat  nach 
Hieronymus  der  heidnische  Kaiser  eben  nichts  von  der  jüdischen 
Leviratsehe  gewußt,  wonach  der  eine  der  Vater  des  Joseph 
der  Natur  nach,  der  andere  dem  Gesetz  nach  war.  Wenn  ferner 
Porphyrius  und  Julian  aus  der  Differenz  der  Namensüber- 
lieferung des  zum  Zwölfapostel  berufenen  Zöllners,  der  nach 
dem  ersten  Evangelium  den  Namen  Matthäus,  nach  Markus  den 
Namen  Levi  führte,  die  geschichtliche Unzuverlässigkeit  der  Evan- 
gelien folgern,  so  beruht  dieseFolgerung  nur  auf  ihrerUnkenntnis 
der  jüdischen  Sitte  der  Doppelnamen,  wonach  Matthäus  auch 
den  Namen  Levi  führte.')  Die  heidnischen  Kritiker  beschul- 
digten auch  die  Jünger  Jesu  der  Dummheit,  daß  sie  auf  seine 
bloße  Aufforderung  hin  in  seine  Nachfolge  eintraten;  Hieronymus 
motiviert  diesen  raschen  Entschluß  damit,  daß  sie,  bevor  sie 
sich  zurjüngerschaft  entschlossen,  bereits  seineWunder  geschaut 
hätten. ')  Porphyrius  hatte  die  Sonnenfinsternis  bei  dem  Tode 
des  Erlösers  für  ein  natürliches  Ereignis  erklärt,  das  nur  die 
Christen  zu  einem  Wunder  gemacht  hätten.  Darauf  erwidert 
Hieronymus,  daß  dies  einfach  deshalb  unmöglich  wäre,  da  sie 
nach  dem  einstimmigen  Bericht  der  Evangelien  drei  Stunden 
lang  gedauert  habe.')  An  anderen  Stellen  macht  sich  Hiero- 
nymus die  Widerlegung  des  Porphyrius  dadurch  leicht,  daß  er 
einfach  auf  die  christlichen  Schriftsteller,  auf  Eusebius  und 
Apollinaris,  verweist,  die  auf  seine  Schmähungen  bereits  die 
rechte  Antwort  gegeben  hätten.  ) 

')  Matth.  1,  Ui;  Vallarsi  VII,   11. 

')  Matth.  g,  Q,  Vallarsi  Vil,  50. 

")  Matth.  9,  9,  Vallarsi  VII,  50. 

*)  Matth.  27,45,  Vallarsi  VII,  235. 

*)  Matth.  24,  16,  Vallarsi  VII,  195:  de  hoc  loco  . . .  multa  Porphyrius 
tertio  decimo  operis  sui  volumine  contra  nos  blasphemavit,  cui  Eusebius 
Caesariensis  tribus  respondit  voluminibus,  decimo  octavo,  decimo  nono, 
et  viccsimo.  Apollinaris  cpioque  scripsit  plenissime.  s.  auch  Matth.  3,  3, 
Vallarsi  VII,  17,  wo  er  Porphyrius  bekämpft.  Wahrscheinlich  stammen  auch 
die  Einwände  gegen  die  mangelhaften  Naturkenntnisse  Jesu  von  Porphyrius, 
die  Hieronymus  Matth.  15,  17,  Vallarsi  VII,  114  zurückweist. 


Wiederanknüpfung-  mit  Rom.  259 

Die  jüdische  Exegese  berücksichtigt  Hieronymus  in  diesem 
Kommentar  ziemlich  wenig,  obwohl  die  zahlreichen  Stellen  des 
Alten  Testaments,  die  der  erste  Evangelist  zitiert,  ihm  dazu 
hätten  Anlaß  geben  können.  Eine  Reihe  hebräischer  Wörter, 
wie  Raca,  Mammona,  Beelzebul,  Gehenna  erklärt  er;  auch  über 
die  jüdische  Art  des  Grußes  zu  Matth.  10,  22  und  die  Sitte 
der  Salbung  zu  Matth.  6,  17  handelt')  er  und  teilt  mit,  daß 
von  den  beiden  von  den  Christen  messianisch  gedeuteten 
Psalmen  Psalm  100  von  den  Juden  auf  Abraham,  Psalm  22 
auf  David,  Esther  und  Mardochai  bezogen  werde.)  Ab- 
weichend vom  massorethischen  Text  des  Psalms  4,  3,  in 
dem  wir  Sohn  des  Mannes  lesen,  behauptet  Hieronymus,  daß 
für  filius  hominis  im  Hebräischen  filius  Adam  stehe. ')  An 
einer  Stelle  zu  Matth.  25,  6  gedenkt  er  einer  jüdischen 
Haggada,  nach  der  das  Erscheinen  des  Messias  von  den 
Juden  um  Mitternacht  erwartet  wird.*) 

Eusebius  von  Cremona,  auf  dessen  Bitte  Hieronymus  seinen 
Matthäuskommentar  verfaßte,  hatte  um  eine  historische  Auslegung 
des  ersten  Evangeliums  gebeten,  ein  Zeichen,  daß  das  Interesse 
für  den  Wortsinn  der  Evangelien  in  der  Kirche  des  Abendlandes 
noch  lebendig  war.  Hieronymus  ist  auch  diesem  Wunsche  so 
weit  wie  möglich  nachgekommen,  wenn  er  sich  auch  nicht 
ganz  enthalten  kann,  die  Blumen  des  geistlichen  Verständnisses 
einzuflechten.)  Es  ist  merkwürdig,  wie  schwankend  sich 
Hieronymus  über  das  Recht  und  den  Wert  der  allegorischen 
Exegese  hier  im  Matthäuskommentar  wieder  äußert.  Einerseits 
will  er  nichts  von  ihr  wissen  und  bemerkt,  daß  man  niemals 
aus  dem  zweifelhaften  allegorischen  Sinn  einer  Schriftstelle 
den  Beweis  für  ein  Dogma  führen  dürfe,  wie  z.  B.  bei  der 
allegorischen  Deutung  des  Gleichnisses  von  den  drei  Scheffeln 
Mehl,  Matth.  13,  33,  das  auf  den  Glauben  an  Vater,  Sohn  und 


1)  Matth.  5,  22;  6,  24;  10,  22;  10,  28;  6,  17;  23,  6. 

2)  Matth.  22,  41,   Vallarsi  Vll,  181,   Matth.  27,  46,   Vallarsi  VII,  236. 
«)  Matth.  16,  13,  Vallarsi  Vll,  122. 

*)  Matth.  25,  6,  Vallarsi  VII,  203. 

*)  Praef.  in  A^atth.,  Vallarsi  VII,  S:  historicam  interpretationem,  quam 
praecipue  postulasti. 

ri7' 


260  Wiederanl<inipfiint(  mit  Rom. 

Geist  bezogen  würde.')  Auch  die  allegorische  Deutung  der  zwei 
Spatzen  in  Matth.  10,  29  auf  Leib  und  Seele  wird  von  ihm 
verworfen,  da  sie  sich  nicht  mit  dem  Zusammenhang  ver- 
einigen lasse.*)  Und  anderseits  wandelt  er  wieder  ganz  in  den 
Bahnen  des  Origenes,  der  die  allegorische  Exegese  in  ein 
System  gebracht  hatte,  wonach  manche  Schriftstellen  überhaupt 
keinen  historischen,  sondern  nur  einen  psychischen  oder 
pneumatischen  Sinn  haben  und  gottgewollte  Anstöße  für  die 
bloß  historische  Exegese  sind,  um  auf  den  verborgenen  tieferen 
Sinn  der  Schrift  hinzuweisen.  Eine  solche  Stelle  ist  Matth.  21,  4. ') 
Nach  dem  buchstäblichen  Sinn  hätte  Jesus  bei  seinem  Einzug 
in  Jerusalem  auf  zwei  Tieren,  der  Eselin  und  ihrem  Füllen, 
gesessen.  Die  geschichtliche  Deutung  ergibt  hier  etwas  Unmög- 
liches und  Unpassendes,  also  ist  nur  die  allegorische  Deutung 
am  Platze. 

Da  Hieronymus  ein  schlechter  Historiker  ist,  so  hat  er  bei 
seiner  Flüchtigkeit  zahlreiche  geschichtliche  Irrtümer  in  seinem 
Kommentar  begangen.  So  macht  er  z.  B.  Herodes  Antipas 
zum  Nachfolger  des  Archelaus  und  läßt  Archelaus  nach  Lyon 
und  nicht  nach  Vienne  nach  seiner  Absetzung  verbannt  werden.^) 
Johannes  der  Täufer  ist  nach  Hieronymus  in  einer  Stadt  Arabiens 
und  nicht  in  dem  Kastell  Machärus  enthauptet  worden.')  Es 
ist  ein  Irrtum  des  Hieronymus,  daß  die  Stadt  Julia  jenseits  des 
Jordans  zu  Ehren  der  Tochter  des  Augustus,  Julia,  von  Herodes 
Antipas  diesen  Namen  erhalten  habe,**)  Woher  er  die  Nachricht 
hat,  daß  Kaiphas  seine  hohepriesterliche  Würde  von  Herodes 
gekauft  habe,  ist  nicht  ersichtlich,  dajosephus,  auf  den  ersieh 
beruft,  wenigstens  in  dem  uns  vorliegenden  Texte  nichts  davon 
berichtet.')     Die  Notiz  des  Josephus,  daß  die  Schutzengel  des 

')  Mattli.  13,  33,  Vallarsi  VII,  94:  pius  sensus,  sed  nunqiiam  para- 
bnlac  et  dubia  acnifrmatiim  intelligentia  potest  ad  auctoritatem  dogmatum 
proficerc. 

')  Matth.  10,  29,  Vallarsi  VII,  63. 

»)  Matth.  21,  4,  Vallarsi  VII,  160. 

*)  Matth.  2,  22,  Vallarsi  VII,  16. 

•")  Matth.  14,  12,  Vallarsi  VII,  103. 

*)  Matth.   16,  13,  Vallarsi  VII,  121. 

•)  Matth.  26,  57,  Vallarsi  VII,  223:  refert  Josephus  istum  Caipham 
unius  tantum  anni  pontificatum  ab  Herode  pretio  redemisse. 


Wiederanklüipfung  mit  Rom.  261 

Tempels  in  Jerusalem  bei  der  Zerstörung  der  Stadt  ausgerufen 
hätten:  „Laßt  uns  aus  diesen  Sitzen  fortgehen",  bezieht  Hiero- 
nymus  fälschlich  auf  dieKreuzigungChristi.')  Derselbehistorische 
Irrtum,  der  aus  der  Chronik  des  Eusebius  zum  Jahre  33 
stammt,  begegnet  uns  auch  sonst  bei  Hieronymus,')  während 
er  ihn  in  seinem  gegen  Ende  seines  Lebens  geschriebenen  Jesaia- 
kommentar  korrigiert  hat.  Es  ist  ebenfalls  irrig,  wenn  Hieronymus 
das  Didrachma  in  Matth.  17,  24  für  eine  Kaisersteuer  erklärt.') 
In  Matth.  22,  15  hat  er  dagegen  eine  früher  im  Dialog  gegen 
die  Luciferianer  vertretene  Meinung,  daß  unter  den  Herodianern 
die  zu  verstehen  seien,  die  Herodes  für  den  Messias  hielten, 
korrigiert.')  Unter  den  Herodianern  seien  einfach  die  Soldaten 
des  Herodes  zu  verstehen,  und  Hieronymus  findet  jetzt  die 
früher  von  ihm  selbst  geteilte  Ansicht  einiger  Lateiner  lächerlich. 
Was  die  sachliche  Seite  des  Matthäuskommentars  betrifft, 
so  kommt  einem  zunächst  bei  der  Exegese  der  große  Abstand 
des  biblischen  Christentums  von  dem  Christentum  des  Hiero- 
nymus zum  Bewußtsein;  und  Hieronymus  ist  ja  nur  ein 
Repräsentant  des  zeitgenössischen  Christentums.  Wie  wenig 
ist  doch  dieses  Christentum  trotz  aller  Bibelzitate  biblisch 
orientiert,  den  einzigen  Augustin  ausgenommen,  und  auch 
diesen  nur  in  manchen  seiner  Gedankenreihen.  Trotzdem  das 
Vaterunser  ein  Stück  des  kirchlichen  Unterrichts  war,  haftet 
das  Interesse  an  ihm  so  wenig,  wie  etwa  an  den  Seligpreisungen; 
dies  beweist  die  Auslegung  des  Hieronymus.  Im  Mittelpunkte 
seiner  Frömmigkeit  steht  die  Kirche  als  die  Heilsmittlerin,  außer- 
halb deren  es  kein  Heil  gibt,  Christus,  der  menschgewordeneOott, 
und  die  Askese  als  das  christliche  Lebensideal.  Die  Worte  der 
Bergpredigt  haben  für  seine  Frömmigkeit  doch  nur  sekundären 
Charakter.  Eine  Stelle  wie  Matth.  16,  18:  „Du  bist  Petrus, 
und  auf  diesen  Fels  will  ich  meine  Kirche  gründen,"  gehört 
für  ihn  zu  dem  Kern  und  Stern  des  Evangeliums,  obwohl  er 
sie  noch  nicht  im  Sinne  der  späteren  römischen  Exegese  Leos 
des  Großen  auslegt,    sondern  Simon  deshalb,    weil  er  an  den 


')  Matth.  27,  51,  Vallarsi  VII,  237,  Anm.  a. 

^)  Ep.  18  ad  Damasum;  ep.  120  ad  Hedibiam  quaestio  8. 

»)  Matth.  17,  24,  Vallarsi  VII,  135. 

■•)  Matth.  22, 15,  Vallarsi  VI  1,1 75,  s.  auchTertiillian,  de  praesciptionec.45. 


262  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

Fels  Christi  glaubte,  mit  dem  Namen  des  Petrus  beschenkt, 
und  nach  dem  Bilde  des  Felsens  zu  ihm  gesagt  sein  läßt: 
„Auf  dich  will    ich  meine  Kirche  gründen.'") 

Aber  wie  weltförmig  ist  doch  das  Christentum  des  Hiero- 
nymus  trotz  aller  Askese  verglichen  mit  der  Urform  des  Evan- 
geliums. Nehmen  wir  z.  B.  Matth.  5,  3:  „Selig  sind  die  geistig 
Armen,  denn  das  Himmelreich  gehört  ihnen."  Hieronymus 
akzentuiert  diese  bei  Matthäus  vorhandene  Form  der  Seligpreisung 
besonders  scharf:  „Damit  nicht  einer  glaubt,  daß  der  Herr  die 
Armut  selig  preise,  fügt  er  hinzu  die  geistig  Armen".")  Er 
reflektiert  gar  nicht  darauf,  daß  bei  Lukas  Jesus  die  Armen  ohne 
jeden  Zusatz  selig  preist.  Die  Stellung  des  Christentums  war  eben, 
etwa  seit  Clemens  Alexandrinus  seine  Schrift  schrieb:  Welcher 
Reiche  wird  gerettet  werden?  eine  völlig  andere  dem  irdischen 
Besitz  gegenüber  geworden,  und  dies  läßt  sich  an  zahlreichen 
Äußerungen  auch  des  Hieronymus  erweisen.  Der  Herr  sagt 
Matth.  5,  42:  Jedem,  der  dich  bittet,  gib,  aber  dies  darf  man 
nach  Hieronymus  nicht  vom  Almosen  geben  verstehen,  denn  dann 
würden  die  Reichen  bald  arm  werden,  sondern  man  muß  es 
auf  die  Verkündigung  des  Evangeliums  durch  die  Apostel  be- 
ziehen, die  umsonst  geben  sollen,  was  sie  umsonst  empfangen 
haben.')  Mit  den  Worten  Matth.  6,  24:  „ihr  könnt  nicht  Gott 
dienen  und  dem  Mammon"  will  der  Herr  nicht  den  Reichtum 
verbieten,  sondern  nur  die  rechte  Art  seines  Gebrauches  lehren; 
er  sagt  nicht,  wer  Reichtümer  hat,  sondern  nur,  wer  den 
Reichtümern  dient,  kann  nicht  Gott  dienen.')  Wenn  Jesus  seinen 
Jüngern  in  der  Aussendungsrede  die  Weisung  gibt,  nicht  zwei 
Röcke  auf  die  Reise  mitzunehmen,  so  kann  damit  nur  eine 
doppelte  Bekleidung  gemeint  sein,  da  es  in  den  von  Eis  und 
Schnee  bedeckten  Orten  Skytiens  doch  unmöglich  ist,  mit 
einem  Rock  auszukommen.  )  Die  Kompromisse,  die  die  Kirche 
geschlossen  hatte,  als  sie  sich  in  die  Welt  einlebte,  projizieren 
sich  auch  in  die  Exegese. 


')  Matth.  16,  18,  Vailarsi  VII,  124. 

»)  Mattli.  5,  3,  Vailarsi  VII,  23. 

•"')  Mattli.  5,  42,  Vailarsi  VII,  31. 

*)  Matth.  6,  24,  Vailarsi  VII,  36. 

")  Matth.  10,  9,  Vailarsi  VII,  58. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  263 

Überaus  merklich  ist  dies  auch  in  der  Eschatologie.  Das 
Interesse  dafür  ist  stetig  geringer  geworden,  weil  die  Aufgaben 
der  Kirche  auf  Erden  immer  dringendere  geworden  sind.  Die 
Bitte:  „Dein  Reich  komme"  lenkt  den  Blick  des  Hieronymus  nicht 
auf  das  zukijnftige  Reich,  sondern  der  Herr  bittet  hier  allgemein 
für  das  Reich  der  ganzen  Welt,  daß  der  Teufel  aufhören  möge, 
in  der  Welt  zu  regieren,  oder  daß  in  jedem  Gott  herrsche  und 
nicht  die  Sünde  im  sterblichen  Leibe  der  Menschen.')  Den 
Chiliasmus  lehnt  Hieronymus  ausdrücklich  und  nachdrücklich 
ab.  Wenn  Matth.  5,  4  von  dem  Land,  das  die  Sanftmütigen 
besitzen  werden,  die  Rede  ist,  so  ist  es  nicht  auf  dieser  Erde  zu 
suchen,  sondern  es  ist  darunter  die  zukünftige  Seligkeit  zu  ver- 
stehen.') Und  zu  Matth.  IQ,  2Q  bemerkt  er'):  „einige  knüpfen 
an  die  Schriftstelle  —  es  ist  das  Wort:  jeder,  der  sein  Haus, 
Brüder,  Schwestern,  Vater,  Mutter,  Gattin,  Kinder,  Äcker  meines 
Namens  halber  verläßt,  wird  es  hundertfältig  wiederempfangen 
und  das  ewige  Leben  besitzen,  —  das  tausendjährige  Reich  an, 
indem  sie  sagen,daß  wir  alle  Dinge,die  wirverloren  haben, hundert- 
fältig wiederempfangen  werden,  und  sie  erkennen  nicht,  daß, 
wenn  diese  Verheißung  bei  den  übrigen  Dingen  einen  passenden, 
sie  betreff  der  Gattinnen  einen  unpassenden  Sinn  gibt,  so  daß 
der,  welcher  eine  Gattin  des  Herrn  halber  verlassen  hat,  deren 
hundert  in  dem  zukünftigen  Reich  empfangen  würde.  Der  Sinn 
ist  also  der:  welcher  Fleischliches  für  den  Erlöser  verlassen 
hat,  wird  Geistliches  empfangen,  und  es  wird  dies  im  Vergleich 
mit  seinem  Verdienst  so  sein,  wie  wenn  man  eine  kleine  Zahl 
mit  der  Zahl  100  vergleicht."  Die  Parusie  Jesu  wird  nicht 
mehr  von  Hieronymus  als  nahe  bevorstehend  erwartet.  Zwar 
berichtet  er,  daß  die  Wiederkunft  Christi  um  Mitternacht  in 
der  Ostervigilie  erwartet  werde,  und  es  deshalb  Sitte  sei,  daß 
die  Gemeinde  in  der  Nacht  vor  dem  Osterfest  in  der  Kirche 
versammelt  bleibe.')  Aber  er  selbst  erklärt  ausdrücklich,  daß 
eine  lange  Zeit   zwischen  der  Himmelfahrt  des  Heilandes  und 


1)  Matth.  6,  10,  Vallarsi  VII,  35. 

-)  Matth.  5,  4,    Vallarsi  VII,    23:    non    terram    Judaeae    nee    terram 
istius  mundi. 

3)  Matth.  19,  29,  Vallarsi  Vli,  151. 

*)  Matth.  25,  6,  Vallarsi  VII,  203:  iinde  reor  et  traditionem  apostolicam 


264  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

seiner  zweiten  Ankunft  verlaufen  müsse.')  -In  diesem  Sinne 
deutet  er  Matth.  24,  34:  „Dies  Geschlecht  wird  nicht  vergehen, 
bis  daß  dies  alles  geschieht",  nicht  auf  die  Zeitgenossen  Jesu, 
sondern  auf  das  ganze  Menschengeschlecht  oder  auf  das  Volk 
der  Juden,')  und  in  der  Stelle  Matth.  16,  28:  „Einige  sind  hier, 
die  den  Tod  nicht  kosten  werden",  findet  er  überhaupt  keine 
eschatologische  Beziehung.  Was  seine  Eschatologie  betrifft, 
so  zeigt  sich  bei  Hieronymus  das  merkwürdige  Schwanken 
zwischen  der  Spiritualisierung  eschatologischer  Vorstellungen 
und  ihrer  sinnlich -massiven  Ausmalung,  das  für  die  mittel- 
alterlich-katholische Eschatologie  charakteristisch  geblieben  ist. 
Bedingt  ist  diese  inkonsequente  Stellungnahme  des  Hieronymus 
einerseits  durch  seine  Abhängigkeit  von  Origenes,  anderseits 
durch  seinen  im  Gegensatz  zu  Origenes  an  den  Gemeinde- 
glauben vollzogenen  Anschluß.  So  will  er  die  Finsternis,  in 
die  die  Söhne  des  Reiches,  Matth.  8, 12,  hinausgestoßen  werden, 
als  eine  nicht  äußerliche,  sondern  innerliche  gefaßt  wissen;') 
aber  dann  sieht  er  wieder  in  dem  Heulen  und  Zähneklappen  der 
Verdammten  einen  sinnlichen  Vorgang')  und  spricht  von  einer 
doppelten  Hölle,  in  deren  einem  Teil  eine  sehr  große  Hitze 
und  in  deren  anderem  Teil  eine  sehr  große  Kälte  herrsche.') 
Er  will  die  Vorzeichen  der  Parusie  nicht  geistlich,  sondern 
buchstäblich  gedeutet  wissen;")  er  behauptet  die  leibliche  Wieder- 
kunft des  Elias  vor  der  zweiten  Ankunft  des  Erlösers,')  die  Auf- 
erstehung der  Leiber  und  die  Ewigkeit  der  Höllenstrafen/) 

Nicht  nur  in  der  Eschatologie,  sondern  auch  sonst  bei  der 
Erklärung  des  Matthäusevangeliums  mischt  sich  bei  Hiero- 
nymus ein  schlichter,    naiver  Wunderglaube    mit  einem  eigen- 

permansisse,  ut  in  die  vi^iliaruni  Paschae  ante  noctis  dimidiuni  populos 
dimittere  non  iiceat,  exspectantes  adventum  Christi. 

')  Matth.  25,  IQ,  Vallarsi  VII,  206. 

-')  Matth.  24,  34,  Vallarsi  VII,  198. 

»)  Matth.  8,  12,  Vallarsi  VII,  45. 

*)  Matth.  22,  13,  Vallarsi  VII,  174. 

*)  Matth.  10,  28,  Vallarsi  VII,  63:  dupliceni  autem  esse  gehennam, 
nimii  ignis  et  frigoris. 

•■)  Matth.  24,  7,  Vallarsi  VII,  193. 

')  Matth.  17,  11,  Vallarsi  VII,  132. 

«)  Matth.  25,  46,  Vallarsi  VII,  210. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  265 

tümlichen  Rationalismus.  So  will  er  z.B.  bei  der  Taufgeschichte 
nichts  von  einer  tatsächlichen  Öffnung  des  Himmels  wissen, 
sondern  nur  das  geistige  Auge  sah  den  Himmel  offen;') 
und  während  er  ausdrücklich  von  den  Vorzeichen  der 
Parusie  sagt,  daß  er  nicht  zweifle,  daß  diese  Dinge  sich  buch- 
stäblich erfüllen  würden,")  erklärt  er  die  wunderbaren  Zeichen 
am  Himmel,  die  Verfinsterung  der  Sonne,  des  Mondes  und 
der  Sterne  ganz  rationalistisch.  Sonne,  Mond  und  Sterne  ver- 
lieren nicht  ihr  Licht,  sondern  sie  erscheinen  nur  im  Vergleich 
mit  dem  wahren  Licht,  Jesus  Christus,  wenn  er  wiederkommt, 
dunkel  und  finster.  Und  wenn  es  nach  Matth.  24,  35  heißt: 
„Himmel  und  Erde  werden  vergehen",  so  ist  damit  nicht  eine 
Vernichtung  von  Himmel  und  Erde  gemeint,  sondern  nur  eine 
Veränderung.  )  Auch  bei  den  Heilungsgeschichten  begegnen  uns, 
wenn  auch  selten,  rationalistische  Erklärungsversuche.  Die  Mond- 
süchtigen, die  Jesus  heilt,  sind  nach  Hieronymus  nicht  wirklich 
mondsüchtig,  sondern  sie  werden  nur  durch  den  Betrug  der 
Dämonen  dafür  gehalten.')  Es  sind  eben  sonderbare  Gegensätze 
in  Hieronymus  vereint.  Der  eifrige  Verteidiger  der  Heiligen- 
verehrung und  des  Reliquienkultus  erscheint  bisweilen  als 
nüchterner  Kritiker  des  Aberglaubens:  Wie  die  Juden  in  wört- 
lichem Mißverständnis  von  Deut.  6,  8:  „Diese  Worte  sollen 
dir  ein  Denkmal  vor  deinen  Augen  sein,"  die  Gebete  des 
Dekalogs  auf  Pergamentstreifen  an  der  Stirn  tragen,  so  tragen 
bei  uns  abergläubige  Weiblein  kleine  Evangelien,  Kreuzeshölzer 
und  ähnliche  Dinge  mit  sich  umher"),  und  einfältige  Christen 
zeigen  zwischen  den  Ruinen  des  Tempels  und  Altars  an  dem 
Tor,  das  nach  Siloah  führt,  rote  Felsen,  die,  wie  sie  glauben, 
durch  das  Blut  Zacharias,  des  Sohnes  Berechjas,  befleckt 
sind,  der  von  den  Juden  zwischen  dem  Altar  und  Tempel 
getötet  wurde.') 


')  Matth.  3,  17,  Vallarsi  VII,  19. 
•-)  Matth.  24,  7,  Vallarsi  VII,  193. 
«)  Matth.  24,  35,  Vallarsi  VII,  198. 

*)  Matth.  4,  24,  Vallarsi  VII,  22:    non  vere  lunaticos,    sed  qui    puta- 
bantur  lunatici  ob  daemonum  fallaciam. 
')  Matth.  23,  6,  Vallarsi  VII,  184. 
«)  Matth.  23,  35,  Vallarsi  VII,  190. 


266  Wiederanknüpfung  mit  Rom. 

In  der  Lösung  sachlicher  Schwierigkeiten  beweist  Hiero- 
nymus  bei  der  Erklärung  des  Matthäusevangeliums  ein  nicht 
geringes  Geschick,  indem  er  alle  möglichen  exegetischen  Kunst- 
griffe anwendet.  Im  Geschlechtsregister  Jesu  bei  Matthäus 
fehlen  zwischen  Joram  und  Usia  drei  Könige;  Hieronymus, 
der  wohl  dem  Origenes  folgt,  erklärt  dies  damit,  daß  das 
Gedächtnis  Jorams,  der  sich  mit  dem  Geschlecht  der  gottlosen 
Jesabel  vermischt  hatte,  bis  zur  dritten  Generation  ausgelöscht 
und  nicht  in  die  Reihe  der  heiligen  Geburt  aufgenommen 
werden  sollte.')  Daß  das  Geschlechtsregister  Jesu  auf  Joseph 
und  nicht  auf  Maria  geführt  wird,  hat  darin  seinen  Grund, 
daß  einmal  ein  Geschlechtsregister  nicht  aus  Frauen  zusammen- 
gesetzt werden  darf,  dann  aber  auch  darin,  daß  Joseph  und  Maria 
beide  aus  dem  Stamm  Davids  hervorgegangen  sind.')  Wenn 
Jesus,  der  Sündlose,  sich  einer  Bußtaufe  durch  Johannes  unter- 
zog, so  tat  er  dies,  weil  er  als  Mensch  alle  Gerechtigkeit  und  das 
Gesetz  erfüllen  mußte,  weil  er  ferner  durch  seine  Taufe  die 
Taufe  des  Johannes  billigen,  und  endlich,  weil  er  durch  das 
Herabkommen  der  Taube  die  Ankunft  des  heiligen  Geistes  bei 
der  Taufe  der  Gläubigen  beweisen   wollte.') 

Die  Frage  nach  der  buchstäblichen  Erfüllung  des  Gesetzes 
wird  von  Hieronymus  stillschweigend  bei  Seite  geschoben, 
indem  er  das  Wort  Jesu  in  der  Bergpredigt:  „Kein  Jota  des  Ge- 
setzes soll  vergehen"  allegorisch  auslegt,  daß  auch  das  Geringste 
im  Gesetz  voll  geistlicher  Geheimnisse  sei  und  im  Evangelium 
erfüllt  würde.')  Das  zum  Lebensunterhalt  nötige  Brot,  um  das 
wir  in  der  vierten  Bitte  des  Vaterunsers  bitten,  ist  Christus, 
der  auch  im  Johannesevangelium  das  lebendige  Brot  genannt 
wird.')  Die  Frage  Johannes  des  Täufers  an  Jesus  Matth.  11,  3: 
„Bist  du  es,  der  da  kommen  soll,  oder  sollen  wir  eines  anderen 
warten",  findet  bei  Hieronymus  die  zunächst  befremdende  Aus- 
legung, daß  Johannes  der  Täufer  Jesum  frage,  ob  er,  wenn  er 


•)  Matth.  1,  3,  Vailarsi  VII,  11. 

')  Matth.  1,  18,  Vailarsi  VII,  12. 

')  Matth.  3,  13,  Vailarsi  VII,  19. 

*)  Matth.  5,  18,  Vailarsi  VII,  26. 

*)  Matth.  6,  11,  Vailarsi  VII,  34. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  267 

in  die  Unterwelt  herabsteige,  den  Unterirdisclien  Jesum  ver- 
künden solle,  wie  er  ihn  den  auf  der  Erde  befindlichen 
Menschen  verkündet  habe.')  Hieronymus  wird  diese  merk- 
würdige Deutung  wahrscheinlich  dem  Origenes  entnommen 
haben,  der  auch  in  seinem  Johanneskommentar  ■)  Johannes 
den  Täufer  als  Zeugen  und  Vorläufer  Jesu  in  die  Unterwelt 
hinabsteigen  läßt.  Möglich  wäre  es  auch,  daß  Hieronymus 
hier  dem  Kommentar  des  Hippolyt  gefolgt  wäre,  der  ebenfalls 
Johannes  den  Täufer  dem  Herrn  in  den  Hades  vorangehen  läßt, 
um  dort  anzuzeigen,  daß  der  Erlöser  auch  dorthin  kommen 
werde,  die  Seelen  der  Heiligen  aus  der  Hand  des  Todes  zu 
erlösen.')  Daß  die  Sünde  gegen  den  Sohn  nach  Matth.  12,  32 
vergebbar  ist,  begründet  Hieronymus  damit,  daß  der  Menschen- 
sohn in  der  Unscheinbarkeit  eines  Menschen  erschienen  sei, 
die  Sünde  gegen  den  heiligen  Geist  aber  ist  unvergebbar,  weil 
der,  welcher  die  Werke  Gottes  deutlich  erkennt  und  sie  für 
Werke  des  Teufels  erklärt,  keine  Vergebung  verdiene.')  Die 
drei  Tage,  die  Jesus  nach  Matth.  12,  40  in  der  Unterwelt  zu- 
brachte, müssen,  da  es  nicht  volle  drei  Tage  sind,  synekdochisch 
verstanden  werden,  da  Jesus,  wie  Hieronymus  bereits  im  Jona- 
kommentar ausgeführt  hatte,')  nur  einen  Teil  des  Freitags,  den 
ganzen  Sabbat  und  einen  Teil  des  Sonntags  in  der  Unterwelt  ge- 
wesen ist/')  Die  Brüder  Jesu  Matth.  12,  4Q  macht  Hieronymus, 
wie  schon  in  der  Schrift  gegen  Helvidius,  zu  Vettern  Jesu  und 
ereifert  sich  darüber,  daß  einige,  dem  Wahnsinn  der  Apokryphen') 
folgend,  sie  für  Söhne  des  Joseph  und  einer  anderen  Gattin 
namens  Melcha  oder  Escha  erklären.'*)  Den  Matth.  23,  35 
genannten  Zacharja,  den  Sohn  Barachias,  halten  einige  nach 
Hieronymus    für    den    Zwölfpropheten    Sacharja,    andere    für 


»)  Matth.  11,  3,  Vallarsi  VII,  67. 

^)  Comm.  in  Joh.  II,  30. 

')  Hippolytus,  de  antichristo  c.  45. 

*)  Matth.  12,  32,  Vallarsi  VII,  81. 

'")  s.  Kommentar  zum  Jona  §  37  S.  201. 

«)  Matth.  12,  40,  Vallarsi  VII,  83. 

')  Protevangelium    Jacobi    c.    17,    s.    Harnack,    Altchristi.    Literatur- 
geschichte I,  17  u.  Vallarsi  VII,  84  Anm.  a. 

»)  Matth.  12,  49,  Vallarsi  VII,  85. 


268  Wiederanknüpfiing  mit  Rom. 

Zacharja,  den  Vater  Johannes  des  Täufers.  Hieronymus 
identifiziert  ihn  mit  dem  Hohenpriester  Zacharja,  dem  Sohn 
Jojadas,  den  König  Joas  töten  ließ,  und  beruft  sich  für  diese 
seine  Meinung  auf  das  Hebräerevangelium,  wo  er  auch  nicht 
als  der  Sohn  Barachias,  sondern  richtig  als  der  Sohn  Jojadas 
bezeichnet  werde.') 

Große  Mühe  gibt  sich  Hieronymus,  die  Allwissenheit 
Jesu  gegenüber  der  Stelle  Matth.  24,  36  zu  retten,  wo  es 
heißt,  daß  den  Tag  der  Parusie  nur  der  Vater  kennt,  auch 
nicht  die  Engel  im  Himmel  und  auch  nicht  der  Sohn.  Er 
verwirft  die  in  einigen  Codices  sich  findende  Lesart,  daß 
auch  nicht  der  Sohn  den  Tag  der  Parusie  kenne,  und 
folgert  dann,  daß,  wenn  es  heiße,  den  Tag  der  Parusie  kenne 
nur  der  Vater  allein,  der  Sohn,  der  mit  dem  Vater  eines 
Wesens  sei,  mit  in  die  Kenntnis  der  Parusie  eingeschlossen 
sei,  obwohl  er  nicht  ausdrücklich  genannt  werde. ■)  Von 
Origenes  hat  er  die  bei  den  Griechen  weit  verbreitete  An- 
schauung in  Matth.  27,  43  entlehnt,  daß  die  Dämonen  Jesus 
veranlassen  wollten,  vom  Kreuz  herabzusteigen,  als  sie  die 
Kraft  des  Kreuzes  erkannten,  daß  aber  der  Herr,  den  Hinterhalt 
der  Gegner  merkend,  am  Holz  hängen  blieb,  um  den  Teufel 
zu  vernichten.)  Während  er  die  Stelle  Matth.  27,  53'),  daß 
viele  Leiber  der  entschlafenen  Heiligen  auferstanden,  aus  ihren 
Gräbern  hervorgingen,  in  die  heilige  Stadt  kamen  und  vielen 
erschienen,  früher  bald  auf  eine  Erscheinung  im  irdischen 
Jerusalem,')  bald  im  himmlischen  Jerusalem")  bezogen  hatte, 
referiert  er  hier  beide  Auslegungen,  ohne  sich  zu  entscheiden, 
und  betont  nur,  daß  dies  Ereignis  nach  der  Auferstehung 
Jesu  anzusetzen  sei,  da  dieser  der  Erstling  der  von  den 
Toten  Auferstandenen  sei.     Das  Problem,  wie  der  Bericht  des 

')  Matth.  23,  35.  Vallarsi  VII,  190. 

=)  Matth.  24,  36,  Vallarsi  VII,  199. 

')  Matth.  27,  43,  Vallarsi  VII,  234. 

')  Matth.  27,  53,  Vallarsi  VII,  237. 

■')  Ep.  46,  7  ad  Marcellam,  so  auch  Aiigiistin  ep.  99  ad  Evodiiim, 
Chrysostomus  in  ep.  ad  Hebr.,  s.  Vallarsi  I,  331,  Anm.  a. 

*)  Ep.  60,  3,  so  auch  Origenes  in  Matth.  27,  Eusebius,  demonstr. 
evang.  I.  4,  Hilarins  in  ps.  2,  Rufin  in  expositione  symboli. 


Wiederanknüpfung  mit  Rom.  269 

Matthäus  über  galiläische  Erscheinungen  des  Auferstandenen 
mit  dem  Bericht  des  Lukas  über  judäische  Erscheinungen  in 
Einklang  zu  bringen  sei,  besteht  für  Hieronymus  nicht,  weil 
er  die  Worte  Jesu,  er  würde  in  Galiläa  seinen  Jüngern  erscheinen, 
darauf  bezieht,  daß  ihn  seine  Jünger  nicht  nur  in  Judäa, 
sondern  auch"  in  Galiläa,  d.  h.  inmitten  der  Menge  der  Heiden 
erblicken  würden.') 

Endlich  sei  noch  ein  Punkt,  der  die  dogmatischen  Über- 
zeugungen des  Hieronymus  betrifft,  berührt.  Man  hat  seine 
Auslegung  von  Matth.  25,  28:  Jesus  sagt  "nicht,  daß  er  seine 
Seele  zur  Erlösung  für  alle,  sondern  für  viele  gegeben  habe, 
d.  h.  für  die,  welche  glauben  wollten,  im  prädestinatianischen 
Sinne  gedeutet;')  aber  damit  tut  man  ihm  unrecht.  Wie 
wenig  Hieronymus  trotz  seines  späteren  Kampfes  gegen  Pelagius 
Prädestinatianer  war,  möge  der  Hinweis  auf  eine  andere  Stelle 
seines  Matthäuskommentars  beweisen.  Zu  Matth.  27,  34  betont 
er  ausdrücklich,  daß  Judas  Ischariot  nicht  durch  seine  Natur, 
sondern  durch  freien  Willensentschluß  zum  Verräter  wurde.'') 
Bezeichnend  ist  es  noch,  welche  Wandlung  der  Kirchenbegriff 
von  Origenes  bis  Hieronymus  durchgemacht  hat,  ohne  daß 
letzterem  dies  vielleicht  selbst  zum  Bewußtsein  gekommen  ist. 
Wie  bei  Origenes,  so  ist  es  auch  bei  Hieronymus  Gott,  nicht 
der  Priester,  der  den  Schuldigen  von  seinen  Sünden  losspricht, 
und  auch  Hieronymus  benutzt  die  Worte  Matth.  16,  19')  noch 
nicht,  um  eine  absolute  Macht  des  Priestertums  über  die 
Gewissen  zu  begründen.  Vielmehr  warnt  er  die  Priester  und 
Bischöfe  vor  dem  pharisäischen  Hochmut,  die  sich  ein  Ver- 
dammen und  Lossprechen  auf  Grund  amtlicher  Machtvoll- 
kommenheit anmaßen.  Das  Lossprechen  und  Verdammen  ist 
also    auch    bei   Hieronymus   noch    ein    rein    deklaratives   Aus- 

1)  Matth.  28,  6,  Vallarsi  VII,  241  ii.  Matth.  28,  10,  Vallarsi  VII,  242. 

^)  Servatus  Lupus  berief  sich  im  Praedestinationsstreit  auf  diese  Stelle, 
s.  Vallarsi  VII,  157,  Anm.  a. 

*)  Matth.  27,  3,  Vallarsi  VII,  226  qui  diversas  naturas  conantur  in- 
troducere  et  dicunt  Judam  proditorem  malae  fuisse  naturae,  nee  electione 
apostolatus  potuisse  servari,  respondeant,  quomodo  natura  mala  egerit 
poenitentiam. 

*)  Matth.  16,  19,  Vallarsi  VII,  125  u.  Origenes,  Comm.  in  Matth., 
Migne  P.  G.  13,  1013. 


270  Wiederankniipfung  mit  Rom. 

sprechen  des  Urteils  Gottes;  so  weit  teilt  Hieronymus  noch  die 
altkirchliche  Anschauung.  Aber  während  Origenes  die  Wirk- 
samkeit des  Priesters  von  seiner  sittlichen  Integrität  und  seiner 
persönlichen  Heiligkeit  abhängig  macht,  macht  Hieronymus 
einen  solchen  einschränkenden  Zusatz  nicht  mehr.  Der 
katholische  Kirchenbegriff,  den  Augustin  endgültig  heraus- 
arbeitete, daf3  die  Heiligkeit  der  Kirche  wie  die  Wirksamkeit 
der  Sakramente  auf  dem  objektiven  Heilsschatz  der  Kirche 
beruht,  und  daß  aus  ihm  die  Gnadengaben  so  ausgeteilt  werden, 
daß  der  Verteilende  sie  nur  mechanisch  vermittelt,  bahnt  sich 
bei  Hieronymus  deutlich  an. 

Werfen  wir  zum  Schluß  einen  Blick  auf  die  ersten  fünf- 
zehn Jahre  von  385  bis  400,  die  Hieronymus  im  Kloster  zu 
Bethlehem  verbrachte,  so  zeigen  sie  uns  den  Gelehrten  auf  der 
Mittagshöhe  seines  Lebens.  Es  sind  die  produktivsten  Jahre 
seines  Schaffens,  in  denen  vor  allem  sein  größtes  Werk,  die 
Bibelübersetzung,  die  er  in  Rom  mit  der  Revision  der  vier 
Evangelien  begonnen  hatte,  fast  vollständig  abgeschlossen  wurde. 
In  diese  Jahre  fällt  auch  die  bedeutsame  Wandlung  seiner  theo- 
logischen Überzeugung;  aus  einem  begeisterten  Anhänger  des 
Origenes  ist  er  zu  einem  schroffen  Traditionalisten  geworden. 
Nicht  plötzlich,  sondern  langsam  und  allmählich  hat  sich  diese 
Wandlung  vollzogen.  Im  Streite  des  Bischofs  Johannes  von 
Jerusalem  mit  Epiphanius  von  Salamis  wurde  er  zum  ersten 
Male  gezwungen,  Farbe  zu  bekennen  und  trat  auf  die  Seite 
des  alten  Ketzerrichters;  und  im  Kampfe  mit  seinem  früheren 
Freund  Rufin  sagte  er  sich  förmlich  und  feierlich  von  dem 
großen  Alexandriner  los.  Fortan  wurde  er  ein  eifriger  Hüter 
der  traditionalistischen  Theologie  und  der  schärfste  Gegner 
seines  einstigen  Lehrers.  Der  letzte  Lebensabschnitt  bis  zu 
seinem  Tode  im  Jahre  420  ist  voll  von  erbitterten  und  ver- 
bitternden Kämpfen.  Von  dieser  Lebensepoche  des  Hieronymus 
wird  der  dritte  Band  zu  handeln  haben. 


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