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STUDIEN
ZUR
GESCHICHTE DER THEOLOGIE
UND DER KIRCHE
HERAUSGEGEBEN
VON
N. BONWETSCH und R. SEEBERG
(iOTTINGEN BERLIN
ZEHNTER BAND
BERLIN
TROWITZSCH & SOHN
IQOö
HIERONYMUS
EINE BIOGRAPHISCHE STUDIE ZUR ALTEN
KIRCHENGESCHICHTE
VON
LIC. Dh GEORG GRÜTZMACHER
A. O. PROFESSOR DER THEOLOGIE
ZWEITER BAND
SEIN LEBEN UND SEINE SCHRIFTEN VON 385 BIS 400
BERLIN 'V/\'i\
TROWITZSCH & SOHN ^ r>/ \
1906
Vorwort.
Es ist mir vor allem ein Bedürfnis, für die freundliche
Aufnahme zu danken, die der erste Teil meiner Hieronymus-
Biographie gefunden hat. Abgesehen von Einzelheiten, auf
die ich in Kürze nicht einzugehen vermag, hat man von
mehreren Seiten eine weitere Ausführung des Milieus für
wünschenswert gehalten, ich hatte eine solche Erweiterung
absichtlich vermieden, nicht etwa aus Bequemlichkeit, sondern
weil nur allzuleicht die Entwicklung der Persönlichkeit, ihre
Schicksale und ihre Werke, bei einer breiten Milieuschilderung
nicht genügend hervortreten. Ich sehe mich schon bei der
Art, in der ich mir meine Aufgabe gestellt habe, aus den
Werken des Hieronymus selbst das Milieu, in dem er wirkt,
zu erheben, gezwungen, dem ersten Bande noch zwei Bände
folgen zu lassen. Wollte ich in gleicher Ausführlichkeit wie
im ersten Bande Leben und Werke des Hieronymus behandeln,
so mußte ich den letzten Lebensabschnitt des Hieronymus in
weiteren zwei Bänden darstellen. Der vorliegende zweite
Band behandelt die Zeit von 385 bis 400, der dritte Band die
Zeit von 400 bis 420, bis zum Tode des Hieronymus. ich
hoffe aber, daß der dritte Band, der zunächst den Origenistischen
Streit zur Darstellung bringen wird, nicht solange auf sich
warten lassen wird, wie der zweite. Ich wollte dem zweiten
Band noch einen Paragraphen über das Klosterleben des
VI Vorwort.
Hieronymus und der Paula beifügen, habe aber diesen Para-
graphen zurückgestellt, da ich im dritten Band von der Über-
setzung der Klosterregel des Pachomius durch Hieronymus
zu handeln habe.
Dieser zweite wie der folgende dritte Band erscheint im
Verlag von Trowitzsch & Sohn in Berlin, der auch den ersten
Band von dem bisherigen Verlag übernommen hat.
Dem dritten Bande wird das Namen- und Sachregister
beigegeben werden.
Heidelberg, im Januar 1906.
Georg Grützmacher.
Inhaltsverzeichnis.
Das Leben des Hieronymus.
Seite
Kapitel VII.
Die Reisen des Hieronymus bis zu seiner Niederlassung
in Bethlehem.
§ 26. Die Reise des Hieronymus und der Paula nach Antiochia 1 — 5
§ 27. Die Reise der Paula und des Hieronymus durch das
Heilige Land 5—12
§ 28. Der Aufenthalt Paulas und des Hieronymus in Ägjpten 12 — 17
Kapitel Vlil.
Die ersten Jahre des Hieronymus im Kloster zu
Bethlehem.
§ 29. Die ersten literarischen Werke des Hieronymus aus seinem
bethlehemitischen Aufenthalt, die Kommentare zu den vier
Paulusbriefen 18—50
^5 30. Die hebräischen Studien des Hieronymus und seine ersten
alttestamentlichen Auslegungsschriften 50—74
§ 31. Zwei Übersetzungsarbeiten des Hieronymus, die 39 Lukas-
homilien des Origenes und das Buch des Didymus über
den heiligen Geist 74—84
§ 32. Hieronymus als Mönchsbiograph 84 — 91
^ 33. Die Bibelübersetzung des Hieronynms 91—110
§ 34. Die Kommentare zu den fünf kleinen Propheten, Nahum,
Micha, Zephanja, Haggai und Habakuk 110 — 127
§ 35. Der Schriftstellerkatalog des Hieronymus 128 — 144
VIII Inhalt.
Seite
Kapitel IX.
Von der Wiederanknüpfung des Hieronymus mit Rom
bis zum Beginn des Origenistischen Streites.
i; 36. Der Streit des Hieronymus mit Jovinian 145 — 172
ij 37. Die Beziehungen des Hieronymus zu Rom in den neunziger
Jahren des vierten Jahrhunderts 172 — 195
i; 38. Der Jona- und Obadjakommentar 195—207
§ 39. Alte Freunde des Hieronymus, sein Verkehr mit der Heimat 208—221
tj 40. Neue Freunde und Freundinnen 222 — 243
>5 41. Der Matthäuskommentar des Hieronymus 244—270
Kapitel VII.
Die Reisen des Hieronymus bis zu seiner Nieder-
lassung in Bethlehem.
§ 26.
Die Reise des Hieronymus und der Paula
nach Antiochia.
Im August des Jahres 385, als die Herbstwinde wehten,
bestieg Hieronymus in Ostia, dem Hafen Roms, das Schiff,
das ihn nach dem Orient bringen sollte. Wir dürfen ihm
glauben, daß sein Herz ruhiger schlug, als er die verhaßte
Stadt verließ, als er den Staub des abscheulichen Babylon von
den Füßen schütteln konnte, das ihm so schlecht gelohnt
hatte. ') Vor ihm lag die heilige Stadt Jerusalem und das Ideal
eines stillen Gelehrtenlebens; er ahnte nicht, daß ihm, dem
ewig und überall Unverträglichen, auch das heilige Land bald
ein heißer Boden werden würde. Ein treuer Freund, der
Priester Vincentius, begleitete ihn auf seiner Fahrt. In Kon-
stantinopel waren wir ihm zuerst in der Umgebung des Hie-
ronymus begegnet'); er scheint auch in Rom sein Genosse
gewesen zu sein, obwohl Hieronymus seiner nirgends in seinen
römischen Briefen gedenkt. Auch der jugendliche Bruder des
Hieronymus, Paulinian, von dem wir hier zum ersten Male
^) Contra Rufin. III, 22, Vallarsi II, 551: mense Augusto, flantibus
etesiis cum sancto Vincentio presbytero et adolescente fratre et aliis mon-
achis, qui nunc Jerosolymae commorantur, navini in Romano portu securus
ascendi, maxima me sanctorum frequentia prosequente.
») s. Band I, 187—191.
Grützmacher, Hieronymus. II. 1
Bis zur Niederlassungf in Bethlehem
&
hören, und einige lateinische Mönche, die später im Bethle-
hemitischen Kloster mit ihm zusammenlebten, befanden sich
in seiner Reisegesellschaft. Während das römische Volk dem
verhaßten Mönche seine Flüche nachsandte, gab ihm, wie er
Rufin gegenüber mit Genugtuung hervorhebt, eine große Schar
von Heiligen beim Abschiede das Geleit. Die Mehrzahl der
Glieder des asketischen Kreises, den er in Rom um sich ge-
sammelt hatte, war ihm trotz aller Anfeindungen treu geblieben
und hing nach wie vor mit Liebe an dem begeisterten Apostel
der Virginität.
Die Reise ging über Rhegium; hier verweilte er kurze
Zeit am Scylläischen Gestade, und die alten Fabeln, die er
einst in der Schule gelernt hatte, von der raschen Fahrt des
vielgewandten Odysseus, von dem Gesang der Sirenen, von
dem unersättlichen Schlund der Charybdis lebten in seiner
Erinnerung wieder auf. An dem Vorgebirge Malea vorüber
und durch die Cykladen hindurch gelangte er nach Cypern.')
Hier machte er Station bei dem verehrten Bischof Epiphanius
von Salamis, den er von der römischen Synode im Jahre 382
her persönlich kannte"), und genoß seine Gastfreundschaft.
Dann kam er nach Antiochia, wo ihn der Bischof Paulin von
Antiochia aufnahm, der ihn einst zum Priester geweiht hatte.')
In der Hauptstadt Syriens scheint Hieronymus so lange ver-
weilt zu haben, bis Paula und Eustochium aus Rom ein-
getroffen waren, um dann in Gemeinschaft mit ihnen die Reise
durch das heilige Land zu unternehmen, die sie nach Jerusalem
führte. Als Hieronymus Rom verließ, rüsteten sich bereits
Paula und Eustochium ebenfalls zur Reise nach dem Orient.
Wenig später müssen sie ihm gefolgt sein. Den Grund,
warum man eine gemeinschaftliche Abreise von Rom vermied,
werden wir wohl darin zu suchen haben, daß man den bösen
Nachreden nicht noch weiteren Stoff zu geben wünschte.*)
') Contra Rnfin. MI, 22, Vallarsi II, 551.
») s. Band I, 198.
») s. Band I, 175.
*) Die Annahme (Tobler und Molinier, Itinera Hierosolymitana et de-'
scriptiones terrae sanctae, Genf 187Q, S. XV, Reinkens, Die Einsiedler des
heiligen Hieronymus, 1863, S. 208 und 226, Anm.), daß Paula bereits 383
Bis zur Niederlassung in Bethlehem. 3
Schwer wurde Paula der Abschied gemacht. Ihr Bruder, ihre
Verwandten, ihre Schwäger und ihre Kinder, die das liebe-
vollste Mutterherz noch umzustimmen gedachten, beglerteten
sie bis zum Hafen. Der kleine Toxotius streckte seine bittenden
Hände am Ufer nach der Mutter aus, ihre Tochter Ruffina,
deren Hochzeit nahe bevorstand, beschwor sie schweigend
mit ihren Tränen, sie möge doch wenigstens ihre Hochzeit
abwarten. Paula aber, trockenen Auges zum Himmel blickend,
überwand die Liebe zu den Kindern durch ihre Liebe zu Gott.
nach der römischen Synode die Bischöfe Epiphanius und Paulinus nach
dem Orient begleitet habe, ist falsch. Hieronymus sagt ausdrücklich
ep. 108, 6, Vallarsi I, 688, daß sie nur voto et desiderio, nicht aber tat-
sächlich mit den Bischöfen nach dem Orient reiste. Die oben gegebene
Darstellung über die Zeit der Reise des Hieronymus und der Paula wird
den Angaben der Quellen gerecht. Sicher ist zunächst, daß Paula und Hie-
ronymus mitten im Winter von Antiochia nach Jerusalem reisten (Contra
Rufin. 111, 22 und ep. 108, 7). Daß Hieronymus auf dieser Reise der
Reisebegleiter der Paula war, geht aus einer gelegentlichen Erwähnung
seiner Anwesenheit bei ihrem Besuch in Bethlehem hervor; ep. 108, 10:
me andiente iurabat cernere se oculis fidei infantem pannis involutum
vagientem in praesepe dominum. Daß aber Hieronymus die Seereise
nach Antiochia nicht zusammen mit Paula, sondern vor ihr gemacht hat,
läßt sich daraus folgern, daß er in dem Abschiedsbrief an Asella, den
er in Ostia kurz vor Antritt seiner Fahrt nach dem Orient schrieb, Paula
und Eustochium grüßen läßt (ep. 45, 6), aber ihre baldige Abreise nach
Jerusalem voraussetzt (ep. 45, 2). Auch bei der Schilderung der Abreise
der Paula gedenkt er seiner Anwesenheit nicht. Aus der Lebendigkeit
dieser Schilderung darf man natüriich bei dem rhetorischen Pathos des
Hieronymus nicht auf persönliche Anwesenheit schließen, zumal da er
diese Abschiedsszene auf die später erhaltene mündliche Kunde hin ge-
zeichnet hat. Bei seiner Reise führt er ausdrücklich nur als Reisebegleiter
Vincentius, seinen Bruder, und einige Mönche an (Contra Rufin. III, 22).
Wollte man aber annehmen, Hieronymus habe durch seinen Abschiedsbrief
an Asella und die Grüße an Paula absichtlich die Römer irreführen wollen,
so fällt dieser Grund Rufin gegenüber fort, der über den wirklichen Sach-
verhalt unterrichtet sein mußte. Wenn man aber für die Annahme einer
gemeinsamen Seereise des Hieronymus und der Paula nach Antiochia
darauf hinweist, daß beide dieselben Punkte berührten und beide bei
Bischof Epiphanius und Paulinus sich aufhielten (ep. 108, 7 und Contra
Rufin. 111, 22), so ist doch die Übereinstimmung keine vollständige. Daß
Paula sich zum Teil an den gleichen Orten aufhielt, erklärt sich einfach
aus dem gleichen Reiseziel, der gleichen Reiseroute und den gleichen Be-
kanntschaften.
V
4 Bis zur Niederlassung in Betiilehem.
Sie wollte nichts wissen von ihrer Mutterschaft, um sich als
Magd Christi zu bewähren. Nur ein Trost blieb der Mutter,
Eustochium begleitete sie, um als treue Gefährtin ihre Lebens-
weise zu teilen. Das Schiff durchfurchte bereits die See, und
während die ganze Reisebegleitung zurück nach dem Strande
schaute, wandte Paula allein ihre Augen nach der entgegen-
gesetzten Seite hin, damit sie die nicht sähe, die sie ohne
Qual nicht anblicken konnte. Gewiß hat Hieronymus recht,
wenn er für Paula in der Trennung von ihren Kindern, die
sie so zärtlich liebte, das schwerste Opfer sah. Ihren Gatten
hatte sie verloren; noch war kaum ein Jahr vergangen, seit
ihre Tochter Bläsilla infolge ihrer übertriebenen Askese ihr ent-
rissen war: jetzt verließ sie Heimat, Verwandte und Kinder, von
denen ihr jüngstes, Toxotius, noch nicht einmal erwachsen war,
um sich auf Erden zu enterben und ein Erbe im Himmel zu
finden.') Die heißblütige Paula hatte Hieronymus gewonnen;
sie war eine echte Nonne geworden, die das asketische Ideal, das
er gepredigt hatte, mit voller Rücksichtslosigkeit und Energie er-
füllte, ja in der Folgezeit durch Verschleuderung ihres Besitzes
sogar rücksichtsloser und energischer, als ihm lieb war.
Das Schiff der Paula nahm zunächst dieselbe Reise-
route, die kurz zuvor Hieronymus mit seinen Genossen be-
fahren hatte. Aber die vornehme Römerin konnte es sich
schon auf dieser Seereise nicht versagen, möglichst alle Stätten
zu besuchen, an die sich teure Erinnerungen aus der christ-
lichen Vergangenheit knüpften. So landete sie auf der Insel
Pontia, dem Verbannungsort der Flavia Domitilla, der Nichte
Kaiser Domitians, und besuchte die Räume, in denen diese
angeblich ein langes Martyrium für ihr Christenbekenntnis
erduldet hatte. Nach der Durchfahrt durch die Scylla und
Charybdis gelangte sie bei ruhiger Fahrt durch das Meer der
Adria nach Methone, wo sie ihrem Körper ein wenig Ruhe
gönnte. An der Insel Rhodus und Lycien vorüber kam sie
nach Cypern, wo sie wie Hieronymus bei Bischof Epiphanius
zehn Tage Rast machte, den sie während der römischen
Synode in ihrem Palast beherbergt hatte. Sie besuchte die
') Ep. 108, 6.
Bis zur Niederlassung in Bethlehem. 5
Klöster in der Nähe von Salamis und beschenkte die Mönche
reich, die die Liebe zu dem Mönchsvater Hilarion aus aller
Welt dahin zusammengeführt hatte, wo dieser gestorben war.
Von dort ging es in kurzer Fahrt nach Seleucia und dann
zu Lande hinauf nach Antiochia. Wie Hieronymus stieg sie
auf kurze Zeit im Hause des Bischofs Paulin ab und begann
dann in Gemeinschaft mit Hieronymus die Reise durch das
heilige Land.')
§ 27.
Die Reise der Paula und des Hieronymus durch das
heilige Land.
Mitten im Winter bei der heftigsten Kälte') brachen Paula
und Eustochium mit Hieronymus und seinen Freunden von
Antiochia auf. Die vornehme Frau, die früher gewohnt ge-
wesen war, von Eunuchen in einer Sänfte getragen zu werden,
verzichtete auf alle Bequemlichkeiten und bestieg den Esel.')
Der Bischof Paulin von Antiochia, der des Landes kundig war,
übernahm die Führung der Reisegesellschaft.') Die Reise ging
zunächst durch Kölesyrien und Phönizien. in Sarepta besuchte
man den kleinen Turm des Propheten Elia,') dann gelangte
') Ep. 108, 7.
"") Contra Rufin. III, 22 und ep. 108, 7.
») Ep. 108, 7.
*) Contra Rufin. IH, 22: deductus ab eo (seil. Paulino) intravi Jero-
solymam.
'") Antonini Piacentini Itinerarium c. 2, ed. Gildemeister, Berlin 1889,
S. 2. In diesem im Jahre 570 verfaßten Itinerar des heiligen Landes sind
die von den Pilgern besuchten heiligen Stätten schon erheblich vermehrt
und in den späteren Itinerarien (die Itinera Hierosolymitana ed. T. Tobler
und A. Molinier, Genf 1879) sind sie noch vi'eiter gewachsen. Nur eine
ältere Beschreibung einer Pilgerfahrt nach dem heiligen Lande als die des
Hieronymus besitzen wir in der 333 unternommenen Reise der Pilgerin
von Bordeaux: Itinerarium a Bordigala Hierosolymam, ebenfalls bei Tobler
und Molinier.
6 Bis zur Niederlassung in Bethlehem.
man an Tyriis vorüber nach dem alten Akko, dem damaligen
Ptolemais. Durch die Gefilde Megiddos, wo König Josia
seinen Tod fand,') kam man in das Land der Philister und
bewunderte die Ruinen des einst mächtigen Dor. Dann
ging es nach Caesarea, wo das Haus des Hauptmanns Cor-
nelius, das zu einer christlichen Kirche umgewandelt war,')
und die Wohnung des Evangelisten Philippus und seiner vier
jungfräulichen und prophetischen Töchter von der Reisegesell-
schaft besichtigt wurden. Auf der Straße von Caesarea nach
Jerusalem berührte man das halbzerstörte Antipatris und das
alte Lydda, das damalige Diospolis, berühmt durch die Wunder
der Auferweckung der Dorkas ') und der Heilung des Aeneas.*)
Die Pilger besuchten Arimathia, die Stadt des Joseph, der
den Herrn begrub, die einstige Priesterstadt Nobe und endlich
Joppe. Die letztere Stadt besaß eine doppelte Berühmtheit:
aus Joppe war der Prophet Jona geflohen, und hier zeigte
man auch den Felsen, an dem Andromeda angeschmiedet, von
Perseus befreit worden war.) Weiter reisend gelangte man nach
Nicopolis, dem alten Emmaus, nach Unter- und Ober-Bethoron,
und von dort, indem man Ajalon, die Stadt, in der josua
Sonne und Mond Befehl gab, und Gibeon, die Stadt der
Holzfäller und Wasserträger, rechts liegen ließ, nach dem voll-
ständig zerstörten Gibea. Hier rastete Paula kurze Zeit. Sie
gedachte der Sünde der Gibeoniten, des in Stücke geteilten
Weibes (Rieht. 20, 4 ff.), und daß nur um des Apostels Paulus
halber 300 Männer des Stammes Benjamin bei dem Blutbad
verschont blieben. Das gewaltige Mausoleum der Königin
') Hieronymus besitzt die unbestimmte Vorstellung, daß die große
Ebene die Ebene von Megiddo gewesen sei; s. Schlatter, „Zur Topographie
und Geschichte Palästinas", Calw 1893, S. 298.
'-) Die Pilgerin von Bordeaux erwähnt nur einen balneus Cornelii,
Itin. Hier. cd. Geyer S. 15.
*) Nach der Apostelgeschichte 9, 36—43 wurde Dorkas von Petrus
in Joppe erweckt, Antonini Piacentini c. 46, S. 33 nennt Joppe auch als
Begräbnisstätte.
*) Act. 9, 33.
*) Hier. Comm. in Jon. I, 3, Vallarsi VI, 394: hie locus est, in
quo usque hodie saxa monstrantur in^ littore, in quibus Andromeda
religata Persei quondam sit liberata praesidio.
Bis zur Niederlassung in Bethlehem. 7
Helena von Adiabene') zur Linken lassend, erreichte Paula mit
ihren Begleitern das letzte Ziel ihrer Sehnsucht, Jerusalem.
Obwohl der Prokonsul von Palästina, der Paulas Familie
gut kannte, der adligen Römerin Diener entgegensandte und sie
im Prätorium Wohnung zu nehmen einlud, wählte sie in
Jerusalem eine niedrige Herberge. Die durch die heiligsten
Erinnerungen geweihten Stätten besuchte sie mit solcherlnbrunst,
daß es ihr schwer wurde, sich von der einen loszureißen und zur
andern zu wenden. Sie betete unter dem Kreuz des Herrn,")
sie betrat das Grab des Herrn,') küßte den Stein, welchen der
Engel von der Grabestür gewälzt hatte,') und den Ort, wo
der Leichnam des Herrn gelegen hatte. Sie sah die Säule
mit dem Blute des Erlösers befleckt, an die er bei der Geiß-
lung gefesselt war, und die jetzt die Halle einer Kirche trug.')
Sie weilte an dem Ort, wo am Pfingstfest der heilige Geist
auf die 120 gläubigen Seelen herabgekommen war. ') Aber
die Stadt der Geburt des Erlösers, Bethlehem, machte auf
Paula einen noch tieferen Eindruck als die Stadt seines
Leidens und Sterbens. Stand doch auch im Mittelpunkt der
Frömmigkeit der Zeit das Wunder der Menschwerdung, nicht
der Tod der Erlösers. Auf dem Wege von Jerusalem nach
Bethlehem hatte Paula zur Rechten der Staatsstraße noch das
Grabmal der Rahel besichtigt.') In Bethlehem eilte sie zu
^) Die Fürstin Helena von Adiabene lebte zur Zeit des Kaisers Claudius.
Eine geborene Mesopotamierin, Proselytin des Judentums, wurde sie später
von der Legende mit der Kaiserin Helena, der Gemahlin Konstantins, zu einer
Person verschmolzen; s. Zahn, Forschungen zur Geschichte des Kanons 1,374.
Monabazus, der Sohn der Helena, hatte für sie und ihren Sohn Izates drei
Stadien von Jerusalem das große Mausoleum erbaut. Joseph. Antiqu. XX, 4, 3;
Eusebius, Hist. eccl. II, 12; Itinerarium a Bordigala Hierosolymam S. 15.
*) Antonini Piacentini c. 20. S: 14.
^) Über der Grabstätte erhob sich nach der Pilgerin von Bordeaux,
S. 18, die Basilika des Kaisers Konstantin.
^) Cyrill von Jerusalem, Katechese 13, bezeugt ebenfalls die Existenz
des Auferstehungssteines; nach Antonini Piacentini c. 18, S. 13 war der
Stein zu seiner Zeit mit Gold und Edelsteinen geziert.
'") Pilgerin von Bordeaux, S. 17: columna adhuc ibi est, in qua Christum
flagellis ceciderunt; s. auch Antonini Piacentini c. 22, S. 16.
") Ep. 108, 9.
') Pilgerin von Bordeaux, S. 19 und Antonini Piacentini c. 28, S. 20.
8 Bis zur Niederlassung in Bethlehem.
der Geburtshöhle des Erlösers: visionäres Entzücken ergriff
sie, sie schaute mit den Augen des Glaubens das in Windeln
gewickelte Kind, den wimmernden Herrn in der Krippe, die
anbetenden Magier, den glänzenden Stern darüber, Maria, die
Mutter und Jungfrau, den fleißigen Nährvater Joseph, die
herbeieilenden Hirten, die gemordeten Knaben, den wütenden
Herodes, die Flucht Josephs und Marias nach Egypten. Unter
seligen Freudentränen rief sie: Gegrüßet seist du, Bethlehem,
Brothaus, in dem jenes Brot geboren wurde, das vDm
Himmel herabkommt; gegrüßet seist du, Ephrata, fruchtreichste
und fruchttragende Gegend, deren Fruchtbarkeit der Herr ist. ')
Es ist verständlich, daß eine so aufrichtig fromme, für sinn-
liche Eindrücke religiös empfängliche Frau wie Paula die
ganze Wonne empfand, an der heiligsten Stätte zu weilen,
wo der Himmel die Erde geküßt hatte. Schon damals wählte
sie Bethlehem als Ruheplatz, weil es die Heimat ihres Herrn
war. Hieronymus scheint mit weit nüchterneren Gedanken die
Reise mitgemacht zu haben. Er weiß von sich keine Ver-
zückung beim Anblick der Geburtshöhle des Erlösers zu be-
richten, trocken registriert er seine Erlebnisse: ich sah viele
Wunder, und was vorher das Gerücht mir überliefert hatte,
habe ich mit eignen Augen gesehen. ) Das gelehrte Interesse
an den Lokalitäten des heiligen Landes scheint schon damals
bei ihm neben dem religiösen wirksam gewesen zu sein."*)
Vielleicht beunruhigte ihn auch die übertriebene Wohltätigkeit,
die Paula übte, so daß er sich bereits Sorgen für die Zukunft
machte. Überall merkt er in seinem Reisebericht der Paula
an, daß sie in Cypern, in Jerusalem und später bei den
•) Ep. 108, 10.
") Contra Rufin. 111, 22, Vallarsi 11, 551.
*) Später hat er die Kenntnis des heiligen Landes noch erweitert, s.
Praef. ad lib. Paralipomena iuxta LXX, Vallarsi X, 431 (s. auch Zöckler,
S. 147): quomodo Oraecorum historias niagis intelligunt, qui Athenas
viderint . . . ita sanctam scriptiiram lucidius intuebitur, qui ludaeam oculis
contemplatus est et antiquaruiu urbiuin niemorias, locorumque vel eadem
vocabula vel mutata cognoverit. Unde et nobis curae fuit cum eruditissimis
Hebraeorum hunc laborem subire, ut circuniiremus provinciam, quam
universae Christi ecciesiae sonant.
Bis zur Niederlassung in Bethlehem. 9
nitrischen Mönchen ihre Gebefreudigkeit ausgiebig betätigte.*)
Dies ist allerdings geschrieben, als er nach dem Tode der
Paula unter den Folgen ihrer profusen Wohltätigkeit zu leiden
hatte; aber es ist sehr wohl möglich, daß Hieronymus sich
bereits auf der Reise Gedanken darüber machte. —
Von Bethlehem nahm die Pilgerkarawane nach Süden
ihren Weg. Man benutzte die alte Straße nach Gaza; hier bot
die Quelle eine denkwürdige Erinnerung, in der der Eunuch
vom Philippus getauft worden war.') Von Bethsur gelangte
man nach Eskol und von dort nach Hebron. Diese Stadt
und ihre Umgebung war besonders reich an Gedenkstätten
aus der Patriarchengeschichte. Hier zeigte man die Zelle der
Sara, die Wiege des Isaak, die Reste der Therebinthe des
Abraham,') das Grab des Enaksohnes Adam*) und das aus
Ziegelsteinen erbaute Grabdenkmal des Kaleb. Am folgenden
Tage bei Sonnenaufgang zogen die Reisenden weiter auf die
Anhöhe von Kapharbarucha. Vor dem Auge breitete sich die
weite Wüste, die Gegend, wo die untergegangenen Städte Sodom
und Gomorra, Adama und Seboim gelegen hatten, und die
Balsampflanzungen und Weinstöcke von Engeddi und Segor.
Im Gedächtnis an die Schandtat der Töchter Lots hielt Paula
an dieser Stätte ihren jungfräulichen Gefährtinnen eine Lektion,
in der sie eindringlich vor dem Weingenuß warnte. Hier
hatte die Reise den südlichsten Punkt erreicht und man
kehrte über Thekoa, die Heimat des Propheten Amos, nach
Jerusalem zurück. In Jerusalem bestiegen sie noch den Ölberg,
die Stätte der Himmelfahrt Christi, wo sich zum Gedächtnis
ein glänzendes Kreuz befand,') und besuchten das Grab des
1) Ep. 108, 7; 108, 10; 108, 14.
^) Ep. 46, 19 ad Marcellam; Pilgerin von Bordeaux, S. 19; Antonini
Piacentini c. 32, S. 22.
') Joseph. Bell. Judaicum IV, 9, 7. Die Pilgerin von Bordeaux, S. 19,
hat die Therebinthe sechs Stadien von Hebron noch 333 gesehen und die
hier auf Befehl Konstantins errichtete Basilika. Schlatter, Zur Topographie
und Geschichte Palästinas S. 221, nimmt die Vernichtung der Therebinthe
im Aufstande der Juden gegen Konstantin an.
*) Josua 14, 15.
'") Die Pilgerin von Bordeaux, S. 18, erwähnt hier eine von Konstantin
errichtete Basilika.
10 Bis zur Niederlassung in Bethlehem.
Lazarus,') das gastliche Haus Marias und Marthas und den
Flecken Bethphage.') Dann wandte man sich nach Norden
geraden Wegs nach Jericho. Auch diese Stadt war voll von
teuren Erinnerungsstätten: an den barmherzigen Samariter, an
den Zöllner Zachäus, der die Sykomore bestieg, um Jesum
zu sehen,') und an die Heilung der beiden Blinden. Von
Jericho ging es nach Gilgal und von dort an die Ufer des
Jordan, dessen Wasser sich auf Befehl des Elias und Elisa
wie eine Mauer gestellt und den Durchzug gestattet hatten,
und in dem der Erlöser getauft war.') Man zog weiter nörd-
lich nach Bethel, wo sich die Gräber Josuas und Eleazars,
des Sohnes des Hohenpriesters Aaron, befanden, und nach
Silo, wo der zerstörte Altar gezeigt wurde. Man weilte in
Sichern, dem damaligen Neapolis, und besuchte die Kirche,
die an dem Berg Garizim angelehnt über dem Jakobsbrunnen
erbaut war. ) Dann machte man nach Nordwesten einen
Abstecher zu den Gräbern der zwölf Patriarchen und
nach Sebaste, dem alten Samaria. Hier an den Gräbern des
Elisa,") Obadja und Johannes des Täufers ') bot sich den
Pilgern ein erschütterndes Bild: Von Dämonen besessene
Menschen heulten wie Wölfe, bellten wie Hunde, brüllten wie
Löwen oder Stiere und zischten wie Schlangen. Andere
drehten den Kopf im Kreise, wieder andere beugten sich rück-
wärts mit dem Scheitel bis zur Erde, und Frauen hatten sich
am Fuß aufgehängt, aber ihre Kleider fielen doch nicht über
das Gesicht herab.') Tiefes Mitleid ergriff Paula und sie bat
') Pilgerin von Bordeaux, S. IS; Antonini Piacentini c. 16, S. 12.
') Alle diese Stätten werden auch in dem Briefe der Paula und
Eustochium ep. 46, 12, Vallarsi 1, 206ff. genannt. Des auf dem Ölberg er-
richteten Kreuzes gedenkt Hieronymus auch Kommentar zum Zephanja 1, 15
u. 16, Vallarsi VI, 6Q2: de Oliveto monte quoque crucis fulgente vexillo
plangere ruinas tempii sui populum miserum s. Vallarsi I, 695, Anm. c.
^) r^ilgerin von Bordeaux, S. 19; Antonini Piacentini c. 15, S. 11.
•*) Antonini Placeutini c. 9.
*) Pilgerin von Bordeaux, S. 16, ohne aber eine Kirche zu erwähnen.
*) Antonini Piacentini c. S, S. 6.
■) Hieron. Comm. zum Mich. Vallarsi VI, 437: Sebaste, in qua et sancti
Johannis Baptistae ossa sunt condita.
**) Ep. 108, 13; Vallarsi 1, 697. Auch am Grabe Christi befanden sich
Bis zur Niederlassung in Bethlehem. 11
für die Unglücklichen um die Barmherzigkeit Christi. Obwohl
Paula jetzt von den ungewohnten Anstrengungen der Reise
angegriffen war, wollte sie doch keine biblische Sehenswürdig-
keit vorüberlassen. Zu Fuß bestieg sie noch den Berg bei
Samaria, in dessen zwei Höhlen zur Zeit der Verfolgung und
Hungersnot der Prophet Obadja 100 Propheten mit Wasser
und Brot ernährt hatte. In schnellem Fluge stattete man noch
den heiligen Orten Galiläas, Nazareth, Kana, Kapernaum und
dem See von Tiberias '), einen Besuch ab, bestieg den Tabor,
den Berg der Verklärung des Herrn'), und genoß den Blick
nach ep. 46, 8, Vallarsi 1, 204 solche Dämonische: si nobis non credimus,
credamus saltem diabolo et angelis eins, qui quotiescunque ante illud
de obsessis corporibus expelluntur quasi in conspectu tribunalis Christi
stantes contreniiscunt, rugiunt et sero dolent crucifixisse, quem tinieant.
Ähnliche, zum Teil sich wörtlich deckende Beschreibungen Dämonischer
hat Vallarsi 1, 697 Anm. c gesammelt: Hilarius, Contra Constantium
n. 8, wo auch von Frauen die Rede ist, die ohne Stricke in der Luft
hängen oder am Fuß aufgehängt sind und deren Kleider nicht in
das Gesicht fallen; vgl. Sulp. Sev. Dialog. 3, Paulinus v. Noia, Natalis
S. Felicis c. 7.
') Contra Rufin. 111, 22: vidi quoque formosissimum lacum.
2) Ep. 108, 13; Vallarsi 1, 13. Mit der Besteigung des Tabor bricht
der Reisebericht des Hieronymus ab, unmittelbar daran schließt sich die
Schilderung der Reise nach Ägypten. Es scheint also, als ob Paula
vom Tabor direkt nach Ägypten gereist sei. Da aber die Reisegesell-
schaft bei der Reise nach Ägypten Orte, die an der Straße von Jerusalem
nach Gaza liegen, berührt hat, so ist es wahrscheinlich, daß man
vom Tabor zunächst nach Jerusalem zurückkehrte (Leipelt, Ausgewählte
Schriften des Hieronymus, deutsch H, 14). Auf welchem Wege wissen
wir nicht; wahrscheinlich nahm man den Rückweg über Silo und
Bethel, wie Paula es bei der projektierten Reise mit Marcella in Aus-
sicht nimmt (ep. 46, 12). Der Reisebericht, den Hieronymus Contra Rufin.
III, 22 gibt, ist so kurz, daß aus ihm auch nichts mit Sicherheit zu
schließen ist. Nach ihm ist Hieronymus von Antiochia nach Jerusalem
gelangt und von dort, d. h. doch von Jerusalem nach Ägypten geeilt.
Merkwürdig ist es, daß Hieronymus sich nicht ausdrücklich bei Be-
schreibung der Reise der Paula (ep. 108, 14) als Reisebegleiter nennt.
Daß er aber daran teilnahm, geht sicher daraus her\or, daß er bei
der Anwesenheit Paulas in Bethlehem zugegen war und eine genaue
Kenntnis der Lokalitäten des heiligen Landes besitzt, die wahrscheinlich
auf die mit Paula unternommene Rundreise durch das heilige Land
zurückgeht.
12 Bis zur Niederlassung in Bethlehem.
auf den in der Ferne sich erhebenden Hermon, die weiten
Gefilde Galiläas, den Bach Kison und die Stadt Nain. Über
Silo und Bethel kehrt man vermutlich auf demselben Wege
nach Jerusalem zurück, —
§ 28.
Der Aufenthalt Paulas und des Hieronymus in Ägypten.
Nur kurze Zeit werden Hieronymus und Paula in Je-
rusalem geweilt haben, dann traten sie die Reise nach Ägypten
an. Man zog auf dem Landwege die alte Straße nach Gaza
über Socho an der Quelle des Simson') vorbei nach Morasthim,
wo über dem Grabe des Propheten Micha sich eine Kirche
erhob. Nachdem man Gath, Maresa und Lachis hinter sich
hatte, begann die mühevolle Wüstenwanderung durch den
weichen Sand, der den Reisenden unter den Füßen wich, bis
zum Bach Sihor bei Rhinocorura, der die Grenze zwischen
Palästina und Ägypten bildete. Dann durchzogen sie die fünf
Städte Ägyptens, in denen die kanaanitische Sprache gesprochen
wurde, das Land Gosen und die Ebene Tanis, bis sie nach
Alexandria, dem alten No, gelangten. ')
in Alexandria verweilte man fast einen Monat, und hier
trat Hieronymus in innige Beziehungen zu dem Leiter der
altberühmten Katechetenschule, dem blinden Didymus. Auch
') Antonini Piacentini c. 32, S. 22.
") Die Namen im Reisebericht nach Ägypten ep. lOS, 14, Vallarsi I,
698 sind schlecht überliefert und zum Teil nicht zu identifizieren. So liest
Vallarsi Sochoth nach 1. Sam. 17, 1, einem Lagerplatz der Philister, aber
Leipelt, Ausgewählte Schriften S. 114, hat statt dessen Socho eingesetzt,
was in den Zusammenhang besser palit. Der Ortsname Chorreos vor
Gath-Rimmon in Juda und der Landschaftsname Idumea vor Lachis, wo
man in der Aufzählung einen Stadtnamen erwartet, scheinen auch der
Korrektur zu bedürfen. Erst die Prüfung der handschriftlichen Überlieferung
wird hier ein sicheres Urteil ermöojiclien.
Bis zur Niederlassung in Bethleiiem. 13
sein Freund und späterer Gegner Rufin hatte zu den
Füßen des gelehrten Mannes gesessen. ') Schon in Rom hatte
Hieronymus im Auftrage des römischen Bischofs Damasus
die Schrift des Didymus über den heiligen Geist zu über-
setzen begonnen, ohne sie jedoch zu vollenden.') Jetzt lernte
er ihn persönlich kennen und mit großem Eifer suchte er den
kurzen alexandrinischen Aufenthalt auszunutzen, um von ihm
zu lernen. Hieronymus bezeichnete es sogar als den Haupt-
zweck seiner Reise nach Ägypten, daß er den heißen Wunsch
hatte, die Bekanntschaft des Didymus zu machen und ihm
Fragen über schwierige Schriftstellen vorlegen zu können.')
Paula hatte jedenfalls bei der Reise nach Ägypten kein anderes
Motiv gehabt, als die Heroen der Weltentsagung bewundern
und ihnen ihre Verehrung bezeugen zu dürfen. Hieronymus,
der in der Mitte der Vierziger stand, und dessen Haare sich
bereits grau färbten, schämte sich nicht, den Vorträgen des
Didymus über die Schriftauslegung beizuwohnen."*) Er ver-
anlaßte auch Didymus, einen Kommentar zu dem Propheten
Hosea zu schreiben, da der große Lehrer des Didymus,
Origenes, keine vollständige Auslegung des Propheten hinter-
lassen hatte. Didymus kam der Bitte nach und widmete den
vierbändigen Hoseakommentar seinem eifrigen Schüler. Eben-
falls auf Bitte des Hieronymus verfaßte er auch einen Kom-
mentar zum Propheten Sacharja. ) Hieronymus war eben
damals noch von der größten Hochschätzung für Origenes
erfüllt und so schloß er sich auch mit Begeisterung an Didy-
mus an, zumal dieser die Heterodoxien des großen Alexan-
driners, so gut es ging, zu retouchieren wußte, ohne ihn aber
preiszugeben.) Mit Stolz nannte Hieronymus noch später den
») Rufin, Contra Hieron. II, 12, Vallarsi il, 642.
'') s. Band 1, 213 ff.
^) Comm. in ep. ad Ephes., prol., Vallarsi VII, 539.
*) Ep. 84,3 Vallarsi I, 520. — Comm. in Hoseam prol. Vallarsi VI, XXIV.
^) Comm. in Hoseam prol. Vallarsi VI, XXHl und Comm. in Zach,
prol., Vallarsi VI, 777; Contra Rufin. III, 28, Vallarsi II, 558.
") Ep. 84, 10, Vallarsi I, 527: Didymus errores eins (seil. Origenis)
nititur excusare, ut tarnen illius esse fateatur, non scriptum negans sed
sensum scribentis edisserens. Aliud est, si qua ab haereticis addita sunt,
aliud, si quis quasi bene dicta defendat.
14 Bis zur Niederlassung in Bethlehem.
ö
blinden und doch sehenden Didymus seinen Lehrer in der
Schriftausiegung neben Gregor von Nazianz ') und benutzte
mit Dank in seinem Epheser- und Galaterkommentar die
Kommentare des Didymus. ) Dies mußte aber anders werden,
als Hieronymus im Streit mit Rufin den Bruch mit Origenes
vollzog, im Jahre 395 hatte Didymus hochbetagt die Augen
geschlossen, und Hieronymus brauchte nicht mehr die Vor-
würfe seines einstigen Lehrers zu fürchten. In dem um 401
geschriebenen Brief an Pammachius und Oceanus tritt uns
diese Wandlung des Hieronymus entgegen: Es ist ihm plötz-
lich sehr unangenehm, daß er in einem Briefe an Didymus
diesem seinem Lehrer seine Ehrfurcht bezeugt hatte, zumal da
er diesen Brief selbst nicht mehr besitzt, aber seine Gegner ihn
gegen ihn ausspielen. Er behauptet jetzt, daß dieser Brief sonst
nichts Kompromittierendes für ihn enthalte. Didymus ist ihm
ein Verteidiger der Ketzereien des Origenes geworden, der sich
vergeblich bemüht habe, dem zweifelhaften Sprachgebrauch des
Origenes einen kirchlich korrekten Sinn unterzuschieben. ) Und
Rufin gegenüber, der ihn verspottet, daß er immer von seinem
Lehrer Didymus spreche,') erklärte er: Wir preisen sein Ge-
dächtnis und die Reinheit seines Glaubens über die Trinität,
aber worin er dem Origenes in schlechter Weise vertraut habe,
rücken wir von ihm ab.') Auch habe er nur die durchaus
orthodoxe Schrift des Didymus über den heiligen Geist über-
setzt. Während Didymus dem Rufin ein dogmatisch an-
stößiges Werk über die Frage, warum die Kinder sterben,
dediziert habe, in dem er die abscheulichen Heterodoxien des
Origenes vom präexistenten Sündenfall aufwärme, habe er ihm
nur den unverfänglichen Hoseakommentar gewidmet.') Es ist
») Ep. 50, 1, Valiarsi I, 235.
-') Comni. in Eph. prol., Valiarsi VII, 543. — Conini. in Gal. prol.
Valiarsi VII, 360.
^) Ep. 84, 10, Valiarsi I, 527.
*) Rufin, Contra Hier. II, 12, Valiarsi II, 642.
*) Contra Rufin. II, 16, Valiarsi II, 507; Contra Rufin. HI, 27, Valiarsi II,
556: in Didynio vero et meinoriani praedicanuis et super trinitate fidei
puritatem, sed in caeteris, quae Origeni male credidit, iios ab eo re-
trahinuis.
«) Contra Rufin. III, 28, Valiarsi II, 558.
Bis zur Niederlassung in Bethlehem. 15
für den Charakter des Hieronymus bezeichnend, daß er den
einst so bewunderten Mann, den er gelegentlich noch den
gelehrtesten Mann seiner Zeit nennt, dessen Freundschaft er
sich rühmt und dessen Jesaiakommentar er benutzt, preis-
gab, als er selbst zu einem engherzigen Orthodoxen wurde.')
Auch an seiner Exegese findet er jetzt allerlei auszusetzen:
der Kommentar zu Hosea sei ein ganz allegorisches Werk,
das den geschichtlichen Sinn wenig berücksichtige,") Es kann
uns dies nicht wunder nehmen; Treue gegenüber seinen
Freunden war nicht eine Eigenschaft des Hieronymus, wenn
sie in den Geruch der Ketzerei kamen.
Von Alexandria aus besuchte die Reisegesellschaft die ni-
trische Mönchskolonie, die Stadt des Herrn, wie sie Hieronymus
nennt. ) Es scheint nur ein kurzer Besuch gewesen zu sein, der
aber Paula aufs höchste enthusiasmierte. Der heilige und ehr-
würdige Konfessorbischof Isidor ging der vornehmen Römerin
aus konsularischem Geschlecht in feierlicher Prozession mit den
Mönchen, von denen viele Priester und Diakonen waren, ent-
gegen. Die Weltflüchtigen bewiesen oft einen feinen Instinkt
in der Menschenbehandlung. Paula frohlockte zwar über die
Verherrlichung des Herrn, aber bekannte sich zugleich einer
solchen Ehre ganz unwürdig. Sie warf sich vor jedem einzelnen
der Heiligen nieder, in denen sie Christus zu schauen glaubte;
sie lernte den jüngeren Macarius, Arsenius und Serapion kennen')
') Comm. in Hos. prol. Vallarsi Vi, S. XXIII; Comm. in Jes. prol.,
Vallarsi IV, 5. Im Brief an Augustin ep. 112, 20, Vallarsi I, 747, nennt er
Didymus als Psalmenkommentator.
-) Comm. in Zach, prol., Vallarsi VI, 777.
^) Der Aufenthalt in Nitria ist nach dem Besuch in Alexandria an-
zusetzen. Dies geht deutlich aus ep. 108, 14, Vallarsi I, 698 hervor: et
urbem No, quae postea versa est in Alexandriam, et oppidum domini
Nitriae. Für die Meinung Vallarsis XI, 92, der die Reihenfolge umkehrt,
spricht nichts: denn der kurze Reisebericht Contra Rufin. III, 22, Vallarsi II,
551, erwähnt den Aufenthalt in Alexandria überhaupt nicht. Auch für die
Vermittelungshypothese Zöcklers, S. 149, Anmerk. 2, der den Besuch in
Nitria in die 30 Tage des alexandrinischen Aufenthaltes setzt, läßt sich
nichts Durchschlagendes beibringen.
*) Was die genannten Eremiten betrifft, so kann zunächst der
Konfessorbischof Isidor nicht mit Isidor von Pelusium identifiziert werden
16 Bis zur Niederlassung in Bethlehem.
und wünschte nicht eingedenk ihres Geschlechts und der
körperlichen Gebrechlichkeit mit ihren jugendlichen Gefährtinnen
unter so vielen tausend Mönchen zu wohnen. Hieronymus
scheint die Begeisterung seiner Freundin nicht geteilt zu haben.
Daß er aber bereits damals unter den Chören der Heiligen
zu Nitria die verborgenen Giftschlangen der origenistischen
Ketzerei erkannt habe, ist eine dreiste Fälschung der Wahr-
heit.') Er, der damals noch ein entschiedener Bewunderer des
Origenes war und soeben mit Didymus einen innigen Freund-
schaftsbund geschlossen hatte, sah damals im Origenismus
noch nicht das Gift, das er erst später in ihm erkannte. Auf
den Entschluß der Paula, sich nicht in der nitrischen Mönchs-
kolonie dauernd niederzulassen, sondern nach Bethlehem zurück-
zukehren, hat aber gewiß Hieronymus eingewirkt. Die bösen
Erfahrungen, die er einst in der Eremitenkolonie der Wüste
Chalcis bei Antiochia gemacht hatte, ließen es ihm nicht rätlich
erscheinen, es noch einmal mit einer Niederlassung inmitten
der Heiligen zu versuchen. Vielleicht fürchtete er auch bei
der für asketischen Heroismus so empfänglichen Paula den
konkurrierenden Einfluß dieser Heiligen auf die ihm ergebene
Frau. Er wollte ihr einziger Heiliger sein und bleiben.
Wegen der glühenden Sonnenhitze kehrte man nicht auf
dem Landwege von Ägypten nach Palästina zurück, sondern
(s. Zocker, S. 150, Anm. 1, gegen Vailarsi I, 704), da Isidor (t um 450)
nur Presbyter und auch jünger als der hier genannte Isidor war. Richtiger
werden wir ihn wohl für einen Bischof des in der Nähe der nitrischen
Wüste gelegenen Hermopolis parva zu halten haben (s. Vailarsi XI, 91).
Mit Macarius kann nur der jüngere nitrische gemeint sein (Palladius Hist.
Laus. c. 7), da der ältere damals bereits tot war. Serapion ist identisch
mit dem von Palladius (Hist. Laus. c. 7) genannten Heiligen Nitrias und
Arsenius mit dem von Socrates (Hist. eccl. IV, 27) genannten. Rufin
(Contra Hieron. II, 12, Vailarsi II, 642) nennt unter anderen auch Macarius,
den Jüngeren, Isidor und Serapion als solche, die er bei seinem 6jährigen
Aufenthalt in Ägypten persönlich kennen gelernt habe. Ob Isidor und
Serapion — von letzterem bemerkte Rufin ausdrücklich, daß ihn Hiero-
nymus nicht persönlich gekannt habe — mit den von Hieronymus ge-
nannten Isidor und Serapion identisch sind, ist möglich, bleibt aber bei
der Häufigkeit dieser Namen fraglich.
') Contra Rufin. III, 22, Vailarsi 11, 551: inde contendi Ägjptum,
lustravi monasteria Nitriae et inter sanctorum choros aspides latere perspexi.
Bis zur Niederlassung in Bethlehem. 17
fuhr zu Schiffe von Pelusium nach Majuma, der Hafenstadt
Gazas, und zwar, wie Hieronymus sagt, mit solcher
Schnelligkeit, daß man Paula und ihre Reisegesellschaft für
einen Vogel hätte halten können. Man ließ sich jetzt dauernd
in Bethlehem nieder, aber noch drei Jahre mußte man mit
einer engen Herberge vorlieb nehmen, bis die Zellen der Klöster
und die an der durch Bethlehem führenden Staatsstraße er-
richteten Pilgerherbergen fertiggestellt waren.')
») ep 108, 14, Vallarsi II, 699 u. Contra Rufin. III, 22, Vallarsi II, 551.
Grützmacher, Hieronymus. II.
Kapitel VIII.
Die ersten Jahre des Hieronymus im Kloster
zu Bethlehem.
§29.
Die ersten literarischen Werke des Hieronymus aus
seinem betlilehemitischen Aufenthalt, die Kommentare
zu den vier Paulusbriefen.
Nach der Rückkehr nach Bethlehem begann Hieronymus
sogleich seine literarische Tätigkeit aufzunehmen. Er selbst
sagt: Ich gab mich nicht träger Muße hin, sondern lernte
vieles, was ich vorher nicht wußte.') Durch die exegetischen
Vorträge des Didymus angeregt, wandte er sich zunächst der
neutestamentlichen Exegese zu. Die Briefe des Paulus wollte
er in selbständigen Kommentaren behandeln. Er gedachte
ursprünglich alle Paulusbriefe zu kommentieren,) aber sein
beweglicher Geist wurde nach Vollendung der vier Kommentare
zum Philemon-, Kolosser-, Epheser- und Titusbriefe von neuen
wissenschaftlichen Arbeiten angezogen. Wie er die Über-
setzung der Schriften des Origenes nicht vollendete, so blieb
auch der geplante Oesamtkommentar zu allen Paulinen ein
Torso. Paula und Eustochium hatten ihn zu dieser Arbeit
veranlaßt, ihnen hat er auch die Auslegungsschriften gewidmet.
Mit dem kleinsten Briefe des Paulus, dem Philemonbrief,
») Contra Rufin. III, 22, Vallarsi II, 551.
«) Comm. in Eph. Hb 11 praef., Vallarsi VI, 585 ut cepta in apostolum
explanatio ipsius Pauli, cuius epistolas conannir exponere, orationibus
compleatur.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 19
begann er seine Arbeit. Er nennt, wie im Kommentar zum
Titusbrief, keinen älteren Kommentar, den er benutzt hat. Dar-
aus folgern zu wollen, daß er tatsächlich keinen benutzt hat,
wäre sehr gewagt, da Hieronymus, wie Zahn scharf sagt,
unter allen lateinischen Dieben einer der ärgsten und ver-
schlagensten war.') Zunächst könnte man an eine Benutzung
des Origenes denken, der den Philemonbrief kommentiert hat.')
Bei der Bezeichnung des Epaphras als des Mitgefangenen des
Paulus bemerkt Hieronymus, daß einige — er gebraucht gerne
den Plural, wenn er auch nur einen Ausleger im Auge hat,
um seine Abhängigkeit zu verdecken — unter dieser Gefangen-
schaft allegorisch die Gefangenschaft der Seele im Leib ver-
stehen. Diese Auslegung, die Rufin sich in seiner Streitschrift
gegen Hieronymus bei seiner Anklage auf Origenismus nicht
entgehen ließ, und die auch im Epheserkommentar wieder-
kehrt, hat er sicher von Origenes.') Sonst läßt sich die Ab-
hängigkeit von Origenes hier nicht nachweisen, da Hieronymus
in diesem Kommentar fast ganz die Allegorie vermeidet. Ob er
noch andere und welche Kommentare er benutzt hat, läßt sich
nicht mit Sicherheit sagen. Mir scheint der Kommentar selb-
ständiger und weniger flüchtig als seine späteren Kommentare
gearbeitet zu sein, mehr wage ich nicht zu behaupten. Je
mehr Hieronymus zum Vielschreiber wurde, um so mehr ver-
zichtete er auf eigenes Nachdenken und hielt es für bequemer,
andere Autoren einfach auszuschlachten. —
In der Vorrede zum Kommentar kommt Hieronymus auf
die Gegner der Kanonizität und Authentizität des Briefes zu
sprechen. Die Kritiker, deren polemische Erörterung Hierony-
mus wiedergibt, beanstandeten den Brief seines persönlichen
Inhalts und seines privaten Charakters halber, sei es, daß man
ihn von Paulus ableitete oder von einem anderen geschrieben
sein ließ. Der Brief galt ihnen nicht für inspiriert, da der
*) Zahn, Forschungen zur Geschichte des Kanon II, 8S.
-') s. ein Bruchstück des Origeneskommentars: Pamphilus, Apologia
pro Origene Delarue IV, 696 ff. s. Zahn, Geschichte des neutestamentl.
Kanons II, 1002.
^) Rufin, Contra Hieron. I, 40, Hieron., Comm. in Ephes. 3,1,
Vallarsi VII, 587.
2*
20 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Zustand der Inspiration bei den Aposteln wie bei den Pro-
pheten kein stetiger gewesen sei; denn solche Bemerkungen
des Paulus, daß er den Mantel in Troas gelassen (2. Tim. 4, 13)
und solche Ausbrüche leidenschaftlichen Hasses (Gal. 5, 12)
könne man unmöglich als Zeugnisse des durch Paulus reden-
den Christus ansehen. Allein Jesus Christus sei dauernd im
Besitze des heiligen Geistes gewesen. Auch im Philemon-
briefe fänden sich rein persönliche Mitteilungen des Apostels:
„Bereite mir eine Herberge" (V. 22), ja der ganze Brief enthalte
nichts Erbauliches. Selbst wenn er von Paulus sei, sei er ein
Empfehlungsbrief und kein Lehrbrief. Des nichtssagenden,
einfältigen Inhalts halber gehöre er nicht in den Kanon.
Endlich sei er auch von den Meisten der Alten als Bestand-
teil des Kanons zurückgewiesen worden.') Es ist nun die
Frage, wo wir diese entschiedenen Bestreiter der Kanonizität
des Philemonbriefes zu suchen haben. Da die Zeitgenossen
des Hieronymus, die Antiochener Chrysostomus und Theodorus
von Mopsuestia, sich ebenfalls gegen Angriffe auf die Kano-
nizität des kleinen Paulusbriefs wenden, und da die Kirche zu
Edessa zur Zeit Ephraims, wenn nicht alles trügt, den Brief
nicht anerkannt hat, ^) so werden wir die Kritiker des Briefes
in der ostsyrischen Kirche zu suchen haben. Es sind sicher
gelehrte theologische Reflexionen, nicht Nachwirkungen alter
Tradition, die hier zur Verwerfung des Briefes geführt haben.
Gegen diese Kritiker wendet sich Hieronymus zunächst nicht
mit eigenen Argumenten, sondern mit solchen, die er einem
orthodoxen Apologeten entnommen hat. Zahn glaubt in
diesem Didymus oder Apoliinaris erkennen zu können; letztere
Annahme scheint sich mehr als die erstere zu empfehlen,
obwohl wir sonst nichts von einem Kommentare des Apolli-
') s. die gründlichen Erörterungen bei Zahn, Geschichte des Kanon
I, 267 ff. und II, 997: „Die Gegner und Verteidiger der Kanonizität des
Philemonbriefes im 4. Jalirluindert". Nur scheint mir eine reinliche
Scheidung in der Vorrede zum Kommentar unmöglich zwischen dem, was
Hieronymus seiner Quelle entlehnt, und dem, was er selbst hinzugesetzt
hat. Auch werden sich nicht mit Sicherheit zwei Gruppen von Kritikern
des Philemonbriefes erkennen lassen, von denen die eine vor der Zeit des
Hieronymus, die andere zu seiner Zeit gelebt hat.
^) s. Zahn, Geschichte des Kanons I, 267 und II, 1003.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 21
naris zum Philemonbriefe wissen. Sollte der ungenannte
Theologe — Hieronymus spricht auch hier nach der beliebten
Manier im Plural — ApoUinaris sein, so könnte dieser An-
nahme zur Stütze dienen, daß Hieronymus in seinem Philemon-
kommentar sich fast durchweg einer historischen Auslegung
des Briefes befleißigt, die er dann zum großen Teil dem
ApoUinaris entnommen hätte. Der anonyme Apologet stellte
den Kritikern des Briefes zunächst entgegen, daß in allen
Paulusbriefen, auch den von ihnen als kanonisch anerkannten,
sich Äußerungen fänden, die auf die menschliche Schwach-
heit des Apostel Paulus Bezug nehmen. Wie könnte man
also diese Äußerungen gegen die Inspiration des Philemon-
briefes ausspielen, zumal da nach dem Worte des Erlösers
(Matth. 25,34) einen Becher kalten Wassers dem Durstigen
darzureichen. Armen die Füße zu waschen, für sie ein Kalb
zu schlachten und eine Mahlzeit zu bereiten doch nicht nur
keine Sünde sei, sondern auf diese Werke der Nächstenliebe
hin die Christen zu Gotteskindern angenommen würden. Eine
freie und tiefe Auffassung des Wesens des Christentums
spricht aus diesen Worten gegenüber einer Kritik, die dog-
matisch engherzigen Köpfen entsprungen war. Wenn wir
auch sonst keine anderen Anzeichen hätten, so könnten wir
schon aus diesen Gedanken der Vorrede zum Philemon-
kommentar schließen, daß sie nicht das Eigentum des Hiero-
nymus waren. Und doch ist es wieder für die Anempfindungs-
fähigkeit des Hieronymus bezeichnend, daß er solche Argumente
sich zu eigen machte. Endlich verweist Hieronymus — er
scheint hier selbst zu sprechen die Gegner der Kanonizität
des Briefes darauf, daß selbst Marcion, der die Pastoralbriefe
nicht aufgenommen habe, den Philemonbrief als kanonisch
recipierte und nicht einmal einer Redaktion wie die übrigen
Paulinen unterzogen habe.') Hieronymus zeigt auch, daß er
ein Verständnis besitzt für das überaus zarte Schreiben, das
uns in die Seele des großen Apostels einen tiefen Blick tun
läßt. Er nennt es mit evangelischer Anmut geschrieben und
*) Hieronymus weiß dies nicht aus eigner Kenntnis Marcions, sondern
aus Tertullian, Adv. Marc. V, 21, s. Zahn, Geschichte des neutest. Kanons
II, 426.
22 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
bezichtigt mit Recht die, welche den Brief der EinfaU be-
schuldigen, des Mangels an Verständnis für das, was in den
einzelnen Worten an Kraft und Weisheit verborgen ist.')
Da es der erste Paulusbrief war, den Hieronymus kom-
mentierte, suchte er zunächst eine Antwort auf die Frage zu
geben, warum und wann Saulus den Beinamen Paulus an-
genommen habe, den er seinen Briefen vorsetze. Da die
heilige Schrift darauf keine Antwort enthielt, so war man auf
Kombinationen angewiesen. So finden wir denn bei Hiero-
nymus zuerst die später weit verbreitete Hypothese, daß, wie
Scipio von der Unterwerfung Afrikas den Beinamen Africanus,
Metellus von der Besiegung Kretas Creticus, die römischen
Kaiser nach den von ihnen unterjochten Volksstämmen Ad-
iabenici, Parthici, Sarmatici genannt wurden, Paulus nach dem
ersten Beutestück seiner Heidenmission, dem Prokonsul
Sergius Paulus, den Beinamen Paulus angenommen habe.')
Über die Familie des Apostel Paulus teilt uns Hieronymus
eine ihm überkommene Überlieferung mit — die Quelle
nennt er leider nicht -, daß die Eltern des Apostels Paulus
aus Gyskalis in Judäa stammten. Hier sei Paulus geboren
und erst später, als die Römer die Provinz verwüstet hätten,
mit seinen Eltern nach Tarsus in Cilicien gebracht worden.
Ein gleiches Schicksal habe auch die Familie des Epaphras
und Aristarchus betroffen, die nach Colossae gebracht worden
seien, weshalb Paulus sie als seine Mitgefangenen bezeichnet.')
Da Paulus sich im Philemonbriefe wie im Epheser-, Phi-
lipper- und Kolosserbrief einen Gefangenen Christi nennt, so
kann der Brief nur aus der Gefangenschaft des Paulus ge-
schrieben sein, und da im f^hilipperbriefe ein Gruß vom
Hausgesinde des Kaisers (Philipp. 4, 22) bestellt wird, so
kann man nach Hieronymus nur an die römische Gefangen-
schaft des Paulus denken. Onesimus ist der Überbringer dieses
Schreibens des Paulus wie desKolosserbriefes. Er soll ihn seinem
Herrn Philemon und Archippus, wahrscheinlich dem Bischof von
Colossae, bestellen. Timotheus wird als Mitadressat genannt,
•) Comm. in Phil, prol., Vallarsi VII, 741 ff.
*) Comm. in Phil, ad 1, Varliarsi VII, 745; de vir. ilinst. c. 5.
ä) Comm. in Phil, ad 23 und 24, Vallarsi Vll, 762; de vir. illiist. c. 5.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 23
weil ein von zweien geschriebener Brief ein größeres Ansehen
beanspruchen kann. Der Apostel Paulus habe nämlich immer,
wenn er einen Brief diktierte, ohne jede Spur von Eifersucht,
in seinen Briefen angemerkt, wenn der heilige Geist etwas
einem seiner Genossen eingegeben habe.')
Mit lebendiger Phantasie zeichnet Hieronymus die Situation,
die den Anlaß zu dem Schreiben gegeben hatte. Der Sklave
Onesimus hatte seinen Herrn Philemon heimlich verlassen,
nachdem er ihm ein Hausgerät gestohlen hatte. Er war nach
Italien geflohen, weil er dort nicht zu fürchten brauchte, man
werde ihn leicht entdecken. Hier hatte er das Geld seines Herrn
in schwelgerischem Leben durchgebracht. Von Paulus in Rom
bekehrt und getauft, wusch er die Flecken seines früheren
Lebens durch würdige Buße ab.") Und der großherzige
Apostel, der im Kerker in Fesseln lag, der in qualvoller
Finsternis unter dem Schmutz des Leibes und unter der
Trennung von seinen Lieben litt, dachte nicht an sich, sondern
nur an das Evangelium Christi und wollte den Sklaven, Flücht-
ling und Dieb Onesimus bei sich behalten, damit er im Guten
beharre.')
Die Exegese des Briefes ist im ganzen geschickt und
natürlich. Nur zum Vers 22 glaubt er den Apostel ent-
schuldigen zu müssen, daß er sich eine Herberge bestelle.
Er tue dies nicht, weil er reich oder mit vielem Gepäck
beschwert sei; für den Raum seines Leibes wäre er mit einem
kleinen Raum zufrieden gewesen: aber der Apostel durfte nicht
an einem schlechten Platz wohnen, wenn er zur Predigt des
Evangeliums in eine Stadt kam. Er mußte darauf sehen, daß
er schlechte Nachbarschaft, wie die Nähe des Theaters oder
eines Bordells vermied, und ein großes Haus aufsuchen, das
viele Leute fassen konnte.') Hieronymus vermeidet in diesem
Kommentar fast ganz die Allegorie, zu der allerdings in diesem
Briefe auch nichts zu verlocken schien. Nur am Schluß des
') Dieser Gedanke stammt nach Zahns Vermutung (Geschichte des
Kanon II, 1003) von Didymus.
*) Comm. in Phil, ad S und 9, Vallarsi VII, 755.
") Comm. in Phil, ad 10, Vallarsi VII, 756.
*) Comm. in Phil, ad v. 22, Vallarsi VII, 761.
24 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Briefes, wohl um Paula und Eustochium mit seiner Gelehr-
samkeit zu imponieren, deutet er alle im Briefe vorkommenden
griechischen und lateinischen Namen, als ob sie hebräische
wären, wobei er uns Übersetzungen wie z. B. Philemon = Mund
des Brotes und andere mehr bietet.') Diese Namendeutungen
kombiniert er dann noch miteinander und weiß so den Schein
eines wunderbaren Tiefsinns zu erwecken. Es ist ein starkes
Stück, daß Hieronymus, der damals schon gründlichere Kennt-
nisse im Hebräischen besaß, wahrscheinlich aus Origenes
diesen Unsinn in seinen Kommentar herübergenommen hat.
Noch eins zeichnet diesen Kommentar des Hieronymus
vor seinen späteren aus, in denen er es versäumt hat: er gibt
überall an, wo die altlateinische Übersetzung nach seiner
Meinung den griechischen Text unrichtig oder undeutlich
wiedergegeben hat.')
Für exegetische Schwierigkeiten, wie sie z. B. im Vers 4
vorliegen, wo der Apostel von der Liebe und dem Glauben an
Christus und seine Heiligen spricht, zeigt er eine Empfindung,
wenn er die Schwierigkeit auch recht oberflächlich dadurch zu
lösen versucht, daß der Glaube an Gott auf keine andere
Weise zustande käme, als indem man seinen Heiligen glaube,
die Wahres über Gott geschrieben haben.
Für die theologischen Überzeugungen des Hieronymus
sind endlich die Erörterungen nicht ohne Wichtigkeit, die er
an Vers 14 knüpft: Ohne deine Zustimmung aber wollte
ich nichts tun, damit deine gute Tat nicht gleichsam
erzwungen, sondern freiwillig wäre. Hier gibt nach Hieronymus
der Apostel eine Antwort auf die Frage, warum Gott den
Menschen nicht unwandelbar gut geschaffen habe. Der
Mensch sollte nicht durch Zwang, sondern durch freien Willen
gut sein; denn so war er Gott ähnlich, der ihn nach seinem
Bilde schuf und ihm den freien Willen gab, da Gott auch gut
ist, weil er das Gute will, nicht weil er dazu gezwungen wird. ')
^) Comm. in F'hil. ad v. 25, Vallarsi VII, 764.
2) Comm. in Phil, ad v. 20, Vallarsi VII, 752. Der Lateiner liest ita
für )'«/, aber das griechische vai ist nach Hieronymus ebenso schwer wie
das hebräische n;x wiederzugeben.
») Comm. in Phil, ad 22, Vallarsi VII, 756 ff.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 25
Wenige Tage nach Vollendung des Philemonkommentars
begann er an dem Galaterkommentar zu arbeiten. Er hatte
soeben einen Brief aus Rom erhahen, der ihm Kunde brachte
von dem Tode der Albina, der ehrwürdigen Mutter seiner
Freundin Marcella. So widmete er denn diesen Kommentar
neben Paula und Eustochium der gelehrten Marcella als ein
Zeichen seiner Anteilnahme an dem Verlust, der sie betroffen
hatte. Bescheidener und offener, als er sonst pflegte, nennt
er die Kommentare, die er bei seiner Arbeit benutzte. Viel-
leicht fürchtete er das scharfe Urteil der Marcella, die, wie er
aus seinem römischen Aufenthalt wußte, sich nicht rasch zu-
frieden gab, sondern alles prüfte, und in der er nicht sowohl
eine Schülerin als Richterin über seine Werke sah. Sein
Kommentar sollte der erste lateinische werden, der diesen
Namen verdiene; denn der einzige bisher vorhandene des
G. Marius Victorinus war nach seinem Urteil völlig unbrauch-
bar. Im Anschluß an die Griechen, vor allem an Origenes,
glaubte Hieronymus ein würdiges Werk schaffen zu können.
So sind wir hier besser als beim Philemon- und Titus-
kommentar über die von ihm benutzten Quellen unterrichtet.
Von Origenes haben ihm der fünfbändige Kommentar, die
kurze Auslegung im zehnten Buch seiner Stromata, verschiedene
Traktate und Excerpte zum Galaterbriefe vorgelegen. Ferner
hat er aus den exegetischen Arbeiten des Didymus und
Apollinaris, eines alten Häretikers Alexander,') des Eusebius
von Emesa und Theodor von Heraclea einzelnes in seinen
Kommentar herübergenommen. Leider besitzen wir keinen
dieser Kommentare mehr, so daß wir nicht mit Sicherheit das
von anderen Kommentatoren Entlehnte von der eigenen Arbeit
des Hieronymus abgrenzen können. Durch die Generalbeichte
in der Vorrede zu seinen Kommentaren verstand es Hieronymus,
seine Unselbständigkeit und Abhängigkeit zu verdecken. Im
Kommentar selbst nennt er nur an einer Stelle Origenes,')
^) Es ist wohl der Valentinianer Alexander gemeint; s. Zahn, Ge-
schichte des neutest. Kanons I, 728.
2) Comm. ad Gal. 3, 1, Vallarsi VII, 418; ad 4, 28, Vallarsi VII, 474;
ad 5, 13, Vallarsi VII, 494 (Zitat aus dem 10. Buch der Stromata); ad 5, 24,
Vallarsi VII, 513.
26 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
obwohl er ihn fortwährend benutzt. Zahns Urteil ist durch-
aus zutreffend: Besäßen wir von Origenes Auslegung des
Galaterbriefes ähnlich große Stücke wie von derjenigen des
Epheserbriefes, so würden wir sicherlich einen ebenso voll-
ständigen Beweis für die Abhängigkeit des Hieronymus von
ihm führen können.') Bei den drei uns in der Apologie des
Pamphilus aufbewahrten Bruchstücken des Origeneskommentars
ist die Benutzung durch Hieronymus erweislich, obwohl er
zu keiner der drei Stellen Origenes als seine Quelle nennt.*)
Sicher hat Hieronymus auch zu Gal. 1, 19 einen auf Hegesipp
fußenden Bericht des Origenes über Jakobus den Gerechten
und seinen Nachfolger Simeon benutzt, da er hier Jakobus
den Gerechten wegen seiner ausgezeichneten Sitten, seines
unvergleichlichen Glaubens und seiner nicht geringen Weisheit
Bruder des Herrn genannt sein läßt, während er in seiner
Schrift gegen Helvidius Jakobus den Gerechten mit dem
Apostel Jakobus Alphäi Sohn identifiziert und ihn zum Vetter
Jesu gemacht hatte.')
Als Inhalt des Galaterbriefes bezeichnet Hieronymus in
der Vorrede dasselbe Thema, das der Apostel im Römerbriefe
behandle, das Aufhören des alten und die Einführung eines
neuen Gesetzes. Während aber Paulus im Römerbriefe belehrt,
schilt er hier, um die törichten Galater durch seine Autorität
zum rechten Glauben zurückzuzwingen. Ein weiterer Unter-
schied ist der, daß Paulus im Galaterbriefe an Heidenchristen
schreibt, die durch die Autorität solcher erschreckt wurden,
welche versicherten, daß Petrus, Jakobus und die Kirchen
Judäas das Evangelium Christi mit dem alten Gesetz ver-
bunden hätten, daß auch Paulus anders in Judäa handle und
anders den Heiden predige, und daß sie vergeblich an den
Gekreuzigten glaubten, wenn sie das vernachlässigten, was
die Apostelfürsten beobachteten. Deshalb geht Paulus so
vorsichtig den Mittelweg, damit er weder gedrängt durch das
') Zahn 11, 429, Anm. 5.
2) Zu Gal. 1, 1; Gal. 1, 11; Gal. 4, 4; Delarue IV, 690 ff.; s. Zahn,
Geschichte des neutest. Kanons 11, 429, Anm. 5.
^) Vallarsi VII, 346: s. Zahn, Forschungen zur Geschichte des
Kanons VI, 273.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 27
Gewicht und die Autorität seiner Vorgänger die Gnade des
Evangeliums preisgebe, noch seinen Vorgängern Unrecht tue,
wenn er die Gnade verteidige. Ja, Paulus geht auf gekrümmten
Wegen und gleichsam durch geheime Laufgräben einher, in-
dem er lehrt, daß das Verhalten des Petrus durch die Rück-
sicht auf das ihm anvertraute Volk der Beschneidung ein-
gegeben sei, damit es nicht plötzlich von der alten Art zu
leben ablasse, am Kreuz Ärgernis nehme und vom Glauben
abfalle, daß es aber für ihn, den Paulus, als Heidenmissionar
angemessen sei, das als Wahrheit zu verteidigen, was Petrus
der Heilsökonomie halber verleugne. Diesen komplizierten
Sachverhalt habe Porphyrius nicht durchschaut und deshalb
im ersten Buche seines Werkes uarä Xgioriavcov behauptet,
daß Petrus von Paulus getadelt worden sei, weil er nicht auf
dem rechten Weg bei der Verkündigung des Evangeliums
einhergehe. Porphyrius werfe dem Petrus Irrtum, dem Paulus
Frechheit vor, nur um das Dogma der Christen der Lüge
zu zeihen, da die Führer der Kirchen sich untereinander wider-
sprechen.')
Über die Frage nach der Abfassungszeit und dem Ab-
fassungsort des Galaterbriefes hat sich Hieronymus in seinem
Kommentar nicht ausgesprochen. Auch Gal. 4, 13, wo Paulus
von einem früheren Aufenthalte in Galatien spricht, hat ihm
keinen Anlaß gegeben, Vermutungen über die Gründungszeit
der galatischen Gemeinden zu äußern.
Sehr ausführlich hat er sich dagegen über die Adressaten
des Paulusbriefes ausgelassen.') Es sind die Bewohner der
Landschaft Galatien, deren Hauptstadt Ancyra ist. Diese
Galater stammen nach Laktanz aus Gallien und haben sich in
Galatien mit den Griechen vermischt.') Wie vom Orient nach
dem Occident Völkerwanderungen stattgefunden haben —
Hieronymus gedenkt hier der Gründung Karthagos durch die
') Comm. in Gal. Praef., Vallarsi Vll, 370ff.
2) Comm. in Gal. Hb II, praef. Vallarsi VII, 425.
') Das Zitat stammt aus dem 3. Band der verlorenen Briefsannnlung
des Lactantius ad Probum, s. Harnack, Altchristi. Literaturgeschichte II,
737 ff. Die Nachricht des Marcus Varro über die Galater hat uns Hierony-
mus nicht mitgeteilt.
28 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethleiiem.
Tyrier und der ausgedehnten griechischen Kolonisation bis
zum fernen Westen — so sind umgekehrt die Galater aus
Gallien, Abkömmlinge der wilderen keltischen Stämme, nach
Kleinasien gewandert. Seine ursprünglichen Eigenschaften hat
der Volksstamm auch bis heute noch bewahrt; deshalb nenne
sie der Apostel töricht und wahnsinnig. Und Hieronymus,
der die Galater aus eigener Anschauung kannte — auf seiner
Reise von Aquileja nach Antiochia hatte er Galatien berührt
— bezeugt, daß noch zu seiner Zeit Ancyra durch Schismata
zerrissen sei. Neben den sonst in der Christenheit verbreiteten
Sekten der Montanisten, Ophiten, Borboriten und Manichäer
gibt es in Galatien die sonderbaren Sekten der Tascodrogen
oder Passalorynciten und der Artotyriten.') Die Galater sind
auch im Orient die einzigen, die nicht griechisch, sondern
eine den Trevirern verwandte Sprache sprechen, die etwas
verderbt ist, ähnlich wie in Afrika das Phönizische korrumpiert
ist und auch das Lateinische als Weltsprache einen stetigen
Umwandlungsprozeß durchlebt.
Den ganzen Galaterkommentar des Hieronymus durch-
zieht die Polemik gegen Marcion. Da Hieronymus von der
Lehre des gefährlichen Häretikers nur eine ganz unklare Vor-
stellung hat, so verdankt er diese Mitteilungen über den Text
und die Auslegung des Marcion dem damit wohl vertrauten
Origenes, wie Zahn erwiesen hat.")
') Über die Tascodrogiten (Asi<odrugiten, Ascodrobi) oder griechisch
Passalorynciten und die Artotyriten, einen Zweig der Montanisten oder
Marcioniten, deren Eigentünihciikeit der Gebrauch von Brot und Käse bei
der Eucharistie war, s. Zaini, Oeschiciite des neutest. Kanons II, 437.
Zahn stellt die ältesten Nachrichten über diese Häresien aus Epiphanius
und Philaster zusammen.
*) Geschichte des Kanons II, 426 ff. zu Gal. 1, 1; 3, 1; 3, 13; 4, 24;
5, 12; 6, 6. Vallarsi VII, 375, 418, 434, 473, 493, 523. Nur die Stelle
Gal. 5, 10, Vallarsi VII, 490 bezieht sich nicht, wie Zahn meint, auf Marcion,
sondern auf Porphyrius, s. Comm. in Gal. praef., Vallarsi VII, 371. Wichtig
sind besonders die Stellen: Gal. 5, 12: „O daß doch verschnitten würden,
die euch verwirren", die gegen Marcion und Valentin von Origenes bzw.
Hieronymus verwandt wird. Marcion und Valentin nennen den Demiurgen
grausam und hart, aber ein härteres Urteil als des Apostels des guten
Gottes werden sie im Alten Testament nicht aufweisen können. Gal. 6, 6
legie Marcion nach Origenes resp. Hieronymus so aus, daß der Kate-
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 29
Von den übrigen Gnostikern erwähnt Hieronymus noch
Basilides und Valentin, von denen er ebenfalls nur aus Origenes
etwas wußte. Er stellt sie immer mit Marcion zusammen und
sie sind für ihn besonders bösartige Ketzer, die das Alte
Testament verworfen und den heiligen Geist nicht gehabt
haben. Von Valentin weiß er wenigstens noch aus Origenes,
daß er eine eigentümliche Äonenlehre vorgetragen hat.') Über
den Gnostiker Apelles und die Philumene zeigt sich Hiero-
nymus durch Tertullians verlorene Schrift gegen Apelles unter-
richtet.) Die Polemik gegen die Ebioniten, die Christus für
einen bloßen Menschen halten und die Beschneidung üben,
scheint Hieronymus ebenfalls aus dem Kommentar des Origenes
geschöpft zu haben. Er bringt hier zu Gal. 3, 14 die merk-
würdige Notiz, daß der angebliche Häresiarch Ebion, der halb
Jude und halb Christ war, die Stelle Deut. 21, 23 „Verflucht
ist jeder, der am Holz hängt", erklärt habe, (Wl vßgic: ßeov
6 KQ£ji(äjii€}'oc:.'') Da Hieronymus sonst keine selbständige
Kenntnis über den Enkratiten und Doketen Cassianus verrät,
wird er die Auslegung der Stelle Gal. 6, 8: „Wer auf das
Fleisch säet, wird vom Fleisch das Verderben ernten", die
Cassianus im Sinne eines vollständigen Eheverbots deutete,
ebenfalls dem Kommentar des Origenes entnommen haben.')
chumene mit seinem Lehrer an allem Guten teilnehmen solle, also auch
am Gebete, wodurch die Schranke zwischen Getauften und Katechumenen
aufgehoben würde, s. Krüger A. Marcion R. E. 'XII, 273. Zu Gal. 3, 6,
Vallarsi Vll, 422 merkt Origenes resp. Hieronymus an, daß Marcion die
Verse Gal. 3, 6 — 3, 9 getilgt habe. Zu Gal. 4, 4 hat Hieronymus die Mit-
teilung des Origenes über Marcion mißverstanden, s. Zahn, Geschichte des
neutest. Kanons II, 431. Er erweckt den Schein, als ob Marcion yevö/tf^vov
öiä yvvaiKÖg statt fk ywaiuöc; geschrieben habe, während nach Zahn
Marcion diesen Satz getilgt hat imd eine Verwechselung mit Valentin vorliegt.
') Ad Gal. 1, 11 und 12, Vallarsi Vll, 386; ad Gal. 5, 2, Vallarsi Vll,
493; ad Gal. 1, 4, Vallarsi Vll, 378: Valentini deliramenta et fabulae con-
temnendae sunt, qui triginta aiöivac; suos ex eo, quod in scripturis
saecula legantur, affinxit, dicens eos esse animalia et per quadradas et
ogdoadas, decadas quoque et duodecadas tot edidisse numeros saeculorum,
quot in Aeneide foetus scropha generavit.
2) Ad Gal. 1, 9, Vallarsi Vll, 383.
^) s. Harnack, Altchristi. Literaturgeschichte S. 209.
*) Ad Gal. 6, 8, Vallarsi Vll, 526. Es ist sicher mit Zahn nicht
30 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Als eigene Zutaten des Hieronymus werden wir dagegen
die Erwähnung des Piiotinus, ') den er neben Ebion, des Mani,"^)
den er neben Marcion stellt, und des Arius zu betrachten
haben.) Auch gegen Laktanz, der den heiligen Geist mit
Vater und Sohn identifiziert,*) und seinen Lehrer Apollinaris,
der Christus halbiert, polemisiert er gelegentlich, gegen letzteren
jedoch, ohne ihn namentlich zu nennen. ) Auch gegen
Chrysostomus — denn dieser wird unter dem sehr gelehrten
Mann unserer Zeiten zu verstehen sein — führt er einen
Hieb. Er verspottet seine Auslegung von Gal. 6, 11, wonach
Paulus als Hebräer die griechischen Buchstaben nicht kannte
und, weil er seinen Brief unterschreiben mußte, mit Mühe die
krummen Linien in großen Zügen nachmalte.")
Ausführlicher setzt sich Hieronymus mit dem Heiden
Porphyrius in seinem Galaterkommentar auseinander. Da(3 er eine
selbständige Kenntnis von der Schrift des Neuplatonikers gegen
die Christen besaß, ist fraglos, aber auch bereits Apollinaris wird
in seinem von Hieronymus benutzten Kommentar den schärfsten
und gewandtesten Gegner des Christentums bekämpft haben, so
daß er bei ihm Anleihen machen konnte. Hieronymus kündigt
hier sogar eine ausführliche Gegenschrift gegen Porphyrius
an, die aber wie so viele andere geplante Arbeiten des
Hieronymus nie zur Ausführung gekommen ist. Sie wäre auch
nur ein Konglomerat aus den Werken seiner Vorgänger ge-
worden, vermehrt um einige bissige und boshafteBemerkungen.")
Tatianus, sondern Cassianus zu lesen, s. Forschungen zur Geschichte des
Kanons I, 6 ff. und Harnack, Altchristi. Literaturgeschichte, S. 202 ff.
') Ad Gal. 1, 1.
■-) Ad Gal. 1, 1 und Gal. 4, 24.
■') Ad Gal. 5, 9, einmal gedenkt er auch der Novatianer ad Gal. 4, 19,
Vallarsi Vi!, 467.
*) Ad Gal. 4, 6, Vallarsi VII, 450, Hieronymus nennt das 8. Buch der
Briefe des Lactantius ad Deuietrianuni als Quelle, während er de vir. illust.
c. 80 nur 2 Bücher Briefe ad Demetrianum erw<ähnt. An einer Stelle,
wahrscheinlich im Galaterbrief, werden wir einen Schreibfehler anzu-
nehmen haben.
^) Ad Gal. 1, 1, Vallarsi VII, 375.
«) Ad Gal. 0, 11, Vallarsi VII, 530.
") Ad Gal. 2, 13, Vallarsi VII, 410: sed et adversum Porphyrium in
alio, si Christus iusserit, opere pugnabimus.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 31
Die Proben, die er hier im Kommentar in der Widerlegung
des Por|3hyrius gibt, lassen eine solctie Vermutung berechtigt
erscheinen. Wenig glücklich stellt er den Streit des Petrus
und Paulus in Antiochia, Gal. 2, 13, als Scheingefecht hin, um
so den Vorwürfen des Porphyrius zu entgegnen. Und ohne
durchschlagende Gründe lehnt er die Deutung des Porphyrius
von Gal. 1, 16 ab, wonach unter dem Fleisch und Blut, mit
dem Paulus nach seiner Bekehrung nicht zusammen gekommen
sei, Petrus, Johannes und Jakobus zu verstehen sei, mit denen
er ein Zusammentreffen vermieden habe.')
Besonderes Interesse hat Hieronymus in seinem Kom-
mentar auf die Textkritik gewandt. Er legte seiner Aus-
legung die altlateinische Übersetzung, nicht seinen korrigierten
Text, zugrunde und merkte immer ausdrücklich an, wo er
die Übersetzung nach den griechischen Kodices der Korrektur
bedürftig hielt.) Den von ihm benutzten griechischen
Text bezeichnete er einmal ausdrücklich als den Text des
Origenes, an zwei anderen Stellen führte er die Lesart des
>) Gal. 2, 13, Vallarsi VII, 410; Gal. 1, 16, Vallarsi VH, 391 und
ohne Porphyrius zu nennen, Gal. 5, 10, Vallarsi VII, 490; Gal. 5, 12,
Vallarsi VII, 493.
^) Gal. 1, 16 will er mit den Griechen statt non acquievi carni et
sanguini lesen non contuli cum carne et sanguine, Vallarsi VII, 391 ;
Gal. 2, 5 lesen latini Codices: quibus ad horam cessimus subiectioni,
Hieronymus zieht die Lesart der Griechen vor non ad horam, Vallarsi VII,
399, 401; Gal. 5, 4 lautet die altlateinische Übersetzung: evacuati estis
a Christo, die nach dem Griechischen zu korrigieren ist: in Christi opere
cessastis, Vallarsi VII, 481; Gal. 5,7 id quod nunc latinus posuit interpres,
veritati non oboedire et in graeco scriptum est: tij ü/.tjüriit. in) nFiOrötiai
in superiori loco ita interpretatus est: non credere veritati. Quod quidem
nos in vetustis codicibus non haberi, in suo loco annotavimus, licet et
graeca exemplaria hoc errore confusa sint, Vallarsi VII, 487; Gal. 5, 8 ex
Deo hält Hieronymus für einen Schreibfehler aus ex eo, Vallarsi VII, 487;
Gal. 5, 9 will Hieronynms die altlateinische Lesart: modicum fermentum
totam conspersionem fermentat ersetzt wissen durch modicum fermentum
totam massam corrumpit, Vallarsi VII, 488; Gal. 6, 17 will Hieronymus
nach den Griechen de caetero labores mihi nemo exhibeat lesen statt
de caetero nemo mihi molestus sit, Vallarsi VII, 534; vergl. ferner Gal. 4, 28,
Vallarsi VII, 474; Gal. 5, 24, Vallarsi VII, 513; auch über den altlateinischen
Text von Luc. 22, 37 ad Gal. 4, 4; von Apost. 15, 29 ad Gal. 5, 2; von
1. Kor. 13, 3 ad Gal. 5, 26.
32 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Origenes an.') Es ist bezeichnend für die Unselbständigkeit der
Arbeit des Hieronymus, daß er Sätze des lateinischen Textes,
die sich im Griechischen nicht fanden, einfach nicht kommen-
tierte und dann die naive Begründung hinzufügte: er habe
sie nicht ausgelegt, da er in den von ihm benutzten griechischen
Kommentatoren nichts darüber gefunden habe.")
Auch auf die Zitate aus dem Alten Testament richtete
Hieronymus sein Augenmerk. Er machte es dabei zu einem
methodischen Grundsatz seiner Auslegung, daß er die Zitate
des Apostels mit dem hebräischen Text und den griechischen
Übersetzungen der LXX, des Aquila, Theodotion und Sym-
machus verglich, um die Zitationsweise des Apostels zu be-
stimmen. Er kommt dabei zu dem Resultat, daß Paulus nicht
wörtlich, sondern stets nur sinngemäß zitiert habe. Zu der
Stelle Deut. 27, 26 will er auch samaritanische Handschriften
verglichen haben und das nur im Text der LXX vorhandene
omnis dort wiedergefunden haben.') Bei einer anderen alt-
testamentlichen Stelle beruft sich Hieronymus auch auf die
Erklärung, die ihm sein Hebräer, der ihn in den heiligen Schriften
unterrichtete, vermittelt hat.') Daß Hieronymus trotz der Bei-
ziehung eines großen gelehrten Apparates bisweilen Flüchtig-
keiten beging, wird man bei seiner raschen Arbeitsweise nicht
verwunderlich finden. So ist es ihm entgangen, daß Paulus,
wo er Gal. 3, 17 430 Jahre von Abraham bis auf das Gesetz
zählt, nicht Gen. 15, 13, sondern den Text der LXX zu Ex. 12, 40,
seiner Berechnung zugrunde gelegt hat.') Im Anschluß an
den Text macht Hieronymus eine Reihe philologischer Be-
•) Ad Gal. 3, 1, Vallarsi Vil, 418 und Gal. 4, 28, und Gal. 5, 24, s.
Band I, 216.
*) Gal. 5, 7: sed quid nee in graecis libris nee in bis, qui apostolum
commentati sunt, hoc scriptum invenimus, praetereundum videtur, Vallarsi
VII, 487; vergl. auch Gal. 5, 21, Vallarsi Vli, 509, und Gal. 3, 1, Vallarsi
VII, 418.
3) Gal. 3, 10, Vallarsi VII, 429; zu dem Zitat Hab. 2, 4 gibt er LXX,
Theodotion, Aquila; zu Deut. 21,23 LXX, Aquila, Symmachus, Theodotion
und hebräischen Text, Vallarsi VII, 435; s. auch zu Gal. 1, 14, Vallarsi VII,
380 und zu Gal. 6, 18, Vallarsi VII, 534.
*) Deut. 21, 23, Vallarsi VII, 435.
4 Ad Gal. 3, 17, Vallarsi VII, 439.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 33
obachtungen, die seinen Sinn für die Unterschiede der ver-
schiedenen Sprachen beweisen. So behauptet er, daß das
Wort (ijrouä/auiHg Gal. 1, 12, nur in der heiligen Schrift, aber
nirgends im profanen Griechisch gebraucht werde. Und hieran
knüpft er eine Erörterung über die Schwierigkeiten, mit denen
die Übersetzer aus dem Hebräischen zu kämpfen hatten. Die
LXX hätten bei ihrer Arbeit notgedrungen eine Reihe von
neuen Worten schaffen müssen, wie auch Cicero in seinen
Tusculanen bei der Übersetzung philosophischer Termini
aus dem Griechischen getan habe.') Die wirklichen und an-
geblichen Verstöße des Paulus gegen die Konstruktion erklärt
sich Hieronymus daraus, daß der Apostel, ein Hebräer von
Hebräern, in seiner Muttersprache gut geschult war, aber in
der ihm doch fremden griechischen Sprache bisweilen Fehler
machte. ^)
Was die sachliche Auslegung des Galaterbriefes betrifft,
so zeigt auch dieser Kommentar das eklektische Verfahren des
Hieronymus. Er schwankt zwischen historischer und alle-
gorischer Auslegung und stellt verschiedene, ihm überkommene
Deutungen nebeneinander, ohne sich für eine zu entscheiden.*)
Ein tieferes Verständnis für die im Briefe niedergelegten Grund-
gedanken der paulinischen Heilsauffassung fehlt vollständig.
Den klaren Worten des Apostels schiebt er unbewußt sein
Verständnis des Heilsprozesses unter, wonach aus Glauben und
Werken der Mensch vor Gott gerecht wird.') Aber wer ver-
stand damals Paulus wirklich; Origenes, an den sich Hieronymus
vor allen anschloß, versagte in diesem Punkte ebenfalls völlig-
Besonders interessant sind für uns die ziemlich reichlich
in den Kommentar eingefügten Bezugnahmen auf die Zeit-
verhältnisse. Da außer Gott niemand Vater genannt werden
soll, so will er nicht, daß die Vorsteher der Klöster, ja er
selbst, mit dem Titel Abt angeredet werden.') Und wenn Paulus
') Ad Gal. 1, 12, VallarsiVH, 387; s. auch ad Gal. 1, 5, Vallarsi VII,
380, ad Gal. 5, 26, Vallarsi VII, 515.
2) Ad Gal. 6, 1, Vallarsi VII, 520 und Gal. 2, 3-5, Vallarsi VII, 400.
^) Z. B. Gal. 1, 17, Vallarsi VII, 392 ff.
*) Gal. 2, 16, Vallarsi VII, 412 und Gal. 3, 2, Vallarsi VII, 418.
") Ad Gal. 4, 6, Vallarsi VII, 451.
Grützmacher, Hieronymus. U. 3
34 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
das Halten der Feste verbietet, so könnte man dieses Verbot
auch auf die christlichen Feste beziehen, auf die beiden Fast-
tage, Mittwoch und Freitag, den Sonntag, das 40tägige vor-
österliche Fasten, auf Ostern und Pfingsten — er nennt noch
nicht das Weihnachtsfest — und die Märtyrertage. Diesen
Einu^urf v^iderlegt er damit, daß die christlichen Festtage
allerdings nicht heiliger als andere Tage sind und nur von
klugen Männern für die Schwachen eingerichtet wurden, welche
mehr in der Welt als in Gott leben und nicht jeden Tag einer
gottesdienstlichen Versammlung beiwohnen, gewiß eine eigen-
tümlich mönchische Begründung der christlichen Feste.') Die
Stelle Gal. 4, 13, in der Paulus die Galater seine Brüder nennt,
gibt Hieronymus Anlaß, sich über den Hochmut der Bischöfe
zu beklagen, die sich kaum herbeilassen, ihre Mitknechte an-
zusehen und anzureden.) Und die Erfahrung des Paulus,
daß die Galater nach seinem Weggang plötzlich abfielen, be-
stätigt Hieronymus als auch in seiner Zeit häufig wieder-
kehrende Erscheinung: wenn ein durch Beredsamkeit und
Lebenswandel ausgezeichneter Lehrer irgendwo eine erfolg-
reiche Wirksamkeit entfaltet und seine Gemeinde zum Almosen-
geben, zum Fasten, zur Keuschheit, zur Armenpflege erzogen
hat, so geht in der Regel alles wieder zugrunde, was er
geschaffen hat, wenn er fortgeht ), ein Zeichen, wie stark auch
damals die Christengemeinden Personalgemeinden waren. Auch
auf die Mißstände, die sich aus der gleichzeitigen Festfeier von
heidnischen und christlichen Festen ergaben — er gedenkt
vielleicht hier an Erfahrungen, die er in Rom gemacht hat —
macht Hieronymus aufmerksam.') Endlich geißelt er noch mit
herbem Spott die immer mehr um sich greifende Rhetorik in
den christlichen Predigten. Die Rede, mit der Lüge der
rhetorischen Kunst geschmückt, tritt wie eine Dirne öffentlich
auf, und man sucht nur das Beifallklatschen des Volkes in
') Ad Gal. 4, 10 ii. 11, Vallarsi VII, 457.
») Ad Gal. 4, 13, Vallarsi VII, 458.
=*) Ad Gal. 4, 17 u. 18, Vallarsi VII, 464.
*) Ad Gal. 5, 1, Vallarsi VII, 477: quod aiitem nationes observent
dies, menses et annos, utinam nesciremus, ne nobis cum eis esset nun-
quam mixta festivitas.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 35
der Kirche. Die Kirche Christi ist aber nicht aus der Akademie
und dem Lyceum, sondern aus dem niedrigen Volk entstanden.')
Gewiß war dieser Vorwurf berechtigt, aber aus dem Munde
eines Mannes, der durch seine Rhetorik ebenfalls viel gesündigt
hat, berührt er uns eigentümlich.
Wie stark die Subjektivität des Kommentators seine
Exegese beeinflußt hat, mögen einige besonders charakteristische
Beispiele zeigen. Das scharfe paulinische Wort: „Oder suche
ich Menschen zu gefallen?" mußte dem nach dem Beifall der
Menschen lüsternen Hieronymus außerordentlich unbequem
sein. Der Apostel will uns auch nicht lehren — so führt er
aus — das Urteil der Menschen zu verachten. Wenn es ge-
schehen kann, sollen wir Gott und Menschen gefallen. Nur
wenn wir den Menschen auf keine andere Weise gefallen
können, als daß wir uns das Mißfallen Gottes zuziehen, dann
müssen wir Gott mehr als den Menschen zu gefallen suchen.')
Und wie unfähig er war, den Charakter des großen Heiden-
apostels zu begreifen, zeigt sich an seiner Auffassung des
antiochenischen Streites zwischen Petrus und Paulus, die ihn
später in den literarischen Kampf mit Augustin verwickelte.
Wenn er sich hier auch an Origenes, Eusebius und Apollinaris
anschloß, so war ihm doch die Auffassung des Streites
der Apostel als ein Scheingefecht besonders sympathisch,
während der ehrliche Augustin, der alle Heuchelei von Grund
der Seele haßte, davor zurückschreckte. Beide Apostel, Petrus
und Paulus, erschienen Hieronymus als geschickte Schau-
spieler, die eine Komödie aufführen. Erst aß Petrus mit den
Heidenchristen, eingedenk des Wortes, daß kein Mensch ge-
mein oder unrein sei; ) dann zog er sich plötzlich zurück,
und die übrigen Judenchristen und Barnabas ahmten sein
Verhalten nach. Die Heidenchristen fingen nun aber an,
auch nach dem Gesetze zu leben, da sie nicht durch-
schauten, daß Petrus dieses Verhalten nur mit der Absicht
angenommen hatte, um die Juden auf diese Weise zu
gewinnen. Als aber Paulus sah, daß auf diese Weise die Gnade
') Praef. ad lib. III, Vallarsi VII, 483 ff.
■') Ad Gal. 1, 10, Vallarsi VII, 384.
') Apost. 10, 34 u. 35.
36 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Christi Gefahr laufe, wandte er gegenüber Petrus ebenfalls die
Verstellung an. Er widersprach ihm öffentlich, nicht um die
Absicht des Petrus zu tadeln, sondern nur um die schädliche
Wirkung auf die gläubigen Heiden abzuwehren. Wer aber
hier annehmen wollte — so folgert Hieronymus — , daß der
Apostel Paulus wirklich seinem Vorgänger Petrus einen Vor-
wurf habe machen wollen, der vergegenwärtigt sich nicht,
daß Paulus selbst den Juden ein Jude geworden ist, um die
Juden zu gewinnen, und sich derselben Verstellung wie Petrus
schuldig machte, als er sich in Kenchreä sein Haupt scheren
ließ, in Jerusalem in das Nasiräat eintrat und die Opfer brachte
und als er auf seiner ersten Missionsreise den Timotheus
beschneiden ließ. Der erheuchelte Streit zwischen den
Aposteln sollte den Gläubigen den Frieden bringen.') So
rettete Hieronymus durch seine Auslegung die Einheit der
Autorität der Apostel, aber auf Kosten ihres Charakters, der
dadurch in ein zweifelhaftes Licht gerückt wurde. Die Maxime,
daß der gute Zweck das Mittel heilige, fand also Hiero-
nymus in dem Verhalten der Apostel betätigt.
Nicht ohne Geschick versucht Hieronymus den Bericht
der Apostelgeschichte mit dem des Galaterbriefes zu vereinigen.
Er hat natürlich auch hier seine Vorgänger benutzt und gibt
deshalb oft mehrere Lösungen. Ist Paulus nach Lukas sogleich
nach seiner Bekehrung nach Jerusalem gegangen, so ist dies
durch den Galaterbrief nicht ausgeschlossen; denn dieser Auf-
enthalt diente ihm nur dazu, sich der Verfolgung zu ent-
ziehen und führte ihn nicht mit den Uraposteln zusammen.)
Wenn Paulus und Petrus sich auf dem Apostelkonzil die
Mission unter Unbeschnittene und Beschnittene teilten, so ist
damit nur für jeden der Apostel ein Hauptauftrag gegeben,
was nicht die Bekehrung einzelner Heiden, wie z. B. die Be-
kehrung des Hauptmanns Cornelius durch Petrus, die die
Apostelgeschichte berichtet, noch die Bekehrung einzelner
Juden durch Paulus ausschließt.^) Trotz aller Unvollkommen-
heiten und trotz der Abhängigkeit von den griechischen Exe-
1) Ad Gal. 2, 11 11. 12, Vallarsi VII, 406 ff.
"■) Ad Gal. 1, 17, Vallarsi VII, 392 ff.
») Ad Gal. 2, 7—9, Vallarsi VII, 404.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 37
geten ist der Kommentar des Hieronymus zum Galaterbrief
ein beaclitenswertes Werk, das seinen späteren exegetischen
Produi<ten erheblich überlegen ist.
Flüchtiger und unselbständiger als der Galaterkommentar
ist der Epheserkommentar des Hieronymus gearbeitet. Bereits im
Galaterkommentar hatte er die Mängel seines Werkes damit ent-
schuldigt, daß er bei der Schwäche seiner Augen und seinem
leidenden Zustand seinen Kommentar nicht selbst geschrieben
habe, sondern daß er habe diktieren müssen, was ihm auf die
Zunge gekommen sei. Die Tyrannei des Schreibers zwinge ihn
zur Flüchtigkeit; denn wenn er ein wenig nachdenken wolle, um
einen besseren Ausdruck zu suchen, so tadle ihn der Schreiber
schweigend, spiele mit der Hand, runzle die Stirn und be-
zeige durch seine ganze Körperhaltung, daß er vergeblich an-
wesend sei.') Noch schneller als den Galaterkommentar hat
Hieronymus den Epheserkommentar ausgearbeitet. Er gesteht,
daß er bisweilen an einem Tage tausend Zeilen schreibe, um
nur rasch die beabsichtigte Auslegung sämtlicher Paulusbriefe
zu vollenden.-') Der Kommentar ist Paula und Eustochium ge-
widmet; aber auch seiner Freundin Marcella, die ihn brieflich
darum gebeten hatte, übersandte er ein Exemplar desselben.')
Er selbst hatte nach der eiligen Vollendung ein böses Ge-
wissen; er bat seine Freundinnen ausdrücklich, seinen Kom-
mentar nicht ihm Übelwollenden und Verleumdern zuzustellen,
damit man ihn nicht herabsetze.') Auch seiner Unselbständig-
keit ist er sich wohl bewußt: „ihr mögt wissen, daß Origenes
drei Bände zu diesem Brief geschrieben hat, dem wir uns teil-
weise angeschlossen haben. Auch Apollinaris und Didymus
haben Kommentare ediert, von denen wir nur wenig auf-
genommen haben, und einiges haben wir von uns hinzugefügt
oder weggelassen, so daß ein unterrrichteter Leser sogleich
von Anfang an weiß, daß dies Werk sowohl ein fremdes wie
unser eigenes sei."') Durch die Vergleichung der vorhandenen
1) Praef. in üb. III Gal., Vallarsi VII, 486.
■') Praef. in üb. II Eph., Vallarsi VII, 585.
3) Praef. in lib. II Eph., Vallarsi VII, 585.
') Praef. in lib. I Eph., Vallarsi VII, 539.
"•) Praef. in lib. I Eph., Vallarsi VII, 543.
38 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Fragmente des Origenes mit dem Kommentar des Hieronymus
wird dies bestätigt.') Die Mitteilungen über den Text und
die Auslegung des Marcion hat Hieronymus, wie Zahn über-
zeugend nachgewiesen hat, hier wie im Galaterkommentar von
Origenes herübergenommen.') Dasselbe gilt von seiner Er-
wähnung des Valentin, Sabellius und Ebion. Die Polemik
gegen Arius, Macedonius, Eunomins und Photinus ) hat Hie-
ronymus hinzugefügt oder dem Apollinaris und Didymus
entlehnt. Auf sein eigenes Konto kommt mit Sicherheit nur
die Kritik des Apollinaris.')
Rufin griff später Hieronymus besonders seines Epheser-
kommentars halber an. Er warf ihm sklavische Abhängig-
keit von Origenes vor, dessen Heterodoxien er unbesehen
herübergenommen habe. Dies ist nicht ganz richtig. Ge-
wiß hat Hieronymus den Kommentar des Origenes überall
ausgeschlachtet und seine Abhängigkeit, die er in der Einleitung
bekannt hatte, im Kommentar selbst verdeckt, in dem er nach
der von ihm beliebten Manier von einem oder mehreren Aus-
legern spricht, wenn er Origenes benutzt. Einmal führt er
sogar die Auslegung des Origenes mit den Worten ein: ein
fleißiger Leser wird die Frage aufwerfen. Niemand konnte
vermuten, daß er hier Origenes zitierte, erst in seiner Ver-
teidigung gegenüber Rufin sah er sich genötigt, dies einzu-
gestehen und sich noch obenein wegen des lobenden Prä-
dikats, das er dem Origenes beilegte, zu verteidigen. ) Rufin
hat alle Sätze seines Kommentars aufgestochen, in denen er
irgend eine heterodoxe Anschauung des großen Alexandriners
reproduzierte und nicht ausdrücklich ablehnte. So trägt Hie-
') Zahn, Geschichte des neutestanientlichen Kanon II, S. 427, Anm. 2.
Hier hat Zahn die zahlreichen und umfangreichen Stücke des Origenes-
konimentars zum Epheserbrief, welche uns bei Gramer, Gatenae gr. patr.
zum Neuen Testament VI, 96 ff. erhalten sind, mit dem Hieronymuskom-
mentar verglichen und ihre Benutzung nachgewiesen. Auch die Einteilung
des Kommentars in drei Bücher scheint Hieronymus von Origenes entlehnt
zu haben.
'■') Zahn, Geschichte des neutestanientlichen Kanon II, 428 ff.
») Eph. 3, 11, Vallarsi VII, 515; Eph. 4, 4, Vallarsi VII, 610.
*) Eph. 4, 10, Vallarsi VII, 614.
") Eph. 1, 7, Vallarsi VII, 576; Gontra Rufin. I, 24, Vallarsi II, 480.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 39
ronymus ohne Kritik die Theorie des Origenes vor, daß auch
im Himmel Beförderungen und Ehrungen, Auf- und Absteigen,
Wachstum und Abnehmen der Einzelnen stattfinden wird,') daß
den Engeln erst durch die Kirche das Geheimnis Christi ge-
offenbart sei'), und daß durch das Kreuz Christi nicht nur den
Menschen, sondern auch den Engeln die Versöhnung gebracht
sei.') Andere Stellen des Epheserbriefes deutet er mit Origenes
auf die uTTOKaräOTaai^.") Und ganz origenistisch schreibt er:
Wir mögen als Männer unsere Gattinnen pflegen, d. h. als Seelen
unsere Leiber, so daß die Weiber zu Männern, d. h. die Leiber
zu Seelen werden und kein Unterschied des Geschlechts mehr
statthat, sondern wie bei den Engeln weder Mann noch Weib
ist, damit wir, die wir den Engeln ähnlich sein werden, schon
jetzt anfangen zu sein, was uns im Himmel versprochen ist.^)
Die Fesseln, von denen Paulus spricht, bezieht Hieronymus
mit Origenes auf die Seele, die im Körper gefesselt ist.') Das
Beugen unserer Kniee vor Gott, das Sitzen des Sohnes zur
Rechten des Vaters versteht er wie dieser bildlich;") und die
Seelen, die vom Körper befreit sind, gelangen dorthin, wo der
unkörperliche Gott seinen Wohnsitz hat")
Aber trotz allem wäre es ungerecht, anzunehmen — wir
dürfen uns hier nicht durch das Urteil seines Gegners Rufin
bestimmen lassen — daß Hieronymus damals ganz im Banne
der heterodoxen Anschauungen des Origenes stand. Wir
brauchen ihm zwar nicht zu glauben, daß er, wie er später
behauptet, als er sich vom Origenismus reinwaschen will,
schon im Epheserkommentar die Lehre von der djroHaräöTaoig
als Häresie bezeichnet habe. Niemand kann dies seinen dies-
') Eph. 1, 21, Vallarsi VIF, 566.
2) Eph. 3, 10, Vallarsi VII, 594.
") Eph. 1, 23, Vallarsi VII, 569; Eph. 2, 18, Vallarsi Vll, 583; Eph. 4, 9,
Vallarsi VII, 614.
') Eph. 4, 4, Vallarsi VII, 609; Eph. 4, 13, Vallarsi VII, 616; Eph. 4, 16,
Vallarsi VII, 619.
») Eph. 5, 29, Vallarsi VII, 659.
«) Eph. 3, 1, Vallarsi VII, 586; Eph. 4, 1, Vallarsi VII, 606.
') Eph. 3, 4, Vallarsi VII, 598; Eph. 5, 4, Vallarsi VII, 640.
*) Eph. 1, 12, Vallarsi VII, 676.
40 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
bezüglichen Äußerungen entnehmen.') Aber deuth'ch lehnt er
doch die Lehre des Origenes von der Präexistenz der Seelen')
ab und ebenso scharf verurteilt er die Annahme des Origenes,
daß die zukünftige Strafe für die Sünde keine äußerliche sei,
sondern in der Sünde selbst und dem Bewußtsein der bösen
Tat bestehe, bei der der Wurm im Herzen nicht stirbt und
das Feuer im Geist entzündet wird, wie bei dem Fieber-
kranken, der auch nur innerliche Qual erdulde. Er nennt dies
leere täuschende Worte.'') Einmal bemerkt er auch, daß der
Leser die Deutung des Origenes, der unter den Fesseln die
Einkerkerung der Seele im Leib verstehe, nicht anzunehmen
brauche.') Gewiß sah Hieronymus damals noch nicht in
Origenes den großen Ketzer, dazu stand er noch zu sehr
unter dem Einfluß des Didymus; aber es beginnt sich doch
bereits in ihm das Mißtrauen gegen gewisse Heterodoxien
des Alexandriners zu regen, und es ist zum Teil Mangel an
Selbständigkeit und Bequemlichkeit, wenn er ihn ausschreibt,
ohne durchgreifende Korrekturen oder Warnungszeichen im
kirchlich-rechtgläubigen Sinne anzubringen. Eine ähnliche
Stellung wie zu Origenes nimmt er zu seinem alten Lehrer
Apollinaris in dem Epheserkommentar ein. Er nennt ihn
nicht namentlich, aber die nüchterne Exegese des Antiocheners,
dessen Kommentar wir leider nicht mehr besitzen — nach den
Proben, die Hieronymus gibt, bedauern wir seinen Verlust nur
um so mehr - ist überall kenntlich. Er führt Apollinaris
in der Regel mit den Worten ein: ein anderer sagte einfach.')
Auch ihn benutzt er, aber gegen seine heterodoxe Christo-
logie verwahrt er sich, ohne ihn zu nennen.") Was Hierony-
mus dem verlorenen Kommentar des Didymus entnommen hat.
') Eph. 4, 16, Vallarsi VII, 619 und Contra Rufin. I, 26; Vallarsi ist
allerdings bereit, ihm dies zu glauben s. Anm. 6, S. 619.
") Eph. 1, 4, Vallarsi VII, 550.
•') Eph. 5, 6, Vallarsi VII, 644.
') Eph. 4, 1, Vallarsi VII, 606.
^) Eph. 2, 7; Eph. 1, 23; Eph. 4, 26 etc.
^) Eph. 4, 10, Vallarsi VII, 614 nee statim ista dicentes locum alteri
haeresi damus, quae dimidiatam Christi asserit dispensationem, sed sie
unum et Dei et hominis filium confitemur, ne dispensationem assumti
hominis, qua salvati sumus, ex parte credentes, in parte truncemus.
Die ersten Jahre im Kloster zu Betiilehem. 41
läßt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Er nennt ihn
innerhalb des Kommentars an keiner Stelle. Vielleicht hat er
ihn als das Werk eines noch lebenden Theologen nicht in so
ausgiebiger Weise wie die Kommentare des Origenes und
Apollinaris zu benutzen gewagt.
Der Brief ist nach Hieronymus an die Epheser gerichtet.
Daß ihn Marcion nach Laodicea adressiert sein läßt, davon
scheint er trotz der Benutzung des Origenes nichts zu wissen.
Dagegen ist ihm die Lesart in Eph. 1, 1 bekannt: Sanctis
Omnibus, qui sunt.') Paulus schrieb den Brief als Gefangener
um des Zeugnisses Christi willen von Rom aus.') Er hatte
von Jerusalem bis Illyrikum das Evangelium gepredigt, war
dann nach Rom gegangen und entweder schon in Spanien ge-
wesen oder beschloß, dorthin zu reisen.^) Paulus beschäftigt
sich in dem Briefe besonders ausführlich mit den Engeln und
Dämonen. Dies hat darin seinen Grund, daß in Ephesus
der Götzendienst und die Zauberei in höchster Blüte standen.')
Auch in diesem Kommentar hat Hieronymus die Diffe-
renzen der griechischen und lateinischen Handschriften genau
registriert und Korrekturen der altlateinischen Übersetzung
vorgeschlagen. ') Im ganzen ist der Kommentar ziemlich
trocken geschrieben, nur bisweilen zeigt Hieronymus seine
glänzenden schriftstellerischen Gaben. Mit hoher Schönheit
>) Eph. 1, 1, Vallarsi VII, 545.
2) Eph. 6, 20 und Eph. 3, 1—4, Vallarsi VII, 682.
") Eph. 3, 13, Vallarsi VII, 596.
*) Praef. ad lib. I Eph., Vallarsi VII, 541.
^) Eph. 1, 6, Vallarsi VII, 553; Eph. 1, 10, Vallarsi VII, 556 statt
instaurare recapitulare; Eph. 1, 14 pignus für äQoaßfov; ne^inoiiiai^ iä.\?,c\\-
lich mit adoptio wiedergegeben, es muß acquisitio oder possessio heißen;
Eph. 2, 16 übersetzen einige Lateiner i^v avm seil, in cruce fälschlich mit
semetipso. Eph. 3, 7, Vallarsi VII, 592. Eph. 3, 13 liest der Lateiner
deficiatis, Vallarsi VII, 597; Eph. 3, 15, Vallarsi VII, 559; Eph. 4, 16,
Vallarsi VII, 620: haec apud nos obscuriora sunt, quia lurafpootHcTig dicuntur
in Graeco; Eph. 4, 19, Vallarsi VII, 621: ujriiÄytjKÖrFs übersetzt der La-
teiner falsch mit desperantes semetipso, besser wäre indolentes sive indo-
lorios; Eph. 4, 27, Vallarsi VII, 629 über die Lesarten Belial und Beliar;
Eph. 5, 22, Vallarsi VII, 654: Vom Lateiner ist hinzugefügt subditae sint;
Eph. 5, 31, Vallarsi VII, 659: Im Text von Matth. 5, 12 fügen einige
Codices sme causa zu.
42 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
hat Hieronymus das Bild des Apostels gezeichnet: Paulus
war ein Mensch von scharfem und durchdringendem Geist.
Er stand auf dem Schiff, führte das Steuer und brach die
schäumenden Fluten der Häresie durch die Sicherheit seines
Glaubens. Doch nicht ohne Sorge und Angst sah er, wie
die Winde hier und dorthin wehten, und besorgt horchte er
auf und überwand die Gegensätze. Aber nicht leicht ward
ihm der Sieg. Er sah, daß die Worte und Gründe der Gegner
nicht leicht überwunden werden konnten, mit denen sie die
Wahrheit zugrunde zu richten suchten. Und weil er ihre
dialektischen und teuflischen Künste erkannte, darum setzte er
seine ganze Hoffnung auf Gottes Hilfe. Von Gott hoffte er,
daß er allen Zweifel aus seinem Geist vertreibe, ihn in der
Wahrheit festige und die Liebe Christi in ihm mehre, von
dem er gewiß war, daß er sein und der ganzen Kirche
Haupt sei. ')
Auch in dem Epheserkommentar hat Hieronymus gelegent-
lich praktische Exegese mit bezug auf die Mißstände seiner
Zeit getrieben. Er eifert gegen den Kirchengesang, bei dem
die Psalmensänger nach Art der Tragöden ihre Kehle und
Schlund mit einer süßen Medizin beschmieren, so daß man
in der Kirche theatralische Rhythmen zu hören bekommt.') Das
Wort des Apostels: Erzieht eure Söhne in Zucht und Ver-
mahnung des Herrn, mögen sich die Bischöfe und Presbyter
ad notam nehmen, die ihre Söhne in der weltlichen Wissenschaft
unterrichten, sie Komödien lesen und die schimpflichen Werke
der Schauspieler singen lassen, wobei die Erziehungskosten
vielleicht aus geistlichen Mitteln bestritten werden. Was als
Sühnegeld für eine Sünde eine Jungfrau oder eine Witwe,
die ihre ganze Habe darbrachte, oder sonst ein Armer für die
Kirchenkasse geopfert hat, das erhält so der Grammatiker oder
Rhetor als Neujahrsgeschenk, als Geschenk bei den Satur-
nalien oder als Minerval') und verwendet es zum häuslichen
Verbrauch oder sogar als Gabe für einen heidnischen Tempel
>) Eph. 4, 15, Vallarsi VII, 617.
2) Eph. 5, 19, Vallarsi VII, 652.
') Geschenk, das der Schüler dem Lehrer beim Eintritt in die Schule
brachte, bestehend aus Eßwaren, Tert., de idol. c. 10 s. Georges II, 822.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 43
oder eine schmutzige Hure.') Obwohl Hieronymus das Beugen
der Kniee in Eph. 3, 14 im geistlichen Sinne mit Origenes
verstanden wissen will, verwahrt er sich doch entschieden
dagegen, daß er damit der christlichen Sitte, Gott mit
gebeugten Knieen anzubeten, entgegentreten wolle.") Überaus
interessant ist auch die Erörterung, die Hieronymus an das
Apostelwort knüpft, daß die Frau ihren Mann fürchten soll.
In dem Zeitalter der Decadence, in dem er lebt, schienen ihm
gewiß nicht mit Unrecht die Frauen im allgemeinen den Männern
in sittlicher Beziehung weit überlegen. Die Frauen verstehen
noch dem Hauswesen vorzustehen, die Kinder zu erziehen, die
Sklaven in Disziplin zu halten, während die entnervten Männer
nur noch schwelgen und Hurerei treiben. Ob daher nicht die
Frauen die Männer regieren müssen, statt sie zu fürchten,
will er dem Urteil des Lesers überlassen.'')
Für die theologischen Überzeugungen des Hieronymus bietet
der Kommentar wenig Ausbeute. Nur betont er auch hier wie
im Galater- und Philemonkommentar im Anschluß an Origenes
energisch die menschliche Willensfreiheit: Gott will, daß alle
gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.
Aber weil niemand ohne seinen eigenen Willen gerettet wird
— denn wir haben einen freien Willen — , so will Gott, daß
wir das Gute wollen, so daß, wenn wir gewollt haben, er
selbst an uns seinen Rat erfüllen kann.') Der freie Wille des
Menschen wird nicht durch die Gnade aufgehoben, sondern
die Freiheit unseres Willens hat Gott selbst zum Urheber.')
Endlich sind noch die Mitteilungen des Hieronymus über
das viel diskutierte Zitat Eph. 5, 14: „Erhebe dich, der du
schläfst, und stehe auf von den Toten, und Christus wird dich
erleuchten", nicht ohne Interesse. Wer mit einer einfachen
Antwort zufrieden ist, wird sagen, daß Paulus dies Zitat aus
den verborgenen Propheten oder den sogenannten Apokryphen
entnommen habe, nicht um die Apokryphen damit zu billigen,
') Vaüarsi VII, 666.
2) Vallarsi VII, 599.
8) Eph. 5, 33, Vallarsi VII, 662.
*) Eph. 1, 11, Vallarsi VII, 558.
") Eph. 2, 9, Vallarsi VII, 577.
44 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
sondern wie er Verse des Aratus, Epimenides und Menander
gebraucht hat. Hat er doch auch bei der Predigt in Athen
die Inschrift eines heidnischen Altars verwandt; nur lautet
diese nicht, wie Paulus sagt, dem unbekannten Gott, sondern
den Göttern Asiens, Europas, den unbekannten und fremden
Göttern. Hieronymus behauptet nun, alle Editionen der alten
Schriften und die Werke der Hebräer genau durchforscht und
das Zitat nirgends gefunden zu haben. Er erklärt es sich daher
so, daß der Apostel, ähnlich wie die Propheten voll heiligen
Geistes, plötzlich in die Worte, die Christus über sich spricht,
ausgebrochen sei: „Dies sagt der Herr". Er gibt dann noch
eine Erklärung, die er einmal in der Kirche gehört habe und
die vielleicht auf seinen Lehrer Gregor von Nazianz zurück-
geht.') Der Prediger sagte: Das Zeugnis bezieht sich auf
Adam, der auf Golgatha begraben ist, wo der Herr gekreuzigt
wurde. Als der Herr auf Golgatha über dem Grabe Adams
gekreuzigt wurde, erfüllte sich die Prophetie: Stehe auf, Adam,
der du schläfst, und erhebe dich von den Toten, und Christus
wird dich berühren, weil durch die Berührung mit dem Blut
Christi und seinem herabhängenden Leib Adam belebt wurde
und sich erhob.') Hieronymus bezeugt, daß diese Auslegung
von dem Volk mit Beifall und Klatschen aufgenommen wurde;
er selbst hält sie aber für nicht dem Kontext entsprechend.
Nach dem Epheserkoqimentar nahm Hieronymus den
Tituskommentar in Angriff. Wenige Monate waren erst seit
der Vollendung des Galaterkommentars vergangen, aber seine
Absicht, alle Paulinen zu kommentieren, drängte ihn zur Eile.')
Daß er gerade den Titusbrief kommentierte, hatte wohl darin
seinen Grund, daß unter den Pastoralbriefen allein von diesem
ein Kommentar des Origenes vorhanden war. Hieronymus
hat sich in diesem Kommentar, sowohl in der Einleitung wie
im Kommentar selbst, völlig über die von ihm benutzten Werke
ausgeschwiegen. Daß er solche benutzt hat, erhellt aus einer
Reihe von Stellen, in denen er verschiedene Ausleger anführt,
') Auch zu Eph. 5, 32 bringt er eine mündliche Erklärung Gregors bei.
*) Es ist hier die Lesart iini/Hii'nn, nicht iTTK/arrin vorausgesetzt; s.
Hieronymus ad Matth. 27, 33, Vallarsi VII, 232; ep 46, 3, Vallarsi I, 199.
«) Tit. 1 11 Vallarsi VII, 704.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 45
ohne jedoch ihre Namen zu nennen. So berichtet er z. B., daß
einige das Zitat Tit. 1, 12, das nach seiner Meinung der Schrift
des Epimenides über die Orakel entstammt, aus dem Werke
des Cyrenäers Callimachus über den Preis des Jupiter ableiten,
wo es sich aber nur unvollständig wiederfindet. Einige machen
auch dem Apostel wegen der Benutzung eines falschen Lehrers
Vorwürfe, aber Paulus billigt nicht mit der Zitation von Versen
aus den Phaenomena des Aratus oder den Komödien des Menander
die Werke dieser heidnischen Autoren, so wenig wie hier den
Epimenides. Dann müßte man auch das apokryphe Henochbuch
für kanonisch halten, weil es der Apostel Judas einmal zitiert.')
Daß Hieronymus hier wie in den anderen Kommentaren
Origenes benutzt hat, läßt sich noch durch Vergleich mit den
spärlichen Fragmenten des Origeneskommentars erweisen.-)
Ob und welche Kommentare Hieronymus außerdem benutzt
hat, läßt sich nicht mehr feststellen.
In der Vorrede zum Kommentar, den er wie die früheren
Paula und Eustochium zueignete, will Hieronymus wissen, daß
Tatian einige paulinische Briefe verworfen, aber den Titusbrief
für echt gehalten habe, während Marcion und Basilides sämt-
liche Pastoralbriefe und den Hebräerbrief zurückgewiesen und
aus den übrigen Paulinen das ihnen Mißfällige getilgt hätten.
Zahn') wird Recht haben, wenn er diese konfusen und un-
») Tit. 1, 12, Vallarsi VII, 705 ff.; s. Tit. 3, 3 ff., Vallarsi Vll, 732;
Tit. 1, 16, Vallarsi VII, 713; Tit. 1, 6, Vallarsi VII, 697.
^) s. Harnack, Altchristliche Literaturgeschichte I, 375, wo die fünf
Fragmente aus der Apologie des Pamphilus und ein Zitat aus Barsanuphius
registriert sind. Besonders deutlich ist die Berührung des dritten Fragments
mit Hieronymus Tit. 3, 11, Vallarsi Vll, 738, wo er im Anschluß an
Origenes eine Definition von Schisma und Häresie gibt; s. auch Tit. 1,4,
Vallarsi VII, 691.
') Zahn, Forschungen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons,
I, 6. Von Basilides wissen wir nicht, daß er die Pastoralbriefe abgelehnt
hat. Die Mitteilung des Eusebius findet sich Eus. h. e. IV, 29, 6; s. dazu
Jülicher, Einleitung ins Neue Testament, S. 301. Exegesen des Tatian
zu Paulusbriefen finden sich bei Clemens Alex. -Harnack glaubt mit
Sicherheit aus unserer Stelle schließen zu können, daß Tatian die Briefe
an Timotheus verworfen hat; s. Altchristliche Literaturgeschichte II, 491. Er
beruft sich auf Clem. Strom II. 11,52, wo aber nur allgemein von einer Ver-
werfung der Briefe an Timotheus durch Häretiker die Rede ist.
46 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
bestimmten Angaben auf Reminiszenzen an Eusebius, der von
einer Rezension der Paulusbriefe durch Tatian berichtet, und
auf irgend eine vermutlich durch den Origeneskommentar ihm
zugekommene Exegese des Tatian zum Titusbrief zurückführt.
Den Titusbrief läßt Hieronymus von Nikopolis aus ge-
schrieben sein, das, am Gestade von Actium gelegen, nach
dem Siege des Augustus über Antonius und Kleopatra seinen
Namen erhalten hat.') Der Adressat ist Titus, der Schüler des
Paulus, den er zur Belehrung der Kreter dort zurückgelassen
hatte. Er war, wie Hieronymus aus Tit. 2, 6 schließt, jung-
fräulich geblieben.-) Daß er Bischof auf Kreta gewesen sei,
berichtet er nicht, während er den Apollos zum Bischof
von Korinth macht. ) In welche Zeit des Lebens Pauli der
Brief gehört, darüber hat Hieronymus keine Reflexionen an-
gestellt.
Auch dieser Kommentar bietet wieder, wie die anderen,
eine Reihe textkritisch ') und sprachgeschichtlich wichtiger
Bemerkungen. So hat er sich z. B. um die Bedeutung des
griechischen Wortes jieqiovöio^ Tit. 2, 14 bemüht. Er be-
hauptet, daß ihm auf Anfrage bei den Grammatikern keine
Stelle aus der profanen Literatur nachgewiesen werden konnte.
Er hat dann die LXX, Aquila, Symmachus, Theodotion und
die Quinta zur Erklärung herangezogen und es im Sinne von
egregius gedeutet. In demselben Sinne glaubt er auch im
Herrengebet fl;r/o(''rj<05= egregius verstehen zu müssen, d. h. das
ausgezeichnete Brot, welches vom Himmel herabkommt.
Scharf lehnt er die Deutung von tmovöiog = crastinus ab, da
den Christen verboten sei, an den morgigen Tag zu denken.
In der Auslegung des Buches tritt uns des öfteren ein
auch sonst dem Hieronymus eigener Lieblingsgedanke ent-
gegen. Er tritt für den Bund der Wissenschaft und Frömmig-
') Tit. 3, 12, Vallarsi VII, 738.
') Vallarsi VII, 720.
») Tit. 3, 13, Vallarsi VII, 739.
*) Tit. 1, 9; Tit. 1, 10; Tit. 2, 15; Tit. 3, 10, Vallarsi VII, 737: der
Grieche liest: haereticum hominem post imam correptionem devita, der
Lateiner: post unam et alteram correptionem, quod verum papa quoque
Athanasius approbabat; Tit. 3, 15, Vallarsi VII, 740.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 47
keit ein. Es gibt Wissenschaften wie die Geometrie, Arith-
metik und Musik, die in ihrer Wissenschaft die Wahrheit
haben, aber mit der Frömmigkeit nichts zu tun haben. Und
es gibt andererseits solche, die die wahre Erkenntnis der
Frömmigkeit haben, aber von der Wahrheit der weUlichen
Wissenschaften nichts wissen.') Mit dem Apostel fordert er
von den Bischöfen, daß sie fromm und gelehrt sind, nicht faul
und verschlafen, es nicht für Sünde halten die 'heiligen Schriften
zu lesen und nicht die als Schmäher und Lumpen verachten,
die über das Gesetz Gottes Tag und Nacht nachdenken.') Der
Brief mit seinen praktischen Ermahnungen mußte Hieronymus
besonderen Anlaß zur Beleuchtung des kirchlichen Lebens
seiner Zeit geben. Und da seinem kritischen Blick nicht leicht
etwas entging, was in der Kirche faul und ungesund war,
so enthüllt uns sein Tituskommentar schärfer als die früheren
Kommentare manche kirchlichen Schäden seiner Zeit. Die
Bischöfe sollen es sich merken, daß sie nach Verdienst und
nicht nach Gunst die Presbyter einsetzen: „Aber jetzt sehen
wir, daß die meisten dieses Recht mißbrauchen, daß sie nicht
die zu Säulen der Kirche aufzurichten suchen, welche der
Kirche mehr nützen können, sondern für die sie selbst eine
Vorliebe haben, oder durch deren Gefälligkeit sie geködert
sind, oder für die ein Vornehmer ein gutes Wort eingelegt
hat und, um das Häßlichste nicht zu verschweigen, die durch
Geschenke ihr Klerikeramt erlangen." Hieronymus erinnert dann
die Bischöfe daran, daß ursprünglich Bischof und Presbyter
identisch waren, und daß anfänglich die Kirchen durch den Rat
der Presbyter geleitet wurden. Erst als in den Kirchen Schismata
entstanden, sei ein monarchischer Bischof aus dem Kreise der
Presbyter zur Leitung der einzelnen Kirchen erhoben worden.")
Für diese Theorie über die Entstehung des monarchischen
Episkopats, die Hieronymus auch in einem Briefe an Evangelus
wiederholt und des weiteren begründet, beruft er sich auf die
Schriftstellen wie Philipp. 1, 1, Act. 20, 28, Hebr. 13, 17 und
1) Tit. 1, 2, Valiarsi VII, 6y0.
2) Tit. 1, 9, Valiarsi VII, 704.
3) Tit. 1, 5, Valiarsi VII, 694 ff.
48 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
1. Petr. 5, 1.') Er zieht aber auch eine praktische Folgerung
daraus, die nicht ohne Spitze gegen den Episkopat ist: Die
Presbyter sollen wissen, daß sie nach Gewohnheitsrecht der
Kirche dem Bischof unterstellt sind, aber die Bischöfe sollen
bedenken, daß sie mehr durch Gewohnheitsrecht als durch
göttliche Anordnung über den Presbytern stehen.
Daß die Bischöfe, die verheiratet sind, sich des ehelichen
Umgangs enthalten, ist ihm eine selbstverständliche Voraus-
setzung.') Dagegen entwickelt er eine eigentümliche Ansicht
über die Forderung des Paulus, daß nur ein Monogamer
Bischof werden könne. Der in der Einehe lebende sei nicht
immer besser, als der, welcher zwei Frauen gehabt habe; denn
wenn der letztere beide Frauen früh verloren habe, so hätte
er enthaltsamer gelebt als der, welcher bis ins Greisenalter
in ehelicher Gemeinschaft stand. Doch könne allerdings nur
der zur Monogamie ermahnen, welcher selbst monogam iebe.
Die Beziehung auf das Verbot der Polygamie, die nach jüdischer
Sitte erlaubt war, lehnt er ab. Dann aber stellt er die merk-
würdige Forderung auf, daß der als Monogamer und deshalb
als fähig zur Bekleidung eines Priesteramts zu gelten habe,
welcher als Heide eine erste Ehe und als Christ eine zweite
Ehe geschlossen habe. Die erste Ehe, die er als Heide ge-
schlossen hat, wird durch die Taufe gleichsam abgewaschen.
Auch später in einem Briefe an Oceanus verteidigt er diese
Ansicht; aber die kirchlichen Autoritäten, wie der römische
Bischof Siricius, Ambrosius und Augustin wandten sich gegen
diese gewundene Beweisführung, und ihre Stellungnahme,
wonach nur ein Monogamer die Priesterweihe erhalten durfte,
wurde Kirchenrecht.') Heftige Klage erhebt er auch gegen
die Bischöfe, die die Pflicht der Gastfreundschaft vernach-
lässigen und gastfreundliche Laien aus Eifersucht exkom-
») Ep. 146, Vallarsi I, 1074, s. L.Sanders, Etudes sur St. Jerome 1903,
S. 296 ff. de la distinction entre episcopes et presbytres, hier die umfang-
reiche Literatur, die sich mit dieser Frage beschäftigt.
*) Tit. 1, 9, Vallarsi VII, 712.
^) Ep. 69, 2, Vallarsi I, 410. Der Erlaß des Siricius ad Himerium
Tarracon. epis. c. 10 und 11 vom 11. Februar 385 bei Hardouin, Collectio
Concil. 1, 847.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 49
munizieren und aus der Kirche herauswerfen.') Im Anschluß
an die Ermahnung des Apostels, daß der Bischof kein Wein-
säufer sein solle, entwirft er mit grellen Farben ein Bild von den
wilden Orgien seiner Zeit. Die einen werfen in der Trunken-
heit mit Bechern als Geschossen und gießen den Inhalt den
anderen ins Gesicht; die anderen schreien, wieder andere
schlafen. Sie speien aus, um trinken zu können, und sie
trinken, um auszuspeien. Als persönliches Bekenntnis fügt er
dem hinzu, daß, wenn er einmal die Abstinenz unterbrach —
wir dürfen uns also in dieser Beziehung von der asketischen
Strenge des Hieronymus keine übertriebene Vorstellung
machen — , es ihm stets geschadet, und wenn er sie wieder
aufnahm, stets genützt habe.') Ein eigentümliches Schlaglicht
auf die sittlichen Zustände in der Kirche, wie sie durch die
Forderung der geschlechtlichen Enthaltsamkeit des Klerus
sich herausbildeten, wirft auch die Bemerkung des Hierony-
mus, doch ja die Forderung des Apostels zu beachten, die
jungen Frauen in aller Liebe zu ermahnen, da es häufig vor-
komme, daß unsere Liebe zu einer Jungfrau oder Frau zuerst
heilig beginne, allmählich aber sinnlich ausgehe.^) Vielleicht
dürfen wir auch in diesem Wort den Niederschlag innerer
Kämpfe sehen, die seiner sinnlichen Natur das Verhältnis zu
seinen römischen Freundinnen bereitet hatte.
Nach Vollendung seines Tituskommentars wandte sich
Hieronymus alttestamentlichen Auslegungsschriften zu. Der
Grund dafür ist wohl einmal darin zu sehen, daß sein beweg-
licher Geist gern ein neues Arbeitsgebiet in Angriff nehmen
wollte; dann aber entging er auch, was bei einer Fortsetzung
der Kommentierung der Paulinen eintreten mußte, der Nötigung,
selbständig zu Werke gehen zu müssen. Bisher hatte er die
Kommentare des Origenes benutzen können; zu den Briefen an
Timotheus fehlte aber eine solche griechische Vorlage, die ihm
seine Arbeit erleichterte. Endlich hatte Hieronymus während der
ersten Jahre seines bethlehemitischen Aufenthalts seine Kennt-
nisse in der hebräischen Sprache bereichert und vertieft; und
') Tit. 1, 9, Vallarsi VII, 112.
2) Tit. 1, 7, Vallarsi VII, 700.
») Tit. 2, 2, Vallarsi VII, 715.
Orützniacher, Hieronymus. II. 4
50 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
für ihn, der es verstand, sein Licht vor den Leuten leuchten
zu lassen, war im Alten Testament ein fruchtbares Arbeits-
gebiet gegeben.
§ 30.
Die hebräischen Studien des Hieronymus und seine
ersten alttestamentlichen Auslegungsschriften.
Während seines Aufenthalts als Einsiedler in der Wüste
Chalcis hatte Hieronymus bei einem Judenchristen das Studium
der hebräischen Sprache begonnen.') Nach seiner Nieder-
lassung im Heiligen Lande setzte er es mit Eifer fort. Gegen
hohes Honorar nahm er bei dem Juden Bar Anina Unterricht,
der aber Hieronymus aus Furcht vor seinen Glaubensgenossen
nur des Nachts aufzusuchen wagte.') Rufin beschuldigte des-
halb in boshafter Weise den Hieronymus, daß er für diesen
Barrabas Christus verraten habe, indem er die jüdische Weis-
heit der christlichen vorziehe. ') Aber auch mit anderen jüdischen
Christen trat er in Verbindung. Schon in seinen neutestament-
lichen Kommentaren hatte Hieronymus mehrfach von ihm durch
jüdischeGelehrte zugekommenen Mitteilungen Gebrauch machen
können.') Mit einem Juden, der vorgab in Rom Christ geworden
zu sein, disputierte er über die Differenzen der Genealogien nach
Matthäus und Lukas. Ihm imponierte die genaue Schrift-
kenntnis und das unglaubliche Gedächtnis der Juden, die, vom
') s. Band I, 160.
*) Ep. 84, 3, Vallarsi I, 520; Rahmer, die hebräischen Traditionen in
den Werken des Hieronyiiuis, Quaestiones in Oenesin, Breslau 1861 S. 8,
Anni. 4 hat die Identifikation des Bar Clianina mit einem Haggadisten, der
in Lydda lebte, wahrscheinlich gemacht.
=>) Rufin, Contra Hier. II, 12, Vallarsi II, 642; Hier. Contra Rufin. I, 13,
Vallarsi II, 469.
*) Gal. 3, 14, Vallarsi VII, 436; die Übersetzung von Deut. 21, 23,
s. Zahn, Geschichte des neutest. Kanons II, 649, Anm. 1.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 51
Kindesalter an in der Heiligen Schrift unterrichtet, alle Genealogien
von Adam bis Zorobabel und alle Zahlen des Alten Testaments
auswendig hersagen können. Aber er tröstet sich dieser Über-
legenheit gegenüber damit, daß die Christen mehr auf
den Sinn als die Worte ihr Augenmerk richten.') Je länger
je mehr wurde er sich auch der großen Schwierigkeit bewußt,
die einem Lateiner bei der Aussprache des Hebräischen ent-
gegenstehen. Wenn wir einen Akzentfehler machen, kurze
Silben lang oder lange kurz aussprechen, so pflegen die Juden
über uns zu lachen, besonders auch bei der Aussprache der
Aspiraten und Gutturalen. Daher kommt es, daß die LXX
die Buchstaben n und >, weil es keine doppelte Aspiration
im Griechischen gibt, mit anderen Buchstaben ausdrücken und
statt Rahel, Rachel, statt Jeriho, Jericho usw. schreiben. Bei
anderen Buchstaben läßt sich dies aber nicht machen, da die
Juden drei verschiedene S haben, während die Lateiner und
Griechen nur ein S haben. Der Aussprache halber hat
Hieronymus die Hexapla zu Rate gezogen, von der er sich
aus der Bibliothek von Cäsarea eine Abschrift fertigen ließ,
weil hier in der zweiten Kolumne das Hebräische mit
griechischen Buchstaben wiedergegeben war. Der Arbeit
dieses unsterblichen Genies — so bekannte Hieronymus —
verdanken wir es, daß wir nicht so sehr den Hochmut der
Juden fürchten, die an den geöffneten Lippen, der verdrehten
Zunge, dem zischenden Speichel und der rauhen Kehle ihre
Freude haben.') Hieronymus glaubte aber nicht ausgelernt
zu haben, nachdem er sich in der hebräischen Sprache hatte
unterweisen lassen. Er hatte die richtige Empfindung, daß
die Christen für das sprachliche Verständnis des Alten Testa-
ments auf die jüdischen Rabbinen angewiesen seien. Für die
Erklärung des schwierigen Buches Hiob zog er daher noch
später einen Mischnahlehrer aus Lydda heran, der sich wie
Bar Anina seine Dienstleistungen mit schwerem Golde auf-
wiegen ließ.) Und als er das Buch Tobia übersetzte, mußte
») Tit. 3, 9, Vallarsi Vli, 736; Tit. 2, 13, Vallarsi Vil, 726.
2) Tit. 3, 9, Vallarsi VII, 735.
3) Praef. in Job., Vallarsi IX, 1100: Comm. in Habacuc 2, 15, Vallarsi
Vi, 623, Amos 3, 11; Nahum 1, 9 und 2, 18; Zach. 14, 10; Maleachi 2, 13.
52 Die ersten Jahre, im Kloster zu Bethlehem.
ihm ein Jude oder Judenchrist helfen, der gleichmäßig des
Hebräischen und Aramäischen kundig war.') Auch bei seinem
ersten alttestamentiichen Kommentar zum Prediger, den er
jetzt in Angriff nahm, stand ihm ein Hebräer beratend zur
Seite.
Vor fünf Jahren hatte er den Prediger Salomonis in Rom
mit Bläsilla gelesen, als sich die junge Witwe einem asketischen
Leben weihte. Hieronymus hatte wohl die Lektüre dieses
Buches gewählt, um ihr die Eitelkeit der Welt und ihrer Lust
vor Augen zu stellen. Auf ihre Bitte hatte er dann einen
Kommentar zu schreiben begonnen. Da trat ihr plötzlicher
Tod ein. Dem Andenken der früh Dahingeschiedenen, ihrer
Mutter Paula und ihrer Schwester Eustochium ist der Kom-
mentar gewidmet.
In der Vorrede bemerkt Hieronymus ausdrücklich, daß
er keiner Autorität gefolgt sei, sondern selbst aus dem
Hebräischen übersetzt habe. Nur die LXX habe er berück-
sichtigt, wo sie sich nicht zu weit vom hebräischen Texte
entfernen, und gelegentlich Aquila, Symmachus und Theodotion
herangezogen.') Man könnte nun hieraus entnehmen, daß
Hieronymus zum ersten Male in vollständiger Unabhängigkeit
von früheren Exegeten gearbeitet habe."*) Dem ist aber keines-
wegs so. Das Verdienst des Hieronymus besteht nur darin,
daß er den ins Lateinische übersetzten hebräisciien Text seiner
Exegese zugrunde gelegt hat. hn übrigen hat er hier wie
sonst die Arbeiten älterer Ausleger benutzt, hn Kommentar
verrät er seine Bekanntschaft mit Kommentaren zum Prediger,
die von Origenes, Apollinaris von Laodicea, Gregorius
Thaumaturgus und Viktorin von Pettau stammen.') Da uns
diese Werke mit Ausnahme der Metaphrasis des Gregorius )
') r^raef. in Mb. Tdbiae, Vallarsi X, 3 u. 4.
■-') Praef. in Eccl., Vallarsi VII, 381.
') s. Zöckler, Hieronymus S. 166.
••) Die vier Kommentatoren zitiert er Eccl. 4, 13, Vallarsi Vli, 424,
wobei er die Auslefjun<2[en des Gregorius in metaphrasi ecclesiasticae und
des Apollinaris wörtlich wiedergibt. Eccl. 12, 5 erwähnt er noch den
Apollinaris und macht die Mitteilung, daß dieser dem Text des Symmachus
folge, Vallarsi VII, 491.
^) Das Werk, das auf uns gekommen ist, enthält auch das Zitat des
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 53
fast vollständig verloren sind,') so läßt sich die Abhängigkeit
des Hieronymus nicht genauer kontrollieren. Nur die Be-
nutzung des Origenes ist durch den ganzen Kommentar hin-
durch deutlich zu erkennen.) Gleich im Eingang des Kom-
mentars begegnet uns eine auf Origenes zurückgehende Ein-
teilung der salomonischen Schriften: die Proverbien sind für
die Kinder, der Prediger für das Mannesalter, das Hohelied
für das Greisenalter bestimmt und verhalten sich wie Ethik,
Physik und Logik in der Philosophie zu einander.^) Zu
Eccl. 1,6 gibt er die Deutung des Origenes, der die Gestirne
als beseelte Wesen auffaßt, ohne eine Kritik daran zu knüpfen.
Später hat er behauptet, daß er im Kommentar zum Prediger
seinen Dissensus gegenüber dieser Heterodoxie des Origenes
für „die Klugen" deutlich zum Ausdruck gebracht hätte.') Er
hat hier einmal wieder der Wahrheit nicht die Ehre gegeben.
Auch der Klügste konnte aus dem Kommentar nicht ent-
nehmen, daß er diese Annahme des Origenes mißbillige.
Überall, wo er Origenes in seinem Kommentar benutzt und
von der Präexistenz der Seelen, von ihrem vorzeitlichen
Sündenfall, ihrer Einkerkerung in die Leiber und ihrer end-
lichen Beseligung handelt, ) verhält er sich rein referierend.
Auch die Polemik gegen Marcion und die tropologische Aus-
legung von Eccl. 7, 27, die unter den Männern die Gedanken,
Hieronymus und erweist sich dadurch als echt, s. Bonwetsch, Oregorius
R. C.3 VII, 157; Harnack, Altchristi. Literaturgeschichte I, 430.
') Von Apollinaris sind bisher keine Bruchstücke seines Kommentars
veröffentlicht, vielleicht stecken sie noch in den ungedruckten Catenen,
Krüger, Apollinaris R. E.^ I, 673; auch von Victorin ist nichts erhalten,
s. Harnack, Altchristi. Literaturgeschichte 11, 732. Die Auslegung des
nicht genannten beredten Mannes Eccl. 3, 5 u. 7, 14, Vallarsi lil, 409
u. 442 geht vielleicht auf Gregor von Nazianz zurück.
-) Von Origenes existieren noch drei unbedeutende Fragmente
Gallandi, Bibl. patr. XIV, Appendix S. 30 zu Eccl. 3, 3; 3, 7 u. 3, 16 u. 17,
die sämtlich von Hieronymus benutzt sind, s. Harnack, Altchristi. Literatur-
geschichte I, 358 u. 404.
3) Eccl. 1, 1, Vallarsi III, 384; ep. 30, 1, s. Vallarsi III, 389, Anm. e
u. Zöckler S. 167.
*) Vallarsi III, 383; Contra Johannem Jeros. c. 17, Vallarsi II, 423.
'=) Eccl. 1, 9, Vallarsi III, 391; er zitiert hier jreQi ägyöjv lib. III, c. 5,
s. ep. 124, 9; Eccl. 4, 3 u. 6; 6, 10; 8, 12; 9, 4; 12, 6.
54 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
unter den Weibern die Werke versteht, geht auf Origenes
zurück.')
Neben den griechischen und lateinischen Auslegern hat
aber auch Hieronymus sehr ausgiebig aus der Quelle der
Hebräer geschöpft. Sein Hebräer hat ihm die zeitgenössische
Auslegung des Predigers, wie sie die Rabbinen übten, ver-
mittelt. Dies gibt seinem Kommentar einen besonderen Wert.
Hieronymus weiß, daß unter den Juden Kontroversen über
die Aufnahme des Predigers in den Kanon bestanden. Einige
fürchteten, daß das Buch geradezu zum Oenußleben anreizen
könnte, und sie wollten seine Aufnahme in den Kanon nur
mit dem letzten Kapitel entschuldigen, in dem die Gottesfurcht
und das Bewahren der göttlichen Gebote eingeschärft würde. ')
Einmal nannte er seine jüdische Autorität. Zu Eccl. 4, 13;
„Besser ist ein armer und weiser Knabe, als ein reicher und
törichter König" hat ihm sein Hebräer die Auslegung des
berühmten Rabbinen Ben Akiba mitgeteilt, der die Stelle auf
den inneren Menschen, der nachdem 14. Jahre in uns geboren
wird, im Gegensatz zu dem äußeren Menschen, der aus dem
Mutterleibe hervorgeht und vom Laster nicht lassen will,
bezog.')
Die Exegese der Rabbinen zum Prediger, in die uns
Hieronymus einen Blick tun läßt, ist nun um nichts besser
als die Exegese der Kirchenväter. Auch sie allegorisieren in
der kühnsten und geschmacklosesten Weise. Die Flüsse, die
wieder an ihren Ort zurückkehren, sind die Menschen, die
wieder zu Staub werden.') Der Gerechte, der in seiner Ge-
rechtigkeit untergeht, und der Gottlose, der lange lebt in seiner
Bosheit, wird auf die Söhne Aarons und Manasses bezogen;')
das Wort des Predigers: Wolle nicht zu gerecht sein, auf Saul,
der Agag schonte.") Unter dem lebenden Hund, der besser
') Eccl. 11, 2, Valiarsi 111, 4S0, Vallarsi 111, 448, s. auch Tit. 1, 6,
Vallarsi VII, 699.
«) Eccl. 1, 1, Vallarsi VII, 385; Eccl. 12, 13, Vallarsi III, 496.
») Vallarsi 111, 424.
*) Eccl. 1, 7, Vallarsi 111, 389.
*) Eccl. 7, 15, Vallarsi III, 442.
«) Eccl. 7, 10, Vallarsi III, 444.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 55
als der tote Löwe ist, werden die lebenden Rabbinen, die besser
als Moses und die toten Propiieten sind, verstanden.')
Der Prediger ist nach Hieronymus ein Werk des Königs
Salomo, von dem er auch Jesus Sirach geschrieben sein läßt.
Salomo hat nach der Überlieferung der Hebräer das Buch ge-
schrieben, um Buße zu tun, weil er auf Weisheit und Reich-
tum vertrauend, Gott durch Vielweiberei beleidigt hatte.")
Interessant ist es, wie sich Hieronymus mit dem Inhalt des
merkwürdioen Buches abzufinden sucht. Einmal stellt er neben
den buchstäblichen Sinn des Buches den geistlichen Sinn,
nach dem unter dem Prediger Christus begriffen werden soll,
ohne jedoch diese doppelte Auslegung reinlich und konsequent
durchzuführen. Dann aber bereiten dem christlichen Ausleger
die Worte des Predigers große Schwierigkeiten, in denen ein
Fortleben des Menschen nach dem Tode geleugnet wird oder
mindestens dahingestellt bleibt. Die Worte: „Wer weiß, ob der
Geist der Menschenkinder aufsteigt und der Geist des Viehs
hinabsteigt" glaubt er nicht auf die Vernichtung der Seele
mit dem Körper, sondern auf die Unterwelt, in die vor der
Ankunft Christi alles in gleicher Weise herabsteigen mußte
deuten zu müssen. ) Da er dem 9. Kapitel, in dem der
Prediger zum Lebensgenuß auffordert, keinen christlichen Sinn
abgewinnen kann, verfällt er auf den Ausweg, daß hier der
Prediger gar nicht seine Meinung, sondern die Epikurs,
Aristipps, der Kyrenaiker und des „übrigen Viehs" der
Philosophen wiedergäbe, die er dann erst im folgenden wider-
lege.') Darum füge der Prediger im H. Kapitel der epikuräischen
Lebensregel „Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, und laß
dein Herz guter Dinge sein" die ernste Mahnung hinzu „aber
wisse, daß dich Gott um dies alles vor Gericht fordert".')
') Eccl. 9, 4, Vallarsi lli, 459, s. Eccl. 3, 1, Vallarsi III, 407 die Be-
ziehung auf Israel; zu Eccl. 1, 14; Eccl. 3, 9; Eccl. 5, 5; Eccl. 5, 6;
Eccl. 7, 8; Eccl. 8, 14; Eccl. 9, 13 Exegesen, die er von den Hebräern
hat; vgl. auch Eccl. 10, 4; 10, 5; 11, 2; 11, 9.
'') Eccl. 1, 12 und Eccl. 10, 8, wo er Sirach 22, 29 zitiert, Vallarsi
III, 472.
») Eccl. 3, 21, Vallarsi III, 416.
') Eccl. 9, 7ff., Vallarsi III, 461.
*) Eccl. 11, 9ff, Vallarsi III, 486.
56 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Praktische Anwendungen auf zeitgenössische VerhäHnisse
fehlen hier fast vollständig. Nur einmal führt er einen kräftigen
Hieb gegen die Bischöfe, die nach ihrem Tode in feierlicher
Leichenrede selig gepriesen werden, während sie in ihrem
Leben andere nur geärgert haben. Es ist auch schwer einen
Bischof anzuklagen, da er selbst, wenn er der Sünde überführt
ist, nicht bestraft wird.') Auch seine ewige Klage wiederholt
er über die Zungenfertigkeit in der Kirche, die nach dem
Beifall der Menge hascht, während ein wirklich gelehrter
Mann — er denkt wohl an sich — verborgen bleibt und
Verfolgungen leiden muß.) Es ist das traurige Los der Ge-
lehrten, die Tag und Nacht Bücher schreiben, daß Toren aus
ihren Büchern die Samen der Häresien entnehmen und fremde
Arbeiten verleumden. )
Nach der Vollendung des Kommentars zum Prediger
nahm Hieronymus drei Arbeiten in Angriff, durch die er hoffen
durfte, die lateinische Literatur zu bereichern, da sie bisher
nichts ähnliches besaß. Er schrieb ein Buch über die hebräischen
Eigennamen, ein zweites Buch, betitelt „Hebräische Unter-
suchungen zum Buch der Genesis", und ein drittes über die
Lage und Namen der hebräischen Örter. Die erste und letzte
Arbeit sind im wesentlichen nichts als Übersetzungen von
Werken des Origenes und Eusebius von Cäsarea. Sie
konnten von Hieronymus schnell fertiggestellt werden und
boten ihm eine willkommene Gelegenheit, seinen literarischen
Ruhm ohne große Mühe zu mehren. Die hebräischen Quästionen
zur Genesis stellen aber ein völlig neues literarisches Unter-
nehmen dar, zu dem er allein von seinen Zeitgenossen auf
Grund seiner Kenntnis der hebräischen Sprache befähigt war.
Mit der ihm eigenen Bescheidenheit hat er deshalb in der
Vorrede zu diesem Werk seine Arbeit als ein neues, sowohl
Griechen wie Lateinern bisher unbekanntes Werk ausposaunt.')
Nach der Vorrede zu dem ersten der drei genannten
Werke benutzte Hieronymus ein griechisches Onomastiken,
») Eccl. S, 10, Vallarsi 111, 454.
*) Eccl. 9, 11, Vallarsi 111, 464.
8) Eccl. 2, 21, Vallarsi 111, 405.'
*) Praef. in Onomastica sacra -ed. Lagarde S. 26.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 57
das ihm als Arbeit des Origenes überliefert war und ursprüng-
lich auf Philo zurückging. Origenes hatte das Werk des
Philo durch Hinzufügung der Verdolmetschung der neutesta-
mentlichen Eigennamen erweitert. Wir haben keinen Grund,
diese Angaben des Hieronymus zu bezweifeln, da sie durch
das Onomastikon ihre Bestätigung empfangen.')
Daß Hieronymus ein Werk des Origenes als Vorlage
hatte, beweist zunächst die Tatsache, daß er bei den neu-
testamentlichen Eigennamen am Schluß die Eigennamen des
Barnabasbriefes ebenfalls interpretiert. Da Hieronymus diesen
Brief zu den Apokryphen rechnet, so hätte er ihn sicher nicht
ohne Unterscheidung den kanonischen Büchern beigeordnet,
wenn er hier nicht einfach dem Origenes folgte, der ihn als
8. katholischen Brief in seinem Kanon hatte.') Daß aber dem
Onomastikon eine Arbeit Philos zugrunde lag, wird durch
Vergleichung mit den Erklärungen der Eigennamen in den
Werken Philos zur Gewißheit erhoben. ) Dieses Philonisch-
Origenistische Onomastikon war nach Hieronymus in den
griechischen Bibliotheken vielfach zu finden; aber die vor-
handenen Exemplare differierten stark von einander, und die
Anordnung der Namen war so verworren, daß er sich ent-
schloß, auf Zureden der Brüder Lupulus und Valerianus —
vermutlich Mönche des Klosters in Bethlehem — und um der
praktischen Brauchbarkeit des Werkes willen die biblischen
Schriften der Reihe nach durchzugehen und das ganze Material
neu zu bearbeiten. Diese Arbeit war aber im wesentlichen
formaler Natur, wie sich aus einem Vergleich mit den uns
erhaltenen griechischen Onomastika ergibt, die wohl fast
sämtlich Rezensionen oder Auszüge aus dem Origenistischen
Onomastikon sind, wenn sie auch nicht alle unter seinem Namen
überliefert sind.')
') Zahn, Geschichte des neut. K. II, Q48ff.
-) Zahn, Geschichte des neut. Kanons II, 951.
') Vallarsi III, 699ff. Libri nominum Hehraicorum pars quaenam
ex operibus Philonis Judaei collecta.
*) In den Onomastica sacra Vaticana bei Lagarde- S. 202—224 haben
wir es sicher mit Origenistischem Gut zu tun, wie die Vergleichung mit
dem Onomasticon des Hieronymus Vallarsi III, 353ff. lehrt. Es sind zum
58 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Hieronymus stellte zunächst im Eigennamenlexikon die
Ordnuno- wieder her, indem er die Namen nach den einzelnen
biblischen Büchern des Alten und Neuen Testaments und
innerhalb der einzelnen Bücher nach der alphabetischen Reihen-
folge anordnete. Diese Anordnung wird die ursprüngliche
gewesen sein, während die Zusammenstellung sämtlicher
Eigennamen aller biblischen Bücher nach dem Alphabet, wie
sie zum Teil in den griechischen Onomastica vorliegt,') der
Bequemlichkeit halber und zur Vermeidung zahlreicher Wieder-
holungen gemacht wurde.
Was die sachliche Arbeit des Hieronymus an dem
Origenistischen Onomasticon betrifft, so kann ihm der Vor-
wurf nicht erspart bleiben, daß er sich wider besseres
Wissen sklavisch an seine Vorlage angeschlossen und die
Etymologien des Origenes, der doch nur mit der dürftigsten
und äußerlichsten Kenntnis des Hebräischen ausgerüstet
war, kritiklos zu eigen gemacht hat. Obwohl er selbst
damals bereits gründlichere Kenntnisse im Hebräischen
besaß und in den Untersuchungen zur Genesis über die
Griechen spottet, die mit einem hebräischen Namen wie Sara
Teil Auszüge, die zu bestimmten Zwecken gemacht sind, wie z. B. das
erste Fragment eines Onomastikon rninivria nov ri' nj ihojTi'FvCTi.t yonipij
i'ii(prQoiiivo)i' ifioaiKihv nroiiaror, in dem sich ein Verzeichnis der zwölf
Apostel nn't 13 Namen, darunter Paulus, Matthäus, Markus, Lukas, findet;
das zweite Fragment enthält nur in den Evangelien enthaltene Eigennamen,
das dritte nur die Namen alttestamentlichcr Patriarchen, das vierte nur
weibliche, das fünfte nur männliche Namen. Am ausführlichsten ist das
alphabetisch geordnete und Lexikon betitelte Verzeichnis des Codex
Vaticanus 1456 Lagarde* S. 212, dessen Etymologien mit Hieronymus
vielfach übereinstimmen; s. Vallarsi III, 605 ff. Dagegen weichen die
Olossae Colbertiiiae Lagarde^ S. 224ff., Vallarsi III, b67 und noch stärker
das Onomasticon Coisliaiuim Lagarde-' S. 194 ff. von den Etymologien
das Hieronymus ab, so daß hier sehr fraglich ist, ob diese Onomastika
auf F^hilo-Origenes zurückgehen. Aus dem Codex Marchialanus der LXX,
der nicht nur die Hexapla, sondern auch die t6i«)i des Origenes benutzt
hat, hat E. Klostermann, Z. f. a. W. XXIII, 135—140, 1903, eine Anzahl
übersetzter Eigennamen, die sich als Randbemerkungen finden, ediert.
Sie gehen vermutlich auf Origenes zurück und die Übereinstimmung mit
dem Hieronymianischen Onomastikon ist hier eine ziemlich weitgehende.
') s. Lagarde^ S. 212 ff.
Die ersten Jalire im Kloster zu Bethlehem. 59
alle möglichen etymologischen Spielereien trieben, obwohl er
den richtigen Grundsatz aufstellt, daß man um ein einer
Sprache angehöriges Wort zu etymologisieren keine fremde
Sprache heranziehen dürfe,') schämt er sich nicht, die Ety-
mologien griechischer und lateinischer Namen des Neuen
Testaments, wie Petrus, Blastus, Archelaus, Diabolus, Ephesus,
Quadrans, Caesar, Julius, die Origenes aus dem Hebräischen
abgeleitet hatte, einfach abzuschreiben. ') Nur bisweilen
schlägt ihm sein wissenschaftliches Gewissen und er bemerkt
dann, daß diabolus richtiger nach dem Griechischen der
Ankläger, Mesopotamia das Land zwischen Euphrat und
Tigris, Theophilus der von Gott Geliebte, Areopagus der
Hügel des Mars, Eutychus der Glückliche bedeute. )
Damit man ihn aber nicht der Unwissenheit beschuldigen
kann, gibt er die summarische Erklärung ab, daß alle Namen
der Apostelgeschichte griechischen und lateinischen Ursprungs
sind und die gegebenen Etymologien nur gezwungen
aus der hebräischen Sprache abgeleitet werden können,
„wie dem Leser deutlich sein wird".^) Er verfährt aber
im einzelnen ganz willkürlich und inkonsequent. Während
er z. B. bei den Eigennamen der Apostelgeschichte wie
Alexander, Agabus, Apollonia, Athenienses, Apelles, Artemis,
Antipatris, Adrumetium, Adria, Cappadocia, Festus, ausdrücklich
auf die fehlerhafte Etymologie aufmerksam macht,') unterläßt
er es wieder bei anderen Namen aus Bequemlichkeit und
Flüchtigkeit. Gewiß war Hieronymus trotz seiner umfang-
reichen, ja in seiner Zeit einzigartigen Kenntnisse nicht im-
stande, ein fehlerloses Eigennamenlexikon zu schreiben; schon
die assyrischen, babylonischen und ägyptischen Namen mußten
ihm unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten. Vielleicht ist
') Quaest. in Gen. 17, 15, Lagarde S. 27.
^) s. J. Clericus, Quaestiones Hieronymianae, Amsterdam 171Q,
S. 396 ff.
^) Diabohis, Lagarde S. 93, Mesopotamia, Lagarde S. 103, Eutychus,
Lagarde S. 102; Theophilus, Lagarde S. 106; s. auch Lydia, Lagarde S. 103;
Andreas, Lagarde S. 99.
') Lagarde S. 101; S. 103; S. 104.
•') Lagarde S. 100 u. S. 102.
60 Die ersten Jahre im Kloster zu Betlilehem.
noch heute kein einzelner zur allseitig befriedigenden Lösung
einer solchen Aufgabe befähigt; aber Besseres, als er ge-
schaffen hat, hätte er bei etwas gründlicherer Erfassung seiner
Aufgabe leisten können. Zwar hat er an einer Reihe von
Etymologien Korrekturen angebracht,') bei anderen auf seine
hebräischen Quästionen und sein Buch über die Örtlichkeiten
verwiesen,^) in denen er diese Namen genauer behandle, bei
wieder anderen den hebräischen Text herangezogen.') Einmal
hat er beim Buche Levitikus einen Nachtrag der von
Origenes ausgelassenen Eigennamen gemacht.^) Er hat auch
die Zahl der etymologischen Deutungen vermehrt, ) bei
neutestamentlichen Eigennamen ihren syrischen und nicht
hebräischen Ursprung hervorgehoben ") und bei anderen Worten
ihre ägyptische Ableitung notiert.') Aber alle diese Ansätze
zur Verbesserung und zur Kritik sind ohne durchgreifende
Konsequenz gemacht. Und von phantastischen etymolo-
gischen Vorstellungen hat er sich trotz seiner umfangreichen
Sprachkenntnisse nicht frei gemacht. Er läßt einerseits Eigen-
namen wie Berenice, Sarepta und Greta aus syrischen, und
hebräischen Bestandteilen zusammengesetzt sein') und zitiert
') Zu Chermel Jos. 12, 15, Lagarde S. 55; Joacli Jes. 15, 4, Lagarde
S. 81; Aroer Jer. 48, Q, Lagarde S. 85; Alphaeus Mattli. 10, 3, Lagarde
S. 93; Essai Matth. 1, 5, Lagarde S. Q3; Josafat Matth. 1, 8, Lagarde
S. 94; Joram Matth. 1, 8, Lagarde S. 94; Maria Matth. 1, 6, Lagarde S. 95,
wo er für die Bedeutung Stella niaris sive amarum mare eintritt, Magda-
lene Matth. 27, 56, Lagarde S. 95; Naason Matth. 2, 23, Lagarde S. 95.
-) Solche Verweisungen zu Efrata Ruth 4, 1; Escaboth 1 Reg. 14, 3;
Subochai 2 Reg. 21, 18; Chabratha 4 Reg. 5, 19; Thelabim Ez. 3, 15;
Tliamnuiz Ez. 8, 14; Ausitidi Job. 1, 1; Galaad Gen. 31, 47; Eleon Num.
26, 26.
") Maseroth Lagarde S. 47, Sufan, Lagarde S. 49.
*) Vier Namen umfaßt der Nachtrag Lagarde S. 42.
") z. B. Seth, Lagarde S. 37; Rachel S. 36; Esau S. 32; Maria S. 95.
•■•) Acheldamach Matth. 27, 8; Bethfage Matth. 21, 1; Barrabas Matth.
27, 16; Golgotha Matth. 27, 33; Iturea Luk. 3, 1; Abba Mark. 15, 43;
Talitha cumi Mark. 5, 41; Zachaeus Luk. 19, 2; Martha Luk. 10, 38; Beroea
Act. 17, 10; Ellada Act. 20, 2; Maran atha 1. Kor. 16, 22.
') Somthonfanech nach Hieronymus zu lesen Zapfanethfane Lagarde
S. 138, s. Quaestiones in Gen. 41, 45.
") Greta inter syrum et hebraeum Act. 2, 1 1 ; Berenice Act. 25, 13;
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 61
eine wunderliche Etymologie des Eigennamen Syrtis aus
Sallust,') um mit seinen Kenntnissen zu renommieren. Und
anderseits überrascht er den Leser mit wiri<lichen Kenntnissen,
indem er ihm mitteilt, daß das lateinische Wort Canna, das
in der Tat ein semitisches Lehnwort ist, aus dem Hebräischen
stamme-) und Barsabas und Bariona Zusammensetzungen aus
der hebräischen und syrischen Sprache sind.
Viele der sonderbaren und befremdlichen Deutungen gehen
aber darauf zurück, daß dem Hieronym.us kein vokalisierter und
mit diakritischen Zeichen versehener Text vorlag, und daß er
ferner vielfach wie Origenes nach dem Gehör, d. h. nach dem
äußeren Wortklang, etymologisierte.") Vor allem aber dürfen
wir eins bei der Beurteilung dieses Werkes nicht außer acht
lassen.*) Das Werk des Hieronymus wie das ihm zugrunde
liegende Werk Philos und Origenes sollte nicht in erster Linie
wissenschaftlichen, sondern erbaulichen Zwecken dienen. Es
kam den Autoren daher weniger auf die sprachliche Korrekt-
heit wie auf die asketische Brauchbarkeit und den mystischen
Tiefsinn ihrer Etymologien an. Die Folgezeit hat es in
diesem Sinne ausgiebig benutzt. Etwas Besseres an die Stelle
zu setzen war man nicht imstande. Man bewunderte die un-
übertrefflich scheinende Gelehrsamkeit und schöpfte aus dieser
unversiegbaren Quelle für Exegese und Predigt das ganze
Mittelalter hindurch.
Gleichzeitig mit dem Onomasticon hatte Hieronymus
seine hebräischen Untersuchungen oder Traditionen zur Ge-
nesis auszuarbeiten begonnen. Den Anstoß zu diesem, wie
wir oben bemerkten, völlig neuen literarischen Unternehmen
hatte ihm jedenfalls das Onomasticon gegeben. Die Diffe-
renzen zwischen dem Text der LXX und dem hebräischen
Barsabas Act. 1, 23; Bariona Matth. 16, 17 syrum est pariter et hebraeum,
bar qiiippe lingua syra filius et iona coluniba utroque sermone dicitiir;
Sarepta Luk. 4, 26.
') Syrtis a tractu Act. 27, 17, Lagarde S. lOS, s. Bell. Jug. c. 78.
-) zu Cane Jos. 16, 8 calamus; notandum, quod latinum canna de
lingua hebraea sumptum est, Lagarde S. 55.
') z. B. die Deutungen zu Gen. 30, 11 u. Gen. 30, 26; s. dazu
Rahmer, Die hebräischen Traditionen, S. 71.
'*) s. auch Zöckler, Hieronymus S. 169.
62 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Text waren ihm stärker zum Bewußtsein gekommen, und die
Notwendigkeit iiatte sich ihm aufgedrängt, für die Ety-
mologien der Eigennamen auf die hebräischen Traditionen
zurückzugreifen, die ihm seine jüdischen Lehrer vermittelten.
In der Vorrede zu seinem Werke kündigte Hieronymus solche
Untersuchungen zu allen Büchern des Alten Testaments an.
Dieser Plan ist nicht zur Ausführung gelangt; denn die auf
uns gekommenen Quästionen zu den Büchern der Könige und
der Chronik,') in denen Rahmer'") echte Quästionen des Hiero-
nymus in ihrem ersten Entwürfe vermutete, stammen nicht
von der Hand des Kirchenvaters. In Sprache und Anlage
sind sie ganz anders geartet als seine Quästionen zur Genesis,
und Rabanus Maurus, der sie benutzte, schrieb sie ausdrück-
lich einem Hebräer zu, der zu seiner Zeit lebte. ^) Durch die
Übersetzung des Alten Testaments aus dem hebräischen Grund-
text und durch seine ausgeführten Kommentare zu den pro-
phetischen Büchern des Alten Testaments wurde für Hiero-
nymus die Fortführung seines Quästionenwerkes überflüssig.
Die Absicht seines Werkes war, das Mißtrauen gegen
den hebräischen Text zu beseitigen. Die altlateinische Über-
setzung, die er mit den griechischen Übersetzungen und dem
hebräischen Texte verglich, wollte er nach dem Urtext emen-
dieren. Wir haben es hier also mit einer Vorarbeit zu seinem
großen Übersetzungswerk des Alten Testaments zu tun. Da-
neben aber wünschte Hieronymus Namen, Orte und Sachen
aus der hebräischen Sprache zu erklären und so das Ona-
masticon und das Buch der Örtlichkeiten durch die Quästionen
zu ergänzen und zu korrigieren. Hieronymus wußte, daß sein
Unternehmen, den hebräischen Text zu der ihm gebührenden
Anerkennung zu bringen, auf Widerstand stoßen würde. Hatte
') Vallarsi III, 753—822.
^) Rahmer, Die hebräisclien Traditionen, S. 8, Anm. 2.
^) Vallarsi III, 753, Admonitio; auch Tillemont, Memoires XII, 633,
liat die Abfassunj]; weiterer Abschnitte der Quästionen über die Genesis
hinaus angenommen, da im Liber locorum auf Quästionen hingewiesen
wird, die sich in den Quästionen zur Genesis nicht finden. Möglich bleibt
es, daß Hieronymus weitere Quästionen bereits vorbereitet, aber nicht ab-
geschlossen hat, die dann verloren gingen; s. auch Klosterniann, Eusebius
Onomasticon, Christi. Schriftsteller 13, S. XXVII, Anm. 1.
Die eisten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 63
er doch in Rom ähnliches bei der Bibelrezension des Neuen
Testaments erlebt, wo konservative Borniertheit ihm Schändung
des Heiligen vorgeworfen hatte. Er salvierte sich daher durch
die vorsichtige Erklärung, daß er nicht den bei den Christen
gebräuchlichen LXX Text der Irrtümer beschuldigen und seine
Arbeit gegen die LXX gerichtet wissen wolle; denn die
siebenzig Übersetzer hätten mit Rücksicht auf den König
Ptolemaeus den mystischen Sinn und alles, was auf Christi
Ankunft Bezug hatte, in ihrer Übersetzung unterdrückt, damit
sie nicht einen zweiten Gott anzubeten schienen, sie, die der
Platoniker Ptolemaeus wegen ihres Monotheismus hoch schätzte.
Um seine kühne kritische Neuerung annehmbar zu machen,
berief sich Hieronymus auf den Herrn, die Evangelisten und
den Apostel Paulus, die oft aus dem Alten Testament zitieren,
was in unseren Kodices, d. h. der LXX und Itala, nicht stehe.
Er folgerte daraus, daß die Exemplare des alttestamentlichen
Textes als die richtigen zu gelten haben, die mit dem Neuen
Testamente übereinstimmen. Und endlich verwies er auf
Origenes, den er auch in der Vorrede zum Onomasticon be-
geistert als den größten Lehrer der Kirche nach den Aposteln
gepriesen hatte, in seinen volkstümlichen Homilien folge er
den LXX, in den ausgeführten, für die Gelehrten bestimmten
Kommentaren, den rö,«o<, gehe er aber auf den hebräischen
Text zurück.')
Die Quästionen behandeln eine Reihe von schwierigen
exegetischen Stellen der Genesis, sie sind ein aphoristischer
Kommentar, dessen Wert vor allem darin besteht, daß Hie-
ronymus die Haggada, die ihm durch seine jüdischen Lehrer
übermittelt wurde, ausgiebig benutzte. Diese jüdischen Tra-
ditionen, die damals noch mündlich überliefert wurden, wurden
später in den verschiedenen Midraschsammlungen schriftlich
fixiert. Wir haben dadurch die Möglichkeit, die Benutzung-
jüdischer Quellen durch Hieronymus bei Deutungen nach-
zuweisen, wo er selbst es nicht ausdrücklich angegeben hat.')
Daneben hat er den Josephus besonders zur Völkertafel
') Praefatio, Lagarde S. 1 — 3.
-) s. Rahmer, Die hebräischen Traditionen in den Werken des Hie-
ronymus, Breslau 1S61.
64 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Gen. 10 wörtlich ausgeschrieben.') Von christlichen Exegeten
nennt er namentlich nur einmal Eusebius von Emesa, dessen Er-
klärung von Sabech Gen. 22, 13 gleich Ziegenbock er lächerlich
macht.-) Auch gegen Ambrosius, der die Völkernamen Gog
und Magog auf die Gothen bezog, polemisiert er, jedoch ohne
ihn zu nennen.') Seine messianische Deutung des Jacobitischen
Segens, Gen. 4Q, hat er fast ganz dem Origenes entnommen.')
Bemerkenswert ist es, daßHieronymussichindenQuästionen
bisweilen von der christlich-exegetischen Tradition zu eman-
zipieren versucht. Die Anfangsworte der Genesis: „im Anfang
schuf Gott Himmel und Erde", die die Altercatio Jasonis et
Papisci"^), Tertullian adversus Praxeam, und Hilarius in seinem
Psalmenkommentar') auf Christus bezogen hatten, lassen nach
Hieronymus bei wörtlicher Übersetzung diese Deutung unmöglich
zu. An anderen Stellen dagegen, wie z. B. bei der Exegese
des Wortes "!2'?>, Gen. 24,43, im Sinne von unberührter Jung-
frau, stellt er sich wegen des Dogmas von der Jungfrauengeburt
auf den Boden der traditionellen christlichen Exegese.')
Die Korrekturen, die Hieronymus an der lateinischen Bibel-
übersetzung auf Grund des hebräischen Textes vornahm, treffen
oft das Richtige: Gen. 1, 2 erklärt er nsn"!^ „der Geist brütete
über den Wassern" und Gen. 2, 21 übersetzt er n!2"["in statt
mit Ekstase im Anschluß an Aquila und Symmachus mit Schlaf.
Hieronymus hat weiter auf die Widersprüche in den Zahlen-
angaben des Lebensalters der vorsintflutlichen Patriarchen nach
') Lagarde S. 15, außer den von Lagarde S. VIII aufgeführten
namentlichen Zitaten des Josephus, s. auch zu Gen. 25, 1 Lagarde S. 39
iuxta historicos Hebraeorum.
■•') s. Lagarde S. 34, der Kommentar ist verloren.
^) S. Lagarde S. 14. Die Deutung des Ambrosius de fide 11, 16. Im
Kommentar zu Ezechiel praef. IIb. II hat Hieronymus ebenfalls dagegen
polemisiert, s. Vallarsi III, 317, Anni. d.
■*) Origenes, Homilie XVII, s. Harnack, Altchrist L. G. I, 344, quidam
profetice interpretatur.
*) Harnack I, 93; Zahn, Forschungen IV, 308 ff.
^) Tertullian adversus Praxeam c. 5 ; Hilarius in expositione psalmi 2,
s. Lagarde S. VIII.
') Auch bei der Deutung des Jakobsegens im messianischen Sinne
folgt er der christlichen Tradition.
Die ersten Jahre im Kloster zu Betlileheiii. 65
den LXX und nach dem hebräischen Text aufmerksam gemacht.
Die LXX eeben das Alter der Patriarchen höher an. Nach den
LXX mußte Methusalem noch 14 Jahre nach der Sintflut gelebt
haben, während er nach den hebräischen und samaritanischen')
Codices in dem Jahre starb, in dem die Sintflut begann. Da
die letzte Angabe einen chronologischen Widerspruch in der
Schrift auflöste, gab ihr natürlich Hieronymus den Vorzug.')
Aber in anderen Fällen versagte dieses Mittel, chronologische
Differenzen mit Hilfe des hebräischen Textes zu lösen. Abraham
war nach Gen. 12, 4 75 Jahre alt, als er Haran verließ und sein
Vater Thara war damals bereits tot. Beim Tode seines Vaters
mußte er aber, wenn wir die Zahlen der Genesis zugrunde
legen, 135 Jahre alt gewesen sein. Hieronymus gibt die künst-
liche Lösung, indem er die 75 Jahre nicht von der Geburt
Abrahams, sondern von seiner Errettung aus dem feurigen
Ofen rechnete.') Ismael mußte nach den Zahlenangaben der
Genesis, als er von Abraham mit seiner Mutter Hagar ver-
trieben wurde, mindestens ein ISjähriger Jüngling sein. Nun
trug aber nach Gen. 21,14 Hagar ihren Sohn auf der Schulter.
Hieronymus weiß sich nicht anders zu helfen, als diesen Wider-
spruch dadurcli zu lösen, daß Abraham Brot und Wasserschlauch
der Hagar auf die Schultern legte und ihr dann den Jüngling
an die Hand gab.')
Durch die starke Heranziehung der jüdischen Traditionen
bekamen seine Quästionen einen eigentümlichen Charakter. Diese
jüdischen Sagen waren etwas ganz neues für das christliche
Publikum, die sein Interesse und seine Neugier erregen mußten.
Und gleichzeitig steigerten diese Mitteilungen die Bewunderung
für das tiefgründige Wissen des Hieronymus. Da hörte man, daß
die Hebräer aus den Worten Gen. 2, 8 C"!pi^ die Schöpfung
des Paradieses vor Himmel und Erde folgerten, ) daß Ur
^) Vielleicht ist unter den libri Saniaritoruni nichts anders als die
samaritanisch-ojriechische Übersetzung zu verstehen, von der wir Bruch-
stücke unter dem Namen ro l'a/(a(jFiriK6r besitzen, s. Novvack, Die Bedeu-
tung des Hieronymus für die alttestamentliche Textkritik, S. 34, Anm. 40.
2) Gen. 5, 3, Lagarde S. 10, Rahmer S. 21 ff.
^) Gen. 12,4, Lagarde S. 19.
') Lagarde S. 32.
") Lagarde S. 4, s. Rahmer S. 17.
O r ü tzinacli er , Hieronymus. II. 5
66 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Chasdim Gen. 11,28 im Hebräischen „im Feuer der Chaldäer"
bedeute und Abraham, der das Feuer nicht hätte anbeten
wollen, in einen Feuerofen geworfen, aber von Gott wunderbar
errettet worden sei,') daß die Namenänderung des Abram in
Abraham und der Sarai in Sarah darauf beruhe, daß Gott von
dem Tetragrammaton den Buchstaben H dem ursprünglichen
Namen hinzugesetzt habe.") Und weiter erzählte Hieronymus,
daß das Scherzen Ismaels, das Gen. 21, Q die Sara reizte, nach
der Erklärung der Rabbinen entweder darin bestanden hätte,
daß Ismael Götzenbilder fertigte, oder als Erstgeborener den
Isaak verspottete. ') Auch kultische Bräuche der Juden erklärte
er den Christen im Anschluß an Erzählungen der Genesis.
So wurde am Neujahrstage bei den Juden zur Erinnerung an
den für Isaak geopferten Widder ein Widderhorn geblasen.*)
Und wie mußte man nicht über den wunderbaren Tiefsinn des
hebräischen Textes staunen, wenn Hieronymus seine Leser be-
lehrte, daß Ephron erst mit ", dann ohne 1 geschrieben wurde,
um durch letztere Schreibung das gleißnerische und selbst-
süchtige Benehmen Ephrons Abraham gegenüber anzudeuten.'^)
Auch die Sprachkenntnisse des Hieronymus schienen schier
unergründlich, wenn er den Beinamen des Joseph, den dieser
Gen. 41,45 erhielt, aus dem Ägyptischen als Retter der Welt )
und das Wort CJ^'H Gen. 36, 24 aus dem Punischen als warme
Bäder deutete.')
Daß die von Hieronymus zum ersten Male im Prediger-
') Lagarde S. 19, s. Rahmer S. 24.
*) Lagarde S. 27, s. Rahmer S. 28.
') Lagarde S. 31, s. Rahmer S. 31. R. weist hier nach, dali eine wört-
liche r^arallele zwischen dem Midrasch und Hieronymus vorliegt. Die erste
Auslegung wird im Midrasch auf Rabbi Akiba zurückgeführt. Dies ist
beachtenswert, da Hieronymus bereits im Kommentar zum Prediger diesen
berühmten Rabbiner zitiert hatte.
*) Lagarde S. 34, Rahmer S. 35.
*) Gen. 23, 16, Lagarde S. 36, s. Rahmer S. 36 über die ethische
Deutung des defektiven Waw.
») Lagarde S. 61, Rahmer S. 51.
7
i-T.
) Lagarde S. 56, s. Rahmer S. 46, der noch auf zwei Worte nö . V
Jes. 7, 8 und i"'P'P Jon. 4, 6 aufmerksam macht, die Hieronymus aus dem
Puinschen ableitet.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 67
kommentar und dann hier in noch größerem Umfange bei-
p-ezosene Exegese der Rabbinen sachh'ch keinen Fortschritt
bedeutete, haben wir schon oben bemerkt.') Bei aller Ver-
wandtschaft mit der allegorischen Exegese der Kirchenväter
unterscheidet sie sich von ihr nicht nur durch die noch größere
Willkür, sondern auch durch die juristische Spitzfindigkeit und
das Fehlen jeder systematischen Abzweckung. Die Kirchen-
väterexegese suchte doch wenigstens das ganze Alte Testament
messianisch zu deuten, dies war der Kanon ihrer Auslegungs-
methode. Die rabbinischen Identifikationen von Bileam mit
dem Elihu des Hiobbuches und des Melchisedek mit Sem,
dem Sohne Noahs, sind nichts weiter als müßige Spielereien.-)
Und dann sei noch auf eines hingewiesen, was bei den Kirchen-
vätern fast vollständig fehlt. Die jüdischen Exegeten haben
eine besondere Freude an der Ausmalung sexuell anstößiger
Geschichten und an der Hineindeutung derartiger Motive
in solche Geschichten, die nichts davon enthalten. So sei
nach der Meinung der Hebräer Joseph an Potiphar wegen
seiner großen Schönheit zur schimpflichen Dienstleistung,
d. h. jedenfalls zur Päderastie, verkauft worden und von
Potiphar, als später seine Manneskraft aufhörte, zum Priester
in Heliopolis gemacht worden. ) Auch bei der Geschichte
von Lot und seinen Töchtern berichtet uns Hieronyinus
von den Reflexionen der Rabbinen über die Ausübung des
Beischlafs.')
Schon bei der Ausarbeitung des Onomasticon hatte
Hieronymus die bevorstehende Herausgabe eines Buches über
die hebräischen Örtlichkeiten angekündigt.) Nach Vollendung
1) s. S. 54.
-) Gen. 22, 20, Lagarde S. 35 und Gen. 14, 18, Lagarde S. 24.
*) Lagarde S. 57.
^) Lagarde S. 30, Rahmer S. 35. Die Stelle ist, worauf Rahmer hin-
weist, wichtig für die Abfassung der Massora, da Hieronymus bereits den
massorethischen Punkt als in seinem Text vorhanden bezeugt.
■'') Praef. lib. interpretationis hebraicorum nominum, Lagarde S. 26;
das Buch trägt in verschiedenen Handschriften und Drucken verschiedene
Bezeichnungen: Über de situ et nominibus locorum hebraicorum, über de
distantiis locorum, über locorum, oder über locorum et nominum, s. Eusebius
Onomasticon ed. V. E. Klostermann, Leipzig 1904, S. XI.
5'
68 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
seiner Quästionen zur Genesis muß es bald erschienen sein.
Die Arbeit des Hieronymus über die Lage und die Namen
der hebräischen Örter ist im wesentlichen eine Übersetzung
der Schrift des Eusebius nsoi tcov romucov övojuütojv ei' nj lieiu
ygacpT}. Eusebius hatte noch drei selbständige topographische
Schriften ') oder drei in einem Buch zusammengefaßte Ab-
handlungen ") seiner Schrift über die Ortsnamen vorangehen
lassen, die aber Hieronymus nicht übersetzt hat und die nicht
mehr erhalten sind. Das Werk des Eusebius enthielt nicht
alle Ortsnamen der ganzen Heiligen Schrift, im Alten Testament
sind die Bücher Levitikus, Ruth, Daniel, Esra, Nehemia in den
Überschriften übergangen; aber sie enthalten auch keine oder
wenigstens keine nicht sonst vorkommenden Ortsnamen.
Andere alttestamentliche Bücher wie die Chronik, die Makka-
bäerbücher, die Propheten und Hiob sind unter der Oesamt-
überschrift der Königsbücher zum Teil mit berücksichtigt.
Vom Neuen Testament waren nur die Ortsnamen der Evan-
gelien, nicht die der Apostelgeschichte und Briefe, behandelt.
Es ist dies daraus zu erklären, daß Eusebius in seinem Ono-
masticon im wesentlichen nur die Namen des Heiligen Landes
und der umliegenden Reiche aufzunehmen beabsichtigte. Nach
seiner Vorrede wollte er auch nur die Namen von Städten
und Dörfern aufführen. Er hat sich auch hier nicht streng
an seinen Plan gehalten, sondern auch die Namen der Flüsse,
Landschaften, Berge, Ebenen, Wüsten und sogar der ver-
schiedenen heidnischen Götzen mit in sein Onomasticon ein-
gereiht.'i Hieronymus war nicht der erste, der die Schrift
des Eusebius ins Lateinische übersetzte. Er hatte bereits einen
Vorgänger, dessen Namen er nicht nennt; aber diese Über-
•) Harnack, L. O. I, 574.
'-) E. Klostermann, Eusebius Schrift nroi Tö>r TojriKön' öi'o//äro)/ rrhy
ri> Tij Ofäh ygacpfj, Texte und Untersuchungen N. F. VIII, Heft 2. 1902 und
die kritische Ausgabe des Onomasticon des Eusebius und der Über-
setzung des Hieronymus in den Griechischen christl. Schriftstellen der ersten
3 Jahrhunderte, Band 11, Eusebius Bd. III. von E. Klostermanii, Leipzig
1Q04. P. Thomsen, Palästina nach dem Onomasticon des Eusebius 1903,
Tübinger Dissertation.
■) s. Onomasticon des Eusebius, ed. Klostermann, S. XIII.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 69
Setzung war so voller Fehler, daß eine neue Arbeit kein un-
nützes Unternehmen schien.')
Hieronymus hat nun keine einfache Übersetzung geliefert,
sondern Änderungen vorgenommen, da ihm, wie er sagte, die
Arbeit des Eusebius mit späteren Veränderungen und Fehlern
überliefert worden war. In der Vorrede macht er die Bemerkung,
daß er nach der Anordnung des griechischen Alphabets übersetzt
habe, während sein Onomasticon gerade im Unterschied von
dem Eusebianischen nach dem lateinischen Alphabet angeordnet
ist. Er spricht weiter von Auslassungen dessen, was ihm des
Gedächtnisses nicht würdig schien, während diese in der Tat,
wie ein Vergleich mit der Arbeit des Eusebius zeigt, sehr
selten sind.) Vielleicht erklären sich diese Angaben so, daß
Hieronymus die Vorrede vor Fertigstellung seiner Übersetzung
geschrieben hat und später bei der Ausführung seines Vorhabens
es doch für praktisch geboten hielt, seine ursprüngliche Idee
zu ändern.') Im ganzen ist die Übersetzung des Hierony-
mus eine sehr zuverlässige Arbeit, ') die sich streng an den
Text des Eusebius hält. Nur wenig Mißverständnisse lassen
sich dem Hieronymus nachweisen.^) Einer gründlichen Revision
hat aber Hieronymus die Arbeit des Eusebius nicht unter-
zogen. Er hat weder das Werk des Eusebius durch Nach-
tragung der Namen aus den nicht berücksichtigten Büchern
der Heiligen Schrift vervollständigt, noch die vielen Irrtümer
des Eusebius berichtigt, die sich aus seiner mangelhaften
') Praef. Hieronymi, in lib. loc. ed. Klostermann, S 3.
-) s. Onomasticon ed. Klostermann, S. XXIX. Da die griechische
Überlieferung nur auf die stark verderbte griechische Handschrift, Cod.
Val. 1456 saec. XII zurückgeht, so läßt sich nicht mit absoluter Sicherheit
das Verhältnis des Hieronymus zu seinem Original feststellen.
*) Hierfür kann vielleicht der Schlußsatz der Praefatio ed. Kloster-
mann, S. 3, herangezogen werden : ut enim mihi excelsa non vindico,
ita terrae cohaerentia supergredi posse me credo.
*) Onomasticon ed. Klostermann, S. XXVIII.
*) s. zu Masereth den Nachweis bei Klostermann, S. XXVIII, Anm. 1;
ebenfalls ein Mißverständnis scheint zu Aermon S. 21, 12 ff. vorzuliegen.
Eusebius sagt, daß der Berg Hermon wie ein Heiligtum von den Heiden
geehrt werde, Hieronymus berichtet aber, daß ein berühmter Tempel auf
dem Gipfel sei, der von den Heiden verehrt werde.
70 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Kenntnis des Hebräischen erklären. Eusebius hatte vielfach
die Ortsnamen mit dem Artikel, mit angehängtem He locale
oder mit Präpositionen verschmolzen wiedergegeben, er hatte
Patronymica, Gentiliaca, Himmelsrichtungen und, wie schon
oben bemerkt, Gottheiten in buntem Durcheinander in sein
Lexikon der Ortsnamen aufgenommen.^) Hieronymus hat
hieran nicht viel geändert. Er bemerkt nur gelegentlich, daß
er Etymologien von Ortsnamen, wie sie Eusebius gegeben
habe, nicht für richtig halte'), und einmal erklärt er summarisch,
daß der aufmerksame Leser erkennen möge, daß er nicht alles,
was er übersetze, billige, sondern deshalb einiges nach dem
griechischen Texte stehen lasse, weil er sich über diese Dinge
in den hebräischen Quästionen ausführlicher ausgesprochen
habe.') Auf dieses Werk hat er 24 mal hingewiesen'*),
jedoch nicht nur auf die Quästionen zur Genesis, die wir be-
sitzen, sondern auch auf die zu den anderen Büchern, die uns
nicht erhalten sind.
Dann aber hat Hieronymus auch Zusätze zu dem
Werk des Eusebius gemacht, die natürlich für uns von der
größten Bedeutung sind. Diese bestehen einmal in Korrekturen
des Eusebius nach dem hebräischen Text ), ferner konnte er
') M. Spanier, Exegetische Beiträge zu Hieronymus Onomasticon,
Magdeburg 1896, Berner Dissertation, und M.Spanier, Nachträge und Be-
richtigungen, Magdeburg 1898.
'^) zu Daniascus ed. Klostermami, S. 77, hie tantum interpretis sum
functus officio, non quo ancillam Abraae Masec nuncupatam probo; zu
Dannaba, S. 77: hcet mihi longe ah'ter videatur; zu Enacim, S. 85, sed
mihi videtur non esse nomen loci Enacim, sed habitatorum Chebron; zu
Efrata, S. 83, est autem in tribu Judae, licet plerique male aestiment in
tribu Beniamin.
^) zu Elmoni, S. 91, porro diligens lector agnoscat, quod in prin-
cipio quoque libri huius aliqua ex parte perstrinxi, nie non oninia quae
transfcro comprobare, sed idcirco quaedam iiixta aiitoritatem Graecam
reiinquere, quia de his in libris Hebraicariim qiiaestioiium plenius disputavi.
••) s. Klostermann, Namenregister Hebraicariim quaestionum, S. 203.
*) z. B. Arboc, S. 7, corrupte in nostris codicibus Arboc scribitur,
cum in Hebraicis legatur Arbe; Rhinocorura, S. 149, sciendum autem quod
hoc vocabulum in libris Hebraicis non habetur, sed a LXX interpretibus
propter notitiam loci additum est; Scenae, S. 153, locus, qui lingua Hebraica
appellatur Socchoth, Klostermann hat hier den Zusatz des Hieronymus
nicht durch den Druck markiert.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 71
aus der Quelle der Hebräer schöpfen, die ihm über die Namen
und Lage mancher biblischen Orte eine von Eusebius ab-
weichende Tradition vermittelten. So hat ihm sein Hebräer,
mit dem er die Heilige Schrift las, versichert, daß der Berg
Hermon unmittelbar in der Nähe von Paneas sich erhebe.')
Von den Hebräern weiß er, daß Achad mit Nisibis identisch,
Aialon ein Dorf bei Nicopolis am zweiten Meilenstein, wenn
man nach Jerusalem reist, sei, Aenam keinen Ort, wie Eusebius
meinte, sondern einen Scheideweg bedeute, wo zwei Wege zu-
sammenlaufen.') Aus seinem vielseitigen Wissen bringt er
auch die Notiz, daß nach Sallust die Quellen des Euphrat und
Tigris in Armenien gezeigt werden "), und streut bisweilen
Erinnerungen aus der römischen Geschichte ein: die Stadt
Nisibis, die von Lucullus belagert und erobert sei, sei vor
wenigen Jahren durch Kaiser Jovian an die Perser abgetreten
worden, eine Bemerkung, nach der wir seine Übersetzung des
Liber locorum etwa um 3Q0 ansetzen müssen. ')
Endlich hat Hieronymus aus eigener Kenntnis Ergänzungen
des Eusebianischen Onomasticon angebracht. Die Identifikation
von biblischen Ortsnamen mit ihm bekannten Städten wie Aemath
mit Epiphania in Coelesyrien, Chennereth mit der von Herodes
dem Kaiser Tiberius zu Ehren erbauten Stadt Tiberias, Chettiim
mit Cypri Citium, Reblatha mit Antiochia geht auf Hierony-
mus zurück. ) Auf Autopsie scheint eine so detailierte Angabe
zu beruhen, daß das Dorf Bethacat in Samaria ein so enges
und niedriges Tor habe, daß man nur einzeln und nicht stehend
das Dorf betreten könne. Es scheint so, aber aus dem Zu-
') zu Aermon, S. 21.
2) zu Achad, S. 5, nach den Hebräern identisch mit Nisibis; zu Aenam,
S. 9, s. Spanier, S. 3; zu Ailon, S. 19; zu Aseroth, S. 11, verum haec loca
non Aseroth, sed Aserim appellari Hebraei putan^.
») zu Eufrates, S. 83.
*) zu Achad, S. 5.
') zu Aemath, S. 23, ego autem investigans repperi Aemath urbem
Coeles Syriae appellari, quae nunc graeco sermone Epiphania nuncapatur;
zu Chennereth, S. 173; zu Chettiim, S. 175, Klostermann hat hier den
Zusatz des Hieronymus nicht im Druck markiert; zu Reblatha, S. 147; es
ist hier nicht sicher, ob wir es mit einem Zusatz des Hieronymus zu tun
haben, da der griechische Text eine Lücke aufweist.
72 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
sammenhang geht deutlich hervor, daß Hieronymus lediglich
aus der Übersetzung des Aquila und Symmachus diese Mit-
teilung mit der ihm eigenen Phantasie herausgesponnen hat.')
Aber solche auf lokalen Kenntnissen beruhende Be-
merkungen des Hieronymus zum Text des Eusebius fehlen
doch nicht ganz, wenn wir auch bei seiner Art, sich Kennt-
nisse zuzuschreiben, die er nicht besitzt, sondern nur anderen
verdankt, überaus vorsichtig sein müssen.') Diewirklichauf seine
Reise durch das Heilige Land zurückgehenden Mitteilungen
sind für unsere Kenntnis der Topographie von Palästina recht
wichtig. Dabei ist zunächst eins bemerkenswert, daß Hiero-
nymus überall an Stätten, die durch die biblische Geschichte
geweiht waren, von christlichen Kirchen zu berichten weiß, von
denen Eusebius noch nichts erwähnt. So kannte Hieronymus
eine Kirche in Aggai, wo Jacob schlief, als er nach Meso-
potamien ging, in Bethanien, wo Lazarus auferweckt war, am
Ölberg, wo der Herr gebetet hatte, an der Quelle bei Sichar,
wo der Herr mit der Samariterin das denkwürdige Gespräch
gehabt hatte.") Die Eiche dagegen, unter der Abraham in
Mamre gewohnt hatte, wurde noch zu den Zeiten des Eusebius
den Pilgern des Heiligen Landes gezeigt, Hieronymus be-
richtet, daß sie bis zur Zeit des Kaisers Konstantins vorhanden
war, dann scheint sie zugrunde gegangen zu sein. An ihrer
Stelle erhob sich in seinen Tagen dort ebenfalls eine Kirche.^) Wir
dürfen daraus schließen, daß, je mehr die Pilgerfahrten nach
dem Heiligen Lande zunahmen, auch überall an den Wall-
fahrtsstätten Kirchen erbaut wurden.
Aber man vermehrte auch stetig die heiligen Stätten, nach
denen die Frommen durch angebliche Reliquien von Männern der
heiligen Geschichte zur Anbetung gelockt werden sollten. Auch
') zu Bethacath, S. 59, pro quo Aquila interpretatus est domus
curvantiuin, Symmachus domus singulorum, eo quod angustus et humilis
introitus singulos tantum, et nee ipsos stantes, ingredi sustineret.
*) s. z. B. Hieronymus Aegyptius, qui antiquitates Phoenicum
pu lehre sermone conscripsit, während Eusebius nichts von pulchro
sermone berichtet, und Hieronymus dieses Werk sicher nicht gekannt hat;
s. dazu Klostermann, S. XXVI 1.
') Aggai, S. 7; Bethania, S. 59; Sychar, S. 165.
■') Arboc, S. 7.
Die eisten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 73
hierfür ist Hieronymus Zeuge. In Arbe befanden sich nach
Hieronymus die Gräber der 4 Patriarchen Adam, Abraham, Isaak
und Jakob'), in Sebaste die Reliquien Johannis des Täufers.") Von
beiden erwähnt Eusebius noch nichts. Nach Modeim wall-
fahrtete man bereits zur Zeit des Eusebius zu den Gräbern der
Makkabäer; als Hieronymus um 390 seinen über locorum schrieb,
erhob Antiochia ebenfalls den Anspruch, die Reliquien der
jüdischen Helden zu besitzen, worüber Hieronymus sehr un-
gehalten ist. ) Es fangen also bereits die Stätten, an denen
man die Reliquien verehrter Männer zeigte, an, sich zu ver-
doppeln. Die Glossen des Hieronymus zu dem Texte des
Eusebius lassen uns so einen Blick in den immer mehr zu-
nehmenden Reliquienkultus tim, und es ist nur zu bedauern,
daß Hieronymus uns nicht in noch umfangreicherem Maße von
seiner besseren Kenntnis des Heiligen Landes Mitteilung hat
zukommen lassen. Nur bei der Erwähnung Bethlehems verrät
er einmal seine intimere Bekanntschaft mit den dortigen Lokali-
täten. Er nennt den Turm Ader und gibt seine Entfernung
von Bethlehem auf 1000 Schritt an. Er bestimmt geographisch
genau das Grabmal des jüdischen Königs Archelaus, das am
Anfang des Pfades liegt, der von der öffentlichen Staatsstraße,
die von Bethlehem nach Jerusalem führte, nach unseren Mönchs-
zellen hin abbiegt.^) Wir vermissen auch schmerzlich ge-
legentliche Bemerkungen über Land und Leute, die Hieronymus
uns hätte geben können. Nur eine kulturhistorisch inter-
essante Notiz ist mir aufgefallen. Hieronymus berichtet,
daß man den Schnee im Sommer vom Berge Hermon herab-
brachte, um ihn in Tyrus bei üppigen Lustbarkeiten zu ver-
wenden. ) Seine Übersetzung des Werkes des Eusebius hat
') zu Arboc, S. 7, Arbe, id est quattuor, eo quod ibi tres patriarchae,
Abraam, Isaac et Jacob, sepulti sunt, et Adam magnus, ut in Jesu Hbro
scriptum est: licet eum quidam conditum in loco Calvariae suspicentur.
-) Someron, S. 155.
') Modeim, S. 133, unde fuerunt Maccabaei, quorum hodie ibidem
sepulcra monstrantur, satis itaque miror, quomodo Antiochiae eorum reli-
quias ostendant, aut quo hoc certo auctore sit creditum.
*) Bethleem, S. 43.
^) Aermon, S. 21 : de quo (seil, de monte Aermone) nunc aestivae
nives Tyrum ob delicias deferuiitur.
74 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
aber dem Abendland die Kunde vom Heiligen Land vermittelt
und Eucherius, Arculfus, Beda, Rabanus Maurus und viele
andere Autoren des Mittelalters haben allein aus ihm geschöpft.
§ 31.
Zwei Übersetzungsarbeiten des Hieronymus, die
39 Lukashomilien des Origenes und das Buch des
Didymus über den heiligen Geist.
Noch in Rom hatte Hieronymus die Schrift des Didymus
„Über den heiligen Geist" zu übersetzen begonnen, hatte sie aber
unvollendet gelassen, als sein Gönner Papst Damasus, der ihn
dazu veranlaßt hatte, gestorben war.') 386 hatte er auf seiner
Reise nach Alexandria die persönliche Bekanntschaft des blinden
„Sehers" gemacht. Jetzt vollendete er die angefangene Arbeit
und widmete sie seinem Bruder Paulinian und seinen Freun-
dinnen Paula und Eustochium. Nachdem er seiner römischen
Gegner mit heftigem Spott gedacht hat, ') fährt er in der Vor-
rede zur Übersetzung fort: „Und um den Autor des Buches
im Titel einzugestehen, so wollte ich lieber der Dolmetscher
eines fremden Werkes sein, als, wie einige es tun, eine häß-
liche Krähe, mich mit fremden Federn schmücken. Ich habe
vor nicht langer Zeit die Bücher eines gewissen Mannes über
den heiligen Geist gelesen, auf die man das Wort des Komikers
Terenz anwenden könnte, daß aus guten griechischen Lei-
stungen nicht ebensolche lateinische werden. Nichts ist dort
dialektisch, nichts kraftvoll und nichts übersichtlich, was auch
den widerwilligen Leser zur Zustimmung zwingt, sondern alles
schlaff, weichlich, gleißend und nur äußerlich wohlgestaltet,
mit ausgesuchten Farben hier und dort geschminkt. Aber
mein Didymus hat das Auge der Braut im Hohenlied und
') s. Bd. 1, 214.
•-) Bd. I, 204.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 75
jene Augen, die Jesus befiehlt über die weißen Saaten zu er-
heben; wer diesen liest, wird den Diebstahl der Lateiner erkennen
und die Bäche verachten, wenn er aus der Quelle zu schöpfen
angefangen hat." ') Diese giftigen anonymen Invektiven sind
eeeen Ambrosius und seine drei Bücher über den heiligen
to'-ts
Geist gerichtet. Rufin hat Hieronymus später deshalb die herbsten
Vorwürfe gemacht.'") Und dieser Angriff auf den mailändischen
Bischof steht nicht allein. Noch bissiger und boshafter schreibt
er in der kurz danach verfaßten Übersetzung der Lukas-
homilien des Origenes an Paula und Eustochium: „Ihr sagt,
daß ihr vor wenigen Tagen Kommentare zu Matthäus und
Lukas von gewissen Leuten gelesen habt, von denen der eine
schwerfällig in Form und Inhalt sei, der andere mit den
Worten spiele und im Inhalt fasele."') Er kann hier nur den
388 verfaßten Lukaskommentar des Ambrosius meinen.') Er
beschimpft Ambrosius als einen Weissagevogel, der von der
linken, d. h. der Unglück verkündenden Seite, hergeflogen
käme, als einen laut krächzenden Raben, der sich über die
Farben aller Vögel lustig mache, obwohl er selbst ganz
schwarz sei. ) Warum war Hieronymus plötzlich auf Ambrosius
so schlecht zu sprechen? Wodurch hatte dieser ihn gereizt?
Waren es doch die gleichen Ideale, für die beide kämpften,
waren doch beide Vertreter der Orthodoxie, beide begeisterte
Anhänger und Wegbereiter der mönchischen Frömmigkeit im
Abendland gewesen. Hatten es sich doch beide zur Lebens-
aufgabe gemacht, die griechische Theologie, vor allem die
Werke des Origenes durch Wort und Schrift dem "lateinischen
') Praef. in libriim Didymi de spiritu sancto, Vallarsi 11. 105 ff.
-) Rufin, Contra Hier. II, 23, Vallarsi II, 651 ff.; der Zweifel Vallarsis, ob
hier Ambrosius gemeint ist (Vallarsi II, 106 Anm. e), ist völlig unbegründet
und erklärt sich nur aus Voreingenommenheit für Hieronymus. Auch
Th. Schermann, Die griechischen Quellen des heiligen Ambrosius, München
1902, S. 98, läßt es unentschieden, obwohl er die ausgedehnteste Benutzung
der Schrift des Didymus durch Ambrosius nachweist.
3) Rufin, Contra Hier. II, 21, Vallarsi II, 648.
*) Rauschen, Jahrbücher der christlichen Kirche, S. 293, und Excurs Xll.
'") Praef. in transl. homil. 3) Origenis in Lucam, Vallarsi VII, 245.
Noch einmal, ep. 121, quaestio 6, erwähnt Hieronymus den Kommentar
des Ambrosius, ohne jedoch an ihm Kritik zu üben, Vallarsi I, 861.
76 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Occident zu vermitteln. Gerade die Gemeinsamkeit ihrer Be-
strebungen erregte den Neid des Hieronymus. Sein Charakter
erscheint hier einmal wieder von der häßlichsten Seite. Dem
römischen Aristokraten und gewaltigen Gottesstreiter war das
Los aufs lieblichste gefallen, er war der einflußreichste Bischof
der abendländischen Kirche, der auch die Kaiser nach seinem
Willen leitete. Und der ehrgeizige Hieronymus, der sich einst
auf den Stuhl Petri Hoffnungen gemacht hatte, saß einsam im
Kloster zu Bethlehem, und nur wenige Frauen vertrauten sich
seiner Seelenleitung an. Als er noch in Rom weilte, hütete er
sich, es mit dem mächtigen Bischof zu verderben. Damals
schrieb er an Eustochium über die Bücher von der Jungfrauschaft,
die Ambrosius seiner Schwester Marcellina gewidmet hatte:
„Ambrosius hat in diesen eine solche Beredsamkeit entfaltet,
daß er, was immer zum Lobe der Jungfrauschaft gereicht,
erforscht, ausgesprochen und aufgezählt hat.')" In der Chronik
hatte er zum 10. Jahre Valentinians dem mailändischen Bischof
ein glänzendes Zeugnis ausgestellt: Nach dem späten Tode des
Arianers Auxentius, als Ambrosius den Bischofstuhl in Mailand
bestiegen hatte, wurde ganz Italien zum orthodoxen Glauben
bekehrt.'') Jetzt, wo Hieronymus widerwillig seinen ehrgeizigen
Hoffnungen für immer entsagt hatte, sieht er in ihm nur
den glücklichen Nebenbuhler, dem er sich durch Wissen
und Rhetorik überlegen weiß. Mit der ihm eigenen Perfidie,
nicht mit offenem Visier, sondern mit feiger Anonymität
fällt er ihn an. Er stellt der Art des Ambrosius, der sich
mit fremden Federn zu schmücken liebe, seine Bescheidenheit
und seine Ehrlichkeit gegenüber. Wenn er, Hieronymus,
griechische Werke ins Lateinische übersetze, gebe er sie
nicht als seine eigenen aus, sondern gestehe offen vor aller
Welt den Namen des Autors ein. Gewiß hat Ambrosius in
seinen Werken die Griechen stark benutzt, aber der Vorwurf
des Hieronymus gegen ihn ist lediglich aus schriftstellerischer
Eitelkeit und aus Konkurrenzneid geboren. Als Hieronymus 392
sein Buch über die berühmten Schriftsteller schrieb, konnte
1) Ep. 22, 22, Vallarsi I, 105.
0 Chronik ed. Schöne, S. 195, vergl. auch ep. 15, 4 ad Damasum.
Die ersten Jahre im Kloster zu Betlilehem. 77
er unmöglich Ambrosius ganz totschweigen, aber die kurze
Notiz, die er ihm widmete, ist mit Bosheit gesättigt: „Am-
brosius, der Bischof von Mailand, schreibt bis zum heutigen
Tag, über den ich, weil er noch am Leben ist, mein Urteil
suspendiere, um nicht entweder der Schmeichelei oder der
Wahrhaftigkeit halber getadelt zu werden."') Und als 3Q5
Ambrosius gestorben war, fuhr Hieronymus auch nach seinem
Tode fort, die Werke des verhaßten Mannes herabzusetzen.
Gelegentlich zitierte er ihn wohl als Verteidiger der Jungfrau-
schaft mit Anerkennung, -1 aber im übrigen läßt er kein gutes
Haar an seinen Schriften: „Die sechs Bücher Hexaemeron des
Ambrosius sind eine schamlose Kompilation aus Origenes,
Basilius und Hippolyt, ') der Psalmenkommentar des Ambrosius
ist ein Plagiat aus Origenes." ') Hieronymus verspottet Am-
brosius, ohne ihn zu nennen, daß er Debora für eine Witwe
und Barak für ihren Sohn gehalten habe.) Dabei hütete sich
allerdings Hieronymus in den Briefen an seine römischen Freunde,
Pammachius und Oceanus, und an Augustin, der das Werk
des Ambrosius über den heiligen Geist sehr hochschätzte,")
Ambrosius zu beschimpfen. Hieronymus wußte, daß er
Augustin, dem begeisterten Verehrer des Mailändischen
Bischofs, gegenüber mit einem Tadel des Ambrosius nur sich
selbst kompromittiert hätte. Aber Rufin befand sich im Besitz
eines Briefes des Hieronymus, in dem er andere wegen ihrer
Angriffe auf Ambrosius in Schutz genommen und die Be-
schuldigung einer sklavischen und unehrlichen Benutzung der
Griechen gegen Ambrosius erhoben hatte. Rufin wollte diesen
Brief, der ihm ein willkommenes Pressionsmittel auf seinen
Gegner war, nicht vor der Zeit veröffentlichen, weil er auch
einige geheimnisvollere Dinge enthielt.') Hieronymus antwortete
>) de vir. illust. c. 124.
-') Ep. 48, 14, Vallarsi I, 223.
ä) Ep. 84, 7, Vallarsi I, 525.
*) Ep. 112, 20, Vallarsi 1, 747, Contra Rufin. 1, 1, Vallarsi II, 459;
Contra Rufin. III, 14, Vallarsi II, 544.
^) Ep. 54, 17, Vallarsi I, 291, s. Ambrosius de viduis c. 8.
*) De doctrina christiana c. 21, 46.
•) Contra Hier. 11, 22, Vallarsi II, 649.
78 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
auf diese Anzapfung Rufins nicht, ein Zeichen, daß er ein
böses Gewissen hatte. Gewiß woMte er seinen Gegner nicht
zur Veröffenth'chung eines Briefes reizen, in dem er einem Ver-
trauten einmal seine ganze Galle über Ambrosius ausgeschüttet
hatte. Er fürchtete wohl vor allem das Urteil Augustins, mit
dem er damals schon in Korrespondenz getreten, und dessen
aufgehender Stern ihm nicht entgangen war.
Daß Hieronymus gerade die Schrift des Didymus über
den heiligen Geist ins Lateinische übersetzte, hatte wohl darin
seinen Grund, daß dieser Origenist wenigstens im Dogma der
Trinität von unbezweifelter Orthodoxie war. ') Die Schrift des
Didymus ist mit großem dialektischem Scharfsinn geschrieben. So
bemüht sich z. B. Didymus, die Einwohnung des Satans als einer
geschaffenen Substanz von dem Einwohnen der ungeschaffenen
Trinität im Menschen begrifflich zu unterscheiden.") Auf die
Form hat er wenig Wert gelegt. Sie stellt im wesentlichen die
Aussagen des Neuen und Alten Testaments über den heiligen
Geist zusammen, um dies ist der Hauptzweck nachzu-
weisen, daß der heilige Geist keine sichtbare oder unsichtbare
Kreatur, auch keine Energie Gottes, sondern von gleicher Sub-
stanz mit Vater und Sohn sei. Didymus, der unter den Augen
des Athanasius die Verbindung des Homousianismus mit dem
Origenismus vollzogen hatte, hatte sich in dieser Schrift vor
jeder Heterodoxie gehütet. Vorsichtig hatte er den Unterschied
zwischen Engeln und Menschen festgehalten: Die Engel sind
ehrwürdiger und um vieles besser als die Menschen durch die
leibhaftigere und vollere Einwohnung der Trinität. Nur leise
klingt das origenistische Theologumenon an, daß die Menschen
zu Engeln werden: Es ist das Verlangen der vollkommenen
und zur Vollendung ihrer Heiligung kommenden Menschen,
den Engeln gleich zu werden. ) Man könnte nun und man
hat vermutet, daß Hieronymus die Heterodoxien des Didymus
wegretouchiert habe. Aber der Zweifel daran, daß der Origenist
Didymus die Termini o//oorr?/oc und äroiioovö/o:: gebraucht habe.
') Contra Rufin. II, 16, Vallarsi II, 507.
*) De spiritu sancto c. 60 ff., Vallarsi II, 164 ff.
') De spiritu sancto c. 7, Vallarsi II, 113.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 7Q
ist ganz unbegründet.') Obwohl wir das griechische Original
nicht FTiehr besitzen, werden wir es auch nach der Vorrede für
ausgeschlossen halten, daß Hieronymus inhaltlich tiefergreifende
Korrekturen angebracht hat. Es findet sich auch nichts, was
nicht Didymus geschrieben haben könnte. Wahrscheinlich ist nur
die Zitation von Arnos 4, 13 nach dem hebräischen Text eine
Glosse des Hieronymus, die er, um seine gelehrten Kenntnisse
anzubringen, eingefügt hat,') obwohl Didymus auch etwas
hebräisch konnte.') Daß wir es, abgesehen von einigen Aus-
lassungen und gelegentlichen Hinzufügungen, ^) mit einer im
ganzen wortgetreuen Übersetzung des Werkes des Didymus zu
tun haben, beweist auch die ausgebildete griechische Termino-
logie, die Hieronymus nicht ohne Schwierigkeiten lateinisch
wiederzugeben vermag. Die Übersetzung liest sich deshalb
vielfach schwülstig und ist nicht besonders gelungen, zumal
dem Hieronymus die scharfe begriffliche Gedankenentwicklung
des Didymus innerlich fremd war.
Nach der Vollendung der Übersetzung der Schrift des
Didymus wandte sich Hieronymus einem neuen Übersetzungs-
werk zu. Die Übersetzung der 3Q Homilien des Origenes zum
Lucasevangelium sollte Paula und Eustochium als Ersatz für
den oberflächlichen Kommentar des Ambrosius dienen. Aber
er war sich bewußt, daß diese Homilien diesen Zweck nur
unvollkommen erfüllten. Er beugte deshalb bereits in der
Einleitung vor: Ich gestehe ein, daß bevor jener einwirft - er
dachte natürlich an Ambrosius — daß Origenes in diesen
Traktaten wie ein Knabe mit Knöcheln spiele, anders die Werke
seines Mannesalters und wieder anders die ernsten Leistungen
seines Oreisenalters sind.') Er will deshalb später das Ver-
sprechen, das er einst in Rom der Bläsilla gegeben hatte, ein-
lösen und die ausführlichen Kommentare des Origenes zu
') s. Jacob Basnage, Animadversiones in Didymum et eins opera bei
Canisius, Lection. antiqu. Amsterdam 1728 1, 202.
-) De spiritu sancto c. 15, Valiarsi 11, 123.
*) Th. Schermann, die griechischen Quellen des heiligen Ambrosius.
München 1902. S. 79, Anm. 1.
^) s. über die einschneidendste Korrektur Schermann S. 80.
5) Prologus, Valiarsi Vil, 247.
80 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Matthäus, Lukas und Johannes übersetzen;') aber man merkt
es ihm deutlich an, daß er den alten Plan, den ganzen Origenes
ins Lateinische zu übersetzen,) doch nicht ausführen wird.
Dazu besaß der unruhige Gelehrte zu wenig ausharrende Hin-
gebung an eine so langwierige Arbeit. ) Sein späterer Ge-
sinnungswechsel ließ ihn natürlich diesen Gedanken ganz
zurückstellen.
Es ist schwer, sich ein sicheres Urteil über die Über-
setzung der Origeneshomilien durch Hieronymus zu bilden.
Schmerzlich vermissen wir gerade hier eine kritische Ausgabe
des Hieronymus, da die Textüberlieferung bei Vallarsi von
Zahn mit Recht als mangelhaft bezeichnet wird. Vom Ori-
ginal besitzen wir nur Fragmente, die aus lauter Katenenhand-
schriften stammen.') Die Homilien sind nach der Überschrift
an Sonntagen gehalten und gehören, wie Zahn bereits mit
Recht vermutet hat, nicht zu den extemporierten, sondern zu
den von Origenes selbst herausgegebenen Homilien. Sie fallen
wahrscheinlich in die erste Zeit seines palästinensischen Aufent-
halts.) Sicher ist zunächst, was aus gelegentlichen Zitaten
des Origenes erhellt, daß die 3Q Homilien, die Hieronymus
') Über die Differenzen der Zahlenangaben der Bücher des Origenes
zu Matthäus, Lucas und Johannes s. Harnack, altchristliche Literatur-
geschichte 1, 366 ff.
•-) s. Band 1, 212.
^) Es ist ein Irrtum Zöcklers S. 174, wenn er die Übersetzung der
Origeneshomilien vor die hebräischen Quästionen zur Genesis ansetzt. Die
Anordnung der Werke ist im Schriftstellerkatalog c. 135 die chronologische.
Aus den NX orten des prologus V'allarsi VII, 245: praetermisi paululum
Hebraicarum quaestionum libros geht hervor, daß Hieronynuis hebräische
Quästionen, also die zur Genesis, bereits geschrieben hatte, nur die Fort-
setzung der Quästionen zu den übrigen Büchern des alten Testaments zeit-
weilig vertagte.
*) Eine Zusammenstellung der griechischen Fragmente bei Harnack-
Preusclien, Altchristliche Literaturgeschichte 1,404 und ausführlicher bei Zahn,
Geschichte des neutestamentlichen Kanons II, 624, Anm. 2. Bei Harnack-
Preuschen ist die fehlerhafte Angabe, daß das Göttinger Programm — es
ist von Magnus Crusius — vom Jahre 1753 stammt, dahin zu korrigieren,
daß es 1735, also vor der Origenesausgabe von de la Rue 1740 Migne
P.S. 13, 1803 ff., in der die meisten griechischen Fragmente aufgenommen
sind, erschienen ist.
*) Zahn S. 623.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 81
Übersetzte, nur ein Teil einer größeren Sammlung waren.') Die
ersten 33 Homilien behandelten die 4 ersten Kapitel des Lukas-
evangeliums; dann scheint Hieronymus die Geduld verloren
und aus den Homilien über die übrigen 20 Kapitel des
Evangeliums nur noch 6 ausgewählt zu haben, die besonders
markante Schriftworte aus Kapitel 10, 12, 17, 19 und 20 be-
handelten.
Es ist nun weiter die Frage, ob wir eine wörtliche Über-
setzung oder eine freie Bearbeitung der Homilien vor uns
haben. Tiefgreifendere dogmatische Korrekturen am Text des
Origenes scheint Hieronymus nicht gemacht zu haben; denn
daß er den Ausdruck vjröaran/^. den Origenes vom heiligen
Geist braucht, entsprechend dernicänischenChristologie lateinisch
mit persona wiedergibt, darf nicht hierher gerechnet werden.')
Alle Heterodoxien des Origenes, auch solche, gegen die sich
Hieronymus bereits in seinen neutestamentlichen Kommentaren
verwahrt hatte, wie die Verwandlung der Seligen in Engel,')
die Präexistenz, Sündenfall und Einkerkerung der Seelen in
die Leiber,') das endliche Aufhören der Höllenstrafen') und
die Erlösung der gefallenen Engel") begegnen uns hier. Auch
die dem Hieronymus und seinen Freundinnen bei ihrem extra-
vaganten Marienkultus so anstößigen Äußerungen des Origenes
über die Mutter des Herrn, daß Maria der Reinigung von der
Sünde wie alle Menschen bedurft habe, ja zeitweilig im
Glauben an ihren Sohn wankend geworden sei,') hat Hierony-
mus wörtlich wiedergegeben.
Es kann sich nur darum handeln, ob Hieronymus Ver-
kürzungen oder Erweiterungen am Text vorgenommen hat.
Zahn hat bereits darauf hingewiesen, daß die lateinische Über-
setzung, mit den Fragmenten des Originals verglichen, teils
•) Zahn S. 622, Anm. 2.
') Origenes in Lucam Homilie 25 ed. de la Rue M. P. G. 13, 1866.
^) Homilie 39, Vallarsi VII, 365.
') Homilie 4, Vallarsi Vll, 257.
^) Homilie 35, Vallarsi VII, 358; der Versuch des Huetius die Äuße-
rung des Origenes orthodox zu deuten, ist undurchführbar.
«) Homilie 23, Vallarsi VII, 322; Homilie 31, Vallarsi Vll, 342.
') Homilie 14, Vallarsi VII, 286; Homilie 17, Vallarsi VII, 300;
Homilie 20, Vallarsi VII, 309, s. Zöckler S. 176.
O rü tz in ach e r , Hieronymus. II. 6
82 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
mehr, teils weniger bietet.') Auf Grund einer genauen Ver-
gleichung ergibt sich, daß außer wenigen Fällen, wo Hierony-
mus den griechischen Text verkürzt zu haben scheint,-) in der
Regel die lateinische Übersetzung ausführlicher ist. Vielleicht
hat aber Hieronymus doch das Original treu wiedergegeben,
und die griechischen Fragmente stellen nur einen verkürzten
Text dar. In einigen Fällen allerdings, wozu eine Reihe deut-
lich erkennbarer Glossen gehören, in denen Hieronymus einen
griechischen Ausdruck lateinisch erklärt, ) ist die überarbeitende
Hand des Hieronymus erkennbar. Die trockene und schlichte
Darstellungsweise des Origenes kontrastiert so stark von der
lebendigen rhetorischen Manier des Hieronymus, daß solche
formelle Redaktionen sofort ins Auge fallen. Wie knapp sind
z. B. die Ausführungen des Origenes über die Gerechtigkeit
in den Augen Gottes: die Menschen verstehen es nicht, in
würdiger Weise zu loben, da sie auf den Schein sehen, das
Verborgene aber nicht kennen. Bei ihnen erhält oft die irr-
tümliche Meinung vor der irrtumslosen Recht. Anders be-
urteilen jene, anders Gott das Leben der Menschen. Es kann
geschehen, daß einer nach dem, was vor Augen ist, vor den
Menschen gerecht erscheint, aber nach dem Verborgenen seines
Sinnes es nicht ist und im geheimen böse Gedanken hat.
Solche meint Paulus, wenn er von einigen spricht, deren
Lob nicht von Menschen, sondern von Gott ist. Hören
wir, was Hieronymus an dieser Stelle seiner Übersetzung
bietet: Es kann geschehen, daß ein Gerechter vor Menschen
gerecht ist, aber nicht vor Gott. Wenn z. B. ein Mensch
nichts hat, worin er über mich schlecht spricht, imd er, alles
an mir betrachtend, nichts findet, um mich herabzusetzen, so
bin ich in den Augen der Menschen gerecht. Stelle dir vor,
alle haben die gleiche Meinung über mich und versuchen
mich zu kritisieren und können dennoch nichts finden, sondern
loben mich einmütig, so bin ich gerecht vor den Augen der
meisten Menschen. Aber das Urteil der Menschen ist kein
') Zahn S. Ö24.
*) z. B. Homilie 1 de la Rue M. P. G. 13, 1803.
') z. B. jTejTÄi}QOfpoQr]jiievc>v de la Rue M. P. G. 13, 1803; ufjÜTiöro^
M. P. G. 13, 1805; KFjaQiTCiiLii-i'r) M. P. G. 13, 1816 usw.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 83
sicheres; denn sie wissen nicht, ob ich in der Verborgenheit
meines Herzens nicht gesündigt habe, ob ich ein Weib angesehen
habe ihrer zu begehren und in meinem Herzen der Ehebruch
geboren wurde. Die Menschen wissen auch nicht, wenn sie
mich nach meinen Kräften Almosen geben sehen, ob ich es
dem Gebot Gottes gemäß getan oder das Lob und die Gunst
der Menschen gesucht habe. Es ist ein schweres Ding in
den Augen Gottes gerecht zu sein und um keines anderen
Grundes halber das Gute zu tun, als des Guten halber und
Gottes halber, des Vergelters des guten Werkes. So redet
auch der Apostel von denen, deren Lob nicht von Menschen,
sondern von Gott ist.') Diese Texterweiterungen scheinen mir
in Gedanken und Form den Stempel des Geistes des Hierony-
mus zu tragen.) In anderen Fällen kann man zweifelhaft sein
und die oben angedeutete Lösung für die richtige halten, daß
Hieronymus nur den längeren ursprünglichen Text in der
Übersetzung erhalten hat und die Katenenhandschriften den
Text verkürzt haben.
Die Übersetzung der Origeneshomilien sollte Paula und
Eustochium ein Ersatz für den Lukaskommentar des Ambrosius
sein, aber die gelehrten Nonnen wünschten auch einen
Matthäuskommentar zu besitzen. Der, welchen sie bisher
gebraucht hatten, vermutlich der Evangelienkommentar des
Bischofs Fortunatianus von Aquileja,') genügte ihnen nach in-
') Homilie 2 de la Rue M. \\ G. 13, 1805, Anm. 3.
•-') Vgl. auch Homilie 27 de la Rue M. P. G. 13, 1870, die Aus-
führungen über Johannes den Täufer und das griechische Fragment zu
Homilie 39 bei Gallandi XIV, 109 und Gramer, Catenae II 147 und zu
Homilie 37 das bei Gramer, Gatenae II, 140 erhaltene Fragment mit der
Übersetzung des Hieronymus.
') Für die Identifikation des ungekannten Matthäuskommentars mit
dem Kommentar des Bischofs Fortunatianus sprechen folgende Gründe:
Hieronymus besaß diesen Kommentar, den er sich von dem Greis Paulus
aus Konkordia hatte schicken lassen ep. 10, 3, Vallarsi I, 24. In de
vir. illust. c. 97 charakterisiert er diesen Kommentar ähnlich wie in dem
Prolog zu den Lukashomilien: Fortunatianus in evangelia titulis ordinatis
breves sermone rustico scripsit commentarios. In der Vorrede zu seinem
Matthäuskommentar nennt er von lateinischen Kommentaren neben Hilarius
und Viktorinus nur noch den des Fortunatianus. Er kannte also außer den
beiden nur noch diesen lateinischen Kommentar zu Matthäus, Vallarsi VII, 7.
6«
84 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethleiiem.
halt und Form nicht.') Da Hieronymus trotz seiner skrupel-
losen Art rasch etwas auf das Papier zu werfen, einstweilen
nicht imstande war, ihren Wunsch zu erfüllen, lieh er ihnen
die Matthäuskommentare des Hilarius von Poitiers und des
Märtyrers Viktorin, die er in seiner Bibliothek besaß.') Erst
einige Jahre später entschloß er sich, einen eigenen Kommentar
zum Matthäusevangelium zu schreiben.
§ 32.
Hieronymus als Mönchsbiograph.
Immer neue literarische Pläne gingen Hieronymus durch
den Kopf. Er konnte die Einsamkeit des Klosters, wie es
scheint, auf die Dauer nur ertragen, wenn er Werke schuf,
durch die er die Aufmerksamkeit weitester Kreise auf sich zog.
Nichts mußte ihm, dem Ehrgeizigen, schmerzlicher sein, als ein
vergessener Mann noch zu seinen Lebzeiten zu werden. In
der Vorrede zu der Biographie des Mönches Malchus spricht
er von einem großen Oeschichtswerk, das die Geschichte der
Kirche von der Ankunft des Erlösers bis auf seine Zeit be-
handeln sollte. Seine Absicht scheint es gewesen zu sein,
eine Kirchengeschichte mit besonderer Berücksichtigung des
biographischen Elements zu schreiben: wie und durch welche
Männer die Kirche entstanden, herangewachsen, durch Ver-
folgungen erstarkt und durch Martyrien gekrönt ist und, nach-
dem sie unter die Herrschaft christlicher Fürsten gekommen
ist, an Macht und Reichtum zugenommen, an Tugenden aber
abgenommen hat. Dies klingt alles schön und groß. Hierony-
mus nimmt hier fast einen modernen Standpunkt in der Be-
urteilung der Geschichte der Kirche ein. Von den christlichen
Kaisern datiert nach ihm der Verfall und die sittliche Decadence
') Prologus in Orig. homil. in Lucam, Valiarsi VII, 245.
'-) Prologus in Orig. homil. in I.ucam, Valiarsi VII, 245.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 85
der Kirche. Wie anders hatte noch Eusebius geurteilt, als er
im Leben Konstantins ein Gemälde auf Goldgrund von dem
ersten christlichen Kaiser entwarf. Und ich bin sicher, falls
Hieronymus den Plan ausgeführt hätte, so hätte er bei der
mit so zähem Fleiß geschriebenen Eusebianischen Kirchen-
geschichte eine gründliche Anleihe gemacht. Als Vorläufer
seiner geplanten umfangreichen Kirchengeschichte schrieb
Hieronymus zwei kleine Biographien des gefangenen Mönches
Malchus und des seligen Hilarion. Schon als Eremit in der
Wüste Chalcis hatte er mit der Vita des angeblich ersten
Mönches, Paulus von Theben, die neue Literaturgattung der
Mönchsbelletristik durch ein besonders phantastisches Erzeug-
nis bereichert.') Jetzt ging er daran, die Geschichte eines
obskuren Mönches Malchus niederzuschreiben, die dieser ihm
einst selbst erzählt hatte, als er sich in Maronia aufhielt, einem
in der Nähe Antiochias gelegenen und seinem Freunde, dem
Bischof Evagrius, gehörigen Dorfe.') Evagrius war seit 388
oder 38Q der Nachfolger des Paulinus, der ihn einst zum
Priester geweiht hatte, an der kleinen orthodoxen Gemeinde
der syrischen Hauptstadt, Antiochia, geworden.
Die Vita, die keinen Mönchsheroen, sondern einen einfachen
syrischen Mönch aus Nisibis schildert, der nach wunderbaren
Schicksalen mit einer alten Frau in Maronia in geistlicher Ehe
unter einem Dach lebte, ist reich an intimen Zügen und legitimiert
sich dadurch als wesentlich historisch. Nur in der romantischen
Fluchtgeschichte des Mönchs finden sich einige lächerlich un-
glaubliche Situationen. Malchus und seine Genossin hatten
sich in eine Höhle geflüchtet; ihr Herr, dem sie entlaufen
waren, verfolgte sie mit einem Diener und gelangte auch zu
der Höhle. Als darauf der Diener und der Herr sich in
die Höhle begaben, um sich der Flüchtlinge zu bemächtigen.
') s. Band 1, löOff. Über die griechischen Rezensionen, die zum
Teil sehr frei das lateinische Original wiedergeben, s. die gründliche
Arbeit von J. Bidez, Deux versions grecques inedites de la vie de Paul
de Thebes, Recueil de travaux publies par la faculte de philosophie et
lettres 25 fasc. Gent 1900 (dazu meine Anzeige, Deutsche Literaturzeitung
1902, S. 1503 N. 24.
") Vita Malchi c. 2 u. c. 10, Vallarsi II, 42 u. 48.
86 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
tauchte plötzlich zur rechten Zeit eine Löwin auf, die beide
nacheinander zerriß, die Flüchtlinge aber und die Dromedare
der Verfolger merkwürdigerweise verschonte. Als aber
Malchus am Abend die Höhle zu verlassen wagte, standen
noch immer die Dromedare ruhig wiederkäuend vor der Höhle
und schienen nur darauf zu warten, daß Malchus und seine
Mitsklavin sie zum Ritt durch die Wüste benutzten.
Besonders interessant ist die Vita Malchi, weil sich in ihr
sehr stark dieUngebundenheit des ältesten Mönchslebens wieder-
spiegelt. Malchus verließ gegen den Willen seines Abtes seine
Eremitengenossenschaft, der er sich angeschlossen hatte, und
der Abt hatte kein rechtliches Mittel, ihn zurückzuhalten. Er
wollte sein Erbgut verkaufen, einen Teil den Armen, einen
Teil seinem Kloster zuwenden, einen Teil aber sich selbst zu
eigner Verwendung vorbehalten. Der Mönch hatte noch das
Recht, völlig frei über seinen Besitz zu verfügen und, wenn
er es auch als Untreue empfand, daß er sich selbst etwas
reservieren wollte, so konnte ihn doch keiner daran hindern.
Auch die Form des Zusammenlebens eines Mönches mit einer
Frau in einer Hausgemeinschaft, die die Mönchsregeln des
Pachomius und Basilius streng verbieten, erscheint hier noch
als etwas Harmloses und durchaus Unanstößiges. Und der
Fleischgenuß — der Mönch nährte sich auf der Flucht von
halbrohem Fleisch und Kamelsmilch — wurde ebenfalls noch
nicht als etwas Unerlaubtes verpönt. Die Vita ist eine wich-
tige Urkunde für die überaus elastischen Formen des ältesten
Mönchtums, die sich erst im Laufe der Zeit allmählich ver-
festigten.
Neuerdings hat man diese Vita dem Hieronymus ab-
gesprochen und sie für die leichte Überarbeitung eines grie-
chischen Originals von unbekanntem Verfasser erklärt. Nur
die Vorrede soll von Hieronymus stammen, in der Vita aber
hätten wir es mit einem mit höchstem Raffinement ausgeführten
literarischen Raub zu tun.') Mit schneidendem Scharfsinn hat
van den Ven die Gründe für diese Hypothese widerlegt
*) s. Kunze, Marcus Eremita und Hieronymus, Theol. Literaturblatt
1898 XIX, 391 398 und H. von Schubert, Lehrbuch der Kirchengeschichte I,
596, der diese Hypothese übernommen hat.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 87
und die lateinische Vita, die in allen Einzelzügen den Stil
und Geist des Hieronymus erkennen läßt, als das Original
und den griechischen Text als Übersetzung erwiesen, von der
noch eine Tochterübersetzung in syrischer Form auf uns ge-
kommen ist.') ich möchte den Gründen, die dagegen sprechen,
daß wir es in der Vita Malchi mit einer dreisten Aneignung
fremden Gutes durch Hieronymus zu tun haben, nur noch einen
hinzufügen: Dürfen wir ihm denn etwas Derartiges zutrauen?
Gewiß war Hieronymus nicht prüde in der Benutzung fremder
Arbeiten, aber er war viel zu klug, um in so schamloser Weise
seine literarische Freibeuterei zu üben, wie man hier ange-
nommen hat. Er, der den Ambrosius des Plagiats an den
Griechen beschuldigte, wußte, daß ihm seine Gegner auf die
Finger paßten. Er hätte sich nie eine solche Blöße gegeben
und die Übersetzung eines fremden Werkes ohne jede An-
deutung in der Vorrede für sein eignes ausgegeben.
Auch die bald nach der Vita Malchi von Hieronymus ver-
faßte Vita des Hilarion von Gaza ist mit hyperkritischem Miß-
trauen behandelt worden.') Gewiß finden sich in der Vita
viele legendarische Züge, die aber nicht allein auf das Konto
des Hieronymus, sondern der Volkssage zu setzen sind, wie sie
sich schon bei Lebzeiten des Heiligen ausbildete. Wir sind
auch nicht imstande, den historischen Kern in allen einzelnen
Zügen herauszustellen, da uns außer der Vita des Hieronymus,
der einen verlorenen Brief des Bischofs Epiphanius von Salamis
benutzte, nur noch bei dem Kirchenhistoriker Sozomenos einige
*) Paul van den Ven, S. Jerome et la vie du moine Malchus le Captif,
Löwen 1901 (s. dazu meine Rezension Deutsche Literaturzeitung 1902,
Nr. 4, S. 225). Besonders wichtig ist der Nachweis van den Vens, daß die
griechische Übersetzung an allen Punkten der Vita Malchi, in denen die
Ungebundenheitdes ältesten Mönchtums hervortritt, entsprechend derspäteren
strengeren Disziplin Korrekturen angebracht hat.
») W. Israel, Die Vita S. Hilarionis des Hieronymus als Quelle für
die Anfänge des Mönchtums kritisch untersucht, J. f. w. Th. 23, 129 ff. 1880;
dagegen O. Zöckler, Hilarion von Gaza, eine Rettung N. J. f. d. Th.
3, 147 ff. 1894; Grützmacher, Hilarion R. E. 3 Vlll, 54—56, 1900. Über die
griechische Übersetzung der Vita, die von Sophronius, dem Freund des
Hieronymus, stammt, s. P. van den Ven, Jerome et la vie du moine Malchus
le Captif, Löwen 1901, S. 105 ff.
88 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
unabhängige Angaben aus der mündlichen Tradition über
Hilarion überliefert sind.') Es ist aber ein durch nichts zu recht-
fertigender Gewaltstreich, wenn man dem Hilarion sogar die
Existenz abgesprochen hat. Die wichtigsten Tatsachen seines
Lebens sind durchaus historisch glaubwürdig. Hilarion war in
Tabatha, fünf römische Meilen südlich von Gaza, 291 von heid-
nischen Eltern geboren. In Alexandria hatte er den ersten
Unterricht empfangen und hier Griechisch gelernt, das er neben
seiner Muttersprache, dem palästinensischen Aramäisch, be-
herrschte. Dann kehrte er in die Heimat zurück und begann,
ergriffen von der mönchischen Erweckungsbewegung, in der
Nähe der Hafenstadt Gazas, Majuma, ein Eremitenleben in
Nachahmung des ägyptischen Heiligen Antonius zu führen.
Bekleidet mit einem groben härenen Untergewand, einem aus
Fellen bestehenden Obergewand und dem kurzen Mantel, wie
ihn die Hirten trugen, erwarb er sich seinen Unterhalt nach
Art der ägyptischen Eremiten durch Flechten von Körben aus
Binsen. Er fastete bis zum Sonnenuntergang und wohnte in
einer kleinen, nach Sozomenos aus Reisig, Ziegeln und Ton-
scherben hergestellten Einsiedlerzelle. Durch häufige Dämonen-
erscheinungen geplagt, erhielt er die Gabe der Heilung dämo-
nischer und anderer Kranker. Als ihm die Heilung der Söhne
einer vornehmen Frau Aristänete und des Elpidius, eines späteren
praefectus praetorio, gelang, sammelte sich 32Q um ihn eine
Eremitenkolonie. Viel weiß Hieronymus auch von dem Missions-
wirken des Hilarion unter den Sarazenen zu berichten, eine
Nachricht, die an dem Zeugnis des Sozomenos, daß sein eigner
Großvater Alapion in Bethelia von Hilarion zum Christentum be-
kehrt worden sei, und an dem Übertritt sarazenischer Stämme zum
Christentum vor dem Regierungsantritt des Kaisers Valens ihre
Stütze findet. Später verließ Hilarion Palästina und begab sich
nach Ägypten, wo er die von Kaiser Constantius verbannten
Bischöfe Dracontius und F^hilo und die Stätte, an der der be-
rühmte Eremit Antonius geweilt hatte, aufsuchte. Von Ägypten
gelangte er nach Sizilien, wo er einige Zeit in der Nähe des Vor-
') Sozomenos, Hist. eccl. 111, 14; V. 10; VI, 32 hat bereits, wie
van den Ven S. 108 ff. nachgewiesen hat, die griechische Übersetzung der
Vita Hilarionis gekannt und benutzt.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 89
gebirges Pachynum als Eremit hauste; dann wanderte er nach
Epidaurus in Dahnatien und kam von dort nach Cypern. Hier
lernte ihn der Verehrer des Mönchtums, Epiphanius von Salamis,
kennen und hier starb er im Jahre 371 SOjährig. Zum großen
Schmerze der Cyprioten wurde der Leichnam des Heiligen von
einem Schüler nach Majuma entführt. In Palästina blieb sein
Andenken lebendig, und in der Nähe Bethelias hat Sozomenos
noch eine Zahl von Schülern des Hilarion kennen gelernt, die
er namentlich nennt. Wenn Hieronymus auch die Bedeutung
seines Heiligen aus lokalpatriotischen Motiven stark übertrieben
haben mag, um dem palästinensischen Mönchtum einen dem
ägyptischen Antonius ebenbürtigen Patriarchen zu geben, so
gebührt doch dem Hilarion der Ruhm, schon früh in der ersten
Hälfte des 4. Jahrhunderts das Eremitenleben nach Palästina
verpflanzt und im Süden des Landes verbreitet zu haben. Doch
geht die Entstehung zahlreicher Klöster und Eremitenkolonien
in Palästina im Verlaufe des 4. Jahrhunderts, über die wir durch
Basilius und Hieronymus selbst unterrichtet sind, keineswegs auf
Hilarion allein oder auch nur in erster Linie auf ihn zurück.')
Die Vita des Hilarion ist die umfangreichste und die am
gewandtesten und ruhigsten') geschriebene der drei Mönchs-
biographien, die wir von der Hand des Hieronymus besitzen.
Es ist ein Fortschritt in der Leichtigkeit und Gefälligkeit der
Darstellung unverkennbar, wenn wir die Biographie des Paulus
von Theben mit der des Hilarion vergleichen.^) Die Kunst zu
fabulieren versteht Hieronymus wie keiner seiner Zeitgenossen,
dies müssen ihm auch seine Neider lassen, wenn er auch viele
Motive aus dem antiken Roman in die christliche Legende
hergenommen hat, und der literarische Charakter der Vita
Hilarionis durch die Formen der antiken Biographie bestimmt
ist.*) So grob sinnliche Erzählungen, wie sie uns in der Vita
') Basilius ep. 207, 223, 226, Hieronymus ep. 82.
-') Martin Schanz, Geschichte der römischen Literatur !V, S. 395, möchte
deshalb auf ein griechisches Original schließen ; nach meiner Meinung haben
wir auch hier keinen Grund zu dieser Annahme.
^) s. auch Zöckler, Hieronymus S. 179.
') P. Winter, Der literarische Charakter der Vita beati Hilarionis des
Hieronymus, Programm zur Gedächtnisfeier für den Senator P. F. A. Just,
Zittau 1904.
90 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Pauli begegneten, finden sich in den beiden späteren Viten
nicht. Nur gelegentlich tritt seine unbezwingbare Lüsternheit
hervor. Er kann es eben bisweilen nicht lassen, Situationen
von prickelndem Reiz zu schildern, obwohl wir auch hier nicht
zu scharf urteilen dürfen, da zum Teil die großartige Ungeniert-
heit in der Behandlung geschlechtlicher Dinge als Reflex antiker
Naivität angesehen werden muß.')
Vor allem aber verstattet uns die Vita Hilarionis einen tiefen
Blick in die christliche Volksfrömmigkeit der Zeit. Hilarion
macht unfruchtbare Weiber fruchtbar, heilt Blinde und Gicht-
brüchige, treibt nicht nur Dämonen aus Menschen aus, son-
dern es gelingt ihm auch, ein wütendes baktrisches Kamel
von seinem Dämon zu befreien und dadurch zu zähmen.-)
Hilarion besitzt die Gnadengabe, aus dem Gerüche der Per-
sonen und Sachen, mit denen er in Berührung kommt, zu er-
kennen, welchem bösen Geist und welchem Laster jemand
unterliege. Als sein Jünger Hesychius ihm ein Büschel grüner
Erbsen aus dem Garten eines geizigen Eremiten zur Abend-
mahlzeit vorsetzt, ruft er entsetzt aus: Riechst du nicht diesen
häßlichen Gestank, wie sie nach Habsucht stinken. ) Un-
gemein charakteristisch ist auch die Geschichte eines heid-
nischen Jünglings, der eine gottgeweihte Jungfrau entehren
will, für den Kampf des heidnischen und christlichen Aber-
glaubens. Der Jüngling geht nach Memphis zu den Priestern
des Äskulaps, d. h. des Serapis, und kehrt mit cyprischen
Metalltäfelchen zurück, auf denen sonderbare Worte und Figuren
eingegraben sind, und vergräbt diesen Liebeszauber unter der
Schwelle der Wohnung des Mädchens. Der Zauber wirkt, das
Mädchen fängt in wilder Liebesleidenschaft an zu rasen, und
die Eltern bringen es zu Hilarion. Der Greis redet den Liebes-
teufel an, der in sie gefahren ist: Groß ist deine Macht, der
du durch einen Bindfaden und Metalltäfelchen gebunden fest-
gehalten wirst. Sage mir, weshalb hast du es gewagt, in die
gottgeweihte Jungfrau zu fahren. Dann treibt er ihn aus.')
') Vita Malchi c. 6, Vailarsi II, 45, Vita Hilarionis c. 21, Vallarsi II, 23.
2) Vita Hilarionis c. 13, c. 15, c. 19, c. 23.
») Vita Hilarionis c. 28.
•») Vita Hilarionis c. 21.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 91
Die Vita Hilarionis stellt uns mit greifbarer Deutlichkeit die
starke Assimilation des Christentums an das Heidentum, mit
dem es in heißem Kampfe liegt, und seine fortschreitende Verwelt-
lichung vor Augen. Von den Zirkusunternehmern zu Gaza
ist der eine ein Diener des Gottes Marnas, der andere ein
Christ. Da der heidnische Konkurrent sich einen Zauberer
hält, der durch dämonische Beschwörungen seine Pferde an-
treibt und die seines Gegners zurückhält, begibt sich der Christ
zu Hilarion und bittet um seinen Beistand. Nach einigem
Sträuben — hatte Hilarion doch einst einen todkranken Wagen-
lenker nur unter der Bedingung geheilt, dem verfluchten Zirkus-
spiel zu entsagen') — gibt ihm Hilarion seinen mit Wasser
gefüllten Tonbecher, und der Christ besprengt damit Pferde,
Wagen, Stall, Wagenlenker und die Zirkusschranken. Bei dem
Rennen siegen die Pferde des Christen, und alles Volk, auch
die Heiden, schreien: Der Gott Marnas ist von Christus be-
siegt worden.) Eine christliche Magie stellt sich der heid-
nischen entgegen; je mehr sich das Christenturti in der Welt
einlebte, um so stärker flutete der heidnische Aberglauben in
das Christentum hinein.
§ 33.
Die Bibelübersetzung des Hieronymus.
In Rom hatte Hieronymus einst die Revision des neu-
testamentlichen Textes auf Anregung seines hohen Gönners,
des Papstes Damasus, begonnen und nach dessen Tode fort-
gesetzt. Ob er diese Arbeit bereits in Rom oder erst in den
ersten Jahren seines Aufenthaltes in Bethlehem vollendet habe,
darüber können wir nur Vermutungen aufstellen. Wahrschein-
lich lag sie im Jahre 392 bei der Abfassung des Schriftsteller-
>) Vita Hilarionis c. 16.
-) Vita Hilarionis c. 20.
92 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
katalogs, sicher im Jalire 3Q8 fertig vor/) Daß Hieronymus
aber in Bethlehem eine neue, unmittelbar aus dem griechischen
Grundtext schöpfende lateinische Ausgabe des Neuen Testa-
ments verfertigt habe, läßt sich durch nichts beweisen, und
diese Annahme ist auch allgemein aufgegeben.'-)
Hieronymus wandte jetzt seine ganze Arbeit dem Alten
Testamente zu. Schon in Rom hatte er den altlateinischen
Psalter einer Revision unterzogen. In den ersten Jahren seines
Bethlehemitischen Aufenthaltes hatte er dann, da der Text des
liturgisch viel gebrauchten Buches abermals verwildert war,
eine neue gründlichere Revision des Psalters nach dem
hexaplarischen Text der LXX folgen lassen. ) Dem Psalter
ließ Hieronymus eine Revision des Buches Hiob folgen.') in
seiner Vorrede weist er mit Resignation darauf hin, daß er mit
solchen textkritischen Arbeiten nur bissigen Anfeindungen
ausgesetzt sei: ) den Verbesserer der Fehler nenne man einen
Fälscher, der die Irrtümer nicht entferne, sondern säe; denn
die Gewöhnung an das Alte sei gerade beim Bibeltext so
groß, daß auch eingestandene Fehler ängstlich konserviert
werden und man lieber schönere Kodices als emendierte haben
wolle. Es ist eine Ironie im Leben des Hieronymus, die
manches erklärt, daß er für seine mühevollste und beste Arbeit,
die dem Text der Bibel gewidmet war, fast nur Undank erntete,
während er für seine leichtfertigen und flüchtigen Leistungen
') s. Chronologie Bd. I, 77ff u. 219ff.
^) Corssen, Epist. ad Oal. Berlin 1885, S. 35, hat die Vermutung aus-
gesprochen, daß das Neue Testament nach Hieronymus eine Rezension
erfahren habe, da sich zwischen den Kommentaren des Hieronymus und
der Vulgata Differenzen bemerkbar machen.
') s. Bd. 1, 223ff. u. H. Ehrensberger, Psalterium vetus und die
Psalterien des heiligen Hieronymus, S. 1 — 14, Programm, Tauberbischofs-
heim 1887.
*) Lagarde, Mitteilungen II, ISQff., hat in seiner Ausgabe des Hiob
nach der alexaiidrinischeii Version lediglich den in den beiden einzigen
ihm bekannten Handschriften vorliegenden Text abgedruckt; C. P. Caspari,
Das Buch Hiob 1, 1 bis 38, U) in Hieronymus' Übersetzung aus der
alexandrinischen Version nach einer St. Gallener Handschrift saec. VIII,
Christiania 1893; Georg Baer, Textkritische Studien zum Buche Hiob, Zeit-
schrift f. alttest. Wissenschaft 1896, S. 297—314.
■') s. auch Praef. in lib. Paralipom., Vallarsi X, 433.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethiehein. 93
von der urteilslosen Menge seiner Bewunderer gepriesen
wurde. Hat doch in dieser Hinsicht auch sein größter Zeit-
genosse Augustin so wenig wissenschaftlichen Sinn besessen,
daß er der Hieronymianischen Übersetzung des Alten Testa-
ments aus dem Hebräischen nicht nur keinen Geschmack
abgewinnen konnte, sondern von ihr die größte Verwirrung
der Gemeinden ängstlich besorgte.')
Hieronymus mußtesich bei der Revision desHiob,die erPaula
und Eustochium, diesem einzigen Exempel von Adel und Demut,
dedizierte, damit trösten, daß wenigstens diese beiden ihm er-
gebenen Frauen seine Arbeit voll zu würdigen imstande waren
und sich über den seligen Hiob, der bei den Lateinern im
Schmutze lag und von den Würmern der Irrtümer starrte,
nach seiner Wiederherstellung freuen würden. Diese Revision
der altlateinischen Bibelübersetzung nach dem hexaplarischen
Text der LXX setzte Hieronymus fort. Sicher hat er eine
solche revidierte Ausgabe der Salomonischen Schriften, Pro-
verbien, Prediger, Hoheslied und der Chronik herausgegeben.
Wir besitzen zwar nicht mehr den Text, wohl aber noch die
Vorreden zu diesen Ausgaben, von denen die zu den salo-
monischen Schriften Paula und Eustochium,) die zu den Büchern
der Chronik seinem römischen Freunde Domnio und einem
sonst unbekannten Rogatianus zugeeignet waren. )
Wie bei der Revision des Psalters bediente sich Hierony-
mus in diesen nach der hexaplarischen LXX revidierten
Büchern der von Origenes gebrauchten kritischen Zeichen.
Der Obelus bezeichnete alle im hebräischen Texte fehlenden
Sätze der LXX, der Asteriskus dagegen die Sätze, die sich nur
im hebräischen Texte und in der Übersetzung des Theodotion
fanden. Allerdings erwähnt er in den Vorreden zu Hiob, der
Chronik und den Salomonischen Büchern nicht ausdrücklich seine
Benutzung der Übersetzung des Theodotion, was natürlich
nicht ausschließt, daß er sie zur Hilfe herbeigezogen haben
wird. Aber er hat doch sicher nicht nur die in der LXX
fehlenden Sätze einfach nach Theodotion ins Lateinische über-
*) Ep. 112, 20 Hieronymi ad Augustinum, Vallarsi I, 746ff.
2) Praef. in lib. Salomonis iuxta LXX, Vallarsi X, 435.
*) Praef. in lib. Paralipom., Vallarsi X, 433.
94 Die ersten Jahre im Kloster zu Betlilehetii.
setzt, sondern bereits bei dieser Revisionsarbeit den hebräischen
Text selbst herangezogen. In der Vorrede zur Chronik gedenkt
er ausführlich dieser seiner Bemühungen. Er hatte einen
Gesetzeslehrer aus Tiberias, der bei den Hebräern in hohem
Ansehen stand, beigezogen und mit ihm die Chronik von An-
fang bis zu Ende durchgelesen. Das kritische Resultat, das
sich ihm aus dieser gemeinsamen Lektüre ergab, faßte er dahin
zusammen, daß gerade dieses alttestamentliche Buch, das so
viele Namen enthielt, in den griechischen und lateinischen
Kodices von Fehlern wimmelte und die hebräischen Namen
so entstellt waren, daß man sie für barbarische oder sarmatische
Namen halten konnte. Hieronymus glaubte aber, daß die
Schuld nicht den Übersetzern der LXX, sondern den Ab-
schreibern zuzuschreiben sei. Diese haben aus unemendierten
Kodices Unemendiertes abgeschrieben, indem sie oft drei
Namen mit Ausstoßung von Silben in ein Wort zusammen-
faßten oder einen Namen wegen seiner Länge in zwei oder
drei Worte teilten.
Hat nun Hieronymus das ganze Alte Testament nach den
LXX emendiert oder nur einen Teil, Psalter, Hiob, Chronik
und die Salomonischen Schriften? Zöckler') hat das erstere
angenommen und eine Revision sämtlicher kanonischen Bücher
des Alten Testaments mit Ausschluß der Apokryphen durch
Hieronymus für wahrscheinlich erachtet. Er hat sich für diese
Annahme auf Äußerungen des Hieronymus berufen, in denen
er ganz allgemein von einer Revision des lateinischen Alten
Testaments nach den LXX spricht. Den Angriffen Rufins
gegenüber, der wie Augustin von seiner Übersetzung des
Alten Testaments aus dem Hebräischen nichts wissen wollte,
berief sich Hieronymus auf seine Revision der Itala nach den
LXX, die er mit dem größten Fleiße angefertigt habe, um ihm
zu beweisen, daß es doch ein Blödsinn wäre, ihn als Feind
der LXX zu bezeichnen.') Und an den vornehmen Spanier
Lucinius, der ihn 398 um eine Abschrift seiner Bücher bat,
schrieb er, daß er gewiß die Edition der LXX, die er vor
') Hieronymus S. 182.
^) Contra Rufin. 11, 24, Vallarsi II, 518; Contra Rufin. Mi, 25, Vallarsi
11. 555; ep. 106, 2, Vallarsi 1, 676.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 95
vielen Jahren aufs fleißigste emendiert herausgegeben habe,
besitze.') Trotzdem diese beiden Äußerungen so allgemein
lauten, glaube ich nicht, daß Hieronymus außer den oben-
genannten Schriften, von denen uns entweder noch der Text
oder wenigstens die Vorreden erhalten sind, noch sämtliche
übrieen Schriften des Alten Testaments nach den LXX
emendiert hat. Daß von dieser Italarevision des Hieronymus
keine Spuren mehr erhalten sind, ist natürlich kein durch-
schlagender Grund für diese Annahme. Man könnte zur Er-
klärung dieses Tatbestandes eine gelegentliche Äußerung des
Hieronymus in einem Briefe an Augustin vom Jahre 415 her-
beiziehen. Hieronymus entschuldigt sich hier dem Augustin
gegenüber, ihm keine Abschrift seiner Italarevision nach den
LXX besorgen zu können, da einmal in Palästina Mangel an
des Lateinischen kundigen Abschreibern sei, dann aber habe
er auch das meiste seiner früheren Arbeit durch den Betrug
eines Unbekannten, den er nicht namhaft macht, verloren.')
Man könnte also damit das spurlose Verschwinden des größten
Teils eines so umfassenden Werkes erklären. Was mir aber für
meine Ansicht zu sprechen scheint, ist, daß Hieronymus in
seinen Vorreden zur Übersetzung des Alten Testaments aus
dem Hebräischen von einer Revision der Psalmen, des Hiob,
der Salomonischen Schriften und der Chronik, die er nach
den LXX vorgenommen habe, spricht und sie denen zum Ge-
brauch empfiehlt, die seine Übersetzung aus dem Urtext nicht
gebrauchen wollen.') Es sind dies aber gerade die Bücher,
von denen wir allein mit Sicherheit aus dem erhaltenen Text
oder aus den Vorreden wissen, daß er sie emendiert hat. Es
wäre ein ganz merkwürdiger Zufall, wenn er in allen anderen
Fällen, falls er wirklich das ganze Alte Testament nach den LXX
emendiert hätte, von dieser Arbeit geschwiegen hätte. Nur
betreffs der Prophetenbücher scheint es mir noch möglich, ja
sogar wahrscheinlich, daß sie Hieronymus nach dem LXX
revidiert hat; denn in seinen Kommentaren zu den Propheten
») Ep. 71, 5, Vallarsi 1, 432.
2) Ep. 134, Nachschrift, Vallarsi 1, 1038.
3) Die Vorrede bei Migne 28, 11 25 ff.; 28, 11 79 ff.; 28, 1323 ff.;
28, 1012, 41 ff.
96 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
stellte er neben die Übersetzung aus dem hebräischen Text
die Übersetzung nach der LXX.')
Wir dürfen annehmen, daß diese Revisionsarbeit des
Hieronymus an einem Teil der alttestamentlichen Bücher sich
rasch und weit im Abendlande verbreitete. Als ihm der
Spanier Lucinius 398 schrieb, setzte Hieronymus voraus, daß
dieser im Besitze seiner Revision des Alten Testaments sei,
und Augustin benutzte für seine Annotationen zu Hiob ebenfalls
die Hieronymianische Hiobrezension nach den LXX. Daß auf
uns nur die Texte des Psalter und Hiob in dieser Revision
gekommen sind, w^ährend Chronik, Propheten und Salomonische
Schriften verloren gegangen sind, mag die bereits oben er-
wähnte zufällige Notiz des Hieronymus erklären, wonach er selbst
schon zu seinen Lebzeiten nicht mehr Abschriften sämtlicher
von ihm revidierten Bücher besaß, sondern durch Betrug eines
Unbekannten darum gebracht worden war. Hat aber Hieronymus
nur einen Teil des Alten Testaments nach den LXX einer Revision
unterzogen, so wird auch das Schweigen über diese Arbeit
in seinem 3Q2 verfaßten Schriftstellerkatalog verständlicher.
Daß er diese Arbeit damals bereits fertiggestellt hatte, ist so
gut wie sicher. Er erwähnt hier aber nur seine Übersetzung
des Alten Testaments aus dem Hebräischen, die er damals
nur begonnen, aber sicher noch nicht vollendet hatte. ) Wahr-
scheinlich hatte die hexaplarische Italarevision für ihn in der
Zeit ihre Bedeutung verloren, in der er mit der Übersetzung des
Alten Testaments aus dem Grundtext begonnen hatte; und
dann war diese Revisionsarbeit ein Torso geblieben, an dem
er, der sonst doch nicht allzu bescheiden von seinen Arbeiten
dachte, so wenig Freude hatte, daß er im Verzeichnis seiner
Werke für die Nachwelt davon schwieg. Bedeutsam ist aber
diese Arbeit vor allem dadurch, daß sie uns zeigt, wie Hierony-
mus sich stufenweise immer mehr seinem Ziel, einen möglichst
authentischen Text des Alten Testaments herzustellen, annähert.
Erst hatte er nur den Italatext des Psalters korrigiert, dann
hatte er eine gründlichere Revision des Psalters, der Bücher
') Humfr. Hodius, De Bibiiorum textibus origin. vers. gr. et latina
vulgata I. IV Oxon. 1705 fol. S. 354 ff.
") De vir. illiist. c. 135.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 97
Salomonis, der Chronik und wahrscheinlich auch der Propheten
nach dem hexaplarischen Texte der LXX vorgenommen, und
zuletzt machte er sich an eine neue Übersetzung des Alten
Testaments aus dem hebräischen Text.
Hier zeigt sich Hieronymus in der immer tieferen Er-
fassung der wissenschaftlichen Aufgabe, die er sich stellte,
als wirklicher Gelehrter, der er trotz aller Flüchtigkeit und
alles Leichtsinns wenigstens der Anlage nach war. In
dieser Beziehung übertrifft er alle seine Zeitgenossen, auch
Augustin mit eingeschlossen, weit. Wir müssen aber auch
seine eminente Arbeitskraft und Arbeitsfreudigkeit bewundern,
daß er nach der mühevollen Arbeit der Revision eines Teils
des Alten Testaments nach den LXX nicht vor der viel mühe-
volleren einer Übersetzung des ganzen Alten Testaments
aus dem Orundtext zurückschreckte. Und es ist dies um
so höher einzuschätzen, als der nach Anerkennung Lüsterne
eine Arbeit unternahm, von der er sich nach seinen Er-
fahrungen in Rom sagen mußte, daß er nur Undank ernten
werde; und in der Tat haben ja die Besten seiner Zeit, wie
bereits oben hervorgehoben wurde, Männer wie Augustin, das
gigantische Unternehmen nicht nur nicht zu würdigen ver-
mocht, sondern mit unverhohlenem Mißtrauen begleitet. Das
Dogma von der Verbalinspiration der Heiligen Schrift und
seelsorgerische Bedenken wegen der Verdrängung des alten
geheiligten Textes reagierten gegen jede Arbeit am Text der Bibel.
Zuerst begann Hieronymus die zwei Bücher Samuelis und
die zwei Bücher der Könige, nach griechischer Zählung die
vier Bücher der Könige, zu übersetzen.') Vielleicht nahm er
diese Bücher zuerst in Angriff, weil sie ihm die geringsten
sprachlichen Schwierigkeiten bereiteten. In dem sogenannten
prologus galeatus an Paula und Eustochium schickte er dem
ganzen Übersetzungswerk eine Vorrede voraus.") Er nennt
hier keine Hilfsmittel, die er benutzt hat; aber es ist deutlich,
daß er seine Kenntnisse den Hebräern und Origenes verdankt.
So finden wir z. B. seine Mitteilung über die Schriftzeichen
■fc>
') Chronologie Bd. I, 74 ff.
-) Vallarsi IX, 453-60, Migne 28, 547 ff.
O rü tzinach er, Hieronymus. II.
98 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
der Juden, wonach die Juden früher die samaritanische Schrift
gebrauchten und erst nach dem Exil durch Esra die jetzt
übhche Quadratschrift annahmen, im Talmud und bei Origenes
wieder.') Hieronymus zählt 22 kanonische Bücher des Alten
Testaments nach den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets
wie Origenes und Athanasius.) Daneben weiß er noch von
einer Zählung von 24 Büchern, wobei Ruth und Klagelieder
als selbständige Bücher gezählt würden, und von einer von
27 Büchern, welche den 27 Buchstaben entsprächen, die das
hebräische Alphabet mit Einschluß der fünf Finalbuchstaben
habe.*) Das Plus der fünf kanonischen Bücher entsteht bei der
letzteren Zählung durch Zählung von zwei Büchern Samuelis,
zwei Büchern der Könige, zwei Büchern der Chronik, zwei
Büchern Esra und Trennung der Klagelieder vom Propheten
Jeremias. Er gibt dann die griechischen und hebräischen
Namen der Bücher des alttestamentlichen Kanons*) und zählt
fünf Bücher Mosis, acht Propheten und neun Hagiographen,
zu denen er hier nach hebräischer Anordnung, abweichend
von seiner sonstigen Gewohnheit, Daniel zählt. )
Scharf versuchte Hieronymus die Apokryphen vom Kanon
abzugrenzen: Was nicht zu dem Kanon gehört, ist zu den
Apokryphen) zu rechnen, wie die Weisheit Salomonis, Jesus
Sirach, Judith, Tobias, der Hirte des Hermas'), das erste Buch der
') Origenes in Ez. 9, 4 u. Ps. 2 de la Rue H, 539; Gemara Hier.
Sanhedrin f. 22, s. H. Reusch, Lehrbuch der Einleitung ins Alte Testament,
Freiburg 1870, S. 185 ff.
-) Eusebius, Hist. eccl. VI, 25; Athanasius epist. fest. I, 961 ed. Ben.
^) Epiphanias, De mensuris et ponderibus c. 22 u. 23.
••) s. über die Abweichungen von Origenes u. Eusebius die An-
merkungen Martianay bei Vallarsi iX, 453ff.
*) In der f'raef. in Dan., Migne 28, 1291 zählt er fünf Bücher Mosis,
acht Propheten und elf Hagiographen, wobei jedenfalls Ruth und Klage-
lieder als selbständige Bücher unter den Hagiographen gezählt sind;
ep. 33, 8, Vallarsi 1, 277: Daniel quartus vero, qui et extremus inter
quattuor profetas.
'^) Über seine Stellung zu den Apokryphen s. die alles Material bei-
bringende Abhandlung von L. Sanders, Etudes sur S. Jerome, Brüssel
1903, La question de la canonicite des libres deuterocanoniques, S. 196 ff.
') Über die Stellung des Hermas beim Alten Testament und seine
Wertung s. Athanasius, ep. fest. ed. Ben. 1, 963 und Sanders, S. 198 ff.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 99
Makkabäer, von dem Hieronymus noch den hebräischen Grund-
text kannte, und das zweite Buch der Makkabäer, das griechisch
geschrieben sei. Dies Verzeichnis der alttestamentlichen Apo-
kryphen ist aber nicht vollständig. In der Vorrede zum Jeremias
gedenkt er noch des Buches Baruch '), in der Vorrede zum
Daniel ^) der sich nur in der griechischen Redaktion des
Propheten findenden Zusätze, der Geschichte der Susanna, des
Lobgesangs der 3 Männer im feurigen Ofen, der Fabeln vom
Bei und Drachen zu Babel, und in der Vorrede zu Esra') des
3. und 4. Buches Esra. Seine Stellung zu den Apokryphen ist
nicht widerspruchlos, aber im allgemeinen läßt sich doch sagen,
daß er aus seiner Vorliebe für den hebräischen Kanon kein
Hehl gemacht hat. Nur im Kampfe mit Rufin gab er seine
ablehnende Stellung zu den Apokryphen zeitweilig auf und
machte Zugeständnisse an die in der abendländischen Kirche
herrschend werdende Beurteilung der Apokryphen, die sie zum
Kanon rechnete.') Sonst ist Hieronymus der Meinung, daß
die Apokryphen, wie Judith, Tobias, die Makkabäerbücher, Jesus
Sirach und die dem Juden Philo zugeschriebene Weisheit
Salomonis, zwar in der Kirche gelesen werden dürfen, aber
nicht zu den kanonischen Schriften gehören. Ihre gottesdienst-
liche Lesung diene der Erbauung der Gläubigen, aber die
Dogmen unseres Glaubens dürfe man in keinem Falle durch
ihr Zeugnis begründen. ) Hieronymus wollte auch zunächst
die praktischen Konsequenzen aus seinem Standpunkte ziehen,
wonach die Apokryphen Schriften von wertloser oder minder-
wertiger Dignität seien. Er übersetzte deshalb auch nicht,
wie er sagt, die Träumereien des 3. und 4. Buches Esra; auch
das Buch Baruch, die Weisheit, Jesus Sirach, die Makkabäer-
bücher und die Zusätze zum Buch Esther ließ er unübersetzt.
Aber die Zusätze im griechischen Daniel nahm er inkonsequent
in seine neue Übersetzung auf, obwohl er in der Vorrede die
Kritik der Juden, die diese Geschichten für albern und unglaub-
1) Migne 28, 847 ff.
2) Migne 28, 1291.
") Migne 28, 1401.
*) Rufin, Contra Hier. 11, 33; Hier., Contra Ruf. 11, 33.
*) Praef. in lib. Salomonis, Migne 28, 1242 ff.
7*
100 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
würdig erklärte, ausführlich referierte, ohne einen Versuch zu
ihrer Widerlegung zu machen. Nur durch das Vorsetzen des
Obelus bezeichnete er sie als unecht, d. h. nicht zum hebräischen
Text gehörig. Später übersetzte er die beiden apokryphen
Bücher Judith und Tobias aus dem Chaldäischen ; aber in den
Vorreden an die ihm befreundeten Bischöfe Chromatius und
Heliodorus ') bekannte er ausdrücklich, daß er nur dem Wunsche
und Drängen der beiden abendländischen Bischöfe nachgegeben
habe, denen er zu Dank verpflichtet war und die ihm stets bei
seinen für sie gefertigten Arbeiten ausgiebige finanzielle Unter-
stützung geliehen hatten.') Das Buch Judith habe er auch deshalb
übersetzt, weil es die Nicänische Synode zu den heiligen
Schriften gerechnet habe. ) Großen Fleiß und Sorgfalt ver-
wandte er übrigens auf die ihm unsympathischen Arbeiten nicht.
Dem Buche Tobias widmete er nur die Arbeit eines Tages,
dem Buche Judith die einer Nacht und übersetzte mehr sinn-
gemäß als wörtlich.
Bei der Übersetzung der kanonischen Bücher aus dem
Hebräischen hat sich Hieronymus redlich gemüht, möglichst
Vollkommenes zu leisten. Mit Stolz fordert er den Leser auf:
Nimm meine Übersetzung des Samuel und der Könige, meine,
sage ich, meine; denn was wir durch vieles Übersetzen und
sorgsames Emendieren gelernt haben und können, ist unser.*)
Mit Absicht, so hebt er mehrfach hervor, hat er nirgends an
dem hebräischen Text Änderungen vorgenommen, sondern
diesen möglichst verständlich wiederzugeben versucht.') Er
ist in seiner Übersetzung keinem der Alten sklavisch gefolgt,
sondern hat bald wörtlich, bald sinngemäß übersetzt.) Er hat
dabei naturgemäß mit vielen Schwierigkeiten, je nach den ver-
schiedenen Büchern, zu kämpfen gehabt. Beim Hiob, der den
') Praef. in Tobiani, Mijjne 29, 23 ff. und Praef. in Jud. 29, 397 ff.
^) Praef. in lib. Salomonis, Migne 28, 1241 ff.
•■') Diese Behauptung des Hieronymus geht wohl auf einen unter-
geschobenen, uns verlorenen Kanon von Nicäa zurück; s. Sanders S. 232,
Anni. 1.
*) Prologus galeatus, Migne 28, 557.
») Prol. zum Psalter, Migne 28, 1 125 ff.; Prol. zu Esther, Migne 28, 1433.
^) Praef. in Hiob, Migne 28, 1079 ff.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 101
Hebräern als schwer verständlich galt, zog er einen jüdischen
Lehrer aus Lydda herbei und mußte ihm seine Hilfeleistung
mit schwerem Geld aufwiegen.') Die Blume der Rede des
beredtesten Propheten Jesaia, der als Mann vornehmer Ab-
kunft nichts Bäuerisches in seiner Rhetorik hat, ließ sich nur
schwer in der Übersetzung wiedergeben, ) während der Priester
Jeremias, ein Dörfler aus Anathot bei Jerusalem bäuerischer im
Stil seiner Rede ist, und der Priester Ezechiel zwischen beiden
die Mitte hält. Aber der Anfang und das Ende des Ezechiel
stellten durch ihre Dunkelheit wieder schwere Anforderungen
an den Übersetzer.') Auch beim Propheten Joel bereitete ihm
zwar nicht der leichtere Anfang, wohl aber der Schluß, der
schwer verständlich ist, große Schwierigkeiten.') Besonders
hat er aber über der Übersetzung der aramäischen Stücke in
Daniel und Esra geschwitzt. Er erzählt, wie er bei der Über-
setzung des Daniel fast verzweifelt sei und nur durch den
Zuspruch des Hebräers, der ihn im Chaldäischen unterrichtete,
ausgeharrt habe. Er bekennt, daß er es auch in der Erlernung
der chaldäischen Sprache nur dahin gebracht habe, dieselbe zu
lesen und zu verstehen, aber nicht sie zu sprechen.*) Bei der
Übersetzung des chaldäisch geschriebenen Tobias ließ er sich
deshalb von einem des Hebräischen und Chaldäischen kundigen
Juden das Chaldäische zuerst ins Hebräische übertragen und
diktierte dann dem Notar die lateinische Übersetzung aus dem
Hebräischen. ) Weil er das Chaldäische nicht genügend be-
herrschte, hat er auch das Chaldäische Buch Judith nur sinn-
gemäß wiederzugeben vermocht.') Im allgemeinen scheint
Hieronymus auf die Übersetzung der einzelnen kanonischen
Bücher des Alten Testaments verhältnismäßig viel Zeit verwandt
zu haben.') Nur in der Vorrede zu den Büchern Salomonis
») Praef. in Hiob, Migne 28, 1079 ff.
-') Prol. in Jes., Migne 28, 771.
ä) Prol. in Jerem. Migne 28, 847 ff. und in Ezech., Migne 28, 937 ff.
*) Prol. in duodecim proph., Migne 28, 1013 ff.
4 Prol. in Dan., Migne 28, 1291 ff.
6) Prol. in Tob. Migne 29, 23 ff.
') Prol. in Jud. Migne 29, 39 ff.
*) Prol. in Pentateuchum, Migne 28, 147 ff.; Prol. in Josuam Migne
28, 461 ff.
102 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
nennt er diesen Teil der Übersetzung ein Werk von drei Tagen.
Er übertreibt hier vielleicht; aber wenn er für das Buch Judith
und Tobias einen Tag oder eine Nacht brauchte, so ist es
immerhin möglich, daß er in drei Tagen Sprüche, Prediger
und Hoheslied übersetzt hat. Allerdings besaß er gerade für
diesen Teil seiner Übersetzungsarbeiten umfangreiche Vor-
arbeiten. Er hatte einen Kommentar zum Prediger geschrieben
und die Bücher Salomonis nach den LXX emendiert. Daß aber
bei einer solchen Schnellarbeit die Solidität seiner Übersetzung
leiden mußte, ist naturgemäß. Die Übersetzung ist deshalb
auch nicht in allen ihren Teilen gleichwertig, aber dies ist
schließlich bei einem so großen Werk nicht verwunderlich.
Um ein besseres Verständnis der Bücher für den Leser zu
ermöglichen, hat Hieronymus die Propheten, die Psalmen und
Hiob in längere und kürzere Abschnitte schreiben lassen, wie
dies bei den Reden Ciceros und Demosthenes gebräuchlich war.')
Er ging dabei zum Teil von der irrigen Voraussetzung aus, daß
dieseBücher mitAusnahme des Anfangs undSchlusses desHiobs,
der in Prosa geschrieben sei, in Metren, und zwar Hexametern
verfaßt seien. Aber auch bei der Chronik hat er dieses Ver-
fahren angewandt, hier allerdings mit der Absicht, daß die Namen,
die durch die Abschreiber so stark korrumpiert waren, künftighin
in seiner Übersetzung besser auseinandergehalten würden.
Durch alle Vorreden zu den einzelnen Büchern seiner
Übersetzung geht ein polemischer Zug, überall setzt er sich
mit Gegnern seines Übersetzungswerkes auseinander. Wer
sind denn diese Gegner, und wo haben wir sie zu suchen ?
Er macht sie nirgends persönlich namhaft, aber seine römischen
Freunde Domnio und Rogatianus, auf deren Bitten er das
Buch Esra übersetzte, bat er, seine Übersetzung nicht zu ver-
öffentlichen, sondern privatim zu lesen. Sie sollten nur ihm
wohlgesinnten Brüdern ein Exemplar zur Verfügung stellen,
diese aber bei der Abschrift ermahnen, besonders auf die zahl-
reichen Namen, die sich in dem Buch fänden, acht zu geben,
und sie getrennt in Intervallen abzuschreiben, damit die Namen
nicht wieder, wie dies in der Itala der Fall sei, korrumpiert
') Prol. in Jes., Migne 28, 771.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethleiiem. 103
würden. Es sind also vermutlich dieselben römischen Kreise,
die früher seine Revisionsarbeit am Neuen Testament ver-
dächtigt hatten, die nun auch seine Übersetzung des Alten
Testaments aus dem Hebräischen möglichst schlecht machten.
Während er aber fast immer im Plural von seinen Neidern
und Kritikern redet, die eifersüchtig auf seine Arbeit sind, sie
öffentlich tadeln, aber im geheimen lesen, spricht er in der
Vorrede zum Buch Esra von der zischenden Hydra und ein
anderes Mal in der Vorrede zum Buch Josua von dem Skorpion,
der sich gegen uns erhebt und nicht aufhört, das heilige
Werk mit vergifteter Zunge zu zerpflücken.') Hier ist ver-
mutlich Rufin gemeint, der, nachdem er mit Hieronymus zer-
fallen war, sich zum Wortführer der Kreise gemacht hatte, die
sein Unternehmen als pietätloses, gegen die durch den Gebrauch
der Väter geheiligten LXX gerichtetes brandmarkten.')
Hieronymus antwortete nun auf diese aus Eifersucht, Kurz-
sichtigkeit und ängstlichem Festhalten am Traditionellen hervor-
gehenden Angriffe mit einer Sachlichkeit und Ruhe, die wir bei
ihm sonst so oft vermissen. ') Nur selten läßt er sich hierzu der
alten Leidenschaftlichkeit hinreißen, sondern nimmt sein Kreuz als
Märtyrer der Wissenschaft seinen engherzigen Gegnern gegen-
über auf sich. Wenn die LXX rein und wie sie ursprünglich
von den 70 ins Griechische übersetzt worden waren, geblieben
wären, so wäre es überflüssig, so schreibt er an den Bischof
Chromatius in der Vorrede zu Chronik, daß du, heiligster und
gelehrtester Bischof, mich auffordertest, daß ich die hebräischen
Bücher ins Lateinische übersetzte. Da aber in Ägypten die Re-
daktion der LXX, die auf Hesychius, da von Konstantinopel bis
Antiochia die Redaktion, die auf Lucian, und in Palästina, die ge-
braucht wird, die auf Origenes zurückgeht, so wird eine Über-
setzungsarbeit aus dem Hebräischen zur dringenden Notwendig-
keit.') Es gibt bei den Lateinern so viel Exemplare wie Codices,
') vergl. Prol. in Conim. in Joel, Vallarsi VI, 167; Prol. in Comm.
in Hosea lib. II, Vallarsi VI, 54.
2) Contra Rufin. II, 24, Vallarsi II, 518.
^) vergl. ep 57, ad Pammacliium, de optimo genere interpretandi,
Vallarsi I, 303, s. auch Bd. I, 183 ff.
*) Migne 28, 1323 ff.
104 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
da jeder willkürlicheZusätze macht.') Zwar ist die Textverderbnis
nicht bei allen Büchern gleichmäßig. Aber z. B. das Buch
Esther hat durch verschiedene Übersetzer zahlreiche Zusätze
bekommen '), im Hiob sind die LXX und die altlateinische Über-
setzung unvollständig, es fehlen in der altlateinischen Über-
setzung 70 oder 80 Verse,') im Jeremia ist die Anordnung
der Visionen in den LXX und bei dem Altlateiner ganz in
Verwirrung geraten und läßt sich nur nach dem hebräischen
Text wiederherstellen.') Nur im Ezechiel sind die Abweichungen
der altlateinischen Übersetzung vom hebräischen Text unbe-
deutend.') Immer wieder hebt Hieronymus hervor, daß er mit
seiner Übersetzung keinen Tadel gegenüber den LXX und der
altlateinischen Übersetzung aussprechen wolle, sondern sie
nur verbessere. Wenn bei den Griechen der Jude Aquila,
die jüdelnden Häretiker Symmachus und Theodotion, die viele
Geheimnisse des Erlösers durch listige Übersetzung unter-
schlugen, in der HexajDla in der Kirche gebraucht und von
kirchlichen Männern ausgelegt werden, wie viel weniger dürfe
seine Arbeit eines von christlichen Eltern geborenen Christen,
der das Kreuzeszeichen an der Stirn trage, von übelwollenden
Lehrern zurückgewiesen werden. Sei doch seine Absicht nur
darauf gerichtet gewesen, Ausgelassenes nachzuholen, Falsches
zu korrigieren und die Geheimnisse der Kirche in reiner und zu-
verlässiger Rede zu offenbaren. „Wer will, mag alte Bücher oder
solche auf purpurnem Pergament mit Gold und Silber oder
mit überaus großen Buchstaben geschriebene, mehr Lasten als
Kodices haben; möge man mir und den Meinen nur erlauben,
arme Papierhandschriften zu besitzen und nicht sowohl schöne
als verbesserte Kodices." Allerdings will Hieronymus auch
nichts von einer Inspiration der LXX wissen. Mit Rücksicht auf
ihren Auftraggeber, den König Ptolemäus, haben die 70 die
trinitarischen Aussagen verhüllt. „Ich verdamme und tadle
nicht die LXX, aber allen jenen ziehe ich mutig die Apostel
•) Migne 28, 1433.
*) Migne 28, 1433.
") Migne 28, 1079 ff.
*) Migne 28, 847 ff.
") Migne 28, 937 ff.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 105
vor." ') Bei den Aposteln und Evangelisten finden sich viele
Zitate aus dem Alten Testament, die sich in unseren Kodices
nicht, wohl aber im hebräischen Original finden.') Er macht
aber auch auf die Inkonsequenzen der kirchlichen Praxis im
Gebrauch der LXX aufmerksam. Beim Daniel gebrauche man
die LXX nicht, warum wisse er nicht, vielleicht weil sie sehr
ungenau sei. Statt dessen bediene man sich hier des Theo-
dotion.^) Und auch seine Revision des Hiob nach der Hexapla,
die Zusätze aus Theodition oder dem hebräischen Text ent-
halte, lasse man anstandslos zum kirchlichen Gebrauch zu.
„Es mögen also meine Neider lernen, im ganzen aufzunehmen,
was sie in Teilen aufgenommen haben, oder konsequent meine
Revision des Altlateiners mit den Asterisken ebenfalls ablehnen."*)
Seine Übersetzung aus dem Grundtext soll einem wissen-
schaftlich-apologetischen Zweck dienen. „Es ist etwas anderes,
in den Kirchen der Christo Gläubigen die Psalmen zu lesen
und etwas anderes, den Juden, die einzelne Worte böswillig
kritisieren, zu antworten." ) Gegen den praktischen Gebrauch
der LXX hat er nichts einzuwenden; er selbst erklärt, daß er
sie im Konvent seinen Mönchen auslege). Aber als sein Freund
Sophronius mit den Juden disputierte, und messianische
Stellen aus dem Psalter zitierte, mußte er die böse Erfahrung
machen, daß die Juden ihm sagten, daß dies nicht im hebräi-
schen Text des Psalters stehe. Deshalb hatte er Hieronymus
gebeten, eine neue wortgetreue Übersetzung des Psalters aus
dem Hebräischen anzufertigen, die er dann ins Griechische
^) Praef. in Pentateiichum an Desiderius gerichtet, Migne 28, 147 ff.
Desiderius ist der Adressat der ep. 47, Freund des Paulin von Noia und
Sulpicius Severus, s. unten. Hier erwähnt auch Hieronymus die Legende,
daß die 70 von Ptolemaeus in 70 Zellen eingesperrt wurden, als helle-
nistisches Märchen, von dem Aristeas und Josephus nichts wüßten.
-) Praef. in Pentateuchum, Migne 28, 147 ff.
^) Praef. in Dan., Migne 28, 1291 ff.
*) Praef. in Hiob, Migne 28, 1079 ff.
'") Psalterium iuxta Hebraeos Hieronymi e recognitione P. de Lagarde,
Leipzig 1874 und Baethgen, eine Handschrift der Psalmen iuxta Hebr.
Hieronymi, Zeitschr. f. alttest. Wissenschaft 1881, S. 105—112.
•') Praef. in Chron., Migne 28, 1323.
106 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
zurückzuübersetzen versprach.') Mit Ironie spottet deshalb
Hieronymus, daß die Menschen, die sonst stets neue Genüsse
lieben und deren Gaumen nicht die benachbarten Meere ge-
nügen, sich allein beim Studium der Schrift mit dem alten
Geschmack zufrieden geben. Um den Juden die Waffe aus
der Hand zu ringen, daß sie nicht mehr über die Verfälschung
der Heiligen Schrift durch die Christen spotten können,') will er
sich trotz aller Anfeindungen nicht abhalten lassen, eine möglichst
wortgetreue Übersetzung aus dem Hebräischen zu verfertigen.
Und wenn auch die meisten seiner Zeitgenossen ihm
immer wieder seine Arbeit durch häßliche Verdächtigungen zu
verleiden suchten, so hatte er doch die Genugtuung, daß er
wenigstens bei seinen Freunden und Freundinnen, denen er die
einzelnen Teile seines Übersetzungswerkes widmete, bei den
Bischöfen Heliodor und Chromatius,') den römischen Freunden
Domnio und Rogatianus, ') dem Priester Desiderius, ) bei
Paula und Eustochium*^) und bei seinem Klosterbruder Sophro-
nius') auf Verständnis für die mühevolle Arbeit rechnen konnte.
Den Freunden etwas Angenehmes, der Kirche etwas Nütz-
liches, der Nachwelt Würdiges zu schreiben, das ist sein Trost.
Von dem Urteil der Gegenwart, die durch Haß und Liebe be-
stimmt wird, appelliert er an die Zukunft.**) Und die Hoffnung,
daß er für die gegenwärtigen Leiden in der Zukunft belohnt
werde, hat nicht getrogen, indem die Kirche seinem Werke
durch die Kanonisierung zu einer Apotheose ohnegleichen
verhelfen hat.
') I^rol. in Psal., Migne 28, 1125 ff., Hieronymus de vir. ilUist. c. 134
bezeugt, daß Sophronius diese Übersetzung der Psalmen und der (Pro-
pheten ins Griechische tatsächhch gemacht hat.
'^) Praef. in Jes., Migne 28, 774; Praef. in Josuam, Migne 28, 461 ff.
^) Dem Bischof Heliodor sind gemeinsam mit Chromatius die Bücher
Salomonis, Chromatius allein ist die Chronik gewidmet.
*) Domnio und Rogatianus ist das Buch Esra gewidmet.
'■) Desiderius ist der Pentateuch gewidmet.
*) Paula und Eustochium sind die Königsbücher, die Propheten,
Daniel, Hiob und Esther, Eustochium allein nach dem Tode der Paula
sind die Bücher Josua und Richter gewidmet.
') Sophronius ist der Psalter gewidmet.
*) Praef. in Dan., Migne 28, 1291 ff. und Praef. in Jes., Migne 28, 771.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 107
Es ist leicht, der Arbeit des Hieronymus eine gute oder
schlechte') Zensur zu erteilen, sei es, daß man ihre unbestreit-
baren Vorzüge oder ihre ebenso unbestreitbaren Mängel hervor-
hebt. Es ist aber recht schwer, dieses größte Lebenswerk, an
dem er 15 Jahre seines Lebens arbeitete, gerecht zu beurteilen.
Vm dies zu können, müßte man die ganze Arbeit unter Ver- ,
gegenwärtigung der Bedingungen, unter denen sie gemacht
wurde, und der Hilfsmittel, die er benutzen konnte oder zum
größten Teil selbst schaffen mußte, gleichsam nachschaffen.
Dazu sind wir heute noch nicht imstande, da seine Arbeit
uns noch nicht in der Gestalt vorliegt, die er ihr gegeben
hat. In der Hauptsache ist nur für die Evangelien in der
Übersetzung des Hieronymus sicherer Orund geschaffen, um
so weniger für die übrigen Teile seiner Bibel, so urteilt ein
kompetenter Beurteiler, Eberhard Nestle, über den gegen-
wärtigen Stand der Forschung.-^) Aber selbst wenn wir eine
kritische Ausgabe der Vulgata des Hieronymus besäßen, so
würde ich mir kaum ein abschließendes Urteil anmaßen.
Sicher ist diese Arbeit, dies darf man sagen, eine wissen-
schaftliche Tat. Luther, der sonst so scharf über Hieronymus
urteilte, hat dies bereits ausgesprochen: St. Hieronymus hat für
seinePerson dasmeisteundgrößte im Dolmetschen getan, welches
ihm keiner allein nachtun wird.'') Es war in der Tat ein kühnes
Unternehmen, diese Arbeit in Angriff zu nehmen, und es ge-
hörte Zähigkeit und Fleiß dazu, sie durchzuführen. Vieles hat
Hieronymus angefangen, große literarische Pläne entworfen,
aber rasch wieder fallen lassen; hier hat er sich mit strenger
Selbstzucht zur Vollendung des einmal begonnenen Werkes
gezwungen und seine unruhige Natur mit Energie diszipliniert.
Keiner seiner Zeitgenossen, ja im weiten Kreis der nach-
') ich weise beispielsweise hin auf die bei aller Gründlichkeit doch
borniert einseitigen und ungerechten Ausstellungen von Joh. Clericus,
Quaestiones Hieronymianae, Arristerdam 1700.
-) E. Nestle, Bibelübersetzungen R. E. » 111, 25—58, dort die Literatur
über die Vulgata, vor allem S. Berger, L'histoire de la Vulgate pendant
les Premiers siecles du moyen äge, Paris 1893.
^) s. Zöckler, Hieronymus als Bibelübersetzer und Exeget S. 342 ff.,
Luthers Tischreden, Erlanger Ausgabe 62, 462.
108
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
folgenden Jahrhunderte kein Theologe bis zu den Tagen der
Renaissance hat etwas Ähnliches unternommen, und keiner war
zu dieser Arbeit auch nur entfernt befähigt wie er. Es ist
ein naiver Vorwurf, den Luther dem Hieronymus macht: „Hätte
er zween oder drei zu sich genommen, die ihm geholfen, so
wäre der heilige Geist kräftiger dabei gewesen." Dies war
im Reformationszeitalter möglich, aber wo gab es zur Zeit
des Hieronymus zwei oder drei, die ihm hätten helfen können.
Die einzigen, die er herbeiziehen konnte, die ji^idischen
Rabbinen, hat er so weit wie möglich herbeigezogen, aber sie
konnten ihm das nicht geben, was er vor allem brauchte, eine
feste grammatische Grundlage, weil sie sie selbst nicht be-
saßen. Daß er keine solche hatte, daß er z. B. die matres
lectionis als Vokale betrachtete, die Gutturale miteinander ver-
wechselte, Sin und Schin nicht unterschied, über das Verhältnis
des Status constructus keine bestimmten Regeln kannte, die
tempora verbi und die hebräische Satzbildung ihm unbekannt
waren, daß er von den übrigen semitischen Dialekten mit Aus-
nahme des Chaldäischen nur wenig wußte, wie beispielsweise
eine gelegentliche Bemerkung zeigt, daß der Hiob mit der
arabischen Sprache die größte Verwandtschaft habe,') alles
dies ist nicht zu bezweifeln.') Es kann auch als erwiesen
gelten, daß Hieronymus trotz seiner Kritik an den LXX und
den griechischen Übersetzungen des Aquila, Symmachus und
Theodotion dieselben stark benutzt hat ) und möglichst das
Gegebene beibehielt, um nicht zu großen Anstoß zu erregen.')
Was die Art seiner Übersetzung des hebräischen Textes be-
trifft — im wesentlichen war sein hebräischer Text mit dem
masoretischen identisch, er war völlig unpunktiert und ohne
diakritische Zeichen, und die von ihm gelesene Vokalisation
steht unter allen alten Übersetzungen dem masoretischen
>) Praef. in Dan., Migue 28, 1291 ff.
*) Nowack, Die Bedeutung des Hieronymus für die alttestamentliche
Textkritik, Göttinnen 1875.
■■') s. Nowack S. 12 ff.
*) Praef. des Kommentars zum Prediger: ex hebraeo transferens
magis ine LXX interpretum consuetudini coaptavi in his dumtaxat, quae
non multum ab Hebraeis discrepabant.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 109
Text am nächsten ') — so kann man auch hier kaum von
festen Grundsätzen sprechen.) An Pammachius schrieb er
in dem Brief über die beste Art zu übersetzen, ) daß die
Heilige Schrift im Gegensatz zu allen anderen Schriften mög-
lichst wörtlich übersetzt werden müsse, weil hier auch die
Ordnung der Worte ein Geheimnis sei, und in den Vorreden
hat er es immer wieder betont, daß er möglichst wörtlich aus
dem Hebräischen übersetze. Aber in einem späteren Briefe*)
ist er doch wieder auch für die Heilige Schrift für eine freiere
Übersetzungsart eingetreten, indem man nicht wörtlich, sondern
sinngemäß übersetzen und die Idiome der anderen Sprache
durch die Eigentümlichkeiten der eigenen Sprache wiederzugeben
versuchen müsse. Hieronymus hat auch vielfach nach den
im letzten Schreiben ausgesprochenen Grundsätzen gehandelt
und, um seinen Lesern nicht unverständlich zu bleiben, den
schnellen Wechsel der Personen, wie er im Hebräischen üblich
ist, in seiner Übersetzung vermieden, lateinische Perioden
statt der hebräischen Parataxen gebaut, sich nicht gescheut
zusamimenzuziehen und sich anderswo wieder erklärende Zu-
sätze gestattet. Es erscheint mir aber nicht unwichtig, wenn
man Hieronymus eine gewisse Prinziplosigkeit bei seiner
Übersetzung mit Recht vorwirft, überhaupt die Frage zu er-
heben, wie weit man feste Grundsätze für ein solches
Übersetzungswerk aufstellen kann und darf. Eine solche
Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen in
das Latein der Zeit des Hieronymus bedeutet doch eine Um-
setzung des Ideengehalts und der Begriffswelt einer durch
weite Zeiträume getrennten Geisteskultur in eine vielfach
anders geartete. Dazu gehört fast mehr Takt als Grundsätze,
mehr divinatorischerScharfsinn als grammatische Schulung. Zum
Übersetzer war Hieronymus geschaffen wie kaum einer. Bei
der großen Verschiedenartigkeit des hebräischen und latei-
nischen Sprachidioms, so sagt Fritzsche, ) lag die Gefahr
^) s. Nowack, S. 55.
^) s. auch Hoberg, de S. Hieronymi ratione iiiterpretandi, Bonn 1886.
^) Ep. 57 ad Paminachium de optimo genere interpretandi.
*) Ep. 106 ad Sunniam et Fretelam c. 3, 54 und 55.
*) Lateinische Bibelübersetzungen R. E. - VllI, 448.
110 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
sklavischer Wörtlichkeit nahe. Hieronymus hat sie im ganzen
vermieden und eine gewisse Mitte zwischen zu großer
Wörthchkeit und zu großer Freiheit innezuhaHen gewußt, so
daß die Sprache, wenn auch das hebräische Kolorit überall
durchblickt, den damaligen Leser durchaus nicht verletzte,
sondern förderte. Und setzen wir noch hinzu, trotz der großen
Verschiedenheit des kulturellen Milieus, in dem Hieronymus lebte
und dessen, in dem die Bücher des Alten Testaments entstanden
sind, hat er es verstanden, in seiner Übersetzung durch Anmut,
Eleganz, ja Klassizität des Stils ') das schlichte und gewaltige
Gotteswort des Alten Testaments zu den Menschen seiner
Zeit und seiner Zunge lebendig und kraftvoll reden zu lassen.
So wenig Imponierendes der Charakter des Hieronymus hat,
so ungerecht und kleinlich wäre es, diesem seinem verdienst-
vollsten Werk seine Anerkennung und Bewunderung versagen zu
wollen. Aber es ist auch bezeichnend, daß die größte Leistung
seines Lebens kein eigenes Werk, sondern eine Übersetzung
war. Er war eben kein produktiver Geist wie Augustin, der
Mit- und Nachwelt neue Bahnen wies, sondern nur der größte
jener Vermittler des religiösen Erbes der hebräischen und
griechischen Antike an die lateinische Welt.
§ 34.
Die Kommentare zu den fünf kleinen Propheten, Nahum,
Micha, Zephanja, Haggai und Habakuk.
Als Hieronymus um 3Q0 sein großes Übersetzungswerk
des Alten Testaments aus dem Hebräischen begann, nahm er
gleichzeitig im Anschluß an seine Übersetzung der Propheten
ein anderes Werk großen Stils und großen Umfangs in An-
griff, einen Kommentar zu sämtlichen prophetischen Büchern
des Alten Testaments. Dieses Werk hat ihn fortdauernd die
•) Zöckler S. 365.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 111
letzten drei Jahrzehnte seines Lebens neben anderen Arbeiten
beschäftigt. Er hat das Zwölfprophetenbuch, Daniel, Jesaja
und Ezechiel vollständig kommentiert, und nur die zuletzt in
Angriff genommene Erklärung des Jeremia blieb ein Torso.
Dieses Riesenwerk, das bei Vallarsi drei volle Bände füllt,
verliert bei näherer Betrachtung viel von dem imponierenden
Eindruck, den es zunächst macht. Es ist sehr ungleichartig
und größtenteils sehr unselbständig gearbeitet.
Den Anfang machte Hieronymus mit der Auslegung der
fünf kleinen Propheten, Nahum, Micha, Zephanja, Haggai und
Habakuk. Kurz vorher hatte er das Hebräerevangelium, wie
er sagt, ins Griechische und Lateinische übersetzt.') Nur
von der lateinischen Übersetzung des Hebräerevangeliums hat
er uns in seinem Matthäuskommentar Fragmente erhalten. Ob
er vom Hebräerevangelium wirklich eine griechische Über-
setzung angefertigt oder, was wahrscheinlicher, nur eine
Revision der bereits vorhandenen griechischen Übersetzung
vorgenommen hat, läßt sich bei dem Fehlen der Quellen nicht
mit Sicherheit beantworten.
Die vier ältesten Kommentare zu den kleinen Propheten
Nahum, Micha, Zephanja und Haggai sind sämtlich Paula
und Eustochium gewidmet, obwohl sich in der Vorrede zum
Habakuk die merkwürdige Bemerkung findet, daß er den
Kommentar zum Nahum auf Bitten des Bischofs Chromatius
geschrieben habe.') Nach der handschriftlichen Überlieferung
ist nur der Kommentar zum Habakuk seinem gelehrten Freund
Chromatius von Aquileja zugeeignet, der auch an seiner Bibel-
übersetzung den lebhaftesten Anteil genommen hatte. In der
Vorrede zum Propheten Zephanja') versucht er sich gegen-
über dem Spott seiner Gegner, daß er seine Werke am liebsten
Frauen widme — er wurde zu einer solchen Verteidigung
bei der Dedication seiner Werke an Frauen später noch des
öfteren genötigt*) — zu rechtfertigen: „Wenn sie wüßten, daß
Hulda als Prophetin auftrat, während die Männer schwiegen,
*) Kommentar zu Micha, Vallarsi VI, 520; de vir. illust. c. 135.
•'') Praef. in Habakuk, Vallarsi VI, 587 ff.
3) Prol. in Zephanja, Vallarsi VI, 671 ff.
*) ep. 65, 1, Vallarsi 1, 371 ff.
112 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Debora als Richterin und Prophetin die Feinde Israels ijber-
wunden hat, während Barak sich furchtsam zurijckhielt, und
Judith und Esther als Typen der Kirche sowohl ihre Gegner
töteten, als auch Israel, das zugrunde gehen wollte, aus der
Gefahr befreiten, so würden sie mich niemals verspotten."
Aus dem Neuen Testament führte er dann die heiligen Frauen
Anna, Elisabeth und vor allem Maria an, deren klares Licht
alle die kleinen Feuer der Gestirne verdunkelt. Aber auch die
griechische und lateinische Geschichte weiß von klugen und
tapferen Frauen zu erzählen, von Aspasia, Sappho, Themista
und Cornelia, der Mutter der Gracchen. Er schließt mit dem
geschickten Hinweis, daß der auferstandene Herr zuerst den
Weibern erschienen sei und diese zu Aposteln an die Apostel
gemacht habe, so daß die Männer nicht erröteten, den zu
suchen, welchen schon vorher das schwächere Geschlecht ge-
funden hatte. Aber ganz unrecht haben seine Gegner doch
nicht gehabt; die vier den Frauen gewidmeten Kommentare
sind oberflächlicher gearbeitet, als der dem Bischof Chro-
matius gewidmete Habakukkommentar. Seinen kritiklosen
Bewunderern, I^aula und Eustochium, mußte er vor allem
Erbauliches bieten, wie er selbst im Nekrolog der Paula be-
zeugt:') „Wenn Paula auch die Geschichte liebte und diese für
das Fundament der Wahrheit hielt, so folgte sie doch mehr
dem geistlichen Verständnis." Aber Chromatius ließ sich
damit nicht abspeisen, er hatte Hieronymus ausdrücklich um
eine geschichtliche Auslegung des Propheten Habakuk ge-
beten.) Es ist gewiß auch nicht zufällig, daß Hieronymus
im Habakukkommentar häufiger als in den für seine Freun-
dimien bestimmten Kommentaren die profane Literatur berück-
sichtigt und genauer auf die Lesarten der sieben griechischen
Übersetzungen eingeht, die er aus der Hexapla heranzieht, um
dem Bischof durch seinen gelehrten Apparat zu imponieren.
Die Kommentare sind eigentlich Doppelkommentare, da
Hieronymus sowohl seine Übersetzung der Propheten aus
dem Hebräischen wie den Text der LXX kommentierte.') Daß
•) Ep. 108, 26. Vallarsi I, 713.
*) Prol. in Habakuk, Vallarsi VI, 587 ff.
*) s. zu Nahum 1, 10; 1, 12 u. 13; Habakuk 3, 11 ff.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 113
er auch die LXX erkläre, begründet er damit, daß er der
zischenden Schlange oder dem Sardanapal keine Gelegenheit
zum Tadel geben wolle.') Von diesem Gegner, der schimpf-
licher durch seine Laster als durch seinen Namen sei, ihn aber
nicht an der Fortsetzung des angefangenen Weges hindern solle,
spricht er auch in den Kommentaren zum Zephanja und
Habakuk.') Und noch einmal gedenkt er im Kommentar zu
Nahum gelegentlich dieser Schlange, die von der Wassersucht
befallen, aber wieder geheilt worden sei.') Es ist vermutlich
auch derselbe Kritiker, den er am Schluß des Kommentars zum
Haggai als die Furie Alecto apostrophiert:') „Ich beschwöre dich,
Leser, daß du dem in schneller Rede Diktierenden verzeihst und
nicht die Lieblichkeit der Rede suchst, die ich seit langer Zeit
durch das Studium der hebräischen Sprache verloren habe, ob-
wohl die Furie Alecto behauptet, daß ich immer ein Kind und
stumm gewesen bin. Dem antworte ich: Der Herr wird das
Wort dem Evangelisten geben und viele Kraft." Und im Kom-
mentar zum Micha wirft er ihm das Schimpfwort an den
Kopf, daß er eine Hydra oder Lernäische Schlange sei,
und droht ihm, seine wiederwachsenden Häupter mit pro-
phetischer Keule abzuschlagen.') Man hat Rufin unter diesem
Gegner verstanden), und wir wissen ja in der Tat, daß Rufin
^) Nahum 3, 8 u. 9, Vallarsi VI, 572.
2) Zephanja 3, 20, Vallarsi VI, 734 und Prol. in Habakuk lib. II,
Vallarsi VI, 631.
3) Nahum 3, 1, Vallarsi VI, 564.
') Vallarsi VI, 773.
^) Micha 1, 1, Vallarsi VI, 434 und Prol. zu Micha lib. II, Vallarsi
VI, 480.
^) Hieronymus bezeichnet an einer Reihe von Stellen mit Hydra und
Skorpion Rufin ; vergl. Vorrede zur Übersetzung des Josua, Prolog zum
Joelkommentar, Vallarsi VI, 167, Prolog zum Hoseakommentar lib. II,
Vallarsi VI, 54 und ep. 130, 16. In der Vorrede zur Übersetzung des
Esra, wo wahrscheinlich ebenfalls Rufin gemeint ist, schwankt die Über-
lieferung des Textes zwischen sibilans hydra und excetra. Daraus zu folgern,
daß auch der in unserem Fall mit excetra, Sardanapal, Alecto, hydra bezeich-
nete Gegner mit Rufin identisch sein müsse, halte ich nicht für angängig.
In ep. 6, Vallarsi I, 17 spricht Hieronymus von einer iberischen Schlange,
excetra, und hier ist wahrscheinlich der Priester Lupicinus von Stridon,
sicher nicht Rufin gemeint. Hieronymus hat also verschiedene Gegner
Grützmacher, Hieronymus. II. 8
114 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
von der Übersetzung des Hieronymus aus dem Hebräischen
nichts wissen wollte; aber von einer Verfeindung des Hie-
ronymus mit Rufin aus der Zeit vor 3Q2 wissen wir nichts.
Da es nun auch nicht angängig ist, die Kommentare in eine
spätere Zeit herabzurücken, weil der Schriftstellerkatalog vom
Jahre 3Q2 ihre Abfassung bezeugt, so werden wir die Schimpf-
worte des Hieronymus auf einen uns unbekannten Gegner
seines Übersetzungswerkes beziehen müssen. Waren es doch
weite Kreise, die, wie wir oben hervorgehoben haben, dem
Hieronymus deshalb zürnten. Um ihnen entgegenzukommen,
exegesierte er neben dem hebräischen Text auch den gebräuch-
lichen und bekannten Text der LXX. Dabei machte er sich
bisweilen die Sache bequem, indem er, wo die Übereinstimmung
der LXX und des hebräischen Textes eine fast wörtliche war,
sogar nur die LXX erklärte.')
Aus zwei Quellen hat Hieronymus vor allem seine Kommen-
tare geschöpft und aus diesen Quellen besteht im wesentlichen
der ganze Inhalt seiner Kommentare. Es sind wieder Origenes
und die Hebräer. Er selbst ist nicht viel mehr als Kompilator.
Auf Origenes geht im großen und ganzen die tropologische
Auslegung, der die LXX zugrunde liegen, auf die Hebräer die
historische Auslegung des hebräischen Textes zurück. In
mit denselben Sciiimpfwörtern traktiert. Wenn hier Rufin oremeint wäre,
so müßten wir die Steihuij^ des Hieronymus zu F^ufin einer vollständigen
Korrektur unterziehen, wozu wir aber keinen zwingenden Grund haben.
Es ist auch schon unwahrscheinlich, daß Hieronymus in einem Werke wie
dem Habakukknmmcntar, den er dem Bischof Chromatius von Aquileja
widmete, der mit Hufin innig befreundet war, Rufin als zischende Schlange
und Sardanapal bezeichnet hätte. Auch den Vorwurf, welchen der als Hydra
bezeichnete Gegner dem Hieronymus machte, daß er die Kommentare des
Origenes ausgiebig benutzte, konnte Rufin bei der damaligen Situation un-
möglich dem Hieronymus machen. Es gäbe nur eine Möglichkeit, die
r\)lemik gegen den ungenannten Gegner auf Rufin zu beziehen, nämlich
die Annahme, daß diese polemischen Sätze erst in einer späteren Aus-
gabe der Kommentare von Hieronymus hinzugefügt wären. Diese neue
Ausgabe würde dann in die Zeit seines Streites mit Rufin also etwa 400
zu setzen sein. Wahrscheinlich erscheint mir dies deshalb nicht, weil die
Polemik so innig mit der Exegese verwebt ist, daß sie nicht den Eindruck
eines späteren Zusatzes macht.
') 7.. B. Zephanja 3, 20, Vallarsi Vi, 734.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 115
seiner beliebten Manier hat er die Benutzung des Origenes
verschwiegen; nur in der Vorrede zum zweiten Buch des
Michakommentar gesteht er sie in der Polemik gegen seine
Gegner ein, die ihm vorwerfen, daß er die Werke des Origenes
ausbeute und die Schriften der Alten durch Überarbeitung ver-
derbe: „Was jene für die größte Lästerung halten, halte ich für
das größte Lob, da ich jenen nachahmen will, der allen
Klugen und euch zweifellos gefallen muß." Mit Berufung auf
die Lateiner Ennius, Vergil, Plautus, Cäcilius, Terenz und
Cicero, die es auch nicht anders mit den Griechen gemacht
haben, und auf Hilarius, der im Psalmenkommentar fast
40 000 Verse des Origenes sinngemäß übersetzt habe, die
dann ebenfalls alle des Diebstahls schuldig wären, verteidigt
er sein literarisches Freibeutertum.
Den Kommentar des Origenes zu den kleinen Propheten
in 25 Büchern, von dem er ein von Pamphilus geschriebenes
Exemplar auf der Bibliothek in Cäsarea gefunden hatte, hatte
er nach seinem eigenen Zeugnis mit so großer Freude begrüßt,
wie wenn er in den Besitz der Schätze des Krösus gelangt
sei.') Da dieser Kommentar des Origenes für uns vollständig
verloren gegangen ist, so können wir die Abhängigkeit des
Hieronymus im einzelnen nicht mehr nachweisen. Daß aber
eine solche besteht, darauf weisen deutliche Spuren in
seinem Kommentar. Wenn Hieronymus die Flüsse, die nach
Nahum 1, 4 und 1, 8 vertrocknen sollen, allegorisch auf die
heidnischen Philosophen und auf die Häretiker Valentin,
Marcion, Bardesanes und Tatian mit einigen der unseren
deutet,') wenn er von der irrenden Weisheit als der letzten
Emanation des Schöpfergottes nach Valentin, von dem
monströsen Namen dßoä^a^, den Basilides gebraucht,') spricht,
so stammt diese Kenntnis der Gnostiker aus Origenes. Über-
all, wo Hieronymus gegen Marcion, Tatian und die Montanisten
polemisiert,') können wir mit Sicherheit auf Benutzung des
1) De vir. ilkist. c. 75.
') Vallarsi VI, 538.
■') Nah. 1, 11, Vallarsi Vi, 545.
') Gegen Marcion Haggai 1, 1 ff., Vallarsi VI, 742; Micha 1, 10 ff.,
Vallarsi VI, 445, gegen Tatian Haggai 1, 10, Vallarsi VI, 750, gegen die
8*
116 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Origenes srhiießen, da Hieronymus nur aus dieser Quelle
etwas über die alten Häretiker weiß. Er liebt es dann, diese
Abhängigkeit zu verdecken, indem er die Hauptketzer seiner
Zeit, wie Arius und Eunomins, beifügt. Er hat es aber
immer vermieden, Origenes namentlich zu nennen. Hieronymus
drückt sich möglichst unbestimmt aus: „ich habe in dem Buch
eines Gewissen gelesen, daß unter dem Ausguß die Häretiker
verstanden werden müssen." ') Auch die ausgeführte Dämono-
logie, die Hieronymus im Habakukkommentar vorträgt,') hat
er dem Origenes entnommen, wie sich aus einer fast wörtlichen
Parallele mit einer uns noch in der Übersetzung Rufins erhaltenen
Josuahomilie des Origenes erweisen läßt.') Ebenso geht die
mystische Zahlenspielerei, die uns vor allem in der Auslegung
des Propheten Haggai begegnet, wo Hieronymus mit allen
allegorischen Künsten das Datum der Weissagung des Pro-
pheten im siebenten Monat am einundzwanzigsten Tage aus-
deutet, gewiß auf Origenes zurück.
Merkwürdig ist es, daß uns die Heterodoxien des großen
Theologen in diesen alttestamentlichen Kommentaren des
Hieronymus verhältnismäßig selten begegnen, obwohl Hierony-
mus damals noch, wie seine Vorrede zum Propheten Micha
beweist, ein rückhaltsloser Bewunderer des Großmeisters der
allegorischen Exegese war. Nur zu Haggai 1, 10') gibt er die
Auslegung des Origenes mit Kritik wieder, wie wir aus dem
erhaltenen zweiten Buch des Johanneskommentars des Origenes
kontrollieren können: Johannes der Täufer, Maleachi und Haggai
sind nach Origenes Engel gewesen, die mit göttlicher Dis-
pensation und auf göttlichen Befehl menschlichen Körper
angenommen haben und als Menschen gewandelt sind. Auch
Jakob, der später Israel genannt wurde, sei ein Engel gewesen.
Die Natur aller vernünftigen Wesen sei auch ein und dieselbe,
und deshalb würden die Menschen, die Gott gefallen haben, den
MoMtanistcn Prol. in Habakiik, Vallarsi VI, 587 ff., gegen Marcion und
Basihdes Micha 6, 10, Vallarsi VI, 511.
') Habakuk 2, 9ff., Vallarsi VI, 619, vergi. Micha 1, 16, Vallarsi VI, 448.
') Habakuk 3, 14 ff., Vallarsi VI, 659.
') s. Vallarsi VI, 659, Anm. a.
*) Vallarsi VI, 751.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 117
Engeln gleich werden. Hieronymus fügt diesem Referat aus
dem Kommentar des Origenes bei: „So meinen jene; wir aber
nehmen an, daß der Prophet einfach ein Engel, d. h. Bote
Gottes genannt sei, weil er den Willen des Herrn dem Volke
verkündet hat." Vorsichtig lehnt er also hier diese zu hetero-
doxen Folgerungen führende Auslegung des Origenes ab, und
wir dürfen wohl annehmen, daß, wenn in diesen Kommentaren
uns so selten solche heterodoxen Meinungen begegnen,
Hieronymus dieselben unterdrückt oder retouchiert hat. In
Micha 6, 1:') „Höret, was der Herr spricht: Erhebe dich und
eile zum Gericht gegen die Berge, und die Hügel mögen deine
Stimme hören" schimmert deutlich die Auslegung des Origenes
durch, der unter den Bergen die Engel, denen die Besorgung
der menschlichen Dinge anvertraut ist, verstanden wissen will.
Über die Engel soll nach Origenes das Gericht ergehen, wenn
sie nicht alles getan haben, was zu ihren Aufgaben gehört,
oder über das Volk, wenn es, falls die Engel alles getan
haben, nicht hat hören wollen. Hieronymus knüpft hier
keine Kritik an die Exegese des Origenes, sondern stellt
nur eine andere Auslegung daneben, wonach man unter den
Bergen und Hügeln auch die Patriarchen Abraham, Isaak und
Jakob verstehen könne. Auch die Origenistische Theorie, daß
die Seelen wegen ihrer Sünden in die Körper gebannt seien,
läßt er unbeanstandet passieren.') In Nahum 1,9) blickt auch
die Lehre des Origenes von der Apokatastasis durch: Gott
verhänge deshalb im gegenwärtigen Leben Strafen, um nicht
ewige Strafen verhängen zu müssen. Aber auch hier hat sich
Hieronymus nicht gegen diese Heterodoxie verwahrt. Es
sind also alle eigentümlich Origenistischen Theologumena in
diesen Kommentaren des Hieronymus vorhanden;') aber sie
') Vallarsi VI, 500 ii. 501, s. die fast wörtliche Parallele in der Ho-
milie des Origenes zu Numeri, die in der Übersetzung Rufins erhalten
ist, Vallarsi VI, 501, Anm. a, und bei Vallarsi VI, 499 die Parallele aus
Rufin, expositio Symboli und Hilarius Traktat zu Ps. 61, 2.
-) Micha 6, 1, Vallarsi VI, 501: eorum, qui suo vitio exstitere ter-
reni, fundamenta dicantur.
') Vallarsi VI, 543.
^) s. Micha 1, 16, Vallarsi VI, 451, wo er eine dritte Auslegung
118 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
treten nicht so scharf wie z. B. im Epheserkommentar hervor.
Rufin hat ihm deshalb auch nur die Vorrede zum zweiten Buch
des Micha, in der er ausdrückh'ch Origenes als Meister der
Exegese preist, vorgerückt, während ihm die in den fünf Kom-
mentaren enthaltenen Heterodoxien entgangen sind.
Es ist weiter die Frage, ob Hieronymus außer Origenes
noch andere christliche Kommentatoren, und welche er be-
nutzt hat. Aus einigen Stellen ist mit Sicherheit zu schließen,
daß er noch andere Exegeten herangezogen hat. Nur die mar-
kanteste Stelle sei hervorgehoben. Zu dem Text der LXX in
Habakuk 3, 1: „Inmitten der zwei Tiere wirst du erkannt", gibt
er eine ganze Zahl verschiedener Auslegungen, die er deutlich
als von verschiedenen Auslegern herrührend unterscheidet. Viele
verstehen unter den zwei Tieren den Sohn Gottes und den
heiligen Geist, wie sie auch die Seraphim in Jesaia 6 und die
Cherubim in Exodus 25 auf Christus und den heiligen Geist
beziehen. Dies ist die Auslegung des Origenes.') Dann fährt
Hieronymus aber fort: Die volkstümliche Meinung bezieht den
Satz auf den Erlöser, weil er zwischen den zwei Räubern ge-
kreuzigt als Messias erkannt wurde; die aber, welche ein
besseres Verständnis haben, sagen, daß in der ersten Kirche,
die aus der Beschneidung und Vorhaut gesammelt worden
war, durch die beiden Völker, die ihn von beiden Seiten
umgaben, der Erlöser erkannt wurde. Es gibt endlich auch
solche, die unter den beiden Tieren das alte und neue
Testament verstehen, in deren Mitte der Herr erkannt wird.
Hieronymus hat demnach eine Reihe christlicher Exegeten
benutzt; da er aber nirgends einen Namen nennt, wissen
wir nicht, aus welchen Quellen er außer aus Origenes ge-
schöpft hat.')
Neben den christlichen Kommentatoren, vor allem neben
Origenes, hat aber Hieronymus auch die jüdisch -exegetische
Tradition benutzen können, und ihr verdankt er die historische
Auslegung der Propheten. Er bekennt des öfteren, daß er bei
referiert, die die Stelle auf die Gefangenschaft der menschlichen Seele im
Leibe bezieht.
•) s. Band I, 188.
*) vergl. auch z. B. Mich. 4, 1, Vallarsi VI, 501.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 119
der buchstäblichen Auslegung des hebräischen Textes nichts
von sich aus beibringe, sondern nur der Auslegung der Hebräer
folge, von denen er lange Zeit unterrichtet worden sei. Er
wolle den Christen einfach mitteilen, was er von ihnen ge-
lernt habe. Der Leser könne dann selbst entscheiden, ob er
der buchstäblichen Exegese der Hebräer oder der allegorischen
der Christen den Vorzug gebe.')
Hieronymus ringt auch in diesen Kommentaren mit dem
Problem, die historische und die allegorische Exegese in ihrer
beiderseitigen Berechtigung zu erweisen und vor allem sie gegen-
einander abzugrenzen. Es gibt Stellen, in denen auch die Ge-
schichte einen metaphorischen Sinn hat, der aber von der
allegorischen Auslegung zu unterscheiden ist. Wenn einer
sagen wird: Siehe, während du nichts in der Auslegung der
Geschichte weißt, bist du in die Netze der Allegorie geraten
und hast die Tropologie mit der Geschichte vermischt. Er
möge hören, daß nicht immer die metaphorische Auslegung
der Geschichte mit der Allegorie zusammenfällt, weil häufig
die Geschichte selbst metaphorisch erzählt wird und unter dem
Bild einer Frau oder eines Mannes über ein ganzes Volk ge-
predigt wird.) Die historische Auslegung ist nach Hieronymus
eindeutig und straff; sie hat den Vorzug, daß der Exeget
nicht umherschweifen kann. Die allegorische Auslegung läßt
ihm dagegen eine große Freiheit. Aber Hieronymus macht
doch den Versuch, auch die allegorische Auslegung an ge-
wisse Regeln und Gesetze zu binden. Einmal muß die
Allegorie einen frommen Sinn ergeben, sie muß erbaulich
sein, zweitens muß sie dem Kontext der Worte folgen,
und endlich darf sie nicht zu gewaltsam einander entgegen-
gesetzte Dinge miteinander verbinden.') Er will die Willkür
der allegorischen Exegese eindämmen, ihr einen wissenschaft-
lichen Charakter als erbaulich-ästhetischer Exegese aufprägen.
So lehnt er die allegorische Exegese von Hab. 2, 11 ab, die
') Nah. 2, 1, Vallarsi VI, 550; Mich. 1, 10, Vallarsi Vi, 443; Zeph. 2, 5 ff.
Vallarsi VI, 700: neque enim nunc nobis propositum est historiae texere
veritatem, sed ea intimare nostris, quae accepimus ab Hebraeis.
-) Hab. 3, 14 ff., Vallarsi VI, 658 ff.
*) Hab. 1, 11, Vallarsi VI, 599.
120 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
unter dem Stein, der aus der Wand schreien wird, und dem
Holz, das unter den Verbindungen der Gebäude antworten
wird, den Erlöser am Kreuz und den Schacher, der den Herrn
lästerte, verstand. Diese vielleicht von Origenes stammende
allegorische Auslegung gibt nach Hieronymus zwar einen
frommen Sinn, aber sie kann nicht mit dem Kontext der
Prophetie in Einklang gebracht werden.
Aber auch die buchstäbliche Auslegung, der die Juden
folgen, bedarf notwendig einer Ergänzung durch die allegorische
Exegese. Wenn z. B. bei den Propheten vielfach von dem
Strafgericht über Moab, Ammon und die Philister die Rede ist,
so wird dies von den Juden auf die Zukunft bezogen, wo der
Messias kommen und diese Völker, die die Juden verspottet
haben, bestrafen werde. Warum bestraft aber Gott nur die um
Israel umwohnenden Völker, während doch die Juden über
den ganzen Erdkreis zerstreut sind? Warum, so fragt Hiero-
nymus, wird Gallien, Britannien, Spanien, Italien, Afrika keine
Strafe angedroht?') Die historische Exegese ist also bisweilen
praktisch unbrauchbar, und deshalb muß die allegorische Exe-
gese ergänzend hinzutreten.
Aus der jüdischen Tradition hat Hieronymus seine An-
gaben über die zeitliche Ansetzung der einzelnen Propheten
entnommen. Nahum weissagte über Ninive unter dem König
Hiskia von Juda, als bereits die zehn Stämme des Nordreiches
in die Gefangenschaft der Assyrer fortgeführt waren. Einige
halten EIcesaeus für den Vater des Nahum, der auch Prophet
gewesen sei, andere Elcesi für ein Dorf in Galiläa, die Heimat
des Propheten, dessen Ruinen nur den Juden bekannt, Hiero-
nymus vermutlich auf seiner F-^undreise durch das heilige Land
gezeigt wurden. ) Micha aus Morasthi, einem kleinen Dorfe
nahe bei Eleutheropolis, weissagte nach Hosea, Amos und
Jesaja unter Jotham, dem Nachfolger des Usia, unter Ahas
') Zeph. 2, S ff., Vallarsi VI, 704.
-) Praef. in Nahum, Vallarsi VI, 533 ff. Bei seiner Rundreise
durch das heilige Land erwähnt er nicht den Besuch in Elcesi in Galiläa
s. § 27. Da aber der Reisebericht mit der Besteigung des Thabor ab-
bricht, so ist es wohl möglich, daß sich daran ein Abstecher nach Galiläa
anreihte.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 121
und Hiskia.') Zephanja, dessen Ahnen ebenfalls nach jüdischer
Tradition Propheten waren, prophezeite in den Tagen des Josia
und sagte den Sieg Nebukadnezars, die Zerstörung Jerusalems
und die Gefangenschaft Judas voraus.') Haggai trat im zweiten
Jahre des Königs Darius, im siebzigsten Jahre nach der Zer-
störung des Tempels auf. Hieronymus fügt hier nach der
von ihm übersetzten Eusebianischen Chronik die synchronisti-
schen Angaben hinzu, daß zu derselben Zeit der siebente König
der Römer, Tarquinius Superbus, im 27. Jahre seiner Herrschaft
stand. „Man muß nach der buchstäblichen Auslegung wissen,
daß Haggai und Zacharja Propheten starken Geistes waren, daß
sie gegen das Edikt des Königs Artaxerxes, gegen die Samari-
taner und alle Heidenvölker ringsum, die die Erbauung des
Tempels verhindern wollten, befahlen, daß der Tempel erbaut
werde. Und Zorobabel und Josua und das Volk mit ihnen zeigte
nicht geringen Glaubens, daß sie mehr auf die Propheten
hörten, die den Befehl zum Bau des Tempels gaben, als auf
den König, der es verbot."^) Habakuks Prophetie endlich,
dessen Name bei den Griechen und Lateinern korrumpiert
Ambacus lautet, richtet sich gegen Babylon und Nebukadnezar,
den König der Chaldäer, und er weissagte, wie aus Daniel
erhellt, zu einer Zeit, wo bereits die beiden Stämme des
Reiches Juda in die Gefangenschaft geführt worden waren.*)
Mancherlei philologische, geographische und historische
Kenntnisse verdankt Hieronymus den Hebräern, und wenn
auch manches von zweifelhaftem Wert war, so vermittelten
seine Kommentare doch der christlichen Welt die exegetische
Tradition der Hebräer, von denen kein Lateiner und kein
Grieche außer etwa Origenes etwas wußte. Um nur einige
Beispiele herauszugreifen, so übersetzte sein Hebräer z. B.
P"12 Nah. 3, 1 weder mit Aquila mit t-^av^enöindg, noch mit
Symmachus ujroTo/.äa oder /nsÄoKoma, sondern mit KvßegiHOfiö^ =
') Praef. in Mich, und Mich. 1,1, Vallarsi VI, 431 ff.
2) Zeph. 1, 1, Vallarsi VI, 675.
") Praef. in Hagg. Vallarsi Vi, 735 ff.
*) Praef. in Hab., Vallarsi VI, 587. Auf Grund der nur in dem
griechischen Daniel c. 17 erzählten Geschichte, wonach Habakuk mit der
Mahlzeit zu Daniel in die Löwengrube geschickt wird, gelangt Hieronymus
zu diesem Ansatz.
122 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
gubernaculum.') Aus jüdischer Tradition weiß er, daß das
Fischtor Zeph. 1, 10 mit dem Tore Jerusalems identisch ist,
das nach Diospolis und Joppe führt.) Aus derselben Quelle
ist ihm aber auch die vermutlich falsche Deutung von No
Ammon Nah. 3, 8 — 9 auf Alexandria zu gekommen, während
darunter wahrscheinlich das ägyptische Theben zu verstehen
ist. Reseph Hab. 3, 5 ist nach hebräischer Überlieferung der
Name des Obersten der Dämonen, ) und die Stelle Hab. 3,
3 ff.: „Der Herr wird von Süden kommen", bezogen die
Hebräer auf den Messias, der aus dem im Süden gelegenen
Bethlehem stammen sollte.*) Die Erkenntnis, daß der Prophet
Habakuk aus epischen und lyrischen Bestandteilen zusammen-
gesetzt ist, verdankt Hieronymus ebenfalls seinem Hebräer.')
Aber Hieronymus nahm doch nicht alles kritiklos auf, was
ihm von den Juden zugekommen war. Ein echtes Produkt
jüdischer Haggada hatte ihm sein aus Lydda stammender
Lehrer^) im Anschluß an Hab. 2, 15 erzählt: „Wehe dem, der
seinem Freunde einen Trank gibt beimischend seinen Honig
und ihn trunkend macht, daß er seine Blöße schaue". Dem
jüdischen König Zedekia, der von Nebukadnezar geblendet nach
Babylon geführt worden war, sei bei einem festlichen Gelage, um
ihn zu verspotten, ein stark abführender Trank gereicht worden,
der dann sogleich bei Tische zur Belustigung der Gäste seine
Wirkung tat, so daß das Schriftwort Hab. 2, 15 in Erfüllung
ging. Wie lächerlich dies ist, setzt Hieronymus hinzu, werdet
ihr erkennen, wenn ich auch nichts dazu sage. Prinzipiellen
Widerspruch erhob aber Hieronymus gegen die Auslegung der
Hebräer, die die von den Christen auf die Ankunft Christi und
das Gericht über Jerusalem bezogenen Prophetenstellen auf
die zukünftige Ankunft des noch zu erwartenden Messias, die
Errichtung eines irdischen Messiasreiches und das zukünftige
') Valiarsi VI, 5Ö3.
*) Valiarsi Vi, 684.
') Valiarsi VI, 641.
') Valiarsi VI, 637.
') F^raef. in Hab. üb. II, Valiarsi VI, 631 ff.
*) Praef. in Hiob, wo derselbe jüdische Lehrer erwähnt wird, s. oben
§ 33, S. 101.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 123
Über die Heidenvölker ergehende Gottesgericht deuteten. Hiero-
nymus ist nicht nur empört über den jüdischen Unglauben,
der Christus nicht als Messias anerkennen will, sondern er
findet auch die jüdischen Zukunftshoffnungen dumm, frivol
und anmaßend. Daß dem jüdischen Volke, das von der
Knechtschaft befreit wird, bei der Ankunft des Messias alle
Nationen dienen sollen,') daß an jenem Tage, wenn vom
Messias die Mauern Jerusalems wieder aufgebaut werden, die
heiligen Schriften, das Gesetz und die Propheten, den Christen
genommen und dem jüdischen Volke übergeben werden sollen,')
sind ihm jüdische Behauptungen von unverschämter Frechheit.
Mit besonderem Eifer bekämpfte Hieronymus die sinnlichen
Zukunftshoffnungen: man darf nicht glauben, daß Gott aus
Gold und Edelsteinen und nicht aus lebendigen Steinen Jeru-
salem bauen werde. ^) Hier zeigt sich der dogmatisch sonst so
schwankende Hieronymus als entschiedener und schroffer Gegner
des Chiliasmus. Die Weissagungen der Propheten Micha und
Zephanja vom Gerichtstage Gottes und dem zukünftigen
Messiasreich bezieht er fast durchgängig auf das Gericht
über Jerusalem und das Friedensreich, das Christus bereits
gebracht hat. Er bekämpft hier nicht nur die Juden, sondern
auch die chiliastisch denkenden Christen. Wenn also einer
der Christen und am meisten der neuen Klugen, deren Namen
ich verschweige, damit ich keinen zu verletzen scheine, glaubt,
daß die Prophetie noch nicht erfüllt sei, so möge er wissen,
daß er den Namen Christi falsch trage und eine jüdische
Seele und nur keine Beschneidung des Körpers habe.') Er
nennt die Chiliasten halbe Juden, die unsern ganzen Glauben
zugrunde richten, die erbärmlichsten der Menschen.) Diese Ab-
lehnung des Chiliasmus hat Hieronymus von Origenes über-
nommen und auch später beibehalten, als er sich von seinem
Meister lossagte und seine dogmatischen Aufstellungen als
') Mich. 4, 11 ff., Vallarsi VI, 485; Mich. 5, 7 ff., Vallarsi VI, 49S;
Zeph. 2, 12 ff., Vallarsi VI, 709.
») Mich. 7, 8 ff., Vallarsi VI, 522.
3) Hagg. 2, 16 ff., Vallarsi VI, 767.
■•) Zeph. 3, 14, Vallarsi VI, 728.
*) Zeph. 3, IQ, Vallarsi VI, 731.
124 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Heterodoxien verwarf. Seine entschiedene Stellungnahme gegen
den Chiliasmus hat aber vor allem mitgewirkt, daß die mittel-
alterliche Kirche die Erwartung eines tausendjährigen Reiches als
Ketzerei verurteilte und in der Eschatologie trotz aller sinnlichen
Ausmalung des ewigen Strafzustandes und der ewigen Selig-
keit bei der Ablehnung des Chiliasmus den spiritualistischen
Motiven des Origenes, die Hieronymus aufgenommen hatte,
treu blieb, und dies trotz der Bibüzität des Chiliasmus.
Eigentümlich frei spricht sich Hieronymus in diesen
Kommentaren über die Inspiration der heiligen Schriften aus.')
Vor der starren Verbalinspiration bewahrten ihn seine text-
kritischen Kenntnisse. Das Zitat Mich. 5, 1 „Und du Beth-
lehem Ephrata" stimmte bei Matth. 2, 6 weder mit den LXX
noch mit dem hebräischen Text überein. Seine Meinung ist
nun, daß der Evangelist Matthäus mit dem ungenauen Zitat
die Nachlässigkeit der Schriftgelehrten und Priester im Lesen
der Heiligen Schrift, die diese Worte vor Herodes zitieren,
habe bemerklich machen wollen. Nach einer anderen Erklärung
sind aber die zahlreichen Abweichungen alttestamentlicher
Zitate vom Grundtexte im Neuen Testament darauf zurück-
zuführen, daß die Apostel und Evangelisten nicht aus den
Büchern, sondern aus dem Gedächtnis zitieren und dieses
Gedächtnis sie naturgemäß bisweilen im Stich läßt.-) Bei
Habakuk 2, 4 macht Hieronymus darauf aufmerksam, daß der
Apostel diese Stelle im F^ömerbriefe 1,17 nach den LXX zitiere.
Er tue es deshalb, weil die Römer die hebräischen Schriften
nicht kannten. Es kommt aber den Aposteln nicht auf die
Worte, sondern auf den Sinn an. Nur wo eine sinngemäße
Differenz zwischen den LXX und dem hebräischen Text besteht,
gebraucht der Apostel nach Hieronymus das hebräischeOriginal.'')
Endlich sind noch die Ausführungen des Hieronymus
über die göttliche Providenz im Habakukkommentar für sein
religiöses Empfinden charakteristisch. Er besitzt zu wenig
religiöse Energie, um nicht den Gedanken der göttlichen
r^rovidenz mit rationalistischen Bedenken abzuschwächen. Es
') s. auch Zöckler, S. 189.
2) Vallarsi VI, 789.
') Vallarsi Vi, 612.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 123
ist absurd, die Majestät Gottes herabzuzielien, um anzunehmen,
daß Gott weiß, wieviel Flöhe in jedem Augenblick geboren
werden und wieviel sterben, welche Menge von Wanzen,
Flöhen und Fliegen auf der Erde ist, wieviele Fische im
Wasser schwimmen, und welche von den Kleinen der Raub
der Großen werden müssen. Wir sind nicht so törichte
Schmeichler Gottes, daß wir seine Macht auch auf das Niedrige
herabziehen. Seine nüchterne Verständigkeit, die uns immer
wieder bei allen pathetischen Worten entgegentritt, begnügt
sich nicht mit dem religiösen Postulat der göttlichen Providenz;
er versucht es, sie auszudenken und gelangt naturgemäß zu
Absurditäten. Er spottet über die Dummheit, einen eigenen
Engel namens Tegri den Reptilien vorzusetzen, wie es das
apokryphe Buch Hermas tut. Man müßte dann auch eigene
Engel für die Fische, Bäume und Tiere annehmen.
Besondere Sorgfalt hat Hieronymus auf den Text ver-
wandt. Was er hierüber berichtet, ist noch heute für uns
zum Teil von größtem Wert und größter Bedeutung. Be-
sonders im Habakukkommentar notiert er neben den Lesarten
der LXX, Aquila, Symmachus und Theodotion auch die Lesarten
der Quinta, Sexta und Septima zum Dodekapropheton.") Er
versucht auch die verschiedenen Übersetzungen zu charakteri-
sieren, wenn er z. B. zu Hab. 3, 11 ff. die Übersetzung der
Ebioniten und halben Christen, Theodotion und Symmachus,
als jüdisch bezeichnet, während der Jude Aquila und die
Quinta wie die Christen übersetzen, und die Sexta noch deut-
licher das christlich messianische Verständnis der Stelle zum
Ausdruck bringt. Einmal spricht er sogar von zwei Aus-
gaben des Symmachus und teilt beide Lesarten mit.') Er ver-
gleicht die LXX mit dem hebräischen Text^) und bemüht sich
sogar um Korrekturen der LXX.') In der Regel gibt er dem
») s. z. B. Hab. 1, 9 ff., Vallarsi VI, 618; Hab. 2, 15, Vallarsi VI, 623.
-) Nah. 3, 1, Vallarsi Vi, 563.
^) Z. B. Mich. 2, 9, wo er bemerkt, daß die Übersetzung zu den
Propheten vielleicht nicht LXX genannt werden dürfe, da nach Josephus
und der hebräischen Tradition nur die 5 Bücher Mosis von den LXX für
König Ptolemäus übersetzt worden sind.
•*) Mich. 6, 3, Vallarsi VI, 502.
126 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
hebräischen Text den Vorzug vor den LXX, aber bisweilen
schwankt er auch, ob entweder die Bosheit der Juden den
ahen Text korrigiert oder ob die LXX Zusätze zum hebräischen
Text gemacht haben. Besonders wertvoll sind für uns die
sich allerdings selten findenden Angaben über Varianten in
den hebräischen Codices.')
Was die Form seiner Kommentare betrifft, so bemerkt
Hieronymus selbst, daß die trockenen Auseinandersetzungen
über den hebräischen Text, die LXX und die anderen Über-
setzungen dem Leser lästig fallen mögen; aber er schreibe auch
nicht erdichtete Streitreden oder Schulübungen und ergehe
sich nicht in Gemeinplätzen, sondern er schreibe Kommentare
und zwar zu den kleinen Propheten, die viele dunkle Stellen
enthielten. Im ganzen sind die Kommentare auch ziemlich
trocken, nur bisweilen erhebt er sich zu höherem Schwung,
wie z. B. in der Schilderung, daß das Christentum der Welt
den Frieden gebracht hat. ) Bezugnahme auf zeitgeschichtliche
Verhältnisse, wie sie uns in den neutestamentlichen Kommen-
taren häufiger begegnen, sind in diesen alttestamentlichen
Auslegungsschriften spärlicher vorhanden. Gelegentlich flicht
er eine Anekdote ein, die er selbst als Schüler beim Tode
Kaiser Julians erlebt hat. ) Mit Bedauern registriert er, daß
die mit weltlichen Ehren und Reichtümern Ausgestatteten nur
selten oder niemals zur Kirche kommen.^) Er ermahnt die
Christen, wenn einer ihrer Verwandten sterbe und der Fiskus
das Vermögen beschlagnahme, nicht zu weinen und nicht das
Gegenwärtige, sondern das Zukünftige ins Auge zu fassen.')
Besonders eindrucksvoll und dramatisch schildert er uns aus
eigener Anschauung die ergreifende Wehklage der Juden über
den Fall Jerusalems und die Zerstörung des Tempels, zu der
sie sich noch jährlich zu versammeln pflegten"): „Bis heute
') Hab. 2, IQ, Vallarsi Vi, 630: praeterea sciendum in quibusdam
hebraicis vohiminibus non esse additnm „omnis", sed absolute spiritum legi.
2) Vallarsi VI, 475 ff.
') Band I, 117.
♦) Vallarsi VI, 697.
*) Vallarsi VI, 454.
") Zeph. 1, 15 und 16 s. auch Zöckler, S. 188.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 127
dürfen die bösen Ackerbauer Jerusalem nicht betreten und
müssen es mit Geld erkaufen, daß sie die Zerstörung ihrer Stadt
beweinen können, und die, welche einst Christi Blut erkauften,
müssen jetzt ihre Tränen erkaufen. Nicht einmal ihr Weinen
ist umsonst. Man kann sehen, wie am Tage der Einnahme
und Zerstörung Jerusalems durch die Römer das trauernde
Volk zusammenkommt, wie abgelebte arme Weiber und Greise
mit Lumpen bedeckt und durch die Last der Jahre gebeugt,
herbeiströmen, um durch ihren Anzug und die Haltung ihrer
Leiber den Zorn Gottes zu verkünden. Es sammelt sich der
Haufe der Elenden und, während das Kreuz des Herrn er-
glänzt und seine Auferstehungskirche hell strahlt, während
vom Ölberg die Kreuzesfahne weht, beklagt ein unglückliches
und doch nicht bemitleidenswertes Volk die Ruinen seines
Tempels. Die Tränen stehen auf ihren Wangen, die Arme
sind matt und zerschlagen, die Haare zerrauft, und der wach-
habende Krieger fordert seinen Lohn dafür, daß ihnen noch
weiter zu klagen gestattet sei. Und bei diesem Anblick sollte
man noch ungewiß bleiben über den Tag der Trübsal und
der Angst, des Wetters und des Ungestüms, der Finsternis und
des Dunkels, derPosaunen und derTrompeten. Sie haben wirklich
bei ihrer Trauer Trompeten und die Stimme ihrer Freude
ist in Jammer verwandelt, wie der Prophet sagt. Sie heulen
über die Asche ihres Heiligtums und über den zerstörten
Altar, über die einst so feste Stadt und über die hohen
Zinnen des Tempels, von wo sie einst Jakobus den Bruder
des Herrn herabstürzten." Ein fanatischer Judenhaß spricht
aus diesen Worten des Hieronymus, und doch verschmähte
er es nicht, sich zu den Füßen der jüdischen Rabbinen zu
setzen, um sich von ihnen in der heiligen Sprache des alten
Bundes unterweisen zu lassen.
128 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
§ 35.
Der Schriftstellerkatalog des Hieronymus.
„Ohne Zweifel gehört die Schrift de viris illustribus zu
den verdienstvollsten, ja v^enn man vc^ill, zu den genialsten
Geistesprodukten unseres Schriftstellers", so schrieb Zöckler
1865 in seiner Biographie des Hieronymus.') Und jezt, wo
auf Grund eingehendster Forschungen") als Quellen oder
richtiger als Quelle des Schriftchens die Kirchengeschichte des
Eusebius erwiesen ist, ist das Urteil ins Gegenteil umge-
schlagen, und man kritisiert aufs schärfste die Leichtfertigkeit
und Unwahrhaftigkeit des Hieronymus, wie sie uns mit er-
schreckender Deutlichkeit gerade bei der Abfassung dieser
Schrift entgegentrete. So urteilt Harnack:') „Aus dem Bettel-
gewand des unglaublich eilfertig geschriebenen, nach berühmten
Mustern abgefaßten Traktats schaut nur die Eitelkeit des Schrift-
stellers hervor." Man könnte gegen das letzte überaus harte
Urteil einwenden: Hieronymus hat hier nicht schlimmer als
sonst gearbeitet, alle seine literarischen Untugenden begegnen
uns nur wieder. Er ist fast überall Kompilator, nur be-
sitzen wir bei seinen exegetischen Werken fast nie sämtliche
seiner Vorlagen, um ihm seine literarische Freibeuterei mit
') S. 120.
'^) St. von Sychowski, Eine quellenkritische Untersuchung der Schrift
des heiligen Hieronymus de viris illustribus, München 1894. CA. Bernoulli,
Der Schriftstellerkatalog des Hieronymus, Freiburg und Leipzig 18Q5; vergl.
auch das vorzügliche zusammenfassende F^eferat über diese Forschungen
bei M. Schanz, Geschichte der römischen Literatur bis zum Gesetzeswerk
des Kaisers Justinian, Teil IV, 404 ff., München 1904; die Ausgabe von
Herding, Leipzig 1879, ist allgemein als ungenügend erkannt; Bernoullis
Ausgabe in der Sammlung ausgewählter kirchen- und dogmengeschicht-
licher Quellenschriften, Heft 11, Freiburg 1895, ruht auf fünf Handschriften;
Richardsons Ausgabe, Texte und Untersuch., Band XIV, 1. Heft, Leipzig
1896, hat eine große Zahl (108) Handschriften benutzt und neun zur
Grundlage seines Textes gemacht. Ein Mangel der fleißigen Arbeit
besteht, wie von allen Kritikern hervorgehoben wurde, darin, daß er die
griechische Übersetzung der Schrift zur Herstellung des Textes unbenutzt
gelassen hat.
') Texte und Untersuch. V, 1, S. 120.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 129
derselben Deutlichkeit nachweisen zu können. Mir würde es
jedoch ungerecht erscheinen, seine exegetischen Arbeiten trotz
aller Abhängigkeit von berühmten Mustern mit diesem Schrift-
stellerkatalog gleichzustellen. Der Schriftstellerkatalog ist, wie
Overbeck es ausgesprochen hat, in der Tat vielleicht das
krasseste Denkmal der mannigfachen und argen Schäden seiner
Arbeitsweise. ') Aber trotz allem, was man mit Recht an der
Arbeit getadelt hat: wer unter seinen Zeitgenossen war denn
in der christlichen Literatur griechischer und lateinischer
Sprache so belesen wie Hieronymus, daß er nur ein solches
Werk wie Hieronymus hätte schreiben können? Gewiß hat
er von der älteren christlichen Literatur des zweiten und dritten
Jahrhunderts fast nichts gekannt,-) aber über die Literatur des
vierten Jahrhunderts ist er doch in einer Breite informiert wie kein
Grieche und kein Lateiner seines Zeitalters. Daß aber solche
Menschen mit dem Wissen eines Konversationslexikons keine
wissenschaftlich produktiven Köpfe sind, sollte keinen Kenner
der Geschichte verwundern. Daß solche Vielwisser in der
Regel ihr wirkliches Wissen noch größer erscheinen lassen
und sich aus Eitelkeit ein Scheinwissen beilegen, ist psycho-
logisch ebenfalls verständlich. Wenn wir weiter in Betracht
ziehen, daß das unkritische Zeitalter des Hieronymus ihm alle
seine flüchtigen Arbeiten mit Dank abnahm, aber für seine
mühevollste Arbeit, die Bibelübersetzung des Alten Testaments
aus dem hebräischen Text, keine Spur von Verständnis besaß,
so können wir es begreifen, daß er, trotz allem der gelehrteste
christliche Schriftsteller der Zeit, sich keine Mühe gab, seinen
Zeitgenossen gründliche Arbeiten zu liefern, da sie die Unter-
scheidungsgabe des Guten und Bösen nicht besaßen. Ich
') Die Anfänge der Kirchengeschichtsschreibung, Basler Universitäts-
programm 1892, S. 19, Anm. 34.
-) s. die Zusammenstellung über seine Kenntnisse der altchristlichen
Literatur bei Bernoulli, S. 200 ff. Danach hätte er nur Josephus, Tatians
Kommentar zum Titusbrief, Irenäus, die apostolischen Väter von älteren
griechischen Kirchenvätern gekannt. Es ist aber bezeichnend, daß man ihm
auch eine lateinische Übersetzung der Schriften des Papias und Polykarp, die
er selbst gar nicht kannte, noch zu seinen Lebzeiten andichtete; s. ep. 71, 5,
wo Hieronymus das Gerücht als falsch bezeichnet, daß er Josephus, Papias
und Polykarp ins Lateinische übersetzt habe.
G r ü tzm ach e r , Hieronymus. II. 9
130 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
möchte mit Bernoulli dem Hieronymus auch nicht das Ver-
dienst absprechen, daß er mit dem Schriftstellerkatalog neue
literarische Bahnen zu betreten versuchte, die bisher noch
keiner gegangen war. Gewiß hat Hieronymus den Begriff
einer christlichen Literaturgeschichte im Schriftstellerkatalog
sehr eng und äußerlich gefaßt; aber der erste Ansatz zu einer
solchen war doch damit gegeben. Aller Anfang bei der
Inangriffnahme einer neuen literarischen Aufgabe ist schwer.
Und mag man gegen Hieronymus sagen was man will, eine
Empfindung für wissenschaftliche Probleme besaß der begabte
Dalmatiner, und in der Inangriffnahme großer literarischer
Aufgaben hat er sich vielfach versucht. Fraglos hat er aber nur
selten wie bei dem Bibelwerk die ergriffene Aufgabe mit
Zähigkeit durchgeführt; in der Regel werden wir stark ent-
täuscht, wenn wir sehen, wie sein keineswegs geringes Talent
so wenig Gründliches leistet.
Der ihm befreundete Reiteroberst Dexter hatte ihn zur
Abfassung des Schriftstellerkatalogs aufgefordert.') Sein hoher
Gönner hatte dabei den Wunsch geäußert, daß er in Nach-
ahmung des Sueton de viris illustribus ) ein Werk schreiben
möchte, welches den Heiden den Vorwurf nehme, das Christen-
tum sei keine Religion der literarisch Gebildeten. Seine Schrift
trägt deshalb deutlich einen apologetischen und polemischen
Charakter. Am Schluß des Prologs sagt er: „Mögen also
Celsus, Porphyrius und Julian, die gegen Christus bissigen
Hunde, und ihre Anhänger, die glauben, daß die Kirche keine
Philoso]-)hen, Redner und Lehrer gehabt habe, es lernen, wie
große und bedeutende Männer die Kirche begründet, auf-
gebaut und geschmückt haben, und mögen sie aufhören,
') s. Contra RnUn. II, 23, Vallarsi II, 516. Schanz, S. 355, Anui. 2,
identifiziert ihn mit Dexter, dem Sohn des Bischofs Pacian von Barcelona,
den Hieronynnis im Katalog c. 132 clarus ad saeculum et Christi fidei
dedifus erwähnt, und der eine historia onmimoda, die dem Hieronymus
gewidmet war, geschrieben habe, die er aber noch nicht gelesen habe. Sicher
ist diese Identifikation nicht, aber sie erscheint mir doch wahrscheinlich.
') Über seine Nachahnning des Sueton s. den Nachweis bei Bernoulli,
S. 76 ff. Die Griechen Hermippus, Antigonus, Carystius, Satyrus und den
Musiker Aristoxenus und die Lateiner Varro, Santra, Nepos, Hyginos, die
Hieronynnis in der Vorrede anführt, kennt er nur dem Namen nach.
Die ersten Jalire im Kloster zu Betiileliein. 131
unseren Glauben bäurischer Einfalt zu beschuldigen, und lieber
ihre Unwissenheit eingestehen." Aus dieser Tendenz erklärt
sich die auf den ersten Blick befremdliche Aufnahme des
Heiden Seneca und der Juden Philo, Josephus und Justus
von Tiberias in den Katalog der kirchlichen Schriftsteller.-
Allerdings bestand wenigstens bei drei dieser Männer durch
den apokryphen Briefwechsel Senecas mit Paulus, durch das
günstige Urteil des Josephus über Christus und durch die an-
gebliche Beschreibung des Lebens der ältesten alexandrinischen
Christen in Philos de vita contemplativa zwischen ihnen und
dem Christentum eine gewisse Beziehung. Aber das Motiv bei
Aufnahme in den Katalog war doch, die Zahl der christlichen
Schriftsteller möglichst groß erscheinen zu lassen. Aus dem-
selben Motiv hat er auch die christlichen Häretiker unter die
christlichen Schriftsteller eingereiht; und er, der später so
ängstlich um seine Orthodoxie besorgt war und den Graben
zwischen der Kirche und der Häresie nicht breit genug machen
konnte, hat hier die Häretiker mit dem Mantel der christlichen
Liebe bedeckt, nur um den Heiden mit der großen Zahl christ-
licher Schriftsteller zu imponieren. Bei Tatian ') hat er
wenigstens angemerkt, daß er der Stifter der Sekte der Enkra-
titen, bei Bardesanes,') daß er erst Valentinianer und dann der
Begründer einer eigenen Sekte war, bei Tertullian, ') daß er
später zum Montanismus abfiel, allerdings mit dem Seiten-
hieb, daß er durch den Neid und die Schmähungen der
Kleriker der römischen Kirche — er hatte ja selbst ähnliches
erduldet dazu veranlaßt worden wäre. Bei Novatian ')
und Donatus berichtet er, ) daß sich die Katharer und
Donatisten von ihnen herleiten, und bei Photin, ') daß er
der Restaurator der Häresie der Ebioniten geworden sei.
Bei Marceil von Ancyra") dagegen läßt er aus Mangel an
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132 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
eigenem Urteil die Frage offen, ob er Sabellianer war oder
nicht. Asterius nennt er einen Philosophen der arianischen
Partei,') aber Priscillian und seine Freunde') behandelt er nicht
als Häretiker, ja er scheint fast für sie eintreten zu wollen.)
Ganz unbeanstandet läßt Hieronymus Lucifer von Calaris,')
gegen dessen Lehre er einst in Rom selbst polemisiert hatte,
und seinen Lehrer Apollinaris von Laodicea.) Die Bischöfe
Lucius von Alexandria') und Eunomins von Cyzicus ') werden
zwar als Arianer bezeichnet, aber es wird kein tadelnder Zusatz
dazu gemacht. Daß Hieronymus Origenes ') nicht als Häretiker
bezeichnet, sondern sein unsterbliches Genie feiert und alle
Synoden, die gegen ihn gehalten wurden, sowie alle Vorwürfe
gegen ihn verschweigt, findet in seiner damaligen theologischen
Stellungnahme eine ausreichende Erklärung. Es ist bei dieser
inkonsequenten Haltung des Hieronymus gegenüber den
Häretikern verständlich, daß Augustin, der klare und scharfe
Abgrenzungen liebte, daran Anstoß nahm:") „In dem Buch,
wo du aller Kirchenschriftsteller, deren du dich erinnern
konntest, und ihrer Schriften gedacht hast, wäre es, glaube ich,
bequemer gewesen, wenn du bei den Häresiarchen, falls du
sie nicht auslassen wolltest, hinzugefügt hättest, wovor man
sich bei ihnen hüten muß." Er bedachte dabei nicht, daß
Hieronymus eigentlich nur eine Häresie kannte, die Bekämpfung
der Virginität, sonst aber recht imfähig war, dogmatische Diffe-
renzen scharf zu fixieren.
Mit der apologetischen Tendenz des Buches hängt es
weiter aufs engste zusammen, daß Hieronymus es liebt, mög-
lichst viel lobende Prädikate den einzelnen Verfassern und
Büchern zu erteilen, um die literarischen Produkte der Christen
') C. 94.
*) C. 121-123.
') Später ep. 75, c. 3, Vallarsi I, 449 bezeichnet er den Priscillianis-
miis als spurcissima haeresis Basilidis, instar pestis et morbus.
*) C. 95.
») C. 104.
«) C. 118.
') C. 120.
8) C. 54.
9) Ep. 67 ad Hieronymum c. 9, Vallarsi I, 406, s. Zöckler, S. 193.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 133
in hellstem Lichte erscheinen zu lassen. Er wollte damit nicht
so sehr den Schein eigener Kenntnis erwecken, als vielmehr
den Heiden die christliche Literatur in den höchsten Tönen
anpreisen. Deshalb hat er auch die Kritik an den Häretikern
zurückgestellt, damit die Heiden nicht auf die Widersprüche
der christlichen Autoren unter sich aufmerksam würden.
Nach dem Vorbild des Sueton stellt Hieronymus 135
christliche Autoren in je einem Kapitel dar. Wie der Heide
die berühmten Schriftsteller in Reihe und Glied aufgestellt
hatte, den Kleinen neben dem Großen, so läßt Hieronymus
die christliche Phalanx dagegen aufmarschieren.')
In zwei Teile läßt sich der Katalog zerlegen, c. 1 — 78 von
Petrus bis auf Bischof Phileas von Thmuis in Ägypten, und
c. 7Q — 135 von Arnobius bis auf seine eigene Person. Der
erste Teil ist nun in 69 Nummern einfach aus der Kirchen-
geschichte des Eusebius zusammengestellt, wie Bernoulli,
Sychowski und Huemer in gründlichster Einzeluntersuchung
dargetan haben.') Er verschweigt diese seine Quelle nicht,
sondern nennt sie in der Vorrede und bisweilen in einzelnen
Kapiteln. ) Man könnte also den Schriftstellerkatalog in Parallele
zu der Chronik stellen, wo er auch Eusebius übersetzt, mit
einigen Notizen vervollständigt und eine selbständige Fort-
setzung gegeben hat.') Aber wieviel offener lautet das Ein-
') s. Bernoulli, S. 76 ff., der die Abhängigkeit von Sueton auch in
stilistischer Beziehung deutlich gemacht hat.
-) J. Huemer, Studien zu dem ältesten christlichen Literarhistoriker,
Wiener Studien 16, 121 ff., 1894.
^ De vir. illust. ed Richardson prol. S. 1 ff. quamquam et Eusebius
Pamphili in decem ecciesiasticae historiae libris maximo nobis adiumento
fuerit, et singulorum, de quibus scripturi sumus, volununa aetates auctoruni
suorum saepe testantur; c. 15 bemerkt er bei der disputatio Petri et
Appionis, dafi sie Eusebius dem Clemens im dritten Buch der Kirchen-
geschichte abspricht, de vir. illust. ed. Richardson, S. 17; c. 54 verweist er
für die genaueren Daten über Origenes auf das sechste Buch der Kirchen-
geschichte des Eusebius, de vir. illust. ed. Richardson, S. 33.
•*) Ich möchte nur auf besonders charakteristische Beispiele der Ab-
hängigkeit des Schriftstellerkatalogs von der Kirchengeschichte des Eusebius
hinweisen: Marcus c. 8 = Euseb. h. e. II, 15; Josephus c. 13 ^ Eus. h. e.
III, 9; Clemens c. 15 =^ Eus. h. e. III, 15; Ignatius c. 16 = Eus. h. e. III,
36, 2; Polykarp c. 17= Eus. h. e. III, 36, 1.
134 Die ersten Jahre im Kloster zu Betiilehem.
geständnis seiner Abhängigkeit von dem gelehrten Kirchen-
historiker in der Chronik. Damals, noch im Anfang seiner
schriftstellerischen Laufbahn, schrieb er in Konstantinopel
unter den Augen Gregors von Nazianz; jetzt nach 12 Jahren
wollte er als berijhmt gewordener Schriftsteller seine Unselb-
ständigkeit nicht mehr offen eingestehen. Gegen die Benutzung
selbst werden wir ja nichts einwenden dürfen. Verurteilte doch
das Zeitalter den literarischen Diebstahl auch nicht in der-
selben Weise, wie wir ihn heute verurteilen. Aber wie leicht-
fertig hat er seine Vorlage benutzt.
Ohne Kommentar kann der erste Teil seines Schrift-
stellerkatalogs überhaupt nicht benutzt werden.') Um nur
einige Beispiele herauszugreifen: Aus den Namen des Vaters
und Großvaters des Apologeten Justin hat er einen Namen
Priscus Bacchius gemacht. Durch ein Mißverständnis des
Eusebius hat er berichtet: Bartholomäus habe das Kommen
Christi nach dem Matthäusevangelium verkündet. Aus den
Worten des Eusebius, daß der Bischof Serapion von Antiochia
') In einigen Fällen scheinen mir Bernoulli und v. Sychowski zu hart
über Hieronymus zu urteilen. Wenn z. B. Bernoulli dem Hieronymus den
Vorwurf macht, daß er den Bischofssitz des Hippolyt, den Eusebius auch
nicht mehr kannte, hätte ohne Mühe feststellen können, da er in Rom ge-
vvesen war, so halte ich dies nicht für zutreffend. Auch daß Hieronymus
nach der Vorrede zu seinem 398 geschriebenen Matthäuskommentar den
Matthäuskommentar des Hippolyt kennt und in ep. 71 ad Luciuium die
Traktate des Hippolyt über das Sabbatfasten und das tägliche Nehmen der
Eucharistie erwähnt, läßt noch nicht den Schluß auf eine Nachlässigkeit
des Hieronynnis im Schriftstellerkatalog zu, da ihm diese Schriften Mippolyts
erst später bekannt geworden sein können. Die Behauptung v. Sychowskis,
da(i Hieronynnis von Lucifer von Calaris mehr als die eine Schrift morien-
lium pro filio dei gekannt hat, läßt sich ebenfalls nicht erweisen. Ich ver-
stehe auch nicht, wie Bernoulli, S. 278, dem Hieronymus die Kenntnis des
Kommentars des Oregorius Thaiimaturgos zum Prediger absprechen kann,
obwohl er ein Zitat in seinem Kommentar zum Prediger, c. 4, 13, daraus
bringt: „Allein dieses Zitat ist ganz isoliert und beweist an sich noch
keine wirkliche Bekanntschaft." Endlich will mir nicht einleuchten, daß
die Nachricht des Hieronymus über l^seudepigraphen des Modestus nach
Bernoulli, S. 198, auf Kombination aus Eusebius h. e. VI, 12, 3 zurück-
gehen soll. Dies sind alles kleine und unwichtige Ausstellungen, die an
dem erbrachten Nachweis, daß Hieronymus überaus leichtfertig gearbeitet
hat, nichts wesentliches ändern.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethleiiem. 135
rFjf jTsg/ Äöyov^ dOKijöeco^ getrieben habe, macht er ein
Werk des Serapion über die Askese. Irenäus und Justin, dem
Märtyrer, die Eusebius als Zeugen für die Abfassung der
Apokalypse durch den Apostel Johannes genannt hatte, legt
er Kommentare zur Apokalypse bei.') Daß er an Eusebius
selten Kritik geübt — für Novatus hat er einmal richtig
Novatian eingesetzt, und von dem Freund des Origenes
berichtet er, daß er nicht Valentinianer, sondern Marcionit
war"-) — sondern ihn im allgemeinen als irrtumslose Autorität
benutzt hat, werden wir ihm nicht zu schwer anrechnen
dürfen; denn von der christlichen Literatur des zweiten und
dritten Jahrhunderts besaß er eben keine eigene Kenntnis,
und eine solche war trotz der Bibliothek von Cäsarea, die
er ja hätte benutzen können, nicht im Handumdrehen zu
erlangen. Auch erscheint es mir mehr Gedankenlosigkeit als
bewußter Betrug der Leser, ) wenn er chronologische Daten
aus Eusebius abschreibt, die nur für die Zeit des Eusebius,
nicht für seine eigene passen. Aber eine solche Erklärung ist
nicht mehr möglich, wenn er Titel von Schriften, die er nur
aus Eusebius kennt, absichtlich verdreht,') und in dem Kapitel
über Philo, das er mit vielen Mißverständnissen aus Eusebius
abgeschrieben hat, hinzufügt: „Es gibt noch Schriften, die
nicht in unsere Hände gekommen sind", während überhaupt
nichts in seine Hände gekommen ist, was Philo geschrieben
hat, und er von Philo nur aus Eusebius weiß. Hier gibt er
sich den Schein selbständigen Wissens und führt absichtlich
seine Leser irre.
Außer der Kirchengeschichte des Eusebius hat Hierony-
mus für den ersten Teil seines Werkes noch seine Übersetzung
der Chronik des Eusebius, deren chronologische Anordnung
er vor der Kirchengeschichte bevorzugte,') und für die ersten
Kapitel das Neue Testament benutzt.
») s. Eiiseb. h. e. IV, 18, S, Bernoulli, S. 172.
■') Bernoulli, S. 20 ff .
^) s. auch Schanz S. 406.
*) s. z. B. Die Titel der Schriften des Melito von Sardes, c. 24, die
er nur aus Eusebius kennt.
") s. Bernoulli, S. 167.
136 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Ganz fehlen aber auch im ersten Teil nicht Zusätze,
die Hieronymus aus eigner Kenntnis der christlichen Literatur
gemacht hat. Daß dies Bemerkungen sind, wie sie jeder
gelehrte Mann mehr oder weniger darbieten konnte,') möchte
ich nicht zugeben. Gewiß hat Hieronymus im Schriftsteller-
katalog keine Früchte eifrigen Nachforschens niedergelegt;
aber sein Wissen war doch umfassender als das seiner
Zeitgenossen und deshalb konnte er trotz aller Flüchtigkeit
mehr geben als andere. Der Wert des ersten Teiles des
Schriftstellerkatalogs besteht für uns in gelegentlichen bio-
graphischen Mitteilungen und im Bericht über Schriften, deren
einziger Zeuge bisweilen Hieronymus ist. So hat er z. B.
im Artikel Petrus das ludicium Petri und die Petrusapokalypse
genannt, im Artikel Jakobus ein Zitat aus dem Hebräer-
evangelium über die Erscheinung Jesu vor Jakobus gebracht,
im Artikel Paulus die lokale Legende, deren er auch im
Philemonkommentar gedachte, von dem Geburtsort des Paulus
in Gischala in Galiläa berichtet und den apokryphen
Laodicenerbrief erwähnt, im Artikel Johannes den alten
Evangelienprolog zum Johannes benutzt.) Von dem Origenisten
Tryphon"") und dem antiochenischen Priester Geminus*) wissen
wir nur etwas aus Hieronymus. In dem Artikel Lucian ) hat er
über seine Bibelrezension gehandelt.
Ein Verdienst kann man Hieronymus in seinem Schrift-
stellerkatalog nicht absprechen; er hat Orient und Occident
unparteiisch behandelt und keine nationale und sprachliche
Schranken für die Aufnahme der Kirchenschriftsteller in seinen
Katalog gezogen. Er hat deshalb die die griechischen
Kirchenväter einseitig berücksichtigende Kirchengeschichte
des Eusebius durch Beifügung der Lateiner ergänzt. Wert-
voll sind daher die Nachrichten, die er über die Biographie
') s. Schanz, S. 406.
-) Das Öhnartyrium des Johannes, das er aus Terlulhan de praescr.
haer. c. 36 kannte (Adv. Jov. 11, 26 u. Comm. in Matth. 20, 23) hat er
hier niciit erwähnt.
■•') C. 57.
') C. 64.
") C. 77.
Die eisten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 137
und die Schriften Tertullians,') des Minucius Felix,') Cy-
prians,') Pontius/) des Biographen Cyprians, Novatians,')
über die Acta Archelai") und Viktorin von Pettau'') bringt.
Während er uns aber bei Novatian ein vollständiges Ver-
zeichnis der ihm bekannten Schriften gibt,') hat er über
Tertullian nur sehr fragmentarisch berichtet, und bei Cyprian
schiebt er sich sogar die Arbeit mit der Phrase ab: „Es ist
überflüssig, ein Verzeichnis dieses Genies zu machen, da seine
Werke leuchtender als die Sonne sind." Bernoulli") hat recht:
„Ohne die Eusebianischen Krücken hinkt Hieronymus erbärm-
lich einher." Wenn man seine Arbeiten mit denen des Origenes
und Eusebius vergleicht, so stehen sie tief unter diesen. Bis-
weilen kam ihm auch diese Selbsterkenntnis, wenn er z. B.
an Fabiola mit Bezug auf Tertullian schrieb:'") „Ich bitte dich,
daß ihr nicht meinen Tropfen mit dem Strome jenes Mannes
vergleicht. Ich bin nicht nach dem Genie großer Männer,
sondern nach meinen Kräften zu beurteilen."
Der zweite selbständige Teil ist ein Beweis dafür, was
Hieronymus aus eigner Kraft zu leisten fähig war. Um zunächst
das Auffallendste hervorzuheben, so tritt uns der subjektivistische
Charakter seiner Arbeit hier aufs stärkste entgegen. Sychowski '')
hat darauf hingewiesen, wie seine Eitelkeit hier zum Ausdruck
kommt, und wie er sich selbst in den Mittelpunkt stellt. Daß
Evagrius ihm eine Abhandlung, die nicht einmal veröffentlicht
ist, Gregor von Nyssa seine Schrift gegen Eunomins,
Amphilochius von Ikonium seine Schrift über den heiligen Geist
vorgelesen haben, Sophronius seine Werke ins Griechische
') C. 53.
■'') C. 58.
3) C. 67.
*) C. 68.
^) C. 70.
«) C. 72.
') C. 74.
-) Hieronymus besaß die Schriften Novatians in seiner BibUothek,
ep. 10 ad Paulum senem.
9) Bernoulh", S. 72.
'") Ep. 64, 23, Vallarsi I, 370.
'^) von Sychowski, S. 25 ff.
138 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Übersetzt hat, dies vergißt er nicht anzumerken. Erhellt doch
daraus, daß der Mönch im Erdenwinkel zu Bethlehem mit
den hervorragendsten Gelehrten und Kirchenfürsten seiner
Zeit in innigster Beziehung stand. Wie kurz hat er dagegen
Epiphanius ') und Gregor von Nyssa") behandelt, v^ie unvoll-
ständig ist das Verzeichnis der Schriften Gregors von Nazianz,^)
dessen persönlicher Schüler er gewesen war und dessen
Werke er kannte. Es mußte eben bei allen seinen Arbeiten
möglichst schnell gehen, und was er nicht aus der Lektüre
im Gedächtnis behalten hatte oder etwa in seiner Bibliothek
besaß, blieb einfach fort. Wer konnte ihn denn der Nach-
lässigkeit zeihen; der Reiteroberst Dexter und seine Zeit-
genossen bewunderten ja doch seine scheinbar unermeßliche
Gelehrsamkeit. Daß eine späte Nachwelt schonungslos seine
Liederlichkeit an den Pranger stellen würde, konnte er nicht
ahnen. Wie boshaft er den Mailänder Bischof Ambrosius
behandelt hat, darauf haben wir bereits in anderem Zusammen-
hang hingewiesen.^) Aber auch seine Antipathie gegen den
edlen Johannes Chrysostomus ) blickt durch den ihm gewid-
meten Artikel hindurch: „Johannes, Priester der antiochenischen
Kirche, Parteigänger des Eusebius von Emesa und Diodor,
soll vieles schreiben, wovon ich nur das Buch über das
Priestertum gelesen habe." Es klingt so bescheiden, als ob er
sich nicht eine große Belesenheit der Werke des Chrysostomus
anmaßen wolle, aber der ganze Tenor des Artikels, der kein
Wort des Lobes enthält, das er sonst so verschwenderisch
auszustreuen pflegte, zeigt, daß Hochmut und Stolz gegen-
über dem damals schon viel bewunderten Manne dem Hierony-
mus die Feder geführt haben. Auch Basilius, den er nicht
') C. 114.
») C. 128.
^) C. 117. Ebrard, „Besitzen wir den vollständig^en Text von Hierony-
mus de viris ilhistribus?", Z. f. bist. Theol. Bd. 32, 403—411, 1862, hat diese
Unj^'leichheit damit zu erklären gesucht, daß wir nicht mehr den voll-
ständigen Text des Hieronymus besitzen. Diese Hypothese ist durch
von Sychowski, S. 37 ff., und Qebhardt, Ausgabe der griechischen Über-
setzung von de viris illustribus, S. XXIX, überzeugend widerlegt.
*) C. 124, s. oben S. 77.
*) C. 129.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 139
liebte,') wird mit keinem Wort des Lobes bedacht, während
kleineren Geistern dasselbe reichlich zuerkannt wird. Recht
oberflächlich ist auch der Artikel über den Papst Damasus')
gearbeitet, dem er doch persönlich so nahe gestanden hatte
und über dessen Schriften er gut orientiert war. Auch bei
Euzoius, dem Bischof von Cäsarea, macht er sich die Sache
leicht: „Viele und verschiedene Traktate werden von ihm über-
liefert, die sich zu verschaffen sehr leicht ist."^) Da sie sich
auf der Bibliothek in Cäsarea befanden, so war es für ihn
allerdings leicht, sie zu beschaffen; für uns ist aber alles ver-
loren und dadurch, daß er sich keine Mühe gegeben hat, die
Traktate zu nennen, können wir dem Euzoius auch nicht mehr
etwaige unter falschen Namen oder anonym überlieferte Traktate
zuerkennen. Mit keinem Worte werden von Hieronymus
Augustin und Rufin erwähnt. Ich glaube nicht, daß in diesen
beiden Fällen eine böse Absicht obwaltet. Von Augustin, der
damals noch im Anfang seiner Schriftstellerei stand, hatte er
vermutlich noch nichts in die Hände bekommen, da sich eine
Bekanntschaft mit seinen Schriften nicht vor dem Jahre 392
erweisen läßt. In der Übergebung Rufins, der ja damals in
seiner unmittelbaren Nähe im Ölbergkloster weilte, und mit
dem er im lebendigen Verkehr stand — gelegentlich erwähnte
er, daß er die in de viris illustribus genannte Apologie des
Pamphilus') zuerst in einem von Rufin entliehenen Kodex als
erstes Buch der Apologie des Origenes unter dem Namen des
Pamphilus gelesen habe") könnte man eher ein Zeichen
der beginnenden Verstimmung vermuten. Da aber das Zer-
würfnis mit seinem Freunde erst einige Jahre später eintrat,
so werden wir die Auslassung einfach damit zu erklären
haben, daß Rufin damals noch nicht als Schriftsteller hervor-
getreten war; denn die uns erhaltenen Produkte seiner Schrift-
stellerei, die sicher datierbar sind, sind sämtlich nach 392 ge-
schrieben.
1) s. Bd. 1, 195 die Notiz in der Chronik über den Hochmut des Basilius.
2) C. 103.
3) C. 113.
*) C. 75.
=) Adv. Rufin. lib. III, 23.
140 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Der Wert des zweiten Teils besteht vor allem in den
zahlreichen Notizen biographischer und literarischer Art, in
denen er wie z. B. fijr Arnobius/) luvencus,") für die Lebens-
schicksale des Lactanz,') für die Schriften des Athanasius*)
und des Acacius von Cäsarea,') für Aquilius Severus/) für
den Priscillianer Tiberianus/) für den Alexandriner Ambrosius")
und für den Bischof Gelasius von Cäsarea") die einzige Quelle
ist. Hieronymus schöpfte diese Kenntnis in der Regel aus den
Werken, die er gelesen hatte. Vielleicht hat er daneben auch
Bibliotheksverzeichnisse benutzt, wie man aus der nackten
Aufzählung von Schriften vermutet hat.' ) Werke, die er selbst
nicht gelesen oder auch nur gesehen hat, werden entweder gar
nicht oder ungenau oder unrichtig zitiert.") Mit den Worten
multa et alia deutet er an, daß ihm nichts weiter bekannt ist.")
Wie bei allen seinen Arbeiten zeigt sich auch hier, daß Hierony-
mus keine Ausdauer besaß. Gegen Ende werden die Artikel
immer kürzer und unbestimmter. Von dem Bischof Gelasius
von Cäsarea''^) berichtet er nur: „er soll einiges in scharfsinniger
und gefeilter Rede schreiben, aber nicht veröffentlichen", von dem
skythischen Bischof Theotimus:") „er veröffentlichte in Form
der Dialoge und der alten Redekunst kurze und in Abschnitten
abgefaßte Traktate. Ich höre, daß er auch anderes schreiben
soll." — Sich selbst hat er an den Schluß des Verzeichnisses
der berühmten Schriftsteller gestellt und seine schriftstellerischen
Arbeiten mit der größten Ausführlichkeit aufgezählt. Es ist
') C. 79.
*) C. 84.
») C. 80.
*) C. 87.
*) C. 98.
«) C. 111.
') C. 125.
") C. 126.
«•) C. 130.
") s. Huemer, S. 157, Anni. 45.
") z. B. Lncifer v. Calaris c. 95.
'■) s. c. 84; 87; 89; 93; 94; 102; 114; 119.
") C. 130.
'*) C. 131.
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem. 141
dies bezeichnend für seinen Charakter, daß er einem Ambrosius,
Basilius und Chrysostomus nur so kleinen Raum gegönnt hat
— ich möchte allerdings daran erinnern, daß auch ein Eusebius
von Cäsarea seinen großen Gegner Athanasius totgeschwiegen
hat " während er selbst als der fruchtbarste und bedeutendste
Schriftsteller, wie „ein Riese unter den Zwergen"') erscheint.
Später hat er diese naive Eitelkeit damit erklärt, daß er sich
an den Schluß des Werkes gleichsam als eine unreife Geburt
und den geringsten aller Christen gestellt habe.) Auch diese
demütig klingende Entschuldigung wird wieder durch die
Beziehung der Prädikate auf sich, die der Apostel Paulus von
sich gebraucht hat, zu einer arroganten Prätension.
Es verdient noch auf eine Seite des Schriftstellerkatalogs
hingewiesen zu werden, der die Forscher bisher selten ihre
Aufmerksamkeit geschenkt haben. Hieronymus hat uns in
seinem Werke eine Reihe wertvoller Angaben hinterlassen, die
sein Interesse an kirchlichen Baulichkeiten, vor allem aber an
den Reliquien verehrter Männer der christlichen Vergangenheit
zeigen. Wie stark der Reliquienkult in wenigen Jahrzehnten
innerhalb der Christenheit zugenommen hat, zeigt sich bei
einem Vergleich des Eusebius, der nur selten in seiner
Kirchengeschichte der Grabstätten heiliger Männer Erwähnung
tut, mit Hieronymus, der in seinem Buch über die hebräischen
Örtlichkeiten') und hier möglichst genaue Angaben macht:
Petrus ist auf dem Vatikan begraben neben dem Weg der
Triumphatoren,') das Grab Jakobus des Gerechten wollen
einige Christen') auf dem Ölberg finden, was aber nach der
Meinung des Hieronymus falsch ist. Die Reliquien des
Evangelisten Lukas befinden sich in Konstantinopel, wohin
sie im 20. Jahre des Constantius mit den Reliquien des
Apostels Andreas gebracht wurden.'^) Die Gebeine des
*) von Sychowski S. 25.
-) Ep. 47, 3 ad Desiderium.
■>) s. oben § 30.
') C. 1.
'") C. 2. Die Auffassung Bernoullis, daß mit den quidam e nostris
Occidentalen gemeint sind, ist zu eng.
«) C. 7.
142 Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Bischofs Ignatius sind in Antiochia auf dem Kirchhof außer-
halb des Daphnitischen Tores bestattet.') Das Grab des
Origenes'-) befindet sich in Tyrus, das des Märtyrers Lucian")
in Helenopolis in Bithynien, und der Konfessor der Orthodoxie,
der Bischof Eustathius von Antiochia, der von Kaiser
Constantius nach Traianopolis in Thrakien verbannt wurde,
ist an seinem Verbannungsort bis heute begraben/)
Was die Form des SchriftstelIeri<atalogs betrifft, so hebt
Bernoulli") mit Recht die Vernachlässigung der Sache zugunsten
einer glatten Form hervor. Der Sinn für geschichtliche Treue
sei ersetzt durch Eleganz und stilistischen Geschmack. Aber
trotz Nachahmung des Sueton in der Schlichtheit der Diktion)
zeigt Hieronymus eine recht affektierte schriftstellerische Ge-
pflogenheit, indem er vielfach griechische Worte beibehält.
Diese Unart hat bei Hieronymus, wie es scheint, mit den
Jahren noch zugenommen. Je länger er im Orient lebte, um
so mehr gewöhnte er sich an den Gebrauch der griechischen
Sprache. Und auch in den Predigten an seine Mönche ver-
mag er es nicht zu lassen, griechische und hebräische Worte
einzustreuen.
Endlich läßt sich noch auf Grund des handschriftlichen
Befundes, wie Gebhardt") nachgewiesen hat, mit großer Wahr-
scheinlichkeit der Schluß ziehen, daß Hieronymus von dem
bald viel begehrten Buche, ähnlich wie von seiner Chronik,
verschiedene Ausgaben veranstaltet hat. Gebhardt begründet
diese Annahme damit, daß sich in einer Handschriftengruppe
ein Zusatz zu dem 81. Kapitel findet, in dem Hieronymus
berichtet, daß von den 30 Büchern des Eusebius gegen
Porphyrius nur 20 auf ihn gekommen seien. Und in der-
selben Handschriftengruppc ebenso wie in der griechischen
') C. 16.
") C. 54.
^) C. 77.
*) C. 85.
^) Benionlli, S. 22Sff.
•'•) Bernoiilli, S. 232 ff.
~) Gebhardt, Die Ausgabe der griechischen Übersetzung de vir. illust.,
Texte u. Untersuchungen Bd. XIV, Heft 1, Leipzig 1896, S. XXI.
Die ersten Jalire im Kloster zu Bethlehem. 143
Übersetzung des Schriftstellerkatalogs hat auch das Schluß-
kapitel eine Erweiterung gefunden, indem unter den Werken
des Hieronymus noch drei seiner Arbeiten, die zwei Bücher
gegen Jovinian, seine Apologie an Pammachius, die er un-
mittelbar nach dem Schriftstellerkatalog verfaßte, und endlich
der Schriftstellerkatalog selbst') aufgeführt werden. Wenn
der Zusatz in Kapitel 81 nicht vorhanden wäre, so könnte
man wie Martianay und Vallarsi sich den Sachverhalt so
erklären, daß ein Abschreiber die drei Werke des Hieronymus
seinem Schriftstellerkatalog hinzugefügt hätte. Da aber der
Zusatz in Kapitel 81 sich in denselben Handschriften wie der
erweiterte Schluß findet, so werden wir beide Zusätze dem
Hieronymus selbst zuschreiben müssen, der sie bei einer neuen
Ausgabe seines Buches, die der ersten bald folgte, gemacht hat.
Während Augustin den Schriftstellerkatalog des Hierony-
mus zwar für ein nützliches Buch erklärte, aber keineswegs
kritiklos bewunderte'), pries ihn die Nachwelt mit überschwäng-
licher Begeisterung. ) Eine griechische Übersetzung, deren
Verfasser sicher nicht der Freund des Hieronymus, Sophronius,
ist, sondern deren wahrscheinliche Entstehung zwischen das
6. und Q.Jahrhundert fällt'), beweist die Hochschätzung seiner
Arbeit.') Aber auch die lange Reihe seiner Fortsetzer Oennadius,
') Bei Richardson de vir. illust. S. 43 fehlt jede Andeutung über diese
wichtige Variante. Der Schriftsteilerkatalog wird hier unter dem Titel
epitaphium aufgeführt, ein Titel, dessen Gebrauch Augustin ep. 47 ad
Hieronymum c. 2, Vallarsi 1, 402 und Hieronymus ep 112, 3, Vallarsi 1, 732
bezeugen. Eine andere Handschrift (Cod. Quiniacensis, jetzt in Paris
Bibl. nat. Nov. acq. lat. 1460 s. X) Gebhardt S. XXVI enthält inhaltlich
dieselben Zusätze zu c. 135, nur in anderer Ordnung und Form. Der
Schriftstellerkatalog wird als libcr dedicatus, d. h. dem Oberst Dexter
dediziertes Buch aufgeführt, dann folgen die zwei Bücher gegen Jovinian
und die Apologie an Pammachius.
-) ep. 47, 2 und 9, Vallarsi I, 403 und 406.
') s. von Sychowski, S. 12 ff.
*) Van den Ven, St. Jerome et la vie du moine Malchus, Louvain
1901, S. 126.
'"•) G. Wentzel, die griechische Übersetzung von de vir. illust. des
Hieronymus, Texte und Untersuch., Bd. 13, Heft 3, Leipzig 1895; Gebhardt,
die griechische Ausgabe von de vir. illust., Texte und Untersuch., Bd. 14,
Heft 1, Leipzig 1896; Weymann, Berl. philog. Wochenschrift 1897, S. 139.
144
Die ersten Jahre im Kloster zu Bethlehem.
Isidor von Sevilla, lldefonsus von Toledo, Honorius von Autun,
Sigbertus von Gembloux, Heinrich von Gent, der Anonymus
Mellicensis, Petrus Monachus, Diaconus Ostiensis und Johannes
Trithemius legen Zeugnis davon ab, daß er mit seinem Ver-
such der Begründung einer neuen Literaturgattung bahn-
brechend gewirkt hatte, und man sein Buch als klassisches
Meisterwerk einer christlichen Literaturgeschichte ansah. Gerade
die oberflächliche Art, in der Hieronymus die christliche
Literaturgeschichte in seinem Schriftstellerkatalog behandelt
hatte, mußte seinen Nachfolgern zusagen, die vor jeder schwieri-
geren literarischen Aufgabe, die geistige Kraft und Selbständig-
keit des Denkens erforderte, zurückgeschreckt wären.
Kapitel IX.
Von der Wiederanknüpfung
des Hieronymus mit Rom bis zum Beginn
des Origenistischen Streites.
§ 36.
Der Streit des Hieronymus mit Jovinian.
Lange Zeit, über sieben Jahre waren vergangen, ehe Hierony-
mus nach seinem eiligen Weggang seine Beziehungen zu Rom
wieder aufnahm. Wir besitzen aus den Jahren 385 bis 3Q2
nur einen Brief an Marcella, in dem Paula und Eustochium
sich die Feder von Hieronymus haben führen lassen, um ihre
gelehrte Freundin zur Übersiedlung nach Bethlehem einzuladen.
Die Zeit des Briefes steht zwar nicht sicher fest,') doch ist er
vermutlich in die ersten Jahre des bethlehemitischen Aufent-
haltes der Paula und des Hieronymus zu setzen. Mit be-
geistertem Pathos bitten Paula und Eustochium ihre Freundin,
die sie einst durch Wort und Beispiel zu asketischem Leben
aufgemuntert hatte, doch nach Bethlehem zu kommen. In der
üblichen Art ihrer Korrespondenz wird dann dieser Wunsch
biblisch begründet. Schon an Abraham erging Gen. 12, 1 der
Befehl: „Ziehe aus aus deinem Lande und aus deiner Ver-
wandtschaft und gehe in das Land, das ich dir zeigen werde."
Um das Interesse der Marcella an dem, was Jerusalem vor
aller Welt auszeichnet, wachzurufen, schreiben sie ihr: „Hier
hat Adam gewohnt und ist dort gestorben. Deshalb heißt der
•) Bd. I, 64; ep. 46, Vallarsi I, 197 ff.
Grützmacher, Hieronymus. II. 10
146 Wiederanknüpfung mit Rom.
Ort, WO Christus, unser Herr, gekreuzigt worden ist, die Schädel-
stätte, weil dort das Haupt des alten Adam begraben worden
ist, damit der zweite Adam oder das vom Kreuze Christi
träufelnde Blut die Sünde des ersten Adam, der sündigen Erst-
lingskreatur, abwasche, und sich der Ausspruch des Apostels
erfülle: Erwache, der du schläfst, und stehe auf von den Toten,
und Christus wird dich erleuchten.') Wenn man aber ein-
wende, daß Jerusalem, nachdem es mit dem Blute des Herrn
befleckt sei, aufgehört habe, eine heilige Stätte zu sein, so ist
darauf zu antworten, daß nicht die Stätte selbst, sondern die
Menschen die Sünde begangen hätten. Im Gegenteil, Jerusalem
ist im Verlaufe der Zeit heiliger denn zuvor geworden, ist
es doch die Stätte des Grabes des Herrn, und Paula und
Eustochium bezeugen der Marcella, daß, so oft sie dieselben
betreten, sie in visionärer Verzückung den Heiland im reinen
Linnentuche schauen und bei längerem Verweilen den Engel
zu seinen Füßen sitzend und das Schweißtuch bei seinem
Haupt zusammengewickelt sehen. Auch Wunder geschehen
dort, die Dämonen verlassen die Leiber der Besessenen am
heiligen Grabe. Nicht dürfe man die Worte der Offenbarung
Johannis U, 8 über die große Stadt, die geistlich heißt Sodom
und Ägypten, auf Jerusalem, sondern man müsse sie auf die Welt
beziehen, in panegyrischem Tone schildern die beiden Nonnen
ihrer römischen Freundin Jerusalem als die Wallfahrtsstätte der
ganzen Christenheit. Pilger aus Gallien, Britannien, Armenien,
Persicn, Indien, Äthiopien, Ägypten, Pontus, Kölesyrien, Meso-
potamien, durch die Sprache geschieden, aber eins im Be-
kenntnis zu Christus, eilen nach Jerusalem. Aber diese groß-
artige Ökumenicität der christlichen Kirche, die man in Jerusalem
empfindet, legt dem Einzelnen keinen Zwang in der Lebens-
gestaltung auf. Paula und Eustochium wissen, daß Marcella
einer übertriebenen Askese abhold war,') und so schreiben
sie ihr, um sie nicht abzuschrecken: „Das Fasten verschafft
hier keinem eine Auszeichnung, und dem, der sich Abbruch
an Speise antut, bezeugt man darob keine besondere Ver-
') Ep. 46, 3. Im Epheserkommentar zu Eph. 5, 14, hatte er diese
Deutung, als dem Kontexte nicht entsprechend, verworfen, s. § 29.
«) s. Bd. I, 230.
Wiederanknüpfung mit Rom. 147
ehrung; die mäßige Ersättigung steht jedem frei.'") Und wie
selig ist es nicht für den frommen Christen, in Bethlehem zu
weilen, wo in der engen Felsenhöhle der Schöpfer des Himmels
geboren wurde. Hier ist er in Windeln gewickelt, von den
Hirten besucht, vom Sterne verkündigt, von den Magiern an-
gebetet worden. Diese Stätte ist wahrlich heiliger als der
Tarpejische Felsen, den deshalb so oft die Blitze trafen, weil er
dem Herrn mißfiel. Welcher Kontrast zwischen der ruhelosen
Weltstadt Rom und der idyllischen Ruhe des stillen Bethlehem.
„Hier ist alles ländlich, nur Psalmengesang unterbricht die
beständige Stille. Wohin du dich wendest, da singt der Land-
mann am Pfluge sein Halleluja, der schweißtriefende Schnitter
erfreut sich mit Psalmengesang, und der Winzer, wenn er mit
der Hippe den Weinstock beschneidet, singt ein Loblied Davids.
Dies sind die Gesänge, dies die Liebeslieder, die man hier zu
Lande zu hören bekommt, dies der Flötenton der Hirten und
die Geräte des Landmanns." Kann es für Marcella noch eine
Wahl geben? Mit dem sehnsüchtigen Wunsch, daß sie bald
komme, um unter ihrer Führung die heiligen Stätten zu be-
suchen, schließt der Brief: „O, wann wird die Zeit kommen,
wo ein atemloser Bote uns die Nachricht bringt, unsere Mar-
cella sei am Gestade von Palästina gelandet, und wo alle Chöre
der Mönche und Scharen der Jungfrauen in ein Freudengeschrei
darüber ausbrechen." Es war die Zeit der ersten Liebe zu
den heiligen Stätten, in der dieser Brief geschrieben wurde.
Noch erschien Paula, Eustochium und Hieronymus das Heilige
Land als Paradies und Rom als Babel, aus dem man geflohen
war; aber auf die Dauer blieb es nicht so. Es ist nur zu
natürlich, daß ein so ehrgeiziger Charakter wie Hieronymus
sich mit der Abgeschiedenheit nicht für immer zufrieden geben
konnte. Hatte ^er es doch als Eremit in der Wüste Chalcis
auch nicht lange ausgehalten. Er wollte bewundert sein und
eine Rolle spielen.
Da bot sich ihm die Möglichkeit, mit Rom wieder anzu-
knüpfen. Er brauchte nicht einmal den ersten Schritt zu tun.
Pammachius, der Schwiegersohn der Pau'a, bat ihn, in Sachen
') Ep. 46, 10, Vallarsi I, 205.
10'
148 Wiederanknüpfung mit Rom.
des Ketzers Jovinian eine Gegenschrift zu schreiben.') Begierig-
ergriff er die Gelegenheit, zumal da es galt, einem bereits von
den Bischöfen Siricius und Ambrosius verurteilten Ketzer
literarisch den Todesstoß zu versetzen. Der um seine Ortho-
doxie so besorgte Hieronymus hatte nichts zu riskieren,
die Akten über den Ketzer waren bereits geschlossen. Jovinian
war jedenfalls erst nach 385, nach dem Weggang des Hiero-
nymus in Rom, als Gegner der Überschätzung des ehelosen
und asketischen Lebens aufgetreten, da ihn Hieronymus nicht
persönlich kannte. Während Jovinian früher als strenger Asket
in schlechtester Kleidung, in zottiger Tunika, schwarzem Hemd
und barfuß umhergegangen war und sich nur von Brot und
Wasser genährt hatte, milderte er später sein asketisches
Leben — dies dürfen wir den bösartigen Übertreibungen des
Hieronymus, der ihn als Stutzer und Wollüstling, als christ-
lichen Epikur und Prediger sinnlicher Lust schildert, glauben —
er erlaubte sich den Genuß von Fleischspeisen, besuchte die
Bäder und schloß sich vor allem nicht vom Verkehr mit Jüng-
lingen und Frauen ab.') Dabei blieb er aber nach wie vor
ehelos, weil er diese Lebensform für sich als christlich geboten
erachtete. Er scheint ganz nach der Weise der vormönchischen
Asketen gelebt zu haben, nur daß er später weniger rigoros
verfuhr. Wir dürfen ihn als Vertreter des alten Asketenstandes
betrachten, der gegen die neuen und verschärften asketischen
Formen des orientalischen Mönchtums einen verzweifelten
Kampf kämpfte. Dabei gelangte er zu prinzipiellen Aufstellungen,
die mit den seit lange in der Kirche eingebürgerten An-
schauungen in schroffem Widerspruch standen. Im heißen
Kampfe mit seinen Gegnern war er zu einer, wenn auch
nicht in jeder Beziehung klaren — wir sind allerdings für
seine Anschauungen lediglich auf die Darstellungen seiner
Gegner angewiesen — so doch im bewußten Gegensatz zu
der Überspannung der asketischen Ideale stehenden Position
gelangt. Daß wir es mit einem durchaus achtbaren, nicht
aus niedrigen Motiven handelnden Manne zu tun haben,
') Contra Jovin. lib. I, c. 1.
") Contra Jovin. lib. II, c. 21.
Wiederanknüpfung mit Rom. 149
dürfen wir daraus schließen, daß Augustin, Ambrosius und
Siricius ihm nichts Ehrenrühriges vorzuwerfen wagen, und
ihn nur Hieronymus — wo hätte er je einem Gegner gegen-
über anders gehandelt — mit Schmutz bewirft. Jovinian muß mit
seiner Agitation gegen das Mönchtum auch große Erfolge in
Rom gehabt haben. Männer und Frauen gaben das ehelose
Leben auf, nur unter den Priestern fand er keinen Anhang. ')
Das Abendland, und vor allem Rom, in dem erst wenige Jahre
vor Jovinian Helvidius") als Gegner des Mönchtums aufgetreten
war, war trotz aller Bearbeitung durch Damasus, Hieronymus
und Ambrosius den asketischen Idealen noch nicht in gleicher
Weise wie der Orient zugänglich gemacht. Daß sich Jovinian
auch leichtfertige Naturen anschlössen, die in ihm einen Vertreter
laxer christlicher Sittlichkeit sahen, ist dem Hieronymus wohl
zu glauben. Wo hätten sich nicht in der Geschichte der Kirche
an eine Persönlichkeit, die den Kampf gegen überspannten
asketischen Rigorismus aufgenommen hatte, auch allerlei frag-
würdige Individuen angeschlossen.
Der römische Bischof Siricius, der ja kein großer Freund
der Mönchspartei gewesen zu sein scheint, hatte sich auf die
Denunziation der mönchischen Kreise Roms hin genötigt ge-
sehen, Jovinian und acht seiner Anhänger auf einer römischen
Synode im Jahre 390 namentlich zu exkommunizieren und den
auswärtigen Bischöfen, insbesondere Ambrosius von Mailand
davon Mitteilung zu machen.^) Bei dieser Verurteilung hatte
vor allem der einflußreiche Senator Pammachius mitgewirkt.')
Da Jovinian sich mit seinen treuesten Anhängern nach Mailand
begeben hatte, so beeilte sich Ambrosius 3Q1, eine Synode in
Mailand zu halten, die gleichfalls Jovinian in den Bann tat.
Erst 392 oder 393 schrieb nun Hieronymus nach der doppelten
Verurteilung des Ketzers auf Veranlassung seiner römischen
Freunde, die ihm die Commentarioli Jovinians nach Bethlehem
geschickt hatten, seine zwei Bücher gegen Jovinian.')
') Augustin de haeresibus c. 82, ed. Maur. VIII, 24 ff.
2) s. Bd. I, 269.
^) Siricii ep. 2 ad diversos episcopos, Mansi MI, 663 ff.
4 Ep. 48, 2.
^) Mir scheinen diese Commentarioli Jovinians mit der von Siricius
150 Wiederanknüpfung mit Rom.
Es war für Hieronymus eine lockende Aufgabe, die ihm
hier gestellt wurde. Es erfüllte ihn mit freudiger Genugtuung,
daß seine römischen Freunde seiner doch wieder gedacht
hatten, und daß er ihnen unentbehrlich zu sein anfing. Er
schrieb an Pammachius: „Bisweilen fordert es die christliche
Bescheidenheit, auch gegen FreundeStillschweigen zu beobachten
und sich mehr durch Stillschweigen zu trösten, als durch
Wiedererneuerung der alten Freundschaft das Verbrechen
der Aufdringlichkeit auf sich zu laden. Solange du ge-
schwiegen, habe ich auch geschwiegen und hatte mir vor-
genommen, auch nicht eine Anfrage über diese Angelegenheit
zu stellen, damit es nicht scheine, als ob ich nicht einen
Freund frage, sondern nach einem mächtigen Beschützer aus-
gehe. Nun aufgefordert durch deine Verbindlichkeit, welche
dein Brief mir auferlegt, will ich stets mich bestreben, der
Erste zu sein und nicht sowohl dir eine Rückantwort schreiben,
als vielmehr den ersten Brief, damit du erkennst, daß ich aus
einer gewissen Zurückhaltung geschwiegen und noch be-
scheidener zu reden angefangen habe." ') Dann aber war
Hieronymus der Kampf gegen Jovinian Herzenssache. Wie
gegen Helvidius und später gegen Vigilantius ist er auf dem
Plan, wenn das Evangelium der Virginität, sein Evangelium,
bedroht war.
Seine Bücher gegen Jovinian sind stilistisch wie inhalt-
lich mit Sorgfalt geschrieben. Wollte er doch gegenüber dem
schwerfälligen und schwülstigen Stil des Jovinian seine Über-
legenheit schon äußerlich beweisen. Inhaltlich zeigen sie zwar
kein tieferes Eingehen auf die Lehranschauungen seines Gegners
— dazu war der Polemiker Hieronymus einfach unfähig, dessen
Hauptkunst darin bestand, seine Gegner samt und sonders
als niederträchtige Lumpen erscheinen zu lassen aber mit
großer Ausführlichkeit und mit dem ihm eigenen kasuistischen
Scharfsinn hat er alle Argumente für die Verherrlichung des
Mönchsideals zusammengetragen. Er hatte sich die größte
erwähnten conscriptio tenieraria identisch zu sein entgegen der Ansicht,
die Haller, Jovinianus, die Fragmente seiner Schriften, die Quellen seiner
Geschichte, sein Leben und Lehre, Leipzig 1897, S. 118, vertreten hat.
') Ep. 49, 1.
Wiederanknüpfung mit Rom. 151
Mühe gegeben, seine Sache so gut wie möglich zu machen,
um seine römischen Freunde zufrieden zu stellen, und nun
hatte er im Übereifer — es wirkt fast komisch — die Sache
zu gut gemacht, so daß Pammachius die Exemplare seiner
Schrift gegen Jovinian in Rom aufkaufte und einziehen ließ/)
und ein anderer römischer Freund Domnio ihm ein Verzeichnis
der anstößigen Stellen seines Buches zur Verbesserung resp.
zur Erklärung zusandte.-)
Es ist schwer, sich ein sicheres Urteil über die religiöse
und theologische Stellung Jovinians zu bilden, da wir nur
auf die Schriften seiner Gegner angewiesen sind. Hieronymus,
Siricius und Ambrosius haben uns zwar einige seiner in Thesen-
form formulierten Gedanken wörtlich überliefert, aber für den
inneren Zusammenhang sind wir auf hypothetische Konstruk-
tionen gewiesen. ') Soviel erscheint mir zunächst sicher, daß
alle Sätze Jovinians in dem Widerspruch gegen das Mönch-
tum orientiert sind. Hieronymus beschäftigt sich in seiner
Gegenschrift mit vier Sätzen Jovinians, die er aus seinen Büchern
ausgezogen hat und zu widerlegen versucht. Über eine fünfte
Ketzerei, deren ihn Ambrosius und Augustin beschuldigen,')
hat Hieronymus sich nicht ausgelassen. Es handelt sich hierbei
um die Bekämpfung der ewigen Jungfrauschaft der Maria
durch Jovinian, worin er bereits an Helvidius einen Vorgänger
gehabt hatte. Hieronymus scheint von dieser Heterodoxie
Jovinians nichts gewußt zu haben, sonst hätte er sie sicher
nicht übergangen. Entweder hatte sich Jovinian darüber nur
mündlich geäußert, oder erst seine Schüler hatten diese Kon-
') Ep. 49, 2.
2) Ep. 50, 3.
^) Bei der fragmentarischen Überlieferuug über die Anschauungen
Jovinians erscheinen mir die Urteile protestantischer Gelehrter von Flacius,
Centuriae Magdeburgenses; IV, 5 S. 381, bis auf A. Harnack, Die Lehre von
der Sehgkeit allein durch den Glauben, Z. f. Theo), u. Kirche II, 138 — 154,
1891, und W. Haller, Jovinianus 1897, die in ihm einen Protestanten
seiner Zeit, den tiefsten, originellsten, durch Entschiedenheit ausgezeich-
neten Wahrheitszeugen des Altertums sehen, in diesem Umfange über-
trieben, mindestens nicht mit Sicherheit zu begründen.
*) Ambrosius ep. 8 ad Siricium; Augustin Hb. de haeresibus c. 82.
ed. Maur. VIII, 24 ff.
152 Wiederanknüpfung mit Rom.
Sequenz aus den Gedanken ihres Meisters gezogen, womit
sich dann das Schweigen des Hieronymus erl<iären würde.
Das erste Buch des Hieronymus gegen Jovinian ist dem
ersten und grundlegenden Satz Jovinians gewidmet, daß Jung-
frauen, Witwen und Verheiratete, die auf Christus getauft sind,
dasselbe Verdienst haben, wofern sie nicht sonst in ihren Weri<en
verschieden sind. Jovinian hatte diesen Satz biblisch begründet.
Er hatte für die Oleichwertigkeit des ehelichen und jungfräu-
lichen Standes auf die göttliche Einsetzung der Ehe in Gen. 2, 24
und auf ihre Bestätigung durch Jesus Matth. 19, 5 hin-
gewiesen. Er hatte sich für die Gottgefälligkeit der Ehe auf
die Gottesmänner des alten und des neuen Bundes berufen,
die in der Ehe gelebt hatten, vor allem auf die Apostel Petrus
und Philippus.') Auch der Apostel Paulus empfehle im ersten
Timotheusbriefe ausdrücklich die Ehe. Jovinian hatte daraus
die Folgerung gezogen, daß auch eine zweite und dritte Ehe
zu Recht bestehe und die bußfertigen Hurer wieder in die
Kirche aufgenommen werden müßten. Er hatte sich aber
wohl gehütet, den Zölibat des Klerus anzugreifen, der schon
zu tief eingewurzelt war und den gerade damals Papst Siricius
ausdrücklich dem höheren Klerus, Bischöfen, Priestern und
Diakonen, zur Pflicht gemacht hatte.')
Hieronymus spielte nun gegen Jovinian als die klassische
Stelle für die Höherschätzung der Virginität gegenüber der
Ehe 1. Kor. 7 aus. Hier hat der Lehrer der Völker und der
Kirche den Korinthern, die über diese Streitfrage bei ihm
Erkundigung einzogen, vollständig und unmißverständlich
geantwortet.') Hieronymus gibt einen kleinen Kommentar zu
dem siebenten Kapitel des Korintherbriefs und zieht aus den
Worten des Apostels durch geschicktes Pressen der einzelnen
Ausdrücke die weitgehendsten Konsequenzen. Der Apostel
sagt: Es ist dem Menschen gut, kein Weib anzurühren. Wenn
es gut ist kein Weib zu berühren, so ist es also böse eins
') Es liegt hier die uns vielfach begegnende, schon bei Polykrates
von Ephesus nachweisbare Verwechselung resp. Identifizierung des
Siebenmann Philippus mit dem Apostel Philippus vor.
*) Contra Jov. 1. I, 34.
') Contra Jov. 1. I, 6.
Wiederanknüpfung mit Rom. 153
ZU berühren; denn dem Guten steht als konträrer Gegensatz
das Böse gegenüber. Und er folgert dann weiter: Wenn der
Apostel Petrus, der die ehelichen Fesseln aus Erfahrung kannte,
für das Gebet die Enthaltung vom ehelichen Umgange forderte')
und an einer anderen Stelle, 1. Petr. 3, 2, die Christen auf-
fordert, allezeit zu beten, so ergibt sich mit zwingender Not-
wendigkeit, daß die Ehe der Christen zur Scheinehe werden
muß. „Wenn wir uns vom Beischlaf enthalten, so halten wir
die Weiber in Ehren. Wenn wir uns davon nicht enthalten,
so tun wir offenbar ihnen an Stelle der Ehrenerweisung das
Gegenteil, die Beschimpfung, an." Die Ehe ist nur gestattet,
aber die Ehelosigkeit ist in jedem Falle vorzuziehen. Eine
weitere Limitation für die Ehe besteht aber darin, daß die Ehe
mit einem Heiden, wie sie die Christinnen jetzt vielfach
schließen — er dachte hier gewiß vor allem an die Ehen im
römischen Hochadel — nach dem Apostel Paulus streng
verboten ist.') Der Vorzug der Jungfrauschaft vor der
Ehe ist aber darin zu finden, daß sie die Möglichkeit
gibt, sich Gott inniger hinzugeben. Sein Resultat ist also:
Zwischen der Ehe und der Jungfrauschaft besteht ein so
großer Unterschied wie zwischen Nichtsündigen und Gutestun
oder, um es eleganter auszudrücken, zwischen dem Guten
und Besseren. ')
Er wendet sich dann der Frage nach der Zulässigkeit
der zweiten und dritten Ehe, der successiven Polygamie, zu.
hnmer leidenschaftlicher läuft er gegen die Ehe Sturm, immer
stärker verkehren sich seine sittlichen Begriffe. Zuerst hat
Lamech, der Blutmensch und Menschenmörder, das eine Fleisch
mit zwei Frauen geteilt. Den Brudermord Kains und die
Doppelehe Lamechs hat dasselbe Strafgericht der Sündflut von
der Erde vertilgt. Auf die erste Tat folgte eine siebenfache,
auf die zweite eine siebenmal siebenfache Rache. Aber er
wagt es doch nicht, die Konsequenzen aus seiner Beurteilung
der Ehe zu ziehen. Die Kirche erlaubte nun einmal die zweite,
dritte, ja achte Ehe und gestattete dem Hurer nach der Buße
') 1. Petr. 3, 7.
-) Contra Jov. 1. I, 10.
3) Contra Jov. 1. I, 13.
154 Wiederanknüpfung mit Rom.
seine Wiederaufnahme; und so wagt Hieronymus als unter-
würfiger Sohn seiner Kirche nicht daran zu rütteln.')
Dann geht Hieronymus die lange Reihe der geschichtlichen
Beispiele durch, die Jovinian für die Gottwohlgefälligkeit der
Ehe aus dem Alten und dem Neuen Testament herbeigezogen
hatte. Eine wie unsichere Lehrautorität die allegorisch aus-
gelegte Schrift war, kommt uns hier zum stärksten Bewußtsein.
Bei einigem Geschick konnte der eine Exeget alle Vertreter,
die der andere für die Ehe hatte aufmarschieren lassen, auf die
gegnerische Seite abkommandieren. Und so argumentiert denn
Hieronymus: Adam und Eva waren vor dem Sündenfall im
Paradies Jungfrauen, erst nach dem Sündenfall außerhalb des
Paradieses haben sie sich verehelicht und Kinder gezeugt.
Besonders stolz ist Hieronymus auf die Entdeckung, daß im
hebräischen Texte beim zweiten Schöpfungstag der Satz fehlt:
„Und Gott sah, daß es gut war." Dadurch sei angedeutet,
daß die Zahl zwei nicht gut sei, weil sie sich von der Einheit
trennte und die Ehebündnisse vorbildete. Er überlegt gar
nicht, welche Blasphemie er gegen das Schöpfungswerk Gottes
damit ausspricht. In einem anderen Falle verwendet er, um
Jovinian zu widerlegen, das beliebte argumentum e silentio:
Moses hat eine Frau und Kinder gehabt, und deshalb durfte
er nicht das gelobte Land schauen, während der jungfräuliche
Josua es in Besitz nahm. Triumphierend verkündet er: Wenn
du mir zeigen kannst, daß Josua, der Sohn Naves, Frau und
Kinder gehabt hat, so will ich mich für überwunden erklären.')
Mit solchen Kniffen und Künsten nimmt seine Widerlegung
Jovinians durch das ganze Alte Testament ihren Fortgang.
Nur wenn ihm nichts einfällt, macht er gelegentlich eine
Konzession: „Wenn aber Samuel, der in der Stiftshütte erzogen
war, ein Weib nahm, was tut denn dies der Jungfrauschaft
für Eintrag? Als ob nicht auch heute noch sehr viele Priester
Ehen geschlossen haben, und nicht der Apostel den Bischof
als eines Weibes Mann schildere, der seine Kinder in aller
Keuschheit erziehe." ^)
') Contra Jov. 1. I, 14.
») Contra Jov. 1. I, 22.
") Contra Jov. I. I, 24.
Wiederankniipfimg mit Rom. 155
Besondere Mühe gab sich Hieronymus, die unbequeme
Tatsache der Ehe des Apostelfürsten Petrus, die Jovinian für
seine These von der Gleichwertigi<eit der Ehe mit der Jung-
frauschaft naturgemäß scharf akzentuiert hatte, unschädlich zu
machen. Mit allem Scharfsinn versuchte er dieses lästige
Argument seines Gegners zu entkräften. Einmal hat Petrus
geheiratet,, bevor er das Evangelium kannte und zum Apostel
berufen u'orden war, und dann hat er als Apostel seine eheliche
Pflicht nicht mehr ausgeübt. Und wenn Jovinian behauptet,
daß alle Apostel Frauen gehabt hätten nach 1. Kor. 9, 4 und 5:
„Haben wir nicht das Recht Weiber mit uns zu führen, wie
die übrigen Apostel und Kephas und die Brüder des Herrn",
so deutet Hieronymus die Stelle so, daß unter ywi) auch an
die heiligen Weiber gedacht werden könne, die nach jüdischer
Sitte aus ihrem Vermögen den Aposteln dienten, wie auch dem
Herrn Jesus. Und schließlich macht er reinen Tisch, indem
er kühn behauptet, daß Petrus, nachdem er gläubig geworden
sei, wohl noch eine Schwiegermutter, aber kein Weib mehr
gehabt habe, obwohl in den Periodi Petri von einem Weib und
sogar von einer Tochter, die ihn auf seinen Reisen begleiteten,
die Rede sei. ') Johannes, der ewig Jungfräuliche, ist auch
vom Herrn mehr geliebt worden als Petrus, der verheiratet
gewesen war, und während die Jungfrauschaft nicht stirbt,
mußte der Makel, den Petrus durch seine Ehe auf sich geladen
hatte, durch das Blut des Martyriums abgewaschen werden.
Ein starker Satz, den später Rufin -) aufgriff, und der selbst einem
so asketisch gestimmten Zeitalter als eine tiefe Herabwürdigung
der Ehe und des Ansehens des Apostels Petrus erschien.
Noch einmal wendet sich Hieronymus dann zum Alten
Testament zurück und setzt sich ausführlich und breit mit
Jovinian Punkt für Punkt auseinander. Hatte der Anwalt der
Ehe auf Salomo exemplifiziert, der mehrfach verheiratet ge-
wesen war und doch der Ehre gewürdigt ward, den Tempel
Gottes aufzubauen, so stellte Hieronymus alle aus den angeblich
^) s. über die von Hieronymus hier benutzten Petrusakten, H. Waitz,
Die Pseudoklementinen, Texte und Untersuchung. N. F. Band X, Heft 4,
Leipzig 1904, S. 47, 192 u. 254 ff.
'^) Contra Hieronymum 1. II, 39.
156 Wiederanknüpfung mit Rom.
salomonischen Schriften, Sprüche und Prediger, gegen die Ehe
gerichteten Äußerungen zusammen. Hatte der Ketzer dem
Hohenlied ein Zeugnis für die Ehe entnehmen zu können
geglaubt, so liest Hieronymus mittels der allegorischen Exegese
aus ihm die geheiligten Geheimnisse der Jungfrauschaft heraus.')
Im Jesaja gibt er zwar zu, daß die Juden recht haben, die
das hebräische Wort ni^'?j; nicht mit Jungfrau, sondern mit
erwachsenes Mädchen übersetzen, aber schließlich erklärt er
doch die Stelle im Sinne der Kirche, da mit r\t2^V sonst
nirgends eine Verheiratete bezeichnet werde. Wenn sich aber
Jovinian für die Gleichstellung der Ehe mit der Jungfrauschaft
darauf berief, daß die Kirche zu der Ehrenstellung der Priester
auch Verheiratete zulasse, so entschuldigte Hieronymus dies
mit dem Notstand, in dem sich die Kirche, die sich anfangs
aus Heiden ergänzte, befand: Der Apostel Paulus mußte ihr
anfänglich leichtere Vorschriften geben, die sie zu tragen
vermochte. Auf den so naheliegenden Einwurf Jovinians aber,
daß, wenn alle Jungfrauen bleiben, das Menschengeschlecht
doch einfach aufhören müsse zu bestehen, und daß Gott doch
die Geschlechter zur natürlichen geschlechtlichen Vereinigung
nicht geschaffen hätte, wenn er sie nicht gewollt hätte, weiß
Hieronymus nichts Stichhaltiges zu erwidern. Statt dessen
wird er geradezu zynisch: „Wenn es die Aufgabe der
Geschlechtswerkzeuge ist, stets ihre natürlichen Bestimmungen
zu erfüllen, dann mögen, wenn ich müde geworden bin, die
Kräfte eines andern statt meiner eintreten, und es mag, um mich
so auszudrücken, die Lustbefriedigung mit dem ersten Besten
meiner eigenen Gattin heftigen Lusthunger stillen.'"') Nachdem
er auch die Worte des zweiten Petrusbriefes: „Es werden
Spötter kommen, die nach ihren eigenen Lüsten wandeln",'')
auf Jovinian und seine Anhänger bezogen hat, wendet er sich
der heidnischen Religions- und Sittengeschichte zu. Auch bei
den Heiden hat die Virginität stets als der höchste Gipfel der
Keuschheit gegolten.*) Die heidnischen Prophetinnen, die
') Contr. Jov. 1. I, 28-31.
*) Contr. Jov. 1. I, 36.
=•) 2. Petr. 3, 3.
*) Über seine Quellen für die Profangeschichte, Contr. Jov. 1. i,
Wiederanknüpfung mit Rom 157
Sibyllen, die Priesterinnen der taurischen Diana und der Vesta
waren Jungfrauen, und zahlreich sind die Beispiele aus der
griechischen und römischen Geschichte, nach denen heidnische
Jungfrauen zur Wahrung' ihrer Keuschheit sich selbst den
Tod gegeben haben/) Die Aufzählung der Beispiele macht
ganz den Eindruck eines Schulaufsatzes, wie ihn Hieronymus
in den Rhetorenschulen einst gelernt hatte. Da sein Gegner
nicht rhetorisch gebildet gewesen zu sein scheint, so glaubte
er ihm damit um so mehr zu imponieren. Interessant ist es
aber, daß Hieronymus in diesem Zusammenhang auf die
religions-geschichtlichen Parallelen der Jungfrauengeburt des
Erlösers aufmerksam macht. Er weiß, daß nach der Über-
lieferung der Stifter des Buddhismus, Buddha, aus derSeite einer
Jungfrau geboren sein soll, Plato als Sohn des Apollo und der
Jungfrau Periktio und Romulus als Sohn des Mars und der Jung-
frau llia galten.') Wie könne man also den Christen die Geburt
unseres Herrn und Erlösers von einer Jungfrau vorwerfen?
Dann folgt aus der Weltgeschichte noch eine lange
Reihe von Schulbeispielen heidnischer Ehefrauen, die lieber in
den Tod gingen, als daß sie ihre Männer überlebten und eine
zweite Ehe schlössen. Den Schluß bilden zahlreiche Zeug-
nisse heidnischer Philosophen, Aristoteles, Plutarch, Cicero,
Seneca und Sextus. Besonders charakteristisch ist das Zeugnis,
das Hieronymus aus dem sonst vollständig verloren ge-
c 41—49, spricht er sich Contr. Jov. I. I, 49, Vallarsi II, 318, aus: Scrip-
serunt Aristoteles et Plutarchus et noster Seneca de matrimonio libros,
ex quibus et superiora nonnulla sunt et ista, quae subjicimus. Bock,
Aristoteles, Plutarchus, Seneca de matrimonio Leipz. Stud. 19, 1899, S. 6,
hat angenommen, daß Hieronymus Tertullians verlorene Schrift über ad
amicum philosophum de nuptiarum angustiis, von der er ep. 22, 22 und
vielleicht Cont. Jov. I. I, 13 spricht, benutzt habe. Tertullian aber habe
Senecas Buch de matrimonio, und dieser wieder Aristoteles und Theophrast
benutzt. Dagegen hat Frachter, Hierocles der Stoiker, Leipzig 1901, S. 122,
mit Recht die Benutzung Senecas, der auf Aristoteles und Plutarch zurück-
geht, durch Hieronymus für wahrscheinlich gehalten. Aus Seneca wird
wohl auch das Zitat aus dem Aureolus das Theophrast, Contr. Jov. 1. I, 47,
Vallarsi II, 313, stammen.
') Contr. Jov. 1. I, 41.
2) Contr. Jov. 1. I, 42.
158 Wiederankniipfiing mit Rom.
gangenen Buch des Theophrast, Aureolus, über die Ehe an-
führt, in dem das tiefste Mißtrauen gegen das Weib und
die entsetzliche Herabwürdigung der Ehe zu einem geradezu
leidenschaftlichen Ausdruck kommt. Es ist merkwürdig, wie
der Schüler des Aristoteles und der christliche Mönch in ihrer
Beurteilung der Ehe zusammentreffen.
Im zweiten Buch handelt Hieronymus zunächst von einem
zweiten Satz Jovinians, mit dem sich sowohl Augustin wie
Julian von Eclanum beschäftigt haben, und den Ambrosius als
die Lehre der Schüler Jovinians, des Sarmatio und Barbatian,
bekämpft hat.') Jovinian hatte die prinzipielle Sündlosigkeit
der Wiedergeborenen behauptet: Die, welche mit vollem Glauben
in der Taufe wiedergeboren sind, können vom Teufel nicht
zu Fall gebracht werden. Ein in der Taufe Wiedergeborener
kann nicht sündigen, wie Johannes 1. Joh. 3, Q sagt: „Jeder,
der aus Gott geboren ist, sündigt nicht." Wenn also ein ge-
taufter Christ fällt, so ist dies ein Beweis, daß er kein wahr-
haft Wiedergeborener war. Er hat nur die Wassertaufe wie
Simon Magus in der Apostelgeschichte, nicht die Geistestaufe
erhalten. Wenn wir auch nicht die nähere theologische Be-
gründung und Ausführung dieser seiner These kennen, und
wenn ihn Hieronymus daraufhin später zum Geistesverwandten
des Pelagius, und umgekehrt Julian von Eclanum zum Ge-
sinnungsgenossen Augustins, und Augustin wieder zum
Pelagianer gemacht hat, so möchte ich auch diesen viel deut-
baren Satz von dem Ausgangspunkt seiner theologischen Spe-
kulation, der Gleichstellung der Ehe mit der Virginität, zu be-
greifen versuchen. Er diente ihm vermutlich zur Begründung
seiner These, daß Jungfrauen, Witwen und Verheiratete, die
auf Christus getauft sind, dasselbe Verdienst haben, wofern
sie nicht sonst in ihren Werken verschieden sind; denn jeder
Christ, so folgerte er, der mit vollem Glauben getauft ist, wird
durch die Taufe wiedergeboren, und er bleibt durch die
mystische Einwohnung Gottes und Christi — er knüpfte hier
an Johanneische Gedankenreihen an — im Gnadenstand. Der
') Augustin, opus imperfectum contra Julianum 1. I, 96ff. ; Ambrosius,
ep. 83 ad Vercellenses, ed. Ballerini V, 554 ff.
Wiederanknüpfung mit Rom. 159
Teufel vermag ihn nicht zum Abfall zu verleiten. Ob er als
Eheloser oder in der Ehe lebt, ist gleichgiltig, da kein be-
sonderer Stand, sondern die Taufe und die Einwohnung
Gottes und Christi uns unsere Seligkeit verbürgen. Wie weit
Jovinian enthusiastische Folgerungen über die tatsächliche
Sündlosigkeit der Christen gezogen hat, läßt sich nicht mehr
feststellen.
Hieronymus ist solchen Gedankengängen gegenüber ge-
radezu hilflos. Die Art seiner Widerlegung wird ganz äußerlich.
Er weiß nichts anderes, als darauf hinzuweisen, daß nach
dem Zeugnis der Schrift auch der getaufte Christ sündige, und
Moses, Aaron, David, Salomo, selbst Petrus, denen die Gnade
Gottes zuteil geworden war, gesündiget haben.')
Dem dritten Satz Jovinians, der die Verdienstlichkeit des
Fastens ablehnt, widmet Hieronymus wieder eine ausführliche
Widerlegung. Bei prinzipiellen theologischen Auseinander-
setzungen, wozu der zweite Satz Jovinians Anlaß geboten
hätte, versagte Hieronymus vollständig; nur wo er ein Stück
der mönchischen Frömmigkeit gefährdet sah, war er wieder auf
dem Plan. Jovinian hatte folgerichtig ebenso wie die Bevor-
zugung des jungfräulichen Standes auch die Überschätzung des
Fastens bekämpft: Das Fasten ist um nichts besser, ver-
dienstlicher und gottgefälliger, als der Genuß von Speisen,
der mit Danksagung geschieht. Er lehnt sich hier wörtlich
an 1. Tim. 4, 4 an. Gott hat alles zum Dienst der Menschen
geschaffen. Wie der Mensch als Besitzer und Beherrscher
der Welt unter Gott steht, so sind Tiere und Pflanzen zur
Nahrung und Kleidung, überhaupt zum Gebrauch der Menschen
geschaffen. Christus selbst hat an der Hochzeit zu Kana teil-
genommen und dort nicht gefastet oder auch nur gewisse Speisen
als unrein zurückgewiesen. Zur Darstellung seines Blutes
hat er im heiligen Abendmahl nicht das Wasser, sondern den
Wein gewählt; und auch Paulus hat auf dem Schiff Brot und
nicht Kastanien gegessen und dem magenleidenden Timotheus
den Rat gegeben, Wein zu trinken. Mit dem Fasten ahmen
die Christen den Heiden nach: die Priester der Cybele und
^) Contr. Jov. 1. II, 1—4.
160 Wiederanknüpfung mit Rom.
der Isis enthalten sich des Brotes und der Cerealien und die
Pythagoräer des Fleischgenusses.
In seiner Widerlegung versucht es Hieronymus, seinen
Lesern durch seine scheinbar ungeheure Belesenheit in den
Profanschriftstellern gewaltig zu imponieren: Es möge lesen,
wer will, Aristoteles und Theophrast in Prosa, Marcellus
Sidetes und unsern Flavius in Hexametern, auch Plinius Se-
cundus und Dioscorides und die übrigen Physiker und Medi-
ziner.') Und an einer anderen Stelle zitiert er den Peripatetiker
Dicaearchus ') und seine Bücher von den Altertümern und der
Beschreibung Griechenlands. Und an einer dritten Stelle
nennt er das zweite Buch des jüdischen Krieges, das 18. Buch
der Antiquitäten und die zwei Bücher gegen Apion des
Josephus als seine Quellen.') Wenn man aber der Sache auf
den Grund geht, so hat er nichts von alledem gelesen, son-
dern alle seine medizinischen Kenntnisse gehen auf Porphyrius
zurück, wie bereits Vallarsi bemerkt hat.*) Die abscheuliche
Verlogenheit des Hieronymus tritt hier wieder zutage, daß er
seine eigentliche Quelle, aus der er schöpft, nirgends genannt
hat. Nachdem er dann über die Argumente und Beispiele der
Philosophen gehandelt hat, wendet er sich zu den christlichen
Argumenten, die für das Fasten sprechen. Man sollte nun
glauben, daß er hier wenigstens selbständig in seiner Beweis-
führung wäre; aber wieder pflügt er mit einem fremden Kalbe
und schreibt fast wörtlich Tertullian aus, ebenfalls ohne ihn
zu nennen.') Man weiß nicht, ob man mehr über die Frech-
heit des Hieronymus oder über die Kritiklosigkeit seiner Zeit-
genossen staunen soll, denen er dies bieten durfte.
Seine Verteidigung des Fastens, die auf diesen Quellen ruht,
geht davon aus, daß nicht alle Tiere zum Essen geschaffen
') Contr. Jov. i. II, c. 6.
») Contr. Jov. 1. II, c. 13.
») Contr. Jov. I. II, c. 14.
*) s. Vaiiarsi II, 335, Anm. d; s. ferner über die Benutzung von
Porphyrius jrroi äjTo/f/^ finfi'xoiv J. Bernays, Theophrastos' Schrift über
die Frömmigkeit, Berlin 1866, S. 32; S. 135.
*) Contr. Jov. 1. II, 15 ff.; s. Vallarsi H, 346, Anm. f, über die Benutzung
von Tertullian de jejuniis c. 3 und 4.
Wiederanknüpfung mit Rom. 161
seien, sondern einige nur zu Arzneimitteln. „Hyänengalle
stellt die Klarheit der Augen wieder her, und ihr Mist wie
Hundemist heilt faulige Wunden; und, was dem Leser viel-
leicht sonderbar vorkommen wird, zu welchen Heilungen
Menschenkot nützt, lehrt Galenus." Für die Gladiatoren, die
Schiffer, die Redner und Bergarbeiter sind Fleischspeisen zur
Erhaltung ihrer Körperkraft nötig; aber der Christ, der voll-
kommen sein will, braucht keinen Wein zu trinken und kein
Fleisch zu essen.') Wie alle Völker ihre eigentümlichen Sitten
haben, z. B. die Araber von Kamelsmilch leben, die Pontier
und Phrygier fette Holzwürmer als Delikatesse essen, die
Schotten einen völligen Kommunismus der Frauen haben, die
Hyrkanier ihre eigenen Eltern noch halb lebend den Vögeln und
Hunden vorwerfen, die Skythen — die, welche ein Verstorbener
geliebt hat, ihm lebendig ins Grab mitgeben, so haben auch
die Christen ihre eigene Lebenssitte, indem sie sich des die
Sinne erregenden Fleisches und Weines enthalten.') Bereits
die heidnischen Philosophen haben die Genügsamkeit in den
Speisen gepriesen; Ärzte, wie Hippocrates und Galen, haben sich
gegen die Völlerei ausgesprochen, und selbst ein Epikur, der
Verteidiger der Sinnenlust, rät, von Wasser, Brot und Gemüse
zu leben, da das allein zur Notdurft des Lebens, alles andere
zum Laster des Schlemmens gehöre. Alle außerchristlichen
asketischen Erscheinungen, die ägyptischen Priester, die
Essener und Therapeuten, die Magier der Perser, die
Brahmanen Indiens, die Pythagoräer, Orphiker und Zyniker,
werden der Reihe nach aufgezählt, um den Christen die Bei-
spiele heidnischer Enthaltsamkeit vor Augen zu stellen,^)
Dann führt Hieronymus im engsten Anschluß an Tertullian
den biblischen Beweis für die Verdienstlichkeit des Fastens.
Schon der erste Adam empfing im Paradies das Gebot, von allen
Bäumen zu essen, aber eines Baumes sich zu enthalten. Die
ganze Heilige Schrift ist voll von Beispielen, die uns den
Wert des Fastens eindrücklich machen, man denke nur an
Elias, die Stadt Ninive, Daniel, die Nasiräer, die Rechabiten,
') Contr. Jov. 1. II, 6.
-) Contr. Jov. 1. II, 7.
») Contr. Jov. 1. II, 14.
Grützmacher, Hieronymus. II. 11
162 Wiederanknüpfung mit Rom.
Johannes den Täufer und den Hauptmann von Kapernaum.
Dabei fordern aber die Christen nicht wie Marcion und Tatian
beständige Enthaltsamkeit, sondern sie stellen nur die Enthalt-
samkeit höher als das üppige Leben. Wenn aber Jovinian
das Fasten der Christen als Nachahmung der heidnischen
Fasten wie im Isis- und Cybelekult bezeichnet hatte, so drehte
Hieronymus den Spieß einfach um, indem er nach der alten
apologetischen Methode die heidnischen Fasten auf eine Nach-
äffung des Teufels zurückfijhrt: „Durch alles, was der Teufel
aus Eifersucht gegen Gott bewirkt, wird das Christentum nicht
als Aberglaube bewiesen."')
Die vierte These Jovinians, die Hieronymus an letzter
Stelle bekämpft, stellt sich als selbstverständliche Konsequenz
seiner Anschauung von der Gleichwertigkeit der Ehe und
Virginität und vom Fasten und Nichtfasten dar: Alle Wieder-
geborenen, die ihre Taufgnade bewahrt haben, empfangen
dieselbe Vergeltung im Himmelreich. Es gibt nur zwei Klassen
von Menschen, Gerechte und Sünder. Für diese Zweiteilung
der Menschen, die von Anfang an nachweisbar sei, berief er
sich auf Noah und die in der Sündflut untergegangenen
Sünder, auf Lot und die Sodomiter, die Israeliten und Ägypter,
die Schafe und die Böcke, den guten und den schlechten
Baum, die klugen und die törichten Jungfrauen in den
Gleichnissen Jesu. Aus dieser seiner Anschauung zog er auch
weiter die Konsequenz, daß den Märtyrern keine höhere Stufe
der Seligkeit zukäme. Ob einer in der Verfolgung verbrannt,
erdrosselt oder enthauptet wird, das sind verschiedene Arten
des Kampfes, aber es gibt nur einen Siegeskranz. Den Ein-
wurf, weshalb sich dann der Gerechte anstrenge, wenn es
doch keinen höheren Lohn gebe, beantwortet er damit: er tue
dies nicht, um mehr zu verdienen, sondern um nicht zu
verlieren, was er hat. Die Heiligung dient also zur Bewahrung
des Gnadenstandes, nicht zur Mehrung der Verdienstlichkeit.
Die wahren Christen aber, die durch Taufe und mystische Ein-
wohnungGottes und Christi wiedergeboren sind, bilden die wahre
einige Kirche, die die Braut, Schwester und Mutter Christi ist.
') Contr. Jov. 1. II, 17.
Wiederanknüpfung nn't Rom. 163
Hieronymus verhält sich in diesem letzten Teil fast rein
defensiv, er versucht nur die einzelnen Argumente Jovinians
zu zerpflücken. Besondere Freude bereitet es ihm, wenn er
seinem Gegner eine verfehlte Deutung einer Bibelstelle nach-
weisen kann. So triumphiert er: „wer könnte sein Lachen
darüber zurückhalten, wenn Jovinian Joh. 14, 2, wo von den
vielen Wohnungen im Hause des Vaters die Rede ist, diese
Wohnungen auf die auf dem Erdboden zerstreute Kirche be-
zieht.'") Seine eigene Position, die er Jovinian entgegenstellt,
hat er nicht ohne Geschick formuliert: Gott ist nicht unge-
recht, daß er die Arbeit der verschiedenen Christen vergäße
und daß er ungleiches Verdienst mit gleichem Lohne ablohne.')
Für die Theorie eines abgestuften Gnadenlohnes beruft er
sich auf Stellen wie L Cor. 15, 22: Wie in Adam alle sterben,
so werden auch in Christo alle lebendig, jeder aber in seinem
Range; 1. Cor. 15, 3Qff.: Anders ist die Klarheit der Sonne,
anders die Klarheit des Mondes, anders die Klarheit der
Sterne, und ein Stern unterscheidet sich von dem andern an
Klarheit und auf 2. Cor. 5, 10, wonach jedem ein Lohn nach
seinen Werken verheißen wird. Während Jovinian das Gleichnis
vom Sämann als Parabel aufgefaßt hatte, die nur von zwei
Klassen von Menschen, von bösen und guten, handle, legt es
Hieronymus in der üblichen Weise als Allegorie aus und
folgert aus der 30-, 60- und lOOfältigen Frucht einen dreifach
abgestuften himmlischen Lohn. Die straffe Anschauung
Jovinians, der die Unterscheidung zwischen leichteren und
schwereren Sünden verwarf, und die Sünde einheitlich als Bruch
mit Gott auffaßte, die, in welcher Form sie sich auch äußern
mag, die gleiche Strafe verdient, vermag Hieronymus so wenig
wie der gesamte zeitgenössische Katholizismus zu erfassen.
Er ironisiert sie nur, wobei er dann gleich persönlich gehässig
wird: ich glaube, daß du, der du doch auch ein Mensch bist,
schon einmal gelogen hast, und du wirst nun nach deiner
Theorie mit Vatermördern und Ehebrechern die gleiche Strafe
leiden müssen. Wenn alle, die zur Rechten stehen, ein Rekruten-
') Contr. Jov. 1. II, 28.
^) Contr. Jov. 1. 11, 23.
II* ■
164 Wiederanknüpfung mit Rom.
maß zum Kriegsdienst tauglich macht, so ist es unnütz, daß
es Bischöfe, Priester, Diakonen, Jungfrauen, Witwen und ent-
haUsame Verheiratete gibt. Laßt uns nur alle sündigen, nach
der Buße werden wir doch soviel gelten wie die Apostel. Ein
abscheuliches Zerrbild Jovinians, des geilen Epikur, in dessen
Lustgarten Jünglinge und Weiber umherspringen, dem eine
zahlreiche Schweineherde folgt, die er zum fetten Braten der
Hölle mästet, bildet den Schluß der fanatischen Streitschrift.')
Nur noch eins fügt er bei: eine Apotheose auf die Stadt Rom,
die die auf die Stirn geschriebene Gotteslästerung durch das
Bekenntnis Christi ausgelöscht hat, die mächtige Stadt, die
Erdkreisbeherrscherin, die von den Aposteln gepriesene Stadt.)
Als er vor ungefähr sieben Jahren in heimlicher Flucht Rom
verlassen hatte, da war die undankbare Stadt ihm als ein Babel
und Ägypten erschienen, jetzt wo er wieder die Sympathien
der römischen Christen zurückgewinnen wollte, brach er in
einen begeisterten Lobpreis auf Rom aus, wo die Lehre des
Petrus auf den Felsen Christi gegründet ist.')
Hieronymus hatte sicher gehofft mit seiner Schrift gegen
Jovinian einen durchschlagenden Erfolg zu erzielen; aber selbst
sein Freund Pammachius, der ihn zur Gegenschrift gegen
Jovinian veranlaßt hatte, war über das leidenschaftliche und
zügellose Pamphlet entsetzt. Die Geister, die Pammachius
gerufen, wollte er wieder los sein, und so wußte er sich keinen
anderen Rat, als die bereits in Rom verbreiteten Exemplare der
Schrift einzuziehen.') Ein anderer Freund Domnio schickte
dem Hieronymus eine lange Liste von aus beiden Büchern
gegen Jovinian ausgezogenen Stellen, die er einer Korrektur
unterziehen sollte.) Welch bittere Enttäuschung für den eitlen
Mann, von seinen beiden besten Freunden in dieser Weise
desavouiert zu werden. Hieronymus hatte die Stimmung in
Rom doch falsch beurteilt; er hatte aus der Verurteilung
Jovinians geschlossen, daß man dem Mönchtum in weiten
>) Conlr. Jov. I. II, 37.
^) Contr. Jov. I. II, 38.
3) Contr. Jov. I. H, 37.
*) Ep. 49, 2.
*) Ep. 50, 3.
Wiederanknüpfung mit Rom. 165
Kreisen weiter entgegenzukommen gewillt wäre, als es tat-
sächlich der Fall war.
Mit einem Briefean Pammachius sandteer ihm eineeingehende
Verteidigungsschrift seiner Bücher gegen Jovinian. Hieronymus
ist zu klug, um seinem vornehmen Freunde Pammachius gegen-
über den Beleidigten zu spielen oder ihm gar Vorwürfe für sein
Verhalten zu machen. Er macht gute Miene zum bösen Spiel:
„Was mein Büchlein gegen Jovinian betrifft, so habe ich schon
gut erkannt, wie klug und freundlich du durch Zurückziehung
der Exemplare gehandelt hast.'") Aber dann wirft er sich so-
gleich in die Brust: „Wenn ich etwas schreibe, kann ich nicht
wie andere zeitgenössische Schriftsteller an meinen Kleinig-
keiten Verbesserungen anbringen, da meine Werke sofort nach
ihrem Erscheinen von meinen Freunden wie Gegnern rasch
in alle Welt verbreitet werden." Nach einigen Elogen an
Pammachius, die nicht ganz ohne Bitterkeit sind, daß er ja in
der Schrift besser als er selbst bewandert sei, und nach der
Gratulation,' daß er durch den Willen des f^apstes und des
römischen Volkes für die Priesterweihe in Aussicht genommen
sei, verwahrt er sich entschieden dagegen, daß er zu heftig
gegen die Verehelichten gewesen sei. Der Alexandriner Pierius
habe in seinem Kommentar zum Korintherbriefe viel schärfer
als er betont, daß Paulus im siebenten Kapitel offenkundig
die Ehelosigkeit preise, und ähnlich hätten sich Origenes, der
Bischof Dionysius von Alexandria, Eusebius von Caesarea,
Didymus und Apollinaris in ihren Kommentaren ausgesprochen.
In seiner Verteidigungsschrift läßt er sich nur äußerst ungern
zu gewissen Retraktationen herbei. Er ist doch in der Seele
aufs tiefste empört, daß man ihm eine derartige Zumutung
gestellt hat. Ein einsichtiger und gütiger Leser hätte das,
was hart erscheinen konnte, nach dem Übrigen beurteilen
und ihn entschuldigen sollen. Man hätte seine Fehler
eher verbessern als tadeln sollen und ihn nicht verletzen.
„Das ist eine feige Lehrweise, dem Kämpfenden von der
Mauer herab Streiche zuzufügen, und während man selbst
von Salben trieft, den blutenden Kämpfer der Feigheit anzu-
') Ep. 49, 2.
166 Wiederanknüpfung mit Rom.
klagen.'") Hieronymus ist plötzlich so mißtrauisch geworden,
daß er vermutet, man habe ihm, als man ihn zur Widerlegung
Jovinians aufforderte, einen Hinterhalt legen wollen.")
Was er weiter zu seiner Verteidigung anführt, ist be-
zeichnend für den Wahrheitssinn des Hieronymus. daß in
einer Streitschrift wie in der gegen Jovinian nicht wie in einer
dogmatischen Lehrschrift alles im strengsten Sinne wahrhaftig
gemeint sei: Etwas anderes sei es yvin'uOTiHö)^ zu einem
polemischen Zweck, etwas anderes öo/fiariKcog zu einem Lehr-
zweck zu schreiben. Bei der ersten Art sei das Wortgefecht
gleichsam ein Voltigieren, in dem man dem Gegner antwortend
bald dies, bald jenes aufstelle, Beweisgründe nach Belieben
vorbringe, anderes spreche und auf etwas anderes hinarbeite,
gleichsam Brot zeige und einen Stein zum Wurf bereit halte.
Auch Origenes, Methodius, Eusebius und Apollinaris hätten
als Polemiker gegen die Heiden Celsus und Porphyrius sich
bisweilen genötigt gesehen, das zu sagen, was sie selber
nicht für wahr, sondern für ihren Zweck für notwendig
hielten. Auch Paulus mache es so, daß er Zeugnisse gegen
die Juden und andere Ketzereien aus dem alten Testament
anführe, die nur gezwungen zu seinem Siege dienstbar sind
und in ihrem ursprünglichen Sinne nicht für ihn sprechen.
Schamloser ist kaum je der Satz, daß der Zweck das Mittel
heilige, proklamiert worden, und ein gefährlicheres Einge-
ständnis konnte Hieronymus kaum machen, als daß die christ-
liche Polemik an diesem Satze orientiert sei.
Man hatte Hieronymus beschuldigt, daß er in seiner Ehe-
verachtung geradezu dem Manichaeismus huldige. Er stellte
dem entgegen, da(^ er sich ausdrücklich gegen Marcion, Tatian
und Mani verwahrt habe. Wenn er im Gleichnis vom vielerlei
Acker die hundertfältige Frucht auf die Jungfrauen, die sechzig-
fältige auf die Witwen, die dreißigfältige auf die Verehelichten
bezogen habe, so bemerkt er, daß viele Lateiner und Griechen
die Zahl 100 auf die Märtyrer, die Zahl 60 auf die Jungfrauen,
die Zahl 30 auf die Witwen beziehen und so die Verheirateten
') Ep. 48, 12.
2) Ep. 48, 20.
Wiederanknüpfling mit Rom. 167
ganz und gar von dem guten Erdreich ausschließen. Da sei
er doch noch viel milder in bezug auf die Ehe gewesen.') Er
habe doch auch die Ehe eine Gabe Gottes genannt, könne
sie also unmöglich verdammen. Er habe die zweite und
dritte Ehe erlaubt, fordere also auch nicht zur Auflösung
der Ehe auf. Er hatte gewiß damit im formalen Sinn Recht,
aber der fanatische Haß gegen die Ehe, der aus jeder Zeile
seines Buches sprach, ließ sich doch nicht ableugnen und
hatte selbst entschiedene Verteidiger der asketischen Ideale ver-
letzt. Pammachius lebte damals noch mit Paulina, der Tochter
der Paula, in einer auch von Hieronymus als musterhaft
geschilderten Ehe, und wenn er auch bereits für die Priester-
weihe in Aussicht genommen war, so besaß er doch noch
so viel Gefühl für die maßlose Überspannung der asketischen
Forderungen des Hieronymus, daß er die ernste Gefahr er-
kannte, die der christlichen Ehe dadurch drohte. Vielleicht
fürchtete er auch, daß die im Abendland für das Mönchtum
sich fortwährend günstiger gestaltende Volksstimmung wieder
in das Gegenteil umschlagen würde. Aber alles wohlgemeinte
Drängen seiner Freunde half bei Hieronymus nicht viel.
Eigensinnig verteidigte Hieronymus die einzelnen Stellen
seiner Streitschrift, die man ihm besonders übelgenommen
hatte. Aus 1. Cor. 7, 2 hatte er gefolgert, daß, wenn es gut
sei, kein Weib zu berühren, dann sei es eben böse, ein
Weib zu berühren. Diese Folgerung will er aber jetzt so ver-
standen wissen, wie wenn man eine Lampe mit einer Fackel,
eine Fackel mit einem Stern, einen Stern mit dem Mond,
den Mond mit der Sonne, die Sonne mit Christus ver-
gleiche; da sei auch immer das Geringere nichts im Vergleich
mit dem Größeren. Und wenn man ihm vorwerfe, daß er
die Jungfrauschaft mit dem Weizen, die Ehe mit der Gerste
und die Hurerei mit dem Viehdünger in Parallele stelle, so
gehe der heilige Ambrosius noch weiter, der in seinem Buch
über die Witwen den Ehestand mit dem Gerstenbrot, die
Jungfrauschaft mit dem Leibe Christi vergleiche. Plötzlich
beruft er sich hier auf die Autorität des mailändischen Bischofs,
') Ep. 48, 3.
168 Wiederanknüpfung mit Rom.
den er sonst') immer so bösartig und heimtückisch angegriffen
hatte. Jetzt preist er ihn, der auch in seinen drei Büchern
über die Virginität die Ehe als die offenbarste Dienstbarkeit
geschildert habe.') Wohl durfte er in sachlicher Beziehung
Ambrosius als Eideshelfer zitieren; aber wie ernst und ruhig
heben sich doch die Zitate aus den Schriften des nie würde-
losen Ambrosius — und Hieronymus hatte schon die stärksten
Stellen ausgewählt — von dem leidenschaftlichen Fanatismus
des Hieronymus ab.
Die Ausführungen des Hieronymus über die Ausübung
der ehelichen Gemeinschaft, die sich mit dem Gebet nicht
vertrage, hatte man als hart und für die Verehelichten als ein-
fach unerträglich bezeichnet. Man hatte ihm die römische
Sitte, wonach die Christen den Leib des Herrn mit nach
Hause nehmen und dort täglich kommunizieren, entgegen-
gehalten, aber bei diesem für die Praxis wichtigen Punkt machte
Hieronymus auch nicht die geringste Konzession. Die Ehe
ist für diesen Zölibatär nun einmal so unrein, daß er es für
unmöglich hält, am selben Tage nach der ehelichen Gemein-
schaft die heilige Kommunion zu empfangen. Der sonst so
Wandelbare, in diesem Punkte bleibt er fest. Man hatte ihm
weiter vorgehalten, daß sein Argument, das von den am zweiten
Schöpfungstage fehlenden Worten hergenommen war: „Und
Gott sah, daß es gut war" nicht zu Recht bestände, da die
lateinische Bibel es enthalte. Er berief sich auf den hebräischen
Text, Aquila, Symmachus und Theodotion und auf eine Reihe
von Kirchenvätern. Zum Schluß gab er dann nochmals die
feierliche Erklärung ab, daß er die Ehe nicht verdamme, aber
die Virginität bis in den Himmel erhebe. Dann fügt er noch die
persönliche Konfession hinzu, daß er die Jungfrauschaft nicht
deshalb preise, weil er sie besitze, sondern weil er mehr be-
wundere, was er nicht besitze.') Diese Konfession erklärt viel;
eine so durch und durch sinnliche Natur wie Hieronymus konnte
nicht an die Keuschheit der Ehe glauben. Wie dem Reinen
alles rein ist, so wird dein Unreinen alles unrein. Wer einst in
') s. oben S. 75.
") Ep. 48, 14.
') Ep. 48, 20.
Wiederanknüpfung mit Rom. 169
den Umarmungen der Dirnen geschwelgt hat, wird nach
seiner plötzlichen Bekehrung leicht zu einem rücksichtslosen
Herold des jungfräulichen Lebens. Und hinzu kommt, daß
die Kirche bei der furchtbaren Verwilderung des Ehelebens
in der Zeit des absterbenden Römerreiches nicht die Kraft
besaß, der heidnischen Wertung der Ehe eine christliche
gegenüberzustellen, sondern fortwährend die Ehelosigkeit pries.
So klingt denn die Apologie des Hieronymus in einen be-
geisterten Lobpreis der Virginität aus: „Christus war jung-
fräulich, die Mutter unseres jungfräulichen Herrn war eine
beständige Jungfrau, Mutter und Jungfrau, Jungfrau auch nach
der Geburt, Mutter schon vor der Vermählung; die Anfänge
derjungfrauschaft sind dadurch für beideOeschlechter geweiht."')
Auf die Dauer vermochte auch das Abendland diesem Lock-
ruf nicht zu widerstehen.
Zunächst hatte Hieronymus noch mit einer starken Anti-
pathie gerade in den Kreisen zu kämpfen, wo man ihn noch
von seinem Aufenthalt her persönlich kannte. Bitter beklagte
er sich in dem Brief an seinen Freund Domnio über einen von
ihm nicht namentlich genannten Mönch, der seine Bücher
gegen Jovinian einer vernichtenden Kritik unterzogen hatte.
Auch dieser Ungenannte war ein Gegner Jovinians und hatte
sogar bei seiner Verurteilung mitgewirkt.") Aber ebenso scharf
hatte er auch die Art, wie Hieronymus die Ehe behandelt hatte,
mißbilligt und sie in den Kreisen der vornehmen christlichen
Frauen für ärgerlich und gefährlich erklärt. Ob lediglich persön-
liche Motive, wie es Hieronymus darstellt, dabei ausschlag-
gebend waren, daß er in ihm den unbequemen Nebenbuhler
verdächtigen wollte, läßt sich nicht feststellen, da der ganze
Brief des Hieronymus aus nichts als einem heftigen Ge-
schimpf besteht. Hieronymus kannte ihn von seinem früheren
Aufenthalt in Rom her, und der persönliche Antagonismus
muß schon damals die heftigsten Formen angenommen haben:
„Wie oft hat mich jener Mensch in den gesellschaftlichen
Kreisen zum Zorn gebracht und in Heftigkeit versetzt. Wie
») Ep. 48, 21.
^) Ep. 50, 2.
170 Wiederanknüpfung mit Rom.
oft geiferte er heftig und ging selbst begeifert von dannen."
Da dieser Mönch sich großen Ansehens und Einflusses gerade
in den mönchischen Kreisen erfreute, in denen einst Hiero-
nymus als Autorität gegolten hatte, und mit denen er durch seine
Schrift gegen Jovinian wieder Fühlung zu gewinnen suchte,
so wurde er um so gereizter und schob in seiner beliebten Weise
dem Verkehr seines Gegners mit den Jungfrauen und Witwen
allerlei häßliche Beweggründe unter: Ich wundere mich, daß er
sich nicht schämt, als junger und beredter Mönch, von dessen
Munde Liebeslieder fließen, und dessen Rede so voller Eleganz
ist, daß sie wie mit Komikerwitz und Anmut bestreut erscheint,
in den Häusern der Vornehmen herumzugehen, bei Weiber-
besuchen hängen zu bleiben, unseren Mönchsstand in Miß-
kredit zu bringen und dabei seinen Bruder zu verkleinern.')
Nun, viel anders hatte es Hieronymus, als er in Rom weilte,
auch nicht gemacht. Aber in seiner Erregung vergißt er sich
so weit, daß er plötzlich das Ungeheuer Jovinian gegen den
Gegner im eigenen Lager in Schutz nimmt: „Selbst Jovinian,
der ungebildete Sudler, wird ihm mit vollem Rechte zurufen:
Daß mich die Bischöfe verdammen, geschieht nicht auf Gründe
hin, sondern ist ein abgekartetes Spiel." Hieronymus möchte
nun gern seinen Gegner zu einer schriftlichen Äußerung reizen,
um ihn dann mit der ganzen, ihm zur Verfügung stehenden
Bosheit zu widerlegen oder ihn lächerlich zu machen. Er
droht ihm: „Ich kann auch wieder beißen, wenn ich will; ich
kann auch, wenn ich beleidigt worden bin, mit dem Backen-
zahn einhauen." Wir glauben ihm dies nach den zahlreich
abgelegten Proben seiner Polemik, aber wenn er dann fort-
fährt, daß er lieber der Schüler dessen sein will, der da sagt
Jes. 50, 6: Meinen Rücken habe ich für Geißelhiebe hinge-
halten, mein Angesicht nicht von dem Anspeien weggewandt;
„der, wenn er geschmäht ward, nicht wieder schmähte", so hat
er diese christliche Demut in der Praxis selten genug bewährt.
Seine Nächstenliebe hörte in dem Augenblick auf, wo man
an seiner Person oder seinen Werken etwas auszusetzen fand.
Ob er seiner Sache dadurch genützt hat, daß er mit schlecht
') Ep. 50, 3.
Wiederankniipfmio mit Rom. 17t
verhehlter Verachtung des Geschwätzes in den frommen Damen-
zirkehi erklärte: Sein Gegner solle zu der Erkenntnis kommen,
daß es nicht ebenso leicht sei, mit wohl unterrichteten Männern
über die Lehren des göttlichen Gesetzes zu disputieren, als
bei den Spindeln und Wollkörbchen der Mädchen.') Mit einem
echt hieronymianischen Zynismus schließt dies giftige Produkt
seiner Feder: „Ich verdamme nicht die Ehe, ich verdamme das
Heiraten nicht. Und damit er meine Gedanken desto gewisser
festhalte, sage ich: ich will, daß alle, welche vielleicht wegen
der nächtlichen Schrecknisse nicht allein schlafen können, sich
Weiber nehmen." Wir hören nichts weiter über diesen Gegner
des Hieronymus, jedenfalls hat er sich nicht zu einer Gegen-
schrift provozieren lassen.
In Mailand lebte der Streit noch einmal auf. Zwei Mönche
Sarmatio und Barbatian, Angehörige des von Ambrosius ge-
stifteten Klosters, hatten ihr Kloster, durch Jovinian veranlaßt,
verlassen und wurden, als sie dorthin wieder zurückkehren
wollten, von Ambrosius abgewiesen. Sie gingen nun nach
Vercelli und sammelten hier Anhänger. Ambrosius schrieb
deshalb an die dortige Gemeinde, um sie vor den Häresien
Jovinians, die die beiden Mönche verbreiteten, zu warnen. )
Auch Augustin schrieb später noch die Schrift de bono con-
jugali mit Rücksicht auf die Häresie Jovinians, ohne ihn jedoch
namentlich zu nennen, ein Zeichen, wie weit sich im Abend-
land die Grundsätze des Ketzers verbreitet hatten. Wie lange
Jovinian gelebt und wo er gestorben ist, wissen wir nicht.
Nur aus der Schrift des Hieronymus gegen Vigilantius erfahren
wir, daß er damals, d. h. 406, bereits gestorben war.') Über
die näheren Umstände seines Todes teilt er uns aber nichts
mit. Ein vom Jahre 412 datiertes Edikt des Kaisers Theodosius,
das Tillemont ') auf Jovinian beziehen und dann auf das
Jahr 389 zurückdatieren wollte, hat mit unserem Jovinian wohl
nichts zu tun, zumal in der Urkunde die Überlieferung des
Namens Jovianus oder Jovinianus schwankt.
') Ep. 50, 5.
^) Ambrosii ep. 83 ad Vercellenses, ed. Ballerini V, 554 ff.
=*) Adv. Vigilantiiim c. 1, Vallarsi II, 387.
') Memoires X, 733 ff.
172 Wiederankniipfung mit Rom.
Besonders glücklich war für Hieronymus seine Anknüpfung
mit Rom anläßlich des Jovinianischen Streits gerade nicht aus-
gefallen. Er hatte noch starke Widerstände zu überwinden.
Er scheint dies selbst gefühlt zu haben. Mit dem Briefe an
Pammachius, in dem er seine Schrift gegen Jovinian ver-
teidigte, sandte er ihm seine Übersetzung der 16 Propheten-
bücher aus dem Hebräischen ins Lateinische und teilte ihm
mit, daß, falls er an dieser Arbeit Gefallen finde, er ein Exemplar
seiner Übersetzung des Hiob aus dem Hebräischen ins
Lateinische von seiner Freundin Marcella entleihen könne. Auch
könne er von dem heiligen Vater Domnio einige der Kom-
mentare zu den Zwölfpropheten') und auch zu den Büchern
Samuels und der Könige, d. h. der 4 Bücher der Könige, ent-
leihen, die er diesem geschickt habe.) Er wollte wohl seinen
römischen Freunden durch die Zusendung seiner Kommentare
zeigen, daß er nicht nur gereizte Streitschriften, sondern auch
ernste wissenschaftliche Werke zu verfassen imstande war,
und hoffte so, daß durch diese Arbeiten sein Ruf bei ihnen
wiederhergestellt werden würde.
§ 37.
Die Beziehungen des Hieronymus zu Rom in den
neunziger Jahren des 4. Jahrhunderts.
Nach seinem Weggang von Rom im Jahre 385 hatte
Hieronymus zeitweilig alle alten Beziehungen zu seinen römischen
'> Vallarsi vermutet mit Recht ep. 49, 4, Vallarsi I, 233, Anm. b,
daß die 392 geschriebenen Kommentare zu Nahum, Micha, Zephanja,
Haggai und Habakuk gemeint sind.
*) Kommentare zu den Büchern Samuelis und der Könige sind uns
von Hieronymus nicht erhalten, man müßte sie denn in den Quaestionen zu
den Büchern der Könige und Chronik wiederfinden, s. oben § 30, S. 62.
Da diese aber vermutMch nicht von Hieronymus stammen, so müssen die
hier erwähnten Kommentare als verloren gelten.
Wiederanknüpfiing mit Rom. 173
Freunden und Freundinnen abgebrochen oder doch nur wenig
gepflegt. Er hatte sich in Bethlehem während der ersten Jahre
seines dortigen Aufenthalts in die wissenschaftliche Arbeit ge-
stürzt, um seine römischen Mißerfolge und den römischen
Klatsch zu vergessen. Nach dem Streit mit Jovinian wachte
wieder in ihm der alte Ehrgeiz auf; er konnte auf die Dauer
für sein Leben doch nicht die Öffentlichkeit entbehren, er
wollte eine Rolle in der Welt spielen. So wird denn seit den
Jovinianischen Händeln auch die Korrespondenz mit seinen
römischen Freunden und Freundinnen wieder rege. Es ist
merkwürdig, daß uns aus dieser Zeit nur ein Brief an seine
Freundin Marcella erhalten ist. Vielleicht sind aber andere
verloren gegangen. Man darf doch nicht aus dieser selteneren
Korrespondenz auf eine Abkühlung seines Verhältnisses zu der
gelehrtesten seiner Freundinnen schließen. Man müßte dann
annehmen, daß Paula und Eustochium und auch Hieronymus
es der Marcella nachtrugen, daß sie ihrer herzlichen und
dringenden Einladung, ins heilige Land zu kommen, nicht
Folge geleistet hatte. Aber das Epitaphium des Hieronymus
auf Marcella läßt doch von einer solchen Trübung nichts
merken, und wenn auch der Briefwechsel mit ihr seltener wurde
— während der Origenistischen Wirren schrieb er wieder an
sie und Pammachius ') — so beweisen doch die Dedikationen
einzelner Kommentare und Übersetzungen von Büchern des
Alten Testaments aus dem Hebräischen, daß das alte Freund-
schaftsverhältnis nach wie vor weiter bestand.
Der einzige Brief an Marcella aus dieser Zeit ist exegetischen
Inhalts und beantwortet fünf exegetische Fragen, die sie ihm ge-
stellt hatte.') KritischerScharfsinn und weiblicheNeugier mischen
sich in diesen Fragen der Marcella in wunderbarer Weise. Die
Fragen sind Hieronymus sichtlich unbequem, und er weiß nicht
recht, was er antworten soll. Die erste Frage wünscht den
Widerspruch gelöst zu sehen zwischen den Worten des Apostels
1. Kor. 2, Q: „Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört
und in das Herz keines Menschen gekommen ist, das hat Gott
') Ep. 97, ad Marcellam et Pammachium, Vallarsi I, 575.
2) Ep. 59, ad Marcellam, Vallarsi I, 325 ff.
174 Wiederanknüpfung mit Rom.
denen bereitet, welche ihn lieben" und 1. Kor. 2, 10: „Uns
aber hat es Gott durch seinen Geist geoffenbart." Hieronymus
antwortet ihr darauf, daß man nach dem, was kein Auge ge-
sehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz
gekommen ist, überhaupt nicht fragen dürfe. Dies sei der
Zukunft vorbehalten, weil es alles menschliche Denken über-
steigt. Was aber den Heiligen durch den Geist geoffenbart
sei, dies sei damit noch nicht für andere geoffenbart, da Paulus
z. B. im Paradies unaussprechliche Worte gehört habe, die er
anderen nicht mitteilen durfte. Die zweite Frage, ob unter
den Schafen zur Rechten die Christen und unter den Böcken
zur Linken die Heiden zu verstehen seien, wie sie seinen
Werken entnommen habe, oder nicht vielmehr die Guten und
Bösen, erklärt er mit Hinweis auf sein zweites Buch an Jovinian,
wo er ausführlicher davon gehandelt habe, für erledigt. Die
dritte Frage hat zum Inhalt, ob bei der Wiederkunft des
Herrn die Lebenden, die nach L Thess. 4 dem Herrn ent-
gegengehen, ihm in ihren irdischen Leibern entgegengehen
und also vorher nicht sterben, oder ob, da unser Herr ge-
storben ist und auch Henoch und Elias nach der Apokalypse
des Johannes sterben sollen, es keinen Menschen gibt, der
den Tod nicht erst kosten muß, ehe er aufersteht. Hieronymus
gibt darauf der Marcella die Antwort, daß nach dem klaren
Zusammenhang des Thessalonicherbriefes die Heiligen bei der
Parusie des Erlösers ihm in ihrem irdischen Leibe entgegen-
gerückt werden, aber so, daß dabei die Leiber der Lebendigen
in dieselbe Substanz verwandelt werden, in der die Körper
der Toten auferstehen. Die Frage nach dem Erscheinen des
Elias und Henoch beantwortet er überhaupt nicht, da die
Apokalypse nach seiner Meinung entweder im geistlichen
Sinne verstanden werden muß, oder, wenn wir dem fleisch-
lichen Sinne folgen, zu albernen jüdischen Fabeleien führt,
daß Jerusalem dereinst wieder aufgebaut und die Opfer
wieder im Tempel dargebracht werden sollen. In einer vierten
Frage hatte Marcella Hieronymus um Auskunft über einen
Widerspruch in der Auferstehungsgeschichte gebeten. Nach
Johannes sagt der auferstandene Herr zu Maria Magdalena:
„Rühre mich nicht an; denn ich bin noch nicht hinauf-
Wiederanknüpfuno mit Rom. 1 ib
gestiegen zu meinem Vater", und nach Matthäus berühren die
Weiber die Füße des Auferstandenen und fallen vor ihm
nieder. Hieronymus hilft sich hier damit, daß er das Wort
Jesu an Maria Magdalena dahin deutet: Du verdienst nicht
meine Füße zu berühren und mich als Herrn anzubeten, weil
du noch nicht glaubst, daß ich auferstanden bin. Für dich
bin ich noch nicht zum Vater aufgestiegen. Die Weiber aber,
welche nach Matthäus seine Füße berühren, bekennen ihn als
Auferstandenen, und deshalb dürfen sie ihn auch berühren.
Die letzte fünfte Frage endlich handelt von der Ubiquität
Christi. Marcella hatte gefragt, ob der Herr nach seiner Auf-
erstehung mit seinen Jüngern vierzig Tage auf Erden gewandelt
sei und niemals anderswo geweilt habe, oder ob er verborgen
zum Himmel hinauf- und wieder herabgestiegen sei und trotz-
dem den Aposteln niemals seine Gegenwart entzogen habe.
Hieronymus setzt nun der Marcella die Ubiquität des gött-
lichen Logos auseinander. Schon vor der Auferstehung war
er im Leibe des Herrn und gleichzeitig beim Vater. „Es ist
töricht, die Macht dessen, den der Himmel nicht faßt, in einem
kleinen Körperchen begrenzen zu wollen. Der, welcher überall
war, war auch zugleich ganz im Menschensohne; denn es ist
die Eigenschaft der göttlichen Natur, überall zu sein und überall
ganz zu sein. Er war also zu gleicher Zeit bei den Aposteln
vierzig Tage wie bei den Engeln und dem Vater und an den
äußersten Enden des Meeres; er war mit Thomas in Indien,
mit Petrus in Rom, mit Paulus in lllyrien, mit Titus in Kreta,
mit Andreas in Achaja, mit allen Aposteln und apostolischen
Männern an allen Enden der Welt."
Die Fragen der Marcella und die Antworten des Hieronymus
sind vor allem deshalb interessant, weil sie den Gegensatz
zwischen dem naiven und massiven Gemeindechristentum mit
seinen Anthropomorphismen und den Versuchen einer theo-
logischen Spiritualisierung der christlichen Vorstellungen wieder-
spiegeln. Während zu allen Zeiten die eschatologischen Fragen
das Interesse frommer Laien besonders in Anspruch nahmen,
zeigte Hieronymus gerade für diese Fragen kein sonderliches
Interesse, er empfand die Unsicherheit, hierüber bestimmte
Aussagen machen zu können und ließ sich nur ungern darauf
176 Wiederanknüpfung mit Rom.
ein. Das enthusiastische Zeitalter der Kirche, das ein lebendiges
Interesse an der Eschatologie gehabt hatte, war bereits vorüber.
Nicht mehr die Frage nach der Wiederkunft des Herrn,
sondern die Kirche und ihre Herrschaft auf Erden stand im
Mittelpunkt seiner theologischen Gedanken.
Viel lieber als solche eschatologischen Fragen legte
Hieronymus seinen frommen Schülerinnen alttestamentliche
Stellen aus. Hier konnte er mit seiner Gelehrsamkeit viel aus-
giebiger prunken, und dann konnte er bei der allegorischen
Auslegung seiner Phantasie frei die Zügel schießen lassen.
Der jugendlichen Freundin der Marcella, Principia, die ihr bis
zu ihrem Tode treu zur Seite stand, eignete Hieronymus eine
solche mystische Auslegung des 45. Psalmes zu. ') In der
Vorrede verteidigt er sich gegen die Vorwürfe, daß er lieber
Frauen seine wissenschaftlichen Arbeiten widme und das
gebrechliche Geschlecht den Männern vorziehe.') Schon in
der Vorrede zum Kommentar des Propheten Zephanja ) hatte
er sich gegen ähnliche Angriffe, wodurch sein schriftstellerisches
Ehrgefühl gekränkt wurde, wehren müssen. Er wollte nicht
nur Frauenseelsorger sein; ärgerlich, fast grob, schreibt er
an Principia: „Wenn die Männer nach den heiligen Schriften
fragten, so würde ich nicht zu Frauen reden." Aber Hiero-
nymus besaß gerade für die vornehmen Frauen eine be-
sondere Anziehungskraft, und diese verkündeten am be-
geistertsten seinen Ruhm. So tröstet er sich denn, wie in
der Vorrede zum Propheten Zephanja, mit der Aufzählung all
der heiligen Frauen wie Debora, Hulda, Maria Magdalena,
Sara, Mirjam, der Königin von Saba, Elisabeth und Priscilla,
die die Männer durch Mut und Wißbegier übertroffen hätten.
Den 45. Psalm, das Brautlied Christi und seiner Braut, der
jungfräulichen Kirche, legte er der Jungfrau Principia aus, nicht
ohne in die Auslegung des öfteren starke Komplimente für
ihre Jungfrauschaft einzuflechten. Sie ist die Blume Christi,')
die durch die Jungfrauschaft das Schwert der Keuschheit be-
^) Ep. 65 ad Principiam, Vallarsi 1, 371 ff.
*) Ep. 65, 1, Vallarsi I, 372.
3) Vallarsi Vi, 671, s. § 34.
*) Ep. 65, 2.
Wiederanknüpfung mit Rom. 177
sitzt, mit dem sie die Werke des Fleisches tötet und die Lüste
überwindet,') die ihre Glieder auf Erden getötet hat und täg-
lich Christus Myrrhen darbringt.')
Welche Quellen Hieronymus für sein exegetisches Send-
schreiben benutzt hat, erfahren wir nicht. Die gelegentliche An-
führung exegetischer Meinungen anderer beweist eine Kenntnis
älterer Exegeten. ) Wahrscheinlich hat er Origenes und Eusebius
benutzt.') Nach seiner Gewohnheit stellt Hieronymus bei der
Auslegung seine Übersetzung aus dem Hebräischen neben die
LXX und macht auf die Differenzen beider Übersetzungen
aufmerksam; aber auch Aquila, Symmachus, Theodotion, die
Quinta und Sexta zieht er heran,*) Was den Inhalt seiner
Auslegung betrifft, so vereinerleit die allegorische Exegese
den Schriftinhalt derartig, daß Hieronymus überall seine
Lieblingsgedanken hinein- und herausliest. Es sind im Grunde
nur drei religiöse Begriffe, mit denen er immer wieder arbeitet,
Christus, Kirche, Jungfrauschaft: „Christus, die Jungfrau aus
der Jungfrau, welcher nicht aus dem Willen eines Mannes,
sondern aus Gott geboren ist, ist der Schönste unter den
Menschenkindern. Wenn er nicht in seinem Angesicht und
seinen Augen etwas Göttliches gehabt hätte, so wären ihm
') Ep. 65, 10.
-) Ep. 65. 14.
^) Bereits Vallarsi I, 375, Anin. b, hat darauf hingewiesen, daß
Hieronymus die Einteilung des 45. Psalmes dem Eusebius entnommen hat.
*) Auf eine Benutzung des Origenes weist das Zitat aus 3. Esra 4, 59,
ep. 65, 4, Vallarsi I, 374, da er an einer anderen Stelle seiner Schriften,
Contra Vigilantium c. 6, vom 3. Buch Esra bemerkt, daß man es nicht
nötig habe in die Hände zu nehmen, weil es die Kirche verwerfe, s.
Sanders, Etudes sur St. Jerome, Paris 1903, S. 272.
") Ep. 65, 3; ep. 65, 18; ep. 65, 15 merkt Hieronymus an, daß nur
der Altlateiner in Ps. 45, 10 die Worte habe „circumdata varietate";
ep. 65, 19 notiert er eine Variante des hebräischen Textes in Ps. 45, 14:
in quibusdam exemplaribus invenitur esebon, quod cogitationes sonat;
ep. 65, 14 bemerkt er, daß in Ps. 45, 9 das griechische Wort ßägig im
Sinne von Haus in den LXX gemeint sei, vom Altlateiner aber durch ein
Mißverständnis mit pro gravibus übersetzt sei ; ep. 65, 9 weist er darauf hin,
daß in Ps. 45, S im Altlateiner sich das Wort unxit finde, das in den
LXX nur durch den Irrtum der Abschreiber ausgefallen sei.
G riitzmach er, Hieronymus. 11. 12
178 Wiederanknüpfung mit Rom.
niemals die Apostel sofort gefolgt."') Wie dem Augustin, ist
auch ihm Christus das Ideal der Schönheit. Es ist die über
das Heidentum triumphierende Kirche, die Christus mit der
Glorie der Schönheit geschmückt und sich das antike Schön-
heitsideal zu eigen gemacht hat. Während Tertullian der
verfolgten Kirche das Bild Christi nach Jes. 53, 2 als des aller-
verachtetsten vor Augen gestellt hatte, dessen Gestalt kein
Aussehen und keine Schönheit hatte, will Hieronymus diese
Stelle nur auf den Leidenden bezogen wissen. Zur Rechten
Christi aber steht die auf den Fels Christi gegründete katho-
lische Kirche, die Taube, die mit dem Könige Christus regiert,
ihre Töchter sind die Seelen der Gläubigen, im besonderen
aber die Chöre der Jungfrauen. Diesen Jungfrauen, welche
der Kirche folgen, kommt der erste Platz zu, den Freundinnen,
die sie begleiten, den Witwen und den in der Ehe Enthaltsamen
erst der zweite Platz.') Wenn du, o Tochter Principia, mit
dem Chor der Heiligen vereint unter den Jungfrauen zu dem
Könige geführt wirst und aus elfenbeinernen Häusern den
Bräutigam ergötzen wirst in deiner Ehre, dann erinnere dich
meiner, der ich dir durch Offenbarung des Herrn das Verständnis
dieses Psalms erschlossen habe und sprich: ich werde ein-
gedenk sein deines Namens. Am Schlüsse seines Schreibens
stellt er ihr, falls er am Leben bleibt, einen Kommentar zum
Hohenlied in Aussicht, ein Plan, der, wie so viele andere des
Hieronymus, nicht ausgeführt wurde.')
Gegen Ende des 4. Jahrhunderts schlössen sich die ältesten
und vornehmsten Geschlechter Roms in immer zahlreicheren
Gliedern der mönchischen Erweckungsbewegung an. Der
römische Staat alterte, seine höchsten Ehren und Ämter ent-
werteten sich immer mehr, sie wurden zu leeren Würden.
Barbaren und aus den niedrigsten Ständen hervorgegangene
Männer wurden die Führer des Heeres: „Was ehemals nur
unter Patriziern sich forterbte und nur der Adel als Vorrecht
besaß, das nimmt jetzt der Militärstand für sich ganz allein
in Anspruch, und frühere Bauern kleiden sich schon seit langem
') Ep. 65, 8, Vallarsi I, 377.
') Ep. 65, 20, Vallarsi I, 389.
') s. Praef. Comm. in Matth. VII, 8.
Wiederanknüpfung mit Rom. 179
in die strahlende Toga mit der goldgestickten Palm^") Während
die Macht des Staates zusehends abnahm, wuchs die Macht
der christlichen Kirche. Die römischen Aristokraten, die sich
so lange von dieser plebejischen Gesellschaft ferngehalten
hatten, konnten jetzt auch in der Kirche ihren Ehrgeiz
befriedigen. „Geringes geben wir auf und Großes besitzen
wir dafür. Hundertfach verzinsen sich die Verheißungen
Christi", so konnte Hieronymus an den Senator Pammachius
schreiben, als dieser Mönch wurde. ') Aus dem edlen Geschlecht
der Fabier wurde Fabiola Nonne, und Furia, eine Verwandte
des Pammachius. aus dem ebenso berühmten Geschlecht der
Furier, beschloß nach dem Tode ihres Mannes keine zweite
Ehe mehr einzugehen, sondern sich der keuschen Witwen-
schaft zu weihen. Während seines römischen Aufenthalts
hatte Hieronymus nur verhältnismäßig bescheidene Erfolge
erzielt, jetzt übte er von Bethlehem aus den größten Einfluß
auf den römischen Hochadel aus. Hieronymus gehörte zu
den Menschen, die stärker durch Briefe als durch ihre Persön-
lichkeit wirken. Wer ihn persönlich kennen lernte, wurde
leicht durch sein eitles und zänkisches Wesen abgestoßen.
Hieronymus war überaus glücklich, als sich die ihm
persönlich unbekannte') Witwe Furia an ihn wandte: „Es
freut sich mein Geist, es jubelt mein Inneres, es froh-
lockt mein Herz, daß du nach dem Tode deines Mannes
das zu sein wünschest, was Titiana, deine Mutter heiligen
Angedenkens, schon lange bei Lebzeiten ihres Mannes gewesen
ist." Furia war durch die engsten verwandtschaftlichen
Beziehungen mit den vornehmsten Gliedern des asketisch
gesinnten Kreises verknüpft. Sie war nicht nur mit Pam-
machius verwandt, ihr verstorbener Bruder war auch derGatte der
ältesten Tochter der Paula, Bläsilla, gewesen. ') Auch ihre ver-
storbene Mutter Titiana muß diesen Kreisen nahe gestanden
haben; sie hatte eine enthaltsame Ehe während ihrer letzten
Lebensjahre geführt und ihre glühende Liebe zu Christus in
») Ep. .66, 7, Vallarsi I, 396.
-) Ep. 66, 7, Vallarsi I, 396.
^) Ep. 54, 3, Vallarsi I, 2S1 : exceptis epistolis ignoramus alterulrum.
') Ep. 54, 2, Vallarsi I, 2S0.
12*
180 Wiederanknüpfung mit Rom.
Fasten, Almösengeben und Hilfeleistungen gegen die Diener
Gottes bewiesen.') Noch jung war Furia Witwe geworden;
ihr Gatte war der Sohn eines Konsularen Probus -') gewesen,
und ihre Ehe war, wie es scheint, keine unglückliche ge-
wesen. Hieronymus übertreibt wohl, wenn er schreibt, welche
Drangsale des ehelichen Standes hast du nicht in demselben
erfahren. ) Aber ein anderes Mal sagt er dagegen, wenn dein
Ehemann auch noch so liebenswürdig, noch so gut gewesen
wäre, der Tod hätte doch alles geraubt.') Kinderlos war
sie zurückgeblieben als einzige Erbin des großen Vermögens
ihres Gatten und ihres Vaters. Ihr Vater, ein Konsular und
Patrizier namens Laetus, ') obwohl Christ, drängte seine noch
jugendliche Tochter zur Ehe.') Er wollte einen Stammhalter
haben, dem er sein Vermögen vererben konnte. Da machte
sich die asketische Partei an die junge Witwe heran und be-
arbeitete sie mit allen Mitteln, um die adelige Römerin ihrem
Kreise anzugliedern und sich ihre Reichtümer zu sichern.
Auch Hieronymus wurde mobil gemacht und sollte durch eine
Epistel mit seiner gewandten Feder die Schwankende gewinnen.
Er wußte wohl, dal^ er damit einen gewaltigen Sturm der Gegner
der Mönchspartei heraufbeschwören würde: „Es werden die
Vornehmen gegen meinen Brief sich erheben, die ganze
Patrizierschaar wird dagegen donnern, mich als Zauberer und
Verführer ausschreien, den man bis an die äußersten Enden
der Erde verbannen müsse". Aber in Bethlehem war er für
ihre Angriffe unerreichbar, hier konnte er seinen Mut am
Schreibtisch beweisen. Vorsichtig behandelte er den Vater,
der sich dem Entschlüsse Furias widersetzte: „Ich will ja doch
gewiß nicht die Tochter vom Vater trennen"; aber er fügt auch
hinzu: „Ehre deinen Vater, aber nur, wenn er dich vom wahren
') Ep. 54, 6, Vallarsi I, 283.
-') Ep. 123, 18: Furia, F'robi quondam consulis nurus, Vallarsi 1, 910.
') Ep. 54, 4, Vallarsi I, 281.
*) Ep. 54, 6, Vallarsi 1, 283.
^) Der Name Laetus darf vielleicht aus der Äußerung des Hieronymus
erschlossen werden ep. 54, 6; Vallarsi 1,283: pater tuus, quem ego honoris
causa nomino, non quia consularis et patricius; sed quia Christianus est,
impleat nomen suum. Laetetur filiam genuisse Christo, non saeculo.
«) Ep. 54, 6, Vallarsi 1, 283.
Wiederanknüpfung mit Rom. 181
Vater nicht lostrennt. Die Bande der Blutsverwandtschaft
sollst du so lange anerkennen, als diese ihren Schöpfer aner-
kennt. ') Der Vater wird sich betrüben, aber Christus wird
sich freuen, deine Familie wird traurig sein, aber die Engel
werden dich beglückwünschen; du gehörst nicht dem an, der
dich geboren, sondern dem, der dich wiedergeboren und mit
einem hohen Preis, mit seinem Blute wiedererkauft hat."'^) Aber
Hieronymus weiß auch, daß Priester und Mönche in Rom mit
dem Vater und der Familie im Bunde dem Entschluß der
Furia, sich dem Witwenstande zu weihen, entgegenarbeiten.
Noch hatte die strenge Mönchspartei, deren geistiger Führer
Hieronymus auch in Bethlehem blieb, nicht die unumschränkte
Herrschaft in Rom erlangt.') Er zieht deshalb alle Register,
um die vornehme Römerin in ihrem Entschlüsse zu bestärken.
Es sind kräftige Sprüchlein, die sich Hieronymus hier leistet.
Er warnt sie vor der zweiten Ehe: „Warum willst du wieder
aufnehmen, was dir schädlich war. Der Hund frißt wieder
sein Gespei und das Schwein wälzt sich wieder im Kote,')
Das vernunftlose Vieh und die frei umherschweifenden Vögel
fallen nicht wieder in dieselben Fußangeln und Netze." ) Buße
soll sie tun für ihre Ehe. Sie trägt die Erinnerung an die
genossene Lustbefriedigung in sich, sie weiß es, was sie ver-
loren hat, und woran sie sich ergötzte. Diese brennenden
Pfeile des Teufels müssen nun mit Fasten und Nachtwachen
ausgelöscht werden. °) Die Keuschheit kann sie sich aber nur
erhalten, wenn sie alle Speisen meidet, die die Lüsternheit
wecken. Schon der heidnische Arzt Galen warnt in seiner
Schrift über die Gesundheit die Männer und Frauen im jugend-
lichen Alter vor üppiger Kost. Der alte Fanatiker der Askese,
Hieronymus, scheut vor keiner Schamlosigkeit zurück: „Nichts
setzt den Leib so in Flammen und reizt die Schamteile wie
unverdaute Speisen und krampfhaftes Aufstoßen. Ich will
>) Ep. 54, 9, Vallarsi I, 281.
'') Ep. 54, 4, Vallarsi I, 282.
4 Ep. 54, 5, Vallarsi I, 283.
*) 2. Petr. 2, 22.
^) Ep. 54, 3, Vallarsi I, 281.
'•) Ep. 54, 7, Vallarsi 1, 284.
182 Wiederanknüpfung mit Rom.
doch lieber bei dir, meine Tochter, bezüglich der Anständigkeit
des Ausdrucks ein wenig Gefahr laufen, als die Sache in
Gefahr bringen." Neben dem Fasten soll sie dem Gebet und
der Lektüre der heiligen Schriften obliegen. Er verweist sie
als geistlicher Berater, dem sie sich anvertrauen kann, auf den
heiligen Exuperius. Es ist derselbe Mann, der uns später als
Bischof von Toulouse wieder begegnet und mit dem Hiero-
nymus auch später noch in Verbindung steht.') Dann folgen
die üblichen Ermahnungen zur Wohltätigkeit, die Warnungen
vor dem Umgang mit jungen Männern, in den Dienst der
christlichen Liebestätigkeit soll sie ihren Reichtum stellen:
„Kaufe Jungfrauen los, nimm Witwen auf.'") Mit raffinierter
Kunst stellt er ihr alle die unangenehmen Folgen vor Augen,
die eine zweite Heirat mit sich bringen kann. In der Regel
will der zweite Mann nur ihr Vermögen; er wird das Andenken
an den ersten Gatten entehren, und wenn er bereits verheiratet
gewesen ist und Kinder hat, die er in die Ehe mitbringt, so wirst
du als böse Stiefmutter verdächtigt werden. Alle die Nacht-
bilder aus den verwüsteten Ehen in diesem Zeitalter tiefster
sittlicher Decadence führt er ihr vor die Seele: „Wenn der
Stiefsohn krank wird und der Kopf ihm tut weh, so wirst du
als Giftmischerin verschrieen." Was sind dagegen die heiligen
Witwen Hanna, die Witwe von Sarepta, Judith, Noemi. Und
wirkungsvoll preist er zum Schluß das lebendige Beispiel seiner
römischen Freundin Marcella, die nur sieben Monate verheiratet
gewesen und das Muster einer christlichen Witwe sei. „Denke
täglich an den Tod, und du wirst niemals an eine zweite Ehe
mehr denken." Was in seinen Kräften stand, hatte Hieronymus
getan, und er konnte sich schmeicheln, wieder eine vornehme
Römerin dem Rachen des Satan entrissen und in die sichere
Scheuer der asketischen Heiligen gesammelt zu haben.')
') Ep. 123, c. 16 ad Ageriichiam; Praef. zum Kommentar des Saciiarja.
Die Möglichkeit, daß Furia etwa in Gallien und nicht in Rom zu suchen
sei, besteht nicht (gegen Zöckler, S. 222, Anm. 2), da Rom deutlich als
ihr Aufenthaltsort bezeichnet ist, ep. 54, 18 und ep. 54, 13.
^) Ep. 54, 14, Vallarsi 1, 289.
') Aus ep. 123, 18, Vallarsi I, 910 können wir entnehmen, daß Furia
Witwe blieb.
Wiederanknüpfung mit Rom. 183
Während wir aber später von Furia nichts mehr hören,
trat Fabiola in noch innigere Beziehungen zu Hieronymus und
kam sogar zum Besuch nach Bethlehem, Sie muß erst einige
Jahre nach seinem Weggang von Rom den Entschluß gefaßt
haben, Nonne zu werden, da wir in seiner römischen Zeit
noch nichts von ihr hörten. So begann der Same, den
Hieronymus einst ausgestreut hatte, jetzt seine Früchte zu
tragen. Ein bewegtes Leben lag bereits hinter Fabiola. Sie
war, wie Hieronymus sagt, unter die Räuber gefallen, aber
auf Christi Schultern heimgetragen worden. Wo die Sünde
überflüssig geworden war, war die Gnade noch überflüssiger
geworden. Es bewährte sich an ihr das Schriftwort, daß,
wem mehr verziehen, mehr liebt.') Hieronymus ist nicht blind
für die Gefahren solcher plötzlichen Bekehrungen. Leicht
konnte an die Stelle des früheren Kokettierens mit seidenen
Kleidern, Gold und Edelsteinen ein Kokettieren mit Bußkleidern
treten : Nach Wegwerfung der ersteren tun wir uns bisweilen
auf unsere ruhmbringenden Bußkleider etwas zugute und
erkaufen uns mit unserer Armut die Volksgunst.') Eine ge-
borene Herrscherklasse, wie der römische Hochadel, wußte
die Sympathien der Plebs, die er früher durch seinen Luxus
an sich gefesselt hatte, jetzt durch heroische Wohltätigkeit
zu erwerben. Die Türen, welche früher Schwärme von Visiten-
machern ausgespieen hatten, sind jetzt von Elenden belagert.^)
Es steckte in diesen Römern und Römerinnen trotz aller
Decadence eine nicht gering einzuschätzende Energie, und sie
äußerte sich jetzt in dem schroffen Bruch mit dem früheren
Sinnenleben, das sie geführt hatten. Fabiola war in erster
Ehe mit einem Wollüstling verheiratet gewesen, dessen
Laster nicht einmal eine Dirne oder Sklavin ertragen konnte.
Sie hatte sich von diesem widerlichen Lump nach den
römischen Gesetzen scheiden lassen: „Anders sind freilich
die Gesetze der Kaiser, anders das Gesetz Christi, etwas
anderes schreibt Papinian, etwas anderes Paulus vor.'") Ent-
') Ep. 77, 12, Vallarsi I, 463.
-) Ep. 77, 2, Vallarsi I, 454.
^) Ep. 66, 5, Vallarsi I, 394.
*) Ep. 77, 3, Vallarsi I, 455.
184 Wiederanknüpfung mit Rom.
gegen den kirchlichen Gesetzen war sie nicht unverheiratet
geblieben, sondern hatte noch zu Lebzeiten des ersten Mannes
einen Mann geheiratet, mit dem sie in glücklicher Ehe lebte.
Dann war ihr zweiter Mann gestorben, und nun tat sie einen
Schritt, der so recht geeignet war, den weitesten Kreisen
Bewunderung abzunötigen. Am Tage vor dem Osterfest, mit
dem Bußsack bekleidet, erschien sie in der Lateranbasilika und
tat öffentlich — es war dies schon damals nicht mehr die
Sitte der Kirche — Buße vor dem römischen Bischof, den
Priestern und dem ganzen Volke, in der ihm eigenen plastisch-
rhetorischen Weise beschreibt uns Hieronymus den Eindruck,
den die edle Römerin auf das Volk machte, als sie mit auf-
gelöstem Haar, traurigem Antlitz, bußfertigen Händen und
demütigem Nacken in der Kirche erschien.') Das durch solchen
Heroismus leicht gerührte Volk weinte mit ihr. Nachdem sie
feierlich vor den Augen der ganzen Kirche in die Kirchen-
gemeinschaft aufgenommen worden war, begann sie nun ihren
unermeßlichen Reichtum ganz in den Dienst der Armen und
Kranken zu stellen. Sie errichtete ein großartiges Krankenhaus
in Rom und scheute sich nicht, selbst Hand anzulegen bei der
Pflege der Kranken: Wie oft hat sie von Aussatz und Gestank
ganz strotzende Kranke auf ihren eigenen Schultern selbst ins
Krankenhaus getragen, wie oft den schmierigen Eiter der
Wunden ausgewaschen, den manche andere kaum anblicken
konnten. Sie reichte ihnen die SiDcise mit eigener Hand und
erquickte ihren kaum noch lebendigen Leib mit belebenden
Tränken.') Eine solche Wollust der Askese, die der verzärtelten
Römerin die Kraft gab, ihren Ekel zu überwinden, mußte einer
verkommenen Gesellschaft imponieren. Priester, Mönche und
Jungfrauen unterstützte sie in freigebigster Weise, und weit über
die Grenzen Roms sandte sie den italienischen Mönchs-
genossenschaften reiche Spenden zu. Ihr ruheloser Eifer ließ
sie auch eine Wallfahrt nach Jerusalem unternehmen. Hier
weilte sie im Pilgerhaus des Klosters der Paula, und hier lernte
sie Hieronymus persönlich kennen. Mit glühendem Eifer
') Ep. 77, 4, Vallarsi I, 456.
-) Ep. 77, 6, Vallarsi I, 45S.
Wiederanknüpfung mit Rom. 185
forschte sie in der Schrift und bestürmte Hieronymus in den
Bibelstunden des Klosters mit allerlei Fragen: „Aber sie tat sich
in ihrer Lernbegierde nie genug, sondern je mehr sie in der
Erkenntnis zunahm, desto mehr vermehrte sich bei ihr der
schmerzliche Hunger, und als ob sie Öl ins Feuer gösse, ver-
größerte sich ihr heiliger Liebeseifer."') Fabiola hatte sogar die
Absicht, sich dauernd im heiligen Lande niederzulassen, aber der
Hunneneinfall im Jahre 3Q5 — der Praefectus praetorio Ruffinus
hatte die Hunnen, um sich in seiner Macht zu erhalten, herbei-
gerufen, war aber von dem Goten Gainas getötet worden — ver-
trieb Fabiola von den heiligen Stätten.) Da Kaiser Theodosius im
Krieg mit Arbogast alle verfügbaren Legionen des Orients nach
Italien geführt hatte, war der Orient den wilden Schwärmen
des raschen Reitervolkes fast wehrlos ausgeliefert. Welches
Entsetzen sie erregten, prägt sich in dem einen Wort des
Hieronymus aus: Möge Jesus solche Völker vom römischen
Reiche fernhalten, die schlimmer als Bestien sind. Hieronymus
und Paula waren mit ihren Mönchen und Nonnen ans Meer
geflohen und hatten dort eine Zeit lang am Meeresstrande ihre
Wohnung aufgeschlagen, immer Schiffe bereithaltend, um bei
herannahender Gefahr sogleich zur See gehen zu können.
Fabiola hatte es bei der Unsicherheit aller Verhältnisse vor-
gezogen, nach Rom zurückzukehren. Herzlich gern hätte
Hieronymus die reiche, ihm so ergebene Römerin in Bethlehem
zurückgehalten, zumal da die finanzielle Lage der Klöster bedenk-
lich zu werden anfing, weil die Mittel der Paula versiegten.
Noch in dem Nekrolog der Fabiola schreibt er: „Wir bedauern
dabei nur, daß wir diesen höchst kostbaren Schmuck für die
heiligen Stätten verloren haben. Rom empfing zurück, was es
verloren, und das voreilige böse Gerede der Heiden ist durch
eigenen Augenschein widerlegt." ^) Man hatte in Rom Hiero-
nymus gewiß nicht mit Unrecht in Verdacht gehabt, daß er
die reiche Römerin ebenso wie Paula für seine Klöster gewinnen
wollte. Fabiola hatte aber gewiß nicht nur wegen der Hunnen-
gefahr Bethlehem den Rücken gekehrt, sondern der damals
') Ep. 77, 7, Vallarsi I, 459.
2) Philostorgius, bist. eccl. XI, 3; Claudian in Ruff. lib. 11, 400.
3) Ep. 77, 9, Vallarsi 1, 461.
186 Wiederanknüpfung mit Rom.
beginnende Zank und die Reibereien des Hieronymus mit dem
Bischof Johannes von Jerusalem hatten sie verstimmt. Hiero-
nymus deutet dies nur zart an: „Es herrschte damals unter
uns eine gewisse Uneinigkeit, und die häuslichen Kriege waren
wohl schlimmer als die Kämpfe mit den Barbaren."
Nach ihrer Heimkehr nach Rom blieb sie aber mit
Hieronymus im brieflichen Verkehr. Sie hatte ihn gebeten,
ihr über das Priestertum des Aaron und über die priesterliche
Kleidung zu schreiben,') und er kam diesem Wunsch nach
und tat noch ein übriges, indem er in dem exegetischen
Sendschreiben auch von den Opfern, den Speisen der Priester
und den Gefäßen der Stiftshütte handelte. Durch allegorische
Erklärung verstand es Hieronymus, den trockenen statutarischen
Bestimmungen des Leviticus und Exodus einen wunderbaren
erbaulichen Tiefsinn zu entlocken. Wenn z. B. verordnet wird,
daß die Priester die Brust und die Arme des Opferstieres
erhalten sollen, so bedeutet die Brust reine Gedanken und die
Arme gute Werke. Wenn der Priester keine körperlichen
Fehler haben darf, so sind damit die Laster der Seele gemeint,
die er fliehen muß.') Dann gibt er seiner Freundin eine
allegorische Erklärung der Stiftshütte mit den heiligen Geräten.
Die ganze Welt wird unter dem Geheimnis der Stiftshütte
beschrieben.') Vorhof und Heiliges stehen allen offen, es
bedeutet, daß Erde und Wasser allen Sterblichen gegeben sind;
das Allerheiligste bedeutet den Himmel, in den nur wenige
eintreten dürfen.
Erst nach dieser langen Einleitung wendet er sich der
ihm gestellten Aufgabe, die priesterliche Kleidung zu er-
klären, zu. Hier erörtert er zunächst den Wortsinn nach
der jüdischen Auslegung. Vier Kleidungsstücke tragen alle
Priester: die Binde um die Oberschenkel, die leinene Tunika,
den Gürtel und die Mütze. Um Fabiola ein deutliches Bild
der jüdischen Priesterkleidung zu geben, zieht er Josephus bei
und weist für die eigentümliche Kopfbedeckung der Priester
auf die Kappe des Odysseus, mit der dieser auf den Gemälden
') Ep. 64, 8, Vallarsi I, 357.
0 Ep. 64, 2, Vallarsi I, 354.
^) Ep. 64, 9, Vallarsi i, 358.
Wiederankniipfung mit Rom. 187
dargestellt zu werden pflegt. Dann behandelt er die vier
Kleidungsstücke, die nur der Hohepriester tragen durfte: die
Mail, ein talarartiges Gewand, das Ephod, das mit zwei Steinen
auf jeder Schulter befestigt war, worüber er bereits früher in
einem Brief an Marcella ausführlich gehandelt hatte,') das Brust-
schild (rationale) mit zwölf Edelsteinen von wunderbarer Größe,
und endlich die goldene Stirnbinde, auf der sich der hebräische
Gottesname, das Tetragrammaton, befindet. Nachdem er der
Fabiola zunächst im Anschluß an seine jüdischen Autoritäten
Stück für Stück der priesterlichen Kleidung erklärt hat, beginnt
er die Segel des geistlichen Verständnisses auszuspannen.')
Hier erfahren nun alle Einzelheiten der priesterlichen und
hohepriesterlichen Kleidung ihre allegorische Ausdeutung, oft
gibt er auch mehrere allegorische Deutungen. So können
z. B. die beiden Steine, an denen das Ephod befestigt ist, auf
Christus und die Kirche oder auf Buchstabe und Geist, wobei
dann der rechte Stein den Geist, der linke den Buchstaben
bezeichnet, gedeutet werden. Für die zwölf Steine des hohe-
priesterlichen Schildes verweist er Fabiola auf das aus-
gezeichnete Werk des Bischofs Epiphanius jTi:ol rör öcoöena
Äiöo)}'. dem er schon vorher nach seiner beliebten Art einen Satz
wörtlich entlehnt hatte, um mit Kenntnissen zu prunken, die
er nicht besaß.) Den Schluß des exegetischen Sendschreibens —
wo dürfte dies in einem Briefe des Hieronymus fehlen - bildet
ein Hymnus auf die Keuschheit und ein Appell an Fabiola, sich
ihr zu weihen. Den Anlaß dazu entnimmt er dem Fehlen der
feminalia unter den priesterlichen Kleidungsstücken im Leviticus,
Damit will Moses die Keuschheit, denn dies bedeuten die
feminalia, nicht zum Gebot machen, sondern als freiwillige
Leistung des einzelnen anstellen. In einer Nacht, als schon das
Tau des Schiffes vom Strande gelöst worden war und die Schiffer
') Ep. 39, Vallarsi I, 137 ff., de Ephod et Theraphim s. Bd. I, 233.
-') Ep. 64, 19, Vallarsi I, 364.
ä) Bereits Vallarsi I, 363, Anm. b, hat darauf hingewiesen, daß
Hieronymus einen Satz ep. 64, 17 über den Edelstein Ligurius wörtlich
aus Epiphanius abgeschrieben hat, ohne auch nur seine Quelle anzudeuten :
Scrutans eos, qui de lapidum atque gemmarum scripsere naturis, liguriuni
invenire non potui.
188 Wiederanknüpfung mit Rom.
zur Abfahrt riefen, will er in aller Eile das Schreiben aus dem,
was er im Gedächtnis hatte, diktiert haben. Dies ist natürlich
pure Aufschneiderei, die nur dazu dienen soll, um der Fabiola
noch mehr zu imponieren, wenn er diese Arbeit als improvi-
sierte hinstellte. Mit einem von Demut triefenden Schlußwort,
das gewiß nicht zu ernst zu nehmen ist, bittet er Fabiola,
falls sie in der großen Stadt Rom ein Buch, das Tertullian
über die Kleider Aarons geschrieben haben soll, er aber nicht
besitze,') in die Hände bekäme, doch nicht seinen Tropfen
mit jenem Strome zu vergleichen. Vielleicht mit einer nicht voli-
bewußten Selbsterkenntnis schätzt er seine Leistungen durch-
aus zutreffend ein, wenn er schreibt: Ich bin nicht nach dem
Genie großer Männer, sondern nach meinen Kräften zu
beurteilen. Hieronymus hatte mit seinem Briefe die Absicht
verfolgt, Fabiola wenn möglich zur Rückkehr nach Bethlehem
zu bewegen. „Du genießest die erwünschte Ruhe, aber in
Babylon seufzest du vielleicht nach den bethlehemitischen Fluren.
Wir in Ephrata, nachdem endlich der Friede wiederhergestellt
ist, hören das in der Krippe wimmernde Kind und wünschen,
daß seine Klagen und Laute an dein Ohr dringen.'") Aber
Fabiola folgte diesem Lockruf nicht; sie hatte sich mit
Pammachius zu großartiger gemeinsamer Wirksamkeit im Dienst
der christlichen Liebestätigkeit in Rom zusammengetan.
[^ammachius hatte 395 seine Gattin Paulina, die zweite
Tochter der Paula, verloren. Er hatte in glücklicher, aber
kinderloser Ehe mit seiner Gattin, von deren Charakter wir
aus dem Nekrolog des Hieronymus nur ein blasses Bild
gewinnen,') gelebt. Schon im Streit mit Jovinian hatte der
Schwiegersohn der Paula die Sache der Mönchspartei geführt;
nach dem Tode seiner Gattin hatte Pammachius, der, ein
Urenkel von Konsuln, dem edlen Geschlechte der Furier
angehörte, das Purpurgewand der Senatoren mit der dunklen
Tunika der Mönche vertauscht. Hieronymus weiß diese bedeut-
same Hinwendung eines so angesehenen und beredten Mannes
') s. über die für uns vollständig verlorene und nur dem Titel nach
bekannte Schrift Harnack, Altchristliche Literaturgeschichte II, 672.
*) Ep. 64, 8, Vallarsi I, 358.
») Ep. 66, Vallarsi I, 3Q1 ff.
Wiederankniipfung mit Rom. 189
zur Sache des Mönchtums nicht genug zu preisen. Das Beispiel
des Pammachius war auch nicht wiri<ungslos geblieben; bereits
in dem 3Q7 geschriebenen Nekrolog der Paulina kann es Hiero-
nymus triumphierend der Welt verkünden: „In unseren Tagen
besitzt Rom, was die Welt vordem noch nicht gesehen hat.
Damals waren die Weisen, die Mächtigen, die Adligen unter den
Christen selten; jetzt gibt es viele Mönche, welche reich, von
angesehenem und adligem Geschlecht sind." Nach dem Tode
seiner Gattin hatte Pammachius sein großes Vermögen ganz
den Werken der Armen- und Krankenpflege geweiht: Andere
Ehemänner streuen Veilchen, Rosen, Lilien und Purpurblüten
auf die Gräber ihrer Gattinnen und trösten sich in dem
Schmerze ihrer Brust mit solchen Aufmerksamkeiten. Unser
Pammachius befeuchtet die heilige Asche und die ehrwürdigen
Gebeine mit dem Balsam der Almosen."^) Mit Fabiola
zusammen errichtete Pammachius im römischen Hafen ein
Pilgerhaus:-) Es wetteiferten miteinander dieser Mann und
diese Frau, wer im römischen Hafen Abrahams Zelle auf-
schlagen würde, und es erhob sich unter beiden ein Streit,
welcher den andern an Nächstenliebe übertreffen würde. Es
siegten aber beide und wurden besiegt. Beide bekennen sich
als Sieger und besiegt, da, was einer wollte, beide voll-
brachten. Mit gemeinsamen Mitteln errichteten sie eine
Herberge. Die römischen Reisenden, die eine Seereise unter-
nahmen, fanden dort zuvor Erquickung, und aus allen Teilen
der Welt stiegen Arme und Reiche dort ab. In demselben
Sommer lernte Britannien kennen, was der Ägypter und Parther
bereits im Frühjahr kennen gelernt hatte. ') In einer Beziehung
blieb aber Pammachius trotz seines Mönchtums Aristokrat;
während Fabiola selbst mit Hand anlegte, stellte Pammachius
sein Vermögen, aber nicht seine Person in den Dienst der
christlichen Liebestätigkeit, so daß Hieronymus ihn ermahnte:
„Ich bitte dich, geliebtester Bruder, mit der ganzen Innigkeit
meiner Liebe, nicht bloß dein Vermögen, sondern auch dich
selbst Christo zum Opfer darzubringen. Wenn wir unsere
') Ep. 66, 5, Vallarsi I, 394.
2) Ep. 66, 11, Vallarsi I, 399; ep. 77, 10, Vallarsi I, 461.
3) Ep. 77, 10, Vallarsi I, 461.
190 Wiederanknüpfung mit Rom.
Schätze zugleich mit unserer Seele Christi zum Opfer bringen,
so wird er sie wohlgefällig und freudig annehmen. Wenn
wir aber bloß das Äußerliche Gott, das Innere aber dem Teufel
geben, so ist das keine gerechte Teilung, und es trifft uns das
Wort: Hast du nicht gesündigt, weil du recht opferst, aber
nicht recht teilest?"^)
Fabiola starb bereits 399, ehe die Wogen des Origenistischen
Streits in Rom hoch zu gehen begannen. Ihr Leichenbegängnis
gestaltete sich zu einer glänzenden Feier. „So hat nicht Purins
über die Gallier, nicht Papirius über die Samniter, nicht Scipio
über Numantia, nicht Pompejus über die Pontier triumphiert."
Haufenweise strömte die Menge zu ihrem Leichenbegängnis
herbei. Nicht die Straßen, nicht die Säulenhallen, noch die
Dächer vermochten die Zuschauer zu fassen. Ganz Rom trauerte
und freute sich über die glorreiche Verklärung der Büßerin.
In Bethlehem hatte Fabiola einst mit Hieronymus das
Buch Numeri gelesen und ihn gebeten, ihr in einem eignen
Werk das Verzeichnis der Lagerstätten, an denen das Volk
Israel vom Auszuge aus Ägypten beim Zug durch die Wüste
bis zum Jordanflusse rastete, zu erklären. Er hatte die Arbeit
immer hinausgeschoben; jetzt widmete er sie dem Gedächtnis
der verstorbenen Freundin und sandte sie) an ihren Ver-
wandten Oceanus nebst dem Nekrolog auf Fabiola, damit sie
sich freue durch die Wüste dieser Welt endlich einmal in das
Land der Verheißung gelangt zu sein.') Es ist ein charakte-
ristisches Produkt seiner Feder, diese allegorische Erklärung
der Namen der 42 Lagerstätten der Israeliten.') Das Recht
zur allegorischen Erklärung entnimmt er Paulus, der 1. Kor. 10, 1 1
einen Teil des Zuges der Kinder Israel durch die Wüste
allegorisch deutete. Wenn die Juden das Alte Testament
wörtlich verstehen, so sollen wir Capharnaum verlassen, den
einst schönen Acker, und mit Jesus in die Wüste hinaus-
ziehen und sein Brot essen. )
') Gen. 4, 7 nach den LXX.
'■') Ep. 77, 7, Vallarsi I, 459.
') Ep. 77, 7, Vallarsi I, 459.
•*) Ep. 78, Vallarsi I, 463 ff.
^) Ep. 78, 1 Praefatio, Vallarsi i, 464.
Wiederanknüpfung mit Rom. IQl
Es sind 42 Lagerstätten in Numeri 33, wie es nach
Matthäus 42 Generationen von Abraham auf Christus sind.
Durch 42 Stationen läuft der wahre Hebräer, welcher von
der Erde zum Himmel eilt, und betritt das Land der
Verheißung, nachdem er das Ägypten der Welt verlassen
hat. Wie Christus, unser Herr und Heiland, in 42 Gene-
rationen vom ersten Patriarchen bis zur Jungfrau erschien,
so gelangen wir durch 42 Stationen zum Himmelreich. Mit
großem Geschick versteht es Hieronymus, der Deutung der
hebräischen Namen, die zum Teil unglaublich willkürlich ist,
aber seinen Zeitgenossen doch gewaltig imponieren mußte,
da ihn keiner kontrollieren konnte, einen erbaulichen Sinn
unterzulegen. Er kann es dabei nicht unterlassen mit seinem
Wissen zu renommieren und hochmütig über einige kirchliche
Männer abzuurteilen, die, da die griechischen und lateinischen
Codices vielfach in den Namen verderbt sind, oft das, was
im Hebräischen gar nicht enthalten ist, übersetzen und daran
erdichtete Erklärungen knüpfen.') Da er aber selbst die in
seinem Buch der hebräischen Ortsnamen gegebene Ver-
dolmetschung der Namen einer Korrektur unterzieht und häufig
durch eine andere ersetzt, so mußte doch für einen kritischen
und nachdenklichen Leser, wenn er auch keine Kenntnis des
Hebräischen besaß, das Zutrauen zu dem Wissen des Hierony-
mus erschüttert werden. Aber solche waren nicht allzu zahl-
reich, und da sie nichts besseres an die Stelle zu setzen wußten,
mußten sie wohl oder übel schweigen. Das ganze Büchlein
übt auf den Leser eine tiefgehende Wirkung, weil der Grund-
gedanke, das Christenleben, ein Pilgerlauf durch die Wüste
dieser Welt nach der ewigen Heimat, mit Energie festgehalten
ist. Es ist dies ja ein in der christlich erbaulichen Literatur
aller Zeiten häufig wiederkehrender Gedanke; aber die Aus-
führung, die ihm Hieronymus hier gibt, ist besonders anziehend.
Der Pilgerlauf des Christen führt ihn bald auf die Höhen der
Gottesgemeinschaft, bald in die Tiefen der Versuchung, bis er
am Ende seines Lebens wie Moses das gelobte Land schaut
und, wenn er die alten Sünden beweint hat, unter der Führung
') Ep. 78, mansio 9, Vallarsi I, 472.
192 Wiederanknüpfung mit Rom.
Jesu den Jordan überschreitet und das wahre Passah nicht in
Ägypten, sondern im Heiligen Lande ißt.
An Oceanus, dem er dieses Büchlein zugesandt hatte,
hatte Hieronymus neben Pammachius den einflußreichsten
Freund in Rom. Verwandt mit Fabiola gehörte auch er den
ersten Geschlechtern Roms an. Es war deshalb für Hierony-
mus überaus schmeichelhaft, als dieser in den kirchlichen
Kreisen Roms bestimmende Mann ihn um ein kirchenrecht-
liches Gutachten anging.') Es handelte sich um die Frage,
ob ein Priester, der vor seiner Taufe schon verheiratet gewesen
war und dann nach der Taufe ein zweites Mal geheiratet
hatte, als Doppeltverheirateter zu gelten habe und deshalb
nicht zum Bischof ordiniert werden dürfe. Der Fall war jüngst
in Spanien vorgekommen. Craterius, ein schon bejahrter Mann,
der lange Zeit Priester gewesen war, war zum Bischof ordiniert
worden. Wir wissen nicht, warum man plötzlich gegen den
alten Mann vorgehen wollte; aber daß gerade ein Führer der
Mönchspartei, wie Oceanus, den Zweifel an der Rechtmäßigkeit
dieser Ordination zum Bischof erhob, zeigt doch, daß es
im Zuge der Zeit lag, immer schärfere Forderungen betreff
der geschlechtlichen Enthaltsamkeit an die Träger des Episkopats
zu stellen. Von diesem Gesichtspunkt aus läßt es sich begreifen,
daß man an der Entscheidung des kasuistischen Falls aufs
lebhafteste interessiert war. So ging Oceanus nicht nur in
eigenem Namen, sondern im Auftrage der römischen Mönchs-
partei,) die mit Hieronymus jetzt wieder in steter Verbindung
stand, das Bethlehemitische Orakel an, sich über diese Frage
auszusprechen. Man hatte gewiß gehofft, daß Hieronymus
eine solche Ordination eines Digamus zum Bischof aufs
schärfste verurteilen würde, aber nun trat das Gegenteil ein.
Hieronymus erklärte sich wunderlicherweise in einem aus-
führlichen Schreiben für die Rechtmäßigkeit der Ordination
des zweimal verheirateten Bischofs.')
Zunächst behauptet er, daß solche Ordinationen nichts
Seltenes wären: „Wenn ich solche Bischöfe einzeln nennen
') Ep. 69, 5, Vallarsi I, 409.
2) Contra Riifin. I, 32, Vallarsi II, 488.
=•) Ep. 69, Vallarsi 1, 409 ff.
Wiederanknüpfung mit Rom. 193
wollte, so würde ihre Zahl die Teilnehmer der Synode vom
Rimini, d. h. also 300 übersteigen." Dies ist gewiß eine starke
Übertreibung; in seiner Streitschrift gegen Rufin') weiß er nur
von einigen solchen Bischöfen zu melden. Seine merkwürdige
Stellungnahme begründet Hieronymus damit, daß die Taufe
den Menschen ganz neu mache; und deshalb auch die vor
der Taufe geschlossene Ehe den Klerikern nicht angerechnet
werden dürfe. Wenn also Paulus 1. Tim. 3, Iff. und Tit. 1, 5ff.
vom Bischof oder Presbyter — denn beide waren ursprünglich
identisch, wie er immer geflissentlich hervorhebt,") da er es
doch nur bis zum Presbyter gebracht hat — fordere, daß er
als eines Weibes Mann ordiniert werden dürfe, so dürfe nur
die nach der Taufe geschlossene Ehe in Anrechnung gebracht
werden. Wenn durch die Taufe alle Hurerei, Gottlosigkeit,
Vatermord, Inzest und widernatürliche Unzucht abgewaschen
wird, so sollte allein der Makel einer vor der Taufe geschlossenen
Ehe nicht getilgt werden? Mit dialektischer Kunst sucht er
die gegnerische These ad absurdum zu führen: „Wenn alles
durch die Taufe erlassen wird, nur nicht eine vorher geschlossene
Ehe, dann dürfen die Katechumenen Hurerei treiben, nach der
Sitte der Schotten oder Attikoten Weibergemeinschaft haben,
aber nur vor einem Eheschluß vor der Taufe müssen sie sich
hüten." Er erörtert dann noch die Möglichkeit anderer Aus-
legungen des Apostelwortes: „Ein Bischof sei eines Weibes
Mann." Man könnte es gegen die bei den Juden erlaubte
Polygamie gerichtet sein lassen oder unter dem Weibe die
Kirche verstehen oder die Translation eines Bischofs von einer
Kirche zur andern dadurch verboten sehen ;^) aber diese Aus-
legungen sind doch künstlich und gezwungen. Um seine
Entscheidung in dieser Frage als die richtige zu erweisen,
') Contra Rufin. 1, 32, Vallarsi II, 488.
'^) s. den Tituskommentar Bd. II, § 29; ep. 146 ad Evangelum,
Vallarsi I, 1078.
^) Hieronymus beruft sich dafür ep. 69, 5, Vallarsi I, 415 auf die
Nicänische Synode. Vallarsi I, 415 Anm. a hat gemeint, daß er hier einen
Sardicensischen Kanon als Nicänischen zitiert habe, wahrscheinlich hat er
aber doch c. 15 der Synode von Nicäa im Auge gehabt: „söo^e, oJöre
änd nÖÄSOic. el^ noÄtv /n) ueraßaiveiv /.Dtre imiOKonof, /<//re jrgeoßvzeQOv,
/i)jTe biäuovov."
Grützmacher, Hieronymus. II. 13
1Q4 Wiederanknüpfung mit Rom.
weist er auf einen praktischen Fall hin, wie er sich bei den
traurigen sozialen Verhältnissen häufig ereignen konnte. Viele
heirateten wegen zu großer Armut nicht, sondern nahmen
ihre Mägde zu Gattinnen und betrachteten die mit ihnen er-
zeugten Kinder als ihre legitimen. Soll nun ein solcher, der
nur seine Ehe nicht in die Eheregister hat eintragen lassen,
als unverheiratet gelten? Dies wäre doch ganz absurd. Zum
Schluß ergeht sich Hieronymus noch in einer ausführlichen
Besprechung der übrigen Eigenschaften, die der Apostel vom
Bischof verlange, außer daß er monogam sei. Die Einleitung,
die er dieser Erörterung voranschickt: „Niemand möge glauben,
daß ich, was ich geschrieben habe, nicht um die Priester
meiner Zeit herabzusetzen, sondern zum Nutzen der Kirche
geschrieben habe", läßt auf irgend welche Hintergedanken bei
ihm schließen. Wenn er sich entschuldigt, klagt er sich in
der Regel an. Er hat hier gewiß ganz bestimmte Persönlich-
keiten seiner Zeit im Auge, die er nur nicht öffentlich anzu-
greifen wagte. Und wenn er besonders gründlich die Forderung
des Apostels behandelt, daß der Bischof kein Neophyt sein
dürfe: „Gestern Katechumene, heute Bischof, gestern im
Amphitheater, heute in der Kirche, am Abend im Zirkus, heute
am Altar, früher der Protektor der Schauspieler, heute der
Konsekrator der Jungfrauen," so ist vermutlich kein anderer als
Ambrosius gemeint, den er mit inbrünstigem Haß verfolgte.
Ambrosius hatte in der Frage über die Ordination eines zwei-
mal verheirateten Bischofs den gegnerischen Standpunkt ver-
treten'), und der Freund des Hieronymus Oceanus hatte sich
diesen zunächst zu eigen gemacht, aber doch noch ein Gut-
achten des Hieronymus eingeholt. Dies mochte Hieronymus
besonders gereizt haben. Aber auch Papst Siricius, der ja
Hieronymus ebenfalls nicht besonders zugetan gewesen zu sein
scheint, hatte in einem Dekret bestimmt, daß nur der als
Kandidat für den geistlichen Stand zugelassen werden und die
Lektoren- und Exorzistenweihe erhalten dürfe, der vor der Taufe
nur eine Frau gehabt habe.) Diese Stellungnahme seiner persön-
') De officiis lib. I, 50. s. oben S. 4S.
*) ep. ad Himeriuni Tarracon. episcopum c. 10 u. 11, Hardouin,
Collect. Concil. I, 847 vom 11. Febr. 3S5, s. Zöckler, S. 198.
Wiederanknüpfung mit Rom. 195
liehen Gegner hatte vielleicht bei der sonderbaren Entscheidung
des Hieronymus mitgewirkt. Später zog er jedoch mildere Seiten
auf. In der Streitschrift gegen Rufin schreibt er:') „Wir ant-
worteten auf die Anfrage der Brüder, was uns richtig schien,
ohne aber jemand zu dieser Meinung zwingen oder ohne
die Dekrete eines andern durch unsere Meinung umstoßen
zu wollen." Aber nicht die Meinung des Hieronymus, son-
dern die des Ambrosius und Siricius trug den Sieg in der
Kirche davon, die autoritativen Führer Augustin,') die Päpste
Innocenz 1. und Leo der Große') traten ihr bei, und diese
Entscheidung lag auch in der Linie der fortschreitenden
Monachisierung des Klerus. Hieronymus hat dies gewiß
geschmerzt, daß er hier den kürzeren gezogen hatte; aber die
Freundschaft des Oceanus und Pammachius blieb ihm erhalten,
und diese sollte für ihn, als der Origenistische Streit vom
Orient in den Occident gespielt wurde, noch von großer
Bedeutung sein.
§ 38.
Der Jona= und Obadjakommentar.
Drei Jahre nach der Abfassung des Kommentars zu den
fünf kleinen Propheten Nahum, Micha, Zephanja, Haggai
und Habakuk schrieb Hieronymus die Kommentare zum Jona
und Obadja und setzte so die längere Zeit unterbrochene
Arbeit an dem Kommentar zum Zwölfprophetenbuch fort.
Der Jonakommentar, der seinem Gönner, dem Bischof
Chromatius von Aquileja gewidmet ist,') gehört nach Form
und Inhalt zu den besseren exegetischen Arbeiten des Hiero-
1) Contra Rufin. 1. I, 32, Vallarsi II, 4SS.
^) De bono conjugali c. 18 u. 21.
^) s. Vallarsi I, 409 Anm. b, auch über das erste Concil von Valence,
c. 1, vom Jahre 374.
*) Praef. in Jon., Vallarsi VI, 387 ff.
13'
196 Wiederankniipfung mit Rom.
nymus. Wußte er doch, daß der gelehrte Bischof, der auch
innig mit Rufin befreundet war, zu seinen anspruchsvollsten
Freunden gehörte, der sich nicht mit allzuleichter Ware
abspeisen ließ. Er sagt auch, daß er auf die Erklärung des
Jona, des Typus des Erlösers, der drei Tage und Nächte im
Leibe des Seetieres verweilte und die Auferstehung des Herrn
vorbildete, besonderen Eifer verwandt habe.')
Welche Kommentare er benutzt hat, verrät er nirgends.
Nur die abfällige Kritik über seine Vorgänger, wonach die
alten griechischen und lateinischen Kirchenväter über dieses
Buch viel Dunkles und Unbrauchbares geschrieben haben,')
beweist, daß ihm mehrere solche bekannt gewesen sein
müssen. Daß er in erster Linie wieder den Origeneskommentar
zum Zwölfprophetenbuch benutzt hat, läßt sich aus einer
Reihe Bemerkungen seines Kommentars noch deutlich erkennen.
Es ist dabei von Interesse, wieviel schärfer Hieronymus jetzt
gegen Origenes und seine Heterodoxien Stellung nimmt als
in den früheren Kommentaren, allerdings ohne ihn an irgend
einer Stelle namentlich zu nennen. Im Anschluß an Jon. 2, 7:
„Du wirst mein Leben vom Verderben befreien" hatte Origenes
sein beliebtes Theologumenon von der Vernichtung des Leibes
vorgetragen. Scharf bezeichnet Hieronymus diese Anschauung
als Ketzerei: „Wir wissen, daß der Leib, den Christus von der
unbefleckten Jungfrau angenommen hat, nicht eine Befleckung
Christi, sondern sein Tempel gewesen ist; und wirbehaupten, daß
derselbe Leib und dasselbe Fleisch auferstehe, das begraben und
in die Erde bestattet ist, daß er nur seine Herrlichkeit, aber nicht
seine Natur bei der Auferstehung verändere."') Origenes hatte
ferner Jon. 3, 6 unter dem König von Ninive, der Buße tut,
den Teufel verstanden, der am Ende des Weltlaufs, weil keine
vernünftige, von Gott geschaffene Kreatur zugrunde gehe, von
seinem Hochmut läßt, sich bekehrt und wieder in seinen
alten Platz eingesetzt wird. Mit bitterer Ironie weist Hiero-
nymus die Lehre von der Beseligung aller ab. Wenn diese
Lehre zu Recht besteht, welcher Unterschied ist dann zwischen
') Praef. in Jon., Vallarsi VI, 388.
») Praef. in Jon., Vallarsi Vi, 387.
") Jon, 2, 7, Vallarsi VI, 411.
Wiederanknüpfung mit Rom. 197
der Mutter Gottes und, was zu sagen ein Verbrechen, zwischen
den Dirnen, den Opfern der öffentlichen Lust, zwischen Gabriel
und dem Teufel, den Aposteln und den Dämonen. Schon
droht Hieronymus deutlich damit, daß er den Kampf gegen den
Origenismus aufnehmen werde; aber er findet es noch nicht
an der Zeit, gegen das perverse Dogma und die teuflische
Verkündigung derer, die sie in den Winkeln lehren, aber
öffentlich ableugnen, in die Schranken zu treten. Auch gegen
die subordinatianische Christologie des Origenes zieht Hiero-
nymus zu Felde. An die Stelle Jon. 4, 10: „Du empfindest
Schmerz über den Efeu, an dem du nicht gearbeitet und den
du nicht gemacht hast" hatte Origenes seine christologische
Spekulation angeknüpft. Unter der Voraussetzung, daß unter
Jonas Christus zu verstehen sei und mit Herbeiziehung von
Mark. 10, 18: „Was nennst du mich gut, niemand ist gut als
der einige Gott" hatte Origenes gefolgert, daß der Vater größer
sei als der Sohn, und der Sohn im Vergleich mit dem Vater,
dem einzig vollkommenen und wahrhaft guten Wesen, von
geringerer Vollkommenheit sei. Hieronymus beschuldigt
Origenes, daß er, ohne es zu wissen, der Häresie des Marcion
verfalle und bezeichnet bereits den einst so verehrten Meister
als den Vater des Erzketzers Arius.
Neben Origenes ist auch hier wie in den früheren alt-
testafnentlichen Kommentaren die jüdische Exegese seine Haupt-
quelle. Ihr entnimmt er die historische Exegese des Propheten.
Nach der Tradition der Hebräer ist der Verfasser des Buches der
Jona, der 2. Kön. 14, 25 als Sohn des Amathus aus Geth bei
Opher genannt wird. Er soll nach der Meinung der Juden
der Sohn der Witwe von Sarepta gewesen sein, den Elias von
den Toten erweckte. Sein Geburtsort Geth liegt zwei Meilen
von Saphorim, dem heutigen Diocaesarea, einem kleinen Dorf,
wo noch heute sein Grab gezeigt wird. Andere lassen ihn
fälschlich in Diospolis, dem alten Lydda, geboren und begraben
sein. Im Buch Tobiae wird er Kapitel 14, 5 erwähnt. Da
Ninive unter König Josia zur Zeit des Mederkönigs Astyages
zerstört wurde, so erkennen wir, daß die Niniviten zuerst auf
die Predigt des Jona Buße getan und Verzeihung erlangt
haben, aber später in ihre alten Laster verfallen sind und das
198 Wiederanknüpfiino- mit Rom.
Urteil Gottes gegen sich herbeigerufen haben. Was die Zeit
seiner Prophetie betrifft, so ist Jona ein Zeitgenosse des Hosea,
Arnos und Jesaia.') Von den Hebräern hat Hieronymus auch
die Deutung von Tharsis im Sinne von Meer, während Josephus
darunter fälschlich durch Veränderung des ersten Buchstabens
Tarsus in Cilicien, die Heimat des Paulus, verstanden habe.')
Aus jüdischer Quelle stammt seine Deutung des Namens Jona,
gleich die Taube oder der Trauernde. ) Von den Juden hat
Hieronymus auch erfahren, daß die Pflanze i'P'p, die in der sy-
rischen und punischen Sprache ciceia hieß,') ein in Palästina an
trockenen Stellen häufig wachsendes Staudengewächs sei, das
wunderbar schnell in wenigen Tagen aus dem Samenkorn
emporwächst und eine beträchtliche Höhe erreicht. Weil die
lateinische Sprache kein Wort für diese Pflanze besaß, und
er kein neues Wort zu bilden wagte, hat er im Anschluß an
die alten Übersetzer, die kiöoö^ haben, es nicht wie die LXX
und die altlateinische Bibelübersetzung mit Kürbis, sondern
mit Efeu übersetzt. Der römische Kritiker seiner Übersetzung,
vermutlich derselbe, den er mehrfach mit den verschiedensten
Schimpfworten traktierte, ) hatte ihn wegen dieser Änderung
des Sakrilegs angeklagt. Dieser Wallach, der aus dem alten
Geschlechte der Kornelier oder des Asinius Pollio stammen
will, fürchtete natürlich, wie Hieronymus mit verächtlichem
Spott sagt, daß, wenn statt Kürbis Efeu wüchse, er keinen
f^latz haben würde, wo er im Dunkel und Geheimen seine
Saufereien halten könne.") Hieronymus konnte damals noch
nicht ahnen, daß auch Augustin an derselben Änderung des
geheiligten Textes, die doch so harmloser Art war, ein schweres
Ärgernis nehmen und ihn deshalb zur Rede stellen würde.')
•) Praef. in Jon., Valiarsi VI, 390.
«) Jon. 1,1, Valiarsi VI, 393; ep. 37, 2 ad Marcellam, Valiarsi I, 170,
ad. Jes. 2, 14.
^) über nominum, Valiarsi III, 77.
*) Jon. 4, 6, Valiarsi VI, 425: pro Cucurbita, sive hedera in hebraea
legitur ciceia, quae etiam lingua syra et punica ciceia dicitur.
') s. § 33.
••■) Jon. 4, 6, Valiarsi VI, 425.
") Ep. 104 Auguslini ad Hieronynium c. 5; ep. 131 Augustini ad
Hieronymum c. 6 und Hieronymus ep. 112 ad Augustinum c. 22.
Wiederankniipfung mit Rom. 199
Der Kommentar ist wie bei den früheren kleinen Propheten
ein Doppelkommentar, d. h. Hieronymus berücksichtigt neben
seiner Übersetzung aus dem Hebräischen immer zugleich den
Text der LXX. Er merkt fast immer die Varianten beider
Texte an und versucht sie auch bisweilen zu erklären.') Zu
Jon. 3, 4 gesteht er keine Erklärung geben zu können, da nach
dem hebräischen Text Jona 40 Tage, nach den LXX nur drei
Tage Buße gepredigt habe, und diese verschiedene Lesart
unmöglich auf eine Wortverwechslung bei der völligen Ver-
schiedenheit beider Worte zurückgeführt werden könne. Daß
diese Variante sich vielleicht daraus erklärt, daß die Zeit von
40 Tagen, die, wie er selbst bemerkt, als typische Bußzeit galt,
für drei Tage eingesetzt worden ist und die LXX mithin den
ursprünglichen Text erhalten haben, darauf ist der sonst so
findige Exeget nicht verfallen.
Was die historische Exegese des Propheten Jona betrifft,
so ist die Geschichte des Propheten so klar und durchsichtig,
daß es hier kaum Schwierigkeiten zu überwinden gab. Die
Erklärung des Hieronymus wird deshalb auch fast überall dem
Wortsinn gerecht. Viel schwieriger mußte sich die allegorische
Exegese gestalten, die in dem Propheten einen Typus auf
Christus sah und seine Schicksale auf das Leben Christi
deutete. Schon in der Vorrede erklärte er, daß es viel Schweißes
bedürfe, die ganze Prophetie auf den Erlöser zu beziehen,
aber da Christus selbst Jona 2, 2 auf sich bezogen habe, so
müsse der Exeget ihm folgen: „Keiner wird ein besserer Aus-
leger des Typus des Propheten Jona sein als Christus, der
die Propheten selbst inspirierte und die zukünftige Wahrheit in
seinen Knechten voraus verkündete. Die Juden haben die Bücher,
wir den Herrn der Bücher; jene halten sich an die Propheten, wir an
das richtige Verständnis der Propheten; jene tötet der Buchstabe,
uns macht der Geist lebendig.'") Aber Hieronymus empfindet
doch sehr stark, daß diese Allegorie in der Einzelexegese sich
nicht durchführen läßt.') Er beruft sich dabei auf das Verfahren
des Apostels Paulus, der z. B. auch nicht die ganze Geschichte
>) z. B. Jon. 4, 2, Vallarsi VI, 423.
2) Praef. in Jon., Vallarsi VI, 387 ff.
3) Jon. 1, 3, Vallarsi VI, 3Q4 ff.
200 Wiederanknüpfung mit Rom.
von Hagar und Sara, sondern nur einzelne Züge aus dieser
Geschichte allegorisiere. Gewisse Partien der Geschichte Jonas
lassen sich denn auch leicht allegorisieren: Die Flucht des
Jona nach Tharsis, d. h. auf das Meer, bedeutet die Flucht
Christi aus den himmlischen Gebieten in das Meer dieser
Welt;') der Schlaf des Jona, während das Meer brauste, läßt
sich ungezwungen auf den Schlaf des Herrn im Schiff bei der
Meerfahrt deuten.') Aus dem Wort der Schiffer Jon. 1, 14:
„Laß nicht über uns kommen unschuldiges Blut" hören wir
die Stimme des Pilatus heraus: „Ich bin rein vom Blut dieses
Mannes." Der Fisch, der den Jona verschlingt, ist die Unter-
welt, die den Herrn aufnimmt. ) Sein Verweilen im Bauch
des Fisches drei Tage und zwei Nächte erklärt Hieronymus,
wie der Herr dieses Geheimnis erklärt hat, von seinem Ver-
weilen in der Unterwelt. Es ist nur die Frage, wie man die
drei Tage und zwei Nächte zu zählen habe. Einige machen die
wunderliche Kombination, daß der Freitag als zwei Tage und
zwei Nächte zu zählen ist, weil es nach der Kreuzigung Nacht
von sechs bis neun Uhr wurde, und so der Tag in zwei Tage
und zwei Nächte zerfiel; der Samstag sei dann der dritte Tag,
und die Nacht vom Samstag auf den Ostersonntag, den Auf-
erstehungstag, die dritte Nacht. Hieronymus will den Ausdruck
drei Tage und drei Nächte lieber svnekdochisch verstehen,
und er rechnet nun so, daß der Herr einen Teil des Frei-
tags, den ganzen Samstag und einen Teil des Sonntags in
der Unterwelt gewesen sei, also drei Tage und drei Nächte.*)
Schwierig ist aber schon nach Hieronymus die allegorische
Deutung des Kürbis oder Efeus, der rasch emporwuchs und
rasch welkte, auf Israel durchzuführen, und völlig unmöglich
kann Jona in der Stelle Jon. 4, 10 als Typus Christi gefaßt
werden, wo Gott zu ihm spricht: „Du empfindest Schmerz
über den Efeu, an dem du nicht gearbeitet hast, und den du
nicht gemacht hast", sonst gelangt man zu einer subordina-
•) Jon. 1,1, Vallarsi VI, 393.
«) Jon. 1, 12, Vallarsi VI, 402.
") Jon. 2, 1, Vallarsi VI, 405.
*) Jon. 2, 2, Vallarsi VI, 405.
Wiederanknüpfung mit Rom. 201
tianischen Christologie wie Origenes, die doch als absurd ab-
zulehnen ist.')
Auch in diesem Kommentar wie in den anderen alt-
testamentlichen Auslegungsschriften sind die Anspielungen
auf zeitgenössische Verhältnisse verhältnismäßig seltener als
in seinen neutestamentlichen Kommentaren. An die Be-
kehrung des Königs von Ninive, der zuletzt Buße tut,') knüpft
er eine Erörterung über die Bekehrung der Philosophen und
Rhetoren seiner Zeit: Reiche, Vornehme, Mächtige bekehren
sich schwer, aber die Gelehrten, die philosophisch Gebildeten,
finden doch von allen am schwersten den Weg zu dem
plebejischen Kultus. Es spricht ein tiefer, verhaltener Haß aus
seinen Worten, wenn er die heidnischen Philosophen schildert,
deren Worte man noch immer wie göttliche Orakel aufnehme,
und die hochmütig auf die christliche Religion herabschauen.
Nichts schmerzt Hieronymus mehr, als die Erkenntnis, daß
die Geistesaristokraten dem Christentum noch immer nicht
die wissenschaftliche Gleichberechtigung mit dem Heidentum
zuerkennen wollen.
Es ist auch interessant, daß bereits Hieronymus das
Wunder, daß Jona im Bauche des Fisches drei Tage leben
konnte,'') gegenüber Zweifeln an seiner Tatsächlichkeit ver-
teidigen mußte. Sowohl in christlichen wie in heidnischen
Kreisen hatte man daran Anstoß genommen. Derb, aber treffend
ist seine Apologetik. Den christlichen Gegnern des Wunders
hält er vor, daß sie doch an dem Wunder der drei Männer
im feurigen Ofen, des Daniel in der Löwengrube, des Durch-
zuges der Israeliten durch das rote Meer, wo sich die Wasser
wie eine Mauer aufstellten, keinen Anstoß nehmen; und diese
Wunder wären ebenso unglaublich, wenn nicht noch unglaub-
licher als dieses. Und seinen heidnischen Gegnern empfiehlt er,
doch einmal die fünfzehn Bücher der Metamorphosen des Ovid
durchzulesen. Wenn sie die Verwandlung der Daphne in
einen Lorbeerbaum, des Jupiters in einen Schwan und andere
Wunder gläubig hinnehmen und dies damit begründen, daß
') Jon. 4, 10, Vallarsi VI, 429.
2) Jon. 3, 6 ff., Vallarsi VI, 419.
9) Jon. 2, 2, Vallarsi VI, 405.
202 Wiederanknüpflinjj mit Rom.
bei Gott alles möglich sei, so könnten sie auch den christ-
lichen Wundern Glauben schenken, wo doch die göttliche
Allmacht sich nicht zu schimpflichen und unsittlichen, sondern
nur zu sittlichen Zwecken betätige.
Ein schweres Problem bot dem Hieronymus die Aus-
legung der Stelle Jon. 1, 7, wo die Schiffer das Los werfen
und Jona dadurch als der Schuldige erkannt wird. Die
Schiffer waren nach der Erzählung deutlich als Heiden charak-
terisiert. Man konnte nun folgern, daß auch das von den
Heiden geworfene Los eine magische Kraft in sich trüge,
den Schuldigen als solchen kenntlich zu machen; und damit
wäre dem heidnischen Aberglauben ein gefährlicher Vor-
schub geleistet worden. Der christliche Ausleger hält es
deshalb für nötig, ausdrücklich zu betonen, daß es in diesem
Falle nur der Wille Gottes gewesen sei, der das ungewisse
Los in wunderbarer Weise auf den Schuldigen lenkte. Auch
über die ethische Beurteilung des Selbstmordes sah sich
Hieronymus genötigt, angesichts des Wortes Jon. 1, 12:
„Werfet mich ins Meer", sich auszusprechen. Er verwirft ihn
natürlich, und wohl im Anschluß an Origenes will er ihn auch
nicht in der Verfolgung gestattet sein lassen; aber in einem
Falle, wo die Keuschheit Gefahr läuft, erscheint er ihm doch
erlaubt. Es ist bezeichnend, daß das Christentum, übrigens in
Übereinstimmung mit der heidnisch-antiken Beurteilung, das Gut
der Keuschheit so hoch wertete, daß es bei seiner Gefährdung
den Selbstmord für sittlich berechtigt erklärte. Es waren dies
die praktischen Wirkungen des christlichen Virginitätsideals.
Endlich sei noch auf zwei Stellen im Jonakommentar des
Hieronymus hingewiesen, die Augustin später mit großer An-
erkennung als Bekenntnisse des Hieronymus zu seiner Erb-
sündenlehre registrierte. Zu Jon. 1, 1 hatte Hieronymus bei der
allegorischen Auslegung der Stelle bemerkt, daß der Mensch, der
Gott dienen sollte, durch seinen eigenen Willen verderbt und so
sein eigenes Herz von Jugend an eifrig dem Bösen zugetan
wurde.') Und an Jon. 3, 5: „Daß alle Buße taten vom Größten
') Jon. 1, 1, Vallarsi VI, 391: cum enim deiis quasi quandam pul-
cherrimam domuni ser\'ituro sibi homini exstruxerit, depravatus est liomo
propria volutunte et a pueritia diligenter appositum est ad malum cor eius.
Wiederankniipfiin«^ mit Rom. 203
bis zum Kleinsten" knüpft er als Begründung an, daß keiner
ohne Sünde sei, ob sein Leben auch nur einen Tag währt oder ob
zahlreich die Jahre seines Lebens sind; denn wenn die Sterne
nicht rein sind im Angesicht Gottes, um wie viel weniger sind
der Wurm und die Fäulnis rein und die, welche durch die Sünde
des Gott beleidigenden Adams schuldig geworden sind.') Beide
Sätze klingen ja augustinisch und konnten von Augustin in
seinem Sinne gedeutet werden; daß sie aber nicht so ernst
gemeint sind, sondern Hieronymus auch nach dem Fall dem
freien Willen des Menschen eine Mitwirkung zum Guten
zusprach, beweisen zahlreiche andersartige Äußerungen von
ihm. Erst als er in den Streit mit Pelagius hineingezogen
wurde, hat er zwar ohne tiefergehendes Verständnis und ohne
eigentliches Herzensinteresse seine frühere Ausdrucksweise im
Sinne Augustins zu korrigieren versucht.
Viel leichter als beim Jonakommentar scheint sich Hiero-
nymus die Arbeit bei der Auslegung des kleinsten der zwölf
Propheten, bei Obadja, gemacht zu haben. Diesen Kommentar,
den er seinem einstigen Mitschüler, dem Senator Pammachius,
zugeeignet hat, mit dem er seit dem Streit mit Jovinian in
inniger Beziehung stand, hatte er nach seinem eigenen Zeugnis
einem Schnellschreiber während zweier Nächte in die Feder
diktiert.") Er bittet deshalb Pammachius, keine rhetorischen An-
forderungen an sein Werk zu stellen, da er keine Zeit darauf
verwandt habe, den Stil zu glätten, sondern, aus Scham zu
schweigen, dem Schnellschreiber, was ihm in den Mund kam,
diktiert habe.
Daß eine solche schnelle Arbeit nur eine Kompilation sein
kann aus dem, was ihm in den von ihm benutzten Quellen
brauchbar erschien, ist selbstverständlich. Und er hat es auch
ausdrücklich ausgesprochen, daß er der Autorität der Alten
und vor allem der jüdischen Auslegung gefolgt sei. Die
Kommentare seiner Vorgänger, vor allem des Origenes, und
die jüdische Exegese sind auch hier seine Quellen. In der mit
*) Jon. 3, 5, Vallarsi VI, 417: si enim stellae non sunt mundae in
conspectu dei, qiianto niagis vermis et putredo et hi, qiii peccato offen-
dentis Adam tenentur obnoxii.
-) Praef. in Abdiam, Vallarsi Vi, 386.
204 Wiederanknüpfiing mit Rom.
rhetorischem Pathos geschriebenen Vorrede schildert er dem
Pammachius, wie ihn ein Jüngling aus Italien in Bethlehem
besuchte und ihm einen Kommentar zum Obadja, den er einst
als Jüngling während seines Wüstenaufenthalts in der Wüste
Chalcis geschrieben hatte, vorlegte und in den höchsten Tönen
pries.') 30 Jahre — die Zahl ist abgerundet — waren seitdem
vergangen, und Hieronymus schämte sich seines Jugendwerkes,
eines allegorischen Kommentars, den er damals ohne Kenntnis
der Geschichte des Propheten verfaßt hatte; aber er tröstete sich
damit, daß auch Cicero, Tertullian, Origenes und Quintilian in
ihren Jugendwerken ähnlich gesündigt hätten im Vergleich mit
den Werken ihres reifen Oreisenalters: „Jedes Alter ist in seiner
Art vollkommen, und jedes Werk will nach der Zahl der Jahre
beurteilt werden." Jetzt, nachdem er im Verlauf der langen Zeit
so viel Schweiß auf das Studium der Heiligen Schrift verwandt
habe, hätte er wenigstens eins gelernt, die Wahrheit des
Wortes des Sokrates erkennen: „Ich weiß, daß ich nichts weiß."
Es ist aber bezeichnend, daß Hieronymus trotz dieser Kon-
fessionen sich so wenig Mühe bei der Ausarbeitung dieses
Kommentars gegeben hat. Er bemerkt, er habe sich gewundert,
daß jener Jüngling sein unreifes, jugendliches Machwerk so
hoch gepriesen habe; aber er sei im Laufe der Jahre zu der
Erkenntnis gekommen, daß, was einer auch für ein schlechtes
Zeug schriebe, er immer noch seiner ähnliche Leser fände.
Auf diese Kritiklosigkeit des Publikums, das seine Werke las,
hat Hieronymus gründlich spekuliert. Weil er sah, daß man
alle seine Arbeiten bewunderte, so glaubte er sich von jeder
gründlichen Arbeit dispensiert.
In der Anlage ist dieser Kommentar wie die übrigen
Kommentare zum Zwölfprophetenbuch geartet. Hieronymus
stellte seine Übersetzung aus dem hebräischen Text neben die
LXX und merkte die Differenzen an; an einigen Stellen zog
er auch die anderen Übersetzungen zur Erklärung des Textes
herbei. )
') s. Bd. 1, 163.
*) So lesen z. B. die LXX in Obadja 20 Ephrata, der hebräische Text
Sepharad. Sepharad bedeutet aber nach der Sprache der Assyrer — woher
er diese angebliche Kenntnis des Assyrischen hat, verrät er uns nicht — die
Wiederanknüpfung mit Rom. 205
Vor allem ist Hieronymus nach seinem eigenen Zeugnis
der jüdischen Interpretation des Propheten gefolgt, und ihr
hat er die historische Exegese entnommen. Er will jetzt
erst die Fundamente der Geschichte legen und dann darauf
die hochragenden Türme des geistlichen Verständnisses er-
richten. Er wendet sich gegen die, welche den Namen des
Propheten Obadja mit Knecht des Herrn übersetzen und
Obadja für den Knecht des Herrn halten, der sich erniedrigte
und Knechtsgestalt annahm, und von dem es in Jesaia heißt:
Groß ist es für dich, mein Knecht genannt zu werden. Wie
Jona als Typus des Herrn aufgefaßt wurde, so wurde auch
Obadja messianisch ausgelegt. In jeden Propheten trug man
dieselben Gedanken hinein. Hieronymus hat eine Empfindung
davon und spricht sich hier scharf dagegen aus: „Wenn wir
der Tropologie folgen, so verderben wir die deutlichste Pro-
phetie". ') Aber in der Praxis räumt er dann doch wieder der
allegorischen Auslegung einen breiten Raum ein.
Nach der hebräischen Tradition ist der Prophet Obadja
ein Heerführer gewesen, der unter dem König Samarias, Ahab,
und der gottlosen Jesabel die hundert Propheten in den Höhlen
ernährte, die ihre Knie nicht dem Baal gebeugt hatten. Seine
Höhle wird bis heute samt dem Mausoleum des Propheten
Elisa und Johannes des Täufers in Sebaste, dem alten Samaria,
gezeigt.-) Edom, das griechische Idumea, gegen das sich die
Prophetie des Obadja richtet, ist die Gegend Palästinas, die
jetzt den Namen Gebalena führt, mit der Hauptstadt Eleuthero-
polis und den Städten Petra und Aila. Dieser Landstrich ist
Grenze, gleich dem hebräischen Gebal. Das Wort D'l'w'iö Obadja 21
übersetzt er mit Heilande im Anschluß an Symmachus, während die LXX,
Aquila und Theodotion es mit Gerettete wiedergeben. In Obadja 17 hat
die Itala frumentarius, ein veraltetes lateinisches Wort, wie Hieronymus
bemerkt, das im Latein seiner Zeit mit veredarius oder agens in rebus
wiederzugeben ist; der hebräische Text liest sarid =^ reliquus nach Aquila,
effugiens nach Symmachus oder residuus nach Theodotion und der Quinta.
Auch eine Variante in den LXX zu Obadja 18 merkt er an, wo sich
nvQO(pÖQOg oder jrvofpÖQog findet.
') Zu Obadja 1, Vallarsi VI, 364: dum tropologiam sequimur, per-
dimus manifestissimam prophetiam.
2) Vallarsi VI, 361 ff. s. § 27.
206 Wiederankniipfung mit Rom.
SO heiß, daß die Einwohner vielfach in Höhlen wohnen, um
sich vor der furchtbaren Sonnenhitze zu schützen. Während
aber das Gericht, welches der Prophet Obadja über Edom ver-
kündet, nach der historischen Deutung des Hieronymus bereits
unter Zorobabel eingetroffen ist,') erhoffen die Juden dieses
Gericht erst in der Zukunft und beziehen die Weissagungen
gegen Edom auf das Gericht, welches über das römische
Reich ergehen soll. So hat ihm sein Hebräer, der ihm die
Schrift auslegte, den Vers 20 des Propheten erklärt: die Ver-
triebenen der Stadt Jerusalem, die zu Sepharad sind, werden
die Städte gegen Mittag in Besitz nehmen, d. h. die von Kaiser
Hadrian anläßlich des Barkochbaaufstandes nach dem Bosporus
in die Gefangenschaft geführten Juden werden bei dem Er-
scheinen des Messias die Städte im Süden Judäas wieder in
Besitz nehmen.
Die allegorische Erklärung des Propheten stammt, wie
wir oben bemerkten, aus christlicher Quelle, vor allem aus
Origenes. Die Kleinheit des Propheten, dessen Inhalt sich
noch dazu, wie Hieronymus bereits bemerkt hat, größtenteils
im Buche Jeremia, abgesehen von der veränderten Ordnung
und kleinen Differenzen, wiederfindet,") schien besonders zu
einer tiefsinnigen allegorischen Auslegung zu verlocken. Die
Edomiten, gegen die die Prophetie gerichtet ist, werden tro-
pologisch zunächst auf die Juden bezogen, die, wie Edom
auf Jakob, auf die Christen eifersüchtig seien. Der Judenhaß
der alten Kirche, den Hieronymus trotz seines Verkehrs mit
den Rabbinen von ganzer Seele teilt, kommt hier zu scharfem
Ausdruck. Die Juden sind in den Verfolgungszeiten der Kirche
bösartigere Verfolger der Christen gewesen als die Heiden;
sie haben immer mit hämischer Freude das Unglück der
Christen mitangesehen, und dies konnte man ihnen nicht ver-
gessen. ) Nach der zweiten allegorischen Deutung sind unter
Edom die Ketzer zu verstehen. Daß Hieronymus hier ganz
von Origenes abhängig ist, beweist die Nennung der Namen
Marcions, Valentins, der Äonen, Ogdoaden, Duodekaden und
') Obadja 17, Vallarsi VI, 378.
■-) Obadja 1, Vallarsi VI, 365.
^) Obadja 10, Vallarsi VI, 374.
Wiederanknüpfung^ mit Rom. 207
des Abraxas, von denen er nur durch Origenes etwas weiß.')
Nach einer dritten allegorischen Deutung der Prophetie ist
unter Edom das Fleisch zu verstehen. Es ist der Lieblings-
gedanke des großen Alexandriners von dem Kampfe des
Fleisches mit der im Körper eingekerkerten Seele, den er auch
in diese Prophetie hineinallegorisiert hatte, und den Hieronymus
von ihm entlehnt, ohne sich aber die Heterodoxien des Origenes
zu eigen zu machen.') Nicht ohne Geschmack und mit Scharf-
sinn hat Origenes resp. Hieronymus es verstanden, diese dritte
allegorische Deutung durchzuführen und auf diese Weise dem
Text des alten Propheten wirklich erbauliche Gedanken für
die Christen seiner Zeit abzugewinnen. So knüpft er z. B.
an Obadja 10: „Fremde werden in ihre Tore hineintreten und
über Jerusalem das Los werfen" die allegorische Deutung an:
Unter den Fremden, die die Tore Jerusalems betreten, können
wir die bösen Gedanken und unter den Pforten Jerusalems
die fünf Sinne der ruhenden und Gott schauenden Seele ver-
stehen, durch die die Feinde eindringen und die Beute Jeru-
salems teilen. Wenn wir ein Weib ansehen, ihrer zu begehren,
so ist der Tod durch die Augen, die Fenster der Seele, ein-
getreten; wenn wir mit den Ohren die Lüge und Bluturteile
aufnehmen, so ist der Feind durch eine andere Pforte ein-
gedrungen. Auch die anderen Sinne, Geruch, Geschmack und
Gefühl, können zu Mittlern der Sünde werden, wenn wir uns
durch die verschiedenen Wohlgerüche oder durch süße Speisen
oder durch zarte Umarmungen gefangen nehmen lassen, und
so die Gegner durch die verschiedenen Pforten eindringen und
die Beute des armen Jerusalems, d. h. der Seele, teilen.
') Obadja 4 ff., Vallarsi VI, 371.
-) Obadja 1, Vallarsi VI, 366; Obadja 2, Vallarsi VI, 369; Obadja 10,
Vallarsi VI, 374.
208 Wiederanknüpfung mit Rom.
§ 39.
Alte Freunde des Hieronymus, sein Verkehr mit der
Heimat.
Jugendfreundschaft knüpft in der Regel ein innigeres Band,
als die auf der Gemeinsamkeit der Interessen und des Berufs
ruhende Freundschaft späterer Jahre, in den bildsamen Jahren
der Jugend, in den Jahren unserer Entwicklung zu selbständigen
Persönlichkeiten, verlangen wir stärker nach Anschluß, und den
Genossen dieser Jahre gegenüber geben wir uns offener, frei
von jener steifen Gravität, die uns Stellung und Beruf später
auferlegen. Das Freundschaftsverhältnis des Hieronymus zu
seinem Jugendfreund Heliodor ist tief und echt. Hier begegnen
uns bei Hieronymus einmal Herzentöne, die wir sonst so oft ver-
missen. Die Askese hatte dem Bethlehemitischen Heiligen doch
noch nicht das Herz ausgetrocknet, und die Eitelkeit ließ ihn
noch nicht in einsamem Hochmut verkommen. Er vermochte
noch mit wärmster Zuneigung und anhänglichster Zärtlichkeit
zu lieben, und dies beweist, daß doch auch dieser unerfreuliche
Charakter seine guten Seiten hatte. Der Verzicht auf die Welt
und die klösterliche Abgeschlossenheit gestalteten sich oft zu
einem fruchtbaren Boden für innige und zarte Freundschaft
Gleichgesinnter.
Nepotian, der Neffe Heliodors, entstammte einem vor-
nehmen Geschlecht, früh hatte er seinen Vater verloren. Sein
Onkel Heliodor weilte gerade in der Wüste Chalcis mit
Hieronymus, um hier ein Eremitenleben zu beginnen, als ihn
die Nachricht von dem Tode seines Schwagers erreichte.
Die Pietätsgefühle Heliodors waren stärker als sein asketischer
Enthusiasmus. Rasch entschlossen kehrte er in die Heimat
zurück und nahm sich hier seiner verwitweten Schwester
und seines verwaisten Neffen aufs zärtlichste an. Nepotian
war in die militia palatii, die Leibgarde des Kaisers, eingetreten;
aber unter der blendend weißen Chlamys hatte er das rauhe
Büßerhemd getragen und noch vor Empfang der Taufe sich
im Geheimen Fasten auferlegt. Er hatte dann plötzlich der
glänzenden weltlichen Laufbahn, die sich ihm öffnete, den
i
Wiederanknüpfung mit Rom. 209
Rücken gekehrt und sein ganzes Vermögen den Armen
geschenkt. Er hatte sogar Mönch werden wollen, um die
Klöster Ägyptens und Mesopotamiens zu besuchen oder um
sich vielleicht auf die Inseln Dalmatiens als Eremit zurück-
zuziehen. Aber die Liebe zu seinem Oheim Heliodor, der
Bischof von Altinum geworden war, hatte ihn zurückgehalten;
der Onkel wollte den Neffen, den er selbst erzogen hatte, nicht
ziehen lassen und weihte ihn trotz seines Sträubens zum
Priester. Heliodor hatte dabei im stillen die Hoffnung, daß
Nepotian später sein Nachfolger in der bischöflichen Würde
werden würde.') Nepotian wandte sich nun an seinen väter-
lichen Freund Hieronymus mit der Bitte, ihm ein Vademecum
für seine Laufbahn als angehender Kleriker mitzugeben, und
Hieronymus kam auch 394 diesem wiederholt geäußerten
Wunsche in einem inhaltlich gehaltvollen und formell aufs
feinste stilisierten Schreiben nach.
Dieses Pastorale war natürlich nicht allein für den Neffen
seines alten Freundes Heliodor geschrieben, sondern Hieronymus
wandte sich damit an die breiteste Öffentlichkeit: „Ich sage dies
nicht", so spricht er sich einmal ausdrücklich aus, „weil ich
dies bei dir oder bei heiligen Männern fürchte, sondern weil
in jedem Stand, Beruf und Geschlecht Gute und Böse erfunden
werden, und die Verdammung der Bösen das Lob der Guten
ist."-') Wie Chrysostomus in seinem Buche über das Priester-
tum, zeichnet Hieronymus hier das Idealbild eines Priesters vom
mönchisch-asketischen Standpunkt aus. Es ist weit ruhiger und
leidenschaftsloser geschrieben als seine früheren asketischen
Mahnschreiben. Hieronymus ist trotz des Festhaltens an seinen
asketischen Grundüberzeugungen milder geworden. Sein
Schreiben an seinen Freund Heliodor über das Lob der Wüste
beurteilt er jetzt als jugendliches Machwerk voll rethorischer
Floskeln,') und wenn seine Gegner sein jetziges Werk, wie
vor 10 Jahren sein Buch von der Jungfrauschaft an Eustochium
steinigen wollen, so können sie ihm wenigstens diesmal keine
persönlich verletzende Absicht unterschieben: „Ich habe nie-
') Ep. 60, 9 und 10, Vallarsi l, 335.
2) Ep. 52, 5, Vallarsi I, 258.
3) Ep. 52, 1, Vallarsi I, 253; s. über diese Epistel 14, Bd. I, 166 ff.
Grützmacher, Hieronymus. II. 14
210 Wiederanknüpfung mit Rom.
manden verletzt, ich habe niemandes Namen auch nur durch
Beschreibung kenntlich gemacht. Niemanden hat meine Rede
besonders getroffen. Ich habe allgemein über die Laster
gehandelt. Wer mir zürnen will, muß erst selbst eingestehen,
daß er ein solch lasterhafter Kleriker ist, wie ich ihn geschildert
habe."') Hieronymus ist vorsichtiger geworden, er will nicht
wieder einen Sturm gegen sich heraufbeschwören. Solche
geschmacklosen Übertreibungen, mit denen er einst im jugend-
lichen Enthusiasmus seinem Freunde Heliodor die Weltflucht
angepriesen hatte: „Mag dein Vater auf der Schwelle liegen,
schreite nur mutig darüber hinweg, ja trocknen Auges fliege zur
Fahne des Kreuzes hin", hat er vermieden.') Und Hieronymus
hat sich auch gehütet, wie im Schreiben an Eustochium, wo
er ein bis zur Karikatur verzerrtes Bild eines weltförmigen
römischen Klerikers entworfen hatte, seine Gegner persönlich
anzugreifen. Es liegt die temperierte Ruhe des Alters über
diesem Schreiben gebreitet und es spricht aus ihm eine
schärfere Welt- und Menschenkenntnis. Hieronymus kennt
die Menschen zwar nur von einer Seite, nämlich von der
schlechten; aber nach ihrer Erbärmlichkeit kennt er sie gründlich.
Er ist kein Stubengelehrter, der von der Welt nur aus Büchern
weiß, er hat sich trotz seiner Möncherei einen offenen Blick
für alle Verhältnisse bewahrt und zeigt sich in diesem Schreiben
als kluger und nüchterner Praktiker. Stellt man sich einmal
auf den mönchisch-asketischen Standpunkt, so wird man den
praktischen Anweisungen, wie sie hier Hieronymus dem
Nepotian darbietet, ihre Berechtigung nicht versagen können.
Aus dem Namen des Klerikers von lUrjooy - entweder weil
er zu Gottes Erbteil gehört oder weil Gott sein Erbteil ist —
leitet er die erste Hauptpflicht des Klerikers, die apostolische
Armut ab. Wer Gott zum Erbteil hat, darf nichts anderes mehr
besitzen. Wie der Levit und Priester vom Zehnten lebt und,
dem Altar dienend, von dem auf dem Altar Dargebrachten
Nahrung und Kleidung erhält, so soll der christliche Kleriker
nackt dem nackten Kreuze folgen: „Den erwerbssüchtigen
') Ep. 52, 17, Vallarsi I, 267.
») Ep. 14, 2, Vallarsi I, 29.
Wiederanknüpfung mit Rom. 211
Kleriker, der aus einem Armen reich, aus einem Unbekannten
berühmt wird, fliehe wie die Pest.')
Eins, vielleicht das schwierigste Problem für den asketisch
lebenden Kleriker ist aber das Verhältnis zu den Frauen seiner
Gemeinde. Hieronymus warnt Nepotian eindringlich davor, keine
Frauen in seiner Wohnung zu empfangen; und wir werden dieses
Mißtrauen in dem Zeitalter der Dekadence der sittlichen Zustände
nicht für übertrieben halten dürfen. Alle Töchter und Jungfrauen
Christi soll er entweder in der gleichen Weise ignorieren oder
in der gleichen Weise lieben. Auch der früheren Keuschheit
soll er niemals trauen: „Gedenke immer, daß der Bewohner
des Paradieses aus seinem Besitztum durch ein Weib hinaus-
geworfen wurde." ') Ist ein Kleriker krank, so soll ihm ein
Bruder, eine leibliche Schwester, die Mutter oder eine alte
Frau, deren die Kirche viele ernährt, Handreichung tun. Auf
seelsorgerischen Besuchen bei Witwen und Jungfrauen soll
er sich stets von einem Lektor, Akoluthen oder Psalmsänger
begleiten lassen, aber nur von solchen Klerikern, die nicht ihr
Kleid, sondern ihre Sitten zieren, die nicht die Haare mit dem
Brenneisen^ kräuseln, sondern deren Haltung Keuschheit ver-
spricht. Auch von den häufigen Geschenken, den Schweiß-
tüchlein, den Bändchen, den an den Mund gehaltenen Kleidern,
den dargereichten oder vorgekosteten Speisen, den zärtlichen
und süßen Briefchen weiß eine heilige Liebe nichts. Auch
Hieronymus hatte manches Billet doux in Rom mit seinen
frommen Schülerinnen gewechselt und manches Körbchen
Kirschen zum Geschenk erhalten. Ob er dabei die Erfahrung
gemacht hatte, daß es nicht immer eine heilige Liebe war, die
diese Gaben darbot?
Dann wendet er sich einem ebenfalls sehr heiklen
Gegenstand zu, indem er den Kleriker vor Erbschleicherei
warnt. Die heidnischen Priester, die Schauspieler, Wagen-
lenker und Huren dürfen Erbschaften machen, nur dem
christlichen Kleriker und Mönch ist dies untersagt. Kaiser
Valentinian I. hatte ein Gesetz gegen die Erbschleicherei des
») Ep. 52, 5, Vallarsi I, 257.
2) Ep. 52, 5, Vallarsi 1, 257.
14'
212 Wiederanknüpfung mit Rom.
christlichen Klerus erlassen.') Hieronymus so wenig wie
Ambrosius') wagten die Notwendigkeit und Nützlichkeit dieses
kaiserlichen Gesetzes zu bestreiten: „ich beklage mich nicht
über das Gesetz, aber ich bedaure, daß wir ein solches Gesetz
verdient haben."') Aber es ist bezeichnend, daß Hieronymus
auf der einen Seite den Priestern und Mönchen jede Bereicherung
aufs energischste verbietet, auf der andern Seite aber die Ver-
mehrung des Besitzes der Kirche lebhaft befürwortet. Eine
besitzlose Kirche ist nicht sein Ideal. „Unsere Erbin darf nur
die Kirche sein, sie, welche uns gebar, ernährte und aufzog.
Warum noch etwas zwischen Mutter und Kinder einschieben?")
Wie nötig aber das kaiserliche Gesetz gegen die Erbschleicherei
war, mit welchen widerlichen Praktiken die christlichen Kleriker
sich reichen Besitz zu verschaffen wußten, davon teilt uns
Hieronymus charakteristische Züge mit: „Ich höre von schimpf-
lichen Dienstleistungen der Kleriker, die sie kinderlosen Greisen
und alten Frauen erweisen. Sie schieben ihnen den Nachttopf
unter, sitzen an ihrem Bett und fangen mit eigener Hand das
Erbrochene ihres Magens und den Schleim ihrer Lunge auf.
Sie fürchten sich beim Eintritt des Arztes und .fragen mit
zitternden Lippen, ob es nicht besser gehe; und wenn der
Greis wieder zu Kräften kommt, so wird es ihnen bange.
Während sie Freude heucheln, erleidet ihr geiziger Sinn inner-
lich Folterqualen; denn sie fürchten, daß sie ihre Dienstleistung
vergeblich erwiesen haben und vergleichen die Jahre des noch
lebenskräftigen Greises mit dem Alter Methusalems."')
Dann folgen die positiven Forderungen, die Hieronymus
an den Kleriker stellt. Er soll eifrig in der Schrift lesen, damit
er andere in gesunder Lehre unterweisen kann, er soll aber
auch selbst tun, was er anderen predigt. SeincFii Bischof soll
er Untertan sein wie dem Vater seiner Seele, aber auch die
Bischöfe sollen wissen, daß sie Priester und nicht Herren sind.
Hieronymus beklagt sich dabei bitter über die Sitte gewisser
') Cod. Theod. 1. XVI, tit. 3, coli. 1. 111, tit. 2.
-) Ep. 18, 13.
») Ep. 52, 6, Vallarsi 1, 259.
') Ep. 52, 6, Vallarsi 1, 259.
») Ep. 52, 6, Vallarsi 1, 259.
Wiederanknüpfung mit Rom. 213
Kirchen — das vierte Konzil von Karthago hatte es für Nordafrika
festgesetzt, ') — daß die Priester in Gegenwart der Bischöfe
schweigen müssen und nicht reden dürfen, gleich als ob die
Bischöfe eifersüchtig auf die Priester sind oder es unter ihrer
Würde finden sie anzuhören. Wenn der Priester in der Kirche
predigt, so soll er nicht durch gewandte Rhetorik dem
ungebildeten Volk etwas vormachen, sondern sich als wohl-
erfahrener Kenner der Geheimnisse des Gottesreiches erweisen.
Im Äußeren soll er alles Auffallende vermeiden, weder schmutzige,
noch ausgesucht blendende Kleider tragen. Die Gastmähler
der Weltlichen, besonders der Reichen soll er vermeiden: „Es
ist schimpflich, wenn an der Türe eines Priesters des armen ge-
kreuzigten Christus die Liktoren der Konsuln oder die Soldaten
Wache stehen, und der Richter der Provinz bei dir besser
diniert, als in seinem eigenen Palast." ') Entschuldigt man dies
damit, daß der Priester für die Armen und Unterdrückten bei den
weltlichen Beamten Einfluß gewönne, wenn er den regsten
geselligen Verkehr mit ihnen pflege, so macht dem entgegen
Hieronymus gewiß nicht mit Unrecht geltend, daß ein asketischer
Kleriker dem weltlichen Richter weit mehr Achtung abnötige
als ein weltförmiger. Auf die Wohltat eines Richters, der nur
bei vollen Bechern sich der Fürbitte des Geistlichen für einen
Unglücklichen zugänglich erweise, verzichte man lieber und
wende sich an Christus, der besser und schneller helfen kann.
Was die asketische Lebensführung des Geistlichen betrifft,
so stellt Hieronymus keine extremen Forderungen mehr; er ist
hierin sichtlich nüchterner geworden als früher. Er verbietet
nicht den Weingenuß, sondern fordert nur das richtige Maß
im Trinken, entsprechend dem Alter und dem körperlichen
Gesundheitszustand. Auch im Fasten soll er Maß halten und
sich nicht mehr auferlegen, als er ertragen kann. Schonungslos
geißelt er die Spielerei und Heuchelei, die man mit dem Fasten
trieb. Man vermied zwar den Zusatz von Öl an den Speisen,
aber man aß statt dessen die raffiniertesten Dinge, wie Feigen,
Nüsse, Datteln, Honig, Pistazien; man trank statt Wasser leckere
') Ep. 52, 7, Vallarsi I, 261. Das vierte Konzil von Karthago, Canon 33,
s. Vallarsi I, 261, Anm. a.
-') Ep. 52, 11, Vallarsi 1, 263.
214 Wiederanknüpfung mit Rom.
Brühen und zerriebene Gemüse aus Muschelschalen. Besonders
eindringlich warnte er aber den Kleriker vor dem Geschwätz
der Menschen. Willst du wissen, welchen Schmuck der Herr
begehrt? Beweise Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Tapfer-
keit. ') Es sind die vier Kardinaltugenden Piatos, die Hiero-
nymus als das kostbarste Halsgeschmeide, als den glänzendsten
Edelstein, als Schmuck und Schutz, als Zierde und Schild eines
christlichen Klerikers preist. Eine bessere Ethik kennt auch der
christliche Theologe nicht. Die eigentümliche Vermählung des
Christentums mit der Antike tritt uns hier aufs frappierendste
entgegen.
Als letzte Pflicht schärft Hieronymus dem Kleriker das
seelsorgerische Gebot zu schweigen ein. Der Kleriker kommt
durch seinen Beruf in viele Häuser, er muß anvertraute
Geheimnisse zu bewahren wissen. Als Prediger der Enthalt-
samkeit soll er keine Ehe stiften, als Priester, dem nur die
erste Ehe erlaubt ist, Witwen nicht zur zweiten Ehe aufmuntern.
Er, der sein eigenes Vermögen gering achten soll, soll sich
nicht zum Vermögensverwalter fremder Vermögen machen
lassen, um sich auf diese Weise zu bereichern.
Nepotian war überglücklich über das Schreiben seines
väterlichen Freundes. Er rühmte sich, mehr als die Schätze
des Krösus und die Reichtümer des Darius an ihm zu besitzen.-
Wenn er sich des Nachts auf seinem Lager umherwälzte, so
lag das süße Buch auf der Brust des Einschlafenden. Wenn
einer seiner Freunde oder ein Fremder ihn besuchte, so las er
es vor und rühmte das ihm dedizierte Büchlein.'-) Um so
schmerzlicher war Hieronymus berührt, als er bereits zwei Jahre
später die Nachricht von dem Tode des jungen hoffnungs-
vollen Priesters empfing. Ein heftiges Fieber hatte ihn rasch
dahin gerafft. Gefaßt war er gestorben, er hatte den heiß-
geliebten Onkel Heliodor noch sterbend getröstet. „Froh war
sein Blick und, während die andern weinten, lächelte er selbst
') s. Ep. 64, 21; ep. 66, 1; Zöcl<ler, S. 454, Anm. 1, weist darauf
hin, daß von einer Zusanimcnsrellung der vier Kardinaltugenden mit den
drei theologischen Tugenden fides, spes und Caritas, die erst Augustin voll-
zog, bei Hieronymus noch nichts zu finden ist.
■-) Ep. 60, 11, Vallarsi I, 337.
Wiederanknüpfung mit Rom. 215
allein."') Nepotian hatte die Hand des Onkels ergriffen und
auch noch seines väterlichen Freundes Hieronymus gedacht:
„Die Tunika, die ich im Dienste Christi gebraucht, sende
meinem liebsten Hieronymus, dem Alter nach meinem Vater,
der priesterlichen Würde nach meinem Bruder, und was du an
Liebe dem Neffen erwiesen hast, übertrage auf jenen, den du
mit mir in gleicher Weise liebst." ')
Seinem alten Freunde Heliodor sandte Hieronymus ein
warm empfundenes Trostschreiben. Wohl hatte ihm die
zärtliche Anhänglichkeit seines jungen Freundes geschmeichelt,
und er kann es nicht lassen, sich selbst in dem Epitaphium
auf Nepotian ein Denkmal zu setzen, aber durch alle Rhetorik
bricht doch die herzlichste Anteilnahme hindurch. „Mein
Nepotian, dein, unser, nein Christi oder weil Christi, deshalb
noch mehr unser, läßt uns als Greise zurück, von dem
Pfeile der Sehnsucht nach ihm verwundet und vom unerträg-
lichen Schmerz gebeugt. Den wir für unseren Erben hielten,
ihm halten wir das Begräbnis. Was der Jüngling uns tun
sollte, müssen wir Greise dem Jüngling tun.') Wie sollen
wir uns trösten?" In kunstvoller Anordnung führt uns Hiero-
nymus zunächst die Großen der griechischen und römischen
Geschichte vor Augen: einen Perikles, der nach dem Verluste
zweier Söhne bekränzt in der Volksversammlung sprach, einen
Xenophon, der, als ihm beim Opfer der Tod seines Sohnes
im Krieg gemeldet wurde, zuerst den Kranz ablegte, und als
er hörte, daß sein Sohn tapfer in der Schlachtenreihe kämpfend
gefallen sei, ihn wieder auf sein Haupt setzte, und einen
L. Paulus, der während des Begräbnisses zweier Söhne sieben
Tage lang als Triumphator in Rom einzog.*) Nach diesen
Schulbeispielen aus der Geschichte spricht er über den
Schmerz des Christen beim Tode eines geliebten Menschen.
Wir wissen zwar, daß unser Nepotian bei Christus ist und
sich in die Chöre der Heiligen mischt, aber die Sehnsucht
nach seiner Abwesenheit können wir nicht ertragen, nicht
1) Ep. 60, 13, Vallarsi I, 339.
2) Ep. 60, 13, Vallarsi I, 339.
=») Ep. 60, 1, Vallarsi I, 329.
*) Ep. 60, 5, Vallarsi 1, 332.
216 Wiederanknüpfung mit Rom.
jenes, sondern unser Los beweinend. Je glücklicher er ist,
um so mehr empfinden wir Schmerz, daß wir eines solchen
Gutes entbehren. Die Schwestern beweinten auch Lazarus,
von dem sie wußten, daß er auferstehen würde, und der
Erlöser selbst, um den wahren menschlichen Schmerz aus-
zudrücken, beweinte den, welchen er wieder auferweckte.
Das kurze Lebensbild, das Hieronymus von dem Ver-
storbenen gibt, zeigt uns ein schlichtes, nicht an ungewöhn-
lichen Lebensschicksalen reiches Leben; aber wir bekommen
dennoch einen starken Eindruck von der Persönlichkeit Nepotians.
Mag Hieronymus sein Bild verklärt haben — wo geschieht dies
nicht in Leichenreden — wir begreifen es, daß die christliche
Kirche trotz alles Verfalls um sie her und auch in ihr die stärkste
konservierende Macht des Zeitalters war und blieb, wenn sich
solche selbstlose und opferwillige Kleriker wie Nepotian in
ihren Dienst stellten. Als Last, nicht als Ehre hatte er sein
priesterliches Amt aufgefaßt. Er hatte sich gemüht ein Stab der
Blinden, eine Speise für die Hungernden, die Hoffnung der
Elenden, der Trost der Traurigen zu sein, in treuester Liebe
seinem Onkel und Bischof Heliodor ergeben, hatte er ein Leben
mönchischer Enthaltsamkeit in Gebet, Nachtwachen und Fasten
geführt. Mit edler Schamhaftigkeit, die sein jugendliches Alter
zierte, hatte er sich nicht selbst gerühmt, sondern sich stets auf
die Autorität eines Tertullian, Cyprian, Lactanz, Hilarius, Minucius
Felix, Victorin, Ambrosius und, wie Hieronymus bei seiner Eitelkeit
nicht zu erwähnen unterlassen kann, auch auf ihn sich berufen.
Auch den kleinen und kleinsten Dingen seines priesterlichen
Berufs war Nepotian mit sorgsamstem Fleiß nachgegangen:
„Er war besorgt, ob der Altar glänzte, ob die Wände der Kirche
ohne Schmutz, ob der Boden gekehrt sei, ob der Pförtner
immer an der Kirchtür stehe, ob der Vorhang vor dem Eingang,
ob die Kapelle rein seien, ob die Gefäße funkelten. Er ließ die
Basiliken und Kapellen der Märtyrer mit Blumen, Blumenzweigen
und Weinreben schmücken, so daß, was in der Kirche durch
Anordnung und Aussehen erfreute, die Arbeit und Sorgfalt des
Priesters bezeugte."') In zartester Weise sprach Hieronymus
') Ep. 60, 12, Vallarsi I, 338.
Wiederanknüpfung mit Rom. 217
seinem Jugendfreund Heliodor zu, seinen Schmerz zu mäßigen.
Er ist ein cliristlicher Bischof, und alle Augen sind auf sein
Haus und sein Verhalten gerichtet, seine Haltung bestimmt die
öffentliche Zucht. Er muß deshalb, soviel er kann, die Weich-
heit seiner Empfindung und die reichlich fließenden Tränen
unterdrücken, damit nicht die Heiden die große Liebe zu dem
Neffen als Verzweiflung an Gott deuten.
Der Nekrolog Nepotians klingt in ein grandioses Bild
von dem Verfall des Römerreiches aus. Keine irdische Macht
schützt mehr vor einem unnatürlichen Tode. Kaiser und
Konsuln haben seit Constantius nur zu oft ein unnatürliches
Ende gefunden. Seit mehr als zwanzig Jahren wird zwischen
Konstantinopel und den Julischen Alpen täglich römisches
Blut vergossen. Skythien, Thracien, Makedonien, Dardanien,
Dacien, Thessalien, Achaia, Epirus, Dalmatien und ganz
Pannonien verwüsten und berauben Goten, Sarmaten, Quaden,
Alanen, Hunnen, Vandalen und Markomannen. Unberührt von
diesen Unglücksfällen erschien der Orient und wurde nur durch
Nachrichten erschreckt. Da brachen im vergangenen Jahre
aus den verborgenen Felsen des Kaukasus die Wölfe des
Nordens herein. Die furchtbare Hunneninvasion ') hatte bis in
das einsame Kloster zu Bethlehem Schrecken und Entsetzen
verbreitet und die Insassen zeitweilig zur Flucht getrieben.
Hieronymus empfand diese Zerrüttung des Reiches als
römischer Patriot, sein Christentum hatte seinen Patriotismus
nicht auszutilgen vermocht: „O welche Schande, das röFiiische
Heer, der Sieger und Herr des Weltkreises, wird von den Hunnen
besiegt und durch den Anblick des flüchtigen Reitervolkes
erschreckt, das nicht zu Fuß einhergehen kann und, wenn es
die Erde berührt, für tot gehalten wird.') Wie glücklich ist
Nepotian, der dies nicht mehr sieht, wie glücklich, daß er
nichts mehr davon hört. Durch unsere Sünden sind die
Barbaren mächtig, durch unsere Laster wird das römische
Heer überwunden." Das Gefühl der Vergänglichkeit alles
Irdischen überkommt Hieronymus mit unwiderstehlicher Gewalt.
1) Ep. 77, S, Vallarsi I, 460.
2) Ep. 60, 17, Vallarsi 1, 344.
218 Wiederanknüpfung mit Rom.
Daß der römische Staat dem Sterben entgegengeht, daß die
festeste irdische Institution zusammenbricht, löst in ihm bei
dem Tode seines jugendlichen Freundes auch den Gedanken
an den eigenen Tod aus. „Täglich sterben wir, täglich wechseln
wir unsere Gestalt und glauben dennoch ewig zu sein.
Während ich diktiere, was niedergeschrieben wird, während ich
es überlese und korrigiere, nimmt mein Leben ab. So viele
Pünktchen der Schreiber entstehen, so viele Augenblicke der mir
zugemessenen Zeit vergehen. Wir haben nur einen Gewinn,
daß wir durch die Liebe Christi verbunden sind. Die Liebe
hört nimmer auf. Deshalb ist unser Nepotian abwesend, doch
gegenwärtig, und die durch so große Fernen Getrennten um-
schlingt er mit beiden Händen. Dem wir körperlich nicht
mehr nahe sein können, den laßt uns in der Erinnerung halten
und mit dem wir nicht mehr reden können, von ihm laßt uns
niemals zu reden aufhören."')
Die Beziehungen des Hieronymus zur Heimat waren
gegen Ende der neunziger Jahre des vierten Jahrhunderts
wieder lebendiger geworden. 397 hatte sich Hieronymus
genötigt gesehen, seinen Bruder Paulinian in die Heimat
zu senden, da das Pilgerhaus, das Paula und Hieronymus
neben ihren Klöstern in Bethlehem errichtet hatten, viel Geld
verschlang. Paulinian sollte deshalb die halbverfallenen Villen
des elterlichen Erbes, die den Händen der Barbaren entgangen
waren, und die Zinsrenten der Eltern verkaufen, um den Ertrag
nach Bethlehem zu bringen, wo man dann die Unterhaltung
des Klosters und Pilgerhauses damit bestreiten wollte, weil die
Mittel der Paula nicht mehr reichten.') Durch diesen Besuch
Paulinians hatte man in der Heimat wieder mehr von Hiero-
nymus gehört, und man wünschte nun durch Briefe oder per-
sönliche Besuche mit dem berühmten Landsmann in engere
Beziehungen zu treten.
Ein pannonischer Bischof Amabilis sandte einen Diakon
Heraklius nach Bethlehem, um von ihm einen Kommentar zu
den zehn Gesichten oder Lasten des Propheten Jesaia, d. h.
') Ep. 60, 13, Vallarsi 1, 345.
-) Ep. 66, 14 ad Pammachium, Vallarsi I, 401.
Wiederanknüpfung mit Rom. 219
ZU den Kapiteln 13 — 23 zu erbitten und mit heimzubringen.
Dieser Kommentar wurde von Hieronymus später unverändert
in seinen großen Kommentar zu Jesaia aufgenommen und
bildet dort das fünfte Bucin.')
Ein anderer blinder Pannonier Castrutius") hatte Heraklius
auf dieser Reise nach Bethlehem begleiten wollen. Man hat
ihn für einen Verwandten des Hieronymus wegen der Ähn-
lichkeit seines Namens mit dem der Tante des Hieronymus,
Castorina, gehalten, doch läßt sich dies nicht erweisen.
Castrutius war aber nur bis Cissa gelangt, wahrscheinlich
ein zwischen Venedig und Triest gelegener Ort."*) Darüber
tröstet ihn Hieronymus in einem launigen Briefe,') daß er es
schon hoch anzuschlagen wisse, wenn ein Pannonier, eine
Landratte, sich den Stürmen des adriatischen Meeres und den
Gefahren des ägäischen und jonischen Meeres habe anvertrauen
wollen. Er nehme den guten Willen für die Tat. Auch die
Skrupel, die sich Castrutius über den Verlust des Augenlichts als
Strafe für seine Sünde machte, suchte er ihm zu nehmen; denn
als die Apostel dies bei dem Blindgeborenen argwöhnten, wies
sie der Herr zurecht. Da es den Gottlosen bisweilen gut und
den Frommen schlecht auf Erden geht, dürfen wir nicht
Krankheit, Mühsal und Armut als Strafen ansehen. Auch der
Sohn Gottes hat ja die Kreuzesschmach erduldet; und wen
der Herr liebt, den züchtigt er. Zum Trost erzählt er dem
Castrutius eine Anekdote seines verehrten Lehrers Didymus: Als
der Eremit Antonius nach Alexandria kam, fragte er den
gelehrten Vorsteher der Katechetenschule, den blinden Didymus,
ob er den Mangel des Augenlichts betraure und als dieser
dies bejahte, antwortete ihm Antonius: „Ich wundere mich,
daß ein weiser Mann sich über den Verlust einer Sache betrübt,
die auch Ameisen, Fliegen, Mücken besitzen und sich nicht
vieUmehr freut das zu besitzen, was allein den Aposteln und
Heiligen Gottes gegeben ist." Hieronymus spricht seinem Lands-
^) Praef. in lib. V Comm. in Isaiam, Vallarsi IV, 169.
-) Die Überlieferung des Namens schwankt zwischen Castrutius,
Castricianus und Castrianus, s. Vallarsi I, 407 Anm. a.
^) s. Vallarsi I, 407 Anm. a.
') Ep. 68, Vallarsi I, 407 ff.
220 Wiederanknüpfung mit Rom.
mann noch die Hoffnung aus, daß es ihm vielleicht im nächsten
Jahre in Begleitung des Diakons Heraklius, der ihm den Brief
des Hieronymus überbrachte, möglich sein werde, seinen
Besuch in Bethlehem auszuführen.') Wir hören nichts weiter
von Castrutius und wissen daher nicht, ob er wirklich nach
Bethlehem gelangte.
Heraklius scheint aber im nächsten Jahre wieder nach
Bethlehem gekommen zu sein, wobei er den Brief eines
vermutlich auch aus Pannonien stammenden Presbyters Vitalis
dem Hieronymus aushändigte und auf der Rückreise das
Antwortschreiben des Hieronymus mit zurücknahm.-) Vitalis
hatte schon vorher mit Hieronymus in einen Briefwechsel
einzutreten versucht, aber sein Brief, den er einem Schiffsherrn
Zeno zur Besorgung übergeben hatte, war dem Hieronymus
nicht bestellt worden. Hieronymus ist darüber verwundert,
da ihm Zeno einen gleichzeitig an ihn abgesandten Brief des
Bischofs Amabilis richtig zugestellt hatte. Er konnte sich die
Sache nur mit dem Irrtum des Mannes, den er als durchaus
zuverlässig kannte, erklären: Der griechisch sprechende
Schiffseigner — wir gewinnen einen interessanten Einblick in
die antike Briefbestellung — habe die lateinische Adresse
nicht entziffern können. ) Erst auf den zweiten, ihm durch
den Diakon Heraklius überbrachten Brief des Vitalis konnte
Hieronymus antworten. Vitalis hatte ihm die Frage vorgelegt,
warum Salomo und Ahas nach den Büchern der Könige
bereits im Alter von elf Jahren Kinder gezeugt haben. Hiero-
nymus ist ärgerlich, daß man ihm immer mit solchen Fragen
kommt, die nur fromme Neugier stellt, und ziemlich deutlich
antwortet er ihm, daß der Apostel Paulus, indem er die un-
begrenzten Genealogien und die jüdischen Fabeln verbietet,
derartige Fragen zu untersagen scheint: „denn was nützt
es am Buchstaben zu hängen oder an dem Irrtum. des
Schreibers und an der Zahl der Jahre Kritik zu üben, da
deutlich geschrieben steht: der Buchstabe tötet, aber der Geist
') Ep. 68, 2, Valiarsi 1, 409.
») Ep. 72, 1, Valiarsi 1, 434.
•) Ep. 72, 1, Valiarsi I, 434: nisi forte graeco homini latinus sermo
inter chartulas oberravit.
Wiederanknüpfung mit Rom.
221
macht lebendig."') Aber er mußte dem Vitalis doch etwas
antworten und so verwies er ihn darauf, daß noch vieles
andere in der Heiligen Schrift erzählt wird, was unglaublich
erscheint, aber dennoch wahr sei. Geschehen doch auch noch
heutzutage Wunder: So sei in Lydda ein Mensch mit zwei
Köpfen, vier Händen, einem Bauch und zwei Füßen geboren
worden. Und er habe von einem unkeuschen Weibe gehört, das
durch einen zehnjährigen Knaben geschwängert worden sei. Im
letzteren Falle sei auch die göttliche Absicht des Wunders
erkennbar, da die Unkeuschheit des Weibes, das den Knaben
zur Unzucht mißbrauchte, offenbar gemacht werden sollte.
Das Kinderzeugen Salomos und Ahas im jugendlichen Alter sei
ein Zeichen ihrer Wollust. Aber noch einen zweiten Lösungs-
versuch apologetischer Art, der den Makel vom Charakter der
beiden Könige nimmt, gab Hieronymus dem Vitalis. Nach
jüdischer Sitte wurden die Regierungsjahre der Könige, die
Mitregenten ihrer Väter waren, noch den letzteren angerechnet,
so daß jene elf Jahre bei Salomo und Ahas nur den Zeitpunkt
angeben, an dem sie zu Mitregenten angenommen wurden,
nicht das Alter, in dem sie Kinder zu erzeugen begonnen
hatten. Aber wohl ist dem Hieronymus bei derartigen Lösungs-
versuchen nicht; dazu besaß er doch zu viel wissenschaftlichen
Sinn, um nicht das Künstliche derselben zu empfinden. Er
möchte in Zukunft mit derartigen Fragen nicht mehr behelligt
werden; und mit einer nicht mißzuverstehenden Deutlichkeit
schrieb er an Vitalis, daß derartige Fragen nicht so wohl die
Sache eines wißbegierigen Mannes als eines Müßiggängers
zu sein scheinen.') Wir hören von keinem weiteren brieflichen
Verkehr des Hieronymus mit Vitalis. Sein Landsmann hatte
wohl den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Was lag einem
Hieronymus jetzt an der Freundschaft eines pannonischen
Priesters, seit er aus allen Ländern von den angesehensten
Männern und Frauen angegangen wurde.
') Ep. 72, 5, Vallarsi I, 437.
•-') Ep. 72, 5, Vallarsi I, 437.
222 Wiederanknüpfung mit Rom.
§ 40.
Neue Freunde und Freundinnen.
Als Hieronymus Rom 385 verließ, hatte er sich nach Frieden
gesehnt, aber seit der Mitte der neunziger Jahre des vierten
Jahrhunderts u^urde sein Kloster in Bethlehem, je länger je
mehr, zu einer Wallfahrtsstätte. Im Grunde war ihm dies recht.
Wie er einst den enthusiastischen Entschluß der Jugend, als
Einsiedler in der Wüste Chaicis zu leben, nicht durchzuführen
vermochte, sondern sich lieber als Beichtvater und Seelenführer
des weiblichen Hochadels in Rom versuchte, so schmeichelte
es seinem Ehrgeiz, daß Menschen aus allen Ländern der zivili-
sierten Welt nach Bethlehem kamen oder mit ihm wenigstens
Briefe austauschen wollten. Die Stille des klösterlichen Asyls
in Bethlehem war zwar dahin, aber es wurde einer der
wichtigsten Brennpunkte des religiösen Lebens des Zeit-
alters, und Hieronymus erschien als ein lebendiger Heiliger,
dem man seine Verehrung bezeugte oder den man um seinen
Rat anging.
Schon 3Q3 wandte sich ein Gallier Desiderius an Hiero-
nymus und bat ihn um die Zusendung seiner Werke. Desi-
derius, ein vornehmer, reicher und rhetorisch gebildeter Mann,
hatte die Initiative bei der Anknüpfung des Freundschafts-
verhältnisses ergriffen und Hieronymus in seinem Briefe in der
üblichen Weise Weihrauch gestreut, indem er ihm die Palme
der Beredsamkeit zuerkannte.') Hieronymus fühlte sich dadurch
sehr geschmeichelt und wußte gar nicht, wie er dieses dick
aufgetragene Lob erwidern sollte: „Wer und wie groß bin ich,
daß ich das Zeugnis der Gelehrsamkeit verdiene. Du kennst
doch unsern Grundsatz, die Fahne der Demut festzuhalten und
durch Niederungen wandelnd die Höhe zu ersteigen." Dies
schließt natürlich nicht aus, daß er ihm mit gleicher Münze
dient und seinen Brief als ein Kunstwerk der Beredsamkeit
preist. Nach diesen üblichen Verbeugungen wünscht er Desi-
derius und seiner heiligen, verehrungswürdigen Schwester
') Ep. 47, 1, Vallarsi I, 208.
Wiederanknüpfung mit Rom. 223
Serenilla Glück dazu, daß sie beide die Fluten der Welt gebändigt
haben und zur Ruhe Christi gelangt sind, d. h. nichts anderes, als
daß beide Ehegatten sich zu einem enthaltsamen Leben ent-
schlossen haben.') War es doch wieder ein Triumph des
asketischen Geistes des Zeitalters, daß ein vornehmer Römer
und seine Gattin im das Evangelium der Enthaltsamkeit
waren gewonnen worden.
Im Auftrage der Paula, zu der Desiderius jedenfalls
Beziehungen hatte, lud er ihn zu einer Wallfahrt nach den
heiligen Stätten ein, um ihre klösterliche Gemeinschaft kennen
zu lernen. Vielleicht hoffte man ihn dort zu halten und
den Klöstern eine weitere finanzielle Sicherung zu geben,
da, wie bereits oben hervorgehoben wurde, die Mittel durch
die profuse Wohltätigkeit der Paula erschöpft waren. Sehr
herzlich und dringend ist übrigens die Einladung des Hierony-
mus nicht ausgefallen. Er setzt ihm lange die Schwierigkeiten
auseinander, die einer Reise nach dem heiligen Lande entgegen-
stehen, und setzt auch den Fall, daß ihm ihre klösterliche
Gemeinschaft nicht gefalle. Es scheint mehr der Wunsch der
Paula als sein Wunsch gewesen zu sein, daß Desiderius komme.
Vielleicht witterte er in dem vornehmen Römer einen Kon-
kurrenten, der seiner autoritativen Stellung gefährlich werden
könnte; denn als wenige Jahre später Paulin von Nola nach
Bethlehem kommen wollte, winkte er so entschieden ab, daß wir
uns seine sonderbare Haltung nur aus diesem Motiv erklären
können. Von seinen Werken sandte Hieronymus dem Desiderius
zunächst nichts zu, da, wie er sagt, die meisten aus ihrem Neste
entflogen und durch voreilige Ehre ihrer Herausgabe in alle
Welt verbreitet sind,") um ihm nichts zuzuschicken, was er
schon besitze. Er empfahl ihm aber, falls er seine Werke zu
entleihen wünsche, sich an seine Freundin Marcella, die auf
dem aventinischen Hügel wohne, oder an seinen Freund Domnio
zu wenden und verwies ihn auf das Verzeichnis seiner Werke,
das er im Katalog der berühmten Männer gegeben habe. Wenn
Desiderius sich dies Verzeichnis von seinem römischen Freunde
') Ep. 47, 2, Vailarsi I, 208.
2) Ep. 47, 3, Vailarsi I, 209.
224 Wiederanknüpfung mit Rom.
geben lasse, so wolle er ihm gern die Werke, die er noch
nicht besäße, abschreiben lassen und zuschicken.
Die Freundschaft mit Desiderius fand in der Folgezeit ihre
Fortsetzung. Desiderius kam zwar nicht nach Bethlehem,
wenigstens hören wir nichts davon; aber Hieronymus blieb mit
ihm in brieflichem Verkehr und dedizierte ihm seine Übersetzung
des Pentateuch aus dem Hebräischen.') Da Desiderius auch zu
Paulin von Nola") und Sulpicius Severus, der ihm seine Vita
Martins von Tours zueignete, Beziehungen unterhielt, so sehen
wir, wie hin- und herüber die Fäden zwischen den Vertretern
der asketischen Ideale gesponnen wurden. Desiderius wurde
später Priester in einer Aquitanischen Diözese, die in der Nähe
des Wirkungskreises des Vigilantius lag, und denunzierte diesen
wegen seiner Ketzereien und seiner Gegnerschaft gegen das
Mönchtum bei Hieronymus, so daß der alte Vorkämpfer der
Mönchspartei zur Feder griff und eine seiner bissigsten Streit-
schriften verfaßte.')
Im Jahre 3Q5 trug eine noch hervorragendere Persönlich-
keit, Paulin von Nola, Hieronymus seine Freundschaft an.
Paulin war erheblich jünger als Hieronymus; 353 zu Bordeaux
geboren, entstammte er einer der edelsten und reichsten Familien
des Landes. Durch den Dichter Ausonius war er zum eleganten
Stilisten in Prosa und Versen gebildet worden.') Durch seine
Familienverbindungen machte er rasch Karriere. Martin von
Tours, dessen Wunderkraft er die Heilung eines kranken Auges
verdankte, und Ambrosius, in dem er seinen Vater und Führer
zum Glauben verehrte, gewannen ihn für die asketischen
ideale. Da seine Frau Therasia, die ihm ein Kind geschenkt
hatte, das aber schon nach acht Tagen starb, die Gesinnung
ihres Gatten teilte, so beschlossen beide, sich dem Mönchs-
leben zu weihen. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in
Spanien ließ er sich in Nola nieder, da der römische Bischof
Siricius, der kein Freund der Mönche war, den vornehmen
Mann nicht sehr liebevoll in Rom aufgenommen hatte, weil
') s. § 33.
-') S. Paulini ep. 43 ad Desiderium.
') Adv. Vigil. c. 3, Vallarsi II, 389.
♦) s. Hauck, A. Paulin von Nola, R. E.\ XV, 55 ff.
Wiederanknüpfung mit Rom. 225
er von ihm, wie Hauck meint,') eine Verminderung der eigenen
Unumschränktheit besorgte. Hier an einem besuchten Wall-
fahrtsorte, dem Grabe seines Lieblingsheiligen Felix, erbaute
er aus seinen reichen Mitteln eine große Basilika. In einem
Hospital für Mönche und Arme, das er ebenfalls errichtet hatte,
richtete er für sich und seine Frau Therasia eine dürftige
Wohnung ein, um sich den asketischen Lebensübungen hin-
zugeben.
Wie mit Augustin, suchte Paulin nun auch mit Hiero-
nymus in Beziehung zu treten. Durch einen Bruder Am-
brosius übersandte er ihm Geschenke und einen Brief, von
dem Hieronymus rühmte, daß er bereits am Anfang ihres
Freundschaftsverhältnisses die Bürgschaft schon erprobter Treue
und alter Freundschaft in sich trüge.') Hieronymus antwortete
ihm in einem in blühendstem Rhetorenstile verfaßten Briefe.
Er wollte dem Schüler des Rhetoren Ausonius zeigen, daß auch
er nicht vergeblich alle Kniffe der Rhetorik in Rom erlernt
hatte. Der Grundgedanke seiner langatmigen Aufzählung der
Beispiele der heidnischen Philosophen und der christlichen
Apostel, auf den es ihm ankommt, ist, daß die höchste Stufe
christlicher Vollkommenheit in der Verbindung von mönchischer
Heiligkeit mit Bildung und Gelehrsamkeit bestehe: Heiligkeit
ohne Bildung nützt nur sich allein, und so viel sie die Kirche
Christi erbaut auf das Verdienst des Lebens, so viel schadet
sie, weil sie den Gegnern nicht zu antworten vermag.^) Pytha-
goras, Plato, Apollonius von Tyana trieb die Lernbegierde in
die weite Welt; Paulus suchte bei Petrus Belehrung: aber die
göttliche Weisheit ist nur in Christo enthalten, und von diesem
zeugen die heiligen Schriften. Wie der äthiopische Eunuch
aber einen Lehrer brauchte, der ihm die Schrift erklärte, so
kannst du ohne Führer und Wegweiser nicht in den Geist
der Heiligen Schrift eindringen. Wie Grammatik, Rhetorik,
Philosophie, Geometrie, Dialektik, Musik, Astronomie, Astrologie
und Medizin erlernt werden wollen und auch die verschiedenen
Handwerke des Maurers, Ackerbauers, Zimmermanns, Schneiders,
') R. E.^ XV, 56.
-) Ep. 53, 1, Vallarsi I, 268.
4 Ep. 53, 6, Vallarsi I, 273.
Qrützmaclier, Hieronymus. II. 15
226 Wiederanknüpfung- mit Rom.
Holzhauers, Webers und Gerbers ohne Lehrer nicht ausgeübt
werden können, so will auch die Kunst, die Heilige Schrift
auszulegen, erlernt werden. Mit bitterer Ironie beklagt sich
Hieronymus, daß jede schwatzhafte alte Frau, jeder kindisch
gewordene Greis, jeder phrasenmachende Sophist die Kunst
der Auslegung der heiligen Schriften ausüben zu können glaube,
daß sie lehren, bevor sie etwas gelernt haben. Bei dieser un-
methodischen Bildung bringt man es dann fertig, wie es in den
aus Versen Homers oder Vergils zusammengestellten Machwerken
geschieht, Vergil zum Christen zu machen, weil er in der vierten
Ekloge schreibt: „Schon kehrt auch die Jungfrau zurück und
Saturnische Reiche. Senkt sich herab auch ein wunderbar'
Kind aus himmlischer Höhe." Als Führer in das Studium
der heiligen Schriften möchte sich Hieronymus dem Paulin
anbieten: „Ich weise es von mir, Lehrer zu sein, ich biete
mich bloß zum Gefährten an."') Eine kurze Inhaltsangabe der
heiligen Schriften alten und neuen Testaments und der darin
enthaltenen Geheimnisse sollte Paulin die Beschäftigung mit
ihnen besonders verlockend erscheinen lassen.
Aber für exegetische Arbeiten zeigte Paulin keine Neigung.
Seine Bildung war fast ausschließlich lateinisch, das Griechische
verstand er zwar,') aber der Mangel an gründlichen sprach-
lichen Kenntnissen war ihm doch fühlbar. Er betätigte sich
lieber als christlicher Hymnendichter, wo er wie in seinen
Hymnen auf den heiligen Felix seiner Phantasie in dem Spiel
geistreicher Allegorien noch freier die Zügel schießen lassen
konnte als bei der Exegese der Heiligen Schrift.
Auch einen Appell zu vollkommener Weltentsagung richtete
Hieronymus an Paulin. Er hatte von Eusebius von Cremona,
dem Freunde Paulins, der gerade bei ihm in Bethlehem weilte,
von seiner Weltverachtung, der Ehrwürdigkeit seiner Sitten, der
Treue seiner Freundschaft und seiner Liebe zu Christus gehört,
aber Paulin hatte sich noch einen Einfluß auf die Verwendung
seiner Güter vorbehalten. So mahnte ihn Hieronymus, vollen
Ernst mit dem Mönchsideal zu machen und seinen ganzen
') Ep. 53, 9. Vallarsi I, 279.
•') Hauck, A. Paulin von Nola, R. E.', XV, 56.
Wiederankniipfiing mit Rom. 227
Besitz rasch zu verschenken. Er will i<eine Kompromisse:
„Wenn du es immer auf morgen verschiebst und es einen Tag
um den anderen hinziehst und vorsichtig und nach und nach
deine Besitzungen veri<aufst, so hat Christus nichts, womit er
seine Armen unterhält. Der gibt Gott alles, der sich ihm selbst
gibt. Leicht verachtet der alles, der immer an seinen Tod
denkt." ') Es ist merkwürdig, daß Hieronymus immer anderen
die völlige Entäußerung des Besitzes anriet, während er selbst
es noch nicht einmal getan hatte, sondern erst wenige Jahre
später seinen Bruder Paulinian in die Heimat sandte, um seinen
Besitz zu verkaufen und den Ertrag für sein Kloster zu ver-
wenden.') Wenn auch Paulin auf den in väterlichem Tone
gehaltenen Brief des Hieronymus hin keine Anstalten machte,
sich als Exeget unter seiner Anleitung zu betätigen, so äußerte
er doch ein Jahr später den Wunsch, die heiligen Stätten zu
besuchen und Hieronymus persönlich kennen zu lernen. Gleich-
zeitig übersandte er ihm einen Panegyrikus auf den Kaiser
Theodosius, den er vor kurzem verfaßt und dem Kaiser über-
sandt hatte.')
Hieronymus befand sich auf die Ankündigung seines
Kommens in arger Verlegenheit. Vor wenigen Jahren hatte
er seine römische Freundin Marcella eingeladen, nach der
heiligen Stadt zu kommen; mit der höchsten Begeisterung
hatte er ihr den Aufenthalt im heiligen Lande angepriesen;')
schon merklich kühler war seine Einladung gehalten, die er
vor zwei Jahren an den vornehmen Gallier Desiderius im Auf-
trage der Paula hatte ergehen lassen. Jetzt aber suchte er
Paulin geradezu von der Wallfahrt abzuhalten. Ein Doppeltes
wird hierbei Hieronymus bestimmt haben. Marcella, seine
römische Freundin, hätte sich, wenn sie nach Jerusalem ge-
kommen wäre, trotz all ihrer Selbständigkeit seiner Leitung
unterstellt; daß der vornehme Paulin nicht ein Gleiches getan
hätte, konnte er sich selbst sagen, zumal da er ihn nicht nur
aus seinen Briefen, sondern auch aus der Schilderung des
58.
13
') Ep.
53,
10
, Vallarsi
, 279.
') s. §
39
•"') Hau
ck,
A.
Paulin R.
E.3 XV
') Ep.
46,
2,
Vallarsi I,
198.
228 Wiederanknüpfiing mit Rom.
Eusebius von Cremona kannte. Bei aller Liebenswürdigkeit
war Paulin ein durchaus selbständiger Charakter; die Treue
gegen seine Freunde, die Eusebius dem Hieronymus als seinen
besonderen Charakterzug gerühmt hatte, war so zäh, daß
Paulin seinem Freundschaftsbündnis mit Augustin und Hiero-
nymus zuliebe nicht ihre Gegner Rufin, Vigilantius, Pelagius
und Julian von Eclanum opferte, sondern auch ihnen die Freund-
schaft hielt. Es kam weiter hinzu, daß bereits damals das
Verhältnis des Hieronymus zu dem Bischof Johannes von
Jerusalem sich unerfreulich zu gestalten begann. Paulin konnte
ihm in Jerusalem recht unbequem werden, und so gab er sich
die erdenklichste Mühe, den geliebten Bruder fernzuhalten.
Daß er dabei ein böses Gewissen hat, spricht deutlich aus
seinen Worten: „Indem ich aber dies sage, klage ich mich
nicht selbst des Widerspruches mit mir an und verdamme nicht,
was ich selbst tue, als hätte ich vergeblich nach dem Beispiel
Abrahams die Meinen und mein Vaterland verlassen, sondern
ich wage nur nicht die Allmacht Gottes in eine enge Grenze
einzuschließen und auf einen kleinen Fleck der Erde den zu
beschränken, welchen der Himmel nicht faßt." ')
Dem vielgewandten Hieronymus ist es natürlich ebenso gut
möglich, für die Wallfahrt nach Jerusalem, wenn er sie wünscht,
wie gegen eine solche, wenn er sie nicht wünscht, eine Fülle von
Argumenten beizubringen. Die Gläubigen, so schreibt er an
Paulin, werden nicht nach der Verschiedenheit des Ortes,
sondern nach dem Verdienst des Glaubens gewogen; und die
wahren Anbeter beten weder zu Jerusalem, noch auf dem Berge
Garizim den Vater an, sondern weil Gott Geist ist, müssen
seine Anbeter ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.
Sowohl von Jerusalem wie auch von Britannien steht der
Himmel in gleicher Weise offen; denn das Reich Gottes ist
in Euch. Antonius und alle Mönche Ägyptens, Mesopotamiens,
Pontus und Armeniens haben Jerusalem nie gesehen, und doch
steht ihnen fern von dieser Stadt die Paradiesestür offen. Der
selige Hilarion, der aus Palästina gebürtig war und dort lebte,
war nur an einem einzigen Tage in Jerusalem. Von der Zeit
') Ep. 58, 3, Vallarsi I, 318.
Wiederanknüpfung mit Rom. 229
Hadrians bis zur Herrschaft Konstantins, hundertaciitzig Jahre,
stand auf der Stätte der Auferstehung ein Jupiterbild und auf
dem Hügel des Kreuzes ein marmornes Venusbild, das die
Heiden verehrten; denn die Verfolger glaubten, sie würden
uns den Glauben an die Auferstehung und Kreuzigung nehmen,
wenn sie die heiligen Stätten mit Götzenbildern besudelten.
Unser Bethlehem, die heiligste Stätte des Erdkreises, von der
der Psalmist singt: „Die Wahrheit sprosset aus der Erde
hervor", umschattete ein heiliger Hain des Thammuz oder
Adonis, und in der Höhle, wo einst Christus als Kindlein
wimmerte, erscholl die Totenklage um den Liebling der
Venus. ') Für einen Mönch ist es nur von Wichtigkeit, die
Städte und das Getümmel der Städte zu verlassen, und des-
halb sollte ein Mann wie Paulin, der einst eine so angesehene
Stellung in der Welt eingenommen hatte, sich auf ein ein-
sames Landgut zurückziehen.) in schwärmerischer Verzückung
hatte Hieronymus einst der Marcella Jerusalem gepriesen:
Wir sagen dies freilich nicht in dem Sinne, als ob wir etwa
leugneten, daß das Reich Gottes in uns selbst sei oder als
ob es nicht auch anderwärts noch heilige Männer gebe,
sondern wir behaupten nur gewiß, daß die, welche auf dem
Erdkreise die Vornehmsten sind, hier gemeinschaftlich sich
einfinden.^) Und jetzt rät er Paulin ab nach Jerusalem zu
kommen. In nüchternster Weise schildert er ihm die heilige
Stadt als eine Großstadt wie viele andern mit einer Rats-
versammlung, einer Garnison, einer Schaubühne und sogar mit
einem Bordell. Ja, wenn Jerusalem nur von Mönchen besucht
würde, dann müßte dieser Aufenthaltsort ein Eldorado für
Mönche sein, aber jetzt gibt sich der ganze Erdkreis hier ein
Stelldichein, und die Stadt ist voll von jeder Art Menschen
und es herrscht ein solches Gedränge beiderlei Geschlechts,
das Paulin hier ertragen müßte, und dem er anderwärts aus
dem Wege gehen könne.')
Paulin hatte aber Hieronymus in seinem Briefe auch die
1) Ep. 58, 3, Vallarsi I, 319.
«) Ep. 58, 5, Vallarsi I, 320.
s) Ep. 46, 10, Vallarsi I, 205.
*) Ep. 58, 4, Vallarsi 1, 320.
230 Wiederanknüpfung mit Rom.
Frage vorgelegt, ob er sich zum Priester weihen lassen
solle. Hieronymus wagte nicht ihm ausdrücklich davon ab-
zuraten: Wenn du das Amt des Priesters verwalten willst,
wenn dich die Mühe und die Ehre des bischöflichen Amtes
ergötzt, so lebe in den Städten und Kastellen, wenn du aber
ein Mönch sein willst, d. h. ein einsam Lebender, was tust du
in den Städten?') Mit mönchischem Hochmut sieht Hiero-
nymus doch auf die Kleriker herab und schildert Paulin das
Mönchsleben als das wahre christliche Leben: „Ich beschwöre
dich, da du an deine heilige Schwester Therasia gefesselt bist
und noch nicht vollkommen mit freien Schritten einhergehst,
meide die Gesellschaft der Menschen, lebe in strenger Askese,
lies die Heilige Schrift und teile mit eigner Hand den Armen
dein Vermögen aus.'") Abermals fordert er Paulin wie im
ersten Brief auf, seine gewandte Feder, die er in dem Panegyrikus
auf den Kaiser Theodosius von neuem bewundert hatte, in
den Dienst der christlichen Exegese zu stellen: Nichts
Schöneres, nichts Gelehrteres, nichts Lieblicheres, nichts in
der lateinischen Sprache Vollkommeneres würde es geben als
seine Schriften. Paulin würde der erste unter den christlichen
Lateinern werden, eine Zierde der Kirche, wie er früher eine
Zierde des Senats war. Der Priester Vigilantius, der ihm den
Brief Paulins überbracht hatte, nahm seinen Brief wieder an
Paulin mit zurück; es ist derselbe Vigilantius, den er später
so bitter bekämpfte, den er hier noch als den heiligen Priester
Vigilantius bezeichnet.
Die Freundschaft zwischen Paulin und Hieronymus wurde
aber keine besonders innige. Paulin ging seine eignen Wege, und
trotz des dringenden Zuredens des Hieronymus wandte er sich in
richtiger Einschätzung seiner Kräfte nicht der Exegese der
Heiligen Schrift zu. Im Jahre 409 wurde er auf den Bischofsstuhl
von Noia erhoben und verwaltete sein Amt mit Gewissenhaftig-
keit. Er war doch ein zu anders gearteter Charakter, um sich
zu Hieronymus dauernd hingezogen zu fühlen, mit dem er
eigentlich nur die Schwärmerei für die asketischen Ideale
') Ep. 58, 5, Vallarsi I, 320.
*) Ep. 58, 6, Vallarsi I, 322.
Wiedcranknüpfuno mit Rom.
231
gemein hatte. Im übrigen fand er bei seiner quietistisch
beschaulichen Frömmigkeit keinen Gefallen an den dogmatischen
Kontroversen seiner Zeit und nahm auch keine entschiedene
Stellung dazu, so daß er Rufin, Vigilantius und Pelagius nicht
fallen ließ, während Hieronymus mit zunehmendem Alter ein
Fanatiker der Orthodoxie und grimmiger Verfolger der Ketzer
wurde.
Der einzige Brief des Hieronymus an Paulin, der uns noch
erhalten ist,') stammt aus dem Jahre 400 — einige kleinere
Briefe des Hieronymus an Paulin sind für uns verloren
gegangen") — aber dieser Brief zeigt, daß auch auf Seite des
Hieronymus das Interesse für Paulin stark erkaltet ist. Paulin
hat ihm zwei exegetische Fragen vorgelegt, die erste
Rom. Q, 16 betreffend, warum Gott das Herz des Pharao
verhärtet habe und der Apostel sage, es steht nicht in
unserm Wollen und Laufen, sondern bei Gott, der sich
erbarmte, was doch den freien Willen aufzuheben scheine, und
die andere, wie nach 1. Kor. 7, 14 die Kinder heilig sein
könnten, welche von den Gläubigen, d. h. Getauften, geboren
würden, da sie doch ohne das Geschenk der Gnade, die erst
nachher empfangen wird und bewahrt werden muß, nicht
selig werden können. Es sind dies beides Fragen, die im
Streite Augustins und Pelagius' in den Vordergrund traten.
Man sieht, daß sie bereits in der Luft lagen. Hieronymus
gab dem Paulin auf diese Fragen keine Antwort, einfach weil
er in dieser schwierigen dogmatischen Materie nichts zu sagen
weiß und nichts zu sagen wagt. Er verdeckt seine Hilf-
losigkeit damit, daß er ihm vorrenommiert, wie wenn ein
Schiff nach dem Occident abgehe, er soviel Briefe schreiben
müsse, daß er es kaum bewältigen und deshalb nur kurze
Briefe schreiben könne. Er sonnt sich in seinem Ruhm, von
aller Welt befragt zu werden und glaubte sich deshalb über-
hoben, sich über solche heiklen Probleme, wie sie ihm Paulin
gestellt hat, den Kopf zu zerbrechen. Er drückt sich um
jede selbständige Meinungsäußerung und verweist Paulin
1) Ep. 85, Vallarsi I, 529.
*) Ep. 85, 1, Vallarsi I, 528: quod qiiereris, me parvas et incomtas
literulas mittere, non venit de incur.'a.
232 Wiederanknüpfung mit Rom.
für die erste Frage einfach auf Origenes Schrift jri-gi dg/cöv
und für die zweite Frage auf Tertullians de monogamia. Auch
macht ihm seine Arbeit an der Übersetzung der Schrift des
Origenes Ttegl uq/ojv und am Danielkommentar angeblich eine
ausführliche Antwort unmöglich. Hieronymus bedankt sich dann
noch für das ihm geschenkte Käppchen, um sein greises Haupt zu
erwärmen, klein an Gewebe, aber groß durch die Liebe, das er
gern angenommen und sich dabei des Geschenks und des
Urhebers des Geschenkes gefreut habe. Vielleicht hatte Paulin
nach diesem Brief des Hieronymus den Geschmack an einer
Fortsetzung seines Briefwechsels mit dem eitlen Mann ver-
loren, der doch auf die ihn beschäftigenden Fragen keine
Antwort zu geben wußte. Jedenfalls hören wir nichts mehr
in der Folgezeit über weitere Beziehungen der beiden Männer.
Von überall her wandte man sich an Hieronymus; bald
sind es exegetische, bald praktisch-kirchliche Fragen, über die
man seinen Rat einholte. Wie ein lebendiges Orakel mußte
er über alles Rede stehen, und er war auch immer bereit,
aus dem Schatze seines Wissens Altes und Neues hervor-
zubringen. Ein Freund des Paulin von Nola, der gallische
Priester und spätere Bischof von Burdigala, Amandus, bat ihn
um Aufschluß über drei dunkle Bibelstellen Matth. 6, 34,
1. Kor. 6, 18 und 1. Kor. 15, 25.') Von Interesse ist vor
allem die Antwort des Hieronymus, in der er sich mit
1. Kor. 15, 25 beschäftigt. Diese Stelle, wonach am Ende der
Weltzeit sich der Sohn dem unterwerfen wird, der ihm alles
unterworfen hat, so daß Gott alles in allem sei, konnte unter
Voraussetzung der orthodoxen Trinitätslehre leicht Anstoß
erregen. Hieronymus verweist den Amandus zunächst auf
das elfte Buch des Hilarius von Poitiers gegen die Arianer,
in dem er sich mit dieser Frage beschäftige, und versucht
dann seinerseits eine Lösung zu geben. Es heißt ja nicht
beim Apostel: „Der Vater wird alles in allem, sondern Gott
') Ep. 55 ad Amandnm, Vallarsi I, 293, s. Anm. a. Die Über-
lieferung des Briefes scheint nicht in Ordnung zu sein, einige Hand-
schriften Vallarsi I, 2Q7, Anm. b, beginnen mit ep. 55, 5 einen neuen
Brief an Amandus. Wahrscheinlich ist ep. 55, 5 vor ep. 55, 3 u. 4 zu
stellen.
Wiederankniipfung mit Rom. 233
alles in allem sein." Gott ist aber nach Hieronymus der
Name der Trinität und kann auf den Vater, Sohn und heiligen
Geist bezogen werden, so daß der Sinn sei, am Ende der
Weltzeit werde die Menschheit der Gottheit unterworfen
werden. Durch diese Kasuistik glaubte er denSubordinatianismus,
den man der Stelle entnahm, abgewehrt zu haben.
Amandus hatte seinem Brief noch ein kurzes Briefchen bei-
gefügt, in dem er Hieronymus um Beantwortung der Frage bat,
wie man sich einer Frau gegenüber zu verhalten habe, die ihren
ehebrecherischen und sodomitischen Mann verlassen habe und
nun mit einem anderen Manne zusammenlebe, wenn sie in der
Kirche zum Tische des Herrn gehen wolle, während ihr erster
Gatte noch lebe. Wir bekommen durch den angezogenen
Fall einen Einblick in die Zerrüttung der Ehen und die wider-
liche Verkehrtheit der sittlichen Zustände. Amandus scheint
nicht übel Lust gehabt zu haben, die Frau ohne vorherige
Kirchenbuße zur Kommunion zuzulassen. Er sucht die Frau
in jeder Weise zu entschuldigen, vor allem damit, daß der
zweite Mann sich ihrer gewaltsam bemächtigt habe; aber
Hieronymus äußert starke Zweifel an der Unschuld der Frau
und begründet dies treffend damit: „Warum hat denn später
nicht die Geraubte den Räuber verlassen?"') Es war wahr-
lich keine leichte Aufgabe für die Kirche und die Priester, in
diesem sittlichen Chaos wenigstens noch ein Stück Ordnung
aufrecht zu erhalten. Was ihr zu Hilfe kam, war der uner-
schütterliche Glaube ihrer Glieder an die Heilsmittlerschaft
der Kirche. Dieses Weib, das sich zwar über das Verbot der
Kirche, eine zweite Ehe bei Lebzeiten des ersten Mannes ein-
zugehen, hinweggesetzt hatte, wollte doch nicht auf das Heils-
mittei der Kirche, den Genuß des Leibes Christi, verzichten,
und an diesem Punkte konnte die Kirche mit ihrer Zucht ein-
setzen. Hieronymus schärfte dem Priester Amandus energisch
ein, keine Konzession irgendwelcher Art zu machen. Nach
dem Worte des Apostels \. Kor. 7, 3Q darf eine Frau, deren
Mann noch lebt, in keinem Falle wieder heiraten, und wenn
sie kommunizieren will, muß sie erst Buße tun und zwar so,
') Ep. 55, 4, Vallarsi 1, 296.
234 Wiederankniipfung mit Rom.
daß sie sich von dem zweiten Manne, der nicht ihr Mann,
sondern nur ein Ehebrecher genannt werden könne, von der
Zeit der Buße an trennt. Hieronymus hat richtig erkannt,
daß die Kirche dem weiteren Verfall nur durch scharfe Be-
hauptung ihrer sittlichen Forderungen erfolgreich entgegen-
arbeiten konnte.
Ein anderes Mal hatte ein Priester Evangelus dem Hiero-
nymus ein anonymes Buch über den Priesterkönig Melchisedek
gesandt, in dem diese geheimnisvolle Persönlichkeit mit dem
heiligen Geist identifiziert wurde.') Hieronymus sollte ihm
nun seine Meinung über den Traktat schreiben. Er antwortete
zunächst mit einem ausführlichen Referat der Meinungen der
alten Exegeten. Nur Origenes und Didymus halten Melchisedek
für einen Engel, aber sie sind dem Hieronymus bereits als
Ketzer verdächtig; die übrigen Kirchenväter Hippolyt, Irenäus,
Eusebius von Cäsarea, Eusebius von Emesa, Apollinaris und
Eustathius von Antiochia sehen in ihm einen Menschen, einen
Kananäer und König der Stadt Salem d. h. Jerusalems. Nach
der hebräischen Tradition wird Melchisedek mit Sem, dem
ersten Sohne Noahs, identifiziert. Der Königssitz des
Melchisedek ist nach Hieronymus aber nicht, wie Josephus
und alle unsrigen meinen, in Jerusalem, sondern einem kleinen
Städtchen Salem bei Skythopolis zu suchen, wo man noch
heute die Ruinen des Palastes des Melchisedek zeige. Das
Resultat, zu dem Hieronymus gelangt, ist ein nüchtern kritisches;
er will, wie Zöckler") sagt, nichts von den gnostisch-
spiritualistischen Apotheosierungsgelüsten wissen, die man mit
der geheimnisvollen Persönlichkeit des Melchisedek trieb.
Derselbe Evangelus hatte auch an Hieronymus eine Anfrage
gerichtet, wie es sich denn mit dem Verhältnis der Presbyter
zu den Diakonen verhalte, da in einzelnen Gemeinden wie in
der römischen sich die Diakonen den Vorrang vor den
Presbytern anmaßten und auf das Zeugnis eines Diakonen ein
') Ep. 73, Vallarsi I, 438; Vallarsi I, 438, Anm. e hat die anonyme
Schrift in den Quaestiones ex iitroque mixtim, Quaestio 109 bei Augustin
cd. Mauriner HI, 2, Appendix wiedergefunden. Vielleicht lag sie bereits
dem Hippolyt vor, s. Harnack, Altchristi. Literaturgeschichte II, 593.
^) Zöckler, S. 229.
Wiederanknüpfling mit Rom. 235
Presbyter ordiniert zu werden pflegte/) Leidensciiaftiich erregt
beantwortete Hieronymus diesen Brief, da er, wenn er auch
sein Priesteramt als Mönch nicht ausübte, doch von seiner
priesterlichen Würde durchdrungen war. So oft er auf das Ver-
hältnis von Bischof und Priester zu sprechen kam, verteidigte
er eifersüchtig diese Würde. Er konnte es nicht ver-
schmerzen, daß er es nicht zum Bischof gebracht hatte, wie
er einst in Rom gehofft hatte. Er wiederholte seine These,
die er im Tituskommentar breit ausgeführt hatte,') daß Bischof
und Priester ursprünglich dasselbe waren, und nur zur Heilung
der Spaltungen in der Kirche ein monarchischer Bischof an
die Spitze der Gemeinde trat. Er kramt alle seine antiquarischen
Kenntnisse aus: „In Alexandria wählten bis auf die Bischöfe
Heraclas 232—47 und Dionysius 247—64 die Priester stets
einen aus dem Presbyterium, den sie Bischof nannten, ähnlich
wie das Heer den Imperator und die Diakonen den Archidiakon
wählen." Nur das Recht der Ordination hat der Bischof nach
Hieronymus vor dem Priester voraus, sonst nichts. Wenn
aber in Rom die Sitte besteht, daß ein Priester auf das Zeugnis
des Diakons ordiniert wird, so ist dies eine lokale kirchliche
Sitte, die sich einfach daher schreibt, daß die Diakonen in
Rom viel weniger zahlreich als die Priester sind. Wenn sich
aber die Diakonen in Rom sogar erlauben, sich unter die Priester
in der Kirche zu setzen, statt zu stehen, oder bei häuslichen
Gastmahlen den Presbytern den Segen zu erteilen, so ist dies
durchaus als Mißbrauch zu beurteilen. Daß der F^riester über
dem Diakon steht, beweist zur Genüge die Sitte, daß einer
vom Diakon zum Priester und nicht umgekehrt ordiniert wird.
Mit Emphase ruft Hieronymus aus: „Wenn man nach der
Autorität fragt, so ist die Autorität des ganzen Erdkreises
größer als die der Stadt Rom. Wo einer Bischof ist in Rom
oder Eugubium, in Konstantinopel oder Rhegium, in Alexandria
oder Tanis, wenn der Inhaber dieselben Verdienste hat, so
kommt ihm auch dieselbe Priesterwürde zu."') In Rom hätte
^) Ep. 146 ad Evangelum, Vallarsi I, 1074 s. über die zweifelhafte
Datierung Bd. I, 98.
') s. § 29.
"■) Ep. 146, 1, Vallarsi I, 1076.
236 Wiederanknüpfung mit Rom.
er diesen Satz sicher nicht geschrieben, als er sich von der
Sonne der päpstlichen Gunst unter dem Pontifikat des Damasus
bescheinen ließ; aber jetzt lebte er im Orient und ein ihm nicht
besonders wohlgesinnter römischer Bischof Siricius saß auf
dem dortigen Bischofsthron: da verblaßte bei ihm die Idee
des römischen Primats. Als er später im Origenistischen Streit
das Papsttum brauchte, hat er wieder andere Seiten aufgezogen.
Einem sonst unbekannten Presbyter Rufinus,') dessen
Freundschaft ihm der Priester Eusebius von Cremona vermittelt
hatte, sollte Hieronymus über das Urteil des Salomo im Streit
zwischen den beiden hurerischen Weibern 1. König. 3 schreiben.
Hieronymus war von der zwöifmonatlichen Krankheit, die er im
Jahre 398 durchgemacht hatte, noch sehr angegriffen, und eine
schwere und nicht ungefährliche Wunde an der rechten Hand
schmerzte ihn noch. Der Brief zeigt auch eine gewisse
Mattigkeit. Er allegorisiert die Geschichte und bezieht die
beiden Frauen auf die Synagoge und die Kirche, über die der
wahre Salomo, Christus, sein Urteil abgibt.
Bis nach dem fernen Spanien war der Ruhm der Gelehr-
samkeit des Hieronymus gedrungen. Die vorzüglichen Ver-
bindungen ermöglichten einen regen Austausch zwischen den
entlegensten Teilen des Weltreichs, den wir heute noch
bewundern müssen. Ein vornehmer und reicher Spanier Lucinius
hatte im Jahre 398 sechs Schreiber die weite Reise nach
[Palästina machen lassen, nur um sich sämtliche Werke des
Hieronymus abschreiben zu lassen, weil in Palästina ein Mangel
an des Lateinischen kundigen Abschreibern bestand.') Hiero-
nymus fühlte sich natürlich dadurch sehr geschmeichelt; aber
er entschuldigt sich bei Lucinius, daß er wegen seiner langen
Krankheit und auch wegen des Gewühls der Pilger, die ihn
fortwährend im Kloster zu Bethlehem besuchten, nicht im-
stande gewesen wäre, die Arbeit der Abschreiber gehörig zu
überwachen. Wenn sich also in seinen Werken Schreibfehler
finden, so solle Lucinius sie nicht ihm, sondern der Unwissen-
heit der Schreiber und der Sorglosigkeit der Abschreiber zu-
') s. über die Unmöglichkeit der Identifizierung dieses Rufin mit Rufin
aus Aquileja Vallarsi I, 445 Anm. a; ep. 74 ad Rufinum.
') Ep. 75, 4, Vallarsi I, 450.
Wiederanknüpfung mit Rom. 237
rechnen/) Lucinlus hatte ihn in seinem Schreiben auch gebeten,
ihm die Abschriften seiner Übersetzungen desjosephus, Papias,
und Polyl<arp zu übersenden.') Hieronymus teiH ihm mit,
daß er diese Schriften nicht übersetzt habe. Wir sehen, wie
ihm schon zu seinen Lebzeiten bei seiner großen Produktivität
Schriften untergeschoben werden. Die Legendenbildung über
seine Verfasserschaft zahlreicher anonymer Schriften hat bereits
damals begonnen und setzt sich nach seinem Tode fort. Von
seiner Übersetzung aus dem hebräischen Grundtext, die Hiero-
nymus mit Ausnahme des Oktateuch vollendet hatte, scheint
Lucinius aber noch nichts gehört zu haben. Hieronymus ließ
ihm dieses sein Hauptwerk nun auch in Abschriften übermitteln.
Lucinius, der sich mit seiner Gemahlin Theodora der Ent-
haltsamkeit geweiht hatte, beabsichtigte, wie es scheint, auch eine
Pilgerfahrt nach dem heiligen Lande zu unternehmen. Hieronymus
lud ihn aufs herzlichste ein, in Bethlehem seine Wohnung zu
nehmen; mußte ihm doch ein vornehmer und reicher Mann, der
ihn so sehr bewunderte, als eine wichtige Bereicherung für sein
Kloster erscheinen. Gleichzeitig dankte ihm Hieronymus für die
zwei Mäntelchen und den Überwurf, die ihm Lucinius zu eigenem
Gebrauch, oder um sie den Mönchen zu schenken, übersandt
hatte, und erwiderte die Geschenke mit vier Bußzilizien für ihn
und seine Gattin und mit dem Kommentar zu den zehn Visionen
des Jesaia, den er vor kurzem verfaßt hatte. ') Endlich mußte
Hieronymus noch sein Urteil über gewisse provinzialkirchliche
Gebräuche abgeben, worum Lucinius die bethlehemitische
Autorität angegangen hatte. Es handelte sich um das in
Spanien und Rom gebräuchliche Sabbatfasten und den täg-
lichen Empfang der Eucharistie. Hieronymus urteilte in diesem
Punkte merkwürdig tolerant, er wollte noch nichts von einer
Uniformierung der kirchlichen Sitte wissen, sondern schrieb an
Lucinius, jede Provinz möge bei ihrem Sinne bleiben und die
Vorschriften der Vorfahren für apostolische Gesetze halten.^)
') Ep. 71, 5, Vallarsi I, 432.
^) Ep. 71, 5, Vallarsi I, 432.
3) Ep. 71, 7, Vallarsi I, 433.
") Ep. 71,6, Vallarsi I, 433: unaquaeque provincia abundet in sensu
suo et praecepta maiorum leges apostolicas arbitretur.
238 Wiederankniipfiing mit Rom.
Ehe aber Lucinius seinen Entschluß ausführen konnte,
nach Jerusalem zu kommen, wurde er durch einen plötzlichen
Tod hinweggerafft, und Hieronymus konnte nur seine Witwe
Theodora über den Tod des geliebten Mannes trösten. „Er
ist nicht zu bedauern, da er im Himmel ist, wo keine Sünde,
wo die Herrlichkeit, ewiges Lobpreisen und unaufhörlicher
Jubel., ist." ') Im Himmel wird Theodora dereinst mit ihm ver-
eint werden, wo sie zwar nicht als Engel, wie die origenistische
Ketzerei behauptet — Hieronymus kann es schon nicht mehr
lassen, auch in harmlosen, persönlichen Briefen einen Hieb
nach dem verabscheuungswürdigen Ketzer zu führen — sondern
in einem engelähnlichen Zustande in geschwisterlicher Gemein-
schaft zusammenleben würden. Die Bezeugung des orthodoxen
Glaubens und die Bekämpfung der Ketzer erscheint Hierony-
mus je länger je mehr als die vornehmste Betätigung eines
wahren Christen. Er preist deshalb den verstorbenen Freund
Lucinius, daß er für die Reinheit des Kirchenglaubens stets
mutig eingetreten sei, als die abscheuliche Ketzerei des Basi-
lides — er meint den Priscillianismus — in Spanien wütete.")
Dann rühmt er seine großartige Wohltätigkeit, die nicht auf
Spanien beschränkt blieb, sondern sich bis in die fernsten
Länder nach Jerusalem und Alexandrien erstreckte, wohin er Unter-
stützungen für Bedürftige aller Art sandte. Der Witwe Theodora
botHieronymus seine geistliche Hilfean, abergleichzeitig wandte er
sich auch in einem Brief an den spanischen F^riester Abigaus, dem
er, nachdem er ihn über seine Blindheit getröstet hatte, seine
heilige Tochter Theodora ans Herz legte. Abigaus solle die Witwe
ermahnen, nicht auf dem angefangenen Wege laß zu werden, daß
sie nicht glaube, es sei genug, aus Ägypten hinausgegangen zu
sein, sondern dieTugend sei erst vollkommen, wenn man durch die
unzähligen Hinterhalte zum Berg Nebo und zum Fluß Jordan
') Ep. 75, 1, Vallarsi I, 448.
*) Ep. 75, 3, Vallarsi 1, 450. Dal^ der Priscillianismus mit dem
Gnostiker Basilides zusammenhänge, behauptet Hieronymus auch ep. 120, 10,
Adv. Vij,Mlantium c. 6. Er führt aber diesen Basilidianismus auf den alten
Häretiker Marcus zurück, den er aber mit einem zeitgenössischen Marcus
aus Memphis (s. Sulp. Sev. Chron. 11, 16) verwechselt; s. auch Harnack,
altchristl. Literaturgeschichte I, 161.
Wiederanknüpfiing mit Rom.
239
gelange.) Ängstlich wachte Hieronymus über die Seelen, die sich
ihm anvertraut hatten; und falls der Tod eine Ehe gelöst hatte,
besorgte er nichts mehr, als daß der überlebende Teil eine
zweite Ehe schließen könnte. Wenn Theodora die keusche
Witwenschaft aufgäbe, so erschien dies dem Apostel der Vir-
ginität nicht viel weniger als ein ewiges Verlorengehen. Alle
seine seelsorgerischen Bemühungen waren eigentlich nur auf
das eine Ziel gerichtet, die Ehen zu Scheinehen zu machen,
die Witwen von einer zweiten Ehe zurückzuhalten und die
Jungfrauen zur Bewahrung der Jungfrauschaft als des höchsten
Gutes zu veranlassen. Es war das einzige Gegengift, das er
und nicht er allein, sondern fast alle einflußreichen Führer der
christlichen Kirche gegen das Gift der wilden Sinnenlust, die
die Ehen zerrüttete, anzubieten hatten.
In der Regel ließ sich Hieronymus die Freundschaftsbünd-
nisse anbieten und antwortete nur auf Anfragen, die man an
ihn stellte. Unter Umständen ergriff er aber auch die Initiative,
zumal wenn es galt, mit einer besonders vornehmen Frau anzu-
knüpfen und sie von dem Schließen einer zweiten Ehe zurück-
zuhalten. So wandte er sich an Salvina, die Tochter des
Königs Gildo von Mauretanien, mit einer solchen Witwenepistel,
die trotz des typischen Inhalts individuell gefärbt ist.-) Er
mußte die üblichen Ermahnungen in eine für die Prinzessin
geeignete Form bringen, um bei ihr Gehör zu finden. Hiero-
nymus fühlte sich sichtlich nicht ganz wohl bei diesem Ver-
such, mit dem kaiserlichen Hof in Konstantinopel in Beziehung
zu treten. Man könnte es ihm als Ehrgeiz auslegen und ver-
muten, daß er unter dem Vorwande einer Ansprache an die
Witwe Salvina die Gunst der Mächtigen erschleichen wolle.
Natürlich behauptet Hieronymus, daß er nie derartige Gedanken
auch nur leise in seinem Herzen bewegt habe. Wer seinen
ehrgeizigen Charakter kennt, wird ihm dies kaum glauben.
Salvina, die Tochter Gildos, war vom Kaiser Theodosius dem
Sohn des Praefectus praetorio, Nebridius, zur Gemahlin gegeben
worden. Theodosius hatte politische Absichten mit dieser Ehe
') Ep. 76, 3, Vallarsi 1, 453.
0 Ep. 79, Vallarsi 1, 493.
240 Wiederanknüpfung mit Rom.
verfolgt; er wollte den Comes Mauretaniens durch verwandt-
schaftliche Bande mit dem Kaiserhaus verknüpfen, wie Hiero-
nymus an Salvina schreibt/) um das in Bürgerkriegen revol-
tierende Afrika durch Salvina gleichsam als Geißel zum Gehor-
sam wieder zurückzuführen. Da der Praefectus praetorio
Nebridius mit dem Kaiser Theodosius durch seine Frau, die
Schwester der Kaiserin Aelia Flacilla, verschwägert war, so
war sein Sohn Nebridius mit den kaiserlichen Prinzen Arcadius
und Honorius in Konstantinopel aufgezogen worden.-) Nach
einer glücklichen Ehe war der Gatte der Salvina, dieser Nebridius,
früh gestorben und hatte sie als junge Witwe und Mutter eines
Sohnes, der wiederum den Namen des Vaters führte, und einer
Tochter zurückgelassen.
Obwohl Hieronymus Salvina nicht persönlich kannte, wagte
er doch, sich mit einem Schreiben an sie zu wenden. Recht
gezwungen motiviert er diese Kühnheit damit, daß er vermöge
seiner priesterlichen Würde den Fortschritt aller Christen in der
Tugend fördern müsse, daß er auch dem älteren Nebridius,
dem Vater des verstorbenen Gatten der Salvina, freundschaftlich
nahe gestanden habe und daß er endlich durch seinen Sohn Avitus
dazu gedrängt worden sei.) Wir wissen sonst nichts von diesem
Avitus, den Hieronymus hier erwähnt. Jedenfalls war dieser
geistliche Sohn des Hieronymus ein Anhänger der Mönchs-
partei, die in Hieronymus einen ihrer hervorragendsten geistigen
Führersah. Überall arbeiteten sich ihre Glieder in die Hände;
und Avitus mußte den bethlehemitischen Heiligen avisiert haben,
daß es wünschenswert sei, wenn er durch ein Schreiben auf
die Prinzessin einwirke. Es war dies wahrlich keine leichte
Aufgabe, denn Hieronymus mußte hier, wo es sich um eine
dem Hofe nahestehende Frau handelte, viel vorsichtiger vor-
gehen, als wenn er sich z. B. an ein Glied des römischen
Hochadels, wie an die Witwe Furia, wandte, da er durch Paula
und Eustochium viel innigere Beziehungen nach Rom hatte.
Hieronymus gab sich die größte Mühe, um ja nicht anzu-
stoßen. Immer wieder verklausulierte er seine Ermahnungen:
') Ep. 7Q. 2, Valiarsi 1, 495.
') Ep. 79, 5, Valiarsi 1, 498.
^) Ep. 79, 1, Valiarsi 1, 494.
Wiederanknüpfung mit Rom. 241
„Was ich sagen werde, mögest du so verstehen, als ob es
nicht für dich, sondern für Personen in jungen Jahren über-
haupt gesagt sei."') Bei seiner Warnung vor Untceuschheit
betont er ängstlich, daß er nicht die Absicht habe, ihr die
geringsten Vorwürfe zu machen, sondern nur aus Besorgnis
für sie dies schreibe, da er ja nur den Wunsch hege, sie möge erst
gar nicht kennen lernen, wovor er Furcht und Besorgnis habe.-)
Sein asketisches Pathos durfte sich nicht in den vollen Brust-
tönen der Überzeugung ergehen, er mußte auf die fürstlichen
Ohren Rücksicht nehmen, die nicht an so derbe Töne gewöhnt
waren.
Während er in seinem Schreiben an Furia trotz aller
Schmeicheleien an ihrem Vater und Gatten zum Teil herbe
Kritik geübt hatte, mußte hier bei den Verwandten des kaiser-
lichen Hofes alle Kritik schweigen, ihren Gatten Nebridius
schildert Hieronymus deshalb als einen Ausbund von Tugenden.
Vor allem hebt er hervor, daß er so fromm und ein solcher
Liebhaber der Keuschheit war, daß er, selbst noch jungfräulich,
seine Frau heimführte.') Seine Wohltätigkeit, seine jungfräu-
liche Schamhaftigkeit, seine Demut preist er in überschwäng-
lichster Weise. Bisweilen scheint er es zu empfinden, daß
diese Schmeicheleien vielleicht doch zu stark aufgetragen sind,
so daß man ihm nachträglich auch von christlicher Seite Vor-
würfe machen könnte. „Salvina, an die ich dieses Büchlein
schreibe, weiß es, daß ich nicht Selbsterlebtes, sondern nur
Gehörtes berichte, daß ich auch nicht wegen einer erwiesenen
Wohltat nach der Sitte der griechischen Schriftsteller durch
eine Lobrede Dank sagen will. Mögen die Christen solchen
Verdacht entfernen. Wenn wir Kleidung und Lebensunterhalt
haben, sind wir zufrieden." ') Vor allem hebt aber Hieronymus
bei der Zeichnung des Charakterbildes des Nebridius, des
Gemahls der Salvina, hervor, daß dieser uneingedenk seiner
hohen militärischen Würde mit Mönchen und Priestern die
') Ep. 79, 8, Vallarsi I, 501.
2) Ep. 79, 8, Vallarsi I, 501.
^) Ep. 79, 2 sie religiosus fuit et amator pudicitiae, ut virgo sortiretur
uxorem.
*) Ep. 79, 4, Vallarsi I, 497.
Grützmacher, Hieronymus. II. 16
I
Wiederanknüpfung mit Rom.
regsten Beziehungen unterhalten habe. Die Bischöfe* des
ganzen Erdkreises brachten vor ihn die Bitten der Unglück-
lichen und die Wünsche der schwer Bedrängten, damit er bei
dem Kaiser für sie interveniere.') Nach allem, was Hieronymus
berichtet, scheint Nebridius eine starke Stütze des Klerus und
der Mönche am kaiserlichen Hofe gewesen zu sein und seinen
Einfluß im Sinne der Kirche geltend gemacht zu haben. Es
ist daher begreiflich, daß in diesen Kreisen sein Andenken im
besten Gedächtnis stand, und Hieronymus sich an seine Witwe
mit einem Schreiben zu wenden wagte. Hieronymus versteht
es, dabei auf ein Mutterherz einzuwirken: in dem kleinen
Sohn Salvinas leuchtet schon ein Funke der väterlichen Geistes-
kraft, und die Ähnlichkeit der Sitten springt wie ein lebendiges
Spiegelbild hervor. Und ihre Tochter gleicht einer Lilien- oder
Rosenknospe, worin Elfenbein und Purpur sich vereinigen, sie
stellt zugleich durch die Mischung der Ähnlichkeit so das Bild
der Mutter dar, daß du in demselben Körper Vater und Mutter
wiedererkennst. Sie ist so voll Anmut und Lieblichkeit, daß
sie der Stolz aller Verwandten ist. Sie an der Hand zu führen,
hält selbst der Kaiser Arcadius nicht unter seiner Würde, sie
an ihrem Busen zu herzen freut sich die Königin, die Mutter
Salvinas, die Gemahlin des Königs Gildo von Mauretanien.)
Es sind dieselben servilen Schmeicheleien, deren sich die heid-
nischen Lobredner bedienten, die der christliche Lobredner
Hieronymus anwendet. Es hat sich nichts geändert, außer
daß einige Bibelsprüche eingeflochten sind. Allerdings dürfen
wir nicht generalisieren. Ein Chrysostomus hat doch den Mut
besessen, demselben Hof auch bittere Wahrheiten zu sagen,
aber deshalb wurde auch der unbequeme Bischof den Intrigen
seiner Gegner preisgegeben und in die Verbannung geschickt.
Die Ermahnungen, die Hieronymus an Salvina richtet, sind
dieselben, die er schon öfter vornehmen Witwen eingeschärft
hat, keine leckeren Speisen zu essen, am besten sich des
Fleisches und Weins überhaupt zu enthalten. „Mögen sie
Fleisch essen, die dem Fleische dienen, deren ungezügeltes
') Ep. 7Q, 5, Vallarsi I, 498.
-) Ep. 79, 5, Vallarsi 1, 498.
Wiederankniipfung- mit Rom. 243
Verlangen nach Beischlaf steht, die an einen Mann gebunden,
auf Erzeugung von Kindern bedacht sind. Du, die du alle
Fleischeslust mit deinem Manne in seinem Grabhügel begraben
hast, hast nur nötig auszuharren im Fasten."') Hieronymus
verweist Salvina auf den Verkehr mit ihren Angehörigen, sie
braucht keine Geselligkeit zu suchen, da sie ihre Mutter, die
nach der Empörung Gildos gegen Kaiser Honorius und seiner
Erdrosselung im Jahre 398 nach Konstantinopel übergesiedelt
war, und ihre ewiger Jung-frauschaft geweihte Tante um sich
hat. Geistlicher Lesung und unablässigem Gebet soll sie sich,
umgeben von einem Chor von Witwen und Jungfrauen, hin-
geben. Besonders eindringlich legt er ihr als die vornehm.ste
Aufgabe die Erziehung ihrer Kinder ans Herz: Es ist kein
geringes Verdienst vor dem Fferrn, Kinder gut zu erziehen.-)
Nur eine Konzession macht er der Prinzessin bei der Ermahnung
zu eingezogenem Lebenswandel: Wenn das Ansehen des vor-
nehmen Hauses ein großes Hausgesinde fordert, so soll sie
diesem einen Greis von ehrbaren Sitten zum Vorstande geben,
dessen Anstand die Würde der Gebieterin wahrt. ') Wir hören
in der Folgezeit nichts weiter von Beziehungen des Hieronymus
nach Konstantinopel und zum Hof. Salvina, die Freundin des
edlen Chrysostomus, mit dem Hieronymus im Origenistischen
Streit in scharfen Gegensatz trat, scheint in kein engeres Freund-
schaftsverhältnis zu ihm getreten zu sein. Der Boden in Kon-
stantinopel war für ihn nicht so günstig wie der in Rom, zu
dessen Hochadel er in festen und dauernden Beziehungen blieb,
>) Ep. 7Q, 7, Vallarsi I, 500.
^) Ep. 79, 7, Vallarsi I, 499: non est parvi apiid deum meriti, bene
filios educare.
3) Ep. 79, 9, Vallarsi I, 502.
16*
244 Wiederankniipfung mit Rom.
§ 41.
Der Matthäuskommentar des Hieronymus.
Der Matthäuskommentar ist die letzte neutestamentliche
Auslegungsschrift, die Hieronymus verfaßt hat, falls wir von
dem zeitlich nicht mit Sicherheit anzusetzenden Kommentar
zur Apokalypse absehen, der doch auch im wesentlichen nur
eine Kompilation ist. Es ist begreiflich, daß Hieronymus in
den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens seine exegetische
Tätigkeit ganz dem Alten Testament zuwandte, da er hier auf
Grund seiner hebräischen Kenntnisse Selbständigeres zu leisten
vermochte. Auch zur Abfassung dieses neutestamentlichen
Kommentars wurde er nur durch, die dringende Bitte des Priesters
Eusebius von Cremona veranlaßt; der Kommentar verdankt also
nicht seiner eigenen Initiative die Entstehung. Eusebius, der
längere Zeit in Bethlehem geweilt hatte, bat den von ihm hoch
verehrten Gelehrten, ihm doch auf seine Rückreise, die er noch
vor Ostern 398 nach Rom antreten wollte, als wertvollstes
Angebinde einen Kommentar zum ersten Evangelium mit-
zugeben. Hieronymus hatte im Jahre 3Q7 eine schwere
Krankheit überstanden, über die er sich auch in den gleich-
zeitigen Briefen äußert. Fast 12 Monate war er krank ge-
wesen, ') und erst in der Fastenzeit des Jahres 3Q8 fing das
Fieber an aufzuhören.-) Noch matt von der Krankheit, in der
Zeit der Rekonvaleszenz, hat er in Eile in zwei Wochen den
Kommentar dem Schnellschreiber diktiert und die Korrektur
gelesen, damit ihn noch die Schönschreiber vor der Abreise
des Eusebius ins Reine übertragen konnten.') Er hat deshalb
ein recht böses Gewissen über die flüchtige Art der Abfassung
und entschuldigt sich sehr, daß nicht Arroganz oder Vertrauen
auf sein Genie, sondern nur die Liebe zu seinem Freund ihn
zu einer so schnellen Abfassung veranlaßt hätte.
Bei seiner uns immer wieder begegnenden Eitelkeit, die
•) Ep. 74, c. 6, Vallarsi I, 447.
*) Ep. 73, 10, Vallarsi I, 444.
') Praef. in Matth., Vallarsi VII, 8: at tu in duabus hebdomadibus,
imminente iam Pascha et spirantibus ventis, dictare me cogis.
Wiederanknüpfung mit Rom. 245
sich durch die ehrenvolle Aufforderung geschmeichelt fühlte,
hatte er nicht abzulehnen vermocht. Lieber will er bei den
Gelehrten Gefahr laufen, als einem seiner Verehrer und Herolde
seines Gelehrtenruhms im Abendland etwas abschlagen, was
dieser eifrig forderte. Natürlich ziert er sich anfänglich, aber
nur, um Eusebius möglichst deutlich die Schwierigkeit der ihm
gestellten Aufgabe zum Bewußtsein zubringen: es sei schwer,
die gesamten Auslegungsschriften zu den Evangelien zu
kennen und noch schwerer, aus dieser Literatur mit richtigem
Urteil das Beste zu exzerpieren.') im Grunde war ihm solche
Schnellarbeit durchaus sympathisch, da er dann für seine
Flüchtigkeiten einen Entschuldigungsgrund zu haben glaubte.
Er vertröstet Eusebius von Cremona und seine Zeitgenossen,
daß, wenn ihm noch ein längeres Leben beschieden sein sollte,
er eine gründliche und fleißige Arbeit über Matthäus verfassen
werde. Er hat dies so wenig getan und kaum beabsichtigt,
wie er den im Kommentar geäußerten Plan, den Markus zu
kommentieren, ausgeführt hat.
Mit der raschen Entstehung seines Kommentars begründet
es Hieronymus, daß er die Autorität der Alten beiseite lasse,
da er sie jetzt nicht lesen und ihnen nicht folgen könne. Bei
der Einzelexegese im Kommentar hat er auch nirgends seine
Quelle genannt. Nur in der Einleitung zählt er die ihm be-
kannten Matthäuskommentare auf, die er vor vielen Jahren
gelesen habe. Es sind dies zunächst die Arbeiten des Origenes,
ein großer 25 Bücher umfassender Kommentar, ebenso viele
Homilien und ein kurzer Kommentar des Alexandriners, ferner
Kommentare des Bischofs Theophilus von Antiochia, des
Märtyrers Hippolyt, des Theodor von Heraklea, des Apollinaris
von Laodicea und des Alexandriners Didymus.-) Von lateinischen
Kommentaren nennt er die Werke des Hilarius von Poitiers,
Victorin und Fortunatianus. Er behauptet, daß er diesen
Kommentaren nur wenig entnommen habe.
Da uns von dem Kommentar des Theophilus, den
er auch im Schriftstellerkatalog erwähnt') und aus dem
>) Praef. in Matth., Vallarsi VII, 8.
2) Praef. in Matth., Vallarsi VII, 7.
^) de vir. illiist. c. 25.
246 Wiederankniipfung mit Rom.
er ein Stück im Briefe an die Algasia mitteilt,') sonst
nichts erhalten, der Hippolytkommentar bis auf wenige
unsichere Fragmente') verloren gegangen, und von den
Kommentaren des Theodor von Heraklea, Apollinaris von
Laodicea, Didymus, Victorin und Fortunatianus ^) keine Zeile
auf uns gekommen ist, so können wir betreffs dieser ver-
lorenen Kommentare seine Abhängigkeit nicht mehr kontrollieren.
Nur an einer Stelle nimmt er sicher auf Apollinaris Bezug, in-
dem er, ohne ihn zu nennen, die von diesem aus der Stelle
Matth. 26, 38: „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod" für
sein Dogma gezogene Folgerung ablehnt, daß Jesus eine
Seele ohne einen rof'c besessen habe,') Nur den Kommentar
des Hilarius besitzen wir vollständig') und von dem großen
Kommentar des Origenes zu Matthäus umfangreiche Fragmente.
Was nun den ersteren betrifft, so hat ihn Hieronymus in der
Tat nur wenig benutzt. Nur an einer Stelle polemisiert er
gegen die Auslegung des Hilarius von Matth. 16, 22. Hilarius
hatte die Worte Jesu: „Weiche hinter mir Satanas, du bist mir
ein Ärgernis", nicht an Petrus gerichtet sein lassen, sondern
an den Satan, der Petrus inspiriert hatte, gewiß mit der
Absicht, den Hauptapostel Petrus dadurch zu entlasten.")
Hieronymus wendet sich dagegen:') „Viele glauben — er nennt
nicht ausdrücklich Hilarius - daß nicht Petrus zurecht ge-
wiesen worden sei, sondern der böse Geist, welcher dies dem
Apostel zu sagen einflößte. Aber mir scheint diese apostolische
Verirrung aus dem Affekt der Verehrung herzukommen und
nicht aus einer Anreizung des Teufels." Daß Hieronymus auch
in Matth. 26, 37 die dokesierende Ansicht, wonach Christus
nicht wirklich, sondern nur zum Scheine und aus Rücksicht
') Ep. 121 ad Al«rasiam, Vallarsi 1, 866.
-) Harnack, Altchristl. Literaturgeschichte I, 498 ff.
') Den Kommentar des Fortiinatianus erwähnt er nocli de vir.
ilUist. c. 97.
') Matth. 26, 38, Vallarsi Vi!, 119: discant ergo, qui irrationabilem
Jesiim siimpsisse animam siiscipantur, quomodo contristetur.
■) Migne P. L. IX, 950 ff., s. Loofs A. Hilarius R. E. ^ VIII, 59.
«) Migne P. L. IX, 1011.
') Matth. 16, 22, Vallarsi VII, 116: multi putant, quod non Petrus
correptus sit, sed adversarius spiritus, qui haec dicere apostolo suggerebat.
Wiederankniipfung mit Rom. 247
auf die Menschen gelitten hätte,') dem Hilarius von Poitiers
entnommen hätte, wie Zöckler'-) gemeint hat, läßt sich nicht
erweisen; denn der angebliche Doketismus des Hieronymus
an dieser Stelle beruht auf einem Mißverständnis, und Hilarius
hat auch in seinem Kommentar zu Matth. 26, 37 keine der-
artige Anschauung über das Leiden Christi geäußert. Es
bleibt also bei der einen Stelle, an der sich eine Bezugnahme
des Hieronymus auf den Kommentar des Hilarius nach-
weisen läßt.
Nur einen von den in der Vorrede genannten Kommentaren
hat er ausgiebig benutzt, und dies ist der große Kommentar
des Origenes. Daß dies nur aus dem Gedächtnis geschah,
da er ihn vor vielen Jahren gelesen haben will,') ist wenig
glaubhaft. Da er ihn in seiner Bibliothek besaß, wird er trotz
der Schnelligkeit, mit der er seinen Kommentar diktierte, des
öfteren einen Blick hineingetan haben; denn so allein erklärt
sich die starke, oft wörtliche Abhängigkeit von dem griechischen
Meister der Exegese. Wir besitzen nun zwar den Kommentar des
Origenes nicht vollständig, aber vier Bruchstücke der neun ersten
Bände, ferner die 8 folgenden Bände, Band 10 bis 17, und endlich
in einer alten, wortgetreuen lateinischen Übersetzung die weiteren
Bände, Band 18 bis 25, bis zum Schluß des Matthäusevan-
geliums.') Auf Grund dieser erhaltenen Stücke des Matthäus-
kommentars läßt sich zur Genüge die Abhängigkeit des Hiero-
nymus erweisen, und an anderen Stellen läßt sie sich aus der
Berührung mit Origenistischen Gedanken vermuten. Ich möchte
nur hervorheben, daß Hieronymus alles, was er über die
apokryphen Evangelien, die Entstehung unserer vier kanonischen
Evangelien und über die Tiersymbole der vier Evangelisten
mitteilt, dem Origenes entnommen hat.') Die allegorische
') Matth. 26, 37, Vallarsi I, 218.
2) Zöckler, S. 213, Anm. 1.
*) Praef. in Matth.: legisse me fateor ante annos pUirimos in Mattheum
Origenis viginti quinqiie voliimina et totidem eins homih'as conimaticuniqiie
interpretationis genus.
*) Migne P. G. 13, 830-1800.
^) Praef. in Matth., Vallarsi VII, 1 ff. s. das Origenesfragment zu
Matth. 1, Migne P. G. 13, 830 und die Parallele in den Origeneshomilien
zu Lukas, Homilie I, Vallarsi VII, 248 ff .
248 Wiederanknüpfung mit Rom.
Deutung der meisten Gleichnisse hat er wörtlich aus Origenes
abgeschrieben.') Auch was Hieronymus z. B. zur Erl<lärung von
Korban, Matth. 15, 4, bringt, stammt nicht, wie man zunächst
vermuten könnte, aus seinen jüdischen Quellen, sondern ist
ganz Origenistisches Gut. Bereits Origenes hatte sich die Sitte
von den Juden erklären lassen.') Um eine Stelle hervorzuheben,
zu der uns der Kommentar des Origenes nicht erhalten ist, bei
der aber die Abhängigkeit des Hieronymus von Origenes trotz-
dem sicher steht, sei auf Matth. 1, 18 verwiesen. Hieronymus
antwortet hier auf die Frage, warum Jesus von einer verlobten
Jungfrau geboren werden mußte, mit einem dem Bischof Ignatius
entnommenen Worte, daß der so Geborene dem Teufel nur
verborgen bleiben konnte, wenn er als der Sohn einer Ehefrau
erschien. Da Hieronymus die Ignatianen nicht kannte, so hat
Hieronymus dies Stück sicher dem Origeneskommentar ent-
lehnt.') Daß Hieronymus auch in diesem Kommentar wie in
seinen anderen Kommentaren vielfach den Schein erweckt, als
ob eine Auslegung von ihm stamme, während er sie dem
Origenes entnommen hat, kann uns nicht Wunder nehmen. So
bemerkt er z. B. zu Matth. 15, 22^): ich meine, die Tochter
der Chanannäerin bedeutet die Seele der Gläubigen, welche
von Dämonen geplagt wird. Nach seiner beliebten Manier
gibt er sich den Schein selbständiger Produktivität, schmückt
sich aber mit fremden Federn, indem er einfach den Origenes
ausschreibt.
Trotz der ausgiebigen Benutzung des Matthäuskommentars
des Origenes hält sich aber Hieronymus in diesem Kommentar
ganz frei von dessen Heterodoxien, und ohne ihn zu nennen,
polemisiert er scharf gegen Origenes, um nur keinen Zweifel an
seiner eigenen Rechtgläubigkeit aufkommen zu lassen. So
hebt Hieronymus bei der Erklärung der dritten Bitte des
') 7. B. Matth. 13, 44, vom Sciiatz im Acker; Mattii. 13, 47 vom Fisch-
netz; Matth. 13, 32 vom Senfkorn; Matth. 20, 1 von den Arbeitern im
Weinberg.
') Matth. 15, 4, Vallarsi VU, 111, Anm. a.
") s. die Parallele in den OrigeneshomiUen zu Lukas, Homilie VI,
Vallarsi VII, 261.
^) Matth. 15, 22, Vallarsi VII, 115, Anm. b.
Wiederanknüpfung mit Rom. 249
Vaterunsers Matth. 6, 10: „Dein Wille geschehe wie im Himmel
also auch auf Erden" hervor, daß das Origenistische Theolo-
gumenon, wonach auch im Himmel Sündenfälle vorkommen,
durch das Wort des Erlösers widerlegt werde.') Wenn
nach Matth. 8, 12 in der Verdammnis Heulen und Zähne-
klappen statthaben wird, so ist dies für ihn ein Beweis dafür,
daß nicht nur die Seelen fortleben, sondern auch die Leiber
auferstehen.') Matth. 10, 15 droht der Herr den Städten, die
die Apostel nicht aufgenommen haben, ein härteres Gericht
an als Sodom und Gomorrha; also lehrt auch der Herr keine
ujioKUTäöTaoig jtüvtojv, sondern einen verschiedenen Straf-
zustand.') Wenn Origenes und seine Anhänger, die die Auf-
erstehung des Fleisches leugnen, das kirchliche Verständnis
von Matth. 10, 29 ff.: „Alle Haare auf unserem Haupte sind
gezählt" für absurd erklären, so bemerkt Hieronymus dagegen,
daß in dieser Stelle nicht gesagt sei, daß alle Haare, die vom
Barbier abgeschnitten werden, erhalten bleiben, sondern nur daß
sie gezählt sind. Gott kennt also ihre Zahl, aber es ist nicht
die Rede davon, daß ihre Zahl erhalten bleibt.*) An
Matth. 11, 14,') wo Johannes der Täufer als Elias bezeichnet
wird, und an Matth. 14, 1,") wo Herodes Antipas glaubt, daß
Johannes der Täufer von den Toten auferstanden und in Jesus
erschienen sei, hatte Origenes seine Lehre von d^v juersinipv^coöi^,
der Seelenwanderung, geknüpft. Scharf weist Hieronymus
diese exegetische Begründung des Origenistischen Dogmas
ab. Wenn Johannes der Täufer Elias genannt wird, so
geschieht dies, weil er in dem Geist und der Kraft des Elias
kommt; und wie könne in Jesus die Seele Johannes des Täufers
wiederkehren, da doch der Herr 30 Jahre alt war, als Johannes
der Täufer geköpft wurde, und bei der Annahme der Seelen-
wanderung erst nach dem Verlauf vieler Jahre die Seelen in
die verschiedenen Körper eingepflanzt werden.
') Matth. 6, 10, Vallarsi VII, 34.
^) Matth. 8, 12, Vallarsi VII, 45.
3) Matth. 10, 15, Vallarsi VII, 60.
*) Matth. 10, 29ff., Vallarsi VII, 64.
^) Matth. 11, 14, Vallarsi VII, 70.
6) Matth. 14, 1, Vallarsi VII, 100.
250 Wiederanknüpfung mit Rom.
Im Gleichnis von den beiden Schuldnern Matth. 18, 24ff.
hatte Origenes den Schuldner, dem der Herr 1000 Talente
erläßt, auf den Teufel bezogen, der uns, seinen Mitknechten,
nicht die 100 Denare erläßt. Da aber bei dieser Auslegung die
Bekehrung des Teufels in Aussicht genommen war, so erklärt
Hieronymus sie für eine unkirchliche Interpretation, die von
klugen Männern abzulehnen sei.') Und wenn der Erlöser den
Sadducäern Matth. 22, 31') antwortet, daß man bei der Auf-
erstehung weder heirate noch werde geheiratet werden, so hat
dieses Wort nur einen Sinn, wenn nicht nur die Seelen, wie
Origenes behauptet, sondern auch die Körper auferstehen;
denn nur die Körper können heiraten und geheiratet werden:
„Niemand sagt doch vom Stein oder Baum und von den
Dingen, die keine Zeugungsglieder haben, daß sie nicht
heiraten oder nicht geheiratet werden." Im Anschluß an das
Wort Jesu Matth. 25, 46, wonach die einen zur ewigen Strafe,
die Gerechten aber zum ewigen Leben eingehen werden,'')
betont Hieronymus dem Origenes gegenüber, daß sowohl die
Höllenstrafen ewig sind, wie daß es im ewigen Leben keinen
Sündenfall mehr geben wird. Wenn endlich Origenes aus
dem Worte Jesu Matth. 26, 24: „Gut wäre es für jenen
Menschen, wenn er nicht geboren wäre," die Präexistenz der
Seelen abgeleitet hatte,') so darf dies Wort nach Hieronymus
nicht so gepreßt werden, sondern es ist einfach damit gesagt: es
ist viel besser nicht zu existieren, als in schlechter Weise zu
existieren. So zieht sich also durch den ganzen Kommentar
des Hieronymus eine scharfe Polemik gegen den einst so
hochgeschätzten Meister, den er noch immer fleißig benutzt,
aber dessen Heterodoxien er jetzt perhorresziert. Und diese
Polemik des Hieronymus, dies dürfen wir auch sagen, ist nicht
ungeschickt; sie trifft die wunden Stellen, indem Hieronymus den
Beweis führt, daß der Neuplatonismus des Origenes, den er
') Matth. 18, 24ff., Vallarsi VII, 143.
■') Matth. 22, 31, Vallarsi VII, 179.
") Matth. 25, 46, Vallarsi VII, 210: prudens lector attende, quod
et supplicia aeterna sunt et vita perpetua metum deinceps non habet
ruinarum.
*) Matth. 26, 24, Vallarsi VII, 215.
Wiederanknüpfung mit Rom. 251
in das Evangelium hineindeutete, im Grunde nichts mit ihm
zu tun hat. Hieronymus brachte es so sich und seinen Zeit-
genossen zum Bewußtsein, daß der große Alexandriner kein
schriftgläubiger Theologe war, sondern daß mehr als die Schrift
die griechische Philosophie sein Denken bestimmt hatte.
Außer den in der Vorrede genannten Kommentaren, von
denen er nur den Kommentar des Origenes ausgiebiger
benutzt hat, hat Hieronymus nur ganz selten andere christliche
Schriftsteller herangezogen. Einmal verweist er auf Eusebius
und Julius Africanus, die zur Erklärung der Differenzen des
Geschlechtsregisters Jesu nach Matthäus und Lukas auf die
jüdische Leviratsehe hingewiesen hatten.') Ein anderes Mal
bringt er zu Matth. 2, 11 ein Zitat aus der evangelischen
Geschichte des Priesters luvencus, in dem die Gaben der
Magier allegorisch gedeutet werden.) Und endlich zitiert er
zu Matth. 24, 5 einen kurzen Satz aus angeblich auf Simon
Magus zurückgehenden Schriften.') Aus der klassischen
Literatur hat er nur zwei Anekdoten in seinen Matthäus-
kommentar eingeflochten, die Geschichte des Flaminius') und
seiner Hure und die Geschichte von dem Tyrannen Dionysius
und den beiden Pythagoräern, die Schiller in der Bürgschaft
verwertete,') vermutlich Reminiszenzen an seinen Schul-
unterricht.
Besonders wertvoll sind aber für uns noch die Zitationen
aus dem Hebräerevangelium, das Hieronymus gelegentlich in
') Matth. 1, 16, Vallarsi VI!, 11: super hoc et Africanus temporum
scriptor et Eusebius Caesanensis in Hbris hKuioivia^ rva->yi'?.i(')v plenius
disputarunt.
-) Matth. 2, 11, Vallarsi Vil, 14, luvencus, Historia evangelica, Migne
P. L. XIX, 40.
■') Matth. 24, 5, Vallarsi VII, 193: haec inter cetera in suis voluminibus
scripta dimittens: ego sum sermo dei, ego sum speciosus, ego paracletus,
ego omnipotens, ego omnia dei, s. Harnack, Altchristi. Literatur-
geschichte I, 154.
*) Die Geschichte findet sich Cato maior bei Livius 39, 42, Cicero,
Cato maior 12, 42; Plutarch, Cato maior c. 17; Valerius Maximus 11,9,3,
s. M. Catonis, quae extant, rec. Jordan, Leipzig 1860 S. 46.
=) Die Literatur über die beiden Pythagoräer s. unter A. Dämon,
Paulys Realencyklopädie des kiass. Altertums, neubearbeitet von Wissowa
Bd. IV, 2074.
252 Wiederanknüpfung mit Rom.
seinem Matthäuskommentar heranzieht. Es wäre ja mögh'ch,
daß er diese Zitate, wie Harnack') vermutet, schon bei Origenes
fand, doch ist dies deshalb unwahrscheinlich, da auch im
Schriftstellerkatalog gerade die Zitate aus dem Hebräer-
evangelium ein selbständiger Zusatz des Hieronymus sind.
Hatte er doch nach seinem eigenen Zeugnis) das Hebräer-
evangelium aus dem Hebräischen oder wie er sich später
genauer") ausdrückt, aus dem Chaldäischen oder Syrischen,
d. h. aus dem Aramäischen ins Griechische und Lateinische
übersetzt. Da nun Clemens Alexandrinus bereits eine griechische
Übersetzung des Hebräerevangeliums benutzt, so hat vielleicht
seine angebliche Übersetzung dieses Evangeliums ins Griechische
— wir besitzen sonst kein Übersetzungswerk des Hieronymus
ins Griechische — nur in einer Revision des griechischen
Textes nach dem Aramäischen bestanden.') In Rom hatte
Hieronymus noch an die Identität des Hebräerevangeliums mit
dem hebräischen Matthäus geglaubt,') später scheint er diese
Meinung aufgegeben zu haben, wenn er auch die alte Konfusion
zwischen dem hebräischen Matthäus und dem judenchrist-
lichen Hebräerevangelium nie unzweideutig berichtigt hat. Er
spricht später von dem Hebräerevangelium als von dem bei
den Nazaräern und Ebioniten gebrauchten Evangelium, das
von den meisten für das authentische Evangelium des Matthäus
gehalten werde.)
Aus dem Hebräerevangelium notierte Hieronymus die
Variante zu der vierten Bitte Matth. 6, 11: „Unser Brot
für morgen gib uns' heute."') Er bemerkte zu der Ge-
schichte der Heilung des Mannes mit der verdorrten Hand,
daß er im Hebräerevangelium seinem Beruf nach als Maurer
bezeichnet werde.') Zacharias wird dort der Sohn des Jojada
') Altchristi. Literaturgeschichte I, 8 ff.'
-) de vir. illust. c. 135.
') Dial. adv. Pclagianos III, 2.
') Harnack, Aitchristl. Literaturgeschichte I, 8.
') Bd. I, 207, ep. 20, 5.
*) Comm. in Jesaiam c. 11, 1; c. 40, 9; praef. in 1. XVIII; Comm.
in Ezech. c. 16, 13, c. 18, 7; Adversus Pelagianos III, 2.
') Matth. 6, 11, Vallarsi VII, 34.
') Matth. 12, 13, Vallarsi VII, 77.
Wiederankniipfung mit Rom.
253
und nicht wie im Matthäusevangelium, Matth. 23, 35, der Sohn
des Barachias genannt,') und der Mörder Barrabas wird als
filius magistri eorum interpretiert.') Bei der Kreuzigung Jesu
zerreißt nicht nur der Vorhang des Tempeis, sondern die
Oberschwelle des Tempels von gewaltiger Größe zerbricht
und geht in Stücke.') Vielleicht geht auch die Notiz zu
Matth. 7, 22, daß Judas Ischariot viele Wunder unter den
Aposteln getan habe, auf das Hebräerevangelium zurück; doch
hat Hieronymus hier seine Quelle nicht ausdrücklich be-
zeichnet.')
Trotzdem der Matthäuskommentar des Hieronymus in
mancher Beziehung flüchtig gearbeitet ist, so ist er doch für
uns in vieler Hinsicht von Interesse, und es ist nicht leicht
ihn allseitig zu v/ürdigen.
Zunächst hat Hieronymus wie in allen seinen exegetischen
Schriften so auch hier nicht unwichtige Beiträge zur Textkritik
des Evangeliums gegeben. Er hat abweichende Lesarten, die
ihm aufgefallen sind, angemerkt und sich um die sprachliche
Erklärung schwer oder doppelt zu deutender Worte bemüht.
In Matth. 5, 22: „Ich aber sage euch, wer seinem Bruder
zürnet, der ist des Gerichts schuldig," lesen einige Codices:
„wer seinem Bruder ohne Grund zürnet, der ist des Gerichts
schuldig.')" In Matth. 6, 25: „Sorget nicht für euer Leben,
was ihr essen werdet," findet sich in einigen Codices der
Zusatz: „sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und was
ihr trinken werdet."') In Matth. 11, 19 findet sich neben der
Lesart: „die Weisheit muß gerechtfertigt werden von ihren
Kindern," die andere „die Weisheit muß gerechtfertigt werden
durch ihre Werke."") Im Gleichnis vom Senfkorn Matth. 13, 32
notiert er den in vielen Codices sich findenden Zusatz: das
1) Matth. 23, 35, Vallarsi VII, 190.
2) Matth. 27, 16, Vallarsi VII, 239.
3) Matth. 27, 51, Vallarsi VII, 236.
*) Matth. 7, 22, Vallarsi VII, 41: sed et Judas apostolus cum animo
proditoris multa signa inter caeteros apostolos fecisse narratur.
*) Matth. 5, 22, Vallarsi VII, 26.
6) Matth. 6, 25, Vallarsi VII, 36.
') Matth. 11, 19, Vallarsi VII, 72.
254 Wiederankniipfung mit Rom.
Senfkorn, welches das kleinste unter allen Samenkörnern ist.')
in Matth. 13, 35 wird das Zitat auf Jesaia, den Propheten,
zurückgeführt, während die meisten Codices den Namen des
Propheten, der da spricht, nicht nennen.-) Der Vers
Matth. 16, 2: „Des Abends sprecht ihr: es wird ein schöner
Tag werden, denn der Himmel ist rot" fehlt in den meisten
Handschriften, die dem Hieronymus bekannt waren.') In
Matth. 21, 31 merkt Hieronymus die wichtige Variante in dem
Gleichnis von den beiden Söhnen an. Einige Exegeten
lesen: „Welcher von den zweien hat des Vaters Willen getan?
Sie sprachen zu ihm: der Letzte," andere lesen: „Welcher von
den zweien hat des Vaters Willen getan? Sie sprachen zu
ihm: der Erste." Hieronymus entscheidet sich hier ausdrück-
lich für die letztere Lesart als die richtige.') Im Gleichnis
von der königlichen Hochzeit, Matth. 22, 3, lesen die meisten
Codices: „Und er sandte seine Knechte aus, daß sie die
Gäste zur Hochzeit luden," nur einige lesen statt „die Knechte,"
„den Knecht". ) Endlich lesen in Matth. 24, 36 einige lateinische
Handschriften: „Tag und Stunde weiß niemand, auch die
Engel im Himmel nicht, auch nicht der Sohn, sondern allein
der Vater." In den griechischen Handschriften aber, die nach
Hieronymus auf Origenes und Pierius zurückgehen, fehlen die
Worte, daß auch der Sohn nicht Tag und Stunde der Wieder-
kunft des Menschensohnes weiß.) In der Regel referiert
Hieronymus nur über den von ihm vorgefundenen hand-
schriftlichen Bestand, nur selten äußert er ein eigenes Urteil
über die von ihm für richtig gehaltene Lesart. Bisweilen aber
erlaubt er sich auch radikale Korrekturen des Textes. So
vermutet er, daß Matth. 1, 12 die Abschreiber die Namen der
Könige Jojakim und Jochachin (Jechonia) nicht auseinander-
') Matth. 13, 32, Vallarsi VII, 39: niiilti legentes graiuim sinapis
miiiiimiin omnibiis seiiiiiiibus.
') Matth. 13, 35, Vallarsi VII, 95.
) Matth. lö, 2, Vallarsi VII, 119.
') Matth. 21, 32, Vallarsi VII, 168.
■■) Matth. 22, 3, Vallarsi VII, 172.
'") Matth. 24, 36, Vallarsi VII, 199: cum in graecis et maxime
.\ciamantii et Pierii exemplaribiis hoc non habetur adscriptum.
Wiederankniipfuno- mit Rom. 255
gehalten hätten, und deshalb der Text bei den Griechen und
Lateinern korrumpiert sei.') Auch in Matth. 2, 5 ist mit dem
Hebräerevangelium Bethlehem Judae und nicht Judaeae zu lesen;
die erstere Lesart hält Hieronymus für die ursprüngliche des
Evangelisten, während die letztere auf einem Irrtum der Ab-
schreiber beruhe.-) Ebenso will er in Mark. 1, 2 „wie
geschrieben steht im Propheten Jesaia" den Namen des
Propheten gestrichen wissen, da er fälschlich dem Zitat, das
aus Maleachi stammt, hinzugefügt worden sei.')
Was die sprachliche Erklärung schwieriger Worte betrifft,
so weist er z. B. für den Namen des Messias, Matth. 2, 23,
„Er soll Nazarenus heißen" auf die Bezeichnung desselben
als Sproß in Jesaia 11, 1 hin.*) Um den Ausdruck panis
supersubstantialis in Matth. 6, 1 1 zu erklären, zieht er die LXX,
den hebräischen Text und Symmachus heran.'') In Matth. 5, 25,
wo der Lateiner consentiens übersetzt, findet sich im
Griechischen evvoojr. und dies entspricht nach seiner Meinung
dem lateinischen benignus. ) In Matth. 8, 3 ist die lateinische
Lesart „volo mundare" nach Hieronymus nicht als Infinitiv,
sondern als Imperativ zu fassen: Ich will: Sei rein.')
Merkwürdig ist es, wie wenig verhältnismäßig Hieronymus
bei der Erklärung des Matthäusevangeliums die anderen Synop-
tiker und das Johannesevangelium herangezogen hat. Sein
Blick ist für die Differenzen in der Darstellung der evan-
gelischen Geschichte nicht geschärft, und wo er solche findet,
lösen sie sich ihm leicht auf. Unbewußt bereichert er die
Geschichte Jesu nach Matthäus mit Zügen, die er den anderen
Evangelien entnommen hat. Einige charakteristische Beispiele
mögen diese Sätze erhärten. Wenn z. B. in den Apostel-
katalogen der verschiedenen Evangelien einmal Lebbäus, einmal
Thaddäus, einmal Judas Jakobi zu den zwölf Aposteln gezählt
>) Matth. 1, 12, Vallarsi VII, 11.
2) Matth. 2, 5, Vallarsi VII, 14.
^) Matth. 3, 3, Vallarsi VII, 17.
') Matth. 2, 23, Vallarsi VII, 17.
^) Matth. 6, 11, Vallarsi VII, 34.
«) Matth. 5, 25, Vallarsi VII, 27.
') Matth. 8, 3, Vallarsi VII, 43.
256 Wiederanknüpfung mit Rom.
werden, so erklärt sich dies nach Hieronymus einfach daraus,
daß derselbe Jünger drei verschiedene Namen gehabt hat.')
Da im Johannesevangelium Johannes der Täufer Jesus bereits
bei seiner Taufe als Lamm Gottes bezeichnet, so kann die
Täuferfrage Matth. 11, Ir) „Bist du es, der da kommen soll,
oder sollen wir eines anderen warten?" nicht aus dem Zweifel
des Johannes an die Messianität Jesu gestellt sein, sondern nur
um seine eigenen Jünger, die Johannesjünger, zum Glauben an
Jesum zu führen. Wenn in der Verklärungsgeschichte nach
Matthäus Jesus seine Jünger nach sechs, in der Verklärungs-
geschichte nach Lukas nach acht Tagen zu sich nahm, so löst
sich diese Differenz in den Zeitangaben einfach dadurch, daß
Lukas den ersten und letzten Tag besonders gezählt hat. ) In
der Leidensgeschichte ist die Berücksichtigung der übrigen
Evangelisten ausgiebiger, und Hieronymus ergänzt hier har-
monistisch die Darstellung des Matthäus durch die übrigen
Evangelisten. Nach Johannes trug Jesus selbst sein Kreuz,
nach Matthäus Simon von Kyrene.') Dies ist nach Hieronymus
so zu denken, daß erst Jesus, dann Simon das Kreuz trug.
Wenn im Matthäusevangelium') beide Räuber, die mit Jesus
gekreuzigt wurden, als Spötter des Herrn bezeichnet werden,
nach Lukas der eine den Herrn verspottet, der andere ihn als
Messias bekennt, so legt sich Hieronymus den Tatbestand bei
Matthäus mit Hilfe des Tropus der ntuÄtjifHc: zurecht, wonach
statt des einen Räubers beide als Spötter eingeführt werden.
Die Evangelien können sich nicht widersprechen; deshalb
müssen wir uns die Sache so denken, daß erst beide Räuber
den Herrn gelästert haben und dann, als die Sonne unter-
ging, das Erdbeben eintrat, die Felsen zerrissen und die
Finsternis hereinbrach, der eine an Jesum gläubig wurde und
die anfängliche Verleugnung durch das folgende Bekenntnis
korrigierte. Und wenn die Evangelien verschiedene Angaben
enthalten über die Zeit, zu der die Weiber am Grabe Jesu
') Matth. 10, 3, Vallarsi VIl, 56.
*) Matth. 11, 1, Vallarsi VIl, 67.
') Matth. 17, 1, Vallarsi VII, 129.
*) Matth. 27, 32, Vallarsi VII, 232.
*) Matth. 27, 44, Vallarsi VIl, 235.
Wiederaiiknüpfiing mit Rom. 257
weilten,') so ist dies kein Zeichen, wie uns die Gottlosen vor-
werfen, daß die Evangelien lügen, sondern wir müssen uns
dies daraus erklären, daß die Weiber zu verschiedenen Zeiten
das Grab besucht haben.')
Was die polemische Seite seines Matthäuskommentars be-
trifft, so hoben wir bereits oben hervor, daß er des öfteren gegen
Origenes polemisiert. Im übrigen tritt hier im Vergleich mit seinen
früheren exegetischen Arbeiten zum Neuen Testament die Polemik
zurück. Die gelegentliche Erwähnung Marcions,') Valentins,*)
des Montanus') und der Ebioniten) hat er dem Origenes-
kommentar entlehnt. Die Manichäer, deren Lehre für Hiero-
nymus mit der der Marcioniten zusammenfällt, hat er den
Marcioniten beigefügt. Diese Polemik gegen die Manichäer ist
bisweilen recht eigentümlich geartet. Der Geschichte von der
Austreibung der Dämonen und ihres Hineinfahrens in die
Schweineherde entnimmt Hieronymus eine Widerlegung des
manichäischen Dogmas: Es möge der Manichäer erröten, wenn
von derselben Substanz und demselben Urheber die Seelen
der Menschen und der Bestien sein sollen, da wegen des Heils
eines einzigen Menschen 2000 Schweine ersäuft wurden.') Daß
an geeigneten Stellen vereinzelte Hiebe gegen die abscheulichen
Ketzer Arius und Eunomins nicht fehlen,') gehört zur not-
wendigen Ausstattung eines rechtgläubigen Kommentars. Auch
mit den heidnischen Polemikern Julian und Porphyrius setzt
sich Hieronymus auseinander. Er hat hier wahrscheinlich den
Kommentar des Apollinaris benutzt. Eine solche Widerlegung
der heidnischen Angriffe war nötig, da die Heiden noch immer
^) Matth. 28, 1, Vallarsi VII, 240: qiiod diversa tempora istarum
mulierum in evangeliis describuntiir, non mendacii Signum est, ut impii
objiciunt, sed sedulae visitationis officium, dura crebro abeunt et recurrunt
et non patiuntur a sepulcro domini diu abesse vel longius.
-) Andere Stellen, wo er die übrigen Evangelien berücksichtigt, siehe
Matth. 9, 18; 9, 27; 12, 1; 12, 38; 15, 23; 26, 51; 27, 1; 27, 57.
») s. Matth. 5, 39; 9, 28; 14, 18; 14, 26; 16, 8.
*) Matth. 13, 5.
^) Matth. 9, 15.
«) Matth. 12, 2.
') Matth. 8, 32, Vallarsi VII, 48.
^^) z. B. Matth. 14, 33; Matth. 11, 27.
Grützmacher, Hieronymus. II. 17
258 Wiederanknüpfung mit Rom.
mit den Waffen Julians und Porphyrius die Christen bekämpften.
Wenn Julian uns die Widersprüche in den Genealogien Jesu nach
Matthäus und Lukas vorrückt/) daß Matthäus den Joseph zum
Sohn des Jakob, Lukas ihn zum Sohn des Heli macht, so hat nach
Hieronymus der heidnische Kaiser eben nichts von der jüdischen
Leviratsehe gewußt, wonach der eine der Vater des Joseph
der Natur nach, der andere dem Gesetz nach war. Wenn ferner
Porphyrius und Julian aus der Differenz der Namensüber-
lieferung des zum Zwölfapostel berufenen Zöllners, der nach
dem ersten Evangelium den Namen Matthäus, nach Markus den
Namen Levi führte, die geschichtliche Unzuverlässigkeit der Evan-
gelien folgern, so beruht dieseFolgerung nur auf ihrerUnkenntnis
der jüdischen Sitte der Doppelnamen, wonach Matthäus auch
den Namen Levi führte.') Die heidnischen Kritiker beschul-
digten auch die Jünger Jesu der Dummheit, daß sie auf seine
bloße Aufforderung hin in seine Nachfolge eintraten; Hieronymus
motiviert diesen raschen Entschluß damit, daß sie, bevor sie
sich zurjüngerschaft entschlossen, bereits seineWunder geschaut
hätten. ') Porphyrius hatte die Sonnenfinsternis bei dem Tode
des Erlösers für ein natürliches Ereignis erklärt, das nur die
Christen zu einem Wunder gemacht hätten. Darauf erwidert
Hieronymus, daß dies einfach deshalb unmöglich wäre, da sie
nach dem einstimmigen Bericht der Evangelien drei Stunden
lang gedauert habe.') An anderen Stellen macht sich Hiero-
nymus die Widerlegung des Porphyrius dadurch leicht, daß er
einfach auf die christlichen Schriftsteller, auf Eusebius und
Apollinaris, verweist, die auf seine Schmähungen bereits die
rechte Antwort gegeben hätten. )
') Matth. 1, Ui; Vallarsi VII, 11.
') Matth. g, Q, Vallarsi Vil, 50.
") Matth. 9, 9, Vallarsi VII, 50.
*) Matth. 27,45, Vallarsi VII, 235.
*) Matth. 24, 16, Vallarsi VII, 195: de hoc loco . . . multa Porphyrius
tertio decimo operis sui volumine contra nos blasphemavit, cui Eusebius
Caesariensis tribus respondit voluminibus, decimo octavo, decimo nono,
et viccsimo. Apollinaris cpioque scripsit plenissime. s. auch Matth. 3, 3,
Vallarsi VII, 17, wo er Porphyrius bekämpft. Wahrscheinlich stammen auch
die Einwände gegen die mangelhaften Naturkenntnisse Jesu von Porphyrius,
die Hieronymus Matth. 15, 17, Vallarsi VII, 114 zurückweist.
Wiederanknüpfung- mit Rom. 259
Die jüdische Exegese berücksichtigt Hieronymus in diesem
Kommentar ziemlich wenig, obwohl die zahlreichen Stellen des
Alten Testaments, die der erste Evangelist zitiert, ihm dazu
hätten Anlaß geben können. Eine Reihe hebräischer Wörter,
wie Raca, Mammona, Beelzebul, Gehenna erklärt er; auch über
die jüdische Art des Grußes zu Matth. 10, 22 und die Sitte
der Salbung zu Matth. 6, 17 handelt') er und teilt mit, daß
von den beiden von den Christen messianisch gedeuteten
Psalmen Psalm 100 von den Juden auf Abraham, Psalm 22
auf David, Esther und Mardochai bezogen werde.) Ab-
weichend vom massorethischen Text des Psalms 4, 3, in
dem wir Sohn des Mannes lesen, behauptet Hieronymus, daß
für filius hominis im Hebräischen filius Adam stehe. ') An
einer Stelle zu Matth. 25, 6 gedenkt er einer jüdischen
Haggada, nach der das Erscheinen des Messias von den
Juden um Mitternacht erwartet wird.*)
Eusebius von Cremona, auf dessen Bitte Hieronymus seinen
Matthäuskommentar verfaßte, hatte um eine historische Auslegung
des ersten Evangeliums gebeten, ein Zeichen, daß das Interesse
für den Wortsinn der Evangelien in der Kirche des Abendlandes
noch lebendig war. Hieronymus ist auch diesem Wunsche so
weit wie möglich nachgekommen, wenn er sich auch nicht
ganz enthalten kann, die Blumen des geistlichen Verständnisses
einzuflechten.) Es ist merkwürdig, wie schwankend sich
Hieronymus über das Recht und den Wert der allegorischen
Exegese hier im Matthäuskommentar wieder äußert. Einerseits
will er nichts von ihr wissen und bemerkt, daß man niemals
aus dem zweifelhaften allegorischen Sinn einer Schriftstelle
den Beweis für ein Dogma führen dürfe, wie z. B. bei der
allegorischen Deutung des Gleichnisses von den drei Scheffeln
Mehl, Matth. 13, 33, das auf den Glauben an Vater, Sohn und
1) Matth. 5, 22; 6, 24; 10, 22; 10, 28; 6, 17; 23, 6.
2) Matth. 22, 41, Vallarsi Vll, 181, Matth. 27, 46, Vallarsi VII, 236.
«) Matth. 16, 13, Vallarsi Vll, 122.
*) Matth. 25, 6, Vallarsi VII, 203.
*) Praef. in A^atth., Vallarsi VII, S: historicam interpretationem, quam
praecipue postulasti.
ri7'
260 Wiederanl<inipfiint( mit Rom.
Geist bezogen würde.') Auch die allegorische Deutung der zwei
Spatzen in Matth. 10, 29 auf Leib und Seele wird von ihm
verworfen, da sie sich nicht mit dem Zusammenhang ver-
einigen lasse.*) Und anderseits wandelt er wieder ganz in den
Bahnen des Origenes, der die allegorische Exegese in ein
System gebracht hatte, wonach manche Schriftstellen überhaupt
keinen historischen, sondern nur einen psychischen oder
pneumatischen Sinn haben und gottgewollte Anstöße für die
bloß historische Exegese sind, um auf den verborgenen tieferen
Sinn der Schrift hinzuweisen. Eine solche Stelle ist Matth. 21, 4. ')
Nach dem buchstäblichen Sinn hätte Jesus bei seinem Einzug
in Jerusalem auf zwei Tieren, der Eselin und ihrem Füllen,
gesessen. Die geschichtliche Deutung ergibt hier etwas Unmög-
liches und Unpassendes, also ist nur die allegorische Deutung
am Platze.
Da Hieronymus ein schlechter Historiker ist, so hat er bei
seiner Flüchtigkeit zahlreiche geschichtliche Irrtümer in seinem
Kommentar begangen. So macht er z. B. Herodes Antipas
zum Nachfolger des Archelaus und läßt Archelaus nach Lyon
und nicht nach Vienne nach seiner Absetzung verbannt werden.^)
Johannes der Täufer ist nach Hieronymus in einer Stadt Arabiens
und nicht in dem Kastell Machärus enthauptet worden.') Es
ist ein Irrtum des Hieronymus, daß die Stadt Julia jenseits des
Jordans zu Ehren der Tochter des Augustus, Julia, von Herodes
Antipas diesen Namen erhalten habe,**) Woher er die Nachricht
hat, daß Kaiphas seine hohepriesterliche Würde von Herodes
gekauft habe, ist nicht ersichtlich, dajosephus, auf den ersieh
beruft, wenigstens in dem uns vorliegenden Texte nichts davon
berichtet.') Die Notiz des Josephus, daß die Schutzengel des
') Mattli. 13, 33, Vallarsi VII, 94: pius sensus, sed nunqiiam para-
bnlac et dubia acnifrmatiim intelligentia potest ad auctoritatem dogmatum
proficerc.
') Matth. 10, 29, Vallarsi VII, 63.
») Matth. 21, 4, Vallarsi VII, 160.
*) Matth. 2, 22, Vallarsi VII, 16.
•") Matth. 14, 12, Vallarsi VII, 103.
*) Matth. 16, 13, Vallarsi VII, 121.
•) Matth. 26, 57, Vallarsi VII, 223: refert Josephus istum Caipham
unius tantum anni pontificatum ab Herode pretio redemisse.
Wiederanklüipfung mit Rom. 261
Tempels in Jerusalem bei der Zerstörung der Stadt ausgerufen
hätten: „Laßt uns aus diesen Sitzen fortgehen", bezieht Hiero-
nymus fälschlich auf dieKreuzigungChristi.') Derselbehistorische
Irrtum, der aus der Chronik des Eusebius zum Jahre 33
stammt, begegnet uns auch sonst bei Hieronymus,') während
er ihn in seinem gegen Ende seines Lebens geschriebenen Jesaia-
kommentar korrigiert hat. Es ist ebenfalls irrig, wenn Hieronymus
das Didrachma in Matth. 17, 24 für eine Kaisersteuer erklärt.')
In Matth. 22, 15 hat er dagegen eine früher im Dialog gegen
die Luciferianer vertretene Meinung, daß unter den Herodianern
die zu verstehen seien, die Herodes für den Messias hielten,
korrigiert.') Unter den Herodianern seien einfach die Soldaten
des Herodes zu verstehen, und Hieronymus findet jetzt die
früher von ihm selbst geteilte Ansicht einiger Lateiner lächerlich.
Was die sachliche Seite des Matthäuskommentars betrifft,
so kommt einem zunächst bei der Exegese der große Abstand
des biblischen Christentums von dem Christentum des Hiero-
nymus zum Bewußtsein; und Hieronymus ist ja nur ein
Repräsentant des zeitgenössischen Christentums. Wie wenig
ist doch dieses Christentum trotz aller Bibelzitate biblisch
orientiert, den einzigen Augustin ausgenommen, und auch
diesen nur in manchen seiner Gedankenreihen. Trotzdem das
Vaterunser ein Stück des kirchlichen Unterrichts war, haftet
das Interesse an ihm so wenig, wie etwa an den Seligpreisungen;
dies beweist die Auslegung des Hieronymus. Im Mittelpunkte
seiner Frömmigkeit steht die Kirche als die Heilsmittlerin, außer-
halb deren es kein Heil gibt, Christus, der menschgewordeneOott,
und die Askese als das christliche Lebensideal. Die Worte der
Bergpredigt haben für seine Frömmigkeit doch nur sekundären
Charakter. Eine Stelle wie Matth. 16, 18: „Du bist Petrus,
und auf diesen Fels will ich meine Kirche gründen," gehört
für ihn zu dem Kern und Stern des Evangeliums, obwohl er
sie noch nicht im Sinne der späteren römischen Exegese Leos
des Großen auslegt, sondern Simon deshalb, weil er an den
') Matth. 27, 51, Vallarsi VII, 237, Anm. a.
^) Ep. 18 ad Damasum; ep. 120 ad Hedibiam quaestio 8.
») Matth. 17, 24, Vallarsi VII, 135.
■•) Matth. 22, 15, Vallarsi VI 1,1 75, s. auchTertiillian, de praesciptionec.45.
262 Wiederanknüpfung mit Rom.
Fels Christi glaubte, mit dem Namen des Petrus beschenkt,
und nach dem Bilde des Felsens zu ihm gesagt sein läßt:
„Auf dich will ich meine Kirche gründen.'")
Aber wie weltförmig ist doch das Christentum des Hiero-
nymus trotz aller Askese verglichen mit der Urform des Evan-
geliums. Nehmen wir z. B. Matth. 5, 3: „Selig sind die geistig
Armen, denn das Himmelreich gehört ihnen." Hieronymus
akzentuiert diese bei Matthäus vorhandene Form der Seligpreisung
besonders scharf: „Damit nicht einer glaubt, daß der Herr die
Armut selig preise, fügt er hinzu die geistig Armen".") Er
reflektiert gar nicht darauf, daß bei Lukas Jesus die Armen ohne
jeden Zusatz selig preist. Die Stellung des Christentums war eben,
etwa seit Clemens Alexandrinus seine Schrift schrieb: Welcher
Reiche wird gerettet werden? eine völlig andere dem irdischen
Besitz gegenüber geworden, und dies läßt sich an zahlreichen
Äußerungen auch des Hieronymus erweisen. Der Herr sagt
Matth. 5, 42: Jedem, der dich bittet, gib, aber dies darf man
nach Hieronymus nicht vom Almosen geben verstehen, denn dann
würden die Reichen bald arm werden, sondern man muß es
auf die Verkündigung des Evangeliums durch die Apostel be-
ziehen, die umsonst geben sollen, was sie umsonst empfangen
haben.') Mit den Worten Matth. 6, 24: „ihr könnt nicht Gott
dienen und dem Mammon" will der Herr nicht den Reichtum
verbieten, sondern nur die rechte Art seines Gebrauches lehren;
er sagt nicht, wer Reichtümer hat, sondern nur, wer den
Reichtümern dient, kann nicht Gott dienen.') Wenn Jesus seinen
Jüngern in der Aussendungsrede die Weisung gibt, nicht zwei
Röcke auf die Reise mitzunehmen, so kann damit nur eine
doppelte Bekleidung gemeint sein, da es in den von Eis und
Schnee bedeckten Orten Skytiens doch unmöglich ist, mit
einem Rock auszukommen. ) Die Kompromisse, die die Kirche
geschlossen hatte, als sie sich in die Welt einlebte, projizieren
sich auch in die Exegese.
') Matth. 16, 18, Vailarsi VII, 124.
») Mattli. 5, 3, Vailarsi VII, 23.
•"') Mattli. 5, 42, Vailarsi VII, 31.
*) Matth. 6, 24, Vailarsi VII, 36.
") Matth. 10, 9, Vailarsi VII, 58.
Wiederanknüpfung mit Rom. 263
Überaus merklich ist dies auch in der Eschatologie. Das
Interesse dafür ist stetig geringer geworden, weil die Aufgaben
der Kirche auf Erden immer dringendere geworden sind. Die
Bitte: „Dein Reich komme" lenkt den Blick des Hieronymus nicht
auf das zukijnftige Reich, sondern der Herr bittet hier allgemein
für das Reich der ganzen Welt, daß der Teufel aufhören möge,
in der Welt zu regieren, oder daß in jedem Gott herrsche und
nicht die Sünde im sterblichen Leibe der Menschen.') Den
Chiliasmus lehnt Hieronymus ausdrücklich und nachdrücklich
ab. Wenn Matth. 5, 4 von dem Land, das die Sanftmütigen
besitzen werden, die Rede ist, so ist es nicht auf dieser Erde zu
suchen, sondern es ist darunter die zukünftige Seligkeit zu ver-
stehen.') Und zu Matth. IQ, 2Q bemerkt er'): „einige knüpfen
an die Schriftstelle — es ist das Wort: jeder, der sein Haus,
Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Gattin, Kinder, Äcker meines
Namens halber verläßt, wird es hundertfältig wiederempfangen
und das ewige Leben besitzen, — das tausendjährige Reich an,
indem sie sagen,daß wir alle Dinge,die wirverloren haben, hundert-
fältig wiederempfangen werden, und sie erkennen nicht, daß,
wenn diese Verheißung bei den übrigen Dingen einen passenden,
sie betreff der Gattinnen einen unpassenden Sinn gibt, so daß
der, welcher eine Gattin des Herrn halber verlassen hat, deren
hundert in dem zukünftigen Reich empfangen würde. Der Sinn
ist also der: welcher Fleischliches für den Erlöser verlassen
hat, wird Geistliches empfangen, und es wird dies im Vergleich
mit seinem Verdienst so sein, wie wenn man eine kleine Zahl
mit der Zahl 100 vergleicht." Die Parusie Jesu wird nicht
mehr von Hieronymus als nahe bevorstehend erwartet. Zwar
berichtet er, daß die Wiederkunft Christi um Mitternacht in
der Ostervigilie erwartet werde, und es deshalb Sitte sei, daß
die Gemeinde in der Nacht vor dem Osterfest in der Kirche
versammelt bleibe.') Aber er selbst erklärt ausdrücklich, daß
eine lange Zeit zwischen der Himmelfahrt des Heilandes und
1) Matth. 6, 10, Vallarsi VII, 35.
-) Matth. 5, 4, Vallarsi VII, 23: non terram Judaeae nee terram
istius mundi.
3) Matth. 19, 29, Vallarsi Vli, 151.
*) Matth. 25, 6, Vallarsi VII, 203: iinde reor et traditionem apostolicam
264 Wiederanknüpfung mit Rom.
seiner zweiten Ankunft verlaufen müsse.') -In diesem Sinne
deutet er Matth. 24, 34: „Dies Geschlecht wird nicht vergehen,
bis daß dies alles geschieht", nicht auf die Zeitgenossen Jesu,
sondern auf das ganze Menschengeschlecht oder auf das Volk
der Juden,') und in der Stelle Matth. 16, 28: „Einige sind hier,
die den Tod nicht kosten werden", findet er überhaupt keine
eschatologische Beziehung. Was seine Eschatologie betrifft,
so zeigt sich bei Hieronymus das merkwürdige Schwanken
zwischen der Spiritualisierung eschatologischer Vorstellungen
und ihrer sinnlich -massiven Ausmalung, das für die mittel-
alterlich-katholische Eschatologie charakteristisch geblieben ist.
Bedingt ist diese inkonsequente Stellungnahme des Hieronymus
einerseits durch seine Abhängigkeit von Origenes, anderseits
durch seinen im Gegensatz zu Origenes an den Gemeinde-
glauben vollzogenen Anschluß. So will er die Finsternis, in
die die Söhne des Reiches, Matth. 8, 12, hinausgestoßen werden,
als eine nicht äußerliche, sondern innerliche gefaßt wissen;')
aber dann sieht er wieder in dem Heulen und Zähneklappen der
Verdammten einen sinnlichen Vorgang') und spricht von einer
doppelten Hölle, in deren einem Teil eine sehr große Hitze
und in deren anderem Teil eine sehr große Kälte herrsche.')
Er will die Vorzeichen der Parusie nicht geistlich, sondern
buchstäblich gedeutet wissen;") er behauptet die leibliche Wieder-
kunft des Elias vor der zweiten Ankunft des Erlösers,') die Auf-
erstehung der Leiber und die Ewigkeit der Höllenstrafen/)
Nicht nur in der Eschatologie, sondern auch sonst bei der
Erklärung des Matthäusevangeliums mischt sich bei Hiero-
nymus ein schlichter, naiver Wunderglaube mit einem eigen-
permansisse, ut in die vi^iliaruni Paschae ante noctis dimidiuni populos
dimittere non iiceat, exspectantes adventum Christi.
') Matth. 25, IQ, Vallarsi VII, 206.
-') Matth. 24, 34, Vallarsi VII, 198.
») Matth. 8, 12, Vallarsi VII, 45.
*) Matth. 22, 13, Vallarsi VII, 174.
*) Matth. 10, 28, Vallarsi VII, 63: dupliceni autem esse gehennam,
nimii ignis et frigoris.
•■) Matth. 24, 7, Vallarsi VII, 193.
') Matth. 17, 11, Vallarsi VII, 132.
«) Matth. 25, 46, Vallarsi VII, 210.
Wiederanknüpfung mit Rom. 265
tümlichen Rationalismus. So will er z.B. bei der Taufgeschichte
nichts von einer tatsächlichen Öffnung des Himmels wissen,
sondern nur das geistige Auge sah den Himmel offen;')
und während er ausdrücklich von den Vorzeichen der
Parusie sagt, daß er nicht zweifle, daß diese Dinge sich buch-
stäblich erfüllen würden,") erklärt er die wunderbaren Zeichen
am Himmel, die Verfinsterung der Sonne, des Mondes und
der Sterne ganz rationalistisch. Sonne, Mond und Sterne ver-
lieren nicht ihr Licht, sondern sie erscheinen nur im Vergleich
mit dem wahren Licht, Jesus Christus, wenn er wiederkommt,
dunkel und finster. Und wenn es nach Matth. 24, 35 heißt:
„Himmel und Erde werden vergehen", so ist damit nicht eine
Vernichtung von Himmel und Erde gemeint, sondern nur eine
Veränderung. ) Auch bei den Heilungsgeschichten begegnen uns,
wenn auch selten, rationalistische Erklärungsversuche. Die Mond-
süchtigen, die Jesus heilt, sind nach Hieronymus nicht wirklich
mondsüchtig, sondern sie werden nur durch den Betrug der
Dämonen dafür gehalten.') Es sind eben sonderbare Gegensätze
in Hieronymus vereint. Der eifrige Verteidiger der Heiligen-
verehrung und des Reliquienkultus erscheint bisweilen als
nüchterner Kritiker des Aberglaubens: Wie die Juden in wört-
lichem Mißverständnis von Deut. 6, 8: „Diese Worte sollen
dir ein Denkmal vor deinen Augen sein," die Gebete des
Dekalogs auf Pergamentstreifen an der Stirn tragen, so tragen
bei uns abergläubige Weiblein kleine Evangelien, Kreuzeshölzer
und ähnliche Dinge mit sich umher"), und einfältige Christen
zeigen zwischen den Ruinen des Tempels und Altars an dem
Tor, das nach Siloah führt, rote Felsen, die, wie sie glauben,
durch das Blut Zacharias, des Sohnes Berechjas, befleckt
sind, der von den Juden zwischen dem Altar und Tempel
getötet wurde.')
') Matth. 3, 17, Vallarsi VII, 19.
•-) Matth. 24, 7, Vallarsi VII, 193.
«) Matth. 24, 35, Vallarsi VII, 198.
*) Matth. 4, 24, Vallarsi VII, 22: non vere lunaticos, sed qui puta-
bantur lunatici ob daemonum fallaciam.
') Matth. 23, 6, Vallarsi VII, 184.
«) Matth. 23, 35, Vallarsi VII, 190.
266 Wiederanknüpfung mit Rom.
In der Lösung sachlicher Schwierigkeiten beweist Hiero-
nymus bei der Erklärung des Matthäusevangeliums ein nicht
geringes Geschick, indem er alle möglichen exegetischen Kunst-
griffe anwendet. Im Geschlechtsregister Jesu bei Matthäus
fehlen zwischen Joram und Usia drei Könige; Hieronymus,
der wohl dem Origenes folgt, erklärt dies damit, daß das
Gedächtnis Jorams, der sich mit dem Geschlecht der gottlosen
Jesabel vermischt hatte, bis zur dritten Generation ausgelöscht
und nicht in die Reihe der heiligen Geburt aufgenommen
werden sollte.') Daß das Geschlechtsregister Jesu auf Joseph
und nicht auf Maria geführt wird, hat darin seinen Grund,
daß einmal ein Geschlechtsregister nicht aus Frauen zusammen-
gesetzt werden darf, dann aber auch darin, daß Joseph und Maria
beide aus dem Stamm Davids hervorgegangen sind.') Wenn
Jesus, der Sündlose, sich einer Bußtaufe durch Johannes unter-
zog, so tat er dies, weil er als Mensch alle Gerechtigkeit und das
Gesetz erfüllen mußte, weil er ferner durch seine Taufe die
Taufe des Johannes billigen, und endlich, weil er durch das
Herabkommen der Taube die Ankunft des heiligen Geistes bei
der Taufe der Gläubigen beweisen wollte.')
Die Frage nach der buchstäblichen Erfüllung des Gesetzes
wird von Hieronymus stillschweigend bei Seite geschoben,
indem er das Wort Jesu in der Bergpredigt: „Kein Jota des Ge-
setzes soll vergehen" allegorisch auslegt, daß auch das Geringste
im Gesetz voll geistlicher Geheimnisse sei und im Evangelium
erfüllt würde.') Das zum Lebensunterhalt nötige Brot, um das
wir in der vierten Bitte des Vaterunsers bitten, ist Christus,
der auch im Johannesevangelium das lebendige Brot genannt
wird.') Die Frage Johannes des Täufers an Jesus Matth. 11, 3:
„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir eines anderen
warten", findet bei Hieronymus die zunächst befremdende Aus-
legung, daß Johannes der Täufer Jesum frage, ob er, wenn er
•) Matth. 1, 3, Vailarsi VII, 11.
') Matth. 1, 18, Vailarsi VII, 12.
') Matth. 3, 13, Vailarsi VII, 19.
*) Matth. 5, 18, Vailarsi VII, 26.
*) Matth. 6, 11, Vailarsi VII, 34.
Wiederanknüpfung mit Rom. 267
in die Unterwelt herabsteige, den Unterirdisclien Jesum ver-
künden solle, wie er ihn den auf der Erde befindlichen
Menschen verkündet habe.') Hieronymus wird diese merk-
würdige Deutung wahrscheinlich dem Origenes entnommen
haben, der auch in seinem Johanneskommentar ■) Johannes
den Täufer als Zeugen und Vorläufer Jesu in die Unterwelt
hinabsteigen läßt. Möglich wäre es auch, daß Hieronymus
hier dem Kommentar des Hippolyt gefolgt wäre, der ebenfalls
Johannes den Täufer dem Herrn in den Hades vorangehen läßt,
um dort anzuzeigen, daß der Erlöser auch dorthin kommen
werde, die Seelen der Heiligen aus der Hand des Todes zu
erlösen.') Daß die Sünde gegen den Sohn nach Matth. 12, 32
vergebbar ist, begründet Hieronymus damit, daß der Menschen-
sohn in der Unscheinbarkeit eines Menschen erschienen sei,
die Sünde gegen den heiligen Geist aber ist unvergebbar, weil
der, welcher die Werke Gottes deutlich erkennt und sie für
Werke des Teufels erklärt, keine Vergebung verdiene.') Die
drei Tage, die Jesus nach Matth. 12, 40 in der Unterwelt zu-
brachte, müssen, da es nicht volle drei Tage sind, synekdochisch
verstanden werden, da Jesus, wie Hieronymus bereits im Jona-
kommentar ausgeführt hatte,') nur einen Teil des Freitags, den
ganzen Sabbat und einen Teil des Sonntags in der Unterwelt ge-
wesen ist/') Die Brüder Jesu Matth. 12, 4Q macht Hieronymus,
wie schon in der Schrift gegen Helvidius, zu Vettern Jesu und
ereifert sich darüber, daß einige, dem Wahnsinn der Apokryphen')
folgend, sie für Söhne des Joseph und einer anderen Gattin
namens Melcha oder Escha erklären.'*) Den Matth. 23, 35
genannten Zacharja, den Sohn Barachias, halten einige nach
Hieronymus für den Zwölfpropheten Sacharja, andere für
») Matth. 11, 3, Vallarsi VII, 67.
^) Comm. in Joh. II, 30.
') Hippolytus, de antichristo c. 45.
*) Matth. 12, 32, Vallarsi VII, 81.
'") s. Kommentar zum Jona § 37 S. 201.
«) Matth. 12, 40, Vallarsi VII, 83.
') Protevangelium Jacobi c. 17, s. Harnack, Altchristi. Literatur-
geschichte I, 17 u. Vallarsi VII, 84 Anm. a.
») Matth. 12, 49, Vallarsi VII, 85.
268 Wiederanknüpfiing mit Rom.
Zacharja, den Vater Johannes des Täufers. Hieronymus
identifiziert ihn mit dem Hohenpriester Zacharja, dem Sohn
Jojadas, den König Joas töten ließ, und beruft sich für diese
seine Meinung auf das Hebräerevangelium, wo er auch nicht
als der Sohn Barachias, sondern richtig als der Sohn Jojadas
bezeichnet werde.')
Große Mühe gibt sich Hieronymus, die Allwissenheit
Jesu gegenüber der Stelle Matth. 24, 36 zu retten, wo es
heißt, daß den Tag der Parusie nur der Vater kennt, auch
nicht die Engel im Himmel und auch nicht der Sohn. Er
verwirft die in einigen Codices sich findende Lesart, daß
auch nicht der Sohn den Tag der Parusie kenne, und
folgert dann, daß, wenn es heiße, den Tag der Parusie kenne
nur der Vater allein, der Sohn, der mit dem Vater eines
Wesens sei, mit in die Kenntnis der Parusie eingeschlossen
sei, obwohl er nicht ausdrücklich genannt werde. ■) Von
Origenes hat er die bei den Griechen weit verbreitete An-
schauung in Matth. 27, 43 entlehnt, daß die Dämonen Jesus
veranlassen wollten, vom Kreuz herabzusteigen, als sie die
Kraft des Kreuzes erkannten, daß aber der Herr, den Hinterhalt
der Gegner merkend, am Holz hängen blieb, um den Teufel
zu vernichten.) Während er die Stelle Matth. 27, 53'), daß
viele Leiber der entschlafenen Heiligen auferstanden, aus ihren
Gräbern hervorgingen, in die heilige Stadt kamen und vielen
erschienen, früher bald auf eine Erscheinung im irdischen
Jerusalem,') bald im himmlischen Jerusalem") bezogen hatte,
referiert er hier beide Auslegungen, ohne sich zu entscheiden,
und betont nur, daß dies Ereignis nach der Auferstehung
Jesu anzusetzen sei, da dieser der Erstling der von den
Toten Auferstandenen sei. Das Problem, wie der Bericht des
') Matth. 23, 35. Vallarsi VII, 190.
=) Matth. 24, 36, Vallarsi VII, 199.
') Matth. 27, 43, Vallarsi VII, 234.
') Matth. 27, 53, Vallarsi VII, 237.
■') Ep. 46, 7 ad Marcellam, so auch Aiigiistin ep. 99 ad Evodiiim,
Chrysostomus in ep. ad Hebr., s. Vallarsi I, 331, Anm. a.
*) Ep. 60, 3, so auch Origenes in Matth. 27, Eusebius, demonstr.
evang. I. 4, Hilarins in ps. 2, Rufin in expositione symboli.
Wiederanknüpfung mit Rom. 269
Matthäus über galiläische Erscheinungen des Auferstandenen
mit dem Bericht des Lukas über judäische Erscheinungen in
Einklang zu bringen sei, besteht für Hieronymus nicht, weil
er die Worte Jesu, er würde in Galiläa seinen Jüngern erscheinen,
darauf bezieht, daß ihn seine Jünger nicht nur in Judäa,
sondern auch" in Galiläa, d. h. inmitten der Menge der Heiden
erblicken würden.')
Endlich sei noch ein Punkt, der die dogmatischen Über-
zeugungen des Hieronymus betrifft, berührt. Man hat seine
Auslegung von Matth. 25, 28: Jesus sagt "nicht, daß er seine
Seele zur Erlösung für alle, sondern für viele gegeben habe,
d. h. für die, welche glauben wollten, im prädestinatianischen
Sinne gedeutet;') aber damit tut man ihm unrecht. Wie
wenig Hieronymus trotz seines späteren Kampfes gegen Pelagius
Prädestinatianer war, möge der Hinweis auf eine andere Stelle
seines Matthäuskommentars beweisen. Zu Matth. 27, 34 betont
er ausdrücklich, daß Judas Ischariot nicht durch seine Natur,
sondern durch freien Willensentschluß zum Verräter wurde.'')
Bezeichnend ist es noch, welche Wandlung der Kirchenbegriff
von Origenes bis Hieronymus durchgemacht hat, ohne daß
letzterem dies vielleicht selbst zum Bewußtsein gekommen ist.
Wie bei Origenes, so ist es auch bei Hieronymus Gott, nicht
der Priester, der den Schuldigen von seinen Sünden losspricht,
und auch Hieronymus benutzt die Worte Matth. 16, 19') noch
nicht, um eine absolute Macht des Priestertums über die
Gewissen zu begründen. Vielmehr warnt er die Priester und
Bischöfe vor dem pharisäischen Hochmut, die sich ein Ver-
dammen und Lossprechen auf Grund amtlicher Machtvoll-
kommenheit anmaßen. Das Lossprechen und Verdammen ist
also auch bei Hieronymus noch ein rein deklaratives Aus-
1) Matth. 28, 6, Vallarsi VII, 241 ii. Matth. 28, 10, Vallarsi VII, 242.
^) Servatus Lupus berief sich im Praedestinationsstreit auf diese Stelle,
s. Vallarsi VII, 157, Anm. a.
*) Matth. 27, 3, Vallarsi VII, 226 qui diversas naturas conantur in-
troducere et dicunt Judam proditorem malae fuisse naturae, nee electione
apostolatus potuisse servari, respondeant, quomodo natura mala egerit
poenitentiam.
*) Matth. 16, 19, Vallarsi VII, 125 u. Origenes, Comm. in Matth.,
Migne P. G. 13, 1013.
270 Wiederankniipfung mit Rom.
sprechen des Urteils Gottes; so weit teilt Hieronymus noch die
altkirchliche Anschauung. Aber während Origenes die Wirk-
samkeit des Priesters von seiner sittlichen Integrität und seiner
persönlichen Heiligkeit abhängig macht, macht Hieronymus
einen solchen einschränkenden Zusatz nicht mehr. Der
katholische Kirchenbegriff, den Augustin endgültig heraus-
arbeitete, daf3 die Heiligkeit der Kirche wie die Wirksamkeit
der Sakramente auf dem objektiven Heilsschatz der Kirche
beruht, und daß aus ihm die Gnadengaben so ausgeteilt werden,
daß der Verteilende sie nur mechanisch vermittelt, bahnt sich
bei Hieronymus deutlich an.
Werfen wir zum Schluß einen Blick auf die ersten fünf-
zehn Jahre von 385 bis 400, die Hieronymus im Kloster zu
Bethlehem verbrachte, so zeigen sie uns den Gelehrten auf der
Mittagshöhe seines Lebens. Es sind die produktivsten Jahre
seines Schaffens, in denen vor allem sein größtes Werk, die
Bibelübersetzung, die er in Rom mit der Revision der vier
Evangelien begonnen hatte, fast vollständig abgeschlossen wurde.
In diese Jahre fällt auch die bedeutsame Wandlung seiner theo-
logischen Überzeugung; aus einem begeisterten Anhänger des
Origenes ist er zu einem schroffen Traditionalisten geworden.
Nicht plötzlich, sondern langsam und allmählich hat sich diese
Wandlung vollzogen. Im Streite des Bischofs Johannes von
Jerusalem mit Epiphanius von Salamis wurde er zum ersten
Male gezwungen, Farbe zu bekennen und trat auf die Seite
des alten Ketzerrichters; und im Kampfe mit seinem früheren
Freund Rufin sagte er sich förmlich und feierlich von dem
großen Alexandriner los. Fortan wurde er ein eifriger Hüter
der traditionalistischen Theologie und der schärfste Gegner
seines einstigen Lehrers. Der letzte Lebensabschnitt bis zu
seinem Tode im Jahre 420 ist voll von erbitterten und ver-
bitternden Kämpfen. Von dieser Lebensepoche des Hieronymus
wird der dritte Band zu handeln haben.
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